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German Pages 363 Year 2017
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 192
Patriotismusdiskurse im gegenwärtigen Japan Identitätssuche im Spannungsfeld von Nation, Region und globalem Kapital zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Von Raffael Raddatz
Duncker & Humblot · Berlin
RAFFAEL RADDATZ
Patriotismusdiskurse im gegenwärtigen Japan
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 192
Patriotismusdiskurse im gegenwärtigen Japan Identitätssuche im Spannungsfeld von Nation, Region und globalem Kapital zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Von Raffael Raddatz
Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich Sprach- und Kulturwissenwissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main hat diese Arbeit im Jahre 2013 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
D.30 Alle Rechte vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-14304-7 (Print) ISBN 978-3-428-54304-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-84304-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Vorwort
Das Jahr 2015 war in zweierlei Hinsicht symbolträchtig für Japan und das hier behandelte Thema. Zunächst beging man im August den 70. Jahrestag des Kriegsendes. Die Niederlage im Zweiten Weltkrieg besiegelte auch das Ende einer unter einer ultranationalistischen Führung vorangetriebenen, imperialistischen Episode der japanischen Geschichte, unter der nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern insbesondere auch die von Japan unterworfenen Länder Ost- und Südostasiens zu leiden hatten. Das katastrophale Scheitern des imperialistischen Projekts führte nach Kriegsende zur Installation einer neuen pazifistischen Verfassung, die eine von Japan ausgehende Aggression für alle Zeit verhindern sollte. Doch diese Nachkriegsordnung steht stärker denn je unter Druck und nach 70 Jahren ist zu befürchten, dass Japan wieder an längst vergangen geglaubte Kapitel seiner Geschichte anknüpfen könnte. Denn ebenfalls 2015 beschloss die rechtskonservative Regierung unter Premierminister Abe Shinzô trotz starker Proteste weitreichende Reformen, die es den japanischen Selbstverteidigungsstreitkräften (Jieitai) in Zukunft ermöglichen soll, auch im Ausland an Kampfeinsätzen teilzunehmen. Wie konnte es zu diesem Paradigmenwechsel kommen? Hinter dieser Entwicklung steht eine tiefgreifende Neubeschäftigung mit der japanischen Identität ab den 1990er Jahren, die Japans Nachkriegsordnung zunehmend skeptisch betrachtet und die Frage nach der zukünftigen Rolle des Landes in der internationalen Gemeinschaft erörtert. Das vorliegende Buch befasst sich mit der Analyse von japanischen Patriotismus- und Nationalismusdiskursen und zeichnet deren Entwicklung von 1998 bis Anfang 2017 nach. Diese Darstellung ist eine aktualisierte und erweiterte Version meiner gleichnamigen Dissertation, die 2013 im Fach Japanologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main eingereicht wurde. Einige Teilergebnisse der vorliegenden Studie wurden dabei vorab veröffentlicht1 bzw. bauen auf Vorarbeiten auf, die im Rahmen meiner 2008 eingereichten Magisterarbeit erbracht wurden2 . Wie bei jeder Promotion ist auch diese Arbeit das Ergebnis eines langen Weges, auf dem mich einige Personen motivierend und inspirierend begleitet haben. Diesen Menschen möchte ich an dieser Stelle meinen Dank zum Ausdruck bringen. Zuallererst möchte ich meiner Doktormutter Prof. Dr. Lisette Gebhardt (Universität Frankfurt) danken, die mir mit ihren Anregungen und Kommentaren zu früheren Versionen dieser Arbeit wertvolle Impulse gab und mir jederzeit unterstüt1 2
Vgl. hierzu Raddatz (2012), Raddatz (2013a), Raddatz (2013b). Raddatz (2008).
Vorwort
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zend zur Seite stand. Auch dem Zweitgutachter der Dissertation, Prof. Dr. Klaus Antoni (Universität Tübingen), sowie dem Drittgutachter, Prof. Dr. Arndt Graf (Universität Frankfurt), gilt mein besonderer Dank. Die Bemerkungen und Hinweise der Gutachter zur Ursprungsversion sind soweit möglich in die vorliegende Überarbeitung der Arbeit eingeflossen und haben mir überdies auch Perspektiven zu einer weiteren Ausarbeitung der Thematik für die Zukunft eröffnet. Besonders anregend empfand ich dabei die Fragen und das große Interesse an meinem Forschungsthema, das mir die Gutachter im Rahmen meiner Disputation entgegengebracht haben. Zudem bin ich dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und dem japanischen Kultusministerium (MEXT) zu Dank verpflichtet, die durch die Gewährleistung von Japan-Stipendien die Bearbeitung des hier behandelten Themenkreises gefördert und erst ermöglicht haben. Durch einen insgesamt dreijährigen Forschungsaufenthalt an der Waseda-Universität in Tôkyô konnte ich umfangreiche Literaturrecherchen sowie auch Interviews vor Ort durchführen, ohne die die Anfertigung der Dissertation in ihrer vorliegenden Konzeption und Dichte nicht zu bewerkstelligen gewesen wäre. Die Zeit in Japan ermöglichte es mir darüber hinaus, wertvolle internationale wissenschaftliche Kontakte zu knüpfen. Ich möchte an dieser Stelle meiner Betreuerin an der Waseda-Universität, Prof. Dr. Shinohara Hatsue, danken, in deren PhD-Seminar ich meine Zwischenergebnisse regelmäßig zur Diskussion stellen und so konstruktive Kritik und Hinweise für die weitere Ausarbeitung der Thematik erhalten konnte. Gleiches gilt für Prof. Dr. Gracia Liu-Farrer für ihre Unterstützung und Anmerkungen zu methodologischen Fragen meiner Arbeit. Ihre Seminare haben mich insbesondere bei der Einbettung meiner japanspezifischen Themenstellung in allgemeinere Globalisierungs- und Identitätsdiskurse inspiriert. Es sei auch den Teilnehmern meiner Interviewbefragungen gedankt, die mir zu wertvollen Einblicken in das Denken „normaler“ Bürger zum Thema japanische Identität verholfen haben. Abschließend möchte ich meinen Eltern danken, denen ich auch dieses Buch widme. Ihrer Unterstützung konnte ich mir insbesondere auch in jenen Phasen des Zweifelns gewiss sein, die wohl jeder Doktorand mindestens einmal erlebt. Tôkyô, im Mai 2017
Raffael Raddatz
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
A. Einleitung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Einführung in den Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 II. Forschungsstand .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 III. Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1. Was ist Nationalismus? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2. Nationalismus vs.. Patriotismus – von „bösen“ Nationalisten und „guten“ Patrioten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Die Entstehung des japanischen Nationalismus .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 4. Globalisierung, Neoliberalismus und Identität .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 IV. Untersuchungsansatz und Erkenntnisziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Nationalismus als Diskursgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Untersuchungsansatz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fragestellungen und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Japanischer Nachkriegsnationalismus von 1945 bis 1998 – ein Abriss . . . . . . . . . . . . .
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I. 1945 – 1960: Nachkriegsnationalismus in der Links-Rechts-Konfrontation .. 42 1. Linker Ethnonationalismus als oppositioneller Anti-Etatismus . . . . . . . . . . 43 2. Die Vermeidung der Schuldfrage .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 II. 1960 – 1973: Wirtschaftsnationalismus als Garant des japanischen Nachkriegspazifismus .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1. Die Yoshida-Doktrin als Japans neuer Diplomatiekompass . . . . . . . . . . . . . . 47 2. Das (Wieder-)Aufflammen eines kulturellen Nationalismus .. . . . . . . . . . . . 49 III. 1973 – 1990: Folklore, Exotik und ein Japan, das „nein“ sagen kann . . . . . . . . . 51 1. Folklore und furusato – Das Exotische im eigenen Land . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. Konservative Bemühungen zur Stärkung japanischer Identität . . . . . . . . . . 53 IV. 1990 – 1998: Der Neonationalismus der „Lost Decade“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 1. Japans Blick nach Asien – zwischen Rückkehr und Abkehr . . . . . . . . . . . . . 56 2. Japans Weg in den Neoliberalismus – zwischen Großmachtanspruch und Rezessionsrealität .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 C. Nationalismus „von oben“ Teil 1 – die politische Ebene .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 I. Japan auf dem Weg zu einem „normalen“ Land? (Identitäts-)Politische Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Die Dauerkrise des „Artikel 9“ im Spannungsfeld von Außen- und Innenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Mit Waffengewalt zum Weltfrieden – Abe Shinzô und seine Doktrin des „proaktiven Pazifismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
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Inhaltsverzeichnis 3. Außenpolitik ohne Waffen: Human Security, Entwicklungshilfe und Kulturdiplomatie als Lückenfüller eines „unnormalen Landes“ . . . . . . . . . 80 4. Japans Neuerfindung als konsumierbare Marke: Die Beispiele „Cool Japan“ und „Environmental Nation“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 5. Eine Serie von Missverständnissen oder die Renaissance des StaatsShintô? Die Einflussnahme der japanischen Religionslobby auf die Politik 93 6. Populistischer Nationalismus im Zeitalter von „Koizumi-Theater“ und „Abenomics“ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 7. Der offizielle Umgang mit Japans Kriegsschuld – per Schlingerkurs durch die Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 II. Nationalismus in den Diskursbeiträgen japanischer Spitzenpolitiker . . . . . . . . 107 1. Ozawa Ichirô – ein nationales Projekt zur Rettung Japans . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abe Shinzô – Die „Befreiung vom Nachkriegsregime“ .. . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Asô Tarô – Japans neo-asianistischer Führungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . III. Conclusio: Das schöne neue Japan nimmt Gestalt an . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Nationalismus „von oben“ Teil 2 – (Medien-)Intellektuelle und Wissenschaftler .. . 125 I. Der konservative Diskurs – die Nachkriegsordnung als Feind, Stolz als Ziel . 125 1. Anti-Establishment-Held oder rechter Agitator? Der Pop-Nationalist Kobayashi Yoshinori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Nachkriegsjapan auf dem Prüfstand radikalkonservativer Intellektueller 131 3. Die Mechanismen des (neo-)nationalistischen Geschichtsrevisionismus . 136 4. Wer hat Angst vorm weißen Mann? Racializing als Rechtfertigungsstrategie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 5. Der Kampf um die „eigene“ Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 II. Die „Entkriminalisierung“ des Nationalen abseits neonationalistischer Ansätze– drei Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Der Grand Seigneur der „spirituellen Intellektuellen“: Umehara Takeshis „unpolitischer“ Ethnonationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2. „Guter“ Volksnationalismus vs. „böser“ Elitennationalismus – Matsumoto Ken’ichi .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3. Die Kritik an der Kritik: Kayano Toshihito und sein „aufgeklärter“ Anti-Anti-Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 III. Nationalismus von links .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 1. Rechts und Links im Gespräch – Nishibe Susumu vs. Kang Sang-Jung/ Kobayashi Yoshinori vs. Kayano Toshihito und Miyadai Shinji/Suzuki Kunio vs. Sataka Makoto .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Restnationalismus im linksliberalen Spektrum – das Beispiel Kang Sang-Jung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Region vs. Zentrum – Kang Sang-Jung und Sataka Makoto in der Nationalismusfalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Neo-Nihonjinron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154 158 161 164
1. Die Mechanismen des Nihonjinron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
Inhaltsverzeichnis
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2. Fujiwara Masahikos Version vom „Kampf der Kulturen“ .. . . . . . . . . . . . . . . 166 3. Cool Japan und der „J-Boom“ als Nihonjinron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 V. Nationalkonservative Netzwerke in Stiftungen, Verlagen und Think Tanks – eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 VI. Post-Fukushima-Nationalismus – Möglichkeiten und Grenzennationaler Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 1. Nationale Einheit „von oben“ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Von Post-War zu Post-Fukushima – das Tôhoku-Beben als größte Zäsur seit 1945? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Tôhoku-Beben als Scheideweg zwischen Globalismus und Isolationismus – die Renaissance des Wirtschaftsnationalismus bei Nakano Takeshi und Mitsuhashi Takaaki .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Konservative Großmachtphantasien im Rausch von „Abenomics“ . . . . . . VII. Conclusio: Das Unbehagen an der „amerikanischen“ Moderne . . . . . . . . . . . . . .
180 183
189 194 200
E. Nationalismus „von unten“ Teil 1– Nationalismus zwischen Subkultur und Protestform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 I. Der Nationalismusboom in Sport, Popkultur und Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 1. Die junge Generation im Fokus von Medien und Wissenschaft . . . . . . . . . . 2. Was von der Debatte übrig bleibt – driftet die junge Generation nach rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nationalismus und Popkultur – das Beispiel Kenkanryû .. . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die „Verflüssigung“ der Geschichte im Internetzeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Nationalismus als Hobby – der „coole“ Nationalismus der Otaku .. . . . . . . 6. Vom Internet auf die Straßen – Die netto uyoku als „grass roots“Demok raten? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Von virtuellem Hass zu realer Gewalt – Das Phänomen Zaitoku-kai .. . . . 8. Der wachsende Einfluss der netto uyoku – „nützliche Idioten“ für den neoliberalen Umbau Japans? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Diskurs der „Lost Generation“ – Zwischen Armut und Nationalismus .. 1. Japan auf dem Weg zur „Unterschichtsgesellschaft“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kriegswünsche – Der Fall des Freeters Akagi Tomohiro . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vom eigenen Land verraten? Amamiya Karins Oszillation zwischen rechts und links . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Conclusio: Der alltägliche Konsum der Nationals Suche nach einer „großen Erzählung“? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205 210 222 228 232 238 242 247 250 250 257 260 266
F. Nationalismus „von unten“ Teil 2 – junge Erwachsene im Gespräch .. . . . . . . . . . . . . . 274 I. Daten und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 II. Identitätsfacetten junger Japaner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 1. Die junge Generation bewertet ihren „Rechtsruck“ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 2. Sich selbst ändern, sein Umfeld ändern, Japan ändern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 3. Per Verfassungsreform zum „bewaffneten Pazifismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
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Inhaltsverzeichnis 4. Das Geschichtsbild der jungen Generation – Sehnsucht nach dem „guten Japan“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Von „gesundem“ und „natürlichem“ Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Dumpfe Gefühle der Bedrohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Japans Rolle in der Welt – Nur eine „Tulpe“ unter vielen? . . . . . . . . . . . . . . . 8. Konzeptionen von Staat und Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Manifestationen des Nihonjinron: „Wir sind eine überlegene Nation“ .. . . III. Conclusio: Der Nationalismus der jungen Generation a ls vage Sehnsucht nach dem „Wir“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
284 288 289 291 292 295 300
G. Japanischer Gegenwartsnationalismus im Globalisierungsparadigma .. . . . . . . . . . . . . 306 I. Der Nationalismus der Krise in der Krise des Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . 306 1. Die Auflösung der Links-Rechts-Opposition in der Globalisierung? . . . . 2. Globalisierung und Spätmoderne .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nationalismus im Globalisierungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Trends japanischer Gegenwartsnationalismen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
306 308 312 317
1. Die „Banalisierung“ des Nationalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hybride, liquide und fragmentiert – Das nationalistische „Identitätsmosaik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Nationale als „Fetisch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Nationale als „Fluchtort“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Abschließende Betrachtung – Japans Identitätssuche als „Meiji 2.0“? . . . . . . .
317 320 321 323 325
Anhang: Demographische Daten der Interviewpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
A. Einleitung I. Einführung in den Untersuchungsgegenstand Die vorliegende Arbeit untersucht Patriotismus- und Nationalismusdiskurse im gegenwärtigen Japan diskursanalytisch. Hierzu werden die Positionen und Diskussionsbeiträge1 relevanter Politiker, (Medien)Intellektueller und Wissenschaftler analysiert, die in zentralen Feldern des Gesellschaftsdiskurses2 eine prominent meinungsbildende Funktion einnehmen und dadurch wesentlichen Einfluss auf Interpretation und Konstruktion japanischer Identität ausüben. Das Hauptaugenmerk der Untersuchung liegt dabei auf dem Zeitraum ab 1998. Dieser Zeitrahmen wurde gewählt, da die Auseinandersetzung mit Patriotismus und Nationalismus und die Frage, wie „angemessen“ mit japanbezogener Identität umgegangen werden soll, vor dem Hintergrund der landeseigenen Vergangenheit gerade um die Jahrtausendwende wieder an Bedeutung gewonnen hat. Der Soziologe Kitada Akihiro (*1971) von der Universität Tôkyô bemerkt hierzu: „Etwa seit Ende der 1990er kann man verstärkt Diskussionen um ‚gesteigerten Nationalismus‘ oder den ‚Rechtsruck der japanischen Gesellschaft‘ vernehmen“3. Dieser vermutete Rechtsruck der japanischen Gesellschaft während der 2000er Dekade wurde wiederholt an einigen prominenten Beispielen festgemacht: offizielle Besuche der Premierminister Koizumi Jun’ichirô (*1942) und Abe Shinzô (*1954) am umstrittenen Yasukuni-Schrein in Tôkyô, in dem auch der Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs gedacht wird, oder Bemühungen von Abe, die pazifistische Verfassung zu ändern sowie Patriotismus zum Unterrichtsgegenstand an Schulen zu machen, werden dabei ebenso oft angeführt, wie die Annahme von revisionistischen Geschichtslehrbüchern durch das japanische Erziehungsministerium und die damit ausgelöste „Schulbuchaffäre“ (rekishi kyôkasho mondai, 2001 und 2005). 1 Für die vorliegende Analyse sind dies primär Schrifttexte wie Bücher, Mangas, Zeitungs- und Magazinartikel, Regierungspapiere, Gesetzesentwürfe, Internetseiten und Blogs. Dieser Textkorpus wird darüber hinaus auch stellenweise durch die Einbeziehung audiovisueller Medien wie Fernsehinterviews und -werbung etc. ergänzt 2 Mit Gesellschaftsdiskurs soll hier der gesamtgesellschaftliche Diskurs bezeichnet werden, der die Summe aller Diskursebenen (Politik, Wissenschaft, Medien, Wirtschaft, Bildung etc.) darstellt. Diese Ebenen können gemäß dem Sprachwissenschaftler Siegfried Jäger auch als „soziale Orte“ verstanden werden, „von denen aus jeweils gesprochen oder geschrieben wird“, wobei die einzelnen Ebenen dabei üblicherweise untereinander Verknüpfungen aufweisen. Vgl. Jäger/Jäger (2007), S. 28. Für die vorliegende Arbeit sind dabei die Diskursebenen Politik, Wissenschaft, Kulturbetrieb und Medien von besonderem Interesse. 3 Azuma/Kitada (2008), S. 62.
A. Einleitung
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Das gehäufte Auftreten solcher Ereignisse ab dem Ende der 1990er Jahre hat zu einem vermehrten Interesse seitens der Medien und Wissenschaft am japanischen Nationalismus geführt. Insbesondere der Geschichtsrevisionismus sowie die sich wandelnde japanische Außen- und Sicherheitspolitik wurden auch von der westlichen Japanforschung umfangreich dokumentiert4. Wenngleich Neonationalismus seit den 1990er Jahren in vielen Ländern beobachtet werden konnte, so hat der japanische Fall – laut dem Japanologen und Historiker Sven Saaler von der SophiaUniversität Tôkyô – aufgrund seiner möglichen Konsequenzen für Japans Außenpolitik und generelles Ansehen sowie der besonders hitzig geführten Debatte eine besondere Aufmerksamkeit erfahren5. Denn Japans imperialistische Vergangenheit belastet gerade die bilateralen Beziehungen zu seinen Nachbarn China und Südkorea bis heute schwer6. Die Umgangsweise mit dem Nationalismus und der eigenen Geschichte steht dementsprechend nicht nur in Japan selbst im Fokus, sondern wird verstärkt zu einem diplomatischen Problem, was in den vergangenen Jahren an zum Teil heftigen antijapanischen Protesten in China und Südkorea erkennbar wurde7. Daher wurden auch die seit 2012 wieder schwelenden Territorialstreitigkeiten mit China um die Senkaku-Inseln, die gar einen Krieg zwischen beiden Staaten nach wie vor möglich erscheinen lassen, oder die erneute Wahl des Rechtskonservativen Abe Shinzô zum Premierminister im selben Jahr in westlichen Medien genauestens verfolgt. Dieses Medienecho spiegelte Warnungen vor einem „Rechtsruck“ und wachsendem Nationalismus in Japan wider8. Neben seiner offensiven Wirtschaftspolitik („Abenomics“) lotete Abe dabei auch vor dem Hintergrund des wachsenden chinesischen Einflusses in der Region alternative Möglichkeiten zum Erhalt bzw. zur Expansion des japanischen Machtbereiches aus, wobei er auch die Stärkung japanischer Militärkapazitäten und Handlungsspielräume mit bisher ungekannter Konsequenz vorantrieb. Hierfür kann insbesondere der 2015 beschlossene und äußerst kontrovers diskutierte Katalog von Sicherheitsgesetzen angeführt werden, von denen vor allem das sogenannte „kollektive Selbstverteidigungsrecht“ (shûdanteki jiei-ken) große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, da es Japan erstmals 70 Jahre nach Kriegsende ermöglichen soll, auch ohne direkt angegriffen worden zu sein, befreundete Staaten militärisch gegen eine Drittmacht zu unterstützen. Dabei können diese auf politischer Ebene zu beobachtenden Entwicklungen nicht losgelöst vom allgemeinen Gesellschaftsbereich betrachtet werden, in dem Vgl. z. B. Richter (2003); Saaler (2005); Samuels (2007); Pyle (2007). Saaler (2005), S. 15. 6 Japan annektierte die koreanische Halbinsel von 1910 bis 1945 und expandierte ab 1937 auch auf das chinesische Festland. 7 Pyle (2007), S. 328 ff.; Takahara (2006). 8 Vgl. für Beiträge in dieser Richtung z. B. Tabuchi (2012); Blaschke (2012); Sonnenberger (2012). 4
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I. Einführung in den Untersuchungsgegenstand
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sich vor allem konservative Intellektuellenkreise als Stichwortgeber für einen zur gleichen Zeit zu beobachtenden Nationalismusboom gerierten. Letzterer manifestierte sich vorzugsweise in einem von der westlichen Japanforschung ungleich weniger beachteten Phänomen nationalistischer Pop- und Internetsubkulturen und ist vielfach durch auffällige Aversionen gegen Südkorea (kenkan) und China (kenchû) gekennzeichnet. Diese Trends wurden zusammen mit einer zu Beginn der 2000er Jahre erstmals vermehrt beobachteten, patriotischen Unterstützung japanischer Sportmannschaften bei internationalen Wettkämpfen vor allem der jüngeren Generation zugeschrieben und von der Psychiaterin Kayama Rika (*1960) und anderen Kommentatoren als Anzeichen für deren „Rechtsruck“ (wakamono no ukeika) interpretiert9. Auch von Seiten der Politik, Medien oder Werbung wurde vermehrt versucht, die patriotische Stimmung gezielt anzuheizen. Dazu dienten vor allem vermeintlich „harmlose“ Bereiche wie der Sport als Mittel, wie es etwa im Jahr 2013 im Rahmen der Bewerbung Tôkyôs um die Austragung der olympischen Spiele 2020 beobachtet werden konnte. Auch abseits des Sports erreichte die Instrumentalisierung des Patriotismus durch das Tôhoku-Erdbeben und die Atomkatastrophe von Fukushima im Jahre 2011 ungekannte Ausmaße, auf die im Verlauf noch genauer einzugehen sein wird. Doch ist die Beweislast wirklich so erdrückend? Es gibt auch Zweifel am Rechtsruck Japans und dessen angeblicher Gefährlichkeit. Die Politologen Peter Katzenstein und Okawara Nobuo merken zu solchen Kausalketten an: „The above news items are like dots that we can connect to create an image of Japan readying itself to strike militarily once again. But these dots can be connected in many other ways. (…) Falling back on past events to make sense of snippets of current news is a mistake“10. Der Japanologe und Nationalismusexperte Kevin Doak warnt in ähnlicher Weise vor vorschnellen Urteilen über wachsenden Nationalismus in Japan und ergänzt: „When narratives of this ‚neo-nationalism‘ in Japan today are tied, implicitly or explicitly, to the historical militarism or expansionism of Imperial Japan during World War II, then misunderstanding of Japanese nationalism only deepens“11. Auch hinsichtlich Abes jüngsten Maßnahmen zur Etablierung eines „kollektiven Selbstverteidigungsrechts“, meint die Japanwissenschaftlerin Aurelia George Mulgan einen „Doppelstandard“ in Bezug auf Japan zu erkennen, der sich aus Japans Geschichte speise und von einer „fortwährenden Gefahr eines wiederaufflammenden militaristischen Nationalismus“ ausgehe12. Wie steht es also abseits solch prominenter, teils auch medial aufgebauschter Beispiele um die nationale Identität in Japan bzw. wie könnten diese Entwicklungen präziser in einen Gesamtkontext eingeordnet werden? Wie wird auf den hier Kayama (2002); vgl. auch Sasada (2006); Suzuki (2008); Takahara (2006). Katzenstein/Okawara (2008), S. 34. 11 Doak (2007), S. 1. 12 Mulgan (2014b). 9
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A. Einleitung
vorgeschlagenen Untersuchungsebenen des Gesellschaftsdiskurses mit Patriotismus und Nationalismus umgegangen und welche Vorstellungen verbinden sich damit? Wie äußert sich gegenwärtiger Nationalismus und was sind seine Ziele? Wie im Anschlusskapitel genauer dargelegt, hat sich die westliche Japanforschung mit einigen dieser Fragen, wie dem angesprochenen Geschichtsrevisionismus, ausführlich beschäftigt, wobei andere Diskursfelder, wie z. B. der oft zitierte „Rechtsruck der Jugend“, weitgehend unbeachtet blieben. Zudem wurde vielfach ausschnitthaft und selten mit empirischen Daten gearbeitet, so dass die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der beschriebenen Phänomene oftmals im Dunkeln blieb. So lassen etliche ungeklärte Fragen ein eher bruchstückhaftes Bild des japanischen Gegenwartsnationalismus entstehen, das Raum für detaillierte japanologische Studien bietet. Mit der vorliegenden Arbeit werden die hier skizzierten Entwicklungen zeitgeschichtlich gelesen und ein Gesamttableau des japanischen Gegenwartsnationalismus in den ausgewählten Diskursfeldern (Politik, Wissenschaft, Kulturbetrieb und Medien) angefertigt. Dieses soll zur analytischen Vertiefung mittels vorhandenem sowie eigenem quantitativen und qualitativen Studienmaterial zusätzlich empirisch abgeglichen werden. Um zu einem verbesserten Verständnis des gegenwärtigen japanischen Nationalismus zu gelangen, sollte dieser nicht als ein isoliertes Phänomen betrachtet werden, sondern, wie noch zu erläutern ist, in unmittelbarem Zusammenhang und in Wechselwirkung mit gesteigerten Globalisierungsströmungen. Dabei ist ebenso ein mit neoliberalen Strukturreformen einhergehender, übergeordneter sozialer Wandel in Japan zu berücksichtigen, der nicht nur die Herausbildung und Verbreitung unsicherer Beschäftigungsformen wie Freeter13 oder Zeitarbeit gerade unter den jüngeren Generationen befördert hat, sondern infolgedessen auch eine Veränderung des Japanbildes von einer weitgehend unterschiedslosen „Mittelstandsgesellschaft“ zu einer Gesellschaft sich verstärkender sozialer Unterschiede (kakusa shakai, karyû shakai) mit sich brachte14. Die daraus resultierenden, gesellschaftlichen Herausforderungen müssen verstärkt vor der Folie nationaler Identifikation gelesen werden, wobei die steigende, soziale Unsicherheit Tendenzen 13 Freeter (zusammengesetzt aus „free“ und „Arbeiter“) sind der Definition des japanischen Kabinettsbüros (Naikakufu) zufolge Personen zwischen 15 und 34 Jahren, die arbeitswillig sind, aber über keine feste Anstellung verfügen. Stattdessen sind sie in Teilzeitjobs oder Zeitarbeit beschäftigt, wobei Studenten und Hausfrauen nicht dazugezählt werden. Vgl. Naikakufu (2003). 14 Mit sozialem Wandel sollen hier wachsende soziale Differenzen und sozioökonomische Veränderungen in der japanischen Gesellschaft bezeichnet werden. Damit verknüpft ist die Ablösung des Bildes von Japan als einer „Mittelstandsgesellschaft“, das etwa bis zur Jahrtausendwende weit verbreitet war. Debatten über wachsende Einkommensungleichheiten und die Ausbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse wie Freeter oder Zeitarbeit haben jedoch nicht nur große Zweifel am weiteren Bestand des Bildes von der unterschiedslosen japanischen Gesellschaft aufkommen lassen, sondern auch daran, ob dieses Bild überhaupt jemals korrekt war. Vgl. hierzu Kap. E.; vgl. auch Miura (2007); Chiavacci (2008); Schad-Seifert (2007); Schad-Seifert (2008); vgl. Genda (2005).
II. Forschungsstand
15
zum politischen Extremismus befördern kann. Insbesondere die antichinesischen und antikoreanischen Bewegungen in Internet und Popkultur werden von einigen Beobachtern in Zusammenhang mit diesem sozialen Wandel und der wachsenden Prekarisierung gebracht15. Diese hier einleitend angesprochenen Entwicklungen lassen erkennbar werden, dass eine Untersuchung des Patriotismus und Nationalismus vor dem größeren sozioökonomischen Hintergrund einen fruchtbaren Ansatzpunkt bietet. Wie ist also nationale Identifikation gerade in Zeiten des Neoliberalismus und der Globalisierung zu bewerten, in denen der „Nationalstaat“ vorgeblich an Bedeutung verliert und deregulierte, transnationale Märkte an seine Stelle treten? Ebenso ist die Rolle der Identitätsbezüge Staat und Nation vor dem Hintergrund von Globalisierungsund Regionalisierungstendenzen zu bewerten, von denen sie nicht zu trennen sind. Region soll dabei im doppelten Sinne verstanden werden: zum einen im Sinne eines asiatischen Regionalismus, d.h. Japans Beziehungen speziell zu seinen Nachbarn China und Südkorea, zum anderen im Sinne eines innerjapanischen Regionalismus, der sich in japanischen Identitätsdiskursen primär in einer Dichotomie zwischen Region und Zentrum (Tôkyô), „lokaler Traditionen“ und zentralisierter Staatsgewalt manifestiert.
II. Forschungsstand Der japanische Nationalismus ist in seinen verschiedenen Ausprägungen auch in der westlichen Japanforschung bis in die 1990er Jahre relativ gut erforscht. Insbesondere seine geistesgeschichtlichen Wurzeln und ideologischen Inhalte wurden dabei häufig dokumentiert. Ebenso erfuhren Themen des kulturellen Nationalismus große Beachtung, vor allem die Diskurse vom „Wesen der Japaner“ bzw. deren vermeintlicher „Überlegenheit“ oder „Einzigartigkeit“ (Nihonjinron)16. Im Gegensatz dazu hat sich die Untersuchung des japanischen Nationalismus in der Gegenwart hauptsächlich auf den ab den 1990er Jahren verstärkt zu beobachtenden japanischen Geschichtsrevisionismus sowie den politischen Nationalismus auf Regierungsebene beschränkt. Mit primär ideengeschichtlichen Ansätzen haben der Japanologe und Historiker Kevin Doak sowie der Anthropologe Oguma Eiji (*1962) von der Keiô-Universität komplexe Standardwerke zum japanischen Nationalismus vorgelegt. Doak arbeitet in seiner Studie von 2007 „Gesellschaft“ (shakai), „Kaiser“ (tennô), „ethnische Nation“ (minzoku) und „bürgerliche Nation“ (kokumin) als vier für den japanischen Nationalismus zentrale Begriffe heraus und zeichnet deren geschichtliche Entwicklung nach. Für die vorliegende Arbeit ist speziell Doaks Analyse der Nationenbegriffe kokumin und minzoku aufschlussreich, die dem Japanologen zufolge Takahara (2006), S. 94; Itagaki (2007), S. 7; Azuma/Kitada (2008); Suzuki (2008). Vgl. z. B. Yoshino (1992); Yoshino (1999b); Befu (2001); Sugimoto (1999); Antoni (1998). 15 16
A. Einleitung
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zu verschiedenen Geschichtsabschnitten jeweils unterschiedlich stark hervortraten (vgl. hierzu auch Kap. A. III.). Der Autor sieht in seiner Studie eine schwächer werdende Unterstützung für ethnisch konnotierten Nationalismus in Japan seit der 2000er Dekade17. Seine Untersuchung endet neben solchen vereinzelten Bezugnahmen auf die Gegenwart jedoch in den 1980er bzw. 1990er Jahren. Oguma verfolgt einen ähnlichen Ansatz wie Doak und analysiert in seinem Buch Minshu to aikoku (Demokratie und Patriotismus) minutiös den Intellektuellendiskurs18 der unmittelbaren Nachkriegszeit zum Thema Patriotismus bis in die 1970er Jahre. Er arbeitet dabei unterschiedliche Konzeptionen von Nation im konservativen und progressiven Lager heraus und analysiert die ideologischen Grundlagen der sich zu dieser Zeit herausbildenden Nachkriegsordnung19. In der deutschsprachigen Japanforschung haben sich dem Themenkreis aus ideengeschichtlicher Perspektive die Tübinger Japanologen Klaus Antoni, Johann Nawrocki oder auch Michael Wachutka mit Arbeiten zu den religiösen Ausprägungen des japanischen Nationalismus (Staats-Shintô etc.) oder dessen Wurzeln, wie z. B. der kokugaku (Nationale Schule) genähert20. Z. B. zeigt Klaus Antoni mit einem historischen Ansatz auf, wie diese ideologischen Wurzeln auch den gegenwärtigen Nationalismus bis heute beeinflussen. In Bezug auf den politischen Staats-Shintô – ein Grundpfeiler des klassischen japanischen Nationalismus (vgl. Kap. A. III.) – macht Antoni deutlich, dass die politische Dimension von Beginn an Bestandteil des Shintô war, und dieser deswegen nicht von einem apolitisch, vermeintlich rein „spirituellen“ Shintô getrennt werden kann 21. Eben dieser Versuch, einen „unpolitischen“ und somit historisch „unbelasteten“ Shintô zur Konstruktion japanischer kultureller „Einzigartigkeit“ zu benutzen, bildet einen Ansatz (konservativer) Intellektueller, der insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren verfolgt wurde. Mit den auch als „spirituelle Intellektuelle“22 bezeichneten Akteuren des japanischen Kulturdiskurses hat sich u.a. die Religionswissenschaftlerin und Japanologin Inken Prohl auseinandergesetzt23. Sie zeigte Doak (2007), S. 263. befasst sich auch die Japanwissenschaftlerin Iida Yumiko mit Intellektuellen- und Wissenschaftsdiskursen zur nationalen Identität und dehnt ihren Untersuchungsrahmen dabei bis in die 1990er aus. Vgl. Iida (2002). 19 Oguma (2002a). 20 Antoni (1998); Antoni (2002); Nawrocki (2002); Wachutka (2012). 21 Antoni (2002), S. 264. 22 Seit den 1980er Jahren lässt sich das Phänomen einer Parteinahme für das Religiöse von Seiten prominenter Vertreter der japanischen Gegenwartskultur feststellen. Vgl. Gebhardt (2001), S. 41. Dieser Personenkreis wurde vom Religionswissenschaftler Shimazono Susumu mit dem Begriff „spirituelle Intellektuelle“ (reiseiteki chishikijin) belegt, wenngleich Shimazono Gebhardt zufolge eine genauere Definition der „Intellektuellen“, bzw. des Wandels, dem diese Bezeichnung im japanischen Diskurs unterworfen war, schuldig bleibt. Vgl. ebd. 23 Prohl (2000); Prohl (2002). 17
18 Ähnlich
II. Forschungsstand
17
dabei auf, wie dieser Personenkreis durch seine Präsenz in den Medien und die Unterstützung von Verlagen, Stiftungen etc. signifikanten Einfluss auf die Prägung japanischer Identität in ethno- und religiös-nationalistischen Bahnen nimmt. Der Wandel der japanischen Außen- und Sicherheitspolitik seit den 1990er Jahren, der die Bereitschaft Japans zu stärkeren internationalen – auch militärischen – Beiträgen beinhaltet, ist aus primär politologischer Perspektive sowohl in der japanischen als auch der westlichen (hier primär der englischsprachigen) Forschung vergleichsweise umfangreich dokumentiert worden. Die Politologen und Japanwissenschaftler Chris Hughes von der Universität Warwick, Richard Samuels vom MIT, Peter Katzenstein von der Cornell University sowie der Historiker Kenneth Pyle von der University of Washington haben vielrezipierte Monographien vorgelegt24. Z. B. arbeitet Samuels den Wandel des politischen, konservativen Mainstream nach dem Ende des Kalten Krieges heraus und definiert dabei vier Hauptdenkrichtungen und -strategien hinsichtlich Japans (außen)politischer Rolle (vgl. auch Kap. C.)25. Eine Untersuchung der japanischen Sicherheitspolitik seit 1945 im Spannungsfeld der pazifistischen Nachkriegsordnung bietet zudem auch der Asienwissenschaftler und Politologe Axel Berkofsky von der Universität Pavia26. Speziell zu Verfassungsänderungsbestrebungen seit den 1980er Jahren sowie dem Diskurs der Konservativen darüber seien ebenfalls die Beiträge des Japanologen Christian Winkler genannt. Winkler charakterisiert darin diese Bestrebungen als Versuche zur (Wieder)herstellung einer „würdevollen Nation“ nach konservativen Vorstellungen 27. Für die japanische Forschung sind zu dieser Thematik vor allem die Beiträge des Politologen Watanabe Osamu von der Hitotsubashi-Universität anzuführen 28. Auch auf die 2015 erschienene Studie des Politologen Nakano Kôichi von der Sophia-Universität sei hier hingewiesen, der die Entwicklungsstufen der japanischen Nachkriegspolitik nachzeichnet und ihr im Ergebnis einen Rechtsruck attestiert, dessen Anfänge er aber bereits in den 1980er Jahren erkennt und nicht erst seit den Koizumi- oder Abe-Administrationen. Mit einer Kombination von Nationalismus und Neoliberalismus habe sich damals eine neue Rechte herauskristallisiert29. Diesen Rechtsruck sieht er jedoch nicht allein als ein japanisches, sondern als ein weltweites Phänomen30. Dem Problem des Geschichtsrevisionismus wurde sowohl in Japan als auch in der westlichen Forschung große Aufmerksamkeit zuteil31. In der deutschsprachiHughes (2005); Samuels (2007); Katzenstein (2008); Pyle (2007). Samuels (2007). 26 Berkofsky (2012). 27 Winkler (2011a); Winkler (2011b). 28 Watanabe (2001); Watanabe (2009). 29 Vgl. Nakano (2015). 30 Vgl. ebd., S. 177. 31 Für die japanische Forschung seien zum Geschichtsrevisionismus u.a. Oguma/Ueno (2003) Ueno (2004), Yoshida (2005) genannt. Für die englischsprachige Forschung vgl. z. B. 24 25
18
A. Einleitung
gen Japanforschung sind zu diesem Thema vor allem die Beiträge der Japanologen Sven Saaler von der Sophia-Universität und Steffi Richter von der Universität Leipzig zu nennen32. Saaler beschäftigt sich mit den historischen Hintergründen der Schulbuchaffäre, der Yasukuni-Schrein-Thematik und allgemeinen Fragen des japanischen Geschichtsbildes. Dabei zeigt er anschaulich, wie diese Themen nicht auf Fragen der Geschichtswissenschaft beschränkt bleiben, sondern einen Indikator für übergeordnete Politik- und Gesellschaftsdebatten bilden33. Steffi Richter kommt zu ähnlichen Ergebnissen und begreift den verstärkten Blick in die Geschichte als Spiegelbild für Japans gesellschaftliche Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft34. Sie weist darauf hin, wie Geschichtsrevisionismus unmittelbar auch im Zusammenhang mit der Globalisierung gesehen werden muss und untersucht neben Schulbüchern populäre Medien wie die nationalistischen Mangas von Kobayashi Yoshinori (*1953)35, Popmusik oder Zeitschriften als Vehikel revisionistischer Botschaften36. Wenn gleichwohl die Bewertung japanischer Geschichte stets ein zentrales Leitmotiv gegenwärtiger Nationalismen ist, so soll die vorliegende Arbeit deutlich machen, dass die westliche Japanforschung mit ihrer Betonung einiger weniger Aspekte der Revisionismusbewegung wichtige Facetten des Gegenwartsnationalismus – trotz der großen Wellen, die sie in Japan geschlagen haben – auffallend selten aufgegriffen hat. Hierzu gehören neben dem Post-Fukushima-Nationalismus37 vor allem Untersuchungsfelder wie der Nationalismus der jüngeren Generation und des Prekariats, subkulturelle und popkulturelle Manifestationen von Nationalismus (abseits von Kobayashi Yoshinoris Mangas) und rechter Internetaktivismus, die in Japan seit Beginn der 2000er Jahre äußert intensiv diskutiert wurden. Als zentrale Akteure dieses Diskurses sind u.a. die Psychiaterin und Kommentatorin Kayama Rika, sowie die Soziologen Kitada Akihiro (*1971) von der Universität Tôkyô, Suzuki Kensuke (*1976) von der International University of Japan und Takahara Motoaki (*1976) anzuführen38. Während Kayama angesichts des von ihr beschriebenen Fußball-Patriotismus junger Japaner vor deren Rechtsruck warn-
Shimazu (2006). Speziell zum Yasukuni-Schrein Nelson (2003), Ushimura (2008) und zur Schulbuchaffäre und den Erziehungsreformen Rose (2006). 32 Saaler (2003); Saaler (2005); Saaler (2016); Richter/ Höpken (2003); Richter (2004); Richter (2008a). 33 Saaler (2005), S. 165. 34 Richter (2004). 35 Für weitere Beiträge zu Kobayashi Yoshinori siehe neben Richter auch Sakamoto (2008), Asaba (2004), Sasaki (2009). 36 Richter (2008b), S. 48 ff.; Richter (2003); (2008c); (2008d). 37 Vgl. Gebhardt/Richter (2013); Richter/Gebhardt (2012); Raddatz (2012); Raddatz (2013b); 38 Kayama (2002); Kayama (2012); Kitada (2005); Azuma/Kitada (2008); Ôsawa/Kitada (2008); Suzuki (2005a); (2006); (2007a); (2008); Takahara (2006); (2011).
II. Forschungsstand
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te, sahen die erwähnten Soziologen diese Schlussfolgerung wesentlich gelassener. Die einzelnen Positionen hierzu werden in Kapitel E. genauer vorgestellt. Auch in der englischsprachigen Japanforschung wurden diese Debatten vereinzelt aufgegriffen. Der Politologe Sasada Hironori attestiert in einem Artikel von 2006 jungen Japanern – ähnlich wie Kayama – einen Rechtsruck, was er an Faktoren wie dem Erfolg rechter Mangas, der schwindenden Bedeutung linker Parteien, großen Sportereignissen sowie dem Einfluss des Internet festmacht. Dabei scheint er allerdings zu allzu starker Verallgemeinerung zu neigen39. Ferner ist die Kulturwissenschaftlerin Sakamoto Rumi von der Universität Auckland anzuführen, die mit ihrem „Pop-Nationalismus“-Konzept gegenwärtige Nationalismen als „naiv“ und weitgehend ungefährlich charakterisiert40. Zum Nationalismus im Internet sei ergänzend der Historiker Jeffrey Hall von der Waseda-Universität genannt, der sich mit rechten Internetaktivisten (netto uyoku) und deren Protesthaltung gegenüber den etablierten Massenmedien befasst41. Insgesamt lässt sich zum einschlägigen Themenkreis festhalten, dass es in der westlichen Japanforschung an umfassenden Analysen in Bezug auf die Entwicklung des japanischen Nationalismus ab Ende der 1990er Jahre noch mangelt. Wie erläutert, erschöpfen sich die Betrachtungen zumeist in Einzelaspekten des Geschichtsrevisionismus und des politischen Nationalismus. Umfangreichere Untersuchungen enden in den 1970er oder 1980er Jahren42. Als Ausnahmen können die Monographien des Politologen Asaba Michiaki (*1959) und des Anthropologen Brian McVeigh von der Universität Arizona gelten, die den Nationalismus von seinen Anfängen bis in die Gegenwart analysieren43. Beide Studien sind jedoch bereits 2004 erschienen und lassen daher nur bedingt Rückschlüsse auf aktuellere Entwicklungen zu. McVeighs fundierte Studie japanischer Nationalismen schließt dabei auch die oftmals übersehenen, „banalen“ Formen des Nationalismus ein und unterscheidet zwischen staatsgestützten „offiziellen“ und populären „inoffi39 Sasada sieht den wachsenden Nationalismus im Internet und in der Popkultur pauschal als Beleg eines stärker werdenden Nationalismus der jüngeren Generation, was wie in Kapitel E. näher erläutert, eine vorschnelle Schlussfolgerung ist. Vgl. Sasada (2006), S. 118 – 120. 40 Vgl. Sakamoto (2008). Sakamoto kann auch mit einem Artikel zu antikoreanischen Tendenzen im Manga Kenkanryû (vgl. auch Kap. E.) und im Internet angeführt werden, wobei die Autoren anzweifeln, dass dieses Phänomen als ein Beweis für den Rechtsruck junger Japaner gesehen werden kann. Vgl. Sakamoto/Allen (2007). Siehe zum Manga Kenkanryû auch Yamanaka (2008). Für eine Analyse antikoreanischer Tendenzen in Popkultur und Internet vgl. auch Raddatz (2013a); Raddatz (2008). 41 Vgl. Hall (2011). Zum rechten (Internet)aktivismus vgl. auch die Beiträge von McLelland (2008); Sakamoto (2011); Yamaguchi (2013); Raddatz (2013a), Raddatz (2013b). Für die japanische Forschung vgl. insbesondere Yasuda (2012); (2015); Higuchi (2012), Takahara (2006), Suzuki (2007a), Kitada (2005). 42 Vgl. Doak (2007); Oguma (2002a); Suzuki, S. (2005). 43 Asaba (2004); McVeigh (2004).
A. Einleitung
20
ziellen“ Nationalismen44. Asaba spricht in ähnlicher Weise von Nationalismus im Rahmen eines Establishments (taisei) und Anti-Establishments (han-taisei)45. Ein vergleichbarer Ansatz soll auch in dieser Arbeit verfolgt werden. Wenngleich die japanische Debatte um sozialen Wandel und Prekarisierung von der westlichen Japanforschung46 viel diskutiert wurde, sollen diese im Kontext der Globalisierung zu behandelnden Entwicklungen hier vor der weniger beachteten Folie Nationalismus analysiert werden. Zu diesem Ansatz, der neben vereinzelten Beiträgen der westlichen Forschung47 in der japanischen Forschung bereits ausführlicher verfolgt wurde48, ist generell festzustellen, dass die Verknüpfung von Nationalismus und neoliberaler Globalisierung lange Zeit unbeachtet blieb und erst seit einiger Zeit aufgegriffen wird49. Das Ziel der vorliegenden Studie ist es, aus dieser Perspektive den japanischen Gegenwartsnationalismus ab 1998 zu untersuchen und abseits der angeführten Einzelbetrachtungen ein möglichst zutreffendes Gesamtbild der verschiedenen Facetten japanischer Nationalismen im gewählten Zeitraum zu entwickeln. Die Vielzahl der gerade im japanischen Fall häufig auch journalistisch-skizzenhaften Untersuchungen macht dabei ein generelles Problem des Forschungsstandes deutlich: die meist fehlende empirische Grundlage. Aufgrund ihrer fragmentarischen Behandlung können solche Einzelskizzen zu gesamtgesellschaftlicher Überbewertung verleiten, denn es bleibt häufig unklar, wie diese Momentaufnahmen japanischen Nationalismus in einem übergeordneten Gesamtkontext zu bewerten sind. Um über diesen Status hinausgelangen, wird die Analyse aktueller Patriotismus- und Nationalismusdiskurse durch empirisches Material ergänzt, um ein möglichst realitätsnahes und umfassendes Bild gegenwärtiger Nationalismen zu zeichnen. Dazu ist es zunächst unerlässlich, die verwendeten Arbeitstermini näher zu bestimmen.
44 McVeigh
befasst sich dabei mit der strukturellen Manifestierung und Institutionalisierung des japanischen Nationalismus in verschiedenen „Domänen“, wie etwa im Erziehungssystem, der Wirtschaft etc. Vgl. McVeigh (2004). 45 Asaba unterscheidet darüber hinaus zwischen einem extrovertierten, Werte propagierenden (kakusan-gata) und einem introvertierten, auf nationale Interessen fokussierten (shûren-gata) Nationalismus. Asaba (2004), S. 30, 274. 46 Vgl. z. B. die Beiträge der Japanologen Schad-Seifert (2007; 2008), Chiavacci (2008) und Shiharase (2010) für eine Analyse dieses Diskurses aus primär soziologischer Perspektive. 47 Vgl. z. B. Richter (2008d); Iida (2002). 48 Vgl. z. B. Takahara (2006); Suzuki (2008); Miura (2010). 49 Butterwegge (2008).
III. Begriffsbestimmungen
21
III. Begriffsbestimmungen 1. Was ist Nationalismus? Die Nationalismusforschung50 steht vor dem grundlegenden Problem, dass viele ihrer Gebrauchskategorien wie selbstverständlich nicht nur in wissenschaftliche Ideengebäude51, sondern auch in die Alltagssprache und ganz allgemein unsere Denkweise Eingang gefunden haben, beispielsweise in einer Art, dass Kategorien wie Gesellschaft und „Nationalstaat“ häufig synonym behandelt werden52. Diese Tatsache erschwert es zusätzlich, sich diesen Kategorien „objektiv“ zu nähern, bzw. ganz auf sie zu verzichten53. Die Kultur- und Sozialwissenschaften leiden nicht selten daran, dass gruppenzentrierte bzw. – wie der amerikanische Soziologe und Nationalismusforscher Rogers Brubaker sie nennt54 – eher „gruppistische“ (groupism) Kategorien wie Klasse, Gender, Rasse, Ethnie, Nation oder auch Gesellschaft eben nicht selbstgenügend oder gar –erklärend sind55. „Gruppe“ erscheint oftmals als vermeintlich unproblematischer Begriff, als Selbstverständlichkeit, die keiner näheren Erläuterung bedarf56. „Gruppen“ wie Nationen, Ethnien, Rassen57 etc. wird der Einfachheit halber eine geschlossene Handlungsfähigkeit zugeschrieben58. 50 Als einflussreichste Beiträge zur jüngeren Nationalismusforschung ab den 1980er Jahren sind primär anzuführen: Anderson (2006), Gellner (1983), Hobsbawm (1990), Smith (1998; 2000), Connor (1994). Als weitere vielrezipierte Beiträge können Breuilly (1982); Billig (1995); Brubaker (1996) genannt werden. 51 Saaler weist darauf hin, dass die Geschichtswissenschaft als akademische Disziplin im 19. Jh. in einem Klima des aufkeimenden Nationalismus entstand und in dieser Hinsicht eine zentrale Rolle für die „Erzählung“ der Nation einnimmt. Vgl. hierzu Saaler (2005), S. 50 f. 52 Dies wird in der Sozialwissenschaft auch als „methodologischer Nationalismus“ bezeichnet. Vgl. hierzu Beck (2005); Chernilo (2006). 53 Vgl. Calhoun (1993), S. 214. 54 Brubaker (2004), S. 8. 55 Vgl. Calhoun (1993), S. 214; Brubaker/Cooper (2000); Brubaker (2004); Smutny (2004). 56 Brubaker (2004), S. 7. 57 Die Soziologen Brubaker, Loveman und Stamatov kommentieren den Zusammenhang von Nation, Rasse und Ethnie wie folgt: „Race, ethnicity, and nationality exist only in and through our perceptions, interpretations, representations, classifications, categorizations and identifications. They are not things in the world, but perspectives on the world – not ontological but epistemological realities“. Brubaker/Loveman/Stamatov (2004), S. 45. Die Soziologin Mary C. Waters von der Universität Harvard schreibt über die wechselvolle Beziehung von Rasse und Ethnie: „groups we think of as ‚ethnic groups‘ were seen in earlier times as ‚racial groups‘. In the 19th century, the Irish were seen as a ‚race‘ apart from other European groups (…) stereotyped for their criminality, lack of education (…) and they were often portrayed as apes in cartoons (…) and referred to as ‚niggers‘ inside out“. Waters (2006), S. 204. 58 Brubaker (2004), S. 8.
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A. Einleitung
Dies lässt die Nationalismusforschung nicht nur sprachlich unklar, sondern wie der Politikwissenschaftler Walker Connor anmerkt, geradezu von einem „terminologischen Chaos“ gebeutelt erscheinen, bei dem zudem die zentralen Begriffe Patriotismus und Nationalismus oftmals synonym verwendet werden59. Connors simpler Definition60 zunächst folgend, beschreibt Patriotismus die Loyalität zum Staat, während mit Nationalismus jene zur Nation bezeichnet wird61. Dabei ist laut Connor im Falle von „echten“ Nationalstaaten, bei denen sich der Vorstellung nach Nation und Staat weitgehend decken (hierzu zählt er auch Japan), die Unterscheidung beider Loyalitätsformen hinfällig, da sie im allgemeinen Bewusstsein als dasselbe verstanden werden62. Inwieweit dieser a priori Verzicht auf eine genauere Verwendung der beiden Begriffe angeraten ist, wird im weiteren Verlauf nochmals genauer diskutiert. Während es noch relativ leicht fällt, „Staat“ zu definieren63, erscheint dies für „Nation“ bereits wesentlich schwieriger64. Ein Staat ist gemäß der weit verbreiteten Definition Max Webers eine Gemeinschaft, die erfolgreich das Monopol auf rechtmäßige Gewaltausübung in einem bestimmten Territorium beansprucht65. Emile Durkheim definiert den Staat etwas idealistischer als „a special organ whose responsibility it is to work out certain representations which hold good for the collectivity“66. 59 Vgl. Connor (1994), S. 92 ff.; Connor (2002), S. 24; Connor (2004). Andere Beispiele Connors für verwirrende Begriffe, die sich eingebürgert haben, sind etwa „nation-build ing“, „Vereinte Nationen“, oder auch „international“, wenn im Grunde jeweils Staaten als Akteure im Mittelpunkt stehen. Vgl. Connor (1994). 60 Die Connorsche Definition weiß durch ihre Klarheit und Einfachheit zunächst zu überzeugen, ist aus demselben Grund jedoch ebenfalls dazu verdammt, einige Nationalismen definitorisch nicht gebührend abzudecken. Seine radikale Reduzierung des Nationalismus auf seine „ethnische“ Implikation vernachlässigt dennoch andere Ausprägungen und unterwirft sich im Grunde essentialistischen Vorgaben von Nationalisten selbst. Wie auch Michael Billig zu Connor anmerkt, ist es zudem problematisch, dass dessen ethno-fokussierter Definition zufolge beispielsweise die USA keinen Nationalismus haben können, wodurch er argumentativ zwischen einem „guten“ Patriotismus der Amerikaner und dem „bösen“ Nationalismus in anderen Staaten unterscheiden kann. Vgl. Billig (1995); vgl. auch Kap. A. III. 2. 61 Connor (2002), S. 24. Connors Terminologie zufolge, kann so beispielsweise von britischem Patriotismus gesprochen werden, aber nur von englischem, schottischem, walisischem oder irischem Nationalismus. Vgl. Smith (2002), S. 55. Zur Genese des Begriffs der „Nation“ (natio), der sich im Mittelalter noch auf den „Herkunftsort“ einer Person bezog, vgl. auch Smutny (2004). 62 Vgl. Connor (1994), S. 40 f., 99. 63 Connor (1994), S. 93. 64 Dies mag die Vermischung der Loyalitätsformen Patriotismus und Nationalismus zunächst unklar erscheinen lassen. Dabei ist in Situationen, in denen die beiden Loyalitäten in Konflikt zueinander geraten, laut Connor der Nationalismus für gewöhnlich machtvoller als der Patriotismus. Vgl. Connor (1994), S. 197. Nationen und Staaten sind dabei jedoch nicht immer zwingend miteinander verbunden. Vgl. Castells (1997), S. 29 f. 65 Weber (1980), S. 822. 66 Durkheim (1992), S. 48.
III. Begriffsbestimmungen
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Brubaker zufolge ist jedoch der Versuch, eine Definition des Konzepts Nation anzubieten, problematisch, da allein dadurch die tatsächliche Existenz von Nationen bereits vorausgesetzt wird. Denn ein solcher Definitionsversuch läuft Gefahr, einer Annahme der Nation anheimzufallen, die Nationen als „real“ existierende Einheiten begreift, wonach diese zu einer kollektiven, zielgerichteten Handlung fähig sind, was gleichzeitig wiederum der Sichtweise von Nationalisten entspricht67. Diese Annahmen können allerdings nicht auf das abstrakte Konstrukt Nation angewendet werden. Nationen sind keine objektiv verortbaren, sondern subjektive „Entitäten“, bei denen die Selbstbeschreibung wenig mit einer „tatsächlichen“ Beschaffenheit zu tun hat68. Trotz ihres konstruierten Wesens hat die „Nation“ jedoch sehr konkrete Konsequenzen, die eine genauere Betrachtung erfordern. Hierzu schlägt Rogers Brubaker vor69: „Nationalism can and should be understood without invoking ‚nations‘ as substantial entities. Instead of focusing on nations as real groups, we should focus on nationhood and nationness, on ‚nation‘ as practical category, institutionalized form and contingent event. ‚Nation‘ is a category of practice, not (in the first instance) a category of analysis. To understand nationalism, we have to understand the practical uses of the category ‚nation‘, the ways it can come to structure perception, to inform thought and experience, to organize discourse and political action.“
Brubaker plädiert für die Abkehr vom groupism und schlägt stattdessen eine Betrachtung in relationalen, prozesshaften Kategorien vor, denn Nation sollte in „situationsbedingten Handlungen, kulturellen Idiomen, kognitiven Mustern, diskursiven frames, organisatorischen Routinen, institutionellen Formen“ oder auch politischen Projekten und möglich erscheinenden Ereignissen untersucht werden70. Statt von statischen Kategorien geht er also von dynamischen Abläufen aus: „It means thinking of ethnicization, racialization and nationalization as political, social, cultural, and psychological processes“71. Um dies zu verdeutlichen sprechen Brubaker und ähnlich auf Brubaker basierend auch Florian Smutny nicht von Nation, sondern von „nationness“, „nationhood“, oder dem „Nationalen“72. Wenn in dieser Arbeit also von „Nation“ die Rede ist, wird Brubakers Verständnis zugrunde gelegt. Die Frage nach dem „Alter“ von Nationen ist dabei ein zentraler Aspekt in der Nationalismusforschung. Heute hat sich die modernistische Vorstellung der Nation, insbesondere in ihrer konstruktivistischen Prägung weitgehend durchgesetzt, die „Nation als modernes historisches Konstrukt“ begreift73, wobei sich insbesondere Brubaker (1996), S. 14. Connor (1994). 69 Brubaker (1996), S. 7. 70 Brubaker (2004), S. 11. 71 Ebd. 72 Brubaker (1996); Smutny (2004). 73 Smutny (2004), S. 81. 67
68 Vgl.
A. Einleitung
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die Lesart der Nation als einer „imagined community“74 im Sinne Benedict Andersons als äußerst einflussreich in den Sozial- und Kulturwissenschaften sowie Cultural Studies zeigte. Diese „modernistische“ Auffassung75, die das Aufkommen von Nationen und Nationalismus je nach Ansatz um das Ende des 18. Jh. (Französische Revolution) oder noch später ansetzt, sieht diese Entwicklung als ein Ergebnis eines „umfassenden politischen, kulturellen und ökonomischen“ Wandels76 und lässt sich insbesondere gegen sogenannte „primordiale“ Ansätze abgrenzen, die davon ausgehen, dass Nationen schon weitaus früher, etwa im Mittelalter oder der Antike existiert hätten und dabei auch deren Kontinuität mit vormodernen Gemeinschaften betonen77. Dabei entsprechen primordiale Ansätze einer essentialistischen Auffassung, die davon ausgeht, dass Nationen „tatsächlich“ existieren, ganz im Gegensatz zu konstruktivistischen Lesarten, die Nationen als von Menschen konstruiert bzw. imaginiert verstehen78. Doch wie neuere Beiträge zur Nationalismusforschung argumentieren, verbleiben auch modernistische Ansätze, die eigentlich die Nation „entzaubern“ wollen, nicht selten in einem gruppistischen Rest-Essentialismus primordialer Theorien gefangen, die die Nation als „real existent“ begreifen79. KaAnderson (2006). Modernisten lassen sich wiederum vor allem in kommunikationstheoretische (vgl. Deutsch (1972)), funktionalistische (Gellner (1983)) und marxistische (Anderson (2006); Hobsbawm (1990)) Ansätze unterteilen. Während Gellner die Entstehung von Nationen vor allem mit den Erfordernissen der aufkommenden Industrialisierung in Verbindung bringt, die sich u.a. in sozialer Mobilität und Homogenisierung niederschlugen, betont die marxistische Perspektive noch stärker den Aufstieg des Kapitalismus als Grundlage für die Entstehung von Nationen und Nationalstaaten. vgl. Croucher (2004), S. 96; vgl. auch Smutny (2004). 76 Vgl. Smutny (2004), S. 33. 77 Wie Smutny hierzu ausführt, betont der „Primordialismus“ wie auch der ihm ähnelnde „Perennialismus“ die „Kontinuität zwischen vormodernen und nationalen Gemeinschaften“. Graduelle Unterschiede zwischen beiden Lagern zeigen sich etwa darin, dass Perennialisten Nationen nicht unbedingt als natürlich betrachten, sondern auf wiederkehrende Ähnlichkeiten zu vormodernen Gemeinschaften hinweisen. Vgl. hierzu Smutny (2004), S. 28 – 36. Als weiterer Standpunkt kann der in prominenter Weise von dem Gellner-Schüler Anthony D. Smith vertretene Ethnosymbolismus gesehen werden, der als Mittelweg zwischen beiden Extrempositionen (Modernisten vs. Perennialisten/Primordialisten) zu vermitteln versucht. Smith zufolge sind Nationen zwar modern, basieren aber auf vormodernen bzw. antiken kulturellen Traditionen, Elementen und Artefakten, was er als ethnie (ungleich „Ethnie“) bezeichnet. Vgl. hierzu Smith (1998); Smith (2000). Smith bleibt mit diesem Ansatz aber im Grunde in essentialistischen Deutungsmustern verhaftet. Zur Kritik am Ethnosymbolismus vgl. auch Smutny (2004), S. 32 78 Kritiker dieser Lesart bemängeln, dass Konstruktivisten wie Gellner oder Anderson nicht schlüssig erklären können, wie die imaginierte Gemeinschaft Nation so wirkmächtig werden kann, dass Menschen bereit sind, für sie zum Äußersten zu gehen. Vgl. Smith (1998), S 140; Smutny (2004), S. 65. 79 Smutny bringt diese Kritik in Anlehnung an Brubaker an und wirft zudem den theoretisch antinationalen Multikulturalisten vor, gruppistische Kategorien wie Ethnie oder Rasse in ideologischer Weise zu reproduzieren. vgl. Smutny (2004). Neuere Beiträge streben 74 Vgl. 75 Die
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tegorien wie Rasse, Ethnie oder Nation sollten aber stattdessen als (politische) Konstrukte zur Kontrolle, Zuordnung und Identifikation verstanden werden80. 2. Nationalismus vs. Patriotismus – von „bösen“ Nationalisten und „guten“ Patrioten Welche Konsequenzen ergeben sich nun nach den vorausgegangenen Darstellungen für den Umgang mit dem Identitätspaar Nationalismus/Patriotismus in der vorliegenden Arbeit? Sollten die beiden Begriffe getrennt behandelt werden, oder doch synonym? Wie so oft, liegt Antwort liegt in der Mitte. Patriotismus und Nationalismus sind, wie ausgeführt, nicht dasselbe, da ihre Bezüge theoretisch (Patriotismus-Staat und Nationalismus-Nation) unterschiedlich sind. In der Praxis können deren Grenzen jedoch leicht verschwimmen, gerade in dem von Connor beschriebenen Fall einer Nation, die sich in der allgemeinen Vorstellung mit einem Staat deckt („echter“ Nationalstaat) – auch Japan wird allgemein in diese Kategorie eingeordnet. McVeigh schreibt über diese Beziehung von Staat und Nation: „This is a chicken-or-egg question (…) usually both processes – ‚nationalizing the state‘ and ‚statizing the nation‘ – occur simultaneously and cannot be easily disentangled (at least not in the case of Japan)“81. Allerdings ist Patriotismus nicht auf eine Nation angewiesen und im Gegensatz zu Nationalismus haben Formen des Patriotismus auch vormodern existiert. Dabei ist in der allgemeinen Wahrnehmung der Patriotismus auch im Gegensatz zum Nationalismus tendenziell positiv konnotiert. Er gilt nicht selten als „gut“, oder gar „gesund“82, während Nationalismus als „böse“ und „schlecht“ gekennzeichnet wird. Wie der Sozialpsychologe Michael Billig schreibt, ist oft auch von „unserem“ guten Patriotismus und „ihrem“ bösen Nationalismus die Rede83. Nationalistisch sind tendenziell also immer „die anderen“. Doch wie auch Billig ausführt, ist diese Darstellung nicht viel mehr als eine ideologisierende Rhetorik84. Kurzum, der „gute“ Patriotismus kann genauso „böse“ enden, wie der „böse“ Nationalismus banale, (vermeintlich) „harmlose“ Formen annehmen kann. Nationalismus wird im Grunde nicht stärker, er entsteht nicht plötzlich und manifestiert sich auch nicht nur in Krieg und Aggression, er ist daher eine Wende von gruppistischen zu relationalen Ansätzen an, die versuchen die systemtheoretische Gesellschaftstheorie des Soziologen Niklas Luhmann (vgl. Kittel (1995)) oder Pierre Bourdieus Theorie der sozialen Welt (Smutny (2004); Brubaker (1996)) für die Nationalismusforschung nutzbar zu machen. 80 Vgl. Croucher (2004), S. 117 ff., 179. 81 Vgl. McVeigh (2004), S. 14. 82 Menschen, die sich als unpatriotisch bezeichnen, oder keine besondere Beziehung zu ihrer „Heimat“ empfinden, gelten so wie auch im Rahmen dieser Arbeit an Diskursbeiträgen deutlich wird, gelegentlich als „krank“ oder „unnatürlich“. 83 Billig (1995). 84 Vgl. ebd.
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stattdessen latent immer vorhanden85. Dem Soziologen Ulrich Beck zufolge ist die nationalstaatliche Moderne zwar ein „expansionistisches Projekt, dessen emotionale und somit politische Stärke aus der Tatsache resultiert, dass Grenzen – die der Nation, des Marktes, des Wissens und der Technologie – fortwährend überschritten werden“86, trotzdem sollte man nicht von Nationalismus als Extremfall ausgehen, sondern immer auch von seiner „banalen“ Alltagspräsenz. Wie Michael Billig aufgezeigt hat, wird die Nation gerade durch den alltäglichen „banalen Nationalismus“, wie etwa die weitestgehend „unbemerkt von einem öffentlichen Gebäude hängende Flagge“ konsumiert und reproduziert87. Entsprechend sollten auch jüngere Ansätze gewertet werden, die einen neuen Patriotismus fordern, um damit den „bösen“ alten Nationalismus abzulösen. Der Politologe Maurizio Viroli oder auch der Philosoph Jürgen Habermas mit seinem „Verfassungspatriotismus“ sind prominente Beispiele in dieser Richtung88, die versuchen, den Nationalismus mit einem neuen, vermeintlich moralisch überlegenen Patriotismus zu überwinden, was in einem weiterhin nationalstaatlich angelegten System freilich Gefahr läuft, in einer abgewandelten Form von Nationalismus zu enden89. Erschwerend kommt hinzu, dass in der oft vorgenommenen, ideologischen Teilung in ethnischen (ethnic nationalism, minzokushugi) und den sogenannten bürgerlich/liberalen Nationalismus (civic nationalism, kokuminshugi), der liberale Nationalismus von einem Patriotismus Habermasscher Prägung selbst in der Theorie kaum unterscheidbar ist. Diese Zweiteilung des Nationalismus wurde insbesondere durch die Arbeiten des Nationalismusforschers Hans Kohn und auch die der Totalitarismustheoretikerin Hannah Arendt befördert, die vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs Nationalismus in einen vermeintlich liberalen und „guten“ westlichen Nationalismus (Frankreich, Großbritannien, USA) und einen „bösen“, weil organizistischen östlichen Nationalismus einteilten (Deutschland, Japan)90. Die Unterscheidung nach ethnischer (minzoku) und bürgerlicher Nation (kokumin) findet sich ähnlich auch im japanischen Kontext. Im Japanischen kann minzoku dabei sowohl (ethnische) Nation, als auch „Ethnie“ bedeuten, während kokumin neben der Bedeutung (bürgerliche) Nation auch einfach für „Volk“ verwendet wird91. Vgl. auch Brubaker (1996). Beck (2005), S. 41. 87 Billig (1995), S. 8. 88 Viroli (1995); Habermas (1998). 89 Vgl. hierzu auch Shiokawa (2008). 90 Brubaker merkt zu Kohns regionaler Klassifikation in westlichen und östlichen Nationalismus an, dass dieser ein „neo-orientalistischer“ Geschmack anhafte und einer „dubiosen Serie von verketteten Gegensätzen“ Vorschub leiste (wie z. B. Universalismus vs. Partikularismus, Inklusion vs. Exklusion, Toleranz vs. Hass). Vgl. Brubaker (2004), S. 133, 140 f. 91 Wie der Politologe Shiokawa Nobuaki anmerkt, unterscheiden sich die Begriffe kokumin und Ethnizität (esunishiti). Aber minzoku sei je nach Auffassung beiden Begriffen ähnlich und könne sich bisweilen mit Ethnizität überlappen, während diese Überschneidung bei kokumin und Ethnizität nicht unbedingt der Fall sei. Vgl. Shiokawa (2008), S. 3, 6 f. 85
86
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Wie Kevin Doak ausführt, hat sich je nach Zeitperiode der eine oder der andere Begriff im Diskurs dominant gezeigt92. Solche Einteilungen sind freilich auch als ideologische Strategie zu verstehen, 93 denn Smutny zufolge, beinhaltet jeder Nationalismus beide Komponenten . Brubaker führt zudem aus, dass diese Zweiteilung impliziere, dass es auch nur zwei Formen von Nationalismus gebe und macht auf die definitorische Unschärfe der Klassifizierung in ethnischen und bürgerlichen Nationalismus aufmerksam, bei der schon die zu Grunde liegenden Termini „civic“ und „ethnic“ in sich höchst 94 vieldeutig seien . Brubaker sieht diese Dichotomie als überbeansprucht an und erkennt eine Alternative in der Analyse von Nationalismus in Kategorien von staat95 lich verordnetem Nationalismus und antistaatlichen Derivaten davon . Tabelle 1
Übersicht über Loyalitätsformen und ihre Bezüge Bezugspunkt
Loyalitätsformen und -ausprägungen
Staat
Patriotismus (aikokushin) [Etatismus (kokkashugi)]
Nation (allgemein)
Nationalismus (nashonarizumu) [Etatismus (kokkashugi)] Staats- und/oder Eliten-Level
Establishment-Nationalismus („von oben“)
Sub State und/oder Massenebene
(Potentiell oppositioneller) Nationalismus („von unten“)
Ethnische Nation (minzoku)
Ethnischer Nationalismus (ethnic nationalism, minzokushugi)
Bürgerliche Nation (kokumin)
Bürgerlicher/„liberaler“ Nationalismus (civic nationalism, kokuminshugi)
(„Heimat-“)Region
Patriotismusderivate „Heimatliebe“/„Lokalpatriotismus“ (aikyôshin/kyôdoai)
Dass solche theoretischen Ambiguitäten vor allem von praktischem ideologisch-politischem Nutzen sind, hebt McVeigh zu Recht hervor: „Nationalism works not because it is defined clearly and explicitly, but because it is unclear and Doak (2007). Smutny (2004); vgl. auch Calhoun (2007), S. 117 – 146. In die gleiche Richtung geht die Unterteilung in Staatsnationen (z. B. Frankreich) und Kulturnationen (z. B. Deutschland) etwa bei Friedrich Meinecke (1862 – 1954), mit der ab dem Ende des 19 Jh. die „verspätete“ deutsche „Nation“ imaginiert und legitimiert werden sollte. Vgl. hierzu auch Smutny (2004). 94 Brubaker (2004), S. 133, 136 f. 95 Brubaker (2004), S. 146. 92 Vgl. 93 Vgl.
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vague96. Und in Bezug auf die sprachlichen Unklarheiten im japanischen Fall fügt er an97: „Indeed the very words for Japan and Japanese (nihon and nihonjin) are in fact powerful evocative symbols (…), they are ambiguous and multivocal. For instance, consider the semantic slippage in the very language used to discuss ‚Japan‘, which is variously thought of as state, nation, place and country. (…) Other peoples (…) who may not correspond to being ‚Japanese‘ are marginalized.“
Ähnlich kann es sich mit der Unterscheidung zwischen Nationalismus und Patriotismus verhalten, denn diese erscheint häufig ebenfalls nicht mehr als ein ideologischer Taschenspielertrick. Wie von Billig betont, werden aber gerade die banalen Alltagsformen des Nationalismus oft ignoriert und in vielen Fällen auch als „guter“ Patriotismus aufgefasst. Der britisch-polnische Soziologe Zygmunt Bauman beschreibt diesen Mechanismus treffend: „Patriotism, more postulated than empirically given, is what nationalism (if tamed, civilized and ethically ennobled) could be but is not. Patriotism is described through the negation of the most disliked and shameful traits of known nationalisms“98. In diesem Sinne sollte man sich der theoretischen Unterschiede zwischen Patriotismus und Nationalismus insgesamt zwar bewusst sein, aber in der praktischen Analyse legitimiert sein, beide als synonym zu betrachten, wenn die weitere Unterscheidung nicht explizit nötig oder möglich erscheint99. Diese Überzeugung spiegelt sich auch im zunächst vielleicht verwirrend erscheinenden Titel der vorliegenden Arbeit wider. 3. Die Entstehung des japanischen Nationalismus Nach der Definition und Darstellung der Entwicklung des Nationalismus im vorangegangenen Abschnitt, die in der vorgestellten Weise vor allem für den europäischen Kontext Geltung besitzt, soll diese hier nun speziell für den japanischen Fall nachgezeichnet werden, der sich weitgehend ähnlich darstellt. Wie Klaus Antoni anmerkt, ist Japan keineswegs ein Sonderfall, der eine komparatistische Analyse verhindern könnte100. Das Aufkommen des japanischen Nationalismus kann direkt mit der von den USA erzwungenen Öffnung (1853) durch Commodore Matthew C. Perry (1794 – 1858) und der damit einhergehenden Modernisierung des Landes nach der Meiji-Restauration (1868) in Zusammenhang gebracht werden. So ließe sich mit den Worten von Kevin Doak sagen, dass vor 1853 kein Japan existiert hat101. McVeigh (2004), S. 34. Ebd., S. 24 98 Bauman (2000), S. 174. 99 Vgl. auch Connor (1994). 100 Vgl. Antoni (1998), S. 250. 101 Doak (2007), S. 36. 96
97
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Die rasche „Nationalisierung“ zu nationalstaatlichen Strukturen nach westlichem Muster versprach der einzige Weg zu sein, sich direkter westlicher Kolonialisierung zu entziehen. Die intellektuellen Grundlagen dieses „Instant-Nationalismus“ zur Schaffung eines Nationalstaats waren zur Meiji-Restauration in Elitenkreisen (wie der kokugaku102) bereits vorhanden, auch wenn Japan zu diesem Zeitpunkt weit davon entfernt war, eine „geeinte Nation“ zu sein103 und auch im japanischen Fall stets konkurrierende Nationalismen existierten104. Wie Oguma ausführt, verstanden sich die Menschen von der Edo-Periode (1603 – 1868) bis zur Meiji-Zeit (1868 – 1912) noch nicht als „Japaner“ im heutigen Sinne, sondern vielmehr als Angehörige ihrer Dörfer bzw. von feudalen Herrschaftsgebieten (han)105. Nicht nur in Japan wurden solche traditionellen Gemeinschaften erst durch Modernisierungsprozesse urbanisiert und industrialisiert, in deren Folge die Abnabelung von den ursprünglich begrenzten Lokalitäten der Nation als neuem Identitätsbezug den Weg ebnete106. 102
Der (National)Staat war vor der Meiji-Restauration weit davon entfernt, politische Bedeutung zu besitzen. Tatsächlich förderte, so McVeigh, die Shogunats-Politik politische, wirtschaftliche und soziale Unterschiede, die kaum einen zentralisierten (National)Staat hervorbringen konnten, sondern eher kleine „Proto-Staaten“107. Wie Doak schreibt, war die politische Sphäre um das eher locker gefasste konfuzianistische Konzept des Universums (tenka) herum strukturiert108. Für die Japanologin Elise Tipton waren es insbesondere die ungleichen Verträge mit dem Ausland, die dazu führten, dass mehr und mehr Menschen über ihre regionalen Loyalitätsgrenzen hinaus zu denken begannen, was sich in den 1850ern und 1860ern auch in dem Protestslogan sonnô jôi (Verehrt den Kaiser und vertreibt die 102 Die sog. kokugaku (Nationale Schule) war eine Schule von Gelehrten, die ab der zweiten Hälfte des 17. Jh. mit der Erforschung alter japanischer Schriften begann. Vgl. Lokowandt (1978), S. 9; McVeigh (2004), S. 42 f. Sie entstand dabei zunächst als Antwort auf die zunehmende Sinisierung Japans und entwickelte sich im Laufe der Edo-Zeit zu einer ultranationalistischen Schule. Antoni (1998), S. 135 f. Die kokugaku lieferte somit ähnlich wie auch die Mitogaku (Mito-Schule) wichtige ideologische Grundlagen für die Konstruk tion der japanischen Nation ab der Meiji-Zeit und lassen das Aufkommen des Nationalismus in Japan zunächst primär als ein Elite-Phänomen von Gelehrten sowie Mitgliedern der Samurai-Kaste erscheinen, die unter dem wachsenden ausländischen Einfluss das „Nationale“ entdeckten. Zur Mitogaku vgl. auch Antoni (1998). 103 Jedoch auch nach der erzwungenen Landesöffnung durch Matthew C. Perry im Jahre 1853 waren die meisten Japaner wie Tipton ausführt weiterhin primär mit den unmittelbaren Herausforderungen ihres täglichen Lebens und ihrer lokalen Gemeinschaften befasst, während einige Mitglieder der Samurai-Schicht (auch verstärkt niedere Samurai) in zunehmendem Maße versuchten, Lösungen zu finden, die Japan insgesamt betrafen. Vgl. Tipton (2008), S. 31. 104 Vgl. Antoni (1998), S. 174; vgl. Wilson (2002), S. 9 f. 105 Oguma (2002b), S. xxix. 106 Vgl. Senghaas (1994), S. 58; vgl. auch Gellner (1983). 107 McVeigh (2004), S. 41. 108 Doak (2007), S. 38.
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Barbaren) niederschlug109. Dennoch brachte die Situation den einflussreichen Intellektuellen und Modernisierer Fukuzawa Yukichi (1835 – 1901) 1875 zu der Einsicht, dass man nun zwar einen Staat habe, aber noch keine Nation110. Die Nationalisierung Japans war in der Folge das „nötige“ Vehikel, das es einem Teil der Elite ermöglichte, sich von der herrschenden Ordnung zu distanzieren, um die erforderlichen sozialen Veränderungen für den angestrebten industriellen Fortschritt Japans in Form einer „Revolution von oben“ durchzuführen111. Die rasche Nationalisierung wurde ideologisch durch die „Wiedereinsetzung“ des traditionell faktisch machtlosen Kaisers (Tennô) als zentralem „Oberhaupt der Nation“ bewirkt, um den herum mit der Familienstaatsidee (kokutai) die Exzeptionalität und Einigkeit Japans konstruiert wurde112. Bei der kokutai-Ideologie wird der japanische Staat als eine Familie imaginiert. In dieser Anschauung bildet das Kaiserhaus das von Anbeginn in ununterbrochener Linie herrschende Familienoberhaupt, wobei das Volk seinen Kindern entspricht113. Die „imaginäre Gemeinschaft“ wurde über diese Idee des „Familienstaats“ nun zu einer „tatsächlichen“, denn wie Antoni ausführt, erscheint die Nation als „große Familie, nicht im übertragenen Sinne, sondern faktisch verwandtschaftlich miteinander verbunden durch die Gemeinschaft der göttlichen Ahnen“114. Dieses Konstrukt wurde auch religiös über den „Staats-Shintô“ (kokka shintô) legitimiert, der bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die „Staatsreligion“ Japans werden sollte und somit Kult und Regierung vereinte115. Antoni bemerkt in diesem Zusammenhang: „Die Einheit von Historie und Mythus, die Idee des ‚Götterlandes‘ [kami no kuni, Anm. R.R.] führte schließlich zu der politisch motivierten Sicht des Shintô als einer autoritativen Staatsidee“116. Diese Form des Nationalismus mit dem Tennô und der kokutai-Ideologie im Zentrum sind somit insbesondere als Reaktion auf den wachsenden westlichen Einfluss zu verstehen, dem gemäß der damals sich durchsetzenden Auffassung, der von den Interessen hunderter Fürsten regierte Feudalstaat nicht mehr gewachsen schien. Als Ergebnis folgte die Errichtung eines total zentralisierten Staates117. Mit dem Kriegsende verlor Tipton (2008); vgl. auch McVeigh (2004), S. 42 f. Doak (2007), S. 166. 111 Moore (1993), S. 229. 112 Vgl. Antoni (1998). Die ideologischen Grundlagen des kokutai-Denkens wurden dabei bereits Anfang des 19. Jh. gelegt. Ebd., S. 168 f. 113 Vgl. Antoni (1998), S. 175; Lokowandt (1978), S. 60; Oguma (2002b), S. 31. 114 Antoni (1998), S. 217. 115 Für eine nähere Untersuchung der Rolle des Shintô im Zuge der Nationalisierung Japans, die an dieser Stelle nicht durchgeführt werden kann, vgl. insbesondere Antoni (1998), S. 180 – 210 und Lokowandt (1978); (1981). Dabei z. B. auch den Aspekt der „Japonisierung“ des vermeintlich „urjapanischen“ Shintô durch die Loslösung vom „nichtjapanischen“ Buddhismus und Konfuzianismus. 116 Antoni (1998), S. 219. 109 110
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der Tennô118 seine zentrale Rolle und wurde unter dem Druck der amerikanischen Besatzung auf ein Symbol der „nationalen Einheit“ reduziert119. 117.
4. Globalisierung, Neoliberalismus und Identität Bekanntlich gibt es nicht nur unterschiedliche Meinungen dazu, wann die Globalisierung begonnen hat120, sondern auch über ihre Beschaffenheit kursieren zahlreiche Ansichten und Definitionsversuche, die sich jedoch im Prinzip auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Der Soziologe Anthony Giddens hat Globalisierung als eine „Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen“ definiert, „durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, dass Ereignisse an einem Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt“121. Globalisierung ist somit wie Giddens betont fundamental mit einer Transformation von Raum und Zeit verbunden, die durch das Aufkommen neuer Kommunikations- und Transportmittel möglich wird122. Globale und lokale Elemente können sich aber auch dermaßen vermengen, dass lokale Adaptionsvarianten von Globalisierungsströmungen in einer Hybridisierung des Globalen und Lokalen entstehen. Diese lokalen Rückkopplungen der Globalisierung werden üblicherweise mit dem Begriff „Glokalisierung“ (von „global“ und „lokal“) beschrieben123. Von den vielfältigen Dimensionen, aus denen sich die Globalisierung zusammensetzt, hat die ökonomische124 Globalisierung die größte Aufmerksamkeit erfahren125. Wenngleich im weiteren Verlauf der Arbeit vor allem auch deren 117 Vgl. Antoni (1998), S. 174 – 177. Zur Darstellung des japanischen Vorkriegsnationalismus vgl. z. B. auch McVeigh (2004), S. 47 ff., Doak (2007), Shimazu (2006). 118 Eine detaillierte Analyse der Rolle des Tennô für gegenwärtige Nationalismusdiskurse kann an dieser Stelle nicht durchgeführt werden. Vgl. hierzu etwa den Beitrag des Historikers Kenneth J. Ruoff zur Bedeutung des Kaisers nach 1945 oder die Monographie des Japanologen Christian G. Winkler zur Rolle des Tennô im Kontext von Bestrebungen zur Änderung der japanischen Verfassung. Vgl. Ruoff (2001); Winkler (2011a), S. 25 ff., 138 ff. 119 Vgl. Watanabe (2001), S. 26 – 33. Watanabe Osamu hebt die Passivität bzw. auch den Widerstand von Regierung und Tennô gegen die Änderung der Verfassung und des Tennô-Systems hervor, die unter dem Druck der amerikanischen Besatzung erwirkt wurden. Die kokutai-Ideologie wurde als Kern des japanischen Imperialismus identifiziert und ein Wiedererstarken des japanischen Militarismus sollte durch die neue Verfassung verhindert werden. Ebd., S. 29 – 31. 120 Vgl. z. B. Croucher (2004), S. 19 ff.; Holton (2005), S. 28 ff. 121 Giddens (1995), S. 85. 122 Giddens (1994), S. 4. 123 Vgl. auch Holton (2005), S. 109 ff., 126 f. 124 Die Befassung mit der Globalisierung kann grob in einen ökonomisch-politischen und einen soziokulturellen Komplex eingeteilt werden. Vgl. hierzu z. B. Suzuki (2007b), S. 6 – 24. 125 Croucher (2004), S. 136.
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kulturelle Dimension betont wird, so kann diese nicht ohne den Kontext der wirtschaftlichen Globalisierung gesehen werden. Denn diese unterwirft wie noch zu zeigen sein wird, Kulturen, Nationen und Identitäten in einem konsumistisch konnotierten Identitätswettbewerb in Form von „Nation Branding“ u.ä. globalökonomischen Zwängen und formt diese selbst zu einem „Markt“. Wenn im Titel dieser Studie von „globalem Kapital“ die Rede ist, so soll dies zunächst die wichtige, ja „kapitale“ Bedeutung der Globalisierung für die hier untersuchte Thematik unterstreichen. Globalisierung erweist sich als janusköpfig, indem nicht nur globale (Wirtschafts)interessen und Entwicklungen Einfluss auf lokale Identität ausüben, sondern Kultur und Identität selbst zu einem „globalen Kapital“ werden. Die Intensivierung der Globalisierung kann dabei unmittelbar mit dem Aufkommen des Neoliberalismus in den 1970er Jahren verknüpft werden, mit dem ein auf dem Prinzip von freien Märkten und ökonomischer Privatisierung basierender Globalkapitalismus und Marktradikalismus beschrieben wird126. Giddens unterscheidet zwei Richtungen des Neoliberalismus, eine konservative Hauptströmung, für die symbolhaft die Politik von Margaret Thatcher oder Ronald Reagan stand und einen libertären Nebenstrang127. Giddens zufolge versucht sich die konservative Richtung dabei an einer paradox anmutenden Verknüpfung des Prinzips freier Märkte mit einer Bewahrung traditioneller Institutionen wie Familie und Nation128. Dies bedeutet jedoch gleichzeitig eine Konfrontation von klassischem Konservatismus, für den die Bewahrung von „Traditionen“129 zentral ist, mit den Kräften des „Marktes“, der auflösend auf Traditionen wirkt und soziale Unsicherheit befördert130. Es war paradoxerweise gerade die Intensivierung der Globalisierung, die begünstigt durch das Ende des Kalten Krieges, ab den 1990er Jahren weltweit für eine Renaissance des Nationalismus sorgte, obwohl Globalisierungsprozesse eigentlich auf Nationalstaaten auflösend wirken sollten (vgl. Kap. G.). Die Globalisierung ist jedoch kein homogener Prozess, sondern wie Giddens anmerkt, vielmehr das komplexe Zusammenspiel von verschiedenen Abläufen, die oftmals widersprüchlich anmuten können131. Aus diesem Grund sind dem Soziologen zufolge auch „das Wiederaufflammen von lokalen Nationalismen und die Betonung lokaler Identitäten direkt mit Einflüssen der Globalisierung verknüpft“, zu denen sie eigentlich im Widerspruch stehen132. 126
Vgl. ebd., S. 137. Giddens (1998), S. 6. 128 Ebd., S. 12 – 15. 129 Dass der Ursprung dieser Traditionen jedoch oftmals selbst jünger als behauptet ist bzw. diese vielfach gar bloß erfunden sind, kann als ein Faktum betrachtet werden, für das auf die wegweisende Erörterung der „invention of tradition“ durch Hobsbawm und Ranger verwiesen sei. Vgl. Hobsbawm/Ranger (1983). 130 Vgl. Giddens (1998), S. 12 – 15. 131 Giddens (1994), S. 5. 132 Ebd., S. 5. 127
III. Begriffsbestimmungen
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Der Anthropologe Arjun Appadurai sieht in diesen Spannungen zwischen „kultureller Homogenisierung“ und „kultureller Heterogenisierung“ die größte Herausforderung des globalen Zeitalters133. In allen Dimensionen von Globalisierung134, spielen Kultur (im weitesten Sinne also Menschengemachtes „als Grundzug eines jeden sozialen Handelns“135) und Identität eine tragende Rolle. Dem Politologen Richard Hermann und der Psychologin Marilynn Brewer zufolge wird mit dem Begriff „Identität“ das Zugehörigkeitsgefühl zu einer „sozialen Gruppe“ beschrieben. In einer konstruktivistischen Auffassung von Identität haben Menschen üblicherweise multiple Identitäten, die gleichzeitig existieren, da Menschen sich im Regelfall verschiedenen „sozialen Gruppen“ (Familie, Arbeitskollegen, Vereine, Staat, Nation etc.) zurechnen können136. Hermann und Brewer präzisieren das Konzept wie folgt137: „beyond mere recognition of membership in a social group or category, identification implies that the group and its defining characteristics have become integral to the person’s self-concept, with associated values, emotions, and extensions of individual self-esteem.“
Soziale Identitäten dienen dabei vor allem auch dazu, zwischen Mitgliedern der „Gruppe“ (in-group) und nicht-Mitgliedern (out-group) zu unterscheiden. So werden die Grenzen der Gruppe und deren Eigenschaften bestimmt138. Neben den bereits dargelegten Einwürfen gegen gruppenzentrierte Sichtweisen, sollte bei Hermanns und Brewers Definition, die die gängige konstruktivistische Deutung von Identität widerspiegelt, jedoch eine statische Interpretation von Identität selbst vermieden werden, wobei sich aufgrund des vieldeutigen Charakters des Konzepts erneut ein prozessuales Verständnis etwa in Form von Identifikationsprozessen anbietet139. Im grenzüberschreitenden Globalisierungsprozess sieht sich insbesondere der Staat wachsendem Druck auf seine Souveränität ausgesetzt140. Ômae Ken’ichi, der ehemalige Japan-Chef der Unternehmensberatung McKinsey, rief in seinem gleichnamigen Buch in den 1990er Jahren bereits „das Ende des Nationalstaats“ Appadurai (1990), S. 295. Für Appadurai hat die Globalisierung fünf Dimensionen: 1) „ethnoscapes“, die globale Strömungen von Menschen bezeichnen. 2) „technoscapes“, mit denen technologische Strömungen (Information, Wissen und Technik) gemeint sind. 3) „finanscapes“, die die Ströme von Kapital bezeichnen. Schließlich 4) „mediascapes“ und 5) „ideoscapes“. Erstere stehen für globale Ströme von Bildern und Information durch Medien, letztere für die Verbreitung von „westlicher Ideologie“, in Form von Demokratie, Menschenrechten etc. Vgl. Appadurai (1990), S. 297 – 300. 135 Schwelling (2004), S. 13. 136 Hermann/Brewer (2004), S. 8 137 Ebd., S. 6 138 Vgl. ebd., S. 8. 139 Zur Kritik des statischen Begriffs „Identität“ vgl. Brubaker und Cooper, die für prozessuale Begriffsalternativen wie „Identifikation“ plädieren. Vgl. Brubaker/Cooper (2000). 140 Vgl. hierzu Croucher (2004), S. 31 ff.; vgl. Kap. G. 133
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A. Einleitung
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aus141. Gleichwohl hat sich trotz des Aufstiegs multinationaler Konzerne gezeigt, dass Staaten (evtl. im nicht-nationalstaatlichen Sinne) doch sehr wohl noch zentrale politische Akteure sind142. Dies ist ein Aspekt, der in Kapitel G. noch einmal gesondert aufgegriffen wird.
IV. Untersuchungsansatz und Erkenntnisziel 1. Nationalismus als Diskursgegenstand Die vorliegende Studie untersucht Diskurse des Nationalen, wobei sie sich in ihrem Untersuchungsansatz zunächst insbesondere auf die oben vorgestellten Arbeiten von Rogers Brubaker und Michael Billig, bei denen auch der diskursive Charakter der Nation betont wird, bezieht. In ihrem Verständnis von Diskurs143 wiederum baut die Arbeit auf den Beiträgen des Philosophen Michel Foucault und vor allem des Soziologen Pierre Bourdieu auf. Die Diskursanalyse ist keine einheitliche oder festgefasste Methode, wenngleich sich mit der Zeit stringentere Ansätze und einflussreiche Schulen, am wohl prominentesten die Kritische Diskursanalyse (critical discourse analysis, CDA)144 herausgebildet haben, die sich der Untersuchung von Diskursen vor allem unter dem Aspekt der Macht nähert145. Kritische Diskursanalyse erforscht hierzu in einer textübergreifenden Weise den Sprachgebrauch in seinen sozialen, kulturellen oder auch politischen Zusammenhängen146. Auf diese Weise versucht diese Analyseform herauszuarbeiten, wie Weltanschauungen, Identitäten, Ideologien etc. diskursiv konstruiert werden und wie Sprache dabei Auswirkungen auf Identitäten und Beziehungen hat bzw. im Umkehrschluss selbst durch Beziehungsgeflechte beeinflusst wird147. Entsprechend konstruieren Diskurse zum einen Realitäten und reflektieren zudem auch das bestehende Wissen einer Gesellschaft148. Einem solchen Verständnis folgend, üben Diskurse also in erster Linie Macht aus und tragen zudem auch „zur Strukturierung von Machtverhältnissen in einer Ômae (1995). Vgl. auch Kap. G.; Croucher (2004), S. 33 f.; Sklair (2000). 143 Ein Diskurs ist der heute üblichen Auffassung zufolge mehr als eine einzeltextliche Aussage und beschreibt „immer eine strukturelle Einheit, die über Einzelaussagen hinausgeht“. Warnke (2007), S. 5. 144 Bekannte Vertreter der CDA sind z. B. die Linguisten Norman Fairclough und Ruth Wodak. Im deutschsprachigen Raum sind auch die Ansätze des Kulturwissenschaftlers Jürgen Link von der Universität Dortmund sowie die auf Link aufbauende Richtung kritischer Diskursanalyse, die vom Sprachwissenschaftler Siegfried Jäger von der Universität Duisburg-Essen entwickelt wurde, anzuführen. Vgl. Jäger/Jäger (2007). 145 Vgl. Blommaert (2005), S. 24 f. 146 Vgl. Paltridge (2006), S. 2, 179. 147 Ebd., S. 2, 179. 148 Vgl. Jäger/Jäger (2007), S. 20, 23 f. 141
142
IV. Untersuchungsansatz und Erkenntnisziel
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Gesellschaft bei“149. Dieser Sicht entsprechend werden Machtbeziehungen in Diskursen verhandelt und gleichzeitig in diesen ausgeübt150. Der Diskurs ist gemäß Michel Foucault ,,(…) dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, derer man sich zu bemächtigen versucht.“151. Dabei ist es so, dass ,,(…) in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen.“152. Ähnlich wie Foucault hat auch Pierre Bourdieu die Beziehung von Macht und Diskurs betont153. Wenngleich Bourdieus Forschungsinteresse nie direkt dem Thema Nation galt und er sich eher in Randnotizen zu diesem Bereich äußerte, sind sein Diskursverständnis sowie insbesondere zwei der Bourdieuschen Hauptkonzepte, „Habitus“ und „symbolische Macht“, doch exzellent für die Untersuchung des Nationalen geeignet154. Mit Habitus beschreibt Bourdieu die (überwiegend unbewusste) Inkorporierung sozialer Strukturen, womit dieser gewissermaßen „zwischen objektiven Strukturen und Akteuren“ vermittelt155. Der Habitus ist gleichzeitig strukturiert und wirkt auch in aktiver Weise strukturierend auf unser Handeln. Er ist ein System zur „Produktion von Praktiken“ und zur „Wahrnehmung und Bewertung der Praktiken“156. Er ist damit Schlüssel zu einer Reproduktion sozialer Verhältnisse und der Aufrechterhaltung etablierter Ordnungen, Beziehungen und Differenzen157. Bourdieu bezeichnet dabei die nicht weiter hinterfragte Akzeptanz solcher sozialer (Macht)Strukturen als „symbolische Macht“, die sich quasi als „unsichtbare“ (und nicht physische) Macht manifestiert und die Beherrschten in der Konsequenz zu Handlangern ihrer eigenen Beherrschung werden lässt158. Der Staat bzw. die ihn repräsentierenden Eliten versuchen dabei, symbolische Macht zu monopolisieren (was jedoch laut Bourdieu nie komplett gelingt), wobei Bourdieu somit die Webersche Konzeption des staatlichen, physischen Gewaltmonopols um diese symboliJäger/Jäger (2007), S. 20. Paltridge (2006), S. 180. 151 Foucault (2001), S. 11. 152 Ebd., S. 10 f. 153 Wie die Soziologin Laura Kajetzke anmerkt, versucht eine auf Bourdieu basierende Diskursforschung Kämpfen um Deutungsmacht nachzugehen, während eine auf Foucault basierende Forschung eher nach der Art der Wissensproduktion fragt. Kajetzke (2007), S. 107. Diese Aspekte sollen hier aber als zwei Seiten der gleichen Medaille aufgefasst werden. 154 Vgl. auch Smutny (2004); De Cillia/Reisigl/Wodak (1999). 155 Kajetzke (2007), S. 55; Bourdieu (1991). 156 Bourdieu (1992), S. 144. 157 Vgl. Bourdieu (2004), S 14 f. 158 Vgl. Bourdieu (1990); Bourdieu (2001); Bourdieu (2004). 149 Vgl.
150 Vgl.
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A. Einleitung
sche Komponente ergänzt159. Bei der Durchsetzung dieses Monopols, spielt gerade das staatlich regulierte Erziehungssystem eine zentrale Rolle, mit dessen Hilfe die dominante Kultur in eine offizielle Nationalkultur geformt wird, deren Normen wiederum den Habitus derjenigen prägen, die dieses System durchlaufen160. Bezogen auf die vorliegende Thematik strukturiert die so erfolgende nationale Codierung des individuellen Habitus weitgehend unhinterfragt und unbewusst auch das Denken und Handeln des einzelnen Akteurs und trägt dadurch gleichzeitig zur Reproduktion und Fortdauer nationaler Narrative bei. Dabei ist die Rolle von Diskursen von zentraler Bedeutung für die Konstruktion des sozialen Raums161 im Allgemeinen und den Kampf um die Deutungshoheit in den einzelnen Feldern darin, wobei symbolische Macht nicht zuletzt über den Diskurs ausgeübt wird162. Symbolische Macht ist bei Bourdieu dementsprechend eine Form von „performativem Diskurs“ und eine „Macht zur Bewahrung oder Änderung der aktuell herrschenden Klassifikationen in bezug auf Geschlecht, Nation, Region, Alter und Sozialstatus, und dies vermittels der Wörter zur Bezeichnung oder Beschreibung der Individuen, Gruppen oder Institutionen“163. Insofern erweist sich Sprache in Akten des Benennens, die gerade bei der Zuschreibung sozialer und kultureller Identitäten deutlich werden, sowie generell „in allen Formen sozialer Praxis und ihrer Diskurse“ als eine symbolische Macht im Sinne Bourdieus164, der hierzu schreibt165: „Um die Macht des Diskurses wirklich zu erklären, muß man, wie man sieht, die Sprache auf ihre sozialen Produktions- und Verwendungsbedingungen beziehen und das Prinzip der Macht, die eine bestimmte Verwendungsweise der Worte zu entfalten vermag, jenseits der Wörter suchen, in den Mechanismen, die sowohl die Wörter als auch diejenigen, die sie äußern, hervorbringen. Der reguläre Gebrauch der regulären Sprache ist nur eine der Bedingungen für die Wirksamkeit der symbolischen Macht und zwar eine Bedingung, die nur unter bestimmten Bedingungen Folgen zeitigt.“
159 Bourdieu (1992), S. 151; Brubaker/Cooper (2000), S. 15; Cronin (1996), S. 71; Bourdieu (2004). 160 Vgl. Cronin (1996), S. 71; Bourdieu (2004). 161 Bourdieu spricht nicht von Gesellschaft, sondern sieht diese mehrdimensional als einen „sozialen Raum“, welcher wiederum aus verschiedenen Feldern besteht, in dem die Akteure gemäß ihrem Besitz an verschiedenen Kapitalsorten (ökonomisches, soziales, kulturelles, symbolisches Kapital) ihre Position einnehmen. In dieser Hinsicht betont Bourdieu ebenfalls relationale Zugänge zum sozialen Raum und grenzt sich so von klassischen und statischen „gruppistischen“ Ansätzen ab. Vgl. zu diesem Aspekt auch Smutny (2004), S. 116 ff. 162 Vgl. Kajetzke (2007), S. 84, 65 ff. 163 Bourdieu (1992), S. 152. 164 Schützeichel (2004), S. 342. 165 Bourdieu (2004), S. 59
IV. Untersuchungsansatz und Erkenntnisziel
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Sprