Franz Gürtner, Politische Biographie eines deutschen Juristen 1881 - 1941 [1 ed.] 9783428436552, 9783428036554


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German Pages 241 Year 1976

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Franz Gürtner, Politische Biographie eines deutschen Juristen 1881 - 1941 [1 ed.]
 9783428436552, 9783428036554

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Beiträge zu einer historischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter

Band 13

Franz Gürtner, Politische Biographie eines deutschen Juristen 1881 – 1941 Von

Ekkehard Reitter

Duncker & Humblot · Berlin

EKKEHARD

REITTER

Franz Gärtner, Politische Biographie eines deutschen Juristen 1881-1941

Beiträge zu einer historischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter herausgegeben von Prof. Dr. Karl Bosl Institut für Bayerische Geschichte an der Universität München

Band 13

Reichs j u s t i z m i n i s t er D r . h. c. F r a n z G ü r t n e r

Franz Gürtner, Politische Biographie eines deutschen Juristen 1881-1941

Von

Dr. Ekkehard Reitter

D Ü N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Reitter , Ekkehard Franz Gürtner, politische Biographie eines deutschen Juristen : 1881 -1941. — 1. A u f l . — B e r l i n : Duncker u n d Humblot, 1976. (Beiträge zu einer historischen Strukturanalyse Bayerns i m Industriezeitalter ; Bd. 13) I S B N 3-428-03655-7

Alle Rechte vorbehalten © 1976 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1976 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany I S B N 3 428 03655 7

Meiner verständnisvollen Meinen Eltern

Frau

Gesetze werden nicht einfach von der Obrigkeit befohlen, sondern erwachsen — w i e jedes Recht — aus dem Empfinden des Volkes u n d den Bedürfnissen der Zeit; der Gesetzgeber erfindet nicht das Recht, sondern verkündet es. I n diesem Sinne ist auch Gesetzgebung angewandte Weltanschauung. Franz Gürtner am 26. A p r i l 1940

Vorwort Bei der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit waren mannigfache Schwierigkeiten und Probleme zu bewältigen. A l l denen, die durch ihre Hilfsbereitschaft dazu beigetragen haben, danke ich herzlich. Vor allem fühle ich mich dem Ordinarius der Universität München, Prof. Albert Schwarz, wegen seiner tatkräftigen Unterstützung und anregenden Förderung verbunden. Mein besonderer Dank gilt dem Herausgeber Prof. K a r l Bosl, Inhaber des Lehrstuhls für Bayerische Landesgeschichte an der Universität München, sowie Herrn Dr. Harro Brack, der für das Gelingen durch konstruktive K r i t i k entscheidende Impulse gab. Wertvolle Hinweise gaben die Herren Dr. Lothar Gruchmann vom Institut für Zeitgeschichte und Dr. K a r l Möckl vom Institut für Bayerische Geschichte an der Universität München. Bei den Arbeiten i n den einzelnen Archiven waren behilflich: Dr. Busley, Dr. Schwertl und Dr. Bauer vom Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, Dr. Puchta vom Geheimen Staatsarchiv München sowie Dr. Oldenhage und Dr. Reiser vom Bundesarchiv Koblenz. Familie Gürtner war so freundlich, Einsicht i n vorhandenes Material des Nachlasses Gürtner zu gestatten. Bei der Beschaffung schriftlicher Unterlagen halfen Dr. Fritz Gürtner und Dipl. Ing. Franz-Alfred Gürtner, Dr. Anton Ritthaler, Ministerialdirektor a. D. Dr. Riedl vom Bayerischen Staatsministerium des Innern und Prof. Laetitia Boehm vom Universitätsarchiv München. Persönliche Gespräche konnte ich führen m i t Frau Luise Gürtner, Ministerpräsident a. D. Prof. W i l helm Hoegner, Senatspräsident a. D. Dr. Nörr sowie m i t Prof. Fritz Berber. München, September 1975

Der

Verfasser

Inhaltsübersicht

Einleitung:

Z u m Problem einer politischen Biographie

13

Erster Teil

Werden und Weg 1881—1932 Erstes Kapitel:

Jahre der Bewährung

20

1. Herkunft, Schule u n d juristische Ausbildung 2. V o m Syndikus i n der Wirtschaft Justizdienst

zum Beamten i m

20 bayerischen

27

3. Zwischenspiel K r i e g

32

4. Staatsanwalt u n d Referent i m bayerischen Justizministerium

36

Zweites Kapitel

41

:Der bayerische Justizminister

1. Die Bayerische M i t t e l p a r t e i u n d das zweite Kabinett Lerchenfeld ..

41

2. I n politischen W i r r e n — das „System Gürtner"

49

3. Deutschnationale P o l i t i k i n der Ä r a Held

74

Zweiter

Teil

Reichsjustizminister 1932—1941 Erstes Kapitel:

Im Umbruch

108

1. I n den Kabinetten Papen u n d Schleicher

108

2. Minister unter H i t l e r

120

3. Der Kompetenzstreit m i t dem Reichsjustizkommissar Hans F r a n k . .

133

4. Gleichschaltung u n d Ausrichtung des Justizapparates

150

Zweites Kapitel:

159

Die Wende

1. Nach der Röhmaffäre: Verlust einer unabhängigen Rechtspflege

159

2. Knebelung u n d Ausschaltung der Justiz

169

3. Das Willensstrafrecht u n d seine Folgen

180

10 Drittes

Inhaltsübersicht Kapitel:

Das Ende des Rechtsstaates

192

1. Gefesselte Justiz

192

2. Gürtner contra H i m m l e r

201

3. Pervertierung des Hechts

209

Schluß

217

1. Tod u n d Ausblick

217

2. Zusammenfassung

219

Literaturverzeichnis

222

A . Reden u n d Schriften Franz Gürtners

222

B. Ungedruckte Quellen

223

C. Gedruckte Quellen

226

D. Darstellungen

229

Lebensdaten

234

Personenregister

236

Abkürzungsverzeichnis Art. BA BK BMP BNSDJ BVP DBG DNVP Gestapo GStA HStA HZ IMT KPD KZ MA MAAZ MInn MJu MNN NS NSDAP NSRB RGBl. RJM RT RV SD SPD StGB StPO VjhfZg

vo

W M VWB VZGKAB ZBLG

Artikel Bundesarchiv Koblenz = Bayerischer K u r i e r = Bayerische M i t t e l p a r t e i = B u n d Nationalsozialistischer Deutscher Juristen = Bayerische Volkspartei = Deutsches Beamtengesetz — Deutschnationale Volkspartei = Geheime Staatspolizei = Bayerisches Geheimes Staatsarchiv München = Bayerisches Hauptstaatsarchiv München = Historische Zeitschrift = Internationales M i l i t ä r t r i b u n a l Nürnberg = Kommunistische Partei Deutschlands = Konzentrationslager = M i n i s t e r i u m des Äußeren = München-Augsburger-Abendzeitung = M i n i s t e r i u m des I n n e r n = M i n i s t e r i u m der Justiz = Münchener Neueste Nachrichten = Nationalsozialismus = Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei = Nationalsozialistischer Rechtswahrerbund = Reichsgesetzblatt = Reichsjustizministerium = Reichstag = Reichsverfassung = Sicherheitsdienst = Sozialdemokratische Partei Deutschlands = Strafgesetzbuch = Strafprozeßordnung = Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte = Verordnung = Vaterländische Bezirksvereine Münchens = Vereinigte Vaterländische Verbände Bayerns = Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte bei der Katholischen Akademie i n Bayern Zeitschrift f ü r Bayerische Landesgeschichte = = =

Einleitung Zum Problem einer politischen Biographie Gegenstand einer Biographie ist das geschichtliche Wirken einer einzelnen Persönlichkeit. Damit erweist sich heute ein solches Unterfangen als problematisch, denn mißt doch unser Zeitalter der einzelnen Person i n der Geschichte nicht mehr die Bedeutung bei, wie dies das letzte Jahrhundert noch getan hat. Man kann nicht mehr der idealistischen Geschichtslehre des Historismus folgen und sagen, Männer machen Geschichte, denn unleugbar w i r d die Sphäre personalherrschaftlicher Entscheidungen von Kräften eingeengt, die der Willensbildung von Kollektiven unterworfen sind. Niemand w i r d daher eine historische Persönlichkeit isoliert von geschichtlichen Prozessen und Ausformungen, also losgelöst von übergreifenden, den einzelnen beeinflussenden Zusammenhängen begreifen können, man w i r d sie vielmehr immer unter den Voraussetzungen struktureller Grundbestimmungen einer Epoche sehen müssen. Aber wozu eine Biographie, denn werden nicht die Strukturen zu einem Zentralbegriff, vor dem die Persönlichkeit zu einer determinierten Komponente i n einer Funktion gesellschaftlicher Kräfte erscheint? Es ist die zentrale Frage nach dem Maß von Freiheit und Determination des einzelnen. Es ist denkbar, die Umwelt des Menschen als Wirkungsraum von Persönlichkeiten zu leugnen und allein i m sozialen Sein die wahre menschliche Existenz zu sehen, also menschliches Denken als soziales Bewußtsein zu begreifen und dadurch die sozialen Strukturen als zwingende sachliche Vorgegebenheiten anzunehmen, die Freiheitsakte einzelner nicht zulassen. Es erscheint indessen, nach dem Auftreten des Phänomens Hitler und anderer skrupelloser Machttechniker, fraglich, ob der einzelne tatsächlich allein durch die Sachgesetzlichkeiten der Gesellschaft determiniert wird, also i n jeder Hinsicht seiner strukturellen Klassenbestimmung nach funktionieren muß, oder ob er nicht doch i m Gegenteil durch Freiheitsakte auf die Strukturen verändernd einwirken kann. Wenn es möglich war, daß sich ein einzelner entgegen den Sachzwängen eines modernen, rational-technisch orientierten Staates soviel Machtkonzentration aneignen konnte, daß er die Strukturen, die seinen Aufstieg bedingten und innerhalb deren er wirkte, zerstören konnte, dann ist das eine drastische Warnung, „die uns unsere eigene Zeit vor dem Mißverständnis erteilt hat, i h r strukturelles Gefüge als

14

Einleitung

unausweichliche Norm zu nehmen" 1 . Die Freiheitsakte einzelner sind also nicht gering zu schätzen, dürfen allerdings nicht abstrakt und ungeschichtlich ausgelegt werden, da sich die in der Geschichte wirkenden Entscheidungen jeweils i m Zusammenhang m i t den strukturellen Vorgegebenheiten vollziehen. Von dieser Warte aus erscheint die Biographie als Gegenstand historisch-wissenschaftlicher Bemühungen als gerechtfertigt, ja als notwendig, um die Sphäre der Persönlichkeit innerhalb des Wandels eines Herrschaftsgefüges herausstellen und beurteilen zu können. Was i m allgemeinen gilt, muß auch i m besonderen für die Rolle des einzelnen innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftssystems seine Berechtigung haben. Gerade die Vergewaltigung des Lebensrechtes einzelner in einem totalitären Staat lenkt unsere Aufmerksamkeit i n verstärktem Maße auf die Persönlichkeitswürde des Einzelschicksals. Das trifft i m Dritten Reich für den Blockwart genauso zu wie für den Gauleiter, für den KZ-Häftling ebenso wie für den Widerstandskämpfer i n Kirche und Wehrmacht und schließlich für den kleinen Beamten i n gleichem Maße wie für den einzelnen Reichsminister. Bei der Bewältigung solcher Aufgaben stellt sich allerdings sofort das Quellenproblem. Während w i r von den „Größen" des Nationalsozialismus reichliches Material besitzen, w i r sie also als Person fassen können, muß der namenlose Parteigenosse i m Dunkel bleiben. Von ihm wissen w i r nicht mehr, als einige Daten; w i r können nicht nachempfinden, was er w i r k l i c h bei den Reden Hitlers und Goebbels gedacht, was er bei den Aufmärschen i n Nürnberg gefühlt hat. W i r kennen aber das soziale Verhalten des kleinen Mannes i n seiner Gesamtheit, seine Lebensgewohnheiten, sein Gruppenverhalten. M i t sozialwissenschaftlichen Untersuchungen i n Soziologie, Psychologie, Statistik und Sozialgeschichte begreifen w i r so den anonymen Menschen als Mitträger der gesellschaftlichen Willensbildung. Hier erhalten w i r Sozialstrukturen, die das Gefüge eines Herrschaftssystems erkennen lassen. Es bleiben indes noch Einzelerscheinungen von historischer Bedeutung, die nicht nur m i t solchen Methoden erklärbar sind. Hier ist das Betätigungsfeld des Biographen, und daß hierfür ein Bedürfnis besteht, zeigen nicht zuletzt gerade die entsprechenden Veröffentlichungen über NS-Führer i n der letzten Zeit. So gesehen, war eine Gürtner-Biographie schon längst überfällig. Es gibt kaum ein Buch oder einen Aufsatz über das Dritte Reich, aber auch über die Frühzeit der NSDAP i n Bayern, i n dem der Justizminister nicht erwähnt, seine politische Rolle gewürdigt oder kritisch beleuchtet wird. Aber gerade das Fehlen einer zusammenfassenden Darstellung hat es ermöglicht, daß die Persönlichkeit Franz Gürtners in 1 Schieder, Theodor: Geschichte als Wissenschaft, Eine Einführung, M ü n chen/Wien, S. 188.

Zum Problem einer politischen Biographie

15

der Literatur entweder über- oder unterschätzt, sein politisches Verhalten gefeiert oder verdammt wurde. Auch manchem Historiker, Zeitgenossen und Kabinettskollegen blieb das Erscheinungsbild Gürtners sphinxhaft verschlossen. Für viele war es suspekt, daß der ehemalige bayerische Justizminister, der augenscheinlich enge Beziehungen zur nationalen Opposition unterhielt und i n so manches politische Ränkespiel verstrickt war, Minister unter Hitler wurde. Jene wähnten engere Beziehungen zum Führer der NSDAP schon aus der Frühzeit und sahen i n der Berufung Gürtners i n das Kabinett Hitler eine A r t Dankesbezeigung. Andere wiederum überschätzten seine politischen Möglichkeiten als Wahrer und Hüter des Rechts inmitten sich ausbreitender Rechtlosigkeit. Viele dieser Irrtümer auszuräumen und so manche richtige Beurteilung und Vermutung zu erhärten, soll die vorliegende Biographie beitragen, die durch die Auffindung und Auswertung zahlreichen, wertvollen Quellenmaterials möglich wurde. Zahlreiches Quellenmaterial zu bewältigen ist eine crux, unter der der Verfasser ebenso zu leiden hatte, wie jeder andere Zeithistoriker. Allerdings erschwerte sich seine Arbeit dadurch, daß seine i h m zur Ver fügung stehenden Unterlagen umfangreich und spärlich zugleich waren. War es auf der einen Seite schon ein Problem, bei der Fülle offizieller Ministerialakten i n den einzelnen Staatsarchiven Bayerns sowie i m Bundesarchiv Koblenz wenigstens einen Überblick zu gewinnen, so kostete es auf der anderen Seite beträchtliche Mühe, i n zäher Verbissenheit ein M i n i m u m an Nachlaßmaterial zu beschaffen. Gerade die Tatsache, daß Gürtner nur wenig publizierte, seine politischen Aussagen i m Bayerischen Landtag während seiner immerhin zehnjährigen Amtszeit als bayerischer Justizminister sich sehr i n Grenzen hielten und daß der auf einem Speicher zugänglich gemachte Nachlaß Gürtner fast nur Schriftstücke bis zum Jahre 1918 enthält, weist auf Mängel, die nur teilweise und wenig befriedigend durch andere Nachlässe und Interviews m i t Familienangehörigen, Freunden und Zeitgenossen ausgeglichen werden konnten. Hierin werden also die Schwächen der Arbeit zu suchen sein. Gleichwohl muß die Basis der biographischen Untersuchung als nicht zu gering erachtet werden. Der hauptsächlich aus Briefen Gürtners an seine Familie bestehende Nachlaß Gürtner 2 konnte immerhin einen befriedigenden Aufschluß über seine persönliche Entwicklung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges geben, zumal auch die Personalakte Gürtner aus dem Archiv des Bundesjustizministeriums i n Bonn, sowie eine schriftliche Beurteilung des Schülers Gürtner, angefertigt für die Aufnahme i n das Maximilianeum und eine Zusammenstellung der von Gürtner an der Universität belegten Übungen und Vorlesungen vom Universitäts2

Über I n h a l t des Nachlasses Gürtner siehe Quellenverzeichnis.

16

Einleitung

archiv München zugänglich gemacht worden waren. Dadurch entstand das B i l d vom Werden eines Mannes, der nicht von ungefähr erschüttert durch die revolutionären Ereignisse von 1918/19, i n der Weimarer Republik seinen politischen Standort rechts von der Mitte einnahm. Für die Beurteilung der politischen Rolle des bayerischen Justizministers war es wesentlich, neben den Ministerialakten einzelne Bände des viertausend Seiten umfassenden Manuskripts der politischen Erinnerungen des Vorsitzenden der BMP, Hans Hilpert, sowie den Nachlaß Held vom Geheimen Staatsarchiv München zur Verfügung zu haben 3 . Damit konnte zum größten Teil die Motivation von Gürtners politischen A k t i vitäten transparent gemacht und somit Fehler i n der Beurteilung der Persönlichkeit Gürtners vermieden werden, wie sie etwa noch Harold J. Gordon oder K a r l Schwend unterlaufen mußten, da ersterer lediglich basierend auf dem offiziellen Aktenmaterial eine nähere Untersuchung der Deutschnationalen i n Bayern außer Acht ließ und somit zu falschen Schlußfolgerungen verleitet wurde und da letzterer, verständlich aus seinem politischen Engagement i n der Weimarer Zeit, durch Vorurteile gegenüber Gürtner zu sehr belastet war, um zu einem ausgewogenen Urteil zu gelangen 4 . Als sehr wichtige Quelle erwiesen sich die A k t e n des bayerischen Außenministeriums i m Geheimen Staatsarchiv München. Neben den Protokollen der Ministerratssitzungen, die wenigstens einen Gesamteindruck über die jeweilige politische Stellung der einzelnen Kabinette vermittelten, sind hauptsächlich die Niederschriften über die Sitzungen des Landtagsausschusses zur Untersuchung der Vorgänge am 1. Mai und am 8./9. November 1923 zu nennen. Die Aussagen Gürtners vor dem Ausschuß dokumentieren i n hervorragender Weise die spezifische Spielart seiner deutschnationalen Gesinnung, wodurch hinwiederum ein Verständnis seines politischen Systems erreicht wird. Gute Einblicke i n die Haltung Gürtners i m Kabinett Lerchenfeld gewährten Protokolle und Briefwechsel über die Verhandlungen der bayerischen Delegation i n Berlin wegen des Republikschutzgesetzes vom August 1922, ferner ein Protokoll über Koalitionsgespräche, die gerade aus diesem Anlaß geführt wurden. Von gleicher Bedeutung wie die A k t e n des Außenministeriums waren diejenigen des bayerischen Justizministeriums i m Bayerischen Hauptstaatsarchiv München. Neben Geschäftsordnungsübersichten und der zahlreichen Ministerialkorrespondenz zu den verschiedensten Vorgängen, so z.B. zur Verreichlichung der Justiz, waren die 3

Es wäre w e r t v o l l gewesen, zur Ergänzung weiteres Nachlaßmaterial zur Verfügung zu haben. Es erwies sich aber entweder als unzureichend, w i e i n den Fällen Lent (Hauptnachlaß durch K r i e g vernichtet), Lerchenfeld u n d Wohlmuth, oder aber es konnte überhaupt nicht aufgefunden werden, w i e i m F a l l des Fraktionsvorsitzenden der B V P i m Reichstag, Leicht. 1 Siehe: 1. Τ I I 2, A r n 68 u n d 1. Τ I I 1, A n m . 18.

Zum Problem einer politischen Biographie

17

Bände über den Fall Fechenbach sehr brauchbar, weil hier spezifische Erkenntnisse über Gürtners politische Taktik gewonnen werden konnten. Enttäuschend hingegen waren die Akten des Generalstaatskommissariats, was i m gleichen Umfang auch für die Lebenserinnerungen Gustav von Kahrs zutrifft. Die Qualität dieser Bestände i m Hauptstaatsarchiv läßt es verständlich erscheinen, weswegen über diesen Komplex bayerischer Geschichte noch keine zusammenfassende Veröffentlichung erschienen ist. Schließlich sind noch die Akten des Staatsministeriums des Innern i m Hauptstaatsarchiv zu nennen, die für das Arbeitsvorhaben eine wichtige Ergänzung darstellten. I n erster Linie konnte hier Material über die Fememordfälle sowie über den Femeausschuß des Reichstages verwertet werden. Die i m Hauptstaatsarchiv vorhandenen Bestände der Sonderabgabe wurden durchgesehen, sie erwiesen sich jedoch nur bezüglich der Einwohnerwehren als für das Thema relevant. Als Unterlagen für die Darstellung von Gürtners Wirken als Reichsjustizminister dienten hauptsächlich die Generalakten des Reichs justizministeriums, die Bestände der Reichskanzlei, beide i m Besitz des Bundesarchivs i n Koblenz, das Diensttagebuch Gürtners i n Form von A b lichtungen der International Archives of the United States, Washington D. C., Filmmaterial der Nürnberger Dokumente vom Institut für Zeitgeschichte i n München und die A k t e n der Akademie für Deutsches Recht im Bundesarchiv Koblenz. Ergänzendes Material bildeten einige Nummern des offiziellen Organs des Reichsjustizministeriums „Deutsche Justiz", die von Gürtner edierten Publikationen zur Erneuerung des deutschen Strafrechts, die Bände der Sitzungsprotokolle und Beweisurkunden des Internationalen Militärgerichtshofes i n Nürnberg, die Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte bei der Katholischen Akademie i n Bayern und einzelne Schriftstücke, die Person Gürtners betreffend, aus dem Besitz des Document Centers i n Berlin. Von den einschlägigen Darstellungen fanden besondere Beachtung die Untersuchungen von Bracher, Sauer, Schulz über die nationalsozialistische Machtergreifung und die von Herrmann Weinkauff herausgegebene Reihe „Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus". Das Fehlen von Nachlaßmaterial gerade für die Darstellung des Zweiten Teils „Reichsjustizminister 1932—1941" wurde als besonders schmerzlich empfunden, zumal die Bestände „Persönliches Ministerbüro Gürtner", enthalten i n den Generalakten des Reichsjustizministeriums 5 ; nur teilweise Ersatz boten. Es ist bezeichnend für die seit 1934 immer deutlicher werdende Isolation Gürtners innerhalb des öffentlichen Lebens i m Dritten Reich, daß die Ein- und Ausgänge seines Büros keine Schriftstücke von politischem Wert enthalten. Lediglich an den Zu- und 5

B A : R 22/4090—4198.

2 Reitter

18

Einleitung

Absagen zu Einladungen läßt sich noch das strikt eingehaltene System von Gürtners Distanz zur Partei erkennen 6 . Man kann nicht annehmen, daß Gürtner es jemals i n größerem Umfang wagte, seine politische Meinung schriftlich niederzulegen, dazu war er i n seiner exponierten Stellung zu gefährdet. Die knappen Aufzeichnungen i n seinen Tagenotizbüchern von 1937—1938 sind dafür Beweis 7 . Dennoch ließ die Auswertung des zur Verfügung stehenden Gesamtmaterials ein gesichertes U r teil über die politische Persönlichkeit Gürtners in dieser Zeit zu. So waren z.B. die Vorgänge über die Errichtung des Reichsjustizkommissariats und über den Kompetenzstreit Frank—Gürtner i n den Generalakten des Reichsjustizministeriums und i n denen der Akademie für Deutsches Recht sehr aufschlußreich. M i t ihrer Hilfe konnte ein Beispiel für den i m nationalsozialistischen Herrschaftssytem typischen Dualismus von Partei und Staat i m allgemeinen und dessen Auswirkungen innerhalb des Justizbereiches i m besonderen gegeben werden. Gürtners Kampf u m die Erhaltung und Festigung des Rechts konnte hauptsächlich durch Kabinettsprotokolle, schriftliche Kabinettsunterlagen, Material über die Erneuerung des Strafrechts, sein Diensttagebuch, zahlreiche Nürnberger Dokumente und seine Korrespondenz m i t Parteimächtigen und Kabinettskollegen belegt werden. Sie zeigen sein starkes Engagement, aber auch seine heillose Verstrickung m i t dem NS-Unrechtsstaat. Gerade darin liegt aber die Bedeutung der Persönlichkeit Franz Gürtners, die eine wissenschaftliche Biographie rechtfertigt: er wurde nicht zum automatisch funktionierenden Rädchen i m NS-Machtapparat, nicht zum willenlosen Erfüllungsgehilfen Hitlers, obwohl seine Tragik die Tragik vieler i m Dritten Reich war — als einzelner mußte er letzten Endes, ohnmächtig gegenüber einem alles beherrschenden Unrechtssystem, scheitern. 6

R 22/4103: Absage an H. F r a n k zu Hausmusikabend für 3. 3.1936; R 22/4104: Absage f ü r die Feier bei der Eröffnung des „Hauses des Deutschen Rechts"; R 22/4128: Ablehnung der Einladung z u m Juristenball des NS-Rechtswahrerbundes i m November 1936; Absage einer Einladung Franks v o m 3.9.1936 zum Tee; Teilnahme an Wahlkundgebung 1936 wegen diplomatischer V e r pflichtung abgelehnt; Absage einer Einladung der Gaufachschaft Justizverwaltungen der N S D A P v o m Januar 1936; Absage einer Einladung zum Reichsleiter der Gauunterabteilungsleiter; Absage einer Einladung zur K u n d gebung des Amtes f ü r Beamte der N S D A P f ü r 19.11.1935. 7 Siehe 2. Τ I I I 1, A n m . 8 u n d 2. Τ I I I 3, A n m . 60, 61, 66, 69. Aus Gründen der Platzersparnis w u r d e n bei den Anmerkungen folgende Abkürzungen verwendet: 1. W i r d ein Hinweis auf eine A n m e r k u n g desselben Kapitels gegeben, erfolgt hinter A b k ü r z u n g „ A n m . " die fortlaufende Nummer. 2. W i r d ein Hinweis auf eine A n m e r k u n g eines anderen Kapitels gegeben, bezeichnet die A b k ü r z u n g „1. T " oder „2. T " den Ersten oder Zweiten T e i l der Arbeit, die römische Ziffer das jeweilige K a p i t e l u n d die darauf-

Zum Problem einer politischen Biographie

3. 4.

5. 6.

19

folgende Zahl den Gliederungspunkt, unter dem die zitierte A n m e r k u n g zu finden ist. B e i Zitierungen wiederholter T i t e l erfolgte lediglich Nennung des A u t o r e n namens sowie Angabe der Seitenzahl. Der volle T i t e l erscheint i n den Anmerkungen bei Erstnennung. Bei Zitierung mehrerer T i t e l ein u n d desselben Verfassers richtet sich die angegebene römische Ziffer nach der Reihenfolge der Erstnennung i n den Anmerkungen. Diese Bezifferung ist auch i m Schrifttumsverzeichnis angegeben. Die A b k ü r z u n g „a. O." wurde lediglich f ü r Archivalien verwendet. Anderweitige Abkürzungen sind dem Abkürzungsverzeichnis zu entnehmen.

ERSTER TEIL

Werden und Weg 1881-1932 Erstes Kapitel Jahre der Bewährung 1. Herkunft, Schule und juristische Ausbildung Als Franz Gürtner am 26. August 1881 i n Regensburg geboren wurde, hatte das einstige Zentrum des Reiches schon lange seine Bedeutung verloren. Zwar schien über Rundbögen und Spitzgiebel, über Kirchen, Palästen und engen Gassen die Zeit stehengeblieben, als würde der Reichstag immer noch zusammentreten, doch der Schein trog: Regensburg war nicht mehr als eine provinzielle Kleinstadt, die von ihrer ruhmreichen Vergangenheit lebte. A m wirtschaftlichen Aufschwung der Gründerjahre hatte es, anders als Augsburg oder Nürnberg, nur am Rande partizipiert, da es an den Voraussetzungen für die Ansiedelung größerer Industrien fehlte, und so war es als Metropole des Regierungsbezirkes Oberpfalz hauptsächlich eine Verwaltungs- und Beamtenstadt. Das ehemalige selbstbewußte, ständische Bürgertum war zur Bourgeoisie geworden, und so lebte man i n einer Welt der Behaglichkeit und des Biedersinns. Es war die Atmosphäre, i n der alles i n Ruhe und Ordnung schien, wo Neues nur entstehen konnte, wenn es sich organisch an das Alte reihte und wo Sittsamkeit und Fleiß die bindenden Kräfte des Fortschritts waren. Soziale Konflikte, politischer Extremismus und der L ä r m des Kulturkampfes wurden lediglich als Grollen eines weit entfernten Gewitters vernommen. Selbst war man national, aber doch i n erster Linie bayerisch, und man war katholisch. So lagerte sich bürgerliche Emsigkeit um die einstigen Zentren einer größeren Vergangenheit. Etwas von all dem wiederholte sich haus Gürtner. Der Vater Franz Xaver rer, die Mutter Maria, geb. Weinzierl, schen Metzgermeisters 1 . Es waren die

i m Kleinen auch i m ElternGürtner war Lokomotivfühwar Tochter eines einheimiVerhältnisse eines rechtschaf-

1 Die Familie des Vaters k a m aus Oberbayern. Der Großvater Franz G ü r t ner w a r i n Bad Reichenhall Salinenwachtmeister gewesen, die Großmutter

1. Kap.: Jahre der Bewährung

21

fenen und strebsamen Kleinbürgertums, also jenes Mittelstandes, „der sich nach einer Definition Gustav Schmollers aus dem alten Mittelstand, d . h . den Inhabern von Kleinbetrieben auf gewerblicher, kaufmännischer und landwirtschaftlicher Grundlage, also Selbständigen, und dem neuen Mittelstand, den i n abhängiger Stellung befindlichen Angestellten und Beamten zusammensetzt" 2 . Es ist auffallend, wie sehr das Leben der Familie Gürtner i n dieser Zeit den Auffassungen dieser Schicht entsprach. Obwohl die Mittel, die einem Lokomotivführer zur Verfügung standen, bescheiden waren, bewohnte man ein eigenes Haus i n der Altstadt. Die Erziehung war ganz i m Bewußtsein damals geltender Konvention autoritätsbedacht. Fest verankert i n religiöser Tradition wollte das Elternhaus den Kindern jene Werte vermitteln, die diesen i n der Zukunft ein bürgerliches Glück sichern würden: Ehrfurcht vor Gott und Vaterland, Achtung, Liebe und Dankbarkeit für die Eltern und Respekt vor Lehrern und Vorgesetzten. Wie stark das m i t telständische Bewußtsein seines Vaterhauses Gürtner beeinflußt hat, zeigt ein Vergleich der politischen Forderungen der Mittelstandsbewegung u m die Jahrhundertwende m i t dessen späterem politischen Standort. Der aktive Teil des Mittelstandes verstand sich als Antibewegung. Sie war gegen den Kapitalismus, die Großindustrie, die Warenhäuser, die technische Rationalisierung, sie war gegen den Sozialismus, das Judentum, den modernen Wirtschafts- und Sozialstaat, und sie war schließlich antidemokratisch 3 . Sieht man einmal vom Antisemitismus ab, den Gürtner zumindest innerlich immer abgelehnt hat, entsprach diese Einstellung mehr oder weniger auch seiner späteren politischen Haltung. Als Franz Gürtner i m Herbst 1891 i n das Königlich-Neue Gymnasium Regensburgs (heute Albrecht Altdorfer-Gymnasium) eintrat, zählte dieses 600 Schüler. Es war damit eine der größten Schulen Bayerns, obwohl es, erst 1880 gegründet, nicht zu den Höheren Lehranstalten des Landes m i t alter Tradition zählte. Die Rektoren zur Schulzeit Gürtners waren die beiden Altphilologen Josef Seiz und Dr. K a r l Meiser. Entsprechend dem Lehrauftrag eines deutschen Humanistischen Gymnasiums lagen die Schwerpunkte des Unterrichts auf den alten Sprachen, auf deutscher Literatur und Geschichte. A n n a M a r i a stammte aus Ingolstadt. Der Vater Franz Xaver Gürtner wurde am 27. 2. 1854 i n Bad Reichenhall geboren u n d starb am 13. 5. 1910 i n Regensburg. Die M u t t e r M a r i a Gürtner, geb. Weinzierl, w u r d e am 22. 7. 1841 i n Regensburg geboren u n d starb hier a m 26. 9. 1924. 2 Schnorbus, A x e l : Wirtschaft und 1 Gesellschaft i n Bayern v o r dem Ersten W e l t k r i e g (1890—1914), i n : Bayern i m Umbruch, Die Revolution v o n 1918, ihre Voraussetzungen, i h r Verlauf u n d ihre Folgen, hrsg. K a r l Bosl, München 1969, S. 155. 3 Schnorbus, S. 159.

22

1. Teil: Werden und Weg 1881 - 1932

Gürtner war während der neun Jahre am Gymnasium ein ausgezeichneter Schüler, „ebenso begabt wie fleißig, ehrgeizig und voll Freude am Lernen", wie sich ein Klassenkamerad erinnert 4 . Seine Interessen waren vielseitig; sie galten hauptsächlich den Fremdsprachen, der Kunst und der Musik 5 . Trotz angestrengter Arbeit fand er noch Zeit, sich durch Nachhilfeunterricht einen Teil der M i t t e l zu verdienen, die er für seine Ausbildung benötigte, eine besondere Leistung, wenn man bedenkt, daß der tägliche Unterricht erst um vier U h r nachmittags endete. I n einem abschließenden Gutachten der Schulleitung heißt es über den Schüler Gürtner: „Während seines Aufenthaltes an der Anstalt verband er m i t musterhaftem Verhalten hervorragende Begabung und unermüdlichen, stets gleichmäßigen Fleiß. Von der ersten bis zur letzten Klasse erwarb er sich i n allen Unterrichtsfächern die erste Note, in manchen m i t Auszeichnung, so daß er zu den besten Hoffnungen berechtigt 6 ." I m Sommer des Jahres 1900 legte Gürtner seine Reifeprüfung ab. I n allen schriftlichen Arbeiten sowie i m mündlichen Examen erhielt er durchwegs sehr gute Noten. Aufschlußreich ist die persönliche Beurteilung des Prüfungskommissars Prof. Wiedemann: „Gürtner gehört zu den harmonisch angelegten Naturen, die für alles gleichmäßig Interesse haben; nur ist bei i h m das Interesse ein tieferes als i n den meisten Fällen. Betonend möchte ich bei ihm noch die guten Umgangsformen und seine feine angenehme A r t des A u f tretens hervorheben, die sich gleichweit von Überhebung und falscher Unterwürfigkeit fern halten, Fehler, die bei einem jungen Mann, der sich aus kleinen Verhältnissen durch eigene K r a f t emporgearbeitet hat, gar leicht vorkommen . . ." 7 A m 14. J u l i 1900 fand i m historisch bedeutungsvollen Reichssaal des Regensburger Rathauses die Abschlußfeier für die Absolventen statt. Gürtner hatte als Primus seines Jahrganges die Abschiedsrede zu 4

Mittelbayerische Zeitung v o m 16./17. J u l i 1966, S. 22. Jahresbericht des Neuen Gymnasiums Regensburg v o m Schuljahr 1899/ 1900: I m Wahlfach M u s i k ist eine Cellogruppe von vier Schülern erwähnt. Es ist m i t großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß Gürtner i h r angehörte, da er als Student ausgezeichnet spielte u n d einem Quartett angehörte, das sich regelmäßig traf. Diese F o r m der Hausmusik pflegte er a k t i v seine gesamten Münchener Jahre hindurch bis 1932. Auch i n B e r l i n blieb er seinem Cello treu. I n seinen Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1937/38 erwähnte er öfters, abends gespielt zu haben. 6 Niederschrift des Maximilianeums, i m Besitz der Stiftung. 7 Ebenda. 5

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halten. Seine Ausführungen waren nicht brillant, aber sie ließen bereits etwas von dem reifen Ernst und der willensstarken Zielstrebigkeit erkennen, die den Studenten und späteren Juristen auszeichnen sollten. Nachdem er jedem einzelnen Fach breiten Raum gewidmet und dabei besonders die Nützlichkeit des jeweiligen Bildungswertes für den einzelnen betont hatte, wies er auf das nächste Ziel eines jeden Abiturienten hin, auf die gewissenhafte Vorbereitung zum Beruf:,, Wenn unsere Studien uns befähigen, einst irgend eine nützliche Stelle i n der menschlichen Gesellschaft auszufüllen, so haben w i r unser Lebensziel erreicht. Streben w i r darnach m i t allem Ernste, benützen w i r die hochgepriesene und oft mißbrauchte akademische Freiheit i n einer Weise, daß w i r derselben auch würdig erscheinen... Bleiben w i r stets bei den Grundsätzen, die Eltern und Lehrer schon jetzt i n unsere Herzen gelegt haben; Treue und Liebe zu Gott und Vaterland, wahre Liebe zu den Menschen, die frei ist von allen kleinlichen Bedenken und Rücksichten, warme Begeisterung für alle Ideale unserem modernen Zeitgeist zum Trotz, das mögen Sterne sein, die uns durch unser ganzes Leben leuchten und leiten sollen 8 ." So sprach ein Abiturient, der die Chance zum sozialen Aufstieg, den das Gymnasium bot, v o l l genutzt hatte. Er hatte gelernt, zu lernen, und so würde er i n Zukunft fähig sein, eine nützliche Stelle i n der Gesellschaft einzunehmen. Gewiß, er sollte sich der akademischen Freiheit würdig erweisen! Es war sein Lebensziel und für seinen Weg dorthin war er gewappnet m i t den Lehren seiner humanistischen Bildung. Es nimmt nicht wunder, daß i n seinem Denken und Fühlen der „moderne Zeitgeist" nicht zum inneren Konflikt führte. Wer wollte es i h m vorwerfen, daß er nicht wie sein späterer Studienkollege K a r l Alexander von Müller etwas von dieser „ A r t mittelmäßiger Selbständigkeit i n Reih und Glied" verspürte, etwas von jener Unehrlichkeit der Verbindung dieser humanistischen Bildung m i t dem modernen praktischen Staatszweck, wie Nietzsche es ausgedrückt hatte*? Man mußte schon i n den Salons des Bildungsbürgertums verkehren, u m etwas von der Fin-de-siècle-Stimmung der Jahrhundertwende reflektieren zu können. Gürtner blieb davon unberührt, daher aber auch ungebrochen i n seinem Drang nach oben. M i t festem Schritt trat er, ein junger Konservativer, geprägt von den Idealen eines vergangenen Jahrhunderts i n ein neues, nicht ahnend, wie dieses sein Schicksal verändern würde. A u f Grund seiner ausgezeichneten Leistungen und seines beispielhaften Verhaltens wurde der Absolvent Franz Gürtner i n die königliche Stiftung des Maximilianeums aufgenommen. Entsprechend den 8

Handschriftliche Aufzeichnung v o m 12. 7. 1900, Nachlaß Gürtner. Müller, K a r l Alexander von: Aus Gärten der Vergangenheit, Erinnerungen 1882—1914, Stuttgart 1951, S. 190. 9

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Stiftungssatzungen, wonach ein Maximilianeer kein technisches oder musisches Fach ausschließlich studieren durfte, immatrikulierte er sich i m Herbst 1900 i n der juristischen Fakultät der Universität München. Das ehrenvolle Stipendium w i r d ihm diese Entscheidung nicht allzu schwer gemacht haben, obwohl er, wie bekannt ist 1 0 , auch gerne Musiker oder Architekt geworden wäre. Gürtner verbrachte die acht Semester seiner Studienzeit i n München, Neben seinen juristischen Fächern hörte er Musik- und Literaturgeschichte, einmal hatte er eine Anthropologie- und bei Röntgen eine Physikvorlesung belegt 11 . Als Mitglied des Maximilianeums standen i h m freie Unterkunft und Verpflegung zu und so wohnte er i m monumentalen Prachtbau der Stiftung oberhalb der Isar. Pflichtbewußt wie i n der Schule studierte er auch auf der Universität. I n seinen Briefen, die er i n diesen Jahren seiner Familie schrieb, ist nachzulesen, m i t welchem Eifer er Vorlesungen und Übungen besuchte. Dabei war er keineswegs ein Streber oder Stubenhocker. M i t Passion pflegte er sein Cellospiel und brachte es hier i m Laufe der Jahre zu einer gewissen Meisterschaft, so daß er zuerst sporadisch, später regelmäßig i n einem Quartett musizierte. Zum Ausgleich liebte er ganz besonders eine Form der Geselligkeit: als passionierter Bergsteiger unternahm er öfters gemeinsam m i t Freunden Touren durch die nahegelegenen Alpen. Die erfolgreichen Wanderungen fanden sogar i n den M i t teilungen des bayerisch-österreichischen Alpenvereins Beachtung 12 . Für seine späteren Jahre entscheidend war der Anschluß an das gesellschaftliche Leben Münchens, den Gürtner als Maximilianeer leichter als ein anderer Student seiner sozialen Stellung fand. Einladungen von Philistern zu Empfängen, Konzerten und Theaterabenden halfen ihm, soziale Schranken zu überspringen und ermöglichten ihm so den Zugang zu jenen konservativen Kreisen, die die bürgerliche Szene tonangebend beherrschten. Gürtner schrieb am 8. Juni 1901 an seine Eltern: „ M a n darf schon eine sehr gut dotierte Stellung haben, das habe ich ja schon immer gesagt, wenn man ein Leben führen w i l l , wie es m i r jetzt ermöglicht ist 1 3 ." 10 V o n diesen Ambitionen berichtete sein Sohn Franz-Alfred i n einem Gespräch. 11 Zusammenstellung der von Franz Gürtner an der Universität München belegten Übungen u n d Vorlesungen nach dem Verzeichnis der Quästur der Universität München v o m Wintersemester 1900/01 bis Sommersemester 1904, Universitätsarchiv München. 12 B A : R 22/4099 — Vierseitige V i t a des Reichsjustizministers Gürtner: „Die Liebe zu den Bergen hat i h n seither nicht mehr verlassen u n d es finden sich i n den Jahresberichten des deutsch-österreichischen Alpenvereins nicht wenige Berichte, i n denen er als Teilnehmer an kühnen Besteigungen genannt wird." 13 Nachlaß Gürtner.

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Innerhalb des Maximilianeums hatte er sich der Maximilians-Gesellschaft, kurz M G genannt, angeschlossen, die ihre Bierabende i n der Gaststätte „Viktoria" abhielt. Obwohl der Kontakt ziemlich lose war, w i r d der Einfluß dieser Gruppe auf ihre einzelnen Mitglieder nicht gering gewesen sein. K a r l Alexander von Müller, der zwei Jahre nach Gürtner i n das Maximilianeum eingetreten war, hat etwas von dieser Atmosphäre i n seinen Erinnerungen eingefangen 14 . Man erhält ein gutes Bild, wenn man liest, daß zu jener Zeit Theodor von der Pfordten, damals schon dreißigjähriger Amtsrichter i m Münchner Justizministerium, Mittelpunkt der M G war, eben jener Pfordten, der beim Marsch Hitlers und Ludendorffs am 9. November 1923 den Schüssen an der Feldherrnhalle zum Opfer fiel. Er soll wie ein „geistiger Soldat" gewirkt haben, der etwas „männlich Mitreißendes" an sich hatte, wenn er Diskussionen führte oder „SonntagsWanderungen i m soldatischen Stil" unternahm, „zu denen er feurig Genossen warb 1 5 ". Auffallend war die national-konservative Einstellung dieses Kreises, m i t der eine tiefe Verehrung für Bismarcks Person verbunden war. So schilderte Gürtner nach der Lektüre von Bismarcks „Aufzeichnungen und Erinnerungen" seinem Vater begeistert, daß für den ehemaligen Kanzler eine „markige und kraftvolle Ruhe" charakteristisch gewesen wäre1®, eine Eigenschaft, die K a r l Alexander von Müller bei seinem Kommilitonen selbst rühmte: Gürtner habe sich „durch eine unerschütterliche, fast phlegmatische Ruhe" ausgezeichnet, obwohl ihm bei „aller Behäbigkeit" ein „kernsoldatischer Zug" angehaftet hätte. 17 I n dieser Runde von Männern, denen alles Weichlich-Dekadente fern war, hatte also Gürtner eine neue Heimat gefunden. Er fühlte sich wohl, wie er immer bekannte, wenn er Pfordtens Wander-Einladungen folgte oder i m „Viktoria" A b lenkung suchte, obwohl dies nicht allzu häufig geschah, denn er ordnete seinen gesellschaftlichen Kontakt m i t eiserner Disziplin dem einen Ziel unter, der Beendigung seines Studiums. K a r l Alexander von Müller schreibt i n seinen Erinnerungen, daß das Rechtsstudium Gürtner bis i n sein Innerstes gefesselt habe, „denn alle Labyrinthe des formalen Rechts schienen sich vor seinen Augen in übersichtliche Ordnungen aufzulösen, und innerhalb ihrer Welt gab es gegen seine Entscheidungen kaum einen Einwand" 1 8 . Der damaligen Studienordnung entsprechend wurde Gürtner noch von der Rechtsgeschichte i n die Rechtswissenschaft eingeführt, was für ihn als Studienanfänger den Vorteil hatte, systematisch die Entstehung des positiven Rechts ken14 15 16 17 18

von Müller, 256 ff. v o n Müller, 261/262. Brief v o m 1. M a i 1901, Nachlaß Gürtner. von Müller, 262. Ebenda.

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nenzulernen, Römisches Recht und dessen Geschichte ermöglichten den Zugang zur Pandektenwissenschaft, wodurch ein Verstehen des Privatrechts i m allgemeinen erleichtert wurde; hinzu kam durch die deutsche Rechtsgeschichte die Erschließung solcher Gebiete wie Liegenschaftsrecht, Handels- und Wertpapierrecht und die Theorie der Verbände, Körperschaften und Gesamthände. Berühmte Kollegien wie die von Friedrich Hellmann für Römisches Recht, von J. A. Seuffert für römische und von K a r l von A m i r a für deutsche Rechtsgeschichte boten das historische Fundament, auf dem der angehende Jurist sinnvoll aufbauen konnte. Gürtner zeigte gerade für die historische Entwicklung des Rechts großes Interesse, und so empfand er auch nicht, wie viele seiner Kollegen, diese Fächer als trockene Materie. Als Beispiel für das gerade Gegenteil berichtete er am 12. Mai 1901 i n einem Brief nach Regensburg über die juristische Bedeutung des Trinkens bei den Germanen, ein Thema aus der Vorlesung Amiras über das altdeutsche Privatrecht 1 9 . Die bekannteste Persönlichkeit, bei der Gürtner hörte, war Lujo Brentano, ein Großneffe des Dichters, welcher Volkswirtschaftslehre und politische Ökonomie las. Er war ein Verfechter der Freihandelslehre und baute daher stark auf eine der Weltwirtschaft innewohnende Vernunft. Noch i m Sommersemester 1914, zwei Wochen vor Ausbruch des Weltkrieges, soll er m i t „unwiderstehlicher Logik" nachgewiesen haben, daß die moderne Wirtschaftsentwicklung jeden größeren Krieg unmöglich mache 20 . I m Sommer 1904 legte Gürtner sein Universitätsabschlußexamen ab; damit hatte er den Status eines Rechtspraktikanten erhalten, der ihn zur Ableistung des Vorbereitungsdienstes für den Staatskonkurs, die große juristische Prüfung, berechtigte. Die Stationen seines dreijährigen Praktikums waren ein Amts- und das Landgericht i n Regensburg, das Bezirksamt i n Kelheim an der Donau, der Stadtmagistrat von Nürnberg und schließlich die Kanzlei des Rechtsanwaltes Kißkalt i n München 21 . Seit Oktober 1904 war Gürtner als Einjährig-Freiwilliger beim 11. Infanterieregiment „von der Tann" i n Regensburg verpflichtet. Sein Offizierspatent erhielt er nach einem Manöver i m Sommer 190722. Die Praktikanten jähre waren für Gürtner eine schwere Zeit. Der Dienst an der jeweiligen Behörde kostete ihn beträchtlichen Aufwand 19

Nachlaß Gürtner. von Müller, 265/266. 21 Personalbogen aus den A k t e n des Königlichen Staatsministeriums der Justiz über Dr. h.c. Gürtner, enthalten i n der Personalakte des Reichsministers der Justiz, Dr. h.c. Gürtner Franz, A r c h i v des Bundes Justizministeriums i n Bonn. 22 Offiziers-Patent Nr. 161 v o m 11. 2. 1908 nach einer beglaubigten Abschrift Nr. 9070 des Bayerischen Kriegsarchivs: Auszug aus der Kriegs-Stammrolle u n d Rangliste f ü r den H a u p t m a n n der Reserve a. D. Franz Gürtner, enthalten i n der Personalakte, Archiv des Bundesjustizministeriums Bonn. 20

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und daneben durfte und wollte er seine Prüfungsvorbereitungen nicht vernachlässigen. Daher lebte er zurückgezogen, seine Kräfte ganz auf den Staatskonkurs konzentriert, so daß er dabei sogar selten zum CelloSpiel kam. Er mied fast jeden persönlichen Kontakt m i t der Außenwelt, ja er lehnte es sogar ab, außerhalb der Amtszeit m i t seinen Kollegen zusammenzuarbeiten, da er keinen unter ihnen fand, der seinem K ö n nen ebenbürtig gewesen wäre 2 3 . Unbeirrt, ganz auf sich allein gestellt, bewältigte er den immensen Stoff und trat schließlich i m Herbst 1908 zur gefürchteten Abschlußprüfung an. Seine Leistungen waren sehr gut: Insgesamt qualifizierte er sich m i t einer Gesamtnote von I 37/40 = IP 4 . Gürtner hatte sein Ziel erreicht. 2. Vom Syndikus in der Wirtschaft zum Beamten im bayerischen Justizdienst Während seiner Tätigkeit i n der Münchner Kanzlei Kißkalt war Gürtner i n Verbindung zum bayerischen Brauerbund getreten. Der Anwalt beriet i n Rechtsfragen neben Versicherungs- und Aktiengesellschaften eine Reihe von Münchner Großbrauereien. Da Gürtner oftmals Kißkalt bei dessen Abwesenheit allein zu vertreten hatte, oblagen ihm auch die Rechtsberatungsgeschäfte dieser Unternehmen. So hatte er einmal Gelegenheit, für den Brauereiverband ein Gutachten anzufertigen, in dem er von einem beabsichtigten Prozeß abriet. Der damalige Syndikus Justizrat Roderich Mayr ließ jedoch trotzdem die Angelegenheit vor Gericht verhandeln. Als dann i n erster Instanz zu Ungunsten der Brauereien entschieden wurde und man auch i n zweiter um einen Vergleich bangen mußte, wurde man auf den jungen Juristen aufmerksam 25 . Bereits i m Oktober 1908, also noch vor dem Staatskonkurs, bot der bayerische Brauverein und der Ortsverband der Münchener Großbrauereien für den 1. Januar 1909 Gürtner die Stelle eines Syndikus und Generalsekretärs an. Für die ungewöhnliche Berufung eines Rechtspraktikanten scheint die Tatsache ausschlaggebend gewesen zu sein, daß Mayr einer23

Brief v o m 14. Oktober 1907 aus Nürnberg an seine Familie: „ I c h habe mich jetzt ganz gut eingewöhnt; d. h. an die Leute, einschließlich der K o l l e gen, k a n n ich mich nicht recht gewöhnen. Es ist merkwürdig, welch ein schnoddriger u n d stiftsmäßiger Ton hier unter den Kollegen üblich ist. Der Rechtspraktikantenvereinigung bleibe ich meilenweit fern. N u r zwei von den K o l l e g e n . . . gefallen m i r recht gut; leider können die nicht recht viel, so daß bei gemeinsamen Arbeiten, was von ihnen sehr angestrebt w i r d , nicht jeder so v i e l empfängt als er gibt. Macht aber nichts. Die Hauptsache ist für mich jetzt ein stilles u n d stetiges Arbeiten f ü r mich, besonders i n den Fächern, i n denen die Praxis überhaupt w e n i g Stoff bietet. U n d da b i n ich bisher ganz zufrieden. So fünf Abende i n der Woche zu Hause u n d keine Störung u n d A b l e n k u n g — da gibts schon a u s . . . " 24 Personalakte Gürtner, A r c h i v des Bundesjustizministeriums i n Bonn. 25 Gürtner berichtete darüber am 11.10.1908 nach Regensburg.

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seits selbst den Posten wegen Ämterhäufung und Arbeitsüberlastung aufgeben, andererseits aber seinen Einfluß auch weiterhin aufrechterhalten wollte 2 6 . Da i h m für seine Pläne Gürtner der geeignete Mann schien, wurde dieser dem Präsidenten August Pschorr empfohlen, der nach einem persönlichen Gespräch m i t dem Aspiranten die Berufung aussprach. Bevor Gürtner annahm, hatte er sich jedoch von seinem Freund von der Pfordten beraten lassen. Als Beamter des Justizministeriums w i r d ihn dieser darin bestärkt haben, die angebotene Stellung lediglich als Zwischenlösung anzusehen, denn er (Gürtner) wollte sich von vornherein vertraglich nur für ein Jahr binden 27 . Gürtners Erfahrungen i n den ersten Wochen und Monaten bei den Brauereiverbänden haben dann auch i n keiner Weise dazu beigetragen, seine Skepsis gegenüber einer Karriere i n der freien Wirtschaft abzubauen. Obwohl ihn von der Sache her die Aufgaben seines Geschäftsbereiches interessierten, die sich von Tarifverhandlungen, Namens- und Warenschutz, Preisregulierung und Kartellwesen bis zu Zoll-, Steuerund Gebührenangelegenheiten erstreckten 28 , fand er bei seiner Tätigkeit keine innere Befriedigung. Das lag einmal an dem fachfremden Arbeitsaufwand der ersten Wochen für eine Neuorganisierung der Geschäftsführung und dann zum anderen an den undankbaren Tarifverhandlungen, die zu einer für ihn unerfreulichen Konfrontation m i t den Gewerkschaften geführt hatten. Das Aushandeln neuer Tarife für das Jahr 1909 erwies sich von Anfang an als schwierig, da die Gewerkschaften ihre Forderungen m i t der Androhung von Streik und Boykott unterstrichen hatten. Dennoch war es Gürtner gelungen, ein Ergebnis zu erzielen, m i t dem er meinte, gerade auch die Interessen der Arbeiter gewahrt zu haben. Er zeigte sich daher um so mehr verbittert, als sozialdemokratische Führer den erreichten Kompromiß als „Schlag ins Gesicht" bezeichneten. A m 25. A p r i l 1909 bemerkte er dazu: „Welche Kurzsichtigkeit, welcher Fanatismus! Dabei sind die Arbeiter selbst sehr zufrieden m i t dem, was sie erstritten haben. Nur den Herrn Führern paßt das nicht in den Kram. Parola: Nur keine Zufriedenheit aufkommen lassen, immer hetzen und schüren. Wieviel Arbeitskraft, Aufregung und Geld könnte erspart bleiben, wenn die Leitung der Gewerkschaften i n den Händen ruhiger, besonnener Männer, starker Persönlichkeiten läge! Ja, 26

Diese V e r m u t u n g sprach Gürtner i n einem Brief am 4.10.1908 aus. Ebenfalls i m Brief v o m 4.10.1908: „Ich habe mich gestern dem August Pschorr gegenüber zur Annahme der Stellung bereit erklärt, nachdem ich m i t Pfordten die Sache eingehend besprochen hatte. A u f mehr als 1 Jahr werde ich mich nicht binden; das k a n n ich bei den heutigen Verhältnissen gefahrlos tun.. 28 Nach einem Schreiben von Justizrat M a y r v o m 4. 6.1909 an den Präsidenten des K g l . Landgerichts München I, Personalakte Gürtner, Archiv des B u n desjustizministeriums i n Bonn. 27

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die soziale Frage schaut i m praktischen Leben doch ganz anders aus, als sie Brentano von seinem Katheder aus betrachtet 29 ." Aus dieser frühen politischen Erfahrung mag etwas von Gürtners späterer betont antisozialdemokratischer Einstellung resultiert haben. Bereits i m Mai 1909 war Gürtner entschlossen, seine Stellung zu kündigen. Z u dieser relativ frühen Entscheidung hat nicht zuletzt seine distanzierte Haltung gegenüber seinen Arbeitgebern beigetragen, über die er sich schon i m Januar 1909 i n spöttischer Weise geäußert hatte: „ M i t den Brauern läßt sich recht gut auskommen; da die meisten selbst nicht wissen, was sie wollen, so sind sie für jeden Gedanken, den man ihnen einbläst, recht dankbar 3 0 ." Alle Versuche, ihn durch Gehaltsverbesserungen umzustimmen, ließen ihn kalt, ja verstärkten i m Gegenteil seine Antipathie gegen die „Geldsäcke". A m 25. J u n i 1909 schrieb er an seine Schwester: „Ich habe ganz klare Rechnung gemacht und b i n m i t m i r völlig i m reinen: sich selbst treu bleiben, das ist das Erstrebenswerte und alles andere ist Plunder, das Geld, die Carriere und die „ehrgeizige" Frau, wovor mich Gott bewahren wird 3 1 ." Die weitere Berufswahl ist Gürtner nicht leichtgefallen, zumal er verlockende Angebote von zwei Münchner Rechtsanwaltskanzleien erhalten hatte. Geraume Zeit schwankte er zwischen der Alternative, A n waltsberuf oder Staatsdienst, da ihm beide Möglichkeiten nicht die volle Gewähr zu bieten schienen, für seine Ambitionen geeignet zu sein. „Herrgott, lieber würde ich den Staatkonkurs nochmal machen, wenn ich m i r die Wahlentscheidung damit ersparen könnte", bekannte er am 17. M a i 1909 seiner Schwester 32 . A u f Grund seines starken beruflichen Ehrgeizes war die Skepsis gegenüber dem Staatsdienst zunächst so groß, daß i h n selbst von der Pfordten m i t seinen werbenden Argumenten nicht überzeugen konnte. I m selben Brief vom 17. M a i 1909 meinte er: „ . . . denn wenn ich auch bei der ersten Anstellung etwa 200 Vorleute überspringe, so rentiert sich der Übertritt i n den Staatsdienst nicht, wenn ich etwa später auf die gewöhnliche und übliche Laufbahn rechnen müßte 3 3 ." Gürtners Bedenken scheinen schließlich erst i n einem persönlichen Gespräch m i t dem Justizminister Dr. von Miltner Ende Juni 1909 ausgeräumt worden zu sein. Dieses war zustande gekommen, nachdem er sich formell am 26. Mai 1909 schriftlich für den Justizdienst beworben hatte. Gürtner wurde zum 1. Oktober 1909 als I I I . Staatsanwalt beim Landgericht München I unter besonderer Verwendung i m Justizministerium berufen. 29 30 31 32 33

Brief an seine Eltern, Nachlaß Gürtner. Brief v o m 12. 1. 1909, Nachlaß Gürtner. Nachlaß Gürtner. Nachlaß Gürtner. Nachlaß Gürtner.

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Nach seinem E i n t r i t t i n den Staatsdienst sollte Gürtners Wirkungsbereich in den folgenden Jahren ausschließlich auf das Justizminister i u m beschränkt bleiben. Dies lag i n der unentbehrlichen Position begründet, die er sich durch seine hervorragende fachliche Qualifikation alsbald erobern konnte. Innerhalb weniger Wochen war es i h m gelungen, sich i n die Materie von Justizverwaltung und Gesetzgebung so gut einzuarbeiten, daß ihn seine unmittelbaren Vorgesetzten weitgehend selbständig handeln ließen. Anfängliche Schwierigkeiten hatte er m i t seiner betont sachlich-ruhigen A r t gemeistert. I n einem Brief berichtete er darüber: „Überhaupt die Nervosität! Ich glaube, ich werde nie nervös, bloß deshalb, w e i l mich der Gegensatz reizt. Ich habe meinem Chef auch schon manche Unart abgewöhnt dadurch. Beispiel: der Minister w i l l rasch irgend etwas haben, eine Statistik, ein Gutachten. K a u m gesagt, soils schon dasein. Mein Chef hat meine beiden Vorgänger bei solchen Gelegenheiten bis aufs B l u t gequält. Mich läßt er schön i n Ruhe. Bloß das erste Mal, da kam er auch jede halbe Stunde zu m i r und fragte, ob ich schon fertig sei und störte die Arbeit durch sein fortgesetztes Drängen. Jetzt geht die Geschichte anders. „Bis wann wünscht Excellenz das Betreffende?" — „So bald als möglich." „Bis wann frühestens?" „So bald als möglich." So geht der Karren nicht weiter; also dann anders. „Ich werde das Betreffende bis (genaue Stunde) zur Verfügung stellen." Keine Antwort. Verbeugung. Schluß. Jetzt wissen w i r beide, wie w i r dran sind. Klarheit — oberstes Prinzip i m Leben. Für alle Beteiligten eine Wohltat. Seither b i n ich nicht mehr gedrängt w o r d e n . . . 3 4 " Gürtner begann seine Laufbahn i m Justizministerium als Hilfskraft von zwei Referenten, denen das Personalwesen, ein Teil des Justizetats, die geschäftlichen Beziehungen zu den Kammern des Landtages, die Redaktion des Justizministerialblattes und ein Teil des Unterstützungs- und Pensionswesens unterstanden 35 . Bereits i m Februar 1910 erhielt er ein eigenes Referat, was allerdings sachlich nichts änderte: er hatte weiterh i n Beihilfe zu leisten. Seine Mitarbeit beschränkte sich jedoch vom A p r i l 1910 an hauptsächlich auf die Abteilung von Ministerialrat Dr. Nüßlein, der er bis zum Ausbruch des Weltkrieges i n ununterbrochener Folge angehören sollte 36 . Der Geschäftsbereich dieses Amtes umfaßte das gesamte Personalwesen des Ministeriums, der Gerichte, Staatsanwaltschaften und Notariate, es war m i t den Verhältnissen und der Be-

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Brief v o m 14.11.1909, Nachlaß Gürtner. H S t A : MJu/16844 — Notiz v o m 29. 9.1909: „Der zur Dienstleistung i n das Staatsministerium der Justiz überwiesene I I I . Staatsanwalt Franz Gürtner hat bis auf weiteres i n den Referaten I I I (Ministerialrat von Marth) u n d V I I (Ministerialrat Dr. Nüßlein) Beihilfe zu leisten." 36 H S t A : M J u 16845 — Geschäftsverteilung v o m 1. 4. 1910: Gürtner leistet Beihilfe i m Referat I V (Ministerialrat Dr. Nüßlein). 35

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Setzung des Reichsgerichts befaßt, behandelte die die Justiz betreffenden Landtagsangelegenheiten, hatte über die Qualifikation der Bewerber für den höheren Justizdienst zu achten und führte schließlich den Vorsitz i n der Kommission für die juristischen Prüfungen an der Universität München. I n den vier Jahren i m Referat Nüßlein konnte sich Gürtner die Grundlagen für seine spätere Vormachtstellung i m Justizministerium schaffen. I m Laufe der Zeit delegierte Nüßlein dem unermüdlich Arbeitenden ganze Bereiche seines Referates, so daß dieser bereits i m A p r i l 1912 feststellen konnte: „ . . . ich habe i n der letzten Z e i t . . . mehr an Boden gewonnen... und manchen Faden des großen Webstuhls ganz still und leise i n die Hand genommen, den ich nicht wieder hergebe 37 ." Zeitweise führte Gürtner bei Abwesenheit des Referenten völlig selbständig das gesamte Personalwesen, übernahm die Leitung von statistischen Arbeiten, die dem Landtag vorzulegen waren und bereitete mehr als einmal die gesamten Unterlagen für die Universitätsabschlußprüfung vor. A m 17. J u n i 1912 schrieb er: „Meine Tageszeiteinteilung gestaltet sich immer unangenehmer, da ich fast jeden Tag — vormittag und nachmittag — eineinhalb bis zwei Stunden bei Nüßlein oder dem Minister bin, und zu dem Referatsdienst auch noch die Prüfungssachen jetzt habe. Nüßlein bekommt dafür, daß ich i h m seine Geschäfte besorge, 600 Mark 3 8 !" Es nimmt nicht wunder, daß Gürtners Vorgesetzte i m Ministerium auf seine Mitarbeit nicht verzichten konnten und so jede Versetzung an eine andere Behörde zu verhindern wußten. Vollends unabkömmlich erwies sich Gürtner, als sich herausstellte, daß er auch die Vertretung von anderen Referaten übernehmen konnte, ohne daß es dabei zur Stagnation der Geschäftsführung kam. Seine wichtigsten Erfahrungen i n der Vertretung eines anderen Referates konnte Gürtner beim Begnadigungswesen sammeln, frühe Erfahrungen, die i h m zu einer späteren Zeit, als er selbst diesen Bereich federführend leitete, zugute kamen. Obwohl i h n gerade die speziellen Schwierigkeiten von Strafrechtsangelegenheiten persönlich sehr belasteten, ist er ihnen nicht ausgewichen, sondern hat versucht, sie m i t gewissenhaftem Engagement zu meistern: „O diese ^Begnadigungen, über denen ich den ganzen Tag sitze! Die kleinen Sachen machen m i r keine besondere Arbeit mehr, weil ich die Technik schon los habe; aber die großen! — die zahlreichen Gesuche der zum Tod Verurteilten und lebenslänglich Begnadigten! Da muß man nicht nur unendlich viel lesen, sondern kann auch viel erleben, wogegen die Dramen der Dichter eine lächerliche Kinderei sind. Die Tiefblicke i n diese verschiedenen Men-

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Brief v o m 30. 4. 1912, Nachlaß Gürtner. Brief v o m 17. 6. 1912, Nachlaß Gürtner.

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schenleben und Menschenschicksale gehen wohl nur an dem ganz verknöcherten Bürokraten ohne Eindruck vorüber. —- Ich sehne den Tag herbei, der mich von dieser Tätigkeit wieder befreit 3 9 ." Als Gürtner, der i m März 1912 zum Amtsrichter befördert worden war, i m Sommer 1914 zum Heer einrücken mußte, konnte er m i t Befriedigung auf das Erreichte zurückblicken. Er hatte genügend Gelegenheit gehabt, wie er dies selbst ausdrückte, m i t Spaß zuzusehen, „wie halt das Regieren eine gar so schwere Kunst ist 4 0 ", und konnte so für einige Zeit das Justizministerium m i t dem Bewußtsein verlassen, daß er bei seiner Rückkehr, sollte er den Krieg heil überstehen, m i t einer führenden Position rechnen konnte. 3. Zwischenspiel Krieg Der Ausbruch des Weltkrieges traf Gürtner keineswegs unvorbereitet. Schon nach der Balkankrise i m Herbst 1912 rechnete er m i t einer m i l i tärischen Auseinandersetzung und zog dabei die Beschaffung seiner Ausrüstung ernsthaft i n Erwägung 4 1 . Die Möglichkeiten, sich i m Waffenhandwerk zu üben, hatte er bei den zahlreichen Manövern seit 1905 genützt und dabei seinen Ehrgeiz daran gesetzt, auch auf diesem Gebiet bravouröse Leistungen zu vollbringen. Nach seinen eigenen Angaben war er ein ausgezeichneter Schütze, bewies im Gelände Ausdauer und Zähigkeit, interessierte sich für jede A r t von strategischer Unterweisung und hatte seine reiterlichen Fähigkeiten gerade i m Frühling 1914 an der Münchner Militärreitschule vervollkommnet 4 2 . So trat er am 7. August 1914 wohlgerüstet, jedoch keineswegs so enthusiastisch wie mancher andere, den Waffengang an. Als Verpflegungsoffizier des 11. bayerischen Infanterieregiments kam er i n Elsaß-Lothringen an die Front. Hier nahm er an der Gegenoffensive der 6. und 7. Armee unter Kronprinz Rupprecht von Bayern teil, die am 39

Brief v o m 4. 3. 1910, Nachlaß Gürtner. Brief v o m 18. 7. 1912, Nachlaß Gürtner. 41 Gürtner schrieb a m 11.10.1912 an seine Eltern: „ I m m e r h i n w ü r d e ein vorsichtiger M a n n die Beschaffung der Ausrüstung i n Erwägung ziehen müssen." 42 I n einem Brief aus dem Lager Hammelburg w ä h r e n d eines Manövers v o m 6. 5.1910: „ E i n Beweis der hervorragenden Treffsicherheit: ich habe nach 2 Probeschüssen auf 250 m lauter Elfer geschossen. Neulich w u r d e n auf ein Maschinengewehr (Scheibe m i t 4 ganz kleinen Köpfen, die a m Boden liegen) auf 600 m 24 Schuß abgegeben. 3 Köpfe durchgeschossen, der 3. wahrscheinlich tödlich verletzt (Streifschuß) !" A m 18. 5. 1914 schrieb G ü l l n e r nach Hause: „ E i n anderes besseres B i l d : ich b i n zu dem Reitkurs u n d den Geländeritten der Militärreitschule zugelassen worden. D a r i n liegt eine Anerkennung reiterlicher Qualitäten, denn die M i l i tärreitschule ist quasi die Hochschule des Reitens." 40

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20. August zur Schlacht von Lothringen führte. I m Verlauf der weiteren Westbewegung des deutschen Südflügels war seine Einheit an der Schlacht bei Luneville, an der Belagerung von Nancy und vom 19. bis zum 23. September an vierzehn Kämpfen auf den Maashöhen beteiligt. Die Kampfhandlungen waren äußerst verlustreich; bereits Ende August war die Hälfte der Angehörigen des 11. Regiments gefallen. Auch Gürtner, der während der Gefechte als Ordonnanzoffizier des Stabes fungierte, war mehr als einmal i n höchste Gefahr geraten 43 . Als der Bewegungskrieg im Herbst 1914 zum Stellungskrieg erstarrte, verschanzte sich Gürtners Truppe i n St. Mihiel. I n diesem Städtchen an der Maas sollte er nahezu zwei Jahre bleiben. I m Meßnerhaus der ständig von französischer Artillerie beschossenen Kathedrale richtete er sich seine Unterkunft ein. Von hier aus regelte er i n seiner Eigenschaft als Verpflegungsoffizier die schwierige Versorgung der Stadt m i t Lebensmitteln. A m 14. Oktober 1914 schrieb er nach Hause: „Die Bevölkerung fängt an, Hunger zu leiden. Jedesmal, wo ich mich zeige, werde ich von hungernden Kindern belagert; ich gebe, was ich kann und wollte, ich könnte mehr geben. Das Elend hier ist groß und wächst jeden T a g . . . I h r habt kaum eine Vorstellung davon, was der Krieg für ein Unglück ist für das Land, wo er spielt 4 4 !" Daneben fungierte Gürtner seit Januar 1915 noch als Gerichtsoffizier seines Regiments. Der i n der Zwischenzeit zum Oberleutnant der Reserve Ernannte und m i t dem Ε. K . 2 und dem Bayerischen Militärverdienstorden 4. Klasse m i t Schwertern Ausgezeichnete bekannte, über diese Mehrbelastung froh gewesen zu sein, u m i n der Eintönigkeit des Alltagsdienstes Abwechslung zu haben und sich nicht immer wieder m i t der Frage beschäftigen zu müssen: Wie lange noch? Während der Somme-Schlacht war Gürtner stellvertretender Kriegsgerichtsrat der 6. Infanteriedivision und gleichzeitig Minen43 A m 16. September 1914 berichtete Gürtner i n einem Feldpostbrief: „Den 8. September dürft I h r wieder als einen besonderen Glückstag i m Kalender b u chen. — Ich r i t t gegen Mitternacht m i t meiner Ordonnanz aus der Stellung zum Regimentsstab zurück. Rabenschwarze Finsternis — entsetzlicher GewitterWolkenbruch . . . A u f einmal ist mein Gefreiter verschwunden. M e i n Pferd, das sehr u n r u h i g ist u n d k a u m zu halten, geht bei einem Haubitzenschuß, der i n der Nähe fällt, durch. Der Boden ist über u n d über von schweren Granaten zerrissen; ich erwarte jeden Augenblick, m i t dem Pferd i n einen Trichter zu stürzen u n d m i r den Hals zu brechen. Das V i e h läuft i n rasanter Hast feindwärts; ich ziehe die Pistole, u m es noch rechtzeitig zu erschießen. A u f einmal werde ich angerufen, ein Schuß kracht dicht neben m i r , . . . ich w a r i n der feindlichen Stellung. Z u m Glück komme ich auf schweren Ackerboden, ich k a n n das Pferd wieder i n die Gewalt bekommen, herumwerfen u n d jagen w i e der Teufel davon. U m meine Ohren pfeift und zischt es von Kugeln. Der Gaul m e r k t offenbar selbst die Gefahr u n d zieht w i e der S t u r m w i n d davon . . . So komme ich wieder zu den Unseren, . . . nicht ohne auch v o n meinen Leuten noch angeschossen zu werden." 44

Nachlaß Gürtner.

3 Reitter

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werferoffizier beim Stabe. I n diese Zeit fiel seine Beförderung zum Hauptmann der Reserve m i t dem Patent vom 17.1.1917. Für seine Verdienste um die Truppe hatte er am 16, Oktober 1916 das Ε. Κ . 1 erhalten. Eine abenteuerliche und erlebnisreiche Kriegszeit sollte Gürtner i n Palästina erleben, wohin er gemäß einer O.K. V. vom 3. 9.1917 45 für eine Einteilung bei türkischen Formationen versetzt worden war. I m Februar 1918 war der Aufmarsch des Asienkorps Pascha I I zur Palästinafront beendet. Die Aufgabe der deutschen Verbände bestand darin, die Truppen der türkischen Verbündeten zu stärken; taktisches Ziel sollte die Abwehr der englischen Streitmacht sein, die von Ägypten über den Gazastreifen nach Palästina vorgedrungen war. Doch die Lage des deutschen Korps war von Anfang an hoffnungslos. Einmal waren die für den entfernten Kriegsschauplatz zur Verfügung stehenden Reserven sehr begrenzt und zum anderen war die türkische Armee bereits zu diesem Zeitpunkt durch die britischen Erfolge i n Mesopotamien und Palästina so demoralisiert, daß ihre Führer innerhalb der Mannschafte kaum noch die Disziplin aufrechterhalten konnten. Dennoch ist es den vereinten deutschen und türkischen Verbänden gelungen, bis zum Herbst 1918 in zahlreichen Stellungskämpfen und Abwehrschlachten einen durchschlagenden Erfolg der Engländer hinauszuschieben, obwohl die Verluste der Deutschen sehr hoch lagen. So war von Gürtners Einheit, dem Bataillon 702, nur noch ein Rest Übriggeblieben. Er selbst hatte die Kämpfe heil überstanden und wurde für seinen Einsatz m i t dem Türkischen Eisernen Halbmond und dem Ritterkreuz des Hausordens von Hohenzollern ausgezeichnet. Als die entscheidende englische Offensive am 18. September 1918 begann, war er Führer des Bataillons 703, das m i t den wenigen Uberlebenden des Bataillons 702 zu einer Abteilung vereinigt worden war. Die Einheit lag auf dem Berg Arara i n Stellung, wo ihr nach dem Zusammenbrechen der türkischen Anschlußfront Umzingelung und Abschneidung von den eigenen Verbänden drohte. Gürtners taktische Maßnahmen ermöglichten jedoch die Loslösung vom Feind und den Anschluß zu den eigenen und verbündeten Truppen. Nach zwei Durchbruchsgefechten bei Funduk am 20. und bei Nabulus am 21. September erreichten die Deutschen und die sie begleitenden türkischen Einheiten am Morgen des 23. September nördlich von Besan den Jordan. Hier bei zwei Furten, durch dichte Bewaldung der Uferhöhen geschützt, ging man i n Ruhestellung. Gürtner erhielt vom Korpskommandeur Oberst von Oppen den Befehl, die Truppensicherung bis zum geplanten nächtlichen Flußübergang durchzuführen. Er ging dabei m i t solcher Umsicht vor, daß eine gegen Mittag stattfindende Attacke einer starken feindlichen Kavallerieabteilung, die sich sowohl gegen 45 O.K.V. I I a Nr. 8639 v o m 3. 9.1917 nach der beglaubigten Abschrift des Bayerischen Kriegsarchivs, Personalakte Gürtner.

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die Uferhöhen als auch gegen die Furten richtete, wirksam abgewiesen werden konnte, obwohl ganze türkische Truppenteile i n panischer Angst kopflos die Flucht ergriffen hatten. Dadurch wurde der lebenswichtige Übergang über den Jordan möglich. Gürtner konnte sich das Verdienst zurechnen, durch sein kluges taktisches Verhalten und seinen persönlichen Einsatz die deutschen Einheiten vor einer Gefangennahme oder Vernichtung bewahrt zu haben 46 . I m Dezenmber 1920 beantragte er unter Berufung auf seine Leistung während des Jordanüberganges 47 die Aufnahme i n den Bayerischen Militär-Max-Josefs-Orden, wurde jedoch vom Großkanzler m i t folgender Begründung abschlägig beschieden: „Die Frist für Vorlage von Gesuchen um Aufnahme i n den Bayerischen Militär-Max-Josefs-Orden war m i t dem 1. J u l i 1920 abgelaufen . . . Eine Behandlung Ihrer Eingabe ist deshalb leider nicht mehr möglich. Überdies trägt die von Ihnen geschilderte Tat nicht die nach den Ordenssatzungen geforderten außergewöhnlichen Merkmale, die die Bewerbung für den höchsten bayerischen Kriegsorden als aussichtsreich erscheinen ließen 48 ." Nach der Überschreitung des Jordan erfolgte der auf deutscher Seite geordnete Rückmarsch nach Syrien, der jedoch immer wieder durch die Verfolgung der arabischen Einheiten von T. E. Lawrence gefährdet war. A m 7. Oktober 1918 konnte das Asienkorps glücklich Aleppo erreichen. Bis Ende Oktober erfolgte dann am südlichen Taurus die Bereitstellung zum Rückmarsch durch Kleinasien. Bevor die Truppe am 1. November aufbrach, erhielt Hauptmann Gürtner die ehrenvolle Kommandostelle des Bataillons 702. Es war seine letzte militärische Führungsaufgabe. A m 8. November wurde das Schwarze Meer erreicht, wo ein Schiff bereitgehalten worden war, das die Deutschen nach Konstantinopel brachte. Die Fahrt i n die Heimat erfolgte dann ebenfalls per Schiff bis nach W i l helmshaven. Gürtner konnte am 21. März 1919 entlassen werden.

46 Handschriftlicher Bericht Gürtners über den Übergang des Asienkorps über den Jordan am 23. September 1918, Beilage zu einem Gesuch u m V e r leihung des Ritterkreuzes des Militär-Max-Josefs-Orden v o m 23. Dezember 1920, Nachlaß Gürtner. 47 I n sein Gesuch ließ Gürtner einfließen, daß sein Korpskommandeur Oberst v o n Oppen beim Rückmarsch durch K l e i n - A s i e n i h m gegenüber m e h r mals erwähnt hätte, er w ü r d e sich bei seiner Rückkehr i n die Heimat u m eine Aufnahme Gürtners i n den Max-Josefs-Orden bemühen. Der Oberst konnte v o n Gürtner jedoch nicht mehr als direkter Zeuge benannt werden, da dieser schon i n der T ü r k e i 1919 gestorben war. 48 Handschriftlicher E n t w u r f einer A n t w o r t des Großkanzlers, General der A r t i l l e r i e a. D. von K r a f f t , vom 19.1.1921, Nachlaß Gürtner.

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1. Teil: Werden und Weg 1881 - 1932 4. Staatsanwalt und Referent im bayerischen Justizministerium

Gürtner trat als 2. Staatsanwalt beim Landgericht München I nach mehrwöchigem Urlaub i n Regensburg Mitte A p r i l 1919 seinen Dienst an, also i n einer Zeit größter politischer Wirren. Die alte Ordnung war auseinandergebrochen, i n München war am 7. A p r i l die Räterepublik ausgerufen worden. Gürtner stand den revolutionären Ereignissen verständnislos gegenüber. Sollten die alten Werte, für die man eingetreten war, ja für die man i m Krieg m i t der Waffe gekämpft hatte, nicht mehr gelten? Die Skepsis gegenüber der Sozialdemokratie 49 verdichtete sich zur Angst vor dem Bolschewismus i m eigenen Land. Als Reserveoffizier war man stolz auf die alte Armee und konnte sich daher m i t ihrem Untergang nicht abfinden. Sollten womöglich nun auch die anderen Säulen stürzen, die das Königreich Bayern und das Deutsche Kaiserreich getragen hatten 50 ? M i t Genugtuung betrachtete man daher das Sturmgewitter, das nach der Niederwerfung der Räterepublik über „Gerechte und Ungerechte" niederging 51 . Vor dem Schlimmsten war man verschont geblieben. Aber war es nicht Schmach genug, weiterhin Staatsanwalt i n einem Lande sein zu müssen, das von Sozialdemokraten regiert wurde, also von jenen Kräften, die Deutschland durch eine parlamentarische Demokratie ins Verderben stürzen wollten? Der Unmut über die bestehenden Verhältnisse drängte dazu, sich politisch zu bekennen. Die Tatsache, daß Gürtner am Tage nach dem Kapp-Putsch, als die von der SPD geführte Regierung Hoffmann stürzte und sich m i t der neuen Regierung Kahr ein Rechtsruck i n Bayern vollzog, i n die Stadtkommandant u r versetzt wurde und daß er am 1. August 1920, also unter dem zweiten Kabinett Kahr, als Rat außer dem Status am Landgericht München I i n das vom Deutschnationalen Christian Roth geführte Justizminister i u m zurückkehrte, läßt den Schluß zu, daß er seine Beziehungen zu den national-konservativen Kreisen wieder aufgenommen hatte. Es liegt nahe, daß er bald nach seiner Rückkehr nach München seinen alten Freund Theodor von der Pfordten wiedertraf und daß dieser wegen sei49

Siehe A n m . 29. Siehe 1. Τ I I 1, A n m . 17. 51 Hoegner, W i l h e l m : Der schwierige Außenseiter, Erinnerungen eines A b geordneten, Emigranten u n d Ministerpräsidenten, München 1959, S. 15: „Ich erinnere mich an eine Meinungsverschiedenheit m i t Gürtner über die staatsanwaltschaftliche Behandlung der Ubergriffe bei den Kämpfen u m München anfangs M a i 1919. Gegen einen Offizier, der Menschen w i l l k ü r l i c h hatte erschießen lassen, leitete ich ein Verfahren beim Untersuchungsrichter ein. Dieser H e r r gab m i r die A k t e n m i t der Bemerkung zurück, daß m a n nicht genug Kommunisten erschießen könne. Ich t r u g den F a l l meinem Vorgesetzten, Staatsanwalt Gürtner, vor. Dieser verglich die Niederwerfung der Räterepub l i k m i t einem Sturmgewitter, das über Gerechte und Ungerechte niedergehe. Solche Zeiten könne man nicht m i t dem Strafgesetzbuch messen — die A n klage unterblieb." 50

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ner engen Kontakte zum Lager der Wehrverbände zum Protektor Gürtners wurde 5 2 . Bei der Staatsanwaltschaft hatte Gürtner keinen Wert darauf gelegt, in spektakulärer Weise aufzutreten und sich womöglich durch einen unvorsichtigen Schritt die Karriere zu verbauen. I h n drängte es nach anderer Betätigung. Solange die Sozialdemokraten an der Macht waren, mußte er abwarten, nach dem Regierungsantritt von K a h r aber eröffnete sich ihm die Möglichkeit des Absprungs. Nicht von ungefähr hatte er gerade am 1. A p r i l 1920 einen Bildungsurlaub angetreten, um bis zum 30. Juni bei der Bayerischen Vereinsbank i n München eine Bankpraxis zu absolvieren, bevor sein Wechsel i n das Ministerium zur beschlossenen Sache wurde. Eine abschließende dienstliche Würdigung vom Oberstaatsanwalt und vom Ersten Staatsanwalt beim Landgericht München I wurde bereits am 14. A p r i l erstellt. Darin heißt es: „Der II. Staatsanwalt Franz Gürtner überragt nach seinen Fähigkeiten und Leistungen den Durchschnitt. Ein ruhiges, klares Urteil, ein zielbewußtes Handeln, eine tiefgründige Auffassung und Behandlung seiner Geschäftsaufgaben zeichnen ihn vor allen aus. Seine Geschäftsgewandtheit ist sehr groß . . . Ein kenntnisreicher, gewandter, charakterfester Mann m i t sicherem U r teil . . . Ein besonders tüchtiger Beamter 5 3 ." Solchermaßen ausgezeichnet, rüstete sich Gürtner, jene Positionen wieder einzunehmen, die er bei Kriegsausbruch verlassen mußte. Nun galt es aber nicht nur i n bewährter Manier weiterzuarbeiten, sondern auch politisch daran mitzuwirken, daß der Justizapparat als Bollwerk gegenüber sozialistischen Demokratisierungsbestrebungen erhalten blieb. Dieser sollte der Garant für einen anzustrebenden autoritären Staat sein, der allein, wie Gürtner meinte, eine kontinuierliche, sachliche Regierungstätigkeit gewährleisten konnte 54 . Gürtner hatte allen Grund, m i t sich zufrieden zu sein, denn stand er doch am Beginn einer hoffnungsvollen Karriere und brauchte nun nicht mehr, wie vor seinem E i n t r i t t i n den Staatsdienst, zu befürchten, i n der „üblichen Laufbahn" steckenzubleiben 55 . Der Sommer 1920 war jedoch nicht nur i n beruflicher und politischer Hinsicht eine wichtige Zäsur i n seinem Leben, sondern auch i m privaten Bereich: 52 Die Tatsache, daß Oberlandesgerichtsrat von der Pfordten zum engsten Konspirationskreis der Rechtsradikalen gehörte, wurde durch mehrere Aussagen beim Hitlerprozeß belegt. Siehe dazu auch: Hillmayr, Heinrich: Roter und Weißer Terror i n Bayern nach 1918, München 1974, S. 169. Berücksichtigt man also, daß von der Pfordten intime freundschaftliche Beziehungen zu Männern wie Pöhner, Frick, Seißer, K n e b e l und 1 Dr. Roth unterhielt, erhält m a n eine Vorstellung, w i e w i r k u n g s v o l l v o n dieser Seite her die Protektion f ü r Gürtner gewesen sein muß. Von der Pfordten w a r nicht n u r der Wegbereiter der beruflichen Laufbahn Gürtners v o r dem Krieg, sondern auch der entscheidende Förderer von dessen politischer Karriere. 53 Personalakte Gürtner, A r c h i v des Bundesjustizministeriums. 54 Siehe: 1. Τ I I 1, A n m . 16. 55 Siehe: Anm. 33.

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A m 7. J u l i heiratete er Luise Stoffel, die Tochter des Oberstleutnants Jakob Stoffel aus Neuburg an der Donau 56 . I m Justizministerium übernahm Gürtner entsprechend der Geschäftsordnung vom 18. J u l i 1920 das Referat 1657. Z u seinem Aufgabenkreis gehörte die Behandlung von Beschwerden i n Strafsachen und von Entschädigungen bei unschuldig erlittener Haft i m Benehmen m i t dem Strafrechtsreferenten Dr. Dürr, dem er Beihilfe zu leisten hatte. Außerdem war er stellvertretender Vorsitzender des gesamten Begnadigungswesens und damit verpflichtet, an den Beratungen der Begnadigungskonferenz teilzunehmen. Die Gesamtleitung des letzteren Bereiches übernahm Gürtner, der bereits m i t W i r k u n g zum 1. Januar 1921 zum Landgerichtsrat befördert worden war 5 8 , auf Grund einer Anordnung des Ministers Dr. Roth vom 4. A p r i l 192159. Die Übertragung eines dermaßen wichtigen Amtes läßt das politische Vertrauen, das Dr. Roth i n Gürtner setzte, erkennen. Man muß dabei die engen Verbindungen des Kabinetts K a h r zu der Landesleitung der Einwohnerwehren berücksichtigen, wobei der Justizminister j a eine besonders aktive Rolle spielte, u m zu ermessen, was dies bedeutete. Wenn man weiß, wie direkt sich bei Angelegenheiten der Einwohnerwehren, also ζ. B. auch bei den bayerischen Fememordfällen, die Zusammenarbeit zwischen Landesleitung, Kahr, Roth und Polizeipräsident Pöhner gestaltete, so daß man m i t Recht von einem Interessensyndikat sprechen kann 6 0 , muß man annehmen, daß Gürtner zumindest zum Kreis der Mitwisser gehörte. Ob er allerdings aktiv an dem Komplott der Verwaltungsbürokratie beteiligt war, der es ermöglicht hatte, die Fememörder entweder überhaupt jeglicher Strafverfolgung zu entziehen, oder aber vor einem gerechtfertigten höheren Strafmaß zu bewahren, muß fraglich bleiben. Auch der 27. Ausschuß des Reichstages, der 1927 die Feme-Organisationen und FemeMorde untersuchte, mußte auf Grund der Aktenlage und Befragungen zugeben, daß gegen Gürtner keine Vorwürfe erhoben werden könnten: „ I m Anschluß an die Erklärung des Berichterstatters Dr. Levi ist der Ausschuß schon jetzt i n der Lage festzustellen, daß die gegen den gegenwärtigen Bayerischen Justizminister erhobenen Vorwürfe der Grundlage entbehren 61 ." 56

Personalakte Gürtner, Archiv des Bundesjustizministeriums. Luise G ü r t ner, geb. Stoffel, geb. 18. März 1894. I h r e K i n d e r sind: Fritz Gürtner, Dr. jur., geb. 26. A p r i l 1923, Franz-Alfred Gürtner, Dipl.-Ing. —- Architekt, geb. 11. März 1925, Heinz Gürtner, geb. 6. M a i 1928, gest. 1945. 57 H S t A : MJu/16845 — Geschäftsordnung v o m 18. J u l i 1920. 58 Personalakte Gürtner, A r c h i v des Bundesjustizministeriums. 59 H S t A : MJu/16845 — A n o r d n u n g des Justizministers v o m 4. 4. 1921. 60 Nußer, Horst G. W.: Konservative Wehrverbände i n Bayern, Preußen u n d Österreich 1918—1933, München 1973, S. 143. 61 H S t A : M I n n 73674 — Schreiben Nr. 2013/e L o v o m 24. J u n i 1927, S. 26.

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Verdachtsmomente hatten sich gegen Gürtner i m Fall Härtung aus der Annahme ergeben, er habe am 14. März 1921 zwei Augsburger Staatsanwälte veranlaßt, die Mörder des Kellners Härtung auf freiem Fuß zu belassen. Der Sachverhalt stellte sich folgendermaßen dar: A m 4. März 1921 wurde i m Fluß Zusam unweit der Staatsstraße MünchenAugsburg-Ulm die Leiche von Hans Härtung aus Halle an der Saale gefunden. Die Staatsanwaltschaft Augsburg unter der Leitung des 1. Staatsanwaltes Kraus und des 2. Staatsanwaltes Krick nahm sofort die Untersuchungen auf. Die Ermittlungen ergaben, daß die Leiche, an der schwere Pflastersteine befestigt waren, i n der Nacht vom 3. auf den 4. März m i t einem Kraftwagen an die Fundstelle gebracht worden war. Es konnte festgestellt werden, daß ein L K W , der von einem gewissen Max Neunzert i n Begleitung von vier weiteren, namentlich bekannten Personen chauffiert wurde, i m Auftrag der Landesleitung der Einwohnerwehren in der fraglichen Zeit von München nach U l m unterwegs war. Da man vom Vorleben des Ermordeten auf politische Motive der Tat schließen konnte, setzte sich Staatsanwalt Krick persönlich i n München m i t der Polizeidirektion i n Verbindung. A u f Grund verschiedener Verdachtsmomente erließ Krick am 13. März i n München gegen die Beteiligten Haftbefehl und fuhr gegen Mittag des darauffolgenden Tages zurück nach Augsburg. Hier angekommen, erschien i n seinem Büro Rechtsanwalt Dr. Gademann, der Rechtsberater bei der Landesleitung der Einwohnerwehren i n München und überbrachte die Aufforderung, sich unverzüglich zur Berichterstattung i n der Sache Härtung i n das Justizministerium nach München zu begeben. Da die Aufforderung auch für den 1. Staatsanwalt Kraus galt, berieten die beiden über diese A n gelegenheit kurz, bevor sie i m Wagen Gademanns nach München fuhren. Dabei soll man zu dem Schluß gelangt sein, die Haftbefehle wieder aufzuheben, weil eben doch schwerwiegende Bedenken bestünden, ob die Mörder Hartungs tatsächlich i m rechten und nicht vielmehr im linken Lager zu suchen wären. Später i m Justizministerium habe man dann Landgerichtsrat Gürtner, der als Vertreter des erkrankten Strafrechtsreferenten fungierte, Vortrag über die bisherigen Ergebnisse gehalten. Dieser habe sich auf die Entgegennahme des Berichts beschränkt und es geflissentlich vermieden, die Staatsanwälte m i t Weisungen oder Richtlinien zu versehen. Nach diesem Vorgang stellte Staatsanwalt Kraus den Vollzug der erlassenen Haftbefehle vorläufig ein 62 . Demnach kann tatsächlich, wie dies auch der Untersuchungsausschuß festgestellt hat, nicht der positive Beweis erbracht werden, daß Gürtner sozusagen als verlängerter A r m des Ministers aktiv an dem Vorgang beteiligt war. Die Wahrscheinlichkeit, daß Dr. Roth sich nicht der Person Gürtners sondern Dr. Gademanns bediente, um die Staatsanwälte 62

G S t A : M A 103278 — Schreiben Nr. 38188 v o m 3. August 1926, S. 2 ff.

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zu bewegen, die Haftbefehle auszusetzen, ist sehr groß, denn ist doch nicht anzunehmen, daß Gürtner, bei allem Wohlwollen für die rechtsstehenden Kreise, sich i n solche Händel eingelassen hätte. Dazu waren seine Beziehungen zur Einwohnerwehr, das zeigt sein späteres Verhalten 6 3 , nicht eng genug, um ihn als Verschwörer i n dieser Richtung bezeichnen zu können. Wäre es anders gewesen, hätte Gürtner organisatorisch engagiert sein müssen; er war aber weder durch eine Funktion i n der Einwohnerwehr, noch war er zum damaligen Zeitpunkt parteipolitisch gebunden. Außerdem war es eine ausgeprägte Charaktereigenschaft Gürtners, niemals etwas leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Es ist also kein Grund ersichtlich, weshalb Gürtner so seine Karriere hätte gefährden sollen. Trotz alledem darf aber nicht übersehen werden, daß Gürtner auch weiterhin m i t der politischen Richtung eines K a h r und Roth sympathisierte. Gewiß, es entsprach nicht seinem Stil, eine FemeOrganisation gutzuheißen, deswegen w i r d er aber die politischen Ziele der Einwohnerwehren nicht verdammt haben. So sehr er sich um rechtliche Objektivität bemüht haben mag, er konnte es nicht verbergen, daß sein Herz für rechts schlug und ihm daher so manche Vorkommnisse verständlich erschienen 64 . Das eingestandene Ziel seiner politischen Freunde war die Beseitigung des Weimarer Staates und daß man die Verwirklichung eines solchen Vorhabens nicht m i t dem Strafgesetzbuch messen könne, war sein eigenes Bekenntnis 65 . I h m galt die sachlichruhige Justizarbeit zu viel, als daß er sich wegen einiger politischer Wechselfälle hätte aus der Bahn werfen lassen, und so tat er zumindest innerhalb des Ministeriums nichts, was ihn bei einem Justizminister wie Christian Roth hätte diskreditieren können 66 . N u r so konnte Gürtner seine Chancen zu weiterem Aufstieg wahren; letztlich sollte ihm der Erfolg i n dieser Hinsicht recht geben.

« Nußer, 272—273. 64 Siehe A n m . 51. 65 Ebenda. 66 Andernfalls w ä r e es nicht erklärbar, weshalb Gürtner nach ungewöhnlich kurzer Zeit, nämlich bereits a m 1. Oktober 1921, zum Oberregierungsrat ernannt wurde.

Zweites Kapitel Der bayerische Justizminister 1. Die Bayerische Mittelpartei und das zweite Kabinett Lerchenfeld Hinter der Berufung Gürtners zum bayerischen Staatsminister der Justiz i n das zweite Kabinett Lerchenfeld standen die politischen Vorgänge i n Bayern nach der Ermordung Walter Rathenaus am 24. Juni 1922. Seit der Demission Kahrs, als auch der eigene Gewährsmann i n der Regierung, der Vertreter der Bayerischen Mittelpartei (BMP), Justizminister Dr. Roth, ausgeschieden war, versuchte man auf Seiten der Vaterländischen Verbände die Regierung Lerchenfeld zu Fall zu bringen, da sich diese um ein gutes Verhältnis m i t der Reichsregierung bemühte. Das hatte schon zu Beginn des Jahres 1922 zu KoalitionsVerhandlungen geführt m i t dem Ziel, die B M P wieder an der Regierung zu beteiligen. Schon damals, i m März 1922, war von Seiten der Mittelpartei Gürtner als Kandidat für den Posten des Justizministers ins Gespräch gebracht worden 1 . Nun i m Sommer 1922, nachdem die Reichsregierung durch die Verordnung zum Schutz der Republik den Ausnahmezustand erklärt hatte, der empfindlich i n die bestehende Justiz- und Polizeihoheit der Länder eingriff 2 , wurde der Druck von rechts auf Lerchenfeld so massiv ausgeübt, daß dieser entgegen seiner bisherigen Haltung gezwungen war, offen gegen das Reich Stellung zu nehmen, indem er die Bestimmungen des Ausnahmegesetzes nicht durchführen ließ, obwohl noch i m Reichstag durch Umgestaltung dem Gesetz die Spitze abgebogen worden war. A u f Vorschlag des Innenministers Schweyer erließ man eine eigene bayerische Verordnung, die inhaltlich der des Reiches entsprach, aber ihre Durchführungskompetenz ausschließlich auf die bayerischen Organe beschränkte. Damit war es zwar Lerchenfeld gelungen, die Verbände zu beschwichtigen und sich somit selbst noch an der Macht zu halten, er konnte jedoch nicht das Ausscheiden der Demokraten, Handelsminister Hamm demissionierte, verhindern. Damit war der Weg für einen 1 P o l i t i k i n Bayern 1919—1933, Berichte des württembergischen Gesandten Carl Moser von Filseck, hrsg. Wolfgang Benz, Stuttgart 1971, S. 93. 2 Verordnung zum Schutz der Republik v o m 21. J u l i 1922, RGBl. I, 1922, S. 585 ff. Der erste Abschnitt enthält das Verbot politischer Versammlungen, w e n n zu befürchten steht, daß republikfeindliche Bestrebungen damit v e r bunden sind. Der zweite Abschnitt enthält Strafbestimmungen, der d r i t t e die Errichtung eines Staatsgerichtshofes u n d der vierte betrifft Presseverbote.

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erneuten Regierungseintritt der bayerischen Deutschnationalen frei, was eine deutliche Verschiebung der Gewichte von der Mitte nach rechts nach sich zog. Diesem Schritt der B M P lagen die Überlegungen ihres Vorsitzenden Dr. Hilpert zugrunde, daß einzig und allein durch Verhandlungen das Reich gezwungen werden konnte, i n der Frage des Ausnahmezustandes einzulenken. Da seiner Meinung nach das Republikschutzgesetz „Waffen gegen die Rechte und die Deutschnationalen schmieden sollte", mußte die Stelle, „wo diesen Waffen am wirkungsvollsten begegnet werden konnte 3 ", m i t einem eigenen Mann besetzt werden, und das war das Justizministerium. Erst wenn solchermaßen die Rechte wieder gestärkt wäre, könnte Bayern zum Bollwerk gegen den „Berliner sozialdemokratischen Zentralismus" gemacht werden. Der Mann von Hilperts Wahl für diesen Posten mußte drei Eigenschaften besitzen: er bedurfte zur Übernahme des Amtes der fachlichen, juristischen Fähigkeit, mußte bereit sein, einen legalen Kurs der Parteivorstandschaft zu unterstützen und durfte politisch nicht vorbelastet sein. Alle drei vereinigte Gürtner i n auffallender Weise i n seiner Person: er war bewährter Fachmann, galt als politisch gemäßigt und war zu diesem Zeitpunkt noch kein Parteimitglied, obwohl er der B M P nahestand. Gürtner wurde am 4. August 1922 zum Justizminister berufen. Kurz nach Umbildung seiner Regierung reiste Lerchenfeld am 9. A u gust 1922 zusammen m i t Gürtner und Schweyer nach Berlin, um Verhandlungen über die Beilegung des Konflikts zwischen Bayern und Reich aufzunehmen. Bereits am 11. August wurden die Ergebnisse der Besprechungen i m sogenannten Berliner Protokoll niedergelegt. Demnach erklärte die Reichsregierung, daß ihre Politik nicht planmäßig darauf gerichtet sei, „die Zuständigkeiten der Länder fortschreitend einzuschränken, sie letzten Endes ihres staatlichen Charakters zu entkleiden und das Reich immer mehr zum Einheitsstaat zu gestalten 4 ." Der bundesstaatliche Charakter des Reiches sei i n der Verfassung anerkannt und die Reichsregierung beabsichtige nicht, die Hoheitsrechte der Länder an sich zu ziehen. „Sie ist der Überzeugung, daß die einzelstaatliche Gliederung der Länder der reichen Mannigfaltigkeit des deutschen Wesens und deutscher K u l t u r entspricht und daß die Pflege des Stammesbewußtseins in lebendigen, engeren Gemeinwesen die beste Gewähr reichsfreudiger Einordnung in das Ganze der Nation ist 5 ." Die Reichs3 Hans Hilpert, Meinungen u n d Kämpfe, Meine politischen Erinnerungen, M a n u s k r i p t Bd. I V . Siehe dazu auch Liebe, Werner: Die deutschnationale Volkspartei 1918—1924, Düsseldorf 1956, S. 71 ff. 4 G S t A : M A 103165 — Berliner Protokoll der Besprechungen v o m 9./10. August 1922, S. 7. 5 Ebenda.

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regierung betonte, daß die Einschränkungen der Justiz- und Polizeihoheit zeitlich beschränkt bleiben sollten. I m Gegenzug verpflichtete sich Bayern, seine Verordnung bis zum 18. August aufzuheben. Der Beitrag Gürtners zu dieser Vereinbarung muß nicht gering gewesen sein, denn war es doch seinem Auftreten zuzuschreiben, daß Lerchenfeld seine ursprünglichen Bedenken gegenüber einer Beteiligung der Mittelpartei an der Regierung grundlegend revidierte. Gegenüber dem w ü r t tembergischen Gesandten Moser von Filseck äußerte er sich nach seiner Rückkehr nach München: „ E r müsse übrigens sagen, daß, obgleich er anfangs für den E i n t r i t t der Mittelpartei i n die Koalition nicht sehr eingenommen gewesen sei, er jetzt einsehe, wie wichtig diese Koalitionserweiterung sei. Was man erreicht habe, das verdanke man zum guten Teil der M i t w i r k u n g dieser Partei. Insbesondere sei Dr. Gürtner ein ganz hervorragender Mann, der sich i n Berlin durch klare Sachlichkeit und konziliantes Wesen beim Verhandeln ausgezeichnet habe, so daß der Herr Reichspräsident sich darüber ganz besonders anerkennend ausgesprochen habe 6 ." Ministerpräsident Lerchenfeld hatte die endgültige Zustimmung der getroffenen Vereinbarungen von der Genehmigung des Gesamtministeriums abhängig gemacht, das sich erst nach Fühlungnahme m i t Vertretern der Koalitionsparteien schlüssig werden mußte. Gerade bei die sen wurde aber die Lösung als nicht voll befriedigend angesehen; insbesondere die Frage des Staatsgerichtshofes blieb vorerst umstritten. Es ging vor allem um die Besetzung des Gerichtes, um das Begnadigungsrecht und u m die A r t der Verfahrensüberweisung. So war man sich innerhalb der Koalition über die Notwendigkeit neuer Verhandlungen einig, die Festsetzung der Minimalforderungen einer bayerischen Position erwies sich jedoch als äußerst schwierig. I n den Verhandlungen der Koalitionsparteien am 17. August 1922 traten darüber Meinungsverschiedenheiten zwischen der B M P und der B V P auf. Der Bauernführer Dr. Heim stimmte zwar Dr. Hilpert zu, daß man i n nochmaligen Gesprächen m i t Berlin möglichst viel herausholen sollte, warnte jedoch davor, die Forderungen zu überspannen: „Was w i r an Komplikationen hineintragen, läßt die Gefahr wachsen, daß der Konflikt uns zugeschoben w i r d und daß Berlin i n gar keine Verhandlungen mehr eintritt, sondern einfach ultimativ vorgeht 7 ." Hilpert wollte sich nicht m i t dem Mindestprogramm der BVP, nämlich Wunsch nach Überweisung aller Vergehen an die ordentlichen Gerichte der Länder, zumindest aber die ausnahmsweise Aburteilung von Vergehen durch den Staatsgerichtshof i m „Einverständnis m i t der Landesregierung", Errichtung eines bayerischen, zuβ

Moser von Filseck, S. 107. G S t A : M A 103163 — Protokoll der Verhandlungen der Koalitionsparteien am 17. August 1922, S. 2. 7

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mindest aber eines süddeutschen Senats beim Staatsgerichtshof und schließlich Einschaltung des bayerischen Einflusses bei der Berufung der Richter sowie bei der Ausübung des Gnadenrechts, zufrieden geben, wollte dieses allenfalls als letzte Verteidigungslinie anerkennen, sondern forderte darüberhinaus eine betonte Herausstellung des föderativen Gedankens: „Was w i r tun müssen, ist das Folgende: Die bayerische Regierung w i r d einen Antrag an den Reichsrat einbringen, der zum Ziele hat, die Lücken i n der Weimarer Verfassung hinsichtlich der Anerkennung der Staatlichkeit der Länder zu schließen und dementsprechend i n der Verfassung den Grundsatz festlegen, daß die solcher Gestalt den Ländern zustehenden Hoheitsrechte nicht ohne deren Zustimmung i m Wege der Reichsgesetzgebung beseitigt oder beeinträchtigt werden können. Die Reichsregierung verpflichtet sich, diesem Antrag ihre Unterstützung zu leihen und gegebenenfalls von der Befugnis des A r t . 69 Abs. I Satz 2 Gebrauch zu machen®." Demgegenüber gab der FraktionsVorsitzende der BVP, Prälat Wohlmuth, zu bedenken, ob es zweckmäßig sei, „jetzt i n diesem Moment die Reichsregierung zu verpflichten, einen solchen A n trag zu stellen, vielleicht zu einer ganz Unrechten Zeit, wo w i r sicher nichts erreichen. Jetzt i n diesem Moment ist doch die Hauptsache den Staatsgerichtshof unschädlich zu machen und der w i r d unschädlich gemacht, wenn die Mindestforderungen erfüllt werden . . . Es hat Leute gegeben, auch i n unserer Partei, die gesagt haben: Bei dieser Gelegenheit verlangen wir, daß w i r unsere Finanzhoheit wieder bekommen, daß w i r die Eisenbahnen wieder zurückbekommen, die Posten. Das wäre alles ganz wunderbar, ich wäre ganz einverstanden, wenn w i r diese Forderungen stellen könnten; aber w i r können das nicht verquicken und w i r können darum dem nicht beistimmen, daß anders Sie zu verquicken suchen. Ich glaube, Herr Kollege Hilpert, daß Sie nicht zweckmäßig handeln, selbst von Ihrem Standpunkt aus, selbst vom Standpunkt der Erreichung dieses Zieles, das uns ein Höchstes ist, und so glaube ich, wenn Sie das auf sich wirken lassen, werden Sie das doch sicher einsehen 9 ." Hilpert zeigte sich jedoch alles andere als einsichtig und beharrte auf seinem Standpunkt. Schließlich kam trotzdem ein Kompromiß zustande, nachdem schon zuvor Heim zu vermitteln versucht hatte, indem er den ersten Satz der Hilpert-Forderung billigte, jedoch den zweiten m i t der Begründung ablehnte: „ M i t dem ersten Satz bin ich einverstanden, jawohl; m i t dem zweiten Satz: Nein! Es ist niemals klug, in einer Verhandlungsepoche dem anderen den Stock vor die Füße zu halten, daß er darüber springt und das ist doch ein Stock. M i t dem Teil, der rein verfassungsmäßig ist, daß w i r diese Forderungen i m Reichsrat vertreten, auch i m Reichstag, m i t dem bin ich einverstanden. Aber daß w i r jetzt « a. O. S. 7. 9 a. O. S. 22.

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der Reichsregierung etwas vorschreiben, der Reichsregierung, die doch gar nicht nach demokratisch-parlamentarischem Prinzip aus uns geboren, von uns bestimmt ist, die doch auch ihren eigenen Anschauungskreis hat, das können w i r nicht. M i t einem solchen Programm dürfen w i r nicht unsere Minister zu nochmaligen Verhandlungen beauftragen™." A m Schluß der Sitzung einigte man sich neben der Akzeptierung des Mindestprogrammes auf folgende Erklärung, die der Reichsregierung unterbreitet werden sollte: „1.) Die bayerische Staatsregierung w i r d einen Antrag beim Reichsrat einbringen, der zum Ziele hat, die Lücken i n der Weimarer Verfassung hinsichtlich der Anerkennung der Staatlichkeit der Länder zu schließen und dementsprechend i n der Verfassung den Grundsatz festlegt, daß die solchergestalt den Ländern zustehenden Hoheitsrechte nicht ohne deren Zustimmung i m Wege der Reichsgesetzgebung beseitigt oder beeinträchtigt werden können. 2.) Die Koalitionsparteien legen der bayerischen Staatsregierung nahe: Die bayerische Staatsregierung w i r d bei der Reichsregierung m i t allem Nachdrucke dahin arbeiten, daß die Reichsregierung diesem Antrag ihre Unterstützung leiht und gegebenenfalls von der Befugnis des A r t . 69 Abs. 1 Satz 2 der Reichsverfassung Gebrauch macht 11 ." Die bayerische Verhandlungsdelegation konnte dann einen Tag später i n Berlin hinsichtlich der Minimalforderungen die Reichsregierung zu weitgehenden Zugeständnissen bewegen. Dabei wurde folgende Ubereinkunft erzielt: Beim Staatsgerichtshof wurde ein süddeutscher Senat errichtet. Das Begnadigungsrecht i m Bereich des süddeutschen Senats lag i n der Hand des Reichspräsidenten i n Zusammenarbeit m i t der jeweiligen Landesregierung. Der Oberreichsanwalt erhielt einen bayerischen Referenten und die bayerischen Staatsanwälte sollten bei der Überweisung an den Staatsgerichtshof mitwirken 1 2 . Bezüglich eines Reichsratsantrages ließ Reichskanzler W i r t h Ministerpräsident Lerchenfeld wissen, daß die Reichsregierung bereits i m Protokoll vom 11. August die Zusage erteilt habe, daß das Reich die Hoheitsrechte der Länder nicht unter Abänderung der verfassungsmäßigen Zuständigkeiten des Reichs an sich ziehen wolle. Die Reichsregierung sehe sich aber nicht i n der Lage, eine allgemeine Zusicherung dahingehend abzugeben, daß sie von ihren i n der Reichsverfassung bereits begründeten gesetzgeberischen Zuständigkeiten keinen Gebrauch machen werde. Sie glaube jedoch hinreichend zum Ausdruck gebracht zu haben, „daß sie von den noch nicht ausgeschöpften Zuständigkeiten nicht ohne Not und soweit möglich, nicht ohne Zustimmung des Reichsrats Gebrauch machen wird, und nicht willens ist, bisherige Aufgaben der Länder i n die Verwaltung des Reichs 10 11 12

a. O. S. 11. a. O. S. 29. Das Deutsche Reich, Bd. I, B e r l i n 1930, S. 148.

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durch neue Reichs-, Mittel- oder Unterbehörden zu übernehmen 13 ." M i t diesem Ergebnis gaben sich schließlich alle Koalitionsparteien, auch die BMP, zufrieden; die bayerische Verordnung wurde aufgehoben. Obwohl die Zustimmung Hilperts realpolitisch vernünftig war, denn konnte er doch den Zusammenhalt der Regierung nicht gefährden, wollte man sich auf Seiten der Verbände keineswegs damit zufrieden geben. Unmittelbare Folge davon waren Richtungskämpfe innerhalb der BMP. Unter der Leitung des Obersten a. D. Rudolf von Xylander forderte der Kreisverein München in einer Entschließung vom 25. August den Rücktritt Gürtners wegen Schädigung von Parteiinteressen. Diese Resolution wurde i n völlig unüblicher Weise dem Ministerpräsidenten zugeleitet. Damit war es zum offenen Streit zwischen Gemäßigten und Radikalen innerhalb der Partei gekommen, denn es war klar, daß sich die Rücktrittsforderung an Gürtner i n erster Linie an den Vorsitzenden Hilpert richtete, dessen politische Richtlinien Gürtner i n Berlin m i t vertreten hatte. Die weitere Entwicklung ging dann sehr rasch vonstatten, Eine alsbald i n Nürnberg einberufene Landesausschußsitzung bestätigte Hilpert die Haltung seiner Fraktion und erteilte eine deutliche Rüge an Xylander, der sich ungeachtet dessen schon einen Tag danach vom Kreisverein München sein Vorgehen bestätigen ließ. Daraufhin wurde i n einer erneut einberufenen Landesausschußsitzung einstimmig beschlossen, „daß alle Parteiangehörigen an ordnungsgemäß m i t Mehrheit gefaßte Entscheidungen des obersten Organs der Partei gebunden seien" und wenn dies nicht befolgt würde, „sich unter Bruch der Parteidisziplin außerhalb der Partei stellten 14 ." Als Oberst von Xylander auch jetzt nicht einlenken wollte und sich im Gegenteil m i t Stimmenmehrheit erneut zum Vorsitzenden des Kreisvereins München wählen ließ, wurde er von der Partei ausgeschlossen. Damit war ein Spaltungsprozeß eingeleitet worden, der nach und nach alle radikalen Elemente aus der Partei absorbierte. Nachdem es auf einem außerordentlichen Parteitag am 19. November 1922 zu keiner Uberbrückung der Gegensätzlichkeiten gekommen war, verließen der Anhang von Xylander und m i t ihm Dr. Buttmann die B M P und traten der „Deutschvölkischen Arbeitsgemeinschaft" bei. Entgegen dem nationalrevolutionären Kurs der Vaterländischen Verbände und der ihnen nahestehenden Kreise, der hauptsächlich i n oppositionellen Aktivitäten außerparlamentarischer A r t bestand, versuchte die B M P Hilperts den parlamentarischen Weg der Mitarbeit zu gehen, ohne die grundsätzliche Ablehnung des Weimarer Staates aufgeben zu wollen. Insofern also man beabsichtigte, das bestehende System zu ver13 G S t A : M A 103165 — Schreiben Rk 6438 des Reichskanzlers W i r t h v o m 20. August 1922 an Ministerpräsident Lerchenfeld. 14 H i l p e r t - M a n u s k r i p t Bd. I V .

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ändern, war man sich innerhalb aller rechts von der demokratischen Mitte stehenden Gruppen der nationalen Opposition einig, hinsichtlich der Frage jedoch, m i t welchen Mitteln dies zu geschehen habe, bestanden erhebliche Unterschiede. Während die Völkisch-Nationalen sich soldatisch-revolutionär gebärdeten, versuchten die Deutsch-Nationalen durch Mitarbeit i n den Institutionen eine evolutionäre Umwandlung des Staates. So definierte Dr. Hilpert i n der Rückschau die B M P als „eine kämpferisch politische Organisation, die sich die Aufgabe gesetzt hat, auf der Plattform des parlamentarischen Systems zu kämpfen, aber i n diesem Kampfe an gewisse Voraussetzungen und Bedingungen gebunden war, die für die Wehrverbände und die freie Bewegung nicht gegeben waren 1 5 ," Gerade diese Position bedeutete aber jene politische Schizophrenie, die für die Deutschnationalen, und das nicht nur i n Bayern, so typisch war und an der sie schließlich zerbrechen mußten. Es war nicht leicht, wenigstens einen Teil des rechten Wählerpotentials von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß Kompromisse m i t der bestehenden Ordnung eingegangen werden müßten, um zu einer Systemüberwindung zu gelangen, wenn andere durch strikte Ablehnung der Republik und durch revolutionäre Taten einen einfacheren und effektiveren Weg einzuschlagen versprachen. So l i t t die B M P unter Hilpert permanent unter dem Dilemma, einerseits antirepublikanische und antidemokratische Ziele zu verfolgen, ohne andererseits auf die parlamentarische Koalitionsfähigkeit verzichten zu wollen. Das hieß ständiges Werben bei den sogenannten „guten Elementen" i n der nationalen Bewegung um die eigene Position und führte daher i n Krisensituationen höchstens zu einer auf Beschwichtigung bedachten Haltung gegenüber den nationalen Aktivitäten der Verbände. Wenn die B M P trotz dieser Zwiespältigkeit das Krisenjahr 1923 nahezu unbeschadet überstand, so lag das darin begründet, daß sich der rechte Flügel der Bayerischen Volkspartei von ihr kaum unterschied. Beide bildeten eine gemeinsame Plattform, auf der die gewagte bayerische Balancepolitik m i t ihrer charakteristischen Rechtsneigung i n den Jahren 1922 bis 1924, und dann noch einmal, wenn auch verändert, bis zum Ausscheiden Gürtners aus der Regierung Held i m Sommer 1932 getragen wurde. Der einzelne, der, wie Gürtner als Minister, diese Politik an verantwortungsvoller Stelle vertrat, befand sich ständig i n einem Spannungsfeld diametral gegenüberliegender Verpflichtungen, die er kaum zu einem gerechten Ausgleich bringen konnte. Wie sollte dies auch gelingen, wenn man zwar die Realitäten der Republik akzeptierte und dabei selbst half, diese i m äußersten Fall gegen Verfassungsfeinde zu verteidigen, aber dennoch innerlich ihr gegenüberstand. Dieses künstlich aufrechterhaltene Auseinanderklaffen von politischer Theorie und Praxis 15

Ebenda.

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bewirkte jene Ambivalenz der Haltung, aus der sich alle Widersprüche und Ungereimtheiten erklären. Man war konservativ und versuchte daher, die alten Werte zu bewahren, d. h. dem Wandel der Zeit möglichst zu entziehen, um die gewollte Restauration des alten Systems zu erreichen, übersah dabei aber, daß man sich m i t jedem weiteren Kompromiß zugunsten der Weimarer Verfassung davon weiter entfernte. So manövrierte man sich selbst in ein politisches Abseits und hinterließ ein immer größer werdendes Vakuum, i n das die national-konservativen Revolutionäre stoßen konnten, um ihre A r t der Systemüberwindung zu verwirklichen. Gürtner zeigte i n den beinahe zehn Jahren seiner Amtszeit als bayerischer Justizminister einen ausgeprägten Sinn für das politisch Mögliche, manchmal für das gerade noch Mögliche und Vertretbare. Mehr als einmal war er der Zerreißprobe ausgesetzt, entweder seinen politischen Auftrag auszuführen und sich damit gegen seine ministeriellen Verpflichtungen gegenüber der Verfassung zu stellen oder umgekehrt. Er war vom ersten Tag seiner Tätigkeit als Minister immer wieder massiven Schwierigkeiten und Anfeindungen ausgesetzt, zuerst, wie oben dargestellt, als er sich um einen Ausgleich m i t dem Reich bemühte, von Teilen seiner eigenen Partei, dann i m Jahre 1927, als es um die Beleuchtung der Rolle ging, welche die bayerische Justiz von 1922 bis 1924 gespielt hatte, von Seiten der Kommunisten und Sozialdemokraten, dabei oftmals unterstützt von einigen Kreisen der BVP, und schließlich zu Beginn der Dreißiger Jahre, als er einen vorsichtigen Kurs gegen Hugenberg einschlug, um den Zusammenhalt der Koalition nicht zu gefährden, wieder von eigenen Parteigenossen. Wenn er sich trotzalledem so lange an der Macht halten konnte, so hatte er das seinem juristischem Geschick, seiner Kompromißbereitschaft und seiner betont ruhigen A r t , die ihn niemals zu unbedachten Äußerungen hinreißen ließ, zu verdanken, Eigenschaften, die ihm später auch i m Dritten Reich sehr zugute kamen. Als Konservativer lehnte Gürtner die Revolution von 1918/19 ab und daher auch das parlamentarische System, von dem er meinte, es würde diesem die für eine verantwortungsvolle Regierungstätigkeit notwendige Kontinuität fehlen 16 . So mußte es ihm darauf ankommen, wenn i h m schon als Deutschnationalen die Konterrevolution nicht als gangbarer Weg erschien, daß die Säulen des alten Reiches gestärkt würden und das waren allemal das Militär und die Justiz. Was bei den Militärs für die Reichswehr, mußte auch bei den Juristen für Rechtsprechung und Verwaltung gelten, sie nämlich von der schädlichen Tagespolitik fernhalten, u m sie nicht dem zersetzenden, marxistischen Einfluß auszusetzen1^ 16

Moser v o n Filseck, S. 212. Gürtners H a l t u n g i n dieser Hinsicht geht aus einem Brief v o m 28.11.1927 an Ministerpräsident Held hervor: „Die Zerschlagung des Heeres u n d der J u stiz w a r das eingestandene Ziel der Revolution. Der erste T e i l des Planes 17

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„Unabhängigkeit der Rechtspflege" lautete daher Gürtners Maxime; es lag auf der Hand, daß dies kein Bekenntnis zum demokratischen Rechtsstaat war, wenn dieser innerlich nicht bejaht wurde. So blieb es nicht aus, daß i n Zeiten, als „Weimar" überwindbar schien, Stellung genommen werden mußte, bei der man dann aber nur mehr schwerlich von „Unabhängigkeit" sprechen konnte. I n dem an politischen Wirren reichen Jahr 1923 konnte keiner abseits stehen, wenn er sich an der Macht halten oder diese erst erringen wollte, auch Gürtner nicht. Man hat nachträglich Gürtners Taktik, die bestehende Staatsautorität nach außen zu unterstützen, ohne der eigenen Gesinnung abschwören zu müssen, das „System Gürtner" genannt 18 . Inwieweit von einem solchen gesprochen werden kann und worin dies bestand, w i r d i m einzelnen zu untersuchen sein. 2. I n politischen Wirren — das „System Gürtner" Ende Oktober 1922 hatten unter dem Beifall der Rechts verbände die politischen und persönlichen Diffamierungen Graf Lerchenfelds von Seiten des Rechtsflügels der B V P so stark zugenommen, daß dieser Anfang November sein A m t niederlegte. Sein Nachfolger wurde Eugen von K n i l ling, „der sich vorher des Einverständnisses der nationalen Kreise versichert hatte 1 9 ." M i t dieser Andeutung hatte Röhm auf die starke A b hängigkeit des neuen Kabinetts, das sonst auf allen Posten unverändert geblieben war, von den Verbänden hingewiesen, eine Abhängigkeit, die sich noch als verhängnisvoll herausstellen sollte. Bayern hatte wieder eine „nationale" Regierung und konnte daher dort anknüpfen, wo K a h r aufgehört hatte, nämlich bei der alten „Ordnungszellenpolitik", und das hieß ganz offen, Kampf gegen die Ordnung von Weimar durch Unterstützung des vaterländischen Gedankens. Getragen wurde diese Politik innerhalb der Verwaltung von der hohen Staatsbürokratie, deren Strewurde erreicht. Die Erreichung des zweiten scheiterte an der Integrität u n d Festigkeit der Beamtenschaft. I n langsamer u n d zielbewußter A r b e i t w i r d darnach getrachtet, das Recht u n d die Rechtsprechung dem W i l l e n u n d dem Gewicht der Masse zu beugen . . . Es darf nicht geschehen, daß eine freiwillige Totengräberarbeit von denen geleistet w i r d , die das Recht als ein unentbehrliches Fundament jeder staatlichen Ordnung begreifen." — G S t A : Nachlaß Held, I I I . Serie P. 13, Mappe Gürtner. Siehe dazu auch A n m . 96 18 Schwend, K a r l : Bayern zwischen Monarchie u n d D i k t a t u r , Beiträge zur bayerischen Frage i n der Zeit von 1918 bis 1933, München 1954, S. 295. Der Ausdruck „System Gürtner" wurde i m Herbst 1927, als der Landtagsausschuß zur Untersuchung der Vorgänge a m 1. M a i u n d am 8./9. November 1923 die Rolle Gürtners beleuchtete, von der sozialdemokratischen Presse verwendet (siehe dazu „ V o r w ä r t s " Nr. 558 v o m 25. November 1927) u n d dürfte von Schwend, der damals Chefredakteur der „Bayerischen Volkspartei-Korrespondenz" u n d als solcher a k t i v an der Pressekampagne gegen Gürtner beteiligt w a r , übernommen worden sein. Siehe dazu auch A n m . 113). 2. In politischen Wirren — das „System Gürtner" 19 Röhm, Ernst: Die Geschichte eines Hochverräters, München 1933, S. 138. 4 Reitter

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ben darauf gerichtet war, ihre seit der Monarchie ungebrochenen P r i v i legien zu bewahren und womöglich noch auszubauen. Da ihre Vorstellungen eines Obrigkeitsstaates oftmals m i t den demokratischen Forderungen des Parlamentarismus kollidierten, war sie von einer geradezu panischen Angst erfüllt vor allem, was nur nach Sozialdemokratismus roch, ganz zu schweigen von der manischen Furcht vor dem Bolschewismus i m eigenen Land. Die Justizbürokratie, die i n Bayern i n ihrer Zusammensetzung i m wesentlichen die alte königliche war, machte dabei keine Ausnahme. Mochte auch Gürtner noch so sehr ihren unpolitischen und überparteilichen Charakter betonen, die Judikative als unabhängige Gewalt hinstellen, es mußte angesichts der politischen Prozesse eine F i k tion bleiben. Die ungleichen Verfahren gegen links- und rechtsradikale Gruppen beweisen vielmehr, wie eminent politisch die Justiz wirkte, obwohl sie sich bemühte, die formal-juristischen Grundsätze strikt einzuhalten. Für die politische Justiz während der Regierung K n i l l i n g sollen der Fall Felix Fechenbach, das eingeleitete und später wieder eingestellte Verfahren gegen Hitler und Genossen wegen der Vorgänge am 1. Mai 1923, sowie der Hitlerprozeß selbst Beispiel geben und dabei Gürtners Rolle beleuchten. A m 20. Oktober 1922 wurden vom Volksgericht München I der Schriftsteller jüdischer Herkunft Felix Fechenbach wegen eines vollendeten und eines versuchten Landesverrats zu 11 Jahren, der Schriftsteller Sigismund Gargas und der Journalist Heinz Lembke ebenfalls wegen versuchten Landesverrats zu 12 Jahren bzw. 10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Verbrechen des vollendeten Landesverrats von Fechenbach fand das Gericht i n seinem Urteil darin begründet, daß Fechenbach das sogenannte Ritter-Telegramm, eine Originalübersetzung einer chiffrierten Depesche, welche der bayerische Gesandte beim Heiligen Stuhl, Gesandter von Ritter, am 27. J u l i 1914 an das bayerische Außenministerium gerichtet hatte, und deren Geheimhaltung gegenüber den ehemaligen Feindbundstaaten, wie Fechenbach als Mitarbeiter von K u r t Eisner wissen mußte, für das Wohl des Deutschen Reiches und Bayerns „erforderlich" war, i m A p r i l 1919 i n München dem Schweizer Journalisten René Paiot übergab, der daraufhin das Telegramm i n französischer Ubersetzung unter Weglassung einiger, den Papst kompromittierender Worte 2 0 am 29. A p r i l 1919 i n der Pariser Zeitung „Le Journal" veröffent20 H S t A : MJu/13248 — Der volle Wortlaut des Telegramms lautet: „Papst b i l l i g t scharfes Vorgehen Österreichs gegen Serbien (und schätzt i m Kriegsf a l l m i t Rußland russische u n d französische Armee nicht hoch ein). K a r d i n a l Staatssekretär hofft ebenfalls, daß Österreich diesmal durchhält u n d wüßte nicht, w a n n es sonst noch K r i e g führen wollte, wenn es nicht einmal eine ausländische Agitation, die zum Morde des Thronfolgers geführt hat, u n d außerdem bei jetziger Konstellation Österreichs Existenz gefährdet, entschlossen ist, m i t den Waffen zurückzuweisen. Daraus spricht auch die große Angst der

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lichte. Das Gericht gelangte zu der Ansicht, daß die Veröffentlichung des Telegramms den Interessen des Deutschen Reiches schädlich gewesen wäre, „ w e i l der Papst besonders i n den katholischen Ländern i m höchsten Maße kompromittiert und i n seiner Tätigkeit für Deutschland lahmgelegt worden ist. Das aus dem übrigen Verkehr des Gesandten Ritter m i t der bayerischen Regierung gerissene Telegramm konnte auch den Eindruck erwecken, als ob der Gesandte und das bayerische Ministerium des Äußern kriegslustig gesinnt seien. Fechenbach wußte bei der Aushändigung des Ritter-Telegramms an Paiot, daß er diesem eine geheime Urkunde übergebe und daß Paiot als Journalist die Urkunde veröffentlichen würde. Nach Uberzeugung des Gerichts hat er dies ausdrücklich gewollt. Er handelte m i t dem Bewußtsein, daß die Veröffentlichung geeignet war, das Deutsche Reich und Bayern schwer zu schädigen und eine Verschärfung der Gewaltpolitik der Entente nach sich ziehen, die Deutschland günstigen Bemühungen des Papstes lahmlegen, auch die Lebensmittelversorgung Deutschlands gefährden konnte. Für die geschilderte Tat, den sogenannten Paiot-Komplex, hielt das Gericht eine Zuchthausstrafe von 10 Jahren für angemessen und wegen der Ehrlosigkeit der Tat die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf 10 Jahre 21 ." I m sogenannten Gargas-Komplex hielt es das Gericht für erwiesen, daß Fechenbach vom Herbst 1920 bis zum Februar 1922 und von da ab bis zum August 1922 der Angeklagte Lembke dem Berliner Vertreter einer Rotterdamer Nachrichtenagentur, Sigismund Gargas, der i n dieser Eigenschaft als Spion der englischen Regierung tätig war, geheime Berichte geliefert haben, welche die Interessen des Reiches und der Länder aufs schwerste schädigten. I n diesen sei von Vorgängen i n rechtsstehenden Geheimorganisationen, von monarchistischen und separatistischen Bestrebungen, von unerlaubtem Waffenbesitz, militärischen Bewegungen an der Grenze und von Werbungen für Oberschlesien die Rede gewesen. Ferner habe Fechenbach die Behauptung aufgestellt, „daß die Reichsregierung und die bayerische Regierung von solchen im Widerspruch m i t den Bestimmungen des Versailler Vertrages stehenden Zuständen Kenntnis hätten, sie duldeten und begünstigten 22 ." Die Frage, ob der Inhalt dieser Mitteilungen auf Wahrheit beruhte, ließ das Gericht offen. Bei der Begründung des Strafmaßes hob es hervor, daß Gargas und Lembke aus Gewinnsucht und somit ehrlos gehandelt haben. Bei Fechenbach wurde i m Zusammenhang m i t Gargas die ehrlose K u r i e vor Panslawismus." — Die i n K l a m m e r gesetzten Worte w u r d e n bei der Wiedergabe i n der Zeitung „ L e Journal" weggelassen. 21 H S t A : MJu/13248 — zitiert nach dem Gutachten des 2. Strafsenats des Obersten Landesgerichtes v o m 30.10.1923, S. 4. 22 a. O. S. 6.



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Gesinnung verneint und ihm deshalb mildernde Umstände zugebilligt, wofür eine Einsatzstrafe von 5 Jahren Festungshaft für angemessen erachtet wurde, was die Gesamtstrafe von 11 Jahren Zuchthaus ergab. Die Verkündung des Urteils löste auf sozialdemokratischer Seite einen Sturm der Entrüstung gegen die Einrichtung der bayerischen Volksgerichte i m allgemeinen und gegen das Verfahren i m besonderen aus, und führte i m bayerischen Landtag zu einer Interpellation der sozialdemokratischen Fraktion sowie i m Reichstag zur Einsetzung eines Unterausschusses. I n diesem Zusammenhang sind nun A r t und Weise, m i t denen sich Gürtner apologetisch vor das Gericht gestellt hat und m i t denen er das Ansinnen von Reichstag und Reichsregierung, eine Revidierung der Urteile zu erreichen, als Einbruch i n die bayerische Justizhoheit zurückzuweisen versucht hat, bemerkenswert, weil sie kennzeichnend sind für seine politische Haltung und Taktik. A u f die Anfrage der Abgeordneten T i m m und Genossen i m bayerischen Landtag „Was gedenkt die bayerische Staatsregierung zu tun, um die Unabhängigkeit der Rechtspflege zu sichern?", antwortete Gürtner i n der 149. Sitzung am 17. November 1922 m i t den programmatischen Sätzen: „Die beste Gewähr für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Rechtsprechung erblicke ich i n einem Festhalten an den bewährten Grundlagen unserer deutschen Gerichtsverfassung. Ich werde mich deshalb dafür einsetzen, daß der Berufsrichter das Rückgrat der Rechtsprechung bleibt und ihre Führung behält, daß nach wie vor als Berufsrichter Männer wirken, die nach Vorbildung und Charakter eine Gewähr für eine objektive und leidenschaftslose Rechtsprechung geben. Gesinnungsschnüffelei und Denunziantentum müssen vom Richter ferngehalten werden. Was für den Berufsrichter gilt, gilt i m gleichem Maße für den Laienrichter. Auch seine Auswahl darf nicht nach parteipolitischen Gesichtspunkten erfolgen, sondern lediglich nach persönlicher Eignung und sachlicher Würdigkeit. Nach den derzeitigen Plänen des Reichsjustizministeriums soll die Zusammensetzung der Laienrichterbänke, also der Schöffen- und Geschworenenbänke, ein getreues A b b i l d der parteipolitischen Schichtung der Bevölkerung des Bezirks darstellen. Man glaubt, damit das Vertrauen i n die Rechtspflege zu festigen. Ich kann mich dieser Anschauung nicht anschließen. Ich glaube nicht, daß die parteipolitische Brille der Justiz besser zu Gesicht steht als die Binde der Parteilosigkeit 23 ." Er habe schwere Bedenken, wenn nach einem Richterspruch, der nicht nach dem Wunsch dieser oder jener Partei-, Berufs· oder Standesgenossen ausgefallen wäre, eine mehr oder weniger planvolle Hetze gegen Urteil, Richter und Rechtspflege einsetze, wie dies i m Fall Fechenbach geschehen sei. I n seinen weiteren Ausführungen 23 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Bayerischen L a n d tags, 149. öffentliche Sitzung v o m 17. November 1922, Bd. V I I , S. 120.

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stellte sich Gürtner voll und ganz hinter das Gericht und wandte sich damit gegen Angriffe, die sich seiner Meinung nach i n drei Gruppen einteilen ließen, gegen das Volksgerichtsgesetz als solches, gegen das Verfahren und gegen das Urteil. Bezogen auf letzteres hielt er die Höhe des Strafmaßes für gerechtfertigt, nämlich wegen des schweren Nachteils, „der dem Deutschen Reiche, der deutschen Volksgesamtheit und damit auch der deutschen Arbeiterschaft aus der Bekanntgabe des erwähnten Telegramms... erwachsen ist", und er schloß m i t den Worten: „Wenn ich zusammenfasse, so darf ich wohl die Feststellung treffen: es ist nicht an dem, daß ein Unschuldiger von einem ungerechten Urteil betroffen worden ist. Nein! Ein gefährlicher Schädling des ganzen Volkes hat seine gerechte Strafe erreicht. Das ist der Kernpunkt der Frage und den Blick darauf wollen und werden w i r uns nicht verschleiern lassen durch die Vielzahl und durch die Leidenschaft der Angriffe, die aus Anlaß des Fechenbachprozesses gegen die bayerische Justiz entfesselt worden sind 24 ." A m 24. Januar 1923 trat der vom Auswärtigen Ausschuß des Reichstages eingesetzte Unterausschuß zur Untersuchung der Angelegenheit Fechenbach zu seiner ersten Sitzung zusammen, i n dem alle Parteien vertreten waren. Bei der Frage, ob durch die Veröffentlichung des Ritter-Telegramms dem Reich ein Schaden erwachsen wäre, wurde von sozialdemokratischer Seite darauf hingewiesen, daß die Entente schon vor der Veröffentlichung des Telegramms formell beschlossen hatte, jede Einmischung der Kurie i n die Friedensverhandlungen abzulehnen. I n seinem Bericht über diese Sitzung erwähnte der stellvertretende Bevollmächtigte Bayerns beim Reichsrat, Dr. von Nüßlein, einen Lösungsvorschlag des Reichsjustizministeriums, der i n einem Wiederaufnahmeverfahren bestehen könnte. Der dadurch notwendigen Änderung des Volksgerichtsgesetzes (Einführung des Revisionsverfahrens gegen Urteile der bayerischen Volksgerichte) durch ein Landesgesetz würde man i n Berlin zustimmen. Das bayerische Justizministerium hatte sich jedoch schon am 31. Oktober 1922 gegen ein derartiges Ansinnen m i t der Begründung gewandt, daß m i t dem Staatsgerichtshof des Reiches ebenfalls ein Gericht eingesetzt worden wäre, gegen dessen Entscheidungen keinerlei Rechtsmittel eingelegt werden könnten, und so wurde am Rande von Nüßleins Schreiben von einem Referenten bemerkt, daß es zu diesem Zeitpunkt nicht empfehlenswert wäre, dieser Frage näherzutreten, zumal eine solche landesgesetzliche Einführung m i t rückwirkender K r a f t erlassen werden müßte. A m 13. März 1923 beschloß der Unterausschuß folgende Ergebnisse der Beratungen an den Reichstag mitzuteilen: 1) Die Veröffentlichung des Ritter-Telegramms habe nach Ansicht des Unterausschusses keinen nach24

a. O. S. 124.

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weisbaren Einfluß auf die Friedensverhandlungen gehabt, 2) durch Vertrag der Ententemächte vom Jahre 1915 sei beschlossen worden, den Papst von jeder M i t w i r k u n g an den Friedensverhandlungen auszuschließen; die Tragweite dieser Tatsache sei i m Urteil nicht gewürdigt; 3) der Sachverständige Thimme habe i n einem dem Auswärtigen A m t nachträglich erstatteten Gutachten dargelegt, daß die Mitteilungen der Agent u r Gargas für Deutschland eher vorteilhaft als nachträglich gewesen seien 25 . Bereits am darauffolgenden Tag wandte sich Gürtner m i t der Bitte an den bayerischen Gesandten i n Berlin, Dr. von Preger, alles zu unternehmen, damit das Reichstagsplenum den Beschlüssen des Unterausschusses nicht beitreten würde 2 6 und führte weiter aus: „Der Beschluß erfüllt mich m i t ernster Sorge. Eine entsprechende Stellungnahme des Reichstags, die der bayerischen Regierung einen Gnadenakt für Fechenbach nahelegte, würde zwischen Bayern und dem Reich einen Konfliktsfall schaffen, der alle früheren weit i n den Schatten stellen würde. Es handelt sich nicht nur um die grundsätzliche Wahrung der bayerischen Justizhoheit und des bayerischen Begnadigungsrechts, sondern der Fall gewinnt seine besondere Bedeutung durch die Persönlichkeit Fechenbachs und sein Wirken vor, bei und nach der Revolution i n Bayern. I n der Verurteilung dieses Mannes sind m i t Ausnahme der Linksparteien alle Parteien des bayerischen Landtages einschließlich der Demokraten einig. Angesichts der Stimmung, die i n Bayern gegen den Landesverräter Fechenbach besteht, ist seine Begnadigung für die bayerische Regierung einfach ausgeschlossen27." Ferner wies Gürtner darauf hin, daß der Untersuchungsausschuß anscheinend die Bedeutung des § 92 Nr. 1 StGB verkannt habe, denn die Strafbarkeit sei hier lediglich darauf abgestellt, daß Nachrichten einer fremden Regierung mitgeteilt oder öffentlich bekannt gemacht wurden, deren Geheimhaltung für das Wohl des Deutschen Reiches oder eines deutschen Landes erforderlich war. Es käme also nicht darauf an, ob eine Schädigung des Deutschen Reiches oder eines deutschen Landes tatsächlich eingetreten wäre. Zweierlei w i r d durch Gürtners Stellungnahme deutlich, einmal welche Rolle Fechenbachs politische Gesinnung tatsächlich bei der Strafzumessung gespielt hat und zum andern sein (Gürtners) Bemühen, trotz einer scheinbaren unnachgiebigen Haltung Bayerns alles zu tun, um m i t dem Reich zu einem Ausgleich zu kommen. M i t seiner Feststellung, daß § 92 Nr. 1 StGB extensiv ausgelegt werden müßte, unterstrich er nicht nur noch einmal die Rechtmäßigkeit des Urteils, selbst wenn sich ein tatsäch25 H S t A : MJu/13247 — Schreiben des bayerischen stellvertretenden Bevollmächtigten zum Reichsrat v o m 14. März 1923. 26 H S t A : MJu/13247 — Schreiben Nr. 13140 des Bayerischen Staatsministers der Justiz v o m 14. März 1923. 27 Ebenda.

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lieh entstandener Schaden für das Reich und die Länder nicht nachweisen lassen würde, wie dies das Gericht versucht hatte, sondern er gab auch den Hinweis, daß die Beschlüsse des Unterausschusses für die Feststellung der Tatbestandsverwirklichung unwesentlich und daher für eine Verwendung bei einer Reichstagsdebatte unbrauchbar wären. Obwohl durch diesen geschickten Schachzug Gürtners die bayerische Regierung für eine etwaige Auseinandersetzung m i t dem Reich gut gerüstet war, hat sie es nicht zu einem offenen Bruch kommen lassen. Nachdem der Fall Fechenbach immer weitere Kreise zog und sich namhafte Juristen einschalteten, die weitere rechtliche Bedenken gegen das Verfahren erhoben 28 , auf die sich die meisten Redner i m Reichstag bei der Verhandlung einer sozialdemokratischen Fechenbach-Interpellation i m September 1923 stützten, gab die bayerische Regierung, solchermaßen durch die öffentliche Meinung unter Druck gesetzt, durch ihren Vertreter in Berlin dem Reichstag die Zusicherung, daß sie, wenn Fechenbach ein Begnadigungsgesuch einreichen würde, bereit wäre, das Urteil dem bayerischen Obersten Landesgericht zu eingehender Nachprüfung vorlegen zu lassen. Dieses Rechtsgutachten würde sie ihrer Entscheidung zu Grunde legen20« Das Gutachten des zweiten Strafsenats des Obersten Landesgerichts vom 30. Oktober 1923 bestätigte dann weitgehend das Urteil des Volksgerichts, machte jedoch bei der Höhe der Strafbemessung einige Vorbehalte. I n einer Stellungnahme zum Gutachten hielt ein Referent des Justizministeriums trotz dieser Bedenken zum damaligen Zeitpunkt eine Minderung der Strafen für nicht erforderlich, führte jedoch weiter aus: „Immerhin w i r d es sich empfehlen, auch i n der angegebenen Richtung noch eine völlige Klärung der Bedenken zu versuchen, schon um der Verteidigung und somit etwa interessierten Kreisen die Möglichkeit eines Einwandes gegen das Begnadigungsverfahren zu nehmen 30 ." Es dauerte dann noch über ein Jahr, bevor die inzwischen neue Regierung Held eine erhebliche Minderung der Strafen gewährte: die neuen Gesamtzuchthausstrafen betrugen für Fechenbach 3 Jahre 6 Monate, für Gargas 3 Jahre 10 Monate und für Lembke 3 Jahre 2 Monate. Die Strafvollstreckung wurde sofort unterbrochen, der bestehende Strafrest zur Bewährung m i t einer Frist bis zum 1. Oktober 1928 ausgesetzt 31 . 28 Es w u r d e vor allem der E i n w a n d erhoben, wonach die Strafverfolgung eines Verbrechens nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 StGB auf Grund des § 22 des Reichspreßgesetzes v o m 7. M a i 1874 durch den A b l a u f der für Preßdelikte nominierten sechsmonatigen Verjährungsfrist ausgeschlossen wäre. 29 H S t A : MJu/13247 — E n t w u r f einer E r k l ä r u n g des bayerischen Gesandten i n B e r l i n zur Sache Fechenbach. 30 H S t A : MJu/13248 — Schreiben Nr. 2864/22B v o m 13. Februar 1924. 31 H S t A : MJu/13248 — Schreiben an Reichs Justizministerium v o m 19. Dezember 1924. — I m M a i 1926 ist der A n t r a g Fechenbachs u m Wiederaufnahme des Verfahrens v o m Landgericht München I verworfen worden, worauf dieser sofort beim Reichsgericht Beschwerde einlegte, der stattgegeben wurde. Die Wiederaufnahme des Verfahrens u n d die Erneuerung der Hauptverhand-

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Wenn man die Begründung des Justizministeriums zur Begnadigung liest, fällt die völlige Änderung i n der Beurteilung des Falles auf. Man kann sich dabei nicht des Eindrucks erwehren, daß der Verlauf des Hitlerprozesses einen entscheidendenden Einfluß auf diesen Sinneswandel gehabt haben muß, wenn man liest: „ K e i n Zweifel bestand darüber, daß das Gericht i m Strafmaß zu Ungunsten der sämtlichen Verurteilten über das nach Sachlage Gerechtfertigte hinausgegriffen hat. Daß eine Minderung der Strafen notwendig ist, ist klar. Die Frage, auf welches Maß gemindert werden muß, ist an sich nach den allgemeinen Gesichtspunkten zu entscheiden, die für den Richter bei Bemessung der Strafhöhe für die Urteilsfindung maßgebend sind. I m Falle Fechenbach hat man unbedingt den Eindruck, daß das Gericht verschiedene zu Gunsten der Verurteilten sprechende Umstände entweder nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat. Bedenkt man ferner, daß das Reichsgericht wegen ähnlicher Verfehlungen auf ganz niedrige Strafen erkannt hat, so w i r d wohl der Schluß gerechtfertigt sein, daß man ziemlich weit heruntergehen muß 3 2 ." Abschließend bleibt zum Fall Fechenbach-Gargas folgendes festzuhalten. Als politischer Prozeß gegen links muß er i m Zusammenhang m i t dem juristischen Vorgehen gegen die Räterepublikaner gesehen werden und als solcher liefert er für die bayerische Prozeßgeschichte seit 1919 einen weiteren Beweis für die einseitige politische Orientierung der Justiz. Vergleicht man den Tatbestand des Landesverrats, der ja gerade auch i n der Behauptung Fechenbachs gesehen wurde, es gäbe rechtsradikale Unternehmungen, die sich, von Reichsregierung und Landesregierungen unterstützt, gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrages lichten würden, m i t den verbrecherischen Handlungen i n den bayerischen Fememordfällen und berücksichtigt man dabei, daß letztere, wenn überhaupt das Stadium der Voruntersuchung überschritten wurde, kaum eine gerichtliche Sühne fanden, wohingegen i m Fall Fechenbach, wie ja auch letzten Endes vom Justizministerium zugegeben wurde, es beim Strafmaß zu einer erheblichen Ermessensüberschreitung kam, so muß, gelinde ausgedrückt, von Vorurteilen innerhalb der bayerischen Richterschaft gesprochen werden. So gesehen ist aber der Prozeß Fechenbach für die politische Beurteilung Gürtners von besonderer Bedeutung, denn lung wurde angeordnet. I m Dezember 1926 entschied das Reichsgericht dann endlich: „Das U r t e i l des Volksgerichtes für den Landgerichtsbezirk München I v o m 20. Oktober 1922 w i r d nebst der darin angesprochenen Gesamtstrafe insoweit aufgehoben, als Fechenbach wegen vollendeten Landesverrats, verü b t durch Veröffentlichung des sogenannten Rittertelegramms zu zehn Jahren Zuchthaus unter Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer zu zehn Jahren sowie zu Kosten verurteilt worden ist. Z u diesem Teile des Urteils w i r d das Verfahren gegen Fechenbach eingestellt u n d werden die ausscheidbaren Kosten der bayerischen Staatskasse auferlegt." 32 H S t A : M J u 13248 — Schreiben Nr. 2864/22B.

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wurde er doch gleich zu Beginn seiner Amtszeit zum Prüfstein der von ihm behaupteten „Unabhängigkeit" der Justiz. Von parlamentarischer Seite herausgefordert, mußte Gürtner Stellung nehmen und offenbarte dabei seine streng deutschnationale Gesinnung, die vor dem Hintergrund der bayerischen Szene des Jahres 1923 an Farbe gewinnt. Nichts ist daher besser geeignet, als sein Bekenntnis zur unpolitischen Justiz daran zu messen, wie er sich i n umgekehrter Richtung zur gleichen Zeit den hochverräterischen Umtrieben des Rechtsradikalismus gegenüber verhielt. Was sich schon i n seinen Äußerungen zum Fall Fechenbach andeutete, nämlich sein national-konservatives Verständnis vom Staat und daher seine starke Abneigung gegen den „Novemberverbrecher" Fechenbach, den er schon i m Vorgriff auf die spätere nationalsozialistische Terminologie als „Schädling des Volkes" abstempelte, gewann in seiner Nachsichtigkeit gegenüber den Aktivitäten der Hitlerleute von 1923 an Kontrast. Die Ruhrbesetzung durch französische Truppen hatte unter den A k tivisten der vaterländischen Bewegung elektrisierend gewirkt. A m 17. Januar 1923 erschien eine Denkschrift Röhms, welche drei Ziele i n den Vordergrund stellte: erstens eine vorläufige Vorbereitung von Abwehrmaßnahmen, wozu eine Konzentrierung der Machtmittel als nötig erachtet wurde, zweitens eine Veränderung der inneren Verhältnisse Deutschlands und drittens der später i n Aussicht genommene Waffengang gegen Frankreich 33 . I n einer weiteren Denkschrift am 1. Februar erachtete Röhm die leidliche Führerfrage innerhalb der Verbände als nicht vordringlich, sondern forderte stattdessen eine Einigung aller Verbände; nachdem dies geschehen wäre, würde sich schon ein Führer finden 34 . M i t dieser Initiative Röhms verschärfte sich der Gegensatz zu Sanitätsrat Dr. Pittinger und damit zum Bund Bayern und Reich 35 . Ergebnis davon war die Bildung einer „Arbeitsgemeinschaft der vaterländischen Verbände", i n der sich die W M , NSDAP und SA, die Reichsflagge sowie der Bund Oberland zusammenschlossen. Bis Anfang März war diese Organisierung beendet. Dr. Roth erhielt die politische Geschäftsführung 3 6 , die militärische Leitung übernahm Hermann Kriebel und 33

Röhm, S. 149. Ebenda. 35 Der B u n d „Bayern und Reich" unter der Leitung Pittingers grenzte sich entschieden gegenüber Röhms u n d Herrmann Bauers ( V W B ) Plänen ab, die wegen ihrer revolutionären- Brisanz abgelehnt wurden. A l l e Überbrückungsversuche, die einige Monate später vor allem v o n K r i e b e l u n d Pittinger unternommen wurden, scheiterten daran, daß der B u n d Bayern u n d Reich einen rein bayerischen Weg einschlug, der hinwiederum von der „Arbeitsgemeinschaft" bzw. v o m „Deutschen Kampfbund" als nicht gangbar erachtet wurde. 36 D a m i t hatte der frühere Justizminister Dr. Roth endgültig den Boden deutschnationaler Politik, w i e sie die B M P vertrat, verlassen. Seine H i n w e n dung zum radikalen Flügel der vaterländischen Bewegung ist ein weiteres 34

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publizistisch wurde die Arbeitsgemeinschaft vom „Heimatland" unter Wilhelm Weiß unterstützt. M i t diesem Schritt wiederholte sich innerhalb der Verbände ein ähnlicher Vorgang, wie er sich Ende 1922 i n der B M P abgespielt hatte; die radikalen Elemente sonderten sich von den gemäßigten ab. Folge dieser Verselbständigung war, daß die Regierung die unmittelbare Kontrolle über einen großen Teil der vaterländischen Bewegung verlor. Während sie weiterhin m i t der Unterstützung von Pittinger und Kahr rechnen konnte, gab der Kampfbund i n einer Gründungsmitteilung an Ministerpräsident K n i l l i n g unmißverständlich zu verstehen, daß er nur hinter einer Staatsregierung stehen werde, „die entschlossen national ist und bleibt 3 7 ." Daß diese Formulierung auf Kampfbereitschaft beruhte, wurde Mitte A p r i l deutlich. Der Staatsgerichtshof i n Leipzig hatte eine Reihe von Verfahren gegen rechtsradikale Führer eingeleitet, so auch unter anderem gegen Hitler, Esser und Eckart. Als sich letzterer weigerte, bei einer Vorladung zu erscheinen, wurde gegen ihn Haftbefehl erlassen. Daraufhin wandten sich H i t ler, Kriebel und Oberst von Lenz i n ultimativer Form an die Staatsregierung und forderten diese auf, die Durchführung des gesamten Staatsschutzgesetzes für Bayern zu verweigern. Eckart wäre bereit, vor einem bayerischen Gericht zu erscheinen, würde jedoch der Haftbefehl des Staatsgerichtshofes ausgeführt, so ließ man durchblicken, könnte es zu unkontrollierten Aktionen kommen, für die dann die Regierung die Verantwortung übernehmen müßte. Der Ministerrat reagierte flexibel. K n i l l i n g sagte der Arbeitsgemeinschaft verbindlich zu, er würde sich um eine Vermittlung bemühen, brauchte sich jedoch keineswegs anzustrengen, da er sich i n diesem Zeitpunkt m i t den anderen Ministern i m Einverständnis befand, die Schutzgesetze ohnedies zu sabotieren. Zweifellos hatte es sich bei dem Verhalten der Arbeitsgemeinschaft um einen gezielten Vorstoß gegen die Regierung gehandelt, der jedoch ins Leere gehen mußte, da sich die Minister nicht gezwungen sahen, zu handeln. Anders war dies dann schon bei den Vorgängen am 1. Mai 1923. Die Mitte A p r i l 1923 erfolgten Genehmigungen der Staatsregierung für einen großen Umzug der Gewerkschaften und der Sozialdemokraten für den l . M a i mobilisierten erneut die Arbeitsgemeinschaft, die dieses Vorhaben als ungeheure Provokation empfand, zumal der l . M a i der Jahrestag der „Befreiung" Münchens war. Unterstützt von den V V V B erging erneut am 27. A p r i l ein Ultimatum an die Regierung, i n dem dieser beim Verbot der „sozialistischen Kundgebung" die „rückhaltlose prominentes Beispiel der Polarisierung innerhalb der nationalen Opposition. Daß Roth am Putsch v o m 8./9. November 1923 nicht a k t i v beteiligt war, ist reiner Zufall; aus privaten Gründen weilte er gerade i n diesen Tagen nicht i n München. Sein späteres Eintreten für H i t l e r weist i h n eindeutig als Nationalsozialisten aus. 37 Röhm, S. 169.

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Unterstützung der vaterländischen Verbände" zugesagt wurde, andernfalls man ein selbständiges Eingreifen ankündigte, u m diese zu verhindern 38 . Gegenüber einer Abordnung zeigte sich K n i l l i n g zum Nachgeben bereit. Der Ministerrat billigte jedoch einen Kompromißvorschlag des Innenministers Schweyer, der sich statt eines großen für sieben kleinere Züge ausgesprochen hatte, welche alle auf der Theresienwiese enden sollten. M i t dieser Lösung keineswegs einverstanden, lancierten die Verbände das Gerücht, die Sozialdemokraten wollten ihre Veranstaltung zu einem Putsch nützen. Als man am 30. A p r i l erneut bei K n i l l i n g vorsprach, um das Verbot der sieben Umzüge zu fordern, wurde man abschlägig beschieden. Daraufhin entschlossen sich Hitler und Göring zum gewaltsamen Vorgehen und ließen deshalb i m Polizeipräsidium und beim Reichswehrkommandanten von Lossow sondieren, welche Haltung die bewaffnete Macht bei einem etwaigen Vorgehen des Kampfbundes einnehmen würde. Lossow erklärte eindeutig, unter allen Umständen die Staatsautorität zu schützen und wenn nötig nach rechts und links schießen zu lassen, was nicht ohne Wirkung blieb. Dennoch beschloß man, wohl auch aus Rücksicht auf die allgemeine Kampfstimmung, die Einheiten am Morgen des 1. Mai hauptsächlich auf dem Oberwiesenfeld i n Bereitschaft zu halten. Vorsorglich mobilisierten Reichswehr und Landespolizei auswärtige Verstärkungen. Zwischenzeitlich wurden Mitglieder des Bundes Bayern und Reich als Notpolizei aufgestellt. Die Sammlungsbewegung auf dem Oberwiesenfeld vollzog sich i n der Nacht und war bis zu den frühen Morgenstunden beendet. Hier befanden sich etwa zweitausend Mann, außerdem lagerten achthundert Oberländer beim Maximilianeum und etwa zwei- bis dreitausend Mann der W M hielten sich i m gesamten Stadtgebiet verteilt in Bereitschaft. Insgesamt waren also rund sechstausend Mann aufgeboten, die teilweise aus Reichswehrdepots bewaffnet waren. Daß es trotzdem zu keinem Zusammenstoß kam, ist auf folgendes zurückzuführen: einmal verhielten sich die W M neutral, zum andern konnten die Einheiten auf dem Oberwiesenfeld durch einen dichten Cordon der Landespolizei, der notfalls durch die Reichswehr verstärkt werden konnte, vom Losschlagen abgehalten werden und schließlich bestanden, wohl durch das entschiedene Auftreten Lossows bestimmt, keine konkreten Pläne, die Regierung zu stürzen 39 . Gegen Mittag, nach Beendigung der sozialdemokratischen Umzüge, wurden die Waffen wieder i n 38

Röhm, S. 171. Der Mitberichterstatter W i l h e l m Hoegner i m Untersuchungsausschuß des Landtags zur Untersuchung der Vorgänge a m 1. M a i u n d a m 8./9. November versuchte zwar die hochverräterischen Absichten des Kampfbundes nachzuweisen, konnte jedoch letzten Endes auf G r u n d des vorhandenen Materials nicht den schlüssigen Beweis liefern, daß bereits am 1. M a i der Sturz der Regierung geplant war. Siehe dazu M A 103476/1. 39

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den Depots abgegeben, die Einheiten auf dem Oberwiesenfeld lösten sich auf und Hitler führte die Nationalsozialisten i n einem geschlossenen Zug zum Bürgerbräukeller. I n der Regierung hätte sich nach dem l . M a i die Erkenntnis durchsetzen müssen, daß m i t einer zuverlässigen Unterstützung des Kampfbundes nicht mehr gerechnet werden konnte. Gewiß, es bestanden keinerlei konkrete Hinweise auf hochverräterische Pläne der Arbeitsgemeinschaft, aber hatte man doch die Regierung zweimal unter Druck setzen wollen, um zu testen, wie weit man im Ernstfall würde gehen können. Das erste Mal war es noch ein leichtes gewesen, den Vorstoß ins Leere laufen zu lassen, beim zweiten Mal hatte man schon alle Machtmittel aufwenden müssen, um die Ordnung aufrechterhalten zu können. M i t einem dritten Versuch mußte man rechnen und konnte daher nicht darauf bauen, daß sich die W M wieder neutral verhalten würden. Gerade die unentschlossene Haltung der W M hätte das Kabinett darin bestärken müssen, daß es möglich war, den gemäßigten Teil dem Kampfbund auszugliedern, indem man die radikalen Verbände durch Verhaftung und empfindliche Aburteilung ihrer Führer entmachtet hätte. I n nenminister Schweyer hatte dies auch richtig erkannt, als er durch A n zeige bei der Staatsanwaltschaft am Landgericht München I Strafverfahren gegen die am Unternehmen vom l . M a i beteiligten Führer der Kampf verbände einleiten ließ. Er fand jedoch nicht die nötige Unterstützung der anderen Minister. Vor allem K n i l l i n g und Gürtner hielten nichts von einem Vorgehen gegen die Aktivisten der Arbeitsgemeinschaft, sondern hofften auch weiterhin, einen vermeintlichen guten Kern aus der Bewegung durch eine A r t Versöhnungspolitik herauslösen zu können. So demonstrierte die Staatsregierung zwar durch den Erlaß von Sondermaßnahmen am 8. M a i ihre Stärke und gegen die Hauptbeteiligten Kampfbundführer wurde ein Strafverfahren nach § 127 StGB eröffnet, beides führte jedoch zu nichts. Daß dies so war, lag zum guten Teil i n einem bestimmten Auftreten Gürtners begründet, der darin von seiner eigenen Partei und von den Kreisen um Kahr und Pittinger, also weitgehend vom rechten Flügel der BVP, unterstützt wurde. Als die Vorgänge vom l . M a i eine Woche später im Kabinett zur Sprache kamen, wies Ministerpräsident K n i l l i n g darauf hin, daß für die Regierung die Notwendigkeit bestünde, zu beweisen, wer „Herr i m Staate" sei und stellte daher zur Diposition, ob ein Weg nach A r t . 48 der Reichsverfassung beschritten werden sollte. Dem gegenüber bemerkte Gürtner, daß m i t den Vorgängen am 1. Mai die Staatsanwaltschaft bereits befaßt wäre und führte weiter aus: „ F ü r die Regierung handle es sich nur um Maßnahmen für die Zukunft. Was von i h r erwartet werden könne, sei ein Vorgehen gegen die Sturmtrupps. Dies sei auf dreifachem Weg möglich, entweder nach dem Muster Severings durch na-

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mentliche Auflösung, sei es der Partei oder wie i n anderen Ländern der Sturmtrupps auf der Grundlage des Beschlusses des Staatsgerichtshofes vom 15. 3.1923, oder nach Maßgabe der von der württembergischen Regierung erlassenen Verordnung auf Grund des A r t . 48 der R.V., die aber dem Richter einen wenig glücklichen Tatbestand i n die Hand gebe, oder dadurch, daß man eine rechtliche Grundlage für die Auflösung für den Fall der Verfehlung gegen gewisse Bestimmungen schaffe. Dieser Weg werde sich für Bayern empfehlen. Man werde grundsätzlich die Erlaubnispflicht für die Versammlungen und Aufzüge unter freiem H i m mel wieder einführen müssen. Eine Vereinigung, die sich hiegegen oder gegen § 127 R.St.G.B. verfehle, solle aufgelöst werden 4 9 ." M i t diesem Vorschlag zeigte sich der Ministerrat sofort einverstanden, denn war es doch eine i n jeder Hinsicht bestechende Lösung einer prekären Situation. Die Staatsautorität blieb gewahrt, ohne daß das Gefühl einer bestimmten Gruppe verletzt werden mußte. Man konnte auf ein Verbot vaterländischer Bewegungen verzichten, was die Regierung einem Vorw u r f enthob, sie wäre nicht national gesinnt, man brauchte i n der Stunde der Not nicht auf die Republikschutzgesetzgebung des Reiches zurückzugreifen, gegen die man schon immer die schwersten Bedenken erhoben hatte und man hatte doch eine wirksame Waffe gegen Putschabsichten von rechts i n der Hand, ohne dies offen zugeben zu müssen, w e i l sich vorteilhaft das Argument i n den Vordergrund schieben ließ, die Verordnungen hinsichtlich einer Auflösungsmöglichkeit könnten sich beispielsweise gegen eine „kommunistische Parteisektion" richten 41 . Da sich diese geplanten Maßnahmen darüberhinaus gezielt gegen einzelne Gruppen anwenden ließen, also etwa gegen allzu Radikale innerhalb der Arbeitsgemeinschaft, ohne daß diese als Ganzes betroffen wurde, entsprachen sie genau den Vorstellungen jener nationalen Kreise, die eine Vielzahl der Völkisch-Gesinnten i m K e r n durchaus als positiv und staatstreu, hier i m nationalen Sinne, bewerteten und daher hofften, diese für sich zu gewinnen. Insofern hatte also Gürtner m i t dieser verwaltungsrechtlichen Meisterleistung nicht nur seine ministeriellen Verpflichtungen gegenüber der Verfassung gewahrt, sondern auch noch v o l l und ganz den Auftrag seiner politischen Freunde ausgeführt. Und i n der Tat, diese Verordnung wäre geeignet gewesen, gegen die Nationalsozialisten so wirksam eingesetzt zu werden, daß es zu einer Spaltung innerhalb des revolutionär gesinnten Lagers hätte führen können, wenn, und das ist das entscheidende, es zu der flankierenden Maßnahme gekommen wäre, Hitler und andere Nazi-Führer durch harte gerichtliche Strafen für eine Weile an weiterer Agitation zu hindern. Gerade das 40 G S t A : M A 99518 — Protokoll der Ministerratssitzung v o m 8. M a i 1923, S. 2—3. 41 Ebenda.

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aber hat man i n den national-konservativen Kreisen aus einer falschen Beurteilung der Bündnisfähigkeit Hitlers, übrigens nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Male, aus egoistischem Interesse geglaubt, nicht verantworten zu können und damit aber einer Entwicklung Vorschub geleistet, die diese selbst i n die Katastrophe führte. Die staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen der für die Vorgänge am 1. Mai Beschuldigten waren am 1. August 1923 beendet. Dennoch wurde das Hauptverfahren nicht eröffnet, sondern stattdessen am 22. M a i 1924 das gesamte Verfahren m i t folgendem Beschluß eingestellt: „Hitler, Kriebel etc. wurden am 1. A p r i l wegen Verbrechens des Hochverrats rechtskräftig verurteilt. Gegen Göhring w i r d das Verfahren wegen unbekannten Aufenthaltes vorläufig eingestellt. Gegen Hitler und Genossen w i r d das Verfahren gemäß § 154 R.St.P.O. i n der Fassung vom 22. I I I . 1924 eingestellt, da die Beschuldigten wegen Vergehens nach § 127 R.St.G.B. nach den Umständen des Falles nur eine Strafe zu erwarten haben, die neben der rechtskräftig erkannten Strafe nicht i n das Gewicht fällt 4 2 ." Wie konnte es dazu kommen, daß der Fall nach dem 1. August 1923 nicht weiter verfolgt wurde, obwohl das Innenministerium ein besonderes Interesse daran zeigte und sich wiederholt beim Justizministerium nach dem Stand der Ermittlungen erkundigte? Als der gesamte Komplex i n dem von den Sozialdemokraten beantragten Untersuchungsausschuß des Landtags i m Herbst 1927 behandelt wurde, haben die beiden Berichterstatter, Graf Pestalozza (BVP) und Wilhelm Hoegner (SPD), den Nachweis zu erbringen versucht, daß das Justizministerium von sich aus i n das Verfahren eingegriffen habe, indem es der Staatsanwaltschaft Weisung erteilte, die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen, was jedoch bis zum Erlaß der sogenannten „Emminger-Novelle" (Neufassung des § 154 StPO vom 22. März 1924) nach A r t . 69 der Bayerischen Verfassung rechtswidrig gewesen sei, da demnach eine strafrechtliche Untersuchung weder durch den Landtag noch durch das Ministerium oder irgendeine andere Behörde gehemmt werden dürfe. Justizminister Gürtner, der als Zeuge geladen war, konnte zwar glaubhaft den Verdacht ausräumen, daß das Justizministerium i n persönlicher oder sachlicher Hinsicht i n die Voruntersuchungen eingegriffen habe, mußte jedoch eingestehen, daß nach Abschluß der Voruntersuchungen auf einer Konferenz beschlossen worden sei, die Eröffnung der Hauptverhandlung i n eine „ruhigere Zeit" zu verschieben. Nach Gürtners eigenen Angaben spielte sich der Vorgang folgendermaßen ab: Anfang September 1923 habe er (Gürtner) den Ersten Staatsanwalt von München, Stenglein, den Staatsrat des Ministeriums und den Strafrechtsre42 GStA: M A 103476/1 Bl. 73 — zitiert nach den Ausführungen des Berichterstatters Graf Pestalozza.

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ferenten zu sich gebeten und diesen die Frage vorgelegt: „ K a n n dieser Prozeß, so wie er auf Grund dieses Ermittlungsverfahrens vorliegt, jetzt über die Bühne eines Gerichtes gehen 43 ?" Der Staatsanwalt habe daraufhin einen reibungslosen Ablauf der Hauptverhandlung bezweifelt, da die Verteidigung ihre Argumente darauf abstellen würde, daß die Beschuldigten schon lange vor dem 1. Mai maßgebende Persönlichkeiten unterrichtet hätten und daß sie auf Grund dieser Informationen sich für berechtigt halten konnten, i n dieser Form aufzutreten. Der Staatsanwalt habe sich dabei auf ein Schreiben Hitlers an die Staatsanwaltschaft vom 16. M a i 1923 bezogen, i n dem dieser darauf hinwies, daß er sich vor Gericht von jeder Rücksichtnahme frei fühlen und, wenn nötig, eine Denkschrift veröffentlichen würde, die die Vorbereitungen zur sogenannten „Frühjahrsübung 1923" zum Inhalt hätte, also die Verbindungen der Verbände zur Reichswehr bloßgestellt würden 4 4 . Der Staatsanwalt habe daher vom Gesichtspunkt der öffentlichen Sicherheit für keine Forcierung des Prozesses plädiert. Der Strafrechtsreferent habe sich diesen Bedenken angeschlossen, wobei er trotz des Grundsatzes „möglichst rasche Durchführung des Strafverfahrens", die außenpolitischen Rücksichten i n den Vordergrund gestellt habe. Seine eigenen Bedenken erläuterte Gürtner i n der Rückschau so: „Die allgemeine politische Stimmung i n dieser Zeit stand auf Unruhe und Gewitter. Gerichtsakten, auch wenn sie mit dem Seziermesser zerlegt werden, können nicht die Geschichte einer Zeit erzählen. Ich darf aber daran erinnern, daß um diese Zeit nicht bloß i n München und nicht bloß i n Bayern, sondern auch andeswo die Stimmung sich außerordentlich verschärfte. Es begann i n Thüringen zu glimmen, es waren i n Hamburg schwere Unruhen gewesen und über dem ganzen deutschen Volke lagerte unheilschwanger die Wolke der Inflation. Viele Hunderte, viele Tausende gerade von kleinen und kleinsten Leuten sahen sich um ihr Hab und Gut gebracht, zum Teil i n ihrer persönlichen Existenz unmittelbar b e d r o h t . . . Es war m i r vollkommen klar, daß, wenn dieser Prozeß i n dieser Atmosphäre durchgeführt werden würde, das eine gewisse Belastung der öffentlichen Sicherheit bedeuten würde, ja, daß es noch andere Folgen haben würde, die sich innerbayrisch sehr beträchtlich auswirken konnten 4 5 ." Bei einer Durchführung dieses Prozesses hätte man auf eine Zeugeneinvernahme beteiligter Minister nicht verzichten können, was aber zur Folge gehabt hätte, daß die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Kabinetts, die zu diesem Zeitpunkt bereits die Ausmaße einer Krise angenommen hätten 46 , einer breiten Öffentlichkeit 43 G S t A : M A 103476/1 Bl. 247 — Aussage Gürtners vor dem Untersuchungsausschuß. 44 a. O. Bl. 248. 45 a. O. Bl. 249. 46 Ebenda.

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bekannt geworden wären. „Nach meiner damaligen Beurteilung der Lage wäre das die Katastrophe für die bayerische Regierung gewesen." So kam man schließlich einstimmig zu dem Ergebnis, den Prozeß vorerst nicht zu eröffnen. Durch die Sistierung des Verfahrens war der A r t . 69 der Bayerischen Verfassung verletzt worden. Gürtner freilich glaubte dies aus „Staatsräson" verantworten zu können. Daß er damit jedoch keineswegs an eine Stützung des demokratischen Staates dachte, sonst hätte er nämlich den Ministerrat von dem gefaßte Beschluß unterrichtet 47 , sondern vielmehr an eine Begünstigung der nationalen Verbände, von denen er sich gerade i m Herbst 1923 eine Veränderung des parlamentarischen Systems erhoffte, ging indirekt aus seiner Erklärung vor dem Untersuchungsausschuß hervor: „Ich habe geglaubt, es damals verantworten zu können, meine Zustimmung dazu zu geben, daß die Durchführung der Hauptverhandlung i n diesem Augenblick nicht stattfinden sollte. Das war auch nach unserer Vorstellung keine Vertagung ad calendas graecas; denn um diese Zeit war die allgemeine Auffassung die, daß eine Wendung der Dinge so oder so i n irgendeiner Form erfolgen müßte 4 8 ." M i t dieser Andeutung spielte Gürtner auf Vorgänge i m nationalen Lager an, die schließlich zur Errichtung eines Generalstaatskommissariats geführt haben. Was war geschehen? Trotz aller zwischenzeitlichen Einigungsversuche Kriebels und Pittingers war es zu keiner Annäherung zwischen dem Bund Bayern und Reich und den aktivistischen Verbänden gekommen. I m Gegenteil, nachdem die Bünde Blücher und W i k i n g Anlehnung beim Bund Bayern und Reich gefunden und die W M ihre Beziehungen zur Arbeitsgemeinschaft während des Sommers erheblich gelockert hatten, schlossen sich die A k tivisten noch enger i m „Deutschen Kampf bund" zusammen. Das hielt jedoch Dr. Pittinger keineswegs davon ab, Ende August bei der Erörterung seiner Pläne über die Schaffung eines Generalstaatskommissariats neben K a h r als Vorsitzenden auch den Einsatz von Pöhner und Hitler i n Erwägung zu ziehen. Pittinger sah den einzigen Ausweg bei der Überwindung der katastrophalen Zustände i n einem zeitweiligen Bruch m i t dem Reich. Z u diesem Schritt war es seiner Ansicht nach nötig, eine Diktatur zu errichten, um den vorgesehenen, allgemeinen bayerischen Steuerstreik erklären und eine eigene bayerische Währung einführen zu können. Dabei war an keine endgültige Separation gedacht, sondern als Hüter der Tradition sollte Bayern vielmehr an der Erneu47 a. O. Bl. 269 — A u f die Frage Hoegners, ob der I n h a l t der Besprechung über die Nichteröffnung der Hauptverhandlung m i t anderen Ministern besprochen wurde, antwortete Gürtner: „Darüber habe ich sonst m i t niemand gesprochen. Ich w a r auf dem Standpunkt, daß dieser Beschluß von m i r gefaßt u n d allein verantwortet werden muß." 48 a. O. Bl. 253.

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erung des Reiches mitwirken. Gerade dieser Weg erschien aber dem Kampfbund, weil zu weiß-blau gefärbt, suspekt und wurde daher abgelehnt. Somit kam es aber zu keinem Zusammenschluß, man blieb jedoch weiterhin i n Kontakt. Interessant i m Zusammenhang m i t den Vorbereitungen zur Errichtung des Generalstaatskommissariats ist die aktive Beteiligung des Justizministeriums, welches vom Ministerrat beauftragt worden war, die rechtlichen Grundlagen, die sich aus A r t . 64 der Bayerischen Verfassung ergaben, für eine Diktatur auf Zeit zu erarbeiten, Politisch schloß man sich dabei der Auffassung Pittingers an, daß die gesamte vollziehende Gewalt i n der Person des Regierungspräsidenten von Oberbayern, Kahr, zentriert werden sollte, da er immer noch großen Einfluß auf den gemäßigten Teil der nationalen Bewegung hatte 49 . Als dann die Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Ende des Sommers i n erheblichem Maße zunahm, trat man auch i n der B V P dem Gedanken näher, Kahr i n ein solches A m t zu bestellen 50 . Auslösendes Moment, den Schritt am 25. September zu vollziehen, war schließlich der tags zuvor gefaßte Beschluß der Reichsregierung, den passiven Widerstand i m Ruhrgebiet aufzugeben, weil man meinte, die Gefahr eines Putsches von Seiten radikaler Elemente wäre dadurch gestiegen, Wenn aber das Justizministerium an der Errichtung des Generalstaatskommissariats aktiv beteiligt war, lassen sich eindeutige Rückschlüsse auf die Motivation von Gürtners politischer T a k t i k i m Jahre 1923 ziehen. Seine M i t w i r k u n g an der Beschlußfassung, das Verfahren gegen Hitler vorerst nicht weiter zu verfolgen, m i t den von ihm vorgeschlagenen Sondermaßnahmen vom 8. Mai i n Zusammenhang gebracht, läßt erkennen, wie sehr Gürtner trotz seiner öffentlichen Beteuerungen, die Justiz wäre unparteiisch, den i h m zur Verfügung stehenden Machtapparat für politische Zwecke genutzt hat. Politisch unterstützte er die Errichtung eines autoritären Regimes, an das nach Ansicht seiner Freunde auch die Nationalsozialisten zur wirksamen Unterstützung desselben gebunden werden sollten. Und da auch er die Meinung vertrat, „daß unter dem Namen der Hitlerbewegung sich vollkommen heterogene Elemente vereinigt hatten", es also neben „dem Gewaltmenschen und Revolutionär eine ganze Masse von ehrlichen, aufrechten Leuten m i t politisch gänzlich indifferenter Gesinnung" gab 51 , die es galt i n das rechte, weil eigene, Fahrwasser zu lenken, mußte er von sich aus alles vermeiden, was zu einer explosiven Stimmung innerhalb des Kampfbundes geführt hätte. So hat Gürtner m i t Hilfe Justitias seine 49 G S t A : M A 103476/3 Bl. 833 ff. — siehe dazu auch die Aussage von Weber (Oberland) i m Hitlerprozeß am 27. Februar 1924. 50 Schwend, S. 215 ff. 51 G S t A : M A 103476/1 Bl. 254 — Aussage Gürtners.

5 Reitter

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1. Teil: Werden und Weg 1881 -1932

beschützende Hand über den Verbänden gehalten, obwohl diese gegen das Gesetz verstoßen hatten. Er kam dabei nicht umhin, die Verfassung zu verletzen. Aber was bedeutete das schon! Wie hätte man hier kleinlich sein sollen, wo es doch gerade darum ging, eben diese Verfassung außer K r a f t zu setzen. Das Ziel war die Uberwindung Weimars und dafür war es wert, alle Bedenken hintanstellen, u m einen hohen Einsatz wagen zu können. Die Annahme, daß Gürtner Generalstaatskommissar Kahr mehr als nur wohlwollende Neutralität entgegengebracht hat, daß er sich also vielmehr konspirativ verhielt, läßt sich zwar aus den bisher vorhandenen A k t e n i m einzelnen nicht nachweisen 52 , scheint aber nichtsdestoweniger als sehr wahrscheinlich. Es wäre schon sehr erstaunlich, wenn das nicht so gewesen wäre, denn sprechen doch alle verfügbaren H i n weise dafür und keiner dagegen. Uberprüft man Kahrs politisches Konzept m i t seinen A k t i v i t ä t e n bis zum Hitlerputsch am 8./9. November, w i r d man feststellen, daß es genau der von Gürtner bisher verfolgten Linie entspricht. Kahrs Integrationsversuche bezüglich des Kampfbundes, der erneute Bruch m i t dem Reich durch die eigene Ausrufung des Ausnahmezustandes, das Festhalten an Lossow und die Verpflichtung der Reichswehrtruppen auf den bayerischen Staat als Ausdruck einer typischen Ordnungszellenideologie, die Vorbereitungen für einen sogenannten Grenzschutz und schließlich das Zusammenspiel m i t dem Kampfbund bei der geplanten Errichtung eines Reichsdirektoriums lassen allesamt erkennen, daß es geeignete Maßnahmen waren, um die von Gürtner erhoffte Wende herbeizuführen. Warum also hätte er abseits stehen und nicht zumindest i m Rahmen seiner Möglichkeiten m i t arbeiten sollen? Grundsätzlich bestand dazu Gelegenheit über Oberregierungsrat Stauffer, der vom Justizministerium an das Generalstaatskommissariat abgestellt worden war, also gewissermaßen als M i t telsmann funktionierte 5 3 . Daß aber über den üblichen Kontakt zwischen 52

Weder i n den offiziellen A k t e n des Generalstaatskommissariats u n d des Justizministeriums, noch i n den „Lebenserinnerungen" Kahrs findet sich ein derartiger Hinweis. 53 Stauffers Stellung als Verbindungsmann der Regierung zu den Verbänden ergab sich daraus, daß er als Vertreter des Ministerpräsidenten w ä h r e n d des ganzen Jahres 1923 an den Sitzungen teilnahm, bei denen Staatsorgane u n d Verbände sich u m eine Integrierung der Verbände i n die offiziellen Streitkräfte bemühten, e i n System, das f ü r den F a l l geschaffen werden sollte, w e n n es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung m i t Frankreich gekommen wäre. Ferner gehörte Stauffer der „Regierungskommission f ü r Verbandsangelegenheiten" an, die sich ebenfalls u m Möglichkeiten einer Verstärkung der bayerischen Reichswehrdivision bemühte. Durch diese Tätigkeiten w a r er förmlich dazu prädestiniert, v o m Justizministerium an das Generalstaatskommissariat abgestellt zu werden. Die Zusammenarbeit m i t K a h r muß eng gewesen sein, sonst hätte sich dieser i n seinen „Lebenserinnerungen" nicht über Stauffer m i t auffallend lobenswerten Worten geäußert.

2. Kap. : Der bayerische Justizminister

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Minister und Generalstaatskommissar hinaus zwischen Gürtner als Mitglied der B M P und K a h r eine enge politische Freundschaft bestanden haben muß, kann durch ein Dokument über Kahrs Direktoriumspläne belegt und durch Gürtners entschiedenes Einstehen i m Kabinett für ihn nach dem Hitlerputsch erhärtet werden. K a h r hatte schon während seiner Ministerpräsidentenschaft mehrere Verbindungen zu national-konservativen Kreisen außerhalb Bayerns geknüpft, so ζ. B. zum Leiter des Pommerschen Landbundes, v, Dewitz und zu General v. Seeckt, die nach der Errichtung des Generalstaatskommissariats sich enger gestalteten, da dieser Schritt Bayerns i m Norden vorbildhaft wirkte. Verbindungsleute waren das spätere Mitglied der DNVP, Großadmiral v. Tirpitz und der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß. Nachdem Tirpitz Ende Oktober eine Reihe von Gesprächen i n Berlin geführt hatte, welche Hoffnung erweckten, daß die bereits vorhandenen Pläne zur Uberwindung der „Weimarer Misere" i n ein konkretes Stadium treten könnten, ließ K a h r Anfang November direkt durch Oberst v. Seißer i n der Hauptstadt sondieren. Seißer hat seine Besprechungen vom 3. November, darunter m i t dem Stinnes-Generaldirektor Minoux, m i t Vertretern des Reichslandbundes und m i t Seeckt i n einer Niederschrift festgehalten 54 . Seißer traf überall auf alles andere als Entschlossenheit und Klarheit. Allgemein bezweifelte man, ob sich Seeckt an die Spitze eines Direktoriums stellen lassen würde. Dieser selbst sprach von der Notwendigkeit einer vom Parlament unabhängigen, nationalen Diktatur, die hart gegen den Sozialismus durchgreifen müßte, hielt jedoch nichts von einem illegalen Putsch, sondern empfahl den Weg über A r t . 48 RV. Der Einwand Seißers, daß eine baldige Lösung, bedingt durch den starken Druck der vaterländischen Kräfte auf Kahr, gefunden werden müßte, konnte Seeckt nicht beeindrucken, obwohl er bei einem selbständigen Losschlagen Bayerns versprach, neutral zu bleiben: „Ich mache den K r i e g 66 nicht zum zweiten Male, das ist ausgeschlossen." Auch Minoux war gegen einen Putsch und riet zum Abwarten. So war also alles noch unentschieden und unausgereift, da vor allem Seeckt noch nicht zum A b sprang gewonnen worden war. Bei dieser Lage war es auch nur allzu verständlich, daß die Personalfrage noch ungeklärt war. Seißer notierte: „Uber Zusammensetzung des nationalen Direktoriums noch völlige Unklarheit; genannt werden: Otto von Below Berendt oder Seeckt Minoux ( w i l l aber anscheinend nicht) 54

Deuerlein, Ernst: Der Hitlerputsch, S. 301 — Dok. 79: Oberst Seißer: N i e derschrift über Besprechungen a m 3.11.1923.

*

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1. Teil: Werden und Weg 1881 - 1932 Lange oder Langer = Landwirtschaft v. Dewitz = Landwirtschaft und Ernährung Vi Kahr Reichspräsident Gürtner für Justiz 5 5 ".

Die Erwähnung Gürtners i n diesem Zusammenhang hält Deuerlein für bemerkenswert und stellt dabei die Frage, „ob die Nennung Gürtners als Reichs justizminister i n einer Direktorialregierung m i t oder ohne sein Wissen erfolgt ist 5 6 ." Sicherlich w i r d man darüber nicht die letzte Klarheit gewinnen können, solange die A k t e n keinen Aufschluß geben, man w i r d jedoch allein aus der Tatsache, daß Gürtner i m Gespräch war, auf wen das auch immer zurückgeführt werden kann, den Schluß ziehen müssen, der bayerische Justizminister konnte sich einem engeren Kreis um K a h r zurechnen und dabei wäre es schon sehr verwunderlich, wenn nicht ein bestimmtes kooperatives Verhalten den Anlaß gegeben hätte. Würde man dieser Meinung nicht zuneigen, müßte Gürtners Stellung gegenüber K a h r nach dem Hitlerputsch unverständlich bleiben. I n der Kabinettssitzung am 10. November fragte Ministerpräsident Knilling, „wie sich die Regierung nach den Vorgängen der letzten Tage zum Generalstaatskommissar zu stellen habe 57 ." Während alle anderen M i nister forderten, wenn schon keine Auflösung des Generalstaatskommissariats erwogen würde, wenigstens die Absetzung Kahrs durchzusetzen, sah Gürtner keinen Grund dafür. Finanzminister Krausneck und Handelsminister Meinel vertraten die Ansicht, auf Kahr wäre kein Verlaß, denn wenn er schon i m Bürgerbräukeller Theater gespielt hätte, so hätte er sich mindestens für die festgenommenen Minister einsetzen und ihre sofortige Freigabe verlangen müssen. Gürtner, der ja selbst an der Kundgebung teilgenommen hatte und von den Nazis auch i n Haft genommen worden war, hielt dem jedoch entgegen, daß K a h r eine „Kriegslist" gebraucht habe und man es i h m daher nicht übel nehmen dürfe, wenn er seine Rolle gut gespielt habe, schließlich müsse man bedenken, „ein Mann, der so auftrete wie Hitler, könne nicht erwarten, daß er wie ein Gentleman behandelt werde. Kahr habe etwas getan, was doch dazu beigetragen habe, die Ruhe i n Bayern wieder herzustellen 58 ." A m Schluß der Sitzung wurde beschlossen, daß K n i l l i n g und Gürtner den Generalstaatskommissar aufsuchen sollten, um seine Stellungnahme zu hören. 65

Deuerlein, S. 304. Deuerlein, S. 94. 67 G S t A : M A 99518 — Protokoll der Ministerratssitzung am 10. November 1923, S. 2. * a. O. S. 5. 56

2. Kap. : Der bayerische Justizminister

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A m 12. November berichtete K n i l l i n g dem Ministerrat von der Unterredung m i t Kahr, Lossow und Seißer. Die drei Herren hätten nicht nur die Auffassung vertreten, daß ihr Verhalten einwandfrei gewesen wäre, sondern hätten auch noch gefordert, nun dem Generalstaatskommissar die gesamte vollziehende Gewalt zu übertragen. A u f Fragen Gürtners, wie dies zu verstehen sei, habe Lossow erklärt, der Generalstaatskommissar dürfe die vollziehende Gewalt nicht von einer parlamentarischen Regierung herleiten. Seißer habe i n diesem Zusammenhang von einer „Übergewalt" gesprochen. A u f die Frage, ob Reichswehr und Landespolizei bedingungslos hinter der Regierung stünden, sei ausweichend geantwortet worden. Stattdessen habe Lossow erklärt: „Der Landtag w i r d von uns nicht geschützt, er wird, wenn er zusammentritt, m i t Schimpf und Schande heimgejagt werden 5 9 ." Während K n i l l i n g seine Ausführungen m i t der Bemerkung schloß, das verstoße gegen den letzten Rest von Staatsautorität, was nicht länger hingenommen werden könne, versuchte Gürtner zu Gunsten Kahrs zu differenzieren: „Seißer und Lossow seien sich über den Unterschied zwischen Staatsgewalt und vollziehender Gewalt nicht klar gewesen. Den Boden der Legalität zu verlassen, weise Herr von K a h r weit von sich. Das Schlußergebnis sei gewesen, daß eine Kundgabe der Regierung gewünscht werde, daß der Generalstaatskommissar wie bisher die vollziehende Gewalt habe 60 ." Damit hatte also Gürtner indirekt für eine Beibehaltung des status quo plädiert, wurde aber dabei von den übrigen Ministern nicht unterstützt, die allesamt die Meinung vertraten, die Regierung dürfe sich nicht den Anschein von Schwäche geben, als könnte sie sich gegen Kahr, Lossow und Seißer nicht durchsetzen. Daraufhin gab Gürtner zu bedenken, daß eine Aufforderung zum Rücktritt sicherlich nicht befolgt würde, was aber wiederum zwangsweise dazu führen müßte, daß das Kabinett zurücktrete. „Dies wäre aber geradezu verhängnisvoll i n einem Zeitpunkt, i n dem die Verfassungsfrage zur Lösung stehe, die K a h r nicht lösen k ö n n e . . . Übrigens sei die Lage noch durchaus nicht i m Gleichgewicht, w e i l die führerlose Jugend nicht wisse, wo hinaus. Hier sei eine gewisse Sammeltätigkeit unbedingt notwendig. Staatsminister Gürtner schlägt eine Erklärung der Regierung vor, die damit beginnen könnte, daß die Reichsregierung dem General Seeckt die vollziehende Gewalt übertragen habe. I n Bayern machen es die Verhältnisse notwendig, daß die vollziehende Gewalt i n ihrem bisherigen Umfange i n der Hand des Generalstaatskommissars von K a h r verbleibe. Außerdem müßte noch vom deutschen Vaterland gesprochen werden 61 ." I n der abschließenden Diskussion fand Gürtners Vorschlag 59 G S t A : M A 99518 — Protokoll der Ministerratssitzung am 12. November 1923, S. 3. Ebenda. 61 a. O. S. 6—7.

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keine Billigung und so stellte der Ministerpräsident fest, daß sich alle Herren m i t Ausnahme des Justizministers für einen Rücktritt Kahrs ausgesprochen haben und bat daher Handelsminister Meinel zur Abfassung eines derartigen Schreibens. Daraufhin erklärte Gürtner, er müßte aus dem Abstimmungsergebnis die Konsequenzen ziehen, K n i l l i n g bat ihn jedoch, m i t Rücksicht auf die Lage vorerst noch i m A m t zu bleiben und verschob die endgültige Beschlußfassung für den Nachmittag des gleichen Tages. I n den wenigen Stunden, die i n der Zwischenzeit verblieben waren, müssen die Führer der drei Koalitionsparteien (Held für BVP, Hilpert für B M P und Staedele für Bauernbund) einen Kompromiß gefunden haben, der es erlaubte, sowohl die Regierung als auch K a h r i m A m t zu belassen, denn traten sie doch i n der Nachmittagssitzung des Kabinetts, zu der sie hinzugezogen wurden, gemeinsam auf und erreichten somit, daß der Ministerrat zustimmte, erneut Verhandlungen m i t dem Generalstaatskommissar aufzunehmen. Vor allem Held stellte das Argument i n den Vordergrund, das Gesamtministerium müßte alle persönlichen Empfindungen zugunsten einer nüchternen Lagebeurteilung zurückstellen und dabei würde sich folgende Frage ergeben: Wie ersparen w i r Bayern noch größeres Unglück? Zwei entscheidende Dinge müßten berücksichtigt werden, einmal nach außen den Eindruck zu erhalten, daß der Generalstaatskommissar i m Auftrag der Regierung handle und zum anderen den inneren Zusammenhalt der Regierung zu wahren. Eines würde vom anderen abhängen; würde K a h r abgesetzt, müßte die Regierung zurücktreten, eine neue Regierung könnte jedoch nicht gebildet werden, w e i l sich ohne die B M P keine parlamentarische Mehrheit finden würde. Das jedoch müßte m i t Sicherheit das Chaos für Bayern bedeuten. A m 13. November einigte sich der Ministerrat endlich, nachdem die Verhandlungen m i t K a h r halbwegs zufriedenstellend verlaufen waren, auf den Kompromißvorschlag der Koalitionsführer, K a h r verblieb bis März 1924 i m Amt, führte jedoch vergleichsweise nur mehr ein politisches Schattendasein. M i t dem massierten Einsatz Gürtners für K a h r zeigt sich deutlich die enge Verknüpfung deutschnationaler Politik i n Bayern m i t dem Generalstaatskommissar. Nach Gürtners hohem Pokereinsatz stellt sich die Frage, welchen anderen Sinn dieser hätte haben können, als den, auch weiterhin die Chance für die Verwirklichung dieser einen politischen Konzeption zu wahren, nämlich der Bildung einer direktoralen Regierung, wenn diese auch i n weite Ferne entrückt war? Man w i r d angesichts dieser Umstände nicht annehmen können, daß Gürtner über die Pläne Kahrs nicht unterrichtet war, also auch von seiner i n Aussicht genommenen Berufung i n ein Reichsdirektorium nichts gewußt hatte. Dafür sind die Verbindungen zwischen Tirpitz und Hilpert einerseits

2. Kap. : Der bayerische Justizminister

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und zwischen Tirpitz und Kahr andererseits zu auffällig. Gerade aber die Mitwisserschaft Gürtners war so groß, daß er kein Interesse an der Aufdeckung dieses antidemokratischen Komplotts haben konnte. Daraus erklärt sich auch sein striktes Verlangen, den Prozeß gegen Hitler nicht i n Leipzig, sondern i n München vor dem Volksgericht abhalten zu lassen. Ohne über den Prozeß noch einmal referieren zu müssen, kann gesagt werden, die bayerische Justiz hat i n diesem Verfahren sich selbst das denkbar schlechteste Zeugnis ausgestellt. Die Verhandlungsführung des Vorsitzenden Neithardt begünstigte die Angeklagten sehr, aber auch die Taktik des Oberstaatsanwalts Stenglein trug dazu bei, daß das Verfahren einen sehr merkwürdigen Verlauf nahm 6 2 . So war es möglich, daß nicht nur der Gerichtssaal zur Arena für Hitlers nationalsozialistische Propaganda wurde, sondern daß auch Urteile gefällt werden konnten, die, bezogen auf den Tatbestand des Hochverrats, nichts als nur Hohn waren. Gürtner selbst mimte i n diesem Trauerspiel die Rolle eines Unbeteiligten, wo gerade er doch alle M i t t e l zum Eingreifen i n der Hand hielt, wie das eingeleitete Verfahren gegen Hitler wegen der Vorkommnisse am 1. M a i bewiesen hatte. Sicherlich war es richtig, wenn Gürtner vor dem Kabinett die Ansicht vertrat, die „Justizverwaltung müsse sich vor dem V o r w u r f einer Beeinflussung des Gerichtes hüten und könne eigentlich nur durch die Staatsanwaltschaft eingreifen 63 ." Aber abgesehen davon, daß auch dieses Instrumentarium nicht v o l l eingesetzt wurde 6 4 , verschanzte er sich nicht zu sehr angesichts der Tatsache, daß der Vorsitzende i n aller Öffentlichkeit das Recht verletzte? Gürtner hätte das nicht hinnehmen, geschweige denn Neithardt vor dem Ministerrat verteidigen und die Bitte aussprechen dürfen, man möge m i t dem Urteil über das Gericht noch zurückhalten, „da der wei62

Die Parteilichkeit Neithardts zeigte sich daran, daß er ein Vernehmungsprotokoll, das Ludendorff zu sehr belastete, durch ein anderes ersetzen ließ, i n dem letzterer aussagte, v o m Putsch nichts gewußt zu haben. B e i m Prozeß selbst begünstigte er die Angeklagten, indem er ihre Behauptungen als „ T a t sachen" h i n n a h m u n d indem er die Zeugen i n einer Reihenfolge aufrief, die der Verteidigung Vorteile bot. Schließlich zeigt die A r t u n d Weise, w i e N e i t hardt H i t l e r Gelegenheit gab, durch sein A u f t r e t e n sich i n den M i t t e l p u n k t zu stellen u n d seine Rolle als Angeklagter i n die des Klägers zu verkehren, welcher Seite die Sympathien des Vorsitzenden gehörten. D i e Schwäche der Anklagevertretung offenbarte sich i n der mangelnden A u s w a h l v o n Zeugen. Viele am Putsch maßgeblich Beteiligte, die zur K l ä r u n g des Sachverhalts w e sentlich hätten beitragen können, so ζ. B. Freiherr v o n Aufseß, Freiherr von Freyberg sowie die Majore Jösslin, Hunglinger u n d Doehla, w u r d e n nicht als Zeugen aufgerufen. Ferner muß es unverständlich bleiben, weshalb m a n i m Wehrkreiskommando nicht nach belastendem Material gesucht hat, w e n n m a n nicht annehmen w i l l , daß die Staatsanwaltschaft absichtlich nicht die volle Wahrheit zu Tage fördern wollte. 63 64

G S t A : M A 99518 — Ministerratssitzung v o m 4. März 1924, S. 5. a. O. S. 6.

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tere Verlauf des Prozesses erst seine Unparteilichkeit erweisen müsse®5." Und wie ist Gürtners Auskunft zu verstehen, das Urteil über Landgerichtsdirektor Neithardt habe dahingehend gelautet, daß er sich für die Leitung des Prozesses „bestens" eigne? Bezog sich das auf eine bestimmte politische Einstellung oder wußte Gürtner von dieser tatsächlich nichts, w e i l er ihn persönlich nicht genau kannte 6 6 und daher seine Zustimmung zur „turnusmäßigen" Berufung gab? Wie dem auch sei, die gesamte bayerische Staatsregierung war nicht i n der Lage, sich gegen solche Männer wirkungsvoll zur Wehr zu setzen, die noch kurz zuvor eben diese Regierung zu stürzen versuchten, und sie hat damit für eine Entwicklung freie Bahn gegeben, die Hitler an die Macht brachte und damit Deutschland ins Verderben stürzte. Nach der 1925 erfolgten Begnadigung Hitlers und seiner Haftentlassung aus der Festungsanstalt Landsberg sollten sich die mahnenden Worte Gürtners bewahrheiten, die dieser freilich unter anderen Vorzeichen nach dem Fechenbach-Urteil an den Landtag gerichtet hatte. I n der schon zitierten Rede am 17. November 1922 hatte Gürtner einen Ausspruch Ciceros angeführt, um zu bekräftigen, wohin man käme, wenn Nachsicht gegenüber links geübt würde: „Ich möchte hier an eine Bemerkung des römischen Advokaten Cicero erinnern, die einer meiner Amtsvorgänger, der Herr Abgeordnete Dr. Roth, seinerzeit dem Juristentage von Bamberg ins Stammbuch geschrieben hat und die auch heute, wie für alle Zeiten, Beachtung verdient. Dieser Mann, der selbst i n einer Zeit der beginnenden Zersetzung des Staatswesens gelebt hat, schreibt: „Wenn helle Verzweiflung dem Untergange geweihte Staaten ergriffen hat, so pflegen sich ihre letzten Stunden i n folgender Weise abzuspielen: Verurteilte werden wieder zu Ehren gebracht, Häftlinge freigelassen, des Landes Verwiesene zurückgeholt, rechtskräftige Urteile umgestoßen. Wenn diese Anzeichen auftreten, dann w i r d jedermann klar, daß das Staatswesen zusammenbricht, und niemand hat auch nur die geringste Hoffnung auf Rettung." Diese Worte, die nicht bloß für die Geschichte des römischen Reiches gelten, haben für alle Zeiten sich als richtig bewährt 6 7 ." Das Menetekel wurde also wohl richtig erkannt, allein die Konsequenzen daraus zog man nicht und übte auch weiterhin Nachsicht gegenüber rechts. Weil man sich selbst als Totengräber des Weimarer Systems verstand, sah man nur die ähnliche Gesinnung, verkannte jedoch völlig die Gefahr « 5 a. O. S. 5. a. O. S. 4. 67 Verhandlungen des Bayerischen Landtags, Bd. V I I — 149. Sitzung am 17. November 1922, S. 120.

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von der national-revolutionären Seite, die auch einer eigenen, angestrebten national-konservativen Staatsordnung drohte. Faßt man nun die Ereignisse vom Herbst 1922 bis zum Frühjahr 1924 i n Bayern zusammen, so läßt sich, bezogen auf das politische Stellungsspiel der Justizverwaltung, w o h l von einem „System Gürtner" sprechen. Gürtner hatte als Mitglied der B M P einen politischen Auftrag zu erfüllen, der dahingehend lautete, Weimar zu überwinden, sich dabei aber an die Spielregeln des Parlamentarismus zu halten. Sein System bestand also darin, einerseits den Schein der Verfassungslegalität zu wahren, andererseits aber tatkräftig die Bestrebungen für eine illegale Verfassungsänderung zu unterstützen. Gemäß seiner T a k t i k versuchte er die Unabhängigkeit der Gerichte zu suggerieren, um diese um so besser politisch einsetzen zu können. Die Urteile gegen Fechenbach und Genossen auf der einen und die gegen Hitler und Genossen auf der anderen Seite geben davon Zeugnis. Es entsprach seiner konservativen, nichtrevolutionären A r t , sich um einen Ausgleich m i t dem Reich zu bemühen, um sein Profil als parlamentarisch verantwortlicher Minister unter Beweis zu stellen, aber auch eine Verordnung einzubringen, die zum Trugschluß verleitete, die demokratische Ordnung solle damit gestärkt werden, wohingegen sie i n Wirklichkeit doch nur dazu beitragen sollte, antidemokratischen Strömungen Schützenhilfe zu leisten. Gürtner hat diese deutschnationale Schaukelpolitik immer i n Zeiten politischer Wirren getragen, weil er dann hoffen konnte, er würde damit Erfolg haben, er hat aber sein Verhalten sofort revidiert, wenn die Zeichen nicht mehr so günstig für eine nationale Diktatur standen. So war es von 1922 bis Herbst 1923, so war es als Reichs justizminister i n den Kabinetten Papen und Schleicher und so war es auch i m gewissen Sinne m i t seiner Justizpolitik am Anfang des Dritten Reiches. Daß sich Gürtner i n der Zwischenzeit, i n den letzten Monaten der Regierung K n i l l i n g und unter der Ministerpräsidentenschaft Held anders verhielt, deutet nicht nur auf seine Wandelbarkeit, sondern auch gerade auf seinen ausgeprägten Sinn für das politisch Mögliche und Machbare. Niemals hat sich Gürtner i n etwas dermaßen verstrickt, daß es für i h n keinen Ausweg gegeben hätte, er hat sich aber auch nicht davor gescheut, etwas zu wagen, selbst wenn es gegen die Verfassung verstieß. Gerade das kalkulierbare Risiko war sein Erfolgsrezept für seine zehnjährige Amtszeit i n Bayern und sein über achtjähriges Wirken als Reichs justizminister. Man w i r d daher Gürtner m i t Recht als Pragmatiker, aber auch, wie Harold J. Gordon dies getan hat 6 8 , als Macchiavellisten bezeichnen können. βθ Gordon, H a r o l d J.: Hitlerputsch 1923, Machtkampf i n Bayern 1923—1924, F r a n k f u r t / M . 1971, S. 475 A n m e r k . 10. — Trotz dieser richtigen Einschätzung darf nicht übersehen werden, daß Gordon i m übrigen Gürtners politische Rolle ungenau beurteilt hat. Es dürfte w o h l auf mangelnde Analyse deutsch-

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1. Teil: Werden und Weg 1881 - 1932 3. Deutschnationale Politik in der Ära Held

A m 6. A p r i l 1924, bzw. i n der Pfalz am 4. M a i 1924, fanden Neuwahlen zum Bayerischen Landtag statt. Die Ergebnisse waren zum Teil sehr überraschend; eindeutige Sieger wurden die zum „Völkischen Block" zusammengeschlossenen rechtsradikalen Gruppen, die über 500 000 Stimmen erhielten, was ihnen von den 129 Sitzen i m Landtag allein 23 einbrachte. Dieser kolossale Einbruch i n die parlamentarische Szene ging auf Kosten der anderen Parteien. Während sich der Bayerische Bauernbund annähernd gleich halten konnte, verloren die B V P beinahe 15 Prozent, die Deutschnationalen ungefähr 20 Prozent, die SPD etwa ein Drittel 6 9 und die Demokraten nicht weniger als 70 Prozent ihrer bisherigen Wähler. Dennoch hatten die drei i n der bisherigen Regierungskoalition vertretenen Parteien, wenn auch m i t insgesamt 67 Sitzen (BVP 46, B M P 11, Bauernbund 10) nur sehr knapp, die Mehrheit halten können 70 . A u f dieser Basis ließen sich die Koalitionsverhandlungen aufbauen, die nach dem Rücktritt der Regierung K n i l l i n g am 5. M a i begannen und beinahe zwei Monate dauern sollten, bevor am 2. J u l i Heinrich Held zum neuen Ministerpräsidenten gewählt werden konnte. Die lange Dauer der Gespräche erklärt sich aus den weitgehenden Forderungen der Deutschnationalen i m personalen Bereich. Obwohl es keine andere Möglichkeit als die Fortführung des bisherigen Regierungsbündnisses gab, w e i l für die B V P ein Zusammengehen m i t der SPD oder dem Völkischen Block nicht i n Frage kam und ein Kabinett ohne die B V P nicht die Mehrheit des Landtages hinter sich gehabt hätte, führte Hilpert, dabei vom Bauernbund unterstützt, das taktische Manöver durch, Besprechungen m i t den Völkischen zu arrangieren. Es war offensichtlich, was der Führer der Deutschnationalen damit benationaler P o l i t i k zurückzuführen sein, w e n n er Gürtners taktisches Verhalten manchmal mißversteht oder überhaupt nicht einzuordnen weiß. I n Verkennung tatsächlicher Beziehungen der B M P zu K a h r einerseits u n d zu H i t l e r andererseits, sieht Gordon i m Justizminister dasjenige Kabinettsmitglied, „das H i t l e r a m nächsten stand" u n d k a n n sich daher Gürtners Eintreten f ü r K a h r nach dem Hitlerputsch nicht erklären (S. 435). Unverständlich bleibt i h m auch Gürtners Drängen i m K a b i n e t t v o r den Landtags wählen v o n 1924, das Republikschutzgesetz f ü r Bayern anzuerkennen (S. 474—475). Siehe dazu auch A n m . 74. M i t dieser K r i t i k soll jedoch keineswegs das Verdienst, das Gordon sich m i t seiner Studie über den Hitlerputsch erworben hat, geschmälert w e r den. 69 Der Verlust der SPD erklärt sich zwar auch zum T e i l durch das starke Anwachsen der K o m m u n i s t e n v o n 2 auf 9 Sitze, angesichts dieser Höhe muß aber angenommen werden, zumal die anderen bürgerlichen Parteien ebenfalls stark verloren hatten, daß eine beachtliche Anzahl ehemaliger SPD-Wähler z u m Völkischen Block wechselte. Die Mehrheit ergab sich dadurch, daß der Landtag 1924 von 158 auf 126 Abgeordnete vermindert wurde.

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zweckte. Die Mittelpartei, die sich von nun an wie i m übrigen Reich DNVP nannte, war stark profilbewußt darum bemüht, nicht noch mehr Terrain abzugeben, als sie ohnedies schon an das völkische Lager verloren hatte. Es war klar, daß die neue Regierung, wollte sie wieder geordnete Verhältnisse schaffen, einen strikten Kurs gegen jede Spielart des Rechtsradikalismus einschlagen mußte. Auch Hilpert hatte dies erkannt, wie das Verhalten der Deutschnationalen nach dem Hitlerputsch bewies 71 . Andererseits bestand aber die Gefahr, daß die D N V P i n Bayern bei den nächsten Wahlen nur mehr als Splittergruppe i n den Landtag zurückkehren würde, wenn es nicht gelang, durch einen national-konservativen Kurs die bisherigen deutschnationalen Wähler bei der Stange zu halten. Der Einbruch der Völkischen i n das eigene Lager war Warnung genug, daß man nicht allzu sorglos i n die Zukunft blicken durfte. Daraus erklärt es sich, weshalb man vor aller Öffentlichkeit die Koalitionsfähigkeit der Völkischen anerkannte, um dem Wähler zu dokumentieren, daß man sich keineswegs von den nationalen Zielen distanziert habe. Bei diesem Schachzug nahm Hilpert von vornherein das Scheitern der Gespräche i n Kauf, denn war er doch ein zu guter Kenner der politischen Bühne, als daß er einen Ausgleich der Interessen zwischen B V P und Völkischen hätte annehmen können, erreichte aber damit eine Klärung der Situation. Nachdem es feststand, daß die B V P m i t keiner der anderen großen Parteien, der SPD und dem Völkischen Block, koalieren würde, war die D N V P automatisch aufgewertet, denn führte doch jetzt kein Weg mehr an ihr vorbei. Hilpert und seine Partei spielte also das Zünglein an der Waage und so erscheint dessen Forderung, an K n i l l i n g als Ministerpräsidenten festzuhalten, während Innenminister Schweyer aus dem A m t scheiden sollte, i m rechten Licht. Beides mußte zunächst auf den Widerstand der B V P stoßen. Bei ihr hatte sich zu sehr die Meinung ihres Fraktionsvorsitzenden Held durchgesetzt, daß alles getan werden müßte, um die „Unordnungszelle" Bayern zu überwinden, d . h . aber die Meinung zu vertreten, „daß die kommende Regierung, einzig und allein gestützt auf die legitimen Machtmittel des Staates, eine rücksichtslose Liquidierung der Zustände vornehmen müsse, die die verhängvolle Lage verschuldet hatten, i n welche der bayerische Staat geraten war 7 2 ." Doch sollte gerade K n i l l i n g ein Garant dieser Politik sein? Zusammen m i t dem rechten Flügel der Partei hatte er sich vor dem Hitlerputsch zu sehr rechts exponiert, als daß er noch das ungeteilte Vertrauen der neuen BVPFraktion besessen hätte, obwohl die letzten Monate seiner Minister71

Die entscheidende Wende w u r d e zum ersten M a l i n der Koalitionsabsprache über die Behandlung des Falles K a h r nach dem Hitlerputsch sichtbar, m i t der sich die Deutschnationalen v o m Generalstaatskommissar insgeheim abwandten. 72 Schwend, S. 264.

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präsidentenschaft Anzeichen eines grundlegenden Wandels erkennen ließen. So rückte der eigentliche Führer der Partei, Dr. Held, immer mehr i n den Vordergrund und wurde schließlich auch von den anderen Koalitionsparteien akzeptiert. Hatte man sich i n dieser Frage relativ schnell geeinigt, so erwies sich die geforderte Ablösung Schweyers als problematisch. Gerade weil der Innenminister durch sein entschiedenes Eintreten für die Bewahrung der Staatsautorität bewiesen hatte, daß er weder nach der linken noch nach der rechten Seite neigte, war ihm die Sympathie weiter Kreise der B V P gewiß. Aus Rücksicht auf das vaterländisch gesinnte Lager, das Schweyer nichts als Verachtung und Haß entgegenbrachte, argumentierten die Deutschnationalen hingegen, m i t diesem Mann wäre ein Rechtskurs nicht gewährleistet und forderten daher unter allen Umständen seinen Abgang. Held, den keine enge persönliche Freundschaft m i t Schweyer verband, hätte darauf nun ohne weiteres eingehen können, wenn er nicht auf Schweyers politische Freunde hätte Rücksicht nehmen müssen. So stellte die B V P die Gegenforderung auf, daß man einem Ausscheiden des Innenministers nur dann zustimmen würde, wenn gleichzeitig Gürtner sein Ministeramt zur Verfügung stellte. Man wollte nicht einsehen, weshalb nicht beide ihren H u t nehmen sollten, wenn schon jeder m i t einer wie auch immer gearteten Hypothek belastet war. Ausschlaggebend, daß die D N V P schließlich Gürtner doch halten konnte, war wohl eine weitgehende Übereinstimmung i m sachlichen Bereich, nämlich bezüglich der Richtlinien für die zukünftige föderalistische Haltung Bayerns und für die beabsichtigte Konkordatspolitik. Trotz dieses Kompromisses blieb i n einigen Kreisen der B V P eine langandauernde Verstimmung zurück, aus der sich die späteren Angriffe gegen Gürtner als Repräsentanten der bayerischen Justizmisere erklären lassen, die vor allem vom Parteiorgan, dem „Bayerischen K u rier", geführt wurden 7 3 . Die Basis für eine Fortführung der Koalition war bereits Mitte November 1923 sichtbar geworden, als sich die drei Fraktionsvorsitzenden entgegen dem Mehrheitsbeschluß der Regierung um eine gütliche Beilegung des Falles K a h r bemühten. Dabei war es i n erster Linie darum gegangen, die B V P und die BMP, ohne das Gesicht zu verlieren, zu einer vorsichtigen Kurskorrektur zu bewegen, um die äußerst gespannten Beziehungen Bayerns zum Reich entkrampfen zu können. Es ist daher alles andere als rätselhaft, wie H. J. Gordon es empfindet 74 , daß 73

Siehe dazu A n m . 116, 118, 120. Gordon, S. 474: „Erstaunlicherweise brachte der rätselhafte Gürtner die Sache innerhalb des Kabinetts zum erstenmal i n allem Ernst zur Sprache." Gordons Annahme von S. 475 A n m . 10, daß Gürtner m i t seinem Eintreten, das 74

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der Kabinettsvertreter der am meisten durch die Aktivitäten Kahrs belasteten, ja kompromittierten Partei, der Deutschnationale Gürtner, zum treibenden Element einer Aussöhnungspolitik m i t dem Reich wurde. Er mußte alles daran setzen, um das Scheitern einer Politik, die seine Partei m i t allen Kräften unterstützt hatte, vergessen zu machen, um nicht von der Wucht der Ereignisse zu weit nach rechts abgetrieben zu werden und dadurch die Fähigkeit zu einer Koalition m i t der B V P zu verlieren. So deutete Gürtner bereits i n der Kabinettssitzung am 13. November 1923, als der Ministerrat endgültig der vorläufigen Belassung Kahrs i m A m t des Generalstaatskommissars zugestimmt hatte, die Kehrtwendung der Deutschnationalen von der bisherigen Linie an, als er es für die „dringendste Aufgabe" hielt, „den Faden zum Reiche aufzunehmen und auf Aufhebung des A r t . 17 der R. V., der den Ländern die A r t der Verfassung vorschriebe, und der Republikschutzgesetze zu dringen. Wenn die Regierung diese Dinge sofort fest i n die Hand nehme, werde jedermann sagen, daß sie sogar eine größere A u f gabe habe als der Generalstaatskommissar 75 ." Der erste Schritt der bayerischen Regierung zur Normalisierung der Verhältnisse m i t dem Reich war die Lösung des Falles Lossow. Danach, Ende Januar 1924, stellte Innenminister Schweyer den Antrag, die Verordnung Kahrs, m i t der das Republikschutzgesetz außer K r a f t gesetzt worden war, für nichtig zu erklären. Als sich das Kabinett bis Mitte Februar noch zu keinem Entschluß durchringen konnte, griff Gürtner erneut den Faden auf und wies darauf hin, i n welche mißliche Lage Bayern durch die Nichtanwendung der Schutzgesetze geraten sei, w e i l es dadurch zum Zufluchtsort zahlreicher unerwünschter Elemente wurde. Woraus erklärt sich dieser völlige Gesinnungswandel Gürtners? Er w i r d nur verständlich, wenn man weiß, daß sich Gürtner m i t der Entscheidung des Ministerrats, eine Beschlußfassung über diese Angelegenheit bis nach den Wahlen i m A p r i l zu vertagen, nicht zufrieden gab und kurz vor dem Wahltermin nochmals den Vorschlag des Innenministers, die Verfügung Kahrs aufzuheben, zur Diskussion stellte. Welche andere Absicht hätte aber Gürtner hegen können, als er sich m i t seinem ehemaligen politischen Gegner verbündete, um sich als akzeptables Mitglied i n einer neuen Regierung zu empfehlen? Hätte er sonst Mitte A p r i l nach erfolgter Wahl, es standen nur noch die Ergebnisse i n der Pfalz aus, erneut i m Einklang m i t Schweyer m i t solchem Nachdruck darauf gedrungen, so daß sich schließlich auch das übrige Kabinett bereit erklärte, m i t nachträglicher Wirkung zum 1. A p r i l die Ungültigkeit einzuräumen 76 ? Republikschutzgesetz durchzuführen, am Vorabend der W a h l die B V P u n d die Staatsregierung diskreditieren wollte, dürfte nicht zu halten sein. Siehe dazu A n m . 68. 75 G S t A : M A 99518 — Niederschrift der Ministerratssitzung v o m 13. November 1923, S. 5.

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Berücksichtigt man ferner noch seine Bereitwilligkeit, die bayerischen Volksgerichte zum 1. A p r i l 1924 aufzulösen 77 , so erkennt man das starke Bemühen der Deutschnationalen, jene gemeinsame Basis m i t der B V P zu finden, die es erlauben würde, auch weiterhin m i t Gürtner als Justizminister die Politik eines neuen Koalitionskabinetts zu führen. Seine Wandelbarkeit ließ Gürtner politisch überleben; von der neuen Bündniswelle zwischen B V P und seiner Partei wurde er mehrere Jahre hindurch getragen, bis er gerade noch rechtzeitig den Absprung finden konnte. Tragende Säule bayerischer Regierungspolitik von 1924 bis 1933 war ihre föderalistische Frontstellung gegen alle zentralistischen Bestrebungen i m Reich. Solange Gürtner bayerischer Minister war, hat er als Vertreter der D N V P diese Haltung v o l l unterstützt, wenn i h m dies auch nach 1930 durch den steigenden Hugenberg-Einfluß auf die bayerische Landesleitung immer schwerer wurde, so daß sich eine offene Konfrontation zur B V P nach und nach stärker abzeichnete. Entgegen dem früheren Kollisionskurs war die bayerische Stellung seit dem Hitlerputsch trotz aller sachlichen Gegensätzlichkeiten zum Reich auf Kooperation ausgerichtet. Angestrebtes Ziel war der Verfassungsfriede und nicht der Verfassungskampf; dies wurde durch die beiden Regierungsdenkschriften von Januar 1924 und vom Januar 1926 zum Ausdruck gebracht. Sie sind Dokumente jenes Gesinnungswandels bayerischer Politik, von dem oben die Rede war. Die dafür verantwortlichen Männer haben m i t ihrer Bereitschaft, durch zähes, jedoch behutsames Verhandeln gesicherte rechtliche Verhältnisse für ein möglichst weitgehendes Maß an bayerischer Selbständigkeit zu erreichen, eine innenpolitische Atmosphäre geschaffen, die sich gerade durch ihre Stabilität und Ruhe auszeichnete, Besonders an Gürtner, der vormals ja eine ganz andere, sehr aggressive Linie dem Reich gegenüber vertreten hatte, wurde der Wandel des Regierungsstils i n Bayern offensichtlich. Gewiß, die Forderungen waren nicht weniger weitreichend als i n den Jahren zuvor, aber der A r t und Weise, i n der sie vorgetragen wurden, fehlte jeglicher Radikalismus, der die Gemüter bisher so sehr erhitzt hatte und dadurch einer Entwicklung Nahrung gegeben, die nahe an den Rand der Katastrophe geführte hatte. I n der Ä r a Held war man i m Lager der Regierung frei davon und konnte daher eine Realpolitik betreiben, die allein die Chance i n sich barg, zu einer vernünftigen Lö76 G S t A : M A 99522 — A u f der Kabinettssitzung v o m 12. A p r i l 1924 (Protok o l l S. 7) beschloß das Kabinett, durch einen vertraulichen B r i e f an die Regierungspräsidenten die Ungültigkeitserklärung f ü r das Republikschutzgesetz m i t W i r k u n g v o m 1. A p r i l bekanntzugeben. 77 G S t A : M A 99518 — Ministerratssitzung v o m 27. März 1924: Beschluß der Staatsregierung, die Volksgerichte i n Bayern am 1. A p r i l sowie das Volksgericht München am 15. M a i 1924 aufzuheben.

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sung der Verfassungsstreitigkeiten zu gelangen. Daß schließlich der Weimarer Staat doch zu Grunde gehen mußte, war seit 1924 ganz gewiß auf alles andere als auf die staatstragenden Elemente i n Bayern zurückzuführen. Gürtners Beteiligung an der Denkschrift von 1924 w i r d greifbar durch ein ausführliches Schreiben vom 7. Dezember 1923 an Ministerpräsident Knilling, i n dem die Vorschläge des Justizministeriums für eine notwendige Änderung der Reichsverfassung unterbreitet wurden; diejenigen, welche das Gebiet der Justiz direkt betrafen, wurden i m vollen Wortlaut übernommen, aber auch andere, so über die Ausnahmegesetzgebung und den Reichsrat, fanden Eingang i n den Katalog der Forderungen zur Erweiterung der Selbständigkeit der Einzelstaaten. Die Denkschrift stellte sachlich fest, daß die Weimarer Verfassung für die Justiz i m allgemeinen den Rechtszustand der Reichsverfassung von 1871 übernommen habe. Daraus wurde nun geschlossen, daß i m Vollzug der Grundgesetzgebung streng auf die Zuständigkeitsgrenzen zwischen Reich und Staat geachtet werden müsse, was die Änderung von zwei Bestimmungen erforderlich mache: „1) Nach A r t . 49 Abs. I übt der Reichspräsident für das Reich das Begnadigungsrecht aus; nach Abs. I I des A r t . 49 bedürfen Reichsamnestien eines Reichsgesetzes. Es muß außer Zweifel gestellt werden, daß Reichsamnestien sich nur soweit erstrecken können, als das Begnadigungsrecht dem Reiche zusteht, also nur auf die durch Gerichte des Reiches erfolgten Verurteilungen. Es wäre m i t der Justizhoheit des Einzelstaates nicht vereinbar, wenn in ihr Begnadigungsrecht jederzeit i m Wege einer Reichsamnestie w i l l kürlich eingegriffen werden könnte . . . Es bedarf daher eines ausdrücklichen Verbotes an die Reichsgesetzgebung, daß i m Gesetzgebungswege, gleichviel ob es sich u m eine Amnestie i m engeren Sinne oder um die Gewährung von Straffreiheit handelt, i n das Begnadigungsrecht der Einzelstaaten nicht eingegriffen werde. 2) Es widerspricht dem Grundsatz des A r t . 103, der — abgesehen vom Reichsgericht — die Justizhoheit ungeschmälert den Einzelstaaten überließ, wenn außer dem Reichsgericht andere Gerichte des Reiches, insbesondere auf dem Gebiete des Strafrechts eingerichtet werden. Auch durch solche Sondergerichte des Reiches w i r d das Begnadigungsrecht der Einzelstaaten ausgeschaltet , . . Daher muß gefordert werden, daß solche Sondergerichte als Gerichte nicht des Reiches, sondern der Länder eingerichtet werden. Dies sollte durch einen entsprechenden Zusatz zu A r t . 103 der Reichsverfassung sichergestellt werden. Dringend notwendig ist es endlich, daß möglichst bald an die Aufhebung des Gesetzes zum Schutze der Republik vom 21. J u l i 1922 herangegangen wird, wenigstens soweit der Staatsgerichtshof i n Betracht kommt. Dieses Sondergericht ist ein politisches Gericht und bedeutet einen verhängnisvollen Schritt zur Politi-

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sierung der Rechtsprechung und der Rechtspflege 78 ." Die eigentliche Hauptforderung der Denkschrift, Gleichstellung von Reichstag und Reichsrat, hatte Gürtner am 7. Dezember 1923 als Kernpunkt bezeichnet: „Ohne größeren Einfluß des Reichsrates auf die Reichsgesetzgebung läßt sich eine gründliche Sicherung der Selbständigkeit der Länder nicht gewährleisten. N u r ein Mitwirkungsrecht des Reichsrats bei der Gesetzgebung als eines gleichberechtigten Gesetzgebungsorgans kann hier gründliche Abhilfe schaffen. Dies erfordert eine grundsätzliche Umgestaltung des Aufbaus des Reiches durch Rückkehr zu den bewährten Grundlagen der Bismarckschen Verfassung von 1871, die i m Interesse eines gedeihlichen Zusammenwirkens von Reich und Ländern und damit auch zum Wohle des Reiches angestrebt werden muß 7 6 ." A n Gürtners Beitrag ist das Zusammenwirken der Deutschnationalen m i t der B V P i n der Föderalismusfrage zu messen. K l a r erkennbar ist die Absicht, jeder A r t von Versuch, die Eigenstaatlichkeit der Länder auszuhöhlen, Paroli zu bieten. Was Gürtner für die Justiz bezweckte, nämlich von vornherein allen Verreichlichungstendenzen vorzubauen, galt auch i m gleichen Maße für die anderen Gebiete der staatlichen Verwaltung. Die Hauptsorge bereitete dabei das Finanzwesen, da die F i nanzreform Erzbergers Grundlagen geschaffen hatte, die eine staatliche Selbständigkeit am stärksten gefährdete. I n völliger Abkehr zur bestehenden Regelung wurde daher die gesamte direkte Besteuerung für die Länder gefordert und bei den indirekten Steuern wollte Bayern wie früher das Sonderrecht eingeräumt wissen, die Biersteuer für sich allein zu erheben, da es sich dabei um eine lebenswichtige Einnahmequelle handelte. Bayern wünschte sich auf dem Gebiet der Verkehrspolitik bei der Reichsbahnverwaltung ebenso eine Dezentralisierung wie dies für die Verwaltung der Kulturpflege als Notwendigkeit erachtet wurde. Deutschnationale und B V P wußten sich einig i n dem Bestreben, bayerische Eigenart zu bewahren und bayerisches Selbstbewußtsein zu stärken. Vor diesem Hintergrund ist das Zusammenspiel der beiden politischen Kräfte zu sehen, das zum Abschluß des Konkordats bzw. zu den Staatsverträgen m i t der evangelischen Kirche führte und das bestimmend für die gemeinsame Unterstützung eines Volksbegehrens vom Frühjahr 1924 war, m i t dem durch eine Verfassungsänderung die Errichtung eines bayerischen Staatspräsidentenamtes und einer Zweiten Kammer des Landtages sowie die Erleichterung einer unmittelbaren Volksabstimmung erreicht werden sollte. M i t der Denkschrift vom Jahre 1924 war jene „stark gouvernemental gehaltene föderalistische Revisionspolitik" 8 0 eingeleitet worden, die die 78 G S t A : M A 103255 — Schreiben Nr. 53630 an das Außenministerium v o m 7. Dezember 1923. 79 Ebenda.

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Ministerpräsidentenschaft Heinrich Heids auszeichnen sollte. Sie fand ihren Ausdruck i n der Regierungsdenkschrift vom Jahre 1926 und i n den bayerischen Stellungnahmen auf der Länderkonferenz von 1928 bis 1930. Diese waren i n ihrer Stoßrichtung darauf angelegt, Abwehrmittel gegen unitaristische Praktiken der Reichsbürokratie zu schaffen. Die Denkschrift von 1926 stellte daher i n den Mittelpunkt ihrer Ausführungen eine ernste Nachprüfung der gesamten Kompetenzverteilung und forderte darüber hinaus, die Neuordnung des Aufgabenkreises i n Gesetzgebung und Verwaltung auf eine feste Grundlage zu stellen, wozu eine „besondere verfassungsrechtliche Sicherung" notwendig sei. „Die für die besonderen Verhältnisse des deutschen Bundesstaates geeignete Garantie ergibt sich aus der Bismarckschen Reichsverfassung. Verfassungsänderungen i m alten Reich galten als abgelehnt, wenn sich i m Bundesrat 14 (von 58) Stimmen dagegen aussprachen. Die Garantie wäre i n entscheidender Weise i n jenes Organ des Reiches zu verlegen, das zur Vertretung der deutschen Länder i m Reich gebildet ist, nämlich i n den Reichsrat. Dem System der neuen Reichsverfassung folgend wäre sie wohl dem A r t . 76 als A r t . 76 a etwa i n folgender Fassung anzugliedern: „Änderungen oder Ergänzungen der Verfassung, welche unmittelbar oder mittelbar eine Einschränkung der den Ländern nach dieser Verfassung zustehenden Rechte i n sich schließen, können . . . nur i m Wege der Gesetzgebung erfolgen. Solche Gesetze bedürfen i n allen Fällen der Zustimmung des Reichsrates 8 1 ..." Damit wiederholte also die Regierung Held eine Forderung, die schon Gürtner i m Dezember 1923 als Kernpunkt für die Sicherung der Selbständigkeit der Länder bezeichnet hatte. Daneben standen wieder jene Punkte der föderalistischen Programmpolitik, die schon 1924 aufgeführt worden waren und die die Stellung Bayerns bei der Länderkonferenz prägen sollten: Einschränkung der Reichszuständigkeit zugunsten der Länder, Sicherstellung des Rechtes der Länder auf die Ausführung der Reichsgesetze, verfassungsmäßige Sicherung der Länder i n ihrem staatlichen Bestand, ihrem Gebiet und ihren erweiterten Rechten, Erhaltung und Festigung ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Selbständigkeit, Sicherung der finanziellen Lebensfähigkeit der Länder. Die Reichsregierung hatte zum 16. Januar 1928 die Länderkonferenz nach Berlin einberufen. Sie bot damit den Ländern die Möglichkeit, i n sachlicher Weise eine Reichsreform zu erörtern. Aufgabe sollte es sein, i n Form einer Enquete-Kommission Material für eine durchgreifende Änderung des Reichsbaus zu erarbeiten. Zunächst traten die MinisterSchwend, S. 333. G S t A : M A 103456 — Denkschrift der Bayerischen Staatsregierung über die fortschreitende Aushöhlung der Eigenstaatlichkeit der Länder unter der Weimarer Verfassung, Drucksache v o m M a i 1926, S. 16. 81

6 Reitter

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Präsidenten der einzelnen Länder i n Grundsatzreferaten hervor, wobei es zu Wiederholungen altbekannter Stellungnahmen kam. Während Held auf der Grundlage der beiden, oben erwähnten Denkschriften für einen starken Ausbau der föderalistischen Struktur des Reiches eintrat und dabei mehr oder weniger Unterstützung von den Vertretern der anderen süddeutschen und der mitteldeutschen Länder fand, ließ das vorgetragene preußische Programm des Ministerpräsidenten Otto Braun alle Anzeichen eines strengen Unitarismus erkennen. Die Reichsregierung war i n der Abfassung des Schlufikommuniqués, die sich damit indirekt i n die Diskussion eingeschaltet hatte, darum bemüht, diese Gegensätzlichkeiten nach außen h i n abzugleichen. So hieß es ganz vage, Reichsregierung und Ländervertreter seien der gemeinsamen A u f fassung, daß eine starke Reichsgewalt nötig sei. Jede Teillösung wurde als bedenklich angesehen, weil sie eine Gesamtlösung erschwere. Einigkeit bestand ferner darüber, daß eine Umgestaltung leistungsschwacher Länder i n „Reichsländer" nicht erfolgen solle. Ein Verschmelzen von Ländern wurde nur bei einigen kleinen, selbständigen Gebieten ins Auge gefaßt. Damit war herzlich wenig ausgesagt, denn gerade bei der Frage, wori n eine starke Reichsgewalt bestehen solle, bestanden erhebliche Differenzen zwischen Unitariern und Föderalisten, und über den Weg zu einer Gesamtlösung hatte man keine einheitlichen Vorstellungen. So blieb das einzig konkrete Ergebnis i n der Bildung eines achtzehnköpfigen Ausschusses (9 Vertreter der Reichsregierung und 9 Vertreter der Länder), der unter dem Vorsitz des Reichskanzlers weitere Unterlagen für Entschließungen sammeln sollte, die i n einem Gesamtbericht der Länderkonferenz vorzulegen waren. Der weitere Verlauf brachte die Bildung von Unterausschüssen, die dazu helfen sollten, die durch die Diskussion immer weiter aufgefächerten Probleme besser i n den Griff zu bekommen. Aber wie das i n der Natur der Dinge liegt, konnte der gesamte Verfassungskomplex keineswegs dadurch transparenter gemacht werden, sondern wurde i m Gegenteil durch eine Flut von Schriften, Stellungnahmen und Kommentaren, auch außerhalb der Länderkonferenz selbst, diffuser und immer weniger faßbar. Entscheidend war es, daß die konträren Meinungen von Unitariern und Föderalisten zu keinem Ausgleich gebracht werden konnten. Gegen die mehr oder weniger starken Tendenzen zum Einheitsstaat wandten sich die Stellungnahmen der süddeutschen Länder und Sachsens. Vor allem eine Reihe weiterer Denkschriften der bayerischen Regierung zeigten die starke Entschlossenheit, jede Veränderung eines bundesstaatlichen Charakters des Reiches kategorisch abzulehnen. Wenn auch das Ministerium Held i n zunehmendem Maße durch die A k t i v i t ä t e n der Reichsregierungen und Preußens i n die Defensive gedrängt wurde, wie dies an den Denk-

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Schriften „Die Mängel des deutschen Verfassungslebens" und „ Z u r Frage der Zuständigkeit der sogenannten Länder neuer A r t " erkennbar ist 8 2 , so hatten ihre Antworten nichts von ihrer altbekannten föderalistischen Linie eingebüßt. Wenn die Länderkonferenz m i t einer Sitzung des Verfassungsausschusses am 21. J u n i 1930 ihre Tätigkeit einstellte, so hatte das aber weniger seinen Grund i n den konträren Meinungen, sondern vielmehr i n den partikularen Interessen der einzelnen Länder, von denen sich sogar Preußen nicht freimachen konnte. Hinzu kam, daß die neue Regierung Brüning wegen der Unterstützung ihrer Politik durch die B V P wenig Neigung verspürte, die Gegensätzlichkeiten zu Bayern zu vertiefen und sich daher weitgehend passiv verhielt. Da aber solchermaßen kein Beteiligter — auch die Regierung Held war froh, daß wenigstens der status quo erhalten blieb — sich an dem heißen Eisen der Verfassungsreform verbrennen wollte, wurden die Arbeiten der Länderkonferenz ad acta gelegt. Was blieb, war ein Nachklingen der nichtbewältigten Probleme i n zahlreichen Diskussionen der verschiedensten Fachkreise. „Zuletzt gehörte es zum guten Ton, seine eigene Auffassung zur Reichsreformfrage zu haben 83 ." Welche persönliche Ansicht Gürtner zur Verfassungsreform vertrat, ist nicht bekannt, sie dürfte sich jedoch kaum von seiner öffentlich bekundeten Haltung, die i n seinem Aufsatz „Einheitsstaat oder Bundesstaat?" niedergelegt ist, unterschieden haben. Er nahm, wie hätte es auch anders sein können, zur Rechtsfrage Stellung und ging von der These aus, daß die Reichsreform weder ein wirtschaftliches noch ein staatsrechtliches, sondern einzig und allein ein politisches Problem sei. I n seiner Begründung wandte er sich gegen Tendenzen, durch eine bestimmte Auslegung der Verfassung innerhalb der bestehenden Rechtsordnung zum Einheitsstaat zu gelangen. Den theoretisch möglichen Weg, über A r t . 18 i n Verbindung m i t A r t . 76 R V den bundesstaatlichen Charakter des Reiches aufzuheben, erachtete er unter Ablehnung der herrschenden Lehre als nicht gangbar, ohne die Verfassung selbst zu verletzen. „Der A r t . 18 zeigt den Weg, auf dem zur Erreichung der w i r t schaftlichen und kulturellen Höchstleistung des Volkes die Änderung des Gebietes von Ländern und die Neubildung von Ländern innerhalb des Reiches möglich sein sollte. Von einer Aufhebung von Ländern ist i n A r t . 18 nicht die Rede; gleichwohl kann ein Land auf dem Weg des A r t . 18 seine staatliche Existenz verlieren, nämlich dann, wenn es m i t seinem ganzen Gebiete sich einem anderen Land anschließt, wie es K o 82

Z u den bayerischen Denkschriften siehe die Zusammenfassungen bei K a r l Schwend u n d E r i k a Schnitzer. 83 Schwarz, A l b e r t : Die Weimarer Republik, i n : Handbuch der Deutschen Geschichte, hrsg. Leo Just, Bd. 4/1, Neudruck F r a n k f u r t / M . 1973, S. 133.

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bürg Bayern gegenüber, Waldeck Preußen gegenüber getan hat 8 4 ." Da der Abs. 1 von A r t . 18 der Reichsgesetzgebung das Recht einräume, durch ein Gesetz nach A r t . 76 das Gebiet der Länder zu verändern, würde sich die Frage stellen, ob nicht die Länder durch Zusammenlegung überhaupt beseitigt werden können. „Das hieße jedoch den Sinn und den Zweck des A r t . 18 i n sein Gegenteil verkehren. Er ist geschaffen worden, um die zweckmäßige Gliederung des Reiches i n Länder zu ermöglichen, also zur Erhaltung der Länder, nicht zu ihrer Beseitigung 85 ." Es bestünden erhebliche Zweifel, ob durch ein Gesetz i n den Formen des A r t . 76 jeder der 181 A r t i k e l der Verfassung aufgehoben und durch eine andere Bestimmung ersetzt werden könne, also der A r t . 1 „Das Deutsche Reich ist eine Republik" ebenso wie der A r t . 148 Abs. 3, Satz 2: „Jeder Schüler erhält bei Beendigung der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung". Man müsse sich gegen die herrschende Lehre wenden, wie dies das Verdienst Carl Schmitts sei, und sich von der richtigen Erkenntnis leiten lassen, daß nicht alle A r t i k e l der Verfassung von gleicher Beschaffenheit und Bedeutung seien. Es gebe einerseits wesentliche Bestandteile, die nicht geändert werden können, ohne daß die Identität der Verfassung beseitigt werde und andererseits unwesentliche Normen, die unter gewissen Voraussetzungen fortfallen können, da die Verfassung als ganzes dadurch nicht berührt werde. Man könne i m Sprachgebrauch nur von der Änderung einer Sache sprechen, wenn ihre Wesenheit erhalten bleibe. „Gesetzt den Fall, durch verfassungsändernde Gesetze würde die Diktatur des Proletariats eingeführt, träte an die Stelle des Wahlrechts ein Rätesystem, würden ständische oder andere Privilegien geschaffen, würde Eigentum und Erbrecht durch den Kommunismus ersetzt und die relative Steuergleichheit beseitigt — so könnte man, ohne der Sprache und dem Recht Gewalt anzutun, doch wohl kaum sagen, diese neue Verfassung wäre eine A b änderung der Weimarer Verfassung... Wer annimmt, daß der A r t . 76 dem Reichstag auch i n Verfassungsfragen eine gesetzgeberische A l l macht verleiht, darf auch vor der Folgerung nicht zurückschrecken, daß der Reichstag dann den A r t . 76 selbst aufheben und alle Verfassungsänderungen an das Erfordernis einfacher Mehrheit knüpfen könnte. Dam i t wäre die gesamte Verfassung dem unsicheren Wechselspiel parlamentarischer Mehrheiten ausgeliefert, ihres Charakters als einer Staatsordnung m i t dem Anspruch auf unbeschränkte Dauer entkleidet und geradezu zu einem Provisorium degradiert 86 ." Letzten Endes stelle sich die Frage, ob der bundesstaatliche Aufbau zu den wesentlichen Be84 Gürtner, Franz: Einheitsstaat oder Bundesstaat? Z u r Rechtsfrage, Georg Jakob Wolf, Dem bayerischen Volke, München 1930, S. 401. 85 Gürtner I, S. 402. 86 Gürtner I, S. 403—404.

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standteilen der Reichsverfassung zähle, ob also die diesbezüglichen Bestimmungen geändert werden dürfen oder nicht. „Die Gliedstaaten sind ohne allen Zweifel von der Weimarer Verfassung nicht geschaffen worden. Sie enthält keine Bestimmung, die als Schöpfungsakt der Gliedstaaten betrachtet werden könnte. Das war auch nicht notwendig und nicht möglich. Denn die Gliedstaaten waren seit langer Zeit vorhanden. Sie sind älter gewesen als das Reich vom Jahre 1871, die alte Reichsverfassung hat sie nicht beseitigt und die Revolution des Jahres 1918 hat sie ebensowenig aufgehoben; i m Gegenteil, viele der revolutionären Gewalthaber des Jahres 1918 haben den Bestand ihrer Staaten m i t Erfolg verteidigt. Die Weimarer Verfassung setzt den Bestand staatlicher Glieder des Deutschen Reiches als gegeben voraus. Das ergibt sich zwar nicht m i t absoluter Sicherheit aus dem A r t . 2 der Reichsverfassung, den man allein auf die Grenzfestsetzung des Deutschen Reiches beziehen kann, wohl aber aus den zahlreichen Bestimmungen der Verfassung, die die Rechtsverhältnisse und die Zuständigkeiten zwischen dem Reich und den Ländern ordnen, der Einrichtung des Reichsrats und insbesondere auch aus dem Grundsatz i n A r t . 8 der Reichsverfassung, wonach das Reich verpflichtet ist, bei der Ausschöpfung neuer Einnahmequellen auf die Lebensfähigkeit der Länder Rücksicht zu nehmen. Aus diesen Bestimmungen und ebenso, wie oben gezeigt, aus A r t . 18 der Reichs Verfassung ist zu ersehen, daß die Weimarer Verfassung die bundesstaatliche Gliederung des Reiches nicht nur voraussetzt und übernimmt, sondern auch erhalten w i l l . Sie ist ebenso wie die Staatsform ein wesentlicher Bestandteil der Reichsverfassung, der durch ein Gesetz nach A r t . 76 der Verfassung nicht aufgehoben werden kann, ohne daß dadurch die Identität der Verfassung nicht beseitigt würde 8 7 ." Abschließend stellte Gürtner fest: „Es muß sich die Erkenntnis wieder durchringen... daß eine Handlung der W i l l k ü r oder der Gewalt dadurch nicht Recht werden kann, daß sie vom Rechte die Form entleiht. Der Vertrag von Versailles, u m ein sehr bekanntes Beispiel zu gebrauchen, trägt zweifellos äußerlich die Form eines Vertrages. Wer aber vermöchte zu behaupten, daß dieser V e r t r a g . . . die Willensübereinstimmung der Vertragspartner darstellt? Oder um auf ein weniger bekanntes Beispiel hinzuweisen: Bei der Auslegung des A r t . 76 ist gelegentlich die Meinung vertreten worden, das Reich sei befugt, Verbindlichkeiten aus Staatsverträgen m i t einem Lande durch verfassungsänderndes Gesetz einseitig aufzuheben oder zu ändern und so an die Stelle der Vertragstreue das Machtwort des Gesetzgebers zu setzen. Diese Auffassung muß von allen aufs schärfste bekämpft werden, denen das Recht mehr gilt als die Ausübung einer formalen Zuständigkeit. Gerade w e i l der Gesetzgeber keine höhere Macht über sich 87

Ebenda.

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hat, hat er i m höchsten Maße die Verpflichtung, bei der Ausübung seiner Macht das Recht zu achten 88 !" Gürtners föderalistisches Bekenntnis lag also ganz auf der Linie bayerischer Regierungspolitik und deckte sich konsequent m i t der Stellung seines Ressorts gegen eine Verreichlichung der Justiz. Diese Frage war akut geworden, nachdem auf dem 35. Deutschen Juristentag i n Salzburg i m September 1928 der Beschluß gefaßt worden war, i m Prinzip eine Übertragung des gesamten Justizwesens auf das Reich zu befürworten 8 9 . Dieses Votum hatte sich bereits auf der Vertretertagung des Deutschen Richterbundes am 3. Juni 1928 i n Weimar abgezeichnet, auf der sich der Vorsitzende, Reichsgerichtsrat Dr. Mende, und m i t ihm die meisten Sprecher der Landesrichtervereine für eine solche Lösung ausgesprochen hatten. Mende hatte i n den Mittelpunkt seines Referats den Gesichtspunkt der Verwaltungsvereinfachung gestellt und dabei an Hand des den Ländern zustehenden Kompetenzrahmens die Schwierigkeiten erläutert, die dieser entgegenstünden. Bei den Länderverordnungen zur Ausführung von Reichsgesetzen geißelte er die Zersplitterung und Unübersichtlichkeit des Rechtsstoffes, für eine sinnvolle Neuorganisierung der Gerichtsbezirke forderte er eine Sprengung der Landesgrenzen, beim Personalsektor schilderte er die Vorteile einer vom Reich einheitlich geregelten Politik und schließlich beim Gnaden- und Auslieferungsrecht sprach er von der Unmöglichkeit, es noch länger zuzulassen, daß die Länder bei der Ausübung dieser Rechte reichsrechtliche Bestimmungen außer K r a f t setzen könnten 9 0 . Gegen diese Tendenzen, die außer vom Reichs Justizministerium auch vom Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Reichstags, Prof. Kahl, unterstützt wurden, wandte sich der Ministerialrat im bayerischen Außenministerium und spätere enge Mitarbeiter Gürtners i m Reichsjustizministerium, K a r l Sommer, i n einem A r t i k e l „Verreichlichung der Justiz". Seine Ausführungen kann man weitgehend als deckungsgleich m i t der Meinung der bayerischen Regierung ansehen, da sich die „Bayerische Staatszeitung" am 12. September 1928 i n einer Stellungnahme „Der Widerstand gegen die Verreichlichung der Justiz" voll und ganz hinter seine Argumentation stellte 91 . Sommer sah i n der angestrebten Verreichlichung weder für den Richterstand noch für die Rechtspflege eine entscheidende Verbesserung, i m 88

Gürtner I, S. 405. Sinzheimer, Hugo — Fraenkel, Ernst: Die Justiz i n der Weimarer Repub l i k , Eine Chronik, Neuwied 1968, S. 159 ff. G S t A : M A 103402 — H. Mende, Richter u n d Recht, Die Übernahme der Justiz durch das Reich, Vortrag gehalten auf dem Vertretertage des Deutschen Richterbundes i n Weimar a m 3. J u n i 1928. 91 Bayerische Staatszeitung u n d Bayerischer Staatsanzeiger, Nr. 211 v o m 12. 9.1928. 89

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Gegenteil: „Weder für die Verbilligung und Vereinfachung, noch für das Ansehen und die Stärke des Reiches, noch für den Richterstand, noch für die Finanzen der Länder, noch für die Tasche des Steuerzahlers, noch für die rechtsuchende Bevölkerung würde die Verreichlichung einen Vorteil bedeuten. Nur Nachteile würden ihr Gefolge sein. Die Gefahr der Politisierung würde durch Zentralisierung der Justizverwaltung am Brennpunkt der parteipolitischen Kämpfe stark e r h ö h t . . . Es ist geradezu verhängnisvoll, die Justizverwaltung aus ihrer vielfachen Verflechtung m i t den übrigen Gebieten der Landeshoheitsverwaltungen, m i t der Polizei, der allgemeinen Verwaltung, den SpezialVerwaltungen, der Jugendfürsorge und dem weiten kulturellen Gebiet aus politischen Gründen herausreißen zu wollen und so den Boden der inneren Ordnung aufzulockern . . . Wer i n die Zukunft schaut und nicht nur den vermeintlichen Vorteil des günstig erscheinenden Augenblicks ins Auge faßt, hält an der Ablehnung der Verreichlichung der Justiz fest. Sie ist nicht nur ein unschönes Wort, sondern auch eine verfehlte Sache 92 ." Die Empfehlung des Salzburger Juristentages ermutigte die Reichsregierung vollends, die Verreichlichung der Justiz voranzutreiben. So wurde das Vorhaben Thema des Verfassungsausschusses der Länderkonferenz, der es i n einem Unterausschuß behandeln ließ. A m 11. Oktober 1928 erläuterte Reichsjustizminister Dr. Koch auf einer Pressekonferenz die vorbereitenden Arbeiten seines Ministeriums zur Übernahme der LänderjustizVerwaltungen durch das Reich 93 . Neben den rein technischen Aufgaben einer Verwaltungsreform sah der Minister die wichtigste Maßnahme zur Vereinheitlichung des deutschen Rechtswesens i n einer großangelegten Strafgesetz- und Strafvollzugsreform. Es war an ein Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch gedacht, wodurch sich eine Reihe prozessualer Fragen regeln ließen. I m einzelnen sollten sich diese Dinge auf die Stellung des Strafantrags, die Voruntersuchung, ob und inwieweit diese eingeschränkt werden sollte und auf den Eid beziehen. Ferner waren eine Anzahl weiterer Gesetzentwürfe geplant, so die Regelung des Rechtes des unehelichen Kindes, die Reform des ehelichen Güterrechtes und ein neues Ehescheidungsrecht, das schon damals dem Zerrüttungsprinzip Geltung verschaffen wollte, also einem Grundsatz, der erst heute nach 25jährigem Bestehen der Bundesrepub l i k Anerkennung durch den Gesetzgeber fand. Diese Reformvorschläge sollten aber Entwürfe bleiben, denn fand doch nach eineinhalb jähriger Beratung die Verreichlichung der Justiz auf der abschließenden Tagung * 2 G S t A : M J u 11986 — Druckschrift „Verreichlichung der Justiz" von K a r l Sommer, Ministerialrat i m S t M des Äußern i n München, S. 3 ff. 93 Münchner Zeitung Nr. 562 v o m 12. 10. 1928 — „Der Übergang der Justiz auf das Reich, Eine Erläuterung des Reichsjustizministers."

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des Verfassungsausschusses der Länderkonferenz nicht die Zustimmung der Mehrheit, so daß auch die Pläne einer Rechtsreform zunächst i n den Aktenschränken des Ministeriums verschwanden, bis sie wieder von der Regierung Hitler hervorgeholt wurden, der sie als Grundlage einer nationalsozialistischen Rechtserneuerung dienten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß dabei Gürtner als verantwortlicher Ressortinhaber federführend mitwirkte, obwohl gerade er als bayerischer Justizminister zu den entschiedensten Gegnern einer starken Reichsjustiz gezählt hatte. Die Wandelbarkeit Gürtners, also die Fähigkeit, sich jeder Veränderung der politischen Situation anpassen zu können, war der Grund gewesen, i h n als Macchiavellisten zu bezeichnen 94 . Es ist oben gezeigt worden, daß seine politische Haltung aus jener deutschnationalen Zwiespältigkeit resultierte, die sich wiederum daraus ergab, daß einerseits antidemokratische Ziele verfolgt wurden, während man andererseits jedoch auf parlamentarische Mitarbeit nicht verzichten wollte. Welcher Zerreißprobe ein einzelner ausgesetzt war, der diese Politik als Minister i n einem parlamentarisch verantwortlichen Koalitionskabinett zu vertreten hatte, ist an Beispielen erläutert worden. Das Auffallende an Gürtners politischer Taktik war seine strikte Loyalität seiner Partei gegenüber. Er war kein politischer Theoretiker und so hat er auch niemals i n bedeutendem Maße versucht, primär die Richtlinien seiner Partei zu beeinflussen. Er verstand sich lediglich als ein A n w a l t deutschnationaler Interessen i n Bayern und so beschränkte sich seine Tätigkeit i n der jeweiligen Regierung darauf, den politischen Auftrag, welchen die Parteiführung vorbestimmte, gewissenhaft auszuführen. Insofern hafteten i h m also die Eigenschaften eines „unpolitischen Fachmannes" an. Es darf jedoch bei diesem Schlagwort genausowenig übersehen werden, daß Gürtners Rolle i m öffentlichen Leben keineswegs unpolitisch war, wie man nicht vergessen darf, daß Gürtner eine konkrete politische Anschauung hatte. Nur, und das ist das Entscheidende, Gürtner hat immer i n wichtigen Momenten seine eigene Meinung gegenüber der allgemeinen Parteilinie zurückgestellt, wenn diese i h r zuwiderlief; diese selbst zu korrigieren, hat er ein einziges Mal versucht, und auch da nur, um nicht den Zusammenhalt der geschäftsführenden Regierung Held zu gefährden 95 . Er hat sich also fast immer dem Trend der Parteiführung angeschlossen, selbst wenn dieser nicht seinen eigenen Interessen entsprach. Darin liegt der Grund seiner Abkehr von K a h r und seine weitgehende Unterstützung Held'scher Politik. Es wäre aber falsch zu meinen, Gürtner wäre ein willenloser Erfüllungsgehilfe mächtiger Politiker gewesen, sozusagen als Technokrat eine Marionette an unsichtbaren 94 95

Siehe dazu A n m . 67. Siehe dazu A n m . 135, 136.

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Fäden feingesponnener Machtverhältnisse, i m Gegenteil, weil Gürtner als Minister gerade das „Wie", also die Durchsetzbarkeit einer bestimmten Politik entscheidend m i t beeinflussen konnte, war er genauso konstruktiv tätig, wie ζ. B. der Fraktionsvorsitzende Hilpert. Gürtner war deswegen nicht weniger politisch, w e i l er sich nicht i n erster Linie um die Parteiarbeit kümmerte, sondern sich darauf beschränkte, innerhalb eines i h m gesteckten Rahmens zu agieren. U m es anders auszudrücken, seine Haltung w a r zwar nicht für die Partei, wohl aber für die Regierung bestimmend, was jedoch i n einer A r t Rückkoppelungseffekt hinwiederum nicht ohne W i r k u n g auf die Partei blieb. Daraus resultierte paradoxerweise sein starkes Gebundensein ebenso wie seine Unabhängigkeit. Innerhalb der B M P gab es keine Gruppe, der sich Gürtner offen angeschlossen hatte, er blieb also der Meinungsbildung weitgehend fern, was i h n aber letzten Endes eng an die Parteiführung band, andererseits war er dadurch von jedem Rivalitätskampf verschont und konnte daher als freier Mann bei jeder Regierungsbildung als deutschnationaler Vertreter präsentiert werden, ohne daß sich ein Parteimitglied brüskiert fühlen mußte. Von der Partei her gesehen, war dies der Hauptgrund, weshalb sich Gürtner über alle Wechselfälle der Politik hinweg so lange i n Bayern als Minister halten konnte. Ohne diese Zusammenhänge wären Gürtners wechselnde Rollen auf der politischen Bühne unverständlich. Sie müssen berücksichtigt werden, wenn man die Frage stellt: War es nur reiner Opportunismus, als sich Gürtner vom Föderalisten zum Zentralisten wandelte? Sie ist nicht m i t einem klaren Ja oder einem ebensolchen Nein zu beantworten. I m Vordergrund steht die jeweilige Machtkonstellation. Man w i r d davon ausgehen können, daß Gürtners Neigung immer einem starken zentralistisch regierten Reich galt, unter der Voraussetzung einer konservativ-autoritären Führung. Und das war der springende Punkt, denn seine Stellung gegen einen Berliner Zentralismus kam eben aus jener Ordnungszellenideologie Kahrscher Prägung und war i m eigentlichen gegen die Sozialdemokratie und den Marxismus schlechthin gerichtet, nicht aber gegen eine eventuelle zentrale Direktorialgewalt vaterländisch und deutschnational gesinnter Kreise. Nachdem das Kahr-Projekt m i t dem Fiasko des Hitler-Putsches gescheitert war, stellte Gürtner aus Loyalität seine eigene Auffassung hinter die der Parteiführung, blieb i m A m t und vertrat fortan bis zu seinem Wechsel nach Berlin den betont bayerisch-süddeutsch gefärbten Föderalismus, womit er sich voll auf die veränderten Machtverhältnisse eingestellt hatte. Guten Gewissens konnte er eine Stärkung bayerischer Staatlichkeit unterstützen, anders als den Männern der B V P ging es ihm jedoch nicht i n erster Linie um eine immerwährende Selbständigkeit Bayerns, sondern als Anhänger Bismarcks vielmehr um die Erhaltung jenes konservativen Bollwerks 9 6 ,

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von dem einmal vielleicht die Weimarer Republik beseitigt werden könnte. Von der Warte seines Ressorts aus hieß das, den Einfluß der Sozialdemokratie auf die Justiz möglichst zu hemmen und daher für eine weitgehende Länderkompetenz auf diesem Gebiet einzutreten. I n diesem Zusammenhang w i r d seine Polemik gegen eine „Politisierung der Justiz" verständlich, denn für ihn war dies gleichbedeutend m i t der SPD-Forderung einer Demokratisierung der Justiz. Es ging Gürtner nicht allein um seine persönliche Macht, also um seinen Ministersessel, wiewohl er davon nicht ganz frei gewesen sein dürfte, sondern gerade um die generelle Chance, die Justiz „unbeschadet", wie das seinem Verständnis entsprach, für einen autoritär-konservativen Staat zu bewahren. Soweit diese Thesen ihre Erhärtung nicht bereits i n den vorhergehenden Ausführungen gefunden haben, bedürfen sie noch einer weiteren Begründung. Für die Zeit als Reichs justizminister geschieht dies i m nächsten Kapitel „ I m Umbruch", für die bayerischen Jahre Gürtners soll es i m folgenden geboten werden. Bei der Handhabung der bayerischen Föderalismuspolitik i n den Kabinetten Held herrschte auf Grund weitgehender Ubereinstimmung zwischen den Koalitionspartnern Einmütigkeit innerhalb der Ministerrunde. Gürtner hatte also insofern keine Gelegenheit, sich als deutschnationaler Minister zu profilieren, da es keine gegensätzlichen Standpunkte gab. Der politische Auftrag seiner Partei wurde erst dann voll sichtbar, wo es u m Probleme ging, die bei den Koalitionsparteien eine unterschiedliche Bewertung erfuhren. Z u konträren Standpunkten kam es regelmäßig bei der Behandlung der Frage, wie sich die bayerische Regierung zu Hitler und der NSDAP verhalten solle. Hatte noch Ende September 1924 wegen der Begnadigung Hitlers durch das Oberste Landesgericht darüber Einstimmigkeit geherrscht, daß über die Staatsanwaltschaft gegen diesen Beschluß Beschwerde eingelegt werden solle 97 , so m Diese Tatsache w i r d verständlich, w e n n man bedenkt, daß Gürtner aus seiner nationalliberalen H a l t u n g nie einen Hehl machte, so daß er vor seinem E i n t r i t t i n das K a b i n e t t Lerchenfeld sogar der D V P zugerechnet wurde. Siehe dazu: Moser von Filseck, S. 106, Seiner liberal-aufgeklärten Weltanschauung entsprach seine Ablehnung gegenüber jeder A r t v o n Klerikalismus. Obwohl er Zeit seines Lebens offiziell katholisch blieb, hat er dies jedoch weder persönlich bindend noch politisch verpflichtend erachtet. I m privaten Bereich wandte er der Kirche den Rücken zu, als er sich evangelisch trauen u n d seine K i n d e r protestantisch erziehen ließ, was damals die Exkommunizierung zur Folge hatte, u n d i m politischen Leben trennte i h n eben gerade jener bayerische Klerikalismus von der BVP. Gürtner w a r Anhänger eines säkularisierten Staatsdenkens, das allein dem Staat die absolute Macht zuordnet. Es ist daher verständlich, weshalb er zwar M i l i t ä r u n d Justiz als die tragenden Säulen des staatlichen Lebens ansah, nicht aber die Kirche. Siehe dazu A n m . 17. Schließlich w i r d von dieser Warte her gesehen sein Rechtspositivismus verständlich.

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traten bereits i m Januar 1925 bei der Frage der Wiederzulassung der NSDAP die gegensätzlichen Auffassungen über den Rechtsradikalismus zu Tage. I n der Ministerratssitzung am 23. Januar 1925 ging es um die Aufhebung des Ausnahmezustandes, damit aber um das Problem, ob die links- und rechtsradikalen Organisationen, wie schon i m übrigen Reich, wieder zugelassen werden könnten. Innenminister Stützel sprach sich dafür aus, war jedoch der Ansicht, daß einige Ausnahmebestimmungen auch weiterhin aufrechterhalten werden müßten, so ζ. B. die Genehmigungspflicht für Aufzüge und Versammlungen unter freiem Himmel, die Zensur von Plakaten und Flugblättern, schließlich auch die Erlaubnispflicht für öffentliche politische Versammlungen i n geschlossenen Räumen. Ferner plädierte er für ein Weiterbestehen der Verbote von Sicherheits- und Selbstschutzverbänden, sowie von militärischen Organisationen und Sturmtrupps. Auch Gürtner war für eine Revidierung des Ausnahmezustandes, wollte jedoch, daß die K P D auch weiterhin verboten blieb und daß zur freien Betätigung nur diejenigen Verbände zugelassen würden, „die sich zum Ziele setzen, den vaterländischen Geist zu wahren und zu fördern 98 ." Demgegenüber wies Held darauf hin, „daß die Beibehaltung des Verbotes der K.P.D. unter Aufhebung des Verbotes der N.S.A.P. wie eine besondere Empfehlung dieser Partei i n der Öffentlichkeit wirken müsse. Dazu könne er sich nicht verstehen 99 ." A n fang Februar einigte man sich schließlich, beide radikalen Parteien wieder zuzulassen. Die entsprechende Verordnung erging am 16. Februar 1925. Zehn Tage später hielt Hitler i m Bürgerbräukeller seine erste öffentliche Rede nach seiner Haftentlassung. Da er dabei keine 97 G S t A : M A 99519 — Ministerratssitzung v o m 27. September 1924: „Staatsminister Gürtner t e i l t m i t , daß er unter allen Umständen die Staatsanwaltschaft anweisen werde, gegen den Gerichtsbeschluß Beschwerde einzulegen u n d zu beauftragen, daß den 3 Beteiligten die Bewährungsfrist versagt werde, zum aller mindesten, daß auch bei H i t l e r u n d K r i e b e l die Entscheidung w i e i m Falle des Dr. Weber bis zur Erledigung des Frontbannprozesses ausgesetzt werde. E r glaube, daß die Beschwerde Erfolg haben werde; ganz bestimmt könne man das allerdings nicht voraussagen. Die Beschwerde werde damit zu begründen sein, daß K r i e b e l u n d Dr. Weber die Erlaubnis, Angehörige ohne Zeugen zu empfangen, dazu mißbraucht hätten, Briefe hinauszuschmuggeln, ferner daß dringender Verdacht bestehe, daß Hitler, K r i e b e l u n d Dr. Weber von der Festungsanstalt aus die 3 früher i m K a m p f b u n d zusammengeschlossenen Verbände weiter betreut u n d fortgeführt hätten u n d an der Gründung der strafrechtlich verbotenen Kampforganisation des F r o n t banns beteiligt gewesen zu sein." Dieses Dokument zeigt, daß die Annahme, Gürtner habe die Begnadigung Hitlers veranlaßt, zumindest nicht positiv nachweisbar ist. Diesbezüglichen konträren Auffassungen i n der L i t e r a t u r muß m i t Zweifeln begegnet werden: Siehe dazu: Staff, Ilse, Justiz i m D r i t t e n Reich, S. 35; Brecht, Arnold, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 253 u n d neuerdings auch Kolbe, Dieter, Reichsgerichtspräsident Dr. E r w i n Bumke, S. 120. 98

G S t A : M A 99519 — Ministerratssitzung v o m 23. Januar 1925: Protokoll über das Thema „Neuregelung des Ausnahmezustandes u n d Stellungnahme zu den verbotenen Organisationen", S. 23. 99 a.O. S. 26.

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Mäßigung seiner politischen Ansichten und Ziele erkennen ließ, sondern vielmehr seiner altbekannten kämpferisch-revolutionären Gangart huldigte, verhängte der Münchner Polizeipräsident auf unbestimmte Zeit für i h n ein öffentliches Redeverbot und untersagte die Abhaltung von fünf für den 10. März angekündigten nationalsozialistischen Massenversammlungen. N u r zwei Monate nach diesem erneuten Zusammenstoß m i t der Staatsgewalt, regte Gürtner angesichts der kurz bevorstehenden Reichspräsidentenwahl i m Kabinett die Aufhebung des Redeverbots gegen Hitler m i t der Begründung an: „Es gefalle i h m politisch nicht, daß Hitler i n der Woche vor der Reichspräsidentenwahl, während die Kommunisten die gefährlichsten Redner auftreten lassen könnten, nicht einmal i n einer einzigen Versammlung m i t allen Kautelen auftreten dürfe 1 0 0 ." Die Mehrheit des Kabinetts stellte sich jedoch auf den Standpunkt, daß man Hitler nicht entgegenkommen dürfe, w e i l er dann sicher die Redefreiheit wieder mißbrauchen werde. M i t dieser Haltung dokumentierte Gürtner, welchen politischen Auftrag er zu erfüllen hatte. Angesichts seiner bisherigen persönlichen Einstellung zur Person Hitlers darf man annehmen, daß er dabei weniger seine eigene Auffassung, als vielmehr die Linie der Parteiführung vertrat 1 0 1 . Was sich bereits bei den Koalitionsverhandlungen i m Sommer 1924 angedeutet hatte, wurde durch die Vorstöße Gürtners bestätigt. Die Deutschnationalen i n Bayern liebäugelten auch weiterhin m i t einem Zusammengehen m i t den Nationalsozialisten und verfolgten nach wie vor trotz ihrer parlamentarischen Mitarbeit m i t der demokratischen Mitte ihren Rechtskurs m i t dem Ziel, das Weimarer System zu überwinden. Hier bahnte sich bereits der Weg der bayerischen deutschnationalen Landesführung unter Hilpert an, der direkt zur Unterstützung Hugenbergs und damit aber zur antidemokratischen „nationalen Opposition" i n der „Harzburger Front" führte, eine Entwicklung, die eine allgemeine Zerrüttung auslöste und endlich den Untergang der Gesamtpartei bewirkte. Gerade i n der Krise, die durch die Wahl Hugenbergs auch i n der bayerischen Landespartei ausgelöst wurde, offenbarte sich die ungebundene Stellung Gürtners, zeigte sich also sein geringes parteipolitisches Engagement. Er war weder der einen noch einer anderen Gruppierung innerhalb der Parteiorganisation zuzurechnen, und so war es i h m möglich, i n der Stunde der drohenden Gefahr eines Auseinanderbrechens der bayerischen Deutschnationalen eine Mittlerrolle zu spielen. Die Entscheidung Hilperts, den bayerischen Landesverband für eine Unter100

G S t A : M A 100427 — Ministerratssitzung v o m 20. A p r i l 1925, Verhandlungspunkt 2. 101 Persönlich lehnte Gürtner das revolutionäre Gehabe Hitlers ab, zumal er selbst am 8. November 1923 i m Bürgerbräukeller zu den gefangengenommenen Ministern zählte — siehe dazu A n m . 58.

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Stützung der Kandidatur Hugenbergs zum Parteivorsitzenden einzusetzen, hatte i n weiten Kreisen eine erhebliche Verstimmung verursacht. Vor allem der i n einem „Dauerbündnisvertrag" von 1927 angeschlossene National-Liberale Landesverband Bayerns, der hauptsächlich i n Franken vertreten war 1 0 2 , zeigte wegen der politischen Haltung des Fraktions- und Parteivorsitzenden Hilpert deutliche Abspaltungstendenzen. Z u ersten Reibereien war es bereits gekommen, als die national-liberalen Kandidaten bei der Aufstellung zu den Landtags- und Reichstagswahlen i m Mai 1928 nicht genügend berücksichtigt worden waren. Es war damals noch dem Einfluß von Prof. Lent aus Erlangen zuzuschreiben, daß die einflußreiche Gruppe u m Geheimrat Sachs aus Schweinfurt nicht das Bündnis kündigte und vorerst i n der deutschnationalen Fraktion blieb 1 0 3 . Doch diese Vorgänge waren nicht ohne Wirkung auf einen Teil der Vorstandschaft geblieben und so entstand eine Bewegung, die sich die Ablösung Hilperts zum Ziel setzte. Es waren Elemente, welche die absolute, auf Umsturz zielende Oppositionshaltung der i n demokratischer Negation verharrenden alldeutschen H u genberggruppe ablehnten und mehr einen auf beschränkte parlamentarische Kooperation m i t der demokratischen Mitte basierenden Kurs zuneigten. Zum offenen Konflikt kam es auf der Vorstandssitzung am 31. Oktober 1928 i n München, also zwei Monate nach der Wahl Hugenbergs zum Parteivorsitzenden. Neben Hilpert und Gürtner waren anwesend: Dr. Bärwolff, Dr. Koch, Dr. Spuler, Gräfin Bothmer, Pfarrer Dr. Traub, Dr. Riemerschmid, v. Dziembowski und Dr. Mündler. Neben den fränkischen Vorgängen bei den National-Liberalen kam auch die Führerkrise i m Reich zur Sprache. Z u letzterer äußerte sich Hilpert folgendermaßen: „Die einzige Konsequenz aus der Führerwahl könne nur die rückhaltlose Stellungnahme für den neuen Parteiführer sein und die Arbeit für ihn und m i t ihm. Innerhalb des Vorstandes i n Bayern seien aber Verstimmungen zurückgeblieben. Für die praktische Arbeit, die jetzt nötig sei, dürften i m Parteivorstand keine Reibungen und Mißverständnisse bestehen . . . Not tue eine offene Aussprache über diese Dinge, damit dem neuen Parteiführer auch von Bayern aus neue Wirkungsmöglichkeiten zugeführt werden könnten 1 0 4 ." I m weiteren Verlauf der Aussprache kam die Veröffentlichung unterschiedlicher Stel102 Der National-Liberale Landesverband Bayerns w a r eine Nachfolgeorganisation der alten liberalen Partei Bayerns. Nach 1919 hatte sich ein T e i l der DDP, ein anderer der D N V P u n d ein d r i t t e r sogar der SPD zugewandt. Der Rest bildete die DVP, von der sich schließlich der rechte Flügel abspaltete u n d eben als National-Liberaler Landesverband A n l e h n u n g an die D N V P suchte. Das liberale Element w a r schon v o r dem K r i e g hauptsächlich i n den drei Regierungsbezirken Frankens vertreten, was hauptsächlich auf den Protestantismus zurückzuführen ist. Hilpert, Heft 18, S. 3752. 1M Hilpert, S. 3758.

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lungnahmen von Parteimitgliedern zu Hugenberg i n der Presse, veranlaßt durch Dr. Riemerschmid, zur Sprache. Dabei griff Gürtner i n die Debatte ein und erklärte: „ Z w e i Folgerungen müßten aus der Besprechung gezogen werden. Einmal, daß es i n der Frage der Presseveröffentlichung keine Freiheit des Einzelnen gebe. Wenn w i r soweit kämen, daß jeder nach seinem eigenen Ermessen an die Presse gehen könne, dann höre jede gemeinsame Arbeit auf. Schließlich sehe es so aus, als ob man jemandem allein schon einen Vorwurf machen wolle, daß er für die eine oder andere Führerpersönlichkeit eingetreten sei; das gehe nicht an, er selbst erkläre auch jetzt, daß er eine gewisse Sorge nicht loswerden könne 1 0 5 ." Nach dieser Erklärung soll Riemerschmid aufgesprungen sein und als Vorsitzender des Industrieellenausschusses der Partei erklärt haben, daß er i n diesem Kreise zum letzten M a l gesprochen habe, worauf Hilpert seinerseits ohne weitere Erklärung den Saal verlassen habe. Unter dem Eindruck dieser Vorkommnisse legten der zweite Vorsitzende Brosius, der an der Sitzung nicht teilgenommen hatte und der Landesschatzmeister v. Dziembowski ihre Ämter nieder und forderten gleichzeitig die Einberufung des Landesausschusses. Es spricht nun für Gürtners ungebundene Stellung i n der Partei, wenn er i m Anschluß daran von den beiden verfeindeten Gruppen dazu bestimmt wurde, eine Lösungsmöglichkeit zur Beilegung der Krise zu erarbeiten. Nach 14tägigen Bemühungen legte er das Ergebnis seiner Sondierungen i n einem Bericht vor: „1) Eine Verschiedenheit der A u f fassungen zu den Grundsätzen der allgemeinen und der Parteipolitik konnte innerhalb des Vorstandes nicht festgestellt werden. Die K r i t i k am derzeitigen Parteivorsitzenden bezieht sich auf Fragen der Methodik und der Organisation. 2) Die Mehrheit hält einen Führerwechsel i m gegenwärtigen Augenblick . . . für politisch untunlich. Die Minderheit hält den sofortigen Wechsel des Vorsitzenden für notwendig, sie w i l l i m übrigen die Vorstandschaft in ihrer jetzigen Zusammensetzung belassen. 3) Für den Vorsitzenden sind i m Ganzen mehr Namen genannt worden. Eine sichere Mehrheit ist für keinen der Kandidaten zu erkennen. — Nach diesem Ergebnis bin ich nicht i n der Lage, eine Lösung vorzuschlagen, die von vornherein auf eine sichere Mehrheit rechnen kann. Ich betrachte daher meinen Auftrag für erledigt und erlaube mir, folgendes vorzuschlagen: 1) Baldigste Einberufung des Landesausschusses m i t der Tagesordnung: Wahl des 1. und 2. Vorsitzenden und des Landesschatzmeisters. 2) Keine Einberufung eines außerordentlichen Parteitags. 3) Ob vor dem Landesausschuß eine nochmalige Einberufung der Vorstandschaft geboten oder zweckmäßig ist, vermag ich nicht zu entscheiden 106 ." 105 106

Hilpert, S. 3762—3763. Hilpert, S. 3768.

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I n dieser geschickt gewählten Vermittlerrolle konnte Gürtner i n Ruhe den Ausgang der Landesausschußtagung abwarten. Egal zu wessen Gunsten sich die Schale neigen würde, er war das Zünglein an der Waage, da er keiner Gruppe eindeutig zuzuordnen war und so würde er auch i n Zukunft dem Vorstand, wie sich dieser auch immer zusammensetzen würde, als Vertreter der D N V P i m bayerischen Kabinett bequem sein. Er war ein hervorragender Verwaltungsfachmann, der immer zur vollsten Zufriedenheit der Partei die deutschnationalen Interessen i n der jeweiligen Regierung vertreten hatte und so konnte man auf ihn i n keinem Fall verzichten, ohne der Partei selbst zu schaden. A m 8. Dezember 1928 trat der Landesausschuß i n Nürnberg zusammen und hatte als einzigen Tagesordnungspunkt die Neuwahl des Vorstandes vorzunehmen. M i t 112 von 117 abgegebenen Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen wurde der bisherige Vorsitzende Hilpert wiedergewählt. Damit hatte sich zwar die Hugenberg-Gruppe durchgesetzt, konnte aber nicht verhindern, daß der Konflikt weiterschwelte, obzwar die M A A Z , das Organ der bayerischen DNVP, sich nach der Wahl optimistisch geäußert hatte: „Von einer Führerkrise i n der Deutschnationalen Volkspartei i n Bayern kann angesichts der überwältigenden Mehrheit dieses Vertrauensvotums keine Rede sein. Die nunmehr beseitigten Unstimmigkeiten hatten m i t dem Führerwechsel i m Reich nicht das Mindeste zu tun. Die bayerische Partei steht selbstverständlich nach wie vor geschlossen und unbedingt hinter dem neuen Parteiführer H u genberg 107 ." Gerade das war aber nicht der Fall. M i t dem Ausscheiden Riemerschmids, der ja die Verbindungen zur Industrie aufrechterhalten hatte, stürzte die Partei vollends i n den Bankrott, so daß sich allenthalben Auflösungserscheinungen bemerkbar machten. Größtes Aufsehen erregte der Beschluß des Vorstandes des National-Liberalen Landesverbandes vom 25. Januar 1930, der für die DNVP i n Bayern den Todesstoß bedeutete: „Nachdem der Bündnisvertrag vom Jahre 1927 durch das Verhalten des Vorsitzenden der Deutsch-Nationalen Partei zerrissen worden sei, habe der National-Liberale Landesverband seine volle politische und organisatorische Handlungsfreiheit wieder gewonnen, davon werde er bei etwaigen Neuwahlen Gebrauch machen; die Zahlungen an die Partei würden sofort eingestellt; die vertragsmäßig i n den Parteivorstand abgeordneten Vertreter würden zurückgezogen; an solchen Stellen, wo i m vaterländischen Interesse eine ständige Fühlungnahme zwischen Deutsch-Nationalen und National-Liberalen Vertretern unerläßlich sei, würden die letzteren künftig größtmögliche Zurückhaltung üben und sich auf das notwendige Maß praktischer Zusammenarbeit beschränken; neue vertragsmäßige Bindungen m i t der 107

M A A Z Nr. 336 v o m 10. 12. 1928.

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Deutsch-Nationalen Partei seien nur denkbar, wenn dieselbe sich eine staatspolitisch weitblickende und organisationstechnisch weitherzige Führung schaffe 108 ." Das Wirken zentrifugaler Kräfte innerhalb der D N V P hatte verheerende Folgen. Während sie noch bei den Landtagswahlen i m M a i 1928 gegenüber denen von 1924 einen Stimmenzuwachs verzeichnen konnte, der ihren A n t e i l der Parlamentssitze u m zwei auf insgesamt 13 ansteigen ließ, so wurde das Desaster bereits bei den Wahlen zum Reichstag i m September 1930 sichtbar: die Deutschnationalen verloren i n Bayern drei Viertel ihres Bestandes 109 . Damit entsprachen die 1928 ermittelten Mehrheitsverhältnisse nicht mehr der Wirklichkeit, denn mußte doch ernsthaft befürchtet werden, daß dieser Trend bei den nächsten Landtagswahlen anhalten und die deutschnationale Fraktion bis zur Bedeutungslosigkeit dezimiert würde, was dann 1932 auch tatsächlich eintrat: sie stellte i n Bayern m i t 3 Abgeordneten die kleinste Fraktion und war damit zur Splitterpartei herabgesunken. Diese betrüblichen Aussichten und der Umstand, daß die Regierung Held durch das Ausscheiden des Bayerischen Bauernbundes aus der Koalition am 20. August 1930 zurücktreten mußte und nur mehr geschäftsführend war 1 1 0 , steigerten die Schwierigkeiten, denen Gürtner als deutschnationaler Minister ausgesetzt war, i n erheblichem Maße. Es ist oben bei der Behandlung der Koalitionsverhandlungen von 1924 kurz darauf hingewiesen worden, daß die Verärgerung einer beachtlichen Gruppe innerhalb der BVP, verursacht durch die deutschnationale Forderung, Dr. Schweyer nicht mehr i n der neuen Regierung Held zu übernehmen, w o h l aber Gürtner das Justizministerium zu belassen, i m Laufe der Jahre immer wieder dazu geführt hat, Angriffe gegen die bayerische Justizpolitik zu führen 1 1 1 . Eine erste Gelegenheit dazu bot sich am 22. J u l i 1924, als i m Landtag die von der SPD eingebrachte I n terpellation, „Was gedenkt die Staatsregierung gegen die staatszersetzenden Wirkungen der letzten Volksgerichtsurteile zu tun?", behandelt wurde. Dabei differierte die vernichtende K r i t i k des BVP-Abgeordneten Graf Pestalozza über den Hitlerprozeß kaum von den Ausführungen des SPD-Sprechers Dr. Hoegner, der die Interpellation begründete. Pestalozza zeigte zwar Verständnis für die schwierige Position eines par108

Moser von Filseck, S. 231—232. Bei den Reichstags wählen am 20. M a i 1928 erhielt die D N V P i n Bayern noch 338 585 Stimmen, a m 14. September 1930 n u r mehr 75 033 Stimmen. 110 Nachdem der Bayerische Bauernbund i m Landtag gegen die von der Regierung eingebrachte Schlachtsteuer-Notverordnung i m Landtag gestimmt hatte, mußte die Regierung zurücktreten (20. August 1930) u n d blieb bis 1933 geschäftsführend i m A m t , da eine Neubildung auf parlamentarischem Wege nicht erreicht werden konnte. 111 Siehe: A n m . 73. 109

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lamentarisch verantwortlichen Justizministers, die sich daraus ergebe, daß er einerseits parteipolitisch gebunden sei, aber andererseits die Unabhängigkeit der Rechtspflege gewährleisten solle, richtete dann aber an die Adresse Gürtners die Warnung: „Der derzeitige Herr Justizminister hat mehr als einmal i n der letzten Zeit als Ziel seiner Politik bezeichnet die Gewinnung der wertvollen Elemente für eine rein nationale Politik. Dieses Ziel der Politik des Herrn Justizministers muß und kann von allen Männern nur wärmstens begrüßt werden, die von Vaterlandsliebe erfüllt sind, aber natürlich darf dieses politische Streben niemals auf Kosten des Rechtes gehen.. . 1 1 2 ", und er Schloß seine Rede m i t den Worten: „Aufgabe des Herrn Ministers w i r d es sein, so schnell als möglich das Recht aus dem Winkel wieder hervorzuholen und wieder zum Eckstein zu machen für den Neubau der geschwundenen und schwer verletzten Staatsautorität. Und wenn w i r zu diesem Bau Steine zutragen können, dann wollen w i r das gerne tun, nachdem er uns schon einmal zu Handlangern degradiert hat. Dann sind w i r Handlanger i m besten Sinne des Wortes zum Wohle des Staates und zum Wohle des Volkes 1 1 3 !" Damit war deutlich zum Ausdruck gebracht worden, daß man auf Seiten der B V P nicht mehr gewillt war, eine Politik zu unterstützen, die noch einmal die Gefahr eines Rechtsputsches heraufbeschwören würde; i n Bayern sollte wieder Recht und Ordnung herrschen. I n den Augen mancher Vertreter der B V P war aber Gürtner aus einer Zeit belastet, als sich Unrecht und Unordnung ausgebreitet hatten, und daher war er nicht der Garant für einen notwendigen Wandel. Es waren eben jene Kreise, die lieber ihre weltanschaulichen Bedenken zurückgestellt hätten, um i n einer großen Koalition m i t der SPD zusammenzugehen und somit die demokratischen Grundlagen der Republik sicherstellen zu können, anstatt auch weiterhin auf den unsicheren, da i m Grunde undemokratischen, deutschnationalen Partner angewiesen zu sein. Das Zusammenwirken Hoegners und Graf Pestalozzas i m Landtag kam nicht von ungefähr, denn waren sie doch eben i m J u l i 1924 beide als Berichterstatter des Untersuchungsausschusses zur Aufklärung der Vorgänge am l . M a i und am 8./9. November 1923 ernannt worden. Als dieser nach jahrelangen Vorbereitungen endlich am 5. Oktober 1927 zur Anhörung der Berichterstatter und zur Beratung zusammentrat und es bald zur Beleuchtung von Gürtners Rolle i m Strafverfahren gegen H i t ler kam, wurden die Fronten zwischen den Parteien deutlich. Während die SPD als Initiatorin des Ausschusses bestrebt war, die Hintergründe der Putschabsichten von 1923 rückhaltlos aufzudecken, zeigten die Deutschnationalen und der Völkische Block ein verständliches Interesse 112 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Bayerischen L a n d tags, Bd. I, 13. Sitzung v o m 22. J u l i 1924, S. 278. 113 a.O. S. 282.

7 Reitter

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daran, daß nicht allzuviel von der Vergangenheit aufgerührt wurde. Die Haltung der BVP war gespalten. Der eine Flügel hielt aus Koalitionsrücksichten, schon projiziert auf die bevorstehenden Landtagswahlen i m M a i 1928, die Untersuchungen für unglücklich, während der andere bestrebt war, die Rolle Schweyers ins rechte Licht zu rücken und dabei i m Gegensatz Gürtners Verhalten anzuprangern und i h m dadurch politisch zu schaden. I n der Ministerratssitzung am 10. Oktober 1927 bemerkte Ministerpräsident Held zu den Verhandlungen des Untersuchungsausschusses, „daß er es bedauere, daß dieser Ausschuß überhaupt zusammengetreten sei. Die Arbeit des Ausschusses sei höchst überflüssig und politisch unzweckmäßig, da nur alte, schon der Vergessenheit anheimgefallene Dinge wieder ausgegraben würden. Die Angriffe auf den Herrn Justizminister und auf die Justizverwaltung habe er selbst auf das lebhafteste bedauert. Er habe über die Dinge auch m i t dem Vorsitzenden des Ausschusses gesprochen und ihn auf die Gefahren, die sich aus der Tätigkeit des Auschusses ergeben könnten, hingewiesen. Er bedauere auch die Bestellung des Grafen Pestalozza zum Berichterstatter schon wegen seines schlechten Gehöres und wegen seiner nicht ganz objektiven Einstellung. Er sei m i t dem Herrn Justizminister der Auffassung, daß ihm und der Justizverwaltung eine G e n u g t u u n g . . . gegeben werden müsse. Das geschehe wohl am besten i n der Form, daß er dem Vorsitzenden des Ausschusses nahelege, den Antrag zu stellen, daß der Ausschuß beschlußmäßig feststelle, daß die gegen die Justizverwaltung erhobenen Vorwürfe unbegründet seien 114 ." Diese Auffassung des Ministerpräsidenten stand i m Gegensatz zu der seiner eigenen Parteipresse, nämlich des „Bayerischen K u r i e r " und der „Bayerischen Volkspartei Korrespondenz", die sich i m Chor m i t sozialdemokratischen und kommunistischen Blättern systematisch der K r i t i k an Gürtner und der Justizverwaltung befleißigte 115 . Zunächst begnügte sich der „Bayerische K u r i e r " m i t einer kommentarlosen Berichterstattung über die Ausschußsitzungen 116 , bevor er dann behutsam auf die Linie der K r i t i k einschwenkte. Den A u f t a k t bildete am 12. Oktober 1927 die Wiedergabe eines Kommentars des Zentrumblattes „Kölner Volkszeitung", was die sozialdemokratische „Münchener 114 G S t A : M A 99521 — Protokoll der Ministerratssitzung v o m 10. Oktober 1927, S. 3. 115 Eine A u s w a h l sozialdemokratischer Pressestimmen: Vorwärts Nr. 233 v o m 7. 10. 1927, Münchener Post Nr. 233 v o m 8./9. 10. 27; Nr. 235 v o m 11. 10. 27; Nr. 236 v o m 12. 10. 27; Nr. 243 v o m 20. 10. 27; Nr. 244 v o m 21. 10. 27; Nr. 248 v o m 25. 10. 27; Nr. 250 v o m 28. 10. 27; Nr. 251 v o m 29./30. 10. 27; Nr. 283 v o m 7. 12. 27. F ü r die K P D : Neue Zeitung Nr. 243 v o m 20. 10. 27 u n d Nr. 248 v o m 25. 10. 27; Augsburger Postzeitung Nr. 242 v o m 22. 10. 27. 116 Bayerischer K u r i e r Nr. 281 v o m 8. 10. 27 bis Nr. 285 v o m 12. 10. 27.

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Post" noch am gleichen Tag veranlaßte, unter der Uberschrift „ E i n Zentrumsblatt gegen Gürtner" befriedigt festzustellen: „Die bisherigen Ergebnisse des Untersuchungsausschusses . . . sind bis jetzt von der Presse der Bayerischen Volkspartei i m allgemeinen kommentarlos den Lesern mitgeteilt worden. Man hat sich offenbar gescheut, nach dem heißen Eisen zu greifen. Es ist außerordentlich bemerkenswert, daß der Bayerische Kurier i n seiner heutigen Nummer eine scharfe K r i t i k an dem Justizminister Gürtner ohne jeden Kommentar wiedergibt, die aus Kreisen der Bayerischen Volkspartei dem Zentrumsblatt i n K ö l n . . . zur Verfügung gestellt w i r d 1 1 7 . " Durch direkte Stellungnahmen deutlicher wurde dann die BVP-Presse, nachdem am 20. Oktober der ehemalige Innenminister Schweyer seine Zeugenaussage gemacht hatte. A m 21. Oktober hieß es i n einem Kommentar „Die Schuld an der Katastrophe": „Die Antwort, die der Zeuge (Schweyer) . . .gegeben hat, hat für jeden unbefangenen Beurteiler den schlüssigsten und bündigsten Beweis erbracht, daß die politische Zielsetzung des damaligen Polizeiministers völlig berechtigt, die Haltung der Justizverwaltung aber staats- und rechtspolitisch gleich verfehlt und verhängnisvoll war . . . Es gibt — vor allem i n der Rechtspolitik — bestimmte „Prinzipien" oder „Grundsätze", die nicht verletzt werden dürfen, ohne daß sich der, der sie verletzt, den schärfsten und berechtigsten Vorwürfen aussetzen muß. Und wenn auch bei Koalitionsregierungen die Möglichkeit einer grundsätzlichen Verschiedenheit jener Prinzipien vorhanden ist, so liegt es doch gerade i m Begriff der Koalitionsregierung, daß dem Koalitionspartner nicht zugemutet werden darf, daß seine staats- und rechtspolitischen Grundsätze (offen oder geheim) m i t Füßen getreten werden 1 1 8 ." Damit war der Fehdehandschuh geworfen, den das Organ der DNVP, die M A A Z , auch bereitwilligst aufnahm 119 . So kam es zum offenen und handfesten Streit von einigen i n der Regierung verbündeten Koalitionspartnern, i n dem beide Seiten m i t offenem Visier kämpften. Den Höhepunkt bildeten die Vorwürfe des „Bayerischen K u r i e r " vom 23. November gegen eine „Politisierung der Justiz": „Eine unzweifelhafte Auflockerung des Legalitätsprinzips bedeutet es, wenn die Landesjustizverwaltung, wie das die Untersuchungen des Hitler-Ausschusses ergeben haben, die Staatsanwaltschaft zu einer Beratung zuzieht, bei der die Frage, ob eine Straftat nach den gesetzlichen Vorschriften verfolgt werden soll, nicht nur unter dem rechtlichen Gesichtspunkt, sondern unter dem Gesichtspunkt der politischen Zweckmäßigkeit erörtert 117

Münchener Post Nr. 236 v o m 12. 10. 27. Bayerischer K u r i e r Nr. 294 v o m 21. 10. 27. 119 M A A Z Nr. 285 v o m 21. 10. 27 — A r t i k e l „Kassandra"; Nr. 291 v o m 27. 10. 27 — A r t i k e l „Sic tacuisses"; Nr. 335 v o m 9. 12. 27 — A r t i k e l „Staatspolitik". 118

7*

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w i r d . . . I n einer solchen Auflockerung liegt die Gefahr der Politisierung der Rechtspflege unvermeidbar beschlossen . . . Die Gefahr der Politisierung der Rechtspflege w i r d dadurch nicht kleiner, sondern größer, daß den Organen der bayerischen Justizverwaltung das Bewußtsein der justizpolitischen Ungewöhnlichkeit ihrer Haltung zu fehlen scheint. Es muß vielmehr gerade aus der A r t der von der bayerischen Justizverwaltung gewählten Rechtfertigung der Schluß gezogen werden, daß Vorgänge, wie sie durch die Tätigkeit des Untersuchungsausschusses aufgedeckt worden sind, nicht vereinzelt vorgekommen sind, sondern einer gewissen Übung entsprechen. Eine solche Übung würde freilich spätere Vorkommnisse, vor allem gewisse Vorkommnisse beim Hitlerprozeß (wo der gleiche Staatsanwalt die Anklage vertrat, dessen politisches ,Gutachten' die Justizverwaltung i m Jahre 1923 eingeholt hatte) sehr verständlich erscheinen lassen; an ihrer justizpolitischen Unzulässigkeit aber änderte sich dadurch nichts 120 ." Daraufhin schrieb Gürtner am 28. November an Ministerpräsident Held, er wisse zwar, daß der „gehässige Kampf" i m Bayerischen K u r i e r gegen die Justiz und insbesondere gegen seine eigene Person nicht dem Willen der Gesamtpartei entspreche, er müsse aber auf das Zerrbild aufmerksam machen, das sich einem über die internen Verhältnisse nichtunterrichteten Beobachter ergebe: „Gegen ein Mitglied des Koalitionskabinetts w i r d von dem Hauptorgan der größten Regierungspartei der schwerste A n g r i f f erhoben. Weder die Koalition noch das Kabinett findet Veranlassung, dazu irgendwie Stellung zu nehmen . . . A u f diesen Eindruck nach außen kommt es aber meines Erachtens weniger an, als auf die tatsächliche Solidarität, wie sie innerhalb der Koalition und des Kabinetts besteht. M i t einer Truppe, die diesen Eindruck macht, werden w i r den Kampf für Bayerns Eigenstaatlichkeit nicht i n einer Weise führen können, die überhaupt von irgend jemand ernst genommen w i r d 1 2 1 . " Gürtner spielte also geschickt auf die Gefährdung einer gemeinsam getragenen Föderalismuspolitik an, weil er wußte, daß diese eine Bedingung sine qua non von Heids Ministerpräsidentenschaft war und daß eine klare Abgrenzung zur Sozialdemokratie zu einem seiner unumstößlichen Grundsätze zählte. Es war bekannt, daß Held i n dieser Richtung nicht umzustimmen war und so stand es von vornherein fest, daß es der Gruppe innerhalb der BVP, die das bisherige Koalitionsgeleise verlassen wollte, erst gelingen mußte, den Ministerpräsidenten selbst zu überspielen, bevor sie die Weiche stellen konnte. Daß sie vor einem solchen Schritt nicht zurückschreckte, haben die Bemühungen des späteren Parteivorsitzenden Fritz Schäffer nach den Landtagswahlen von 1932 ge120

Bayerischer K u r i e r Nr. 327 v o m 23. 11. 27. G S t A : Nachlaß Held, I I I . Serie P. 13, Mappe Gürtner, Brief v o m 28. November 1927. 121

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zeigt, als es z u g u n s t e n e i n e r K o a l i t i o n m i t d e r S P D u m d i e A b l ö s u n g H e i d s g i n g 1 2 2 . Z u n ä c h s t g a l t es aber, die i n n e r p a r t e i l i c h e n V o r a u s s e t z u n g e n d a z u z u schaffen u n d d a b o t sich die ins Z w i e l i c h t geratene P e r s o n G ü r t n e r s , die j a v i e l e n P a r t e i m i t g l i e d e r n b e r e i t s seit 1924 e i n D o r n i m A u g e w a r , f ö r m l i c h an, u m d u r c h scharfe K r i t i k e i n F o r t b e s t e h e n d e r a l t e n K o a l i t i o n i n a l l e r F o r m i n F r a g e z u stellen. W e n n d a n n nach d e n W a h l e n v o n 1928, z u m i n d e s t nach außen h i n , t r o t z d e m alles b e i m A l t e n b l i e b , so w a r das n u r d e m n a c h w i e v o r s t a r k e n E i n f l u ß H e i d s z u z u schreiben, d e r die P a r t e i n o c h m a l s auf seinen K u r s festlegen k o n n t e 1 2 3 . Die D N V P blieb weiter i n der Koalition u n d somit Gürtner weiter i n der Regierung. Der Justizminister w a r D a n k einer f ü r i h n günstigen politischen Konstellation glimpflich davongekommen. Die formulierten Ergebnisse des Untersuchungsausschusses, d i e d e r V o r s i t z e n d e S t a n g a m 23. M ä r z 1928 d e m L a n d t a g v o r l e g t e 1 2 4 , e r m ö g l i c h t e n es i h m , e r n e u t i n e i n K a b i n e t t H e l d e i n z u t r e t e n ; e r g i n g j e d o c h keineswegs unbeschadet aus dieser K r i s e h e r v o r . D i e e r h e b l i c h e n A n s c h u l d i g u n g e n , die gegen i h n i n a l l e r Ö f f e n t l i c h k e i t e r h o b e n w o r d e n w a r e n , k o n n t e n n i c h t ausgeräumt w e r d e n u n d belasteten i h n daher m i t einer schweren H y p o t h e k . A n i h r sollte e r bis z u seinem Ausscheiden aus d e m b a y e r i s c h e n Staatsdienst t r a g e n . 122

Schwend, S. 424. Held w a r zu sehr auf seinen national-konservativen K u r s eingeschworen, als daß er seine Ressentiments gegen die SPD hätte beiseite schieben können. Koalitionsfragen waren f ü r i h n Charakterfragen. Die Sondierungen des Schäffer-Kreises ergaben, daß die SPD bei einem E i n t r i t t i n die Regierung für sich die Posten des Innen- u n d Justizministers sowie eines Staatssekretärs i m K u l t u s m i n i s t e r i u m forderte. D a m i t hatte die SPD den Bogen überspannt u n d es w a r n u n f ü r H e l d ein leichtes, den schwankenden Fraktionsführer W o h l m u t h davon zu überzeugen, daß es auch i n Z u k u n f t ohne die Sozialdemokraten gehen müsse. Gemeinsam m i t W o h l m u t h konnte daher Held, gegen die Intentionen des Schäffer-Kreises, seinen K u r s i n der Partei durchsetzen. 124 G S t A : M A 103472 — Bericht des Ausschusses zur Untersuchung der V o r gänge v o m 1. M a i 1923 u n d der gegen Reichs- u n d Landesverfassung gerichteten Bestrebungen v o m 26. September bis 9. November 1923 an den Landtag v o m 23. März 1928: „ A l s Ergebnis der Verhandlungen über die Vorgänge am 1. M a i 1923 wurde v o m Ausschusse folgendes festgestellt: . . . Wegen dieser Vorgänge hat die Polizei i m Einverständnisse m i t dem damaligen Staatsminister des I n n e r n Dr. Schweyer unter Vorlage der A k t e n bei der Staatsanwaltschaft Anzeige erstattet. Diese hat sogleich ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Dieses Ermittlungsverfahren ging nach A r t u n d Umfang unbeeinflußt vor sich u n d w a r am 1. August 1923 abgeschlossen. Die Stellung eines Sitzungsantrags zum Zwecke der Durchführung des volksgerichtlichen V e r fahrens wurde aus Rücksichten auf die damalige Lage von der Justizverwalt u n g zeitlich verschoben u n d das Verfahren nach dem Hitler-Putsch u n d Hitler-Prozeß auf G r u n d des § 154 der Strafprozeßordnung neuer Fassung eingestellt. Es ist nicht Aufgabe des Untersuchungsausschusses, ein U r t e i l darüber abzugeben, ob diese Rücksichten sachlich berechtigt waren oder nicht. Der Untersuchungsausschuß ist aber der Auffassung, daß es f ü r die Beurteilung der für u n d gegen die Durchführung des gerichtlichen Strafprozesses sprechenden Gründe zweckmäßiger gewesen wäre, auch den damaligen, f ü r 123

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Das Scheitern der Koalition durch den Austritt des Bayerischen Bauernbundes verstärkte die Bestrebungen i n der BVP, eine Annäherung an die SPD zu suchen. Als sich die Schwierigkeiten m i t dem Bauernbund i m Herbst 1929 häuften 1 2 3 , teilte der neue Parteivorsitzende Fritz Schäffer Ministerpräsident Held mit, er habe Landwirtschaftsminister Dr. Fehr zu verstehen gegeben, „daß eine Koalition m i t den Sozialisten m i t Rücksicht auf die Verhältnisse i m Reiche nicht möglich sei, daß ich aber grundsätzlich die Koalition m i t keiner Partei ablehne, wenn ich Sicherung erhalten kann, mein politisches Programm bei der Koalitionsbildung durchzusetzen. Ich habe ihm angedeutet, daß die Sozialisten heute w o h l einer Durchführung des Konkordats und einer Sicherung der i n der Weimarer Verfassung festgelegten Rechte Bayerns nicht widerstehen würden. Ich habe das betont, damit er sieht, daß w i r an bestimmte Möglichkeiten denken 126 ." Wenn auch Schäffer, als stärkster Befürworter einer solchen Lösung, immer wieder betonte, daß sich vor Beginn der neuen Legislaturperiode i m Sommer 1932 nichts ändern sollte 127 , so verstärkte er doch seine Aktivitäten i n dieser Richtung seit 1930 derart, daß es zu ernsten Spannungen m i t Ministerpräsident Held kam, wie dies i n einem Bericht über einen Landesparteitag nach dem Rücktritt der Regierung zum Ausdruck kam 1 2 8 . Diese parteiinternen Querelen w i r k t e n sich zwangsläufig auf die Beziehungen zu dem noch i n der Regierung vertretenen, anderen Koalitionspartner, der DNVP, weiter negativ aus. Man hatte sich m i t der Tatsache, daß Gürtner auch weiterhin Justizminister war, immer noch nicht abgefunden 129 , konnte die Aufrechterhaltung v o n Ruhe, Ordnung u n d Sicherheit zunächst zuständigen und verantwortlichen Staatsminister des Innern, gegebenenfalls das Gesamtstaatsministerium zu hören. Es hat sich k e i n Anhaltspunkt dafür ergeben, daß die Justizverwaltung i n der Absicht, die Angeklagten der gesetzlichen Strafe rechtswidrig zu entziehen, das staatsanwaltschaftliche oder gerichtliche Verfahren beeinflußt oder eine solche Beeinflussung versucht hat. Das Gerücht, als ob der bayerische Justizminister v o r Inkrafttreten der neuen Strafprozeßordnung i n der Fassung der Verordnung v o m 4. Januar 1924 die Staatsanwaltschaft zur Einstellung des Verfahrens gegen H i t l e r u n d Genossen wegen der Vorfälle am 1. M a i 1923 angewiesen habe, ist als u n w a h r erwiesen." 125 Die 1900 v o n Dr. H e i m gegründete Zentralgenossenschaft des Bayerischen Christlichen Bauernvereins stand zwischen 1924 u n d 1928 mehrmals v o r dem Ruin, was den Bayerischen Bauernbund veranlaßte, i m m e r wieder gegen die P o l i t i k der B V P zu wettern, (ζ. B. Passauer Donauzeitung Nr. 443 v o m 12. Dezember 1928). V o n Seiten der B V P wiederum wurde dem Bauernb u n d vorgeworfen, er sei antikatholisch, antiföderalistisch u n d daher nicht bayerisch eingestellt. 126 G S t A : Nachlaß H e l d Serie I I I Paket 14, Brief Schäffers v o m 14. November 1929 an Held. 127 G S t A : Nachlaß H e l d Serie I I I Paket 14, Brief Schäffers v o m 24. M a i 1930 an Held. 128 G S t A : Nachlaß Held, Serie I I I , Neue Nr. 98, „Die Bayerische Volkspartei a m Scheideweg, Grundsätzliches zum Landesparteitag u n d zur Führerfrage".

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aber nach der verheerenden Wahlniederlage der Deutschnationalen i n Bayern bei der Reichstagswahl von 1930 m i t hoher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, daß sich dieses Problem von selbst lösen würde, nämlich dann, wenn die DNVP, was ja zu erwarten war, i m nächsten Landtag nur mehr als Splitterpartei vertreten sein und daher als ernsthafter Regierungspartner, auch i n den Augen der Kreise um Held, ausscheiden würde. So rieb man sich nun i n der B V P weniger an der Person Gürtners selbst, als an der immer stärker i n den Vordergrund tretenden Hugenberg-Richtung der bayerischen Gesamtpartei. I n den „Mitteilungen für die Vertrauensleute der Bayerischen Volkspartei" vom 15. Januar 1931 beurteilte Schäffer die D N V P als eine ihrem Wesen nach bayerischem Denken entgegenstehende Partei: „Der Bayer denkt tolerant. Er würdigt insbesondere die unvergleichliche kulturelle Bedeutung des katholischen Gedankens i m deutschen Süden. Die Deutschnationale Volkspartei ist, wie sie insbesondere bei der letzten Wahl selbst betonte, überwiegend i n den protestantischen Gegenden Deutschlands d a h e i m . . . Sie neigt jetzt immer mehr dazu, geistig i n das Schlepptau der Nationalsozialisten zu kommen. Sie macht es wie die, daß sie alles, was nicht nationalsozialistisch oder deutschnational ist, als nicht national verschreien w i l l ; daß sie unter Hugenberg eine grundsätzliche Opposition gegen den gegenwärtigen Staat einnimmt und dadurch gerade den übrigen nichtsozialistischen Parteien die Möglichkeit nimmt, eine Reichsregierung ohne Sozialisten zu bilden 1 3 0 ." Die konträren Standpunkte i n der Reichspolitik, — während die B V P die Regierung Brüning unterstützte, gefiel sich die D N V P unter Hugenberg an der Seite der NSDAP i n sturer Opposition — aber auch die Bemühungen Hilperts, i n Bayern die Nationalsozialisten i n eine Koalition und damit an die Macht zu hieven 131 , waren für Gürtner die denkbar schlechtesten Voraussetzungen, u m konstruktiv wie bisher, i n der Regierung mitzuarbeiten. 129 Bezeichnend dafür ist der A r t i k e l „Staatsminister a.D. Dr. Franz Schweyer" i m Bayerischen K u r i e r Nr. 238 v o m 25. August 1928, w o es heißt: „Die Geschichte w i r d einmal bestätigen, daß der Kampf, den der Polizeiminister Dr. Schweyer damals f ü r den Staat, die verfassungsmäßige Ordnung u n d die Unverbrüchlichkeit des Rechts führte, ein guter K a m p f gewesen ist, w e n n i h m auch zunächst aus Gründen, die am allerwenigsten Dr. Schweyer zu vertreten hat, der volle äußere Erfolg versagt blieb u n d w e n n auch eine politische Entwicklung, die gerade da stetig u n d zusammenhängend war, w o eine klare, alle dunklen Fäden der Vergangenheit durchschneidende Grenzlinie am Platze gewesen wäre, zum Ausscheiden Dr. Schweyers aus der Regierung geführt hat." 130 G S t A : Nachlaß Held, Serie I I I , Neue Nr. 95 — Mitteilungen für die V e r trauensleute der B V P Nr. 1 v o m 15. Januar 1931. 131 Moser v o n Filseck, S. 247: „ A l s ich heute (9. September 1931) von M i n i sterpräsident Dr. H e l d zum ersten M a l nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub wieder empfangen wurde, verließ i h n eben der deutschnationale Fraktionsführer Dr. Hilpert, m i t dem er eine lange Unterredung gehabt hatte, was i h n

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1. Teil: Werden und Weg 1881 - 1932

I n welcher schwierigen Lage er sich befand, weil er einerseits politisch seine Partei zu vertreten hatte, aber andererseits den Zusammenhalt der geschäftsführenden Regierung nicht gefährden wollte, die sich ja nur durch die Tolerierung der SPD halten konnte, bewies seine Abstimmungsniederlage i m Kabinett, als es um die Verlängerung der Gültigkeitsdauer des bayerischen Aufzugs- und Uniformverbotes ging. I n der Ministerratssitzung am 26. September 1931 hatte Held die A b sicht des Innenministeriums erläutert, das am 10. J u l i 1931 erlassene Verbot über den 30. September 1931 hinaus bis zum 31. März 1932 zu verlängern. Bis auf Gürtner befürworteten alle Kabinettsvertreter diesen Vorschlag. Es war offensichtlich, aus welchen politischen Erwägungen sich Gürtner dagegen stellen mußte, denn betrafen doch diese Maßnahmen i n erster Linie politische Organisationen auf der radikalen rechten und linken Seite, also die Nationalsozialisten und Kommunisten, aber auch i n gewissem Umfang die DNVP, wie die Verbote deutschnationaler Versammlungen i n Bayern vom Sommer 1931 zeigen 132 . Gürtner führte aus: „ E r g e h e . . . auf Grund seiner Wahrnehmungen nicht zu weit m i t der Auffassung, daß die praktische Anwendung der Versammlungsverbote an die Grenze des Lächerlichen gehe. Er könne das an zahlreichen Beispielen von Versammlungs-Verbotsbegründungen, die er i m Auszuge wiedergebe, nachweisen. Er sei nicht ohne Sorge, ob man i n Deutschland nicht ähnlich verfahre wie i n den letzten Kriegsjahren. Die Friedhofsruhe erscheine ihm bedenklich. Er wolle den Wert von politischen Versammlungen durchaus nicht überschätzen. Aber man könne nicht auf Monate hinaus das politische Leben i m Lande tot dekretieren. Vieles, was draußen an Verboten ergangen sei, gehe sicherlich über die Absichten der Zentralstelle hinaus 1 3 3 ." Das übrige Kabinett ließ sich jedoch von diesen Argumenten nicht beeindrucken und beschloß gegen die Stimme Gürtners die Gültigkeitsdauer des Aufzugsveranlaßte, sich m i r gegenüber heftig über die Borniertheit u n d Kurzsichtigk e i t der Deutschnationalen zu beklagen. Dieselben stünden hier ganz unter dem Banne Hugenbergs, der selbst wieder, ohne es zu wissen, n u r i n der Abhängigkeit zu H i t l e r stehe. Er habe dem Dr. H i l p e r t gesagt, die Deutschnationalen seien j a doch n u r noch ein Schwanzstück der Nationalsozialisten. Dieser habe selbst zugegeben, daß seine Partei i m m e r mehr abbröckele, sei aber w e i t entfernt, daraus die Konsequenzen zu ziehen. H i l p e r t habe an i h n die Z u m u t u n g gestellt, jetzt eine Regierung unter Hereinnahme der Nationalsozialisten zu bilden. Das sei doch für i h n ganz ausgeschlossen. H i l p e r t denke aber auch nach etwaigen Neuwahlen an die B i l d u n g einer Regierung aus der Bayerischen Volkspartei, den Nationalsozialisten u n d den Deutschnationalen, wobei er gegen eine Beteiligung des Bauernbundes keinen E i n w a n d erheben würde." 132 M A A Z Nr. 237 v o m 25. 8. 31 — Bericht über Verbote deutschnationaler Versammlungen i n M u r n a u u n d Weiden; M A A Z Nr. 238 v o m 26. 8. 31 — Bericht über Verbote der DNVP-Versammlungen i n Hirschau u n d Laufen. 133 G S t A : M A 99524 — Protokoll der Ministerratssitzung v o m 26. September 1931, S. 18.

2. Kap. : Der bayerische Justizminister

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und Uniformverbots zu verlängern und gab damit einer Stellung gegen die republikfeindlichen Kräfte beider Couleur Ausdruck, was auf Seiten der D N V P verständlicherweise nicht ohne Reaktion blieb. U m vor der Öffentlichkeit zu demonstrieren, daß dieser Kabinettsbeschluß nicht von den Deutschnationalen gebilligt wurde, veröffentlichte die Parteileitung i n der M A A Z vom 13. J u l i 1931 diejenigen Erklärungen, welche Gürtner i m Ministerrat zu Protokoll gegeben hatte. Daraufh i n wandte sich Held am 17. J u l i an Gürtner und stellte fest: „Ich darf m i r m i t ihrer Zustimmung die Bemerkung gestatten, daß die Ausgabe eines öffentlichen Berichtes über Vorgänge i m Ministerrat ohne Einverständnis des Kollegiums selbst oder doch des Vorsitzenden bisher nicht üblich war und daß ein Abweichen von dieser Übung ein ganz ungewöhnlicher Schritt wäre, w e i l er die Vertraulichkeit der Beratungen des Ministerkollegiums und die Einheit und Geschlossenheit der Staatsregierung nach außen i n Frage stellt. Ich darf deshalb annehmen, daß Sie zwar den Parteivorstand der Deutschnationalen von Ihrer Haltung unterrichtet haben, m i t der formellen Veröffentlichung Ihrer Erklärung i n der Presse aber nichts zu t u n haben 134 ." Gürtner war i n eine peinliche Lage geraten. Wollte er nicht sein A m t niederlegen, wozu man ihn von Seiten der Deutschnationalen allem Anschein nach zu bewegen versuchte 135 , so mußte er sich bis zu einem gewissen Grad gegen seine Partei stellen. I n welcher Weise er dies tat, geht indirekt aus seiner A n t w o r t an Held vom 20. J u l i hervor 1 3 6 . Er sei der Meinung, daß einem Minister, der i m Kabinett überstimmt wurde, nur zwei Wege offenstünden, entweder er trete zurück oder vollziehe das gegen seinen Willen Beschlossene vorbehaltlos. Gürtner gab zu verstehen, daß die Überstimmung i m Kabinett für ihn bedeutet hätte, i n dem Fall die Konsequenzen daraus zu ziehen, wenn die Regierung noch v o l l parlamentarisch verantwortlich gewesen wäre, w e i l dies einen Bruch der Koalition bedeutet hätte, so stehe er aber auf dem rechtlichen Standpunkt, daß ein Minister eines bloß geschäftsführenden Kabinetts nicht mehr zurücktreten könne, da ja der Rücktritt bereits durch die Gesamtregierung vollzogen sei. Damit erklärte er sich aber folgerichtig einverstanden, den Mehrheitsbeschluß zu respektieren und für seinen Geschäftsbereich die Verantwortung v o l l dafür zu tragen, was ihn jedoch i n Gegensatz zu der Auffassung seiner Partei bringen mußte. Gürtner war aber um einen Ausgleich bemüht und so ersuchte er Held, i h m i n einem persönlichen Gespräch die Möglichkeit zu geben, die schwerwiegenden Gründe zu erläutern, welche seine Partei zur Presseveröffentlichung veranlaß134

G S t A : M A 102035 — Schreiben Heids an Gürtner v o m 17. J u l i 1931. Dr. A n t o n Ritthaler, München, konnte als ehemaliger Parteifreund dies bestätigen. Außerdem geht dies aus dem Antwortschreiben Gürtners an Held v o m 20. J u l i 1931 hervor. 136 G S t A : M A 102035 — Schreiben Gürtners an H e l d v o m 20. J u l i 1931. 135

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1. T e i l : Werden u n d Weg 1881 - 1932

ten, w o b e i e r b e r e i t s p o l i t i s c h v o r z u b a u e n versuchte, i n d e m e r v o r g a b , daß d i e M o t i v e d e r P a r t e i l e i t u n g n i c h t v o n p o l i t i s c h e n R ü c k s i c h t e n a u f d i e N S D A P g e t r a g e n w u r d e n . Seine eigene H a l t u n g i m M i n i s t e r r a t v e r b r ä m t e e r n a c h t r ä g l i c h m i t r e c h t l i c h e n B e d e n k e n u n d gab z u v e r stehen, daß sich d i e M e i n u n g s u n t e r s c h i e d e n i c h t a u f d i e V e r b o t e als solche bezogen h ä t t e n , s o n d e r n diese w ä r e n n u r d u r c h d i e u n t e r s c h i e d l i c h b e w e r t e t e n M e t h o d e n entstanden. W i e es d e n A n s c h e i n h a t , w o l l t e G ü r t n e r also n u r seine P o s i t i o n als J u s t i z m i n i s t e r b e h a u p t e n . Es i s t a l l e r d i n g s f r a g l i c h , ob dies d e r einzige u n d ausschließliche G e s i c h t s p u n k t gewesen sein d ü r f t e , als er sich m i t diesem S c h r i t t d e n A n f e i n d u n g e n seiner eigenen P a r t e i aussetzte 1 3 7 . B e r ü c k s i c h t i g t m a n seine ö f f e n t l i c h e n A u f t r i t t e , b e i d e n e n er sich gegen eine A u f l ö s u n g d e r P a r l a m e n t e u n d gegen die E r r i c h t u n g e i n e r D i k t a t u r aussprach, sich aber w o h l f ü r die S c h a f f u n g eines n e u e n Staatsbewußtseins d u r c h „ A n g l e i c h u n g u n d A u s g l e i c h u n g d e r verschiedenen W e l t a n s c h a u u n g e n " einsetzte 1 3 8 , so w i r d o f f e n b a r , daß i h n auch politische Ü b e r l e g u n g e n g r u n d s ä t z l i c h e r A r t dazu bewogen, i n vorsichtiger Distanz zur offiziellen H u g e n b e r g - L i n i e seiner P a r t e i z w i s c h e n d e n F r o n t e n v o n B V P u n d D N V P z u l a v i e r e n , u m eben l e t z t e n Endes d e n Z u g a n g d e r S o z i a l d e m o k r a t e n z u r M a c h t , wogegen er j a h r e l a n g gekämpft hatte, z u verhindern. Schließlich darf der 137

Bayerischer K u r i e r Nr. 263 v o m 20. 9. 31 — A r t i k e l „Krach i n der bayerischen deutschnationalen Partei?": „ D e m Vernehmen ist es zwischen der deutschnationalen Parteileitung u n d dem gegenwärtigen Justizminister Dr. Gürtner zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen. Der H e r r Justizminister soll es sehr scharf m i ß b i l l i g t haben, daß die Landtagsfraktion der deutschnationalen Partei den A n t r a g auf Aufhebung der bayerischen N o t verordnung einbringen w i l l . Der Herr Justizminister soll auch darüber sehr ungehalten sein, daß eine deutschnationale Zeitung i n der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken suchte, als w o l l e Dr. Gürtner sich von der Verantw o r t u n g f ü r die v o m Gesamtministerium beschlossene Notverordnung befreien. Schließlich soll noch die gehässige Form, i n der die Entschließung des Landesvorstandes der deutschnationalen Partei die gegenwärtige Reichsregierung u n d zugleich auch den Reichspräsidenten verunglimpft hat, den schärfsten Tadel des H e r r n Justizministers hervorgerufen haben. H e r r Dr. Gürtner soll m i t sehr empörten Worten sich darüber beschwert haben, daß i h m das Licht, i n das i h n seine Partei u n d seine Presse öffentlich gesetzt hätten, eine etwaige künftige Ministertätigkeit nicht einmal i n einem nationalsozialistischen Kabinett ermöglichen könnte." 138 Coburger Zeitung Nr. 111 v o m 14. 5. 1929 — „Macht u n d Recht, E i n V o r t r a g des Justizministers Dr. Gürtner, München": „Nicht anders sieht es i m eigenen Hause aus, w o der W i l l e zur nationalen Idee fehlt, zum Gemeinwesen, zum Staatsbewußtsein. Wie k a n n n u n ein neues Staatsbewußtsein geschaffen werden? D r e i Wege sind möglich: 1. durch Auflösung der Parlamente, was bisher zu keinem Erfolge geführt hat u n d nicht führen w i r d ; 2. durch die des öfteren diskutierte Schaffung einer D i k t a t u r , die durch ihre Erziehung zum mangelnden Verantwortungsbewußtsein u n d durch Nichteignung f ü r die germanische Rasse gar nicht i n Betracht k o m m t u n d 3. durch Angleichung u n d Ausgleichung der verschiedenen Weltanschauungen i n den verwandten Fragen u n d so fort zur Idee u n d V e r w i r k l i c h u n g der Volksgemeinschaft. Dieser Weg ist f ü r die Veranlagung des Deutschen w o h l der schwerste, aber derjenige, der den stärksten Erfolg verspricht."

2. Kap. : Der bayerische Justizminister

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Umstand, dadurch Ministerpräsident Held und dessen politische Linie zu unterstützen, vor dem Hintergrund einer mehr als politischen Freundschaft 139 , nicht zu gering geschätzt werden. Trotz des lavierenden Taktierens konnte Gürtner aber insgesamt das getrübte Verhältnis zwischen Deutschnationalen und B V P nicht verbessern. Z u sehr divergierten bereits die politischen Anschauungen, als daß es zu einem Ausgleich der Interessen gekommen wäre. Dazu bestand auch vom Blickwinkel der B V P aus gar kein Anlaß mehr, denn war doch die DNVP nach den Landtagswahlen Ende A p r i l 1932 zu sehr abgewrackt, so daß sie als selbständige politische K r a f t i n Bayern nicht mehr ins Gewicht fiel. Unter diesen Umständen mußte es Gürtner persönlich sehr gelegen kommen, als er gerade i n dieser prekären Situation die Berufung als Reichs justizminister erhielt. Nicht weniger froh war man anscheinend über diesen Wechsel i n der BVP, denn hatte sich doch damit die Frage einer Wiederverwendung Gürtners i n einer auch weiterhin geschäftsführenden Regierung von selbst beantwortet. Der Versuch Gürtners, für seine Berufung nach Berlin eine quasi politische Beauftragung der B V P zu erreichen, scheiterte 140 . So mußte er von M ü n chen i n dem Bewußtsein scheiden, nach beinahe zehnjähriger Amtszeit keinen größeren politischen Gewinn, seinem Verständnis nach, erzielt zu haben, er verabschiedete sich jedoch i n der Hoffnung, daß er nun seine gewonnenen Erfahrungen i n der bayerischen Justizverwaltung einer Reichsregierung zur Verfügung stellen konnte, die i n ihrer vorhersehbaren politischen Projektion versprach, seinen Vorstellungen am nächsten zu kommen. Die Enttäuschung sollte i h m noch bevorstehen. Bevor Gürtner Anfang Juni 1932 sein A m t als Reichs justizminister antrat, bekundeten deutschnationale Freunde ihre Dankbarkeit und ihre Anerkennung für sein bisheriges Wirken: die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Würzburg ernannte am 12. M a i 1932, dem Tage des dreihundertfünfzigsten Gründungsfestes, ihn als „den tapferen Vorkämpfer dereinst für die kriegerische Ehre des Vaverlandes, jetzt aber für ungebeugte Gerechtigkeit i n demselben zum Doctor iuris utriusque honoris causa 141 ." Damit hatte Gürtner endlich ehrenhalber den Titel erhalten, der ihm irrtümlicherweise schon all die Jahre zuvor i n der Öffentlichkeit zugesprochen worden war 1 4 2 . 139 Gürtner hatte über die M u s i k (beide spielten jahrelang gemeinsam i n einem Quartett) engeren privaten K o n t a k t zu Held. 140 Schwend, S. 436. 141 Original der Promotionsurkunde, Nachlaß Gürtner. 142 Es zeigt die bayerische Vorliebe f ü r Titel, w e n n die gesamte bayerische Presse, seitdem Gürtner 1922 ins Rampenlicht der Öffentlichkeit trat, i h n häufig m i t „ D o k t o r " titulierte. V o n dieser Ü b u n g schlossen sich die meisten Politiker nicht aus, so daß dieser „ I r r t u m " bei Moser von Filseck ebenso zu finden ist w i e bei K a r l Schwend. „ D r . Gürtner" w a r j e nachdem zum W e r t oder Unwert-Begriff geworden.

Zweiter Teil

Reichsjustizminister 1932-1941 Erstes Kapitel I m Umbruch 1. I n den Kabinetten Papen und Schleicher Wenn am 3. Juni 1932 die „Münchner Neuesten Nachrichten" die Berufung Franz Gürtners i n das Kabinett Papen als sachlichen Gewinn bezeichneten, da er sich während seiner langjährigen Tätigkeit i n Bayern als ein kluger, der Sache dienender und nach seiner A r t überparteilicher Politiker bewährt habe, der sich für einen Zusammenhalt der Koalition von Bayerischer Volkspartei und Deutschnationalen, was der Öffentlichkeit kaum bekannt wäre, eingesetzt hätte, so waren damit jene charakteristischen Punkte umrissen, die für die Motivstruktur bei der Besetzung des Justizressorts entscheidend gewesen sein dürften 1 . General von Schleichers ehrgeizige Rüstungspläne waren eingebaut i n eine politische Strategie, die i m bewußten Gegensatz zur Seecktschen Konzeption einer Balancepolitik zwischen Weimarer Staat und Reichswehr angelegt war auf die Überwindung, zumindest aber auf die Umgestaltung des bestehenden demokratisch-parlamentarischen Systems. Es war der Traum eines i n monarchisch-preußischen Denktraditionen groß gewordenen Militärs vom „starken Staat", dem eine straffe Befehlsstruktur zu Grunde liegen sollte. Da der Weimarer Parteienstaat i n den Vorstellungen der konservativen Reichswehrführung eine effektive Kräftekonzentration von Legislative und Exekutive nicht zu gewährleisten schien, glaubte der Kreis um Schleicher, wenn man das Uberparteilichkeitsprinzip der Streitkräfte nicht aufgeben wollte, den Ausweg i n einer Form von plebiszitärer Demokratie m i t „starker Spitze" suchen zu müssen. Als reale Ausgangsbasis dieser Überlegungen diente die Stellung des Reichspräsidenten, dem die Verfassung gegenüber dem Parlament eine ungleich große Machtfülle garantierte, so daß die Chance zur Ausübung diktatorischer Vollmachten gegeben war. Aus1

B A : R 43 1/1309 — Wollfs-Telegraphisches B ü r o Nr. 1165 v o m 3. J u n i 1932.

.Kap.: Im Umbruch

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führendes Organ dieses Konzeptes sollte ein „Präsidialkabinett" sein, von dem sich Schleicher die Unterstützung der Rechtsparteien und dabei vor allem der NSDAP erhoffte, was einem solchen Regime de facto den Schein der Legitimität bewahrt hätte. Schleicher war gebannt von dem Phänomen des Rechtsradikalismus, von dessen Massenbewegung er sich die stärkste Unterstützung seiner Ziele versprach, vorausgesetzt es würde i h m gelingen, sie i n seine Bahnen zu lenken. Er wollte sich der agitatorischen Fähigkeiten Hitlers bedienen, da er i m Nationalsozialismus nicht nur das stärkste Element einer Förderung der nationalen Wehrbereitschaft und damit seiner Aufrüstungspläne sah, sondern auch der Meinung war, dieser könnte Schlüssel für die Lösung des Sozialismusproblems i m nationalen Sinne sein, da er die Arbeiter i n dessen Gefolgschaft wähnte 2 . Die Faszination der nationalsozialistischen Massenbewegung war es dann auch, die Schleicher dazu bewog, den Sturz „seines" Präsidialkabinetts Brüning zu betreiben, da er seine Bemühungen um eine „Verbreiterung der Regierungsbasis nach rechts" als gescheitert ansah. Er wollte nicht auf die Tolerierung der SPD angewiesen sein, die seinen Rüstungsplänen Widerstand entgegengesetzt hatte, sondern strebte die Zusammenarbeit m i t der NSDAP an, um so eine „nationale Regierung" inthronisieren zu können, die sich für die Beseitigung der parlamentarischen Hindernisse einsetzen lassen würde. Er stellte sich gegen das SA-Verbot, da es seine Strategie durchkreuzte, durch die Wehrverbände, welche er milizartig organisieren wollte, eine Verstärkung der militärischen Position innerhalb des Staates zu erreichen. Trotz aller offenkundigen Gefahren von nationalsozialistischen Umsturzabsichten glaubte Schleicher an die Zähmbarkeit der Hitler-Leute, wenn man sie nur i n die Zwangsjacke der politischen Verantwortung drängen würde. So meinte er auch i m M a i 1932 den Zusicherungen Hitlers vertrauen zu können, die NSDAP würde ein neues Präsidialkabinett tolerieren, sofern das SA-Verbot aufgehoben und Reichstagsneuwahlen zugestanden würden. Wenn letztlich nicht Schleicher selbst, sondern die „großagrarische" Umgebung Hindenburgs den Anstoß zum Sturz Brünings gegeben hatte, so waren doch seine Maßnahmen parallel gelaufen und so konnte er auch unmittelbar nach der Entscheidung eine Alternativlösung anbieten. Sein Papen-Experiment sah ein „überparteiliches" Präsidialkabinett bestehend aus „unabhängigen Fachleuten" vor, dem der General die konstruktive Aufgabe zugedacht hatte, das „Zähmungsprojekt" durchzuführen. Hindenburg soll sich Papen gegenüber geäußert haben, „er möchte endlich einmal ein Kabinett von Männern, die er auch persönlich kenne, 2 Siehe dazu zusammenfassend: Bracher, K . D.: Die Auflösung der W e i marer Republik, I X . K a p i t e l : Die Reichswehr, 5. A u f l . 1971, S. 205 if.

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2. Teil: Reichsjustizminister 1932 - 1941

ein Kabinett, das regiert und nicht bei jeder Kleinigkeit von Parteihändeln abhängig sei 3 ." Tatsächlich bestand dann die Regierung Papen auch nur aus Männern, die das Vertrauen des Marschalls besaßen. Es waren Vertreter oder Mittelsmänner jener militärischen, adelig-agrarischen und großindustriellen Kreise, die ein und dieselbe politische Couleur verband: es einigte sie ihre mehr oder weniger deutschnationale, konservative und antiparlamentarische Haltung. Auffallend war die überwiegend starke Besetzung der Ressorts durch Berufsbeamte, die aus der Verwaltungslaufbahn hervorgegangen waren, eine Konstruktion, von der sich ihre Initiatoren eine widerstandslose Lenkbarkeit des Regierungskurses versprachen. Welcher verhängnisvollen Entwicklung aber gerade dadurch Vorschub geleistet wurde, sollte ja Schleicher persönlich am stärksten zu spüren bekommen. „Die Reichswehrführung, Staat i m Staat seit der Begründung der Republik, hatte die politischen Schlüsselstellungen unterwandert; sie glaubte die Republik zu ihrem Appendix degradiert zu haben und jetzt auch die plebiszitäre K r a f t der politischen Massenbewegung m i t ihrem intakten Befehlsapparat zügeln zu können. Das war die „Lösung", für die i n der politischen Sphäre Papen vorgeschoben wurde 4 ." M i t Reichswehrminister General von Schleicher trat der Drahtzieher der Reichswehrpolitik i n das Rampenlicht der politischen Arena, u m selbst seine Vorstellungen i n die Tat umzusetzen. Seine Vertrauensleute waren E r w i n Planck sowie ab August 1932 Major Mareks als Leiter des Reichspresseamtes, später noch der zum Minister ohne Portefeuille ernannte Reichskommissar für Preußen Franz Bracht. Für die Interessen der „Großagrarier" und „Adeligen" traten ein: Innenminister Freiherr von Gayl, ein Mann, der als früherer Direktor der Ostpreußischen Landgesellschaft schon seit Mitte M a i 1932 wegen des berühmten „Ostsiedelungsprojektes" bei Hindenburg für einen Sturz Brünings eingetreten war, dann der Ostsiedelungskommissar und Ernährungsminister Freiherr von Braun, welcher bezeichnenderweise auf Empfehlung des für seinen ostelbisch-deutschnationalen Kurs bekannten Grafen Kalckreuth berufen worden war und schließlich der Minister für Post und Verkehr Freiherr von Eltz-Rübenach, ein persönlicher Bekannter Papens. Außenminister wurde auf ausdrücklichen Wunsch Hindenburgs der Berufsdiplomat Freiherr von Neurath. Als Vertreter der Schwerindustrie erhielt Hermann Warmbold erneut das Wirtschaftsministerium und wurde auch zunächst m i t dem Geschäftsbereich des Arbeitsministeriums betraut. Er war der einzige, der bereits dem Kabinett Brüning angehört hatte, aber schon früh genug demissioniert war, so daß er nicht i n dessen Sturz verwickelt wurde. Ebenfalls auf Vermittlung der Groß8 4

Papen, Franz von: Der Wahrheit eine Gasse, München 1952, S. 189. Bracher I, S. 468.

.Kap.: Im Umbruch

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industrie, nämlich auf Fürsprache von Hjalmar Schacht, erhielt Graf Schwerin von Krosigk die Leitung des Finanzministeriums, dem er schon als Ministerialdirektor angehört hatte. Die Wahrscheinlichkeit, daß auch Gürtner seine Berufung als Reichsjustizminister i n das Kabinett Papen einem Vorschlag der Interessenverbände der Großindustrie zu verdanken hatte, ist durch schriftliches Material des Redaktionsarchivs der „Deutschen Allgemeinen Zeitung" erhärtet worden, welches Fritz K l e i n i m Rahmen eines Aufsatzes „ Z u r Vorbereitung der faschistischen Diktatur durch die deutsche Großbourgeoisie (1929—1932)" veröffentlichte 5 . Danach hat am Abend des 5. Oktober 1931, also i n der Zeit der Umbildung des Kabinetts Brüning, der ehemalige Reichskanzler Cuno als Vertreter einer Gruppe von Industrie und Banken i n einer Unterredung m i t Hindenburg folgende Kabinettsvorschläge unterbreitet: Regierung Reichskanzler: Brüning Äußeres: v. Neurath, v. Hassel Inneres: Bracht (Oberbürgermeister, Essen) Wirtschaft: Vogler (Ver. Stahlwerke), Springorum (Hoesch) Arbeit: Stegerwald Finanzen: v. Schlieben, Schmitz (IG Farben) Landwirtschaft: Schiele, Frhr. v. Lüning (Westfalen) Verkehr: Fachleute Post: Fachleute 5 Klein, F r i t z : Z u r Vorbereitung der faschistischen D i k t a t u r durch die deutsche Großbourgeoisie (1929—1932), i n : V o n Weimar zu H i t l e r 1930—1933, hrsg. Gotthard Jasper, K ö l n 1968, S. 142 ff. Dem Aufsatz liegt wertvolles I n f o r mationsmaterial zugrunde. Es müssen allerdings gegen Kleins einseitige Faschismusinterpretation stärkste Bedenken geltend gemacht werden, da seine monokausale Erklärung, erst die Kooperation des „Monopolkapitalismus" m i t der N S D A P habe das „ D r i t t e Reich" ermöglicht, für einen v i e l schichtigen Vorgang, w i e er der „Machtergreifung" zu Grunde lag, unbefriedigend sein muß.

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2. Teil: Reichsjustizminister 1932 - 1941

Justiz: Gürtner (Bayern)®, Scholz Reichswehr: Groener Minister ohne Portefeuille: Für organische Umbildung der Verhältnisse von Reich zu Ländern und einer sparsamen Verwaltung i n beiden, . . . Graf Roedern Wenn nun aber der Name Gürtner bereits bei der Bildung eines neuen Kabinetts Brüning von einem Kreis, welcher der Wirtschaft sehr nahe stand, ins Spiel gebracht worden war, so ist es nicht von der Hand zu weisen, daß auch i m Sommer 1932 ein erneuter Vorschlag aus dieser Richtung stammte, zumal Gürtners eigene Partei, die D N V P als solche, nicht i n Frage kommen dürfte 7 . Von wem aber auch immer die Initiative ausgegangen sein mag, Gürtner erfüllte alle Voraussetzungen, die i n Schleichers politisches K a l k ü l paßten: Er war nicht nur ein hervorragender Fachmann, der trotz seiner unzweifelhaft deutschnationalen Gesinnung keineswegs parteipolitisch starr festgelegt war, sondern verfügte auch als langjähriges Mitglied der Regierung Held über Beziehungen zur Bayerischen Volkspartei, die zum damaligen Zeitpunkt zwar schon stark belastet waren, aber doch für eventuelle Koalitionsgespräche von Nutzen sein konnten 8 . Gürtners Stellung und politische Haltung i m Kabinett Papen und dann unter Schleicher kann einmal nach den amtlichen Kabinettsprotokollen und zum anderen auf Grund unveröffentlichter Tagebuchaufzeichnungen seines Kabinettskollegen Graf Schwerin von Krosigk beurteilt werden 9 . Nach den Ausführungen des Finanzministers hatten sich i n der Regierung Papen drei Gruppierungen herausgebildet, wobei Papen selbst m i t den Freiherren v. Gayl und Eltz-Rübenach enger zusammenarbeitete, Schleicher als der mächtigste Ressortinhaber sich m i t Bracht verbunden hatte und Schwerin-Krosigk m i t Gürtner und Neurath einen 6 A u f dem Original der Abschrift ist der Name Gärtner verzeichnet. Der Zusatz (Bayern) macht jedoch klar, daß n u r Gürtner gemeint sein kann. Z u m besseren Verständnis ist dies bereits i n dieser F o r m zitiert worden. 7 Bracher I, S. 470: „ U n d selbst die D N V P bestand auf der Feststellung, daß sie an der B i l d u n g u n d Zielsetzung der neuen Reichsregierung unbeteil i g t sei, i h r gegenüber also keinerlei Bindung habe!" 8 Siehe dazu die Darstellungen des Kapitels „Der bayerische Justizminister". 9 Rathmannsdorfer Haus-Chronik, Aufzeichnungen von Lutz Graf Schwerin von Krosigk v o m 6. November 1932 bis 5. Februar 1933, Captured German Documents, W o r l d W a r I I , National Archives, Washington D.C.

1. Kap.: I m Umbruch

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inneren Kern bildete. A u f Grund der politischen Gesamtlage kann geschlossen werden, daß sich diese Konstellation wegen der verschiedenen Beurteilung einer Projektion vom „Neuen Staat" ergab. Über das gemeinsame taktische Ziel hinaus, der Zähmung der NSDAP, divergierten nämlich die Vorstellungen über eine neuzuschaffende Form des autoritären Staates. Während Schleicher nur an „taktische Machtverschiebungen" des „bestehenden Machtgefüges" dachte, war der Kreis um Papen zur durchgreifenden „Reform" des Staates entschlossen, „die aus der parteien-parlamentarischen Republik ein .überparteilich'»autoritäres, persönliches Regiment machen, an die Stelle des Prinzips demokratischer Gleichheit das Ideal einer organisch' gestuften Ordnung setzen" wollte 1 0 . Eine eigenständige Position fiel der dritten Gruppierung dadurch zu, daß sie einerseits nicht zu den Anhängern eines „Neuen Staates" Papenschen Stils zählte, sich aber andererseits auch nicht zu den eigentlichen Vertrauensträgern des Reichswehrministers rechnen konnte. Da diese Selbständigkeit also nur auf der Nichtzugehörigkeit zu einer der beiden anderen Gruppen basierte, kann keineswegs von einem eigenen politischen Konzept gesprochen werden 11 . Dennoch hat sie für den Sturz Papens den Ausschlag gegeben, w e i l sich ihre drei Vertreter sachlich einseitig jedem Versuch einer Errichtung eines illegalen Regimes entgegenstellten und sich Schleicher daher i m entscheidenden Moment seiner Abkehr von Papen nur m i t ihnen zu arrangieren brauchte, um eine Isolierung Papens und Gayls herbeizuführen, von der er bei seiner Betrauung zum Reichskanzler profitierte. Innerhalb dieses Rahmens werden die Stellungnahmen Gürtners i m Kabinett nach den beiden Reichstagswahlen vom 31. J u l i und 6. November 1932 verständlich. Nach der ersten Wahl, deren Ergebnis eine akute Gefahr für die Regierung heraufbeschworen hatte, da ihre einzigen parlamentarischen Stützen, die D N V P und DVP, empfindlich geschwächt worden waren und eine Koalition zwischen NSDAP und Zentrum i n den Bereich des Möglichen rückte, was eine positive Mehrheit zur Folge gehabt hätte, bestand für Papen nur eine Alternative: entweder Zusammenarbeit m i t Hitler oder erneute Auflösung des Reichstages. I n dieser Phase glaubte nun Schleicher endlich seinen Plan einer Zähmung der Nationalsozialisten verwirklichen zu können, nachdem die bisherigen 10

Bracher I , S. 471—472. Bei Schwerin-Krosigk, Gürtner u n d Neurath sollte sich innerhalb des Papen-Kabinetts der paradoxe Charakter des Begriffs „unabhängige Fachleute" am stärksten offenbaren. Einerseits traf f ü r diese aus der Verwaltungslaufbahn hervorgegangenen hohen Beamten das Prädikat „unabhängig" zu, da sie ihre Berufung i n erster L i n i e ihrer fachlichen Qualifikation zu verdanken hatten, aber andererseits sollte sich ihre durch keine politische I n t e r essengruppe abgesicherte Position als i m höchsten Maße „abhängig" von der jeweiligen Machtkonstellation der beiden politischen Kontrahenten Papen u n d Schleicher erweisen. 11

8 Reitter

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Bemühungen für eine Tolerierung Hitlers für Papen gescheitert waren. Seine erneute Initiative galt einer Präsidialregierung Hitler, der durch Reichswehrführung und Staatsapparat genügend starke Fesseln angelegt werden sollten. Gegen diese „Lösung" versuchten Gayl und Papen — letzterer hatte schon am Wahltag erklärt, er würde sich keinesfalls um die Bildung einer Koalition bemühen — ungeachtet der Haltung der NSDAP auf die langfristige Ausschaltung des Reichstages hinzuarbeiten, um sodann den langgehegten Wunsch einer „Verfassungsreform" gestützt auf A r t . 48 m i t dem Ziel einer Bildung eines Zweikammersystems sowie eines neuen Wahlverfahrens zu verwirklichen. Als Gayl i n der Kabinettssitzung vom 10. August für derartige Staatsstreichpläne plädierte, opponierten sowohl Schwerin-Krosigk als auch Gürtner und unterstützten damit direkt Schleichers Pläne. Laut Protokoll äußerte sich Schwerin-Krosigk folgendermaßen: „Wenn die öffentliche Meinung dam i t rechnen müsse, daß die gegenwärtige Regierung noch nicht endgültig i m Sattel sitze und daß die Nationalsozialisten noch ante portas seien, trete die politische Beruhigung sicherlich nicht ein. Er halte den Eint r i t t der Nationalsozialisten i n die Reichsregierung für weniger gefährlich als das Fortbestehen des ungewissen Schwebezustandes. Wenn man sich frage, ob man den Bürgerkrieg besser vermeide durch das Hineinziehen der Nationalsozialisten oder durch deren Ausschaltung, m i t Fortbestand der SS- und SA-Formationen, so müsse er sagen, daß er es für richtiger halte, den Wilddieb zum Förster zu machen, d. h. die Nationalsozialisten in die Regierung hineinzunehmen 12 ." Gürtner schloß sich dieser Meinung an und argumentierte, daß das Kabinett nicht i m A m t bleiben könnte, ohne daß gegen die Reichsverfassung verstoßen würde. Wenn man sich jedoch entschließen sollte, „den von dem Reichsminister des Innern vorgeschlagenen Weg des Fortbestandes des Präsidialkabinetts zu gehen, werde er als Reichsminister der Justiz dem Herrn Reichspräsidenten auf die zweifellos von diesem zu erwartende Frage nach den verfassungsrechtlichen Möglichkeiten dieses Weges pflichtgemäß antworten müssen, daß der Weg ohne Bruch der Verfassung nicht gegangen werden könnte. Die Entscheidung werde daher letzten Endes bei dem Herrn Reichspräsidenten liegen 13 ." Als nach den Novemberwahlen abermals die Staatsstreichpläne i m Kabinett zur Debatte standen und diese anfangs sogar von Schleicher unterstützt wurden, blieben Schwerin-Krosigk, Gürtner und Neurath wiederum weitgehend bei ihrer ablehnenden Haltung. Nachdem i n der Kabinettssitzung vom 9. November 1932 sich Gayl äußerte, daß für „ge12

B A : R 43 1/1309 — Auszug aus der Niederschrift über die Ministerbesprechung v o m 10. August 1932, S. 12—13. 13 a.O. S. 14. Siehe dazu auch Meissners Aufzeichnung enthalten i m Nachlaß Hindenburg, abgedruckt bei: Hubatsch, Walther: Hindenburg u n d der Staat, Göttingen 1966, S. 337—338.

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wisse Zeit" sich die Diktatur nicht vermeiden lassen werde, sofern eine Tolerierung der Parteien nicht erreicht werden könnte 14 , eine zu diesem Zeitpunkt bereits feststehende Tatsache, hielt Schwerin-Krosigk dem entgegen, daß es die Pflicht der Reichsregierung wäre, „die Zusammenfassung aller nationalen Kräfte ehrlich zu erstreben 15 ", und auch Gürtner gab seiner Besorgnis darüber Ausdruck, daß er die wirtschaftliche Situation dann als besonders ernst ansehe, „wenn das Kabinett gezwungen sein sollte, ohne jede politische Untermauerung zu arbeiten . . . I m übrigen bitte er, die Schwierigkeiten nicht zu unterschätzen, die entstehen würden, wenn die Regierung nach abermaliger Auflösung des Reichstages nicht wieder wählen lasse. Die Massen des Volkes müßten davon überzeugt sein, daß eine Neuwahl zum Reichstag unter den gegebenen Verhältnissen nicht verantwortet werden könne 16 ." Ungeachtet dieser Bedenken ihrer Ministerkollegen versuchten jedoch Papen und Gayl die Vorbereitungen für eine radikale Lösung, welche aber die Einsatzbereitschaft der Reichswehr bei zu erwartenden Unruhen voraussetzte, weiter voranzutreiben. Gerade dieses Risiko, die Reichswehr i n einem Bürgerkrieg einsetzen zu müssen, wollte Schleicher hinwiederum just zu einem Zeitpunkt vermeiden, wo ihm die Chance günstig erschien, durch eine Abspaltung des Strasser-Flügels einen Teil der NSDAP zu isolieren und dadurch den anderen zur politischen Bedeutungslosigkeit zu verdammen. Inwieweit eine solche Spaltung Schleichers Plänen zugute gekommen wäre, läßt sich heute nur schwer beurteilen, da sich die Zahl der Strasser-Anhänger nicht einmal annähernd schätzen läßt. Dennoch kann man sagen, daß die Gefahr für Hitler, den Machtanspruch zu verlieren, zu dieser Zeit nicht gering gewesen sein muß, was sich schon durch die späte Rache Hitlers an den beiden Exponenten andeutet. Wie auch immer, Schleicher bot i n dieser Richtung eine konstruktive Möglichkeit an und erreichte durch sein Argument, die Reichswehr wäre höchstwahrscheinlich einem Ausnahmezustand nicht gewachsen, was er durch die Ott-Studie wirkungsvoll unterstreichen ließ 17 , innerhalb des Kabinetts die Isolierung von Papen und Gayl. Gerade der innere K e r n um Schwerin-Krosigk war es dann auch, der Hindenburg drängte, Schleicher zum Reichskanzler zu ernennen, wozu sich dieser endlich schweren Herzens bewegen ließ. Ob sich daran auch Gürtner aktiv beteiligt hat, scheint durch eine Aussage Papens fragwürdig. Papen 14

B A : R 431/1458 — Niederschrift über die Ministerbesprechung v o m 9. November 1932, S. 2—4. 15 a.O. S. 6. 16 a.O. S. 8. 17 Es ist ungeklärt, inwieweit die Ott-Studie den Tatsachen entsprach, als sie die militärischen Eingriffsmöglichkeiten i n einem Bürgerkrieg als unzulänglich einschätzte. A u f alle Fälle hat sie ihre W i r k u n g auf das Kabinett nicht verfehlt, so daß sie für Schleicher zu einem wirksamen politischen Druckmittel gegen Papen wurde.

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schreibt i n seinen Memoiren 18 , nach seiner Unterredung m i t Hindenburg am 1. Dezember, i n der sich der Reichspräsident noch einmal zu seinen Gunsten entschieden hatte, habe sich Gürtner dazu bereit erklärt, ihm bei seiner Lösung der Staatskrise zu helfen, da dieser der Ansicht gewesen wäre, daß ein akuter Staatsnotstand vorläge. Demnach kann Gürtner nicht zu den Akteuren des Papen-Sturzes gezählt haben, obw o h l es seiner gesamten politischen Einstellung, die er noch am 9. November unterstrichen hatte, entsprochen hätte. A u f der anderen Seite läßt sich schwer beurteilen, inwieweit hinter seiner Bereitwilligkeit ernsthafte Absichten gestanden haben, da nicht bekannt ist, ob er i n dieser Richtung tätig wurde. A u f alle Fälle w i r d man sagen können, daß er sich m i t Geschick alle Türen offengehalten hat, denn sonst wäre er m i t Sicherheit nicht i n das Kabinett Schleicher berufen worden 1 9 . Gerade die Situation Anfang Dezember zeigt schlagartig den bei aller scheinbaren Flexibilität eingeengten Rahmen von Entscheidungsmöglichkeiten, der einem reinen Fachminister wie Gürtner verblieben war. M i t seinem E i n t r i t t i n die Regierung Papen hatte er seinen einzigen parteipolitischen Rückhalt verloren und vermochte nun nicht mehr, als seine sachliche Mitarbeit anzubieten, die jedoch ohnmächtig dem jeweiligen machtpolitischen Wechselspiel ausgeliefert war. Ohne den nötigen politischen background aber war ein Minister i n einem Präsidialkabinett lediglich ein übergeordneter Verwaltungsbeamter, der nur das zu t u n hatte, wozu ihn seine Laufbahn prädestinierte, „loyal und i n sachlicher Arbeit, unbeirrt durch die Tagespolitik, dem Staat" zu dienen 20 . Wie ausschließlich sich Gürtner von dieser Maxime leiten ließ, beweist seine Haltung zu den jeweiligen Aktivitäten Schleichers und Papens, sie ist aber auch Schlüssel für seine Motivierung, in ein Kabinett H i t l e r einzutreten, diesem sein fachliches Wissen zur Verfügung zu stellen und schließlich auszuharren, um „Schlimmeres" zu verhüten. Gürtners politische Handlungsweise i n der Ä r a Papen war von der Lenkung des Regierungskurses durch die beiden politischen Willensträger abhängig, d. h., so lange um eine gemeinsame Meinungsbildung innerhalb des Kabinetts gerungen wurde, wozu sich immer dann Gelegenheit bot, wenn die beiden politischen Exponenten sich über die Verfolgung der Ziele uneins waren, verfügte Gürtner innerhalb der 18

v. Papen, S. 246. Es spricht f ü r sich, w e n n Gürtner i n der letzten Kabinettssitzung unter Papens Vorsitz dem allgemeinen Trend folgte u n d auch der Forderung K r o sigks zustimmte, daß Schleicher Kanzler werden müsse. Siehe dazu: Dorpalen, Andreas: Hindenburg i n der Geschichte der Weimarer Republik, B e r l i n 1966, S. 371—372. 20 Meißner, Otto: Staatssekretär unter Ebert, Hindenburg, Hitler. Der Schicksalsweg des deutschen Volkes von 1918—1945, w i e ich i h n erlebte, H a m b u r g 1950, S. 318. 19

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„freien Gruppe" über einigermaßen Spielraum und durfte sich sogar i n der entscheidenden Schlußphase der Polarisierung zu denen rechnen, die das Zünglein an der Waage waren, immer dann aber, wenn Papen und Schleicher sich über gemeinsame Maßnahmen verständigt hatten, verblieb ihm lediglich die Möglichkeit, sachlich mitzuarbeiten oder zu demissionieren. Die praktische Tagespolitik i n dieser Zeit ist dafür Beweis. Das gewisse Maß an Entscheidungsfreiheit besaß Gürtner nach den beiden Reichstagswahlen Anfang August und Mitte November, als Gayls und Papens Diktaturpläne zur Disposition standen. I n diesen Monaten konnte er sich noch grundsätzlich entweder Papens „Neuem Staat" oder Schleichers „Lösung" zuwenden. Bei seiner Motivation, eine Verkettung persönlicher und sachlich-politischer Einsichten 21 , sich innerhalb des Kabinetts i n Opposition zu Papen und Gayl zu stellen, darf aber nicht übersehen werden, daß seine Loyalität dem Staatsoberhaupt gegenüber für ihn außer Frage stand. Aus dieser Loyalität heraus hätte er sich jeder präsidialen Entscheidung unterworfen, selbst wenn sie sich zugunsten einer von i h m nicht vertretenen Meinung ausgewirkt hätte. So gesehen w i r d aber nicht nur sein Argument vom 10. August in einem größeren Zusammenhang verständlich, er werde den Reichspräsidenten pflichtgemäß nach den verfassungsrechtlichen Möglichkeiten des vom I n nenminister vorgeschlagenen Weges unterrichten, damit dieser letzten Endes die Entscheidung fällen könnte, sondern auch seine trotz aller grundsätzlichen Bedenken vom 9. November verbindliche Zusage gegenüber Papen am 1. Dezember, er werde sich zur Verfügung halten, da Hindenburg ihm (Papen) das Vertrauen ausgesprochen hätte und tatsächlich ein Staatsnotstand vorläge. A u f jede politische Einflußmöglichkeit hingegen mußte Gürtner verzichten, wenn sich Papen und Schleicher auf eine gemeinsame Basis der Politik geeinigt hatten. Dies zeigt seine Haltung gegenüber Papens „Preußenschlag". Es ist bezeichnend, wenn Hermann Pünder in seinen Aufzeichnungen folgendes vermerkt: „Die Vorbereitung i n der Preußenfrage sei sehr theatralisch gewesen. Der Innenminister von Gayl und der Justizminister Gürtner hätten sich i m letzten Augenblick gegen den Plan ausgesprochen! Schleicher äußerte sich überhaupt nicht sehr w a r m über diese beiden Minister. Papen, der i n solchen Situationen immer 21 Gürtners H e r k u n f t u n d seine Antipathie gegen Adelscliquen u n d „ H o f schranzen", welche sich schon i n den Briefen vor dem Ersten Weltkrieg findet, w a r e n für i h n persönliche Gründe genug, dem Gedankengut des aristokratischen Berliner Herrenclubs ablehnend gegenüber zu stehen. H i n z u kamen die aus seiner bayerischen Zeit nachklingende föderalistische Einstellung deutschnationaler Prägung u n d die i n 10jähriger Praxis als Minister erworbene Uberzeugung, daß jede Regierung einer breiten politischen Basis bedürfe, die i h n sachlich dazu bewogen, gegen den „Neuen Staat" i m Sinne Papens Stellung zu nehmen.

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erfreulich deutlich sei, habe den beiden Herren einfach erklärt, dann müsse es eben ohne sie beide gehen! Darauf hätten Gayl und Gürtner aber eingeschwenkt und gesagt, wenn der Reichskanzler und der Reichswehrminister mitmachten, seien sie schließlich auch bereit 2 2 ." I m gleichen Zusammenhang ist die Begründung des Reichsjustizministers Gürtner für den Gnadenakt der Potempa-Mörder zu sehen, i n der er meinte, den Mördern Unkenntnis der erst einen Tag vor dem Mord erlassenen Verordnung, die den „Burgfrieden" bis zum 31. August verlängerte und für politische Gewalttaten verschärfte Strafandrohung bis zur Todesstrafe ankündigte, zubilligen zu können 23 . Es waren dies m i t die ersten aus einer langen Reihe von Fällen politischer Vorleistungen und Begünstigungen aus dem national-konservativen Lager für Hitler, die Gürtner glaubte i m Interesse der übergeordneten Staatsautorität und zugunsten seiner eigenen „ruhigen" Justizarbeit als Reichsminister sanktionieren zu müssen. A m Beispiel Gürtners offenbart sich die gesamte Tragweite der eminenten Gefahr, welche eine bewußt an den Parteien vorbei konstruierte „Präsidialregierung" bestehend aus „unabhängigen Fachleuten" für den Fortbestand der Republik bedeutete. Ohne Fundierung i n den parlamentarischen Parteien mußte das Experiment Papen scheitern, da es seiner Anlage nach nicht geeignet war, die Macht der Staatsautorität zu vergrößern, sondern i m Gegenteil das schon bestehende „Machtvakuum" erweiterte. Es war ein großer Irrtum, wenn man glaubte, auf eine breite parlamentarische Basis verzichten und nur auf den beiden Säulen „Reichspräsident" und „Reichswehr" einen „Neuen Staat" ins Leere bauen zu können. Wenn man auch Schleicher w i r d zubilligen müssen, i m Gegensatz zu Papen diese Gefahr immer erkannt zu haben 24 , so darf nicht übersehen werden, daß gerade seine politische Strategie jene innere Aushöhlung des Weimarer Staates bewirkte, die zum Zusammenbruch führen mußte. Seine verzweifelten Bemühungen i n den beiden Monaten seiner Kanzlerschaft haben nicht mehr ausgereicht, eine Beruhigung des politischen Klimas herbeizuführen, die allein die Grundlage gewesen wäre, eine Machtergreifung des Nationalsozialismus zu verhindern. Schleicher wollte die Fehler des Papen-Kurses, den er weitgehend m i t getragen hatte, vergessen machen, wußte dabei aber nichts besseres, als 22

Pünder, Hermann: P o l i t i k i n der Reichskanzlei, Aufzeichnungen aus den Jahren 1929—1932, i n : Schriftenreihe der V j h f Z g Nr. 3, hrsg. T h i l o Vogelsang, Stuttgart 1961, S. 149. 23 Bracher I, S. 543. 24 Schwarz, S. 191: „Schleichers K a l k ü l . . . beruhte nicht w i e die E r w a r t u n gen anderer Gegner des Nationalsozialismus auf der Unterschätzung Hitlers, sondern auf einer richtigen Einsicht i n die soziologische S t r u k t u r des Nationalsozialismus vor der M a c h t e r g r e i f u n g . . . "

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zur Politik Brünings zurückzukehren, was nicht zuletzt die Kamarilla des Präsidenten, zu der sich ja Papen rechnen durfte, aufschrecken ließ. Was konnte man von einem Mann erwarten, der um der Stärkung eines autoritären Regimes willen seinerzeit seine Hand geliehen hatte, Brüning wegen seiner Ausgleichspolitik zu stürzen, und der nun selbst sich um ein besseres Verhältnis zu allen Parteien bis h i n zur SPD bemühte? War nicht ein Mann für die Wirtschaftsbosse gefährlich, der m i t den Gewerkschaften verhandelte, sich für eine Verbesserung der Sozialversicherung einsetzte und m i t planwirtschaftlichen Ideen spielte, selbst wenn er dem Reichsverband der Deutschen Industrie versprochen hatte, seine Forderungen zu unterstützen? Und mußte nicht schließlich die Autorität eines Präsidialkabinetts durch Aufhebung innenpolitischer Sonderverordnungen und Strafbestimmungen i n Frage gestellt werden? Hatte Schleicher bei letzteren noch auf die sachliche M i t w i r k u n g seiner Ressortchefs, die sie ihm ohne politischen Vorbehalt gewährten, bauen können, so griff jedoch Unsicherheit i n der Ministerrunde um sich, als die Regierung durch die Hereinnahme von Parteileuten umgebildet werden sollte. Staatssekretär Meißner von der Präsidialkanzlei sah die Stellung des Reichspräsidenten gefährdet, Außenminister Neurath meldete seine Bedenken an, wenn man den Gedanken des Präsidialkabinetts verlasse und sich einem Parteienkabinett zuwende und Gürtner bezweifelte, „ob sich die Fach- und die Parteiminister zu gemeinsamer Arbeit finden würden 2 5 ". Jetzt mußte also Schleicher erfahren, wie sich sein eigenes Konzept gegen ihn wandte. Die Lenkbarkeit der „unpolitischen" Minister war i n Frage gestellt. Bei Papen hatten sie sich noch gegen den politischen Kontrahenten einsetzen lassen, jetzt aber wehrten sie sich gegen die Konkurrenz politisch Mächtigerer. Der General wollte es jedem recht machen und hinterließ doch nur Unsicherheit und Ratlosigkeit! So manövrierte er sich selbst i n den Untergang und dies zu einer Zeit, als sich die äußeren Voraussetzungen zu bessern begannen: die Arbeitslosenzahl sank um ein Drittel im Vergleich des Vorjahres, der Fehlbetrag des Haushaltes verminderte sich wesentlich und der politische Radikalismus war i m Abklingen begriffen. Dennoch blieb dem Kanzler das einzige, was ihm noch hätte helfen können, die Spaltung der NSDAP, versagt. Strasser hatte sich auf der Führertagung am 5. Dezember i m Berliner Kaiserhof nicht gegen Hitler durchsetzen können. Die Auseinandersetzung m i t dem kompromißlosen „Führer" stürzte jedoch die Partei i n eine ernsthafte Krise, die sich durch die Niederlegung sämtlicher Parteiämter und des Reichstagsmandats Strassers noch verschärfte. Hitler gelang es aber, „die Unterführer neuerdings und straffer als je zuvor auf sich zu verpflichten. Gregor Stras25 B A : R 431/1310 — Auszug aus der Niederschrift über die Ministerbesprechung v o m 16. Januar 1933, S. 6—7.

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ser — m i t dessen Hilfe Schleicher die Nationalsozialistische Partei hatte zerklüften wollen, um m i t ihm dann ein Bündnis einzugehen — floh förmlich aus allen seinen Ämtern, deren wichtigstes das des Reichsorganisationsleiters gewesen war. I n seine Machtstellung rückten Goebbels und Göring ein, die sich fortab stärker an Hitler gebunden fühlten 2 6 ". A l l e i n die zeitweilige Unsicherheit der NSDAP war Schleicher für einige Wochen von Nutzen, nicht aber die politische Resignation Strassers, i m Gegenteil, diese hat Hitlers Bestreben nur noch mehr angestachelt, die Macht um jeden Preis zu erringen, um die wankende Haltung bis i n die untersten Parteiinstanzen zum Stillstand zu bringen. Als er i n Papen schließlich m i t Hilfe der Großindustrie am 4. Januar seinen „Steigbügelhalter" gefunden hatte, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Hindenburg Schleicher fallen lassen würde. Das „Dritte Reich" stand vor der Tür. 2. Minister unter Hitler Die Hintergründe über den verzögerten Eintritt Gürtners i n das Kabinett Hitler — die Berufung erfolgte erst am 1. Februar — können nicht eindeutig aufgeklärt werden, obwohl einige Umstände den Schluß nahelegen, er selbst habe die schicksalschwere Entscheidung hinausgeschoben. Gegen die Möglichkeit, Hitler könnte die Berufung bis zum 1. Februar durch die Forderung, das Justizministerium m i t einem Nationalsozialisten zu besetzen, verhindert haben, spricht die Aussage Hans Franks, eines ernsthaften Anwärters auf dieses A m t aus den Reihen der NSDAP. Frank schreibt in seinen Erinnerungen „ I m Angesicht des Galgens", die er 1945 i m Militärgefängnis Nürnberg verfaßte, Hitler habe i h n bereits am 30. Januar darüber informiert, daß Gürtner i m A m t bleibe 27 . Wenn man Frank i n dieser Hinsicht Glauben schenken darf, so kann man daraus schließen, daß sich beide Bündnispartner über die Person Gürtner bereits vor der Vereidigung der neuen Regierung verständigt hatten, d. h. aber, daß auch die zweite Möglichkeit auszuschließen ist, wonach Papen oder Hugenberg eine Wiederberufung Gürtners für unerwünscht hielten. Somit bliebe also nur noch die Wahrscheinlichkeit, daß Gürtner selbst bis zum 31. Januar unentschlossen war. Doch welche Beweggründe mögen dabei entscheidend gewesen sein? Zunächst muß festgehalten werden, daß die spätestens am 26. Januar v o l l sichtbare Entschlossenheit Hindenburgs, Schleicher die Reichstagsauflösungsorder nicht zu gewähren, gerade bei der Gruppe Gürtner, Schwerin-Krosigk und Neurath Unsicherheit auslöste, da ja jetzt nur mehr ein Kabinett möglich schien, an dem Papen wieder maßgeblich * Schwarz, S. 190. Frank, Hans: I m Angesicht des Galgens, Deutung Hitlers u n d seiner Zeit auf G r u n d eigener Erlebnisse u n d Erkenntnisse, Neuhaus 1955, S. 105. 27

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beteiligt sein würde. Gerade eine solche Lösung mußte aber zunächst bei denen auf Ablehnung stoßen, die noch vor zwei Monaten an dessen Sturz mitgewirkt hatten. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn Schwerin-Krosigk unterstützt von Neurath i n der Kabinettssitzung am 28. Januar ernsthafte Bedenken gegen ein Kabinett Papen—Hugenberg erhob, da er dadurch die Gefahr einer Staats- und Präsidentenkrise befürchtete. Er schlug dem Kanzler Schleicher vor, dieser möge den Reichspräsidenten bitten, sich von einigen Kabinettsmitgliedern „objekt i v über die gegenwärtige politische Lage unterrichten zu lassen 28 ". Doch als die endgültige Entscheidung Hindenburgs noch am selben Tag die Regierung Schleicher zwang, zurückzutreten, hat man aus diesem Kreis darauf verzichtet, die eigene Meinung zu vertreten. Eigentlich hätten nun daraus die Konsequenzen gezogen werden müssen. Wenn es aber stattdessen zur überraschenden Ubereinkunft m i t Papen kam und damit zum E i n t r i t t in das Kabinett Hitler, so w i r d die Loyalität zum Staatsoberhaupt, das um M i t w i r k u n g gebeten hatte, den Ausschlag gegeben haben. Man wollte die ohnedies geschwächte Position Hindenburgs nicht noch mehr i n Gefahr bringen und meinte daher, sich seiner Bitte nicht entziehen zu können, zumal die Gerüchte, Schleicher und Hammerstein könnten durch einen Putsch eine Militärdiktatur errichten, nicht ganz von der Hand zu weisen waren, eine Gefahr, vor der sich Schwerin-Krosigk „eines leichten Grauens nicht erwehren konnte 2 9 ". Wieder einmal hatte sich also der Mythos Hindenburg als bindende K r a f t erwiesen, dem man als deutsch-national fühlender Mann sich nicht entziehen konnte. Der Marschall appellierte an das Pflichtgefühl zur Staatsautorität und man ging an seine Arbeit, trotz aller Bedenken und trotz besseren Wissens, so, als gälte es, i n eine schon verlorene Schlacht zu ziehen, um wenigstens die Ehre des Vaterlandes zu retten. Für einen Moment, i n den Tagen vom 28. bis zum 31. Januar, schien es, als würde sich Gürtner all dem entziehen können, als würde er seine Einsicht höher stellen, als die Ergebenheit zum Präsidenten. Schon unter Papen hatte er erkannt: „Die nationalsozialistische Staatsidee stütze sich stark auf den Vergeltungsinstinkt. Sie wende sich gegen zwei Kategorien von Staatsbürgern, 1. gegen die Juden, die für sie das Symbol des Finanzelends seien und 2. gegen die wirtschaftlichen Sünder, die sie m i t dem Schlagwort „Marxisten" bekämpfen 30 ." Gürtner hatte es schon damals als Illusion bezeichnet, zu meinen, man könnte die Nazis an einer Regierung beteiligen, ohne ihnen die Führung zu übertragen. Jetzt, wo dies 28 B A : R431/1310 — Auszug aus der Niederschrift über die Ministerbesprechung v o m 28. Januar 1933, S. 3. 29 Bracher-Sauer-Schulz, S. 415, A n m . 160. 80 B A : R 43 1/1309 — Auszug aus der Ministerbesprechung v o m 10. August 1932, S. 14/15.

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eingetreten war, w i r d er geahnt haben, i n welche Gefahr sich die national-konservativen Kreise begaben, nachdem sich Hitler m i t seiner Forderung, erneut Reichstagswahlen abzuhalten, durchgesetzt hatte. Es lag für einen aufmerksamen Beobachter auf der Hand, daß die NSDAP rigoros alle M i t t e l ausschöpfen würde, die gesamte Macht an sich zu reißen, wenn ihr dazu einmal in vollem Umfang die Gelegenheit geboten würde. Daß dies dann für die Justiz die schwersten Folgen haben konnte, war offensichtlich. Und trotz alledem meinte auch Gürtner, sich aus Solidarität zum Präsidenten der Verantwortung nicht entziehen zu können 31 . So verblieb er auf seinem Posten, darum bemüht, i n sachlicher Weise daran mitzuwirken, den ungestümen Elan des Nationalsozialismus zu bremsen und i n die geordneten Bahnen eines Rechtsstaates zu lenken. Wie sehr dies Illusion bleiben mußte, sollte er bereits i n den ersten Wochen und Monaten von Hitlers Kanzlerschaft erleben. I n der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 30. Juni 1934 vollzog sich i m öffentlichen Leben Deutschlands das, was man die Entfaltung der legalen Revolution genannt hat 3 2 . Den Weg des Reichskanzlers Hitler hatte der Parteiführer Hitler am 25. 9. 1930 gewiesen: „Die Verfassung schreibt nur den Boden des Kampfes vor, nicht aber das Ziel. W i r treten i n die gesetzlichen Körperschaften ein und werden auf diese Weise unsere Partei zum ausschlaggebenden Faktor machen 33 ." Der „ T a k t i k der Legalität" entsprechend, benutzte Hitler das Bündnis mit den nationalkonservativen Kräften für die national-sozialistische Machtergreifung. Während die bürgerlichen Parteien und damit auch die acht konservativen Minister, denen nur Hitler selbst, Frick als Innenminister sowie Göring als Minister ohne Geschäftsbereich gegenüberstanden, monatelang wähnten, durch die Bürde der Verantwortung die Nationalsozialisten zu zähmen oder allmählich m i t Hilfe des Reichspräsidenten zu isolieren, und Hitler durch seine national-konservative Phraseologie der ersten Wochen dies zu bestätigen schien, setzte der „Führer" eine Ausnahmeverordnung nach der anderen durch, und das bereits vor Billigung des Ermächtigungsgesetzes durch den Reichstag am 22./23. März 1933. Unter Hinweis auf die kommunistische Gefahr vor allem nach der Reichstagsbrandaffäre forderte und bekam Hitler Verordnungen „ Z u m Schutz von Volk und Staat", die auf Grund des A r t . 48 Abs. 2 der Reichs Verfassung i n rigoroserWeise Grundrechte einschränkten, oder bis „auf weiteres" außer K r a f t setzten. 31 Die Annahme, daß Gürtner bei seiner Berufung einem persönlichen A p pell Hindenburgs gefolgt ist, w u r d e von Frau Luise Gürtner bestätigt. 32 Bracher, K . D.: Die deutsche Diktatur, Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus. K ö l n — B e r l i n 1970, S. 209 ff. 33 Schüddekopf, Otto Ernst: Das Heer und die Republik, Quellen zur Polit i k der Reichswehrführung 1918 bis 1933, Hannover—Frankfurt 1955, S. 265 ff.

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Die Tatsache, daß alle wichtigen gesetzlichen Maßnahmen und Verordnungen der Regierung Hitler von Gürtner unterzeichnet wurden, hat M a r t i n Broszat veranlaßt, ihm vorzuwerfen, es wäre i h m damit gelungen, „Stellung und Ressort, nicht aber das Recht zu bewahren* 4 ". Es erscheint indessen fraglich, ob eine derart pauschale Wertung i n der Lage ist, wesentlich zum Verständnis der Haltung von Hitlers erstem Justizminister beizutragen, da sie den Rahmen von Entscheidungsmöglichkeiten, innerhalb dessen nur etwas geschehen konnte, außer Acht läßt. Bei der Beurteilung eines einzelnen Ministers unter Hitler darf nämlich weder der Dualismus Staat—Partei, welcher der Legalitätstakt i k Hitlers zugrunde lag, noch die Veränderung der Kabinettsstruktur von Februar bis März 1933 vergessen werden: „Berufung eines Präsidialkabinetts Hitler, seine Verwandlung i n eine Rationale 4 Mehrheitsregierung durch Neuwahlen und seine Ausstattung m i t einer neuen, nicht-präsidialen Diktaturgewalt durch ein Ermächtigungsgesetz, das, m i t parlamentarischer Zweidrittelmehrheit angenommen, sowohl die Reichstagsgesetzgebung als auch die präsidiale Notverordnungspraxis nach A r t . 48 überflüssig machen sollte 35 ." N u r wenn man diese Vorgegebenheiten berücksichtigt, w i r d es möglich sein, Gürtners Verantwortung für sein Wirken zu ermessen, d. h. man w i r d erst dann ein moralisches Urteil fällen können, wenn die Vermittlung des Individualethischen zu den Strukturen des totalitären, nationalsozialistischen Systems hergestellt ist. Hitlers Erfolge bis zur Röhmaffäre sind nicht so sehr auf die Wirkung seiner pathetischen Appellationen für ein notwendiges Zusammenhalten aller nationalen Kräfte in dieser einen „überparteilichen, nationalen Revolution" zurückzuführen, wiewohl man sich davon i m bürgerlichen Lager sehr beeindrucken ließ, als vielmehr auf die geschickte Aufrechterhaltung eines Dualismus von „Staat" und „Partei". M i t dieser Taktik wurde folgender doppelseitiger Effekt erzielt: einmal konnten die Fachleute und Beamten des Weimarer Staates, auf die die Nationalsozialisten nicht verzichten durften, um den komplizierten und hochentwikkelten Staatsapparat nicht zu gefährden, zur Mitarbeit gewonnen werden und zum anderen gelang es dem Führer der NSDAP, die einzelnen Parteigremien i n seinem Sinne zu lenken, d. h. entweder i n Schach zu halten oder gegen den Staat aktiv einzusetzen. Dadurch, daß Hitler den einzelnen Ressorts vermehrte Kompetenzen übertrug, und das hieß, wenn auch nur scheinbar, größere Macht, handelte er sich den Beifall der einzelnen Minister ein, und dadurch, daß er die NSDAP eng an den Staat knüpfte, aber nicht m i t ihm verschmelzen ließ, förderte er die Umgestaltung des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen 34 35

Broszat, M a r t i n : Z u r Perversion der Strafjustiz, i n : V j h f Z g 1958, S. 398. Bracher-Sauer-Schulz, S. 154—155.

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Bereichs i m nationalsozialistischen Sinne, verhinderte aber dort, wo es i h m nicht ratsam schien, weil es für ihn selbst gefährlich werden konnte, das allzu eifrige Vorrücken einiger Parteigenossen. „Der Führer stand als einziger über dem W i r r w a r r der Zuständigkeiten und Befehlsreihen, die fast allen Beteiligten, Nationalsozialisten und Nichtnationalsozialisten, ihre Hoffnungen ließ, sie an das Regime band; er war der oberste Schiedsrichter, dessen omnipotente Stellung durch alle Rivalitäten der Unterführer, alle Konflikte zwischen Staat und Partei, Wehrmacht und SA, Wirtschaft und Verwaltung immer neu bestätigt wurde; er konnte, indem er den einen gegen den anderen ausspielte und jedem recht zu geben schien, die eigene Macht desto unangefochtener behaupten und steigern 36 ." Es ist für den Machtmechanismus des Dritten Reiches bezeichnend, daß dieser Dualismus, wenn sich auch die Gewichte immer mehr zu Gunsten der „Partei" verschoben, i n den zwölf Jahren seines Bestandes ebenso nicht aufgehoben wurde wie die Weimarer Verfassung, die durch das Mittel der Ausnahmegesetzgebung beliebig oft umgangen werden konnte und dadurch „ i n K r a f t " blieb. I m Bereich der Justiz war die Trennung von „Partei" und „Staat" von besonderer Bedeutung, da hier nicht nur Partei- und Staatsjuristen miteinander rivalisierten, sondern eine dritte „justizfremde" Gruppe ihre eigenen, „justizfreien" Vorstellungen von „Recht" und „Gesetz" i n die Tat umzusetzen bestrebt war. Während sich leitende Staatsbeamte i n Gesetzgebung und Justizverwaltung unter Reichs justizminister Gürtner bald nach der „Machtergreifung" i n einem heftig geführten Kompetenzstreit m i t den Rechtsorganisationen der NSDAP unter Reichsjustizkommissar und Reichsrechtsführer Hans Frank befanden, es dabei aber inhaltlich immer noch um die Umgestaltung des Rechts i m nationalsozialistischen Sinne ging, handelte zunächst die SA und dann die SSGruppierung um Himmler und Heydrich glattweg jeder Rechts-, ja sogar jeder Gesetzesstaatlichkeit zuwider und stellte damit einen eigenständigen, auch nationalsozialistischen Justizapparat i n Frage. Wenn bei dieser Konstellation schließlich der SS die größte Machtfülle zufallen sollte, so lag das an der Parteinahme des „Führers", der die internen Kämpfe i n der Justiz ausnützte, teilweise diese sogar indirekt förderte und somit aber sowohl die Stellung Franks als auch Gürtners schwächte. Dies erklärt sich daraus, daß Hitler selbst „ i m Grunde allem j u r i s t i schen' feindlich war 3 7 ". Von seinem dumpfen Haß gegen Recht, Gerichte, Juristen und Richter geben die 1941/42 i m Führerhauptquartier niedergelegten „Tischgespräche" Zeugnis 38 : „Heute erkläre er deshalb klar * Bracher I I , S. 233. 37 Frank, S. 114. 38 Picker, H e n r y : Hitlers Tischgespräche i m Führerhauptquartier 1941 bis 1942, Bonn 1951.

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und eindeutig, daß für i h n jeder, der Jurist ist, entweder von Natur defekt sein müsse oder aber m i t der Zeit werde 3 9 ." Und über Verbrecher: „Solchen K e r l steckt man entweder i n ein K Z oder tötet i h n . . . Statt dessen w ü h l t die Justiz m i t ihrer ganzen Liebe und Sorgfalt i n den Akten, um zu einem . . . gerechten Urteil zu kommen. Solche Urteile müssen unter allen Umständen aufgehoben werden 40 ." Hitler lehnte das Recht ab, da es i h n selbst gebunden, i n seinem schrankenlosen Machtstreben behindert hätte. „Was sollten ihm ,Verträge 4 sein! Was gab es für ihn Lächerlicheres als die Vorstellung, daß auch er selbst durch ,alberne Paragraphen 4 sich beherrschen lassen müßte?! 41 " Für diese Einstellung ist es symptomatisch, daß Hitler gerade den Bestrebungen innerhalb seiner Partei, die das Recht i m nationalsozialistischen Geist reformieren wollten, verständnislos gegenüberstand und daß er daher umso stärker auf die Polizeiformationen Himmlers setzte, die eine „Lösung" der Rechtspolitik, wie er sie verstand, gewährleisteten. Es ist aber ebenso kennzeichnend für seinen politischen Führungsstil der Scheinlegalität, daß er gerade in der ersten Zeit seiner Kanzlerschaft seine diesbezügliche Gesinnung nicht offen zur Schau stellte, sondern i m Gegenteil, zum einen Frank i n seinem Vorhaben unterstützte, den Rechtsstand des Reiches i n einer „Deutschen Rechtsfront" an die Partei zu binden und zum anderen die Stellung des Reichsjustizministers innerhalb des Staatsapparates erstens durch den Auftrag, die Leitung der Strafrechtserneuerung zu übernehmen, und zweitens durch die befohlene „Verreichlichung" der Justiz stärkte. M i t der ersten Maßnahme erreichte er die Ausrichtung aller Juristen auf das NS-Programm und die Ausschaltung aller anderen nichtnationalsozialistischen Juristenorganisationen, und m i t der zweiten gewann er die für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung notwendige Mitarbeit der alten Justizbeamten. So fühlten sich beide Exponenten aus „Staat 44 und „Partei 44 , Gürtner und Frank, i n ihren Positionen bestärkt und waren daher i n gleichem Maße bestrebt, m i t Hilfe des Führers und Reichskanzlers ihren Einfluß auszubauen. Der Einfluß, den Gürtner innerhalb des Kabinetts auf Hitler ausüben konnte, ist oftmals überschätzt worden. Die Grenzen seiner Wirkungsmöglichkeiten ergaben sich ähnlich wie i n den Kabinetten Papen und Schleicher aus seiner politisch impotenten Position eines „unabhängigen Fachmannes44. Spätestens i m Februar und März 1933 sollte sich der folgenschwere I r r t u m des Papen-Konzepts rächen, denn entgegen der gehegten Absicht, H i t l e r für die eigenen Ziele einzuspannen, wozu die 39 40 41

Picker, S. 211 ff. Picker, S. 203. Frank, S. 133.

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zahlenmäßige Überlegenheit der konservativen Minister die Garantie gewähren sollte, hatten sich die nationalsozialistischen Vertreter, ohne auf nennenswerten Widerstand der Fachminister zu stoßen, i n den wichtigsten Fragen durchgesetzt. Ohne den nötigen Parteirückhalt hatten die Fachminister lediglich die partikularen Interessen ihrer Ressorts vertreten, m i t ein Grund, weshalb es den konservativen Gegenspielern i m Kabinentt an Einigkeit und Gemeinsamkeit mangelte. Dieser Umstand wurde noch durch die Gepflogenheit Hitlers, häufig Sonderbesprechungen m i t den einzelnen Ressortchefs außerhalb der Kabinettssitzungen abzuhalten, unterstützt. Trotz dieser sich schon früh abzeichnenden Überlegenheit war Hitler zunächst als Kanzler einer Präsidialregierung, welcher noch m i t der Diktaturbefugnis Hindenburgs rechnen mußte, darauf bedacht, nach allen Seiten h i n vorsichtig zu taktieren, um den Zusammenhalt der Koalition nicht zu gefährden. I n dieser Phase war Hitler darauf angewiesen, auf die Meinungsbildung innerhalb des Kabinetts Rücksicht zu nehmen, so daß sich einem Minister wie Gürtner durchaus die Gelegenheit bot, von der Warte seines Justizressorts aus einen gegensätzlichen Standpunkt zu vertreten. Als aber der Reichspräsident die Reichsregierung m i t den unbefristeten Diktaturermächtigungen vom 28. Februar ausstattete und einige Wochen später die Kontrolle des Reichstages ausgeschaltet wurde, hatte sich das politische Übergewicht Hitlers so stark ausgebildet, daß eine grundsätzliche Opposition zwecklos bleiben mußte. Die veränderte Lage manifestierte sich i n der i m J u l i 1933 geänderten Geschäftsordnung der Reichsregierung. Danach wurde zwischen verfassungsrechtlicher Gesetzgebung, die eine Beteiligung des Parlaments benötigte und einer „vereinfachten Gesetzgebung", basierend auf dem Ermächtigungsgesetz, unterschieden. M i t letzterer Regelung wurde die Position des Reichskanzlers zur diktatorischen Vormachtstellung ausgebaut, da sie ihm das letzte und entscheidende Votum zuerkannte und das Recht der Gesetzesausfertigung vorbehielt 4 2 . Die Bestimmung, wonach die Ermächtigung nicht dem Reichs42 Wie dies i n der Praxis funktionierte, zeigt die Kabinettsbehandlung der Frage, ob das österreichische Konkordat von 1934 nach dem Anschluß an das Deutsche Reich w e i t e r h i n fortgelten solle. Der Innenminister bat einzelne Kabinettskollegen sowie den Stellvertreter des Führers u n d den Reichsführer-SS zu prüfen, ob nach dem Anschluß Österreichs das österreichische Konkordat f ü r nichtig erklärt werden solle, m i t der Begründung a) w e i l seine Grundlage, das österreichische Bundesverfassungsgesetz v o m 30. A p r i l 1934 über außerordentliche Maßnahmen i m Bereich der österreichischen Verfassung nicht rechtsgültig gewesen sei (Nichtigkeitstheorie), oder b) w e i l m i t dem Untergang des österreichischen Staates auch die von i h m abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge hinfällig geworden seien (Untergangstheorie). Der Innenminister selbst plädierte f ü r die Nichtigkeitstheorie. Der Minister f ü r Wissenschaft u n d Erziehung trat dem Standpunkt des Innenministers ebenso bei w i e der Reichsführer-SS. Der Reichskirchenminister stellte sich auf den Standpunkt, daß dies keine rechtliche, sondern eine politische Frage wäre, also v o m Führer entschieden werden müßte. Justizminister Gürtner

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kanzler, sondern der Reichsregierung i n ihrer Gesamtheit erteilt wurde, mußte i n der Praxis wirkungslos bleiben, da die Beschlußfassung lediglich von einer Verständigung der einzelnen beteiligten Ressorts abhängig war, also Kabinettssitzungen nicht nötig waren, da die Zustimmung auch durch ein schriftliches Umlauf verfahren eingeholt werden konnte. „Abgestimmt wurde i m Reichskabinett nicht mehr. Ein Gesetzesentwurf mochte auf einmütige Zustimmung oder auf Widerspruch oder Änderungswünsche stoßen, i n jedem Fall konnte der Reichskanzler, allenfalls nach Änderung des Textes, über Annahme oder Nichtannahme eines Gesetzes entscheiden. Er erteilte ,Gesetzesbefehle' und vollzog die Gesetze 43 ." Durch die solchermaßen verlagerten Gewichte der Staatsgeschäfte von der Legislative auf die Exekutive erhielten die einzelnen Ressorts vermehrte Verordnungsgewalt, da die neu erlassenen Gesetze auch die Berechtigung zum Erlaß von Durchführungsverordnungen enthielten. Es lag auf der Hand, daß die Kollegialität unter den Ministern durch die Übertragung vermehrter Kompetenzen leiden mußte, indessen Hitler seine autoritäre Stellung unangefochten ausbauen konnte. So wurden bereits i m ersten Jahr des Dritten Reiches alle Merkmale einer „Führer-Diktatur" sichtbar, wie sie schließlich nach dem Tode Hindenburgs vollendet wurde. I m Herbst 1934 leisteten die Reichsminister auf die Person des „Führers und Reichskanzlers" den Eid, wodurch symbolisch die Abhängigkeit dokumentiert wurde. Damit war Hitler allein i m Besitz der politischen Entscheidungsgewalt des Reiches, die Minister waren nur mehr Vollstrecker seines politischen Willens. Dieser Konstellation entsprach die Gewohnheit, immer mehr die Gesetze in Form von „Rahmengesetzen" zu erlassen. Sie enthielten allgemeine Direktiven und Generalklauseln, die dem Willen des Führers entsprachen, und überließen der Verfügungsgewalt des einzelnen Ministers weitesten Raum. Damit war Gesetzgebung und Verwaltung i n der Hand des Ministers zentriert, es war aber klar, daß diese Ausweitung seines Machtbereiches, die sich vor allem nach der Gleichschaltung der Länder m i t dem Reich eminent auswirkte, keine effektive Steigerung seines politischen Einflusses bedeutete. Wer hätte es schon gewagt, eigenmächt i g Verfügungen zu erlassen, ohne sich nicht vorher i n der Reichskanzlei, oder später i n der Kanzlei des Stellvertreters des Führers rückversichert zu haben? Dies wurde deutlich, als nach 1934 die Kabinettssitzungen lediglich dazu dienten, die Richtlinien der Politik des Führers plädierte dagegen i n seiner Stellungnahme v o m 23. M a i 1938 f ü r die A n w e n dung der Untergangstheorie. Nachdem also innerhalb des Kabinetts keine Einigung erzielt werden konnte, k a m es auf das V o t u m Hitlers an. Er Schloß sich der Auffassung Gürtners an, wodurch die Angelegenheit entschieden war. Siehe dazu: Der Notenwechsel zwischen dem Heiligen Stuhl u n d der deutschen Reichsregierung I I 1937—1945, bearbeitet von Dieter Albrecht. I n : V Z G K A B , Rh.A, Bd. 10, S. 207—208. 43 Bracher - Sauer - Schulz, S. 423.

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i n Empfang zu nehmen. Nach 1937 fanden diese dann auch nicht mehr statt, da das Büro des Stellvertreters des Führers auf Gesetzgebung und Verwaltung zentralen, politischen Einfluß nahm. Ohne die Berücksichtigung dieser übergreifenden Zusammenhänge müßte die Haltung des Reichs j us tizministeriums zur „lex Lübbe" unverständlich bleiben. I n der Kabinettssitzung am 7. März hatte Innenminister Frick die Bestrafung der Täter des Reichstagsbrandes zur Sprache gebracht und dabei gefordert, „daß es dringend geboten sei, van der Lübbe sofort zu hängen, und zwar auf dem Königsplatz i n Berlin. Zwar sehe das geltende Recht für Brandstiftung nur Zuchthausstrafe vor, jedoch müsse es möglich sein, m i t rückwirkender K r a f t für ein derart abscheuliches Verbrechen Todesstrafe durch Erhängen festzusetzen. Der Satz nulla poena sine lege dürfe nicht unbeschränkt gelten. I n diesem Sinne hätten auch die Herren Prof. Dr. Nagler (Breslau), Prof. Dr. von Weber (Jena) und Prof. Dr. Oetker (Würzburg) ein Gutachten abgegeben 4 4 ". Hitler pflichtete dem bei und meinte, er könne „die Doktrin ,Recht müsse Recht bleiben 4 nicht anerkennen, wenn das ganze staatliche Leben darüber zugrunde gehen müsse 45 ". Diesen Auffassungen stellte sich Staatssekretär Schlegelberger als Vertreter des erkrankten Justizministers entgegen und sagte, er weise, obwohl er dem Reichskanzler zustimme, daß sich das Recht den veränderten Verhältnissen anpassen müßte, m i t allem Nachdruck auf den Grundsatz nulla poena sine lege hin. „ N u r i n Rußland, China und einigen kleinen Kantonen der Schweiz gelte dieser Satz nicht. Er wolle das von dem Herrn Reichsminister des Innern erwähnte Gutachten noch einmal genau prüfen. Das Reichsjustizministerium werde dann seinerseits ein Gutachten ausarbeiten und beide Gutachten den Reichsministern zur Kenntnisnahme zuleiten 46 ." I n seiner am 10. März dem Gesamtministerium zugeleiteten schriftlichen Stellungnahme, die auch der Ansicht Gürtners entsprach, führte Schlegelberger folgendes aus: Die Rückwirkung neu erlassener oder strafverschärfender Strafbestimmungen widerspreche dem Grundsatz des § 2 Abs. 1 des Strafgesetzbuches, wonach eine Handlung nur dann m i t einer Strafe belegt werden könne, „wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde". (§ 2 Abs. 1 StGB.) Die Nationalversammlung habe diesen Grundsatz für so bedeutsam gehalten, daß er i n A r t . 116 der Verfassung Aufnahme gefunden habe. Wenn die vom Reichskanzler bestimmten Gutachter auf den abweichenden Wortlaut von §2 Abs. 1 StGB und A r t . 116 hingewiesen hätten 44 B A : R 431/1460 — Niederschrift über die Ministerbesprechung am 7. März 1933, S.9. 45 a.O. S. 10. 46 a.O. S. 11.

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(Art. 116: nullum crimen sine lege = Nichtrückwirkung der Strafgesetze auf bisher nicht strafbare Handlungen; §2 Abs. 1 StGB: nulla poena sine lege = Nichtrückwirkung straf verschärf ender Gesetze), also die Bestimmung des StGB nicht verfassungsrechtlich festgelegt wäre, so müsse er dem entgegenhalten, daß die Entstehungsgeschichte des Begriffes „Strafbarkeit" beweise, daß die Gesetzgeber ihm keinen anderen Sinn als dem i m § 2 StGB gebrauchten Wort „Strafe" haben beilegen wollen und sie folglich das „Ob" und „Wie" mitverstanden hätten. Diese Regelung müßte auch uneingeschränkt für alle Ausländer gelten. Wenn auch A r t . 116 i n dem Hauptteil der Reichsverfassung stünde, der die Uberschrift trage „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen", so bestünde sein Geltungsbereich dennoch ohne Rücksicht auf die Staatszugehörigkeit, da erfahrungsgemäß Uberschriften niemals erschöpfend sein könnten. Wollte man anderer Auffassung sein, so müßte die rückwirkende Anwendung der Todesstrafe ausdrücklich auf Ausländer beschränkt werden, eine Maßnahme, die schon m i t Rücksicht auf das A n sehen Deutschlands i m Ausland nicht getroffen werden dürfte. Da auch der Reichspräsident auf Grund von A r t . 48 den A r t . 116 nicht außer K r a f t setzen könnte, die Auslegung der Bestimmungen des A r t . 116 aber zumindest zweifelhaft wäre, könnte dem Reichspräsidenten keine Rückwirkungsverordnung empfohlen werden, da sonst Gefahr bestünde, daß die Gerichte unter Billigung der i m Schrifttum herrschenden Meinung ihre Verfassungsmäßigkeit und Rechtsgültigkeit nicht anerkennen könnten. Man müßte also, um die „Rückwirkung" einzuführen, den Weg eines verfassungsändernden Gesetzes wählen. Abgesehen von der Frage der Verfassungsmäßigkeit müßte er aber auch darauf hinweisen, daß eine „Rückwirkungsverordnung" nicht nur unter Juristen, sondern auch i n weiten Kreisen des öffentlichen Lebens auf lebhaften Widerstand stoßen würde. Wie lebendig die Abneigung auch der deutschen Öffentlichkeit gegenüber einer Rückwirkung strafverschärfender Gesetze wäre, habe sich gerade beim Inkrafttreten der Verordnung gegen politischen Terror vom 9. August 1932 gezeigt. „Aus der Tatsache, daß die i n dieser Verordnung angedrohte Todesstrafe vom Gericht über Täter verhängt werden mußte, die ihre Tat erst wenige Stunden nach Inkrafttreten der Verordnung begangen hatten, die also vom Erlaß der Verordnung zur Zeit der Tat noch nicht unterrichtet sein konnten, wurde i n weiten Kreisen die Folgerung gezogen, daß dieser Umstand allein ausreiche, u m die Begnadigung notwedig zu machen. Als Beispiel der damals zutagegetretenen öffentlichen Meinung sei auf die Ausführungen i m „Angriff" vom 23. August 1932, Nr. 171, verwiesen. Auch die amtliche Mitteilung über die Begnadigung der Verurteilten führte als maßgebenden Gesichtspunkt an, „daß die Verurteilten zur Zeit der Tat noch keine Kenntnis von der Verordnung des Reichs9 Reitter

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Präsidenten und ihren schweren Strafandrohungen gehabt haben. Derartige Einwendungen würden m i t noch größerem Recht erhoben werden, wenn die verschärfte Strafdrohung erst nach der Tat erlassen wird47". M i t Geschick spielte also hier Schlegelberger den Fall der PotempaMörder aus, um zu zeigen, wie Gründe, die für Nationalsozialisten als strafmildernd erachtet wurden, obwohl Bestimmungen einer Verordnung dem entgegenstanden, erst recht jemandem zugebilligt werden müssen, der bei Begehung seiner Tat von keiner Strafverschärfung bedroht war. Die Absicht des Justizministeriums wurde vollends durch die „Aufzeichnung zur Frage der Beschleunigung des Verfahrens" klar, i n der sich Schlegelberger gegen einen Reichstagsbrandprozeß vor einem Ausnahme- oder Sondergericht aussprach und stattdessen für die Belassung der Verhandlungen beim Reichsgericht eintrat, wobei er auf Möglichkeiten hinwies, das Verfahren zu beschleunigen. Ein Ausnahmegericht lehnte er nach A r t . 105 RV als unzulässig ab, i n der Frage von Sondergerichten zeigte er sich jedoch flexibel, insofern als er ausführte, die Bedenken dagegen müßten zurücktreten, „ w e n n . . . zwingende Staatsnotwendigkeiten vorliegen 4 8 ". — Das Justizministerium wollte also den Nationalsozialisten durchaus i n ihrem Bestreben, einen beschleunigten und wirkungsvollen Prozeß gegen die Reichtstagsbrandattentäter durchzuführen, entgegenkommen, wiewohl man auch hier zu bremsen versuchte, es war aber nicht gewillt, Grundsätze des Rechtsstaates auf Kosten politischer Effektivität zu opfern und damit jeder A r t von W i l l k ü r T ü r und Tor zu öffnen. Es ging um Prinzipien einer bewährten Ordnung, die man vertrat und die man i m eigenen Interesse nicht verlieren wollte. Gerade aus diesem Grund bemühte man sich i n der Umgebung Gürtners auch um eine einheitliche Abwehrposition der deutschen Justiz, wie die Bestrebungen des persönlichen Referenten Gürtners, Oberregierungrat von Dohnanyi, zeigen, über den Reichsgerichtspräsidenten Dr.Bumke „eine A k t i o n der deutschen Richter gegen die Beseitigung der Rechtsstaatlichkeit i n Gang zu bringen 4 9 ". Doch wie sehr Appellationen an Gesetz, Verfassungstreue und öffentliche Meinung gerade bei Hitler i n den Wind gesprochen waren, zeigte sich daran, daß dieser kurzerhand die Einwände des Justizministe47 B A : R 431/1460 — Kabinettsvorlage des R J M v o m 10. März 1933 Nr. I I r 551 Sf., A n l a g e l l : Aufzeichnung zur Frage der Bestrafung der Täter, die am 27. Februar 1933 das Reichstagsgebäude i n B r a n d gesetzt haben, S. 9—10. 48 a.O. S. 2: Anlage I I I : Aufzeichnung zur Frage der Beschleunigung des Verfahrens. 49 Kolbe, S. 214. Demnach muß gesagt werden, daß die Meinung, Gürtner wäre ein ausdrücklicher Befürworter der Rückwirkungsverordnung gewesen, so von Treviranus vertreten, einer K o r r e k t u r bedarf. Siehe dazu: Treviranus, Gottfried Reinhold, Das Ende v o n Weimar, Heinrich B r ü n i n g u n d seine Zeit, Düsseldorf 1968, S. 364.

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riums, welches darin von anderen Ressorts unterstützt worden war, ignorierte und stattdessen eigenmächtig eine Entscheidung beim Reichspräsidenten herbeizuführen versuchte. Staatssekretär Meißner von der Präsidialkanzlei hatte bereits i n der Kabinettssitzung am 7. März darauf hingewiesen: „Der Herr Reichspräsident k ö n n e . . . zweimal i n schwere Gewissenskonflikte kommen, nämlich sowohl dann, wenn er eine Verordnung, betreffend Festsetzung der Todesstrafe... vollziehen sowie dann, wenn er nachher über ein Gnadengesuch des Verurteilten entscheiden solle 50 ." I n der Kabinettssitzung am 15. März war dann auch die Entlastung des Reichspräsidenten von dieser unangenehmen Verantwortung die Begründung Meißners, den Entschluß der Reichsregierung zu überantworten. Damit hatte aber nicht nur der Reichspräsident ein für alle Male seine letzte Diktaturgewalt aus der Hand gegeben, sondern das Justizministerium verlor auch seine noch vorhandene politische Beweglichkeit. Z u m letzten M a l sollte sich damit offenbaren, auf welch tönernen Füßen ein Fachminister stehen mußte, wenn er keinen Rückhalt beim Reichspräsidenten besaß. Gerechterweise w i r d man i n diesem Fall jedoch hinzufügen müssen, daß es fraglich bleiben muß, inwieweit Hindenburg persönlich noch i n der Lage war, zu erkennen, um was es ging, ob er also Gürtner und der Reichsjustiz hätte helfen können. A m 21. März wurde die „Verordnung über die Bildung von Sondergerichten" und am 29. März die „RückwirkungsVerordnung" i m Reichsgesetzblatt verkündet. A m 4. A p r i l übersandte Staatssekretär Schlegelberger den Entwurf eines „Gesetzes zur Abwehr politischer Gewalttaten". I n § 1 wurde darin ausdrücklich das Inbrandsetzen eines öffentlichen Gebäudes m i t Todesstrafe angedroht und i n § 2 wurde die Zuständigkeit der Sondergerichte bestätigt. I n der Begründung hieß es, daß die „Vollstreckung einer hiernach erkannten Todesstrafe durch Erhängen gemäß § 2 des Gesetzes über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe vom 29. März 1933 angeordnet werden" kann 5 1 . Hitler hatte sich also i n allen Punkten durchsetzen können und damit war auch die letzte Möglichkeit des Justizministers verstrichen, sich gegen den Reichskanzler i n Szene zu setzen. Für Gürtner und Schlegelberger mag es ein schwacher Trost gewesen sein, daß derReichtagsbrandprozeß vor dem Reichsgericht stattfand und damit i n gewisser Weise ein objektiver Verlauf des Verfahrens gewährleistet wurde. Man w i r d diese Ohnmacht gegenüber Hitler berücksichtigen müssen, wenn man der Haltung Gürtners i n den folgenden Jahren gerecht wer50 B A : R 431/1460 — Niederschrift der Kabinettssitzung v o m 7. März 1933, S. 11—12. 51 B A : R 431/1461 — Kabinettsvorlage des R J M Nr. I I r 739 Sf.: E n t w u r f eines Gesetzes zur A b w e h r politischer Gewalttaten, S. 6.

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den w i l l . Werner Johe 52 hat m i t Recht darauf hingewiesen, daß die Beurteilung Broszats 53 zwar zutreffe, aber nicht das Problem löse, da niemand i n der Lage gewesen wäre, letzten Endes das Recht gegen Hitlers Willen bewahren zu können. Wenn Gürtner sich auch nach der innenpolitischen Veränderung, die das Ermächtigungsgesetz herbeigeführt hatte, entschloß, i m A m t zu bleiben, so w i r d ihn dazu die Aussicht bewogen haben, wenigstens i n mäßigender Weise auch weiterhin auf Hitler einwirken zu können. Diesbezügliche Hoffnungen wurden durch die Möglichkeit genährt, innerhalb der Verwaltung und der Gesetzgebung, hier vor allem bei der Strafrechtserneuerung, gegen den revolutionären Elan eines Nationalsozialisten wie Hans Frank so viel als möglich vom alten Rechtsstaat zu retten. Unter diesem Blickwinkel werden auch Gürtners Haltung nach dem „Röhmputsch" und sein Ringen gegen die Unrechtstaten von SA und SS zu bewerten sein. Obwohl Gürtner i n diesem politischen Kräftespiel die Rolle eines Verteidigers und Bewahrers des alten Rechtssystems spielen wollte, konnte er dennoch nichts anderes sein, als wider Willen eine Schlüsselfigur bei der Zerschlagung des Rechts und der Ausschaltung der Justiz. Als sich Hitler i m Kompetenzstreit Frank contra Gürtner der Auffassung des Reichsjustizministers anschloß 54 , bestärkte er letzteren i n seiner Bereitschaft, trotz aller Bedenken dem neuen System zu dienen und leitete dadurch aber gleichzeitig die „Verbannung" Franks ein, eine Tatsache, die letzten Endes nur Himmler und Heydrich zustatten kam. Frank hat sich selbst dazu folgendermaßen geäußert: „Hitler hat mich später wegen meiner Anschauungen geradezu gescheut und endlich auch 1942 meiner sämtlichen Parteiämter völlig enthoben, mich als Reichsleiter degradiert und seines Vertrauens restlos entkleidet 5 5 ." Gürtner führte m i t Hingabe den Kampf für eine gesetzliche Ordnung, da er nach vielen „Zusagen" Hitlers vermeinte, daß nach Beendigung der „revolutionären" Phase geordnete Verhältnisse einkehren würden und sah sich am Ende doch nur in einer Position, die es ihm lediglich erlaubte, das zu verzögern, was ohnehin nicht mehr aufzuhalten war, nämlich die Pervertierung jeglichen Rechts durch die Schergen Himmlers. Wie auch die meisten anderen bürgerlich-konservativen Politiker ist Gürtner einem Trugschluß erlegen, als er glaubte, er könnte durch Gesetzesveränderungen dem Revolutionär Hitler entgegenkommen, um den Kanzler und Staatsmann Hitler an diese novellierten Gesetze zu binden. M i t der ihm eigentümlichen Beharrlichkeit wollte er die Unabhängigkeit 52

Johe, Werner: Die gleichgeschaltete Justiz, F r a n k f u r t 1967, S. 50. Siehe: A n m . 34. 54 Siehe unten: 3. Der Kompetenzstreit m i t dem Reichsjustizkommissar Hans Frank. «s Frank, S. 123. 53

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von Rechtsprechung und Justizverwaltung unter allen Umständen aufrechterhalten, mußte dafür aber laufend den hohen Preis von politischen Zugeständnissen an Hitler entrichten, die ihn selbst immer auswegloser i n das Netz nationalsozialistischer Unrechtstaten verstrickte. So führte sein tragischer Weg vom ersten Kniefall vor Hitler über die Ereignisse der „Röhmaffäre", bei der er sich auf Gedeih und Verderb Hitler auslieferte, bis zu dem hoffnungslosen Ringen um Gesetz und Recht m i t Gestapo und SD, i n dem er unterliegen mußte. 3. Der Kompetenzstreit mit dem Reichsjustizkommissar Hans Frank I n seinen Aufzeichnungen „ I m Angesicht des Galgens" berichtet Hans Frank, daß i h m i m A p r i l 1933 Reichs justizminister Gürtner einen freundlichen Brief übersandt habe, i n dem er ihm mitteilte, daß er „gerne die gesamten Geschäfte der Justizreform, vor allem i m Hinblick auf die „Gleichschaltung" . . . der Justizverwaltung i n den Ländern des Reiches einem eigenen „Gleichschaltungskommissar" übergeben möchte, der sich auch an der allgemeinen Rechtsreform maßgeblich beteiligen solle 56 ." I n Wirklichkeit jedoch war der Vorgang anders abgelaufen. Wie aus den Generalakten des Rei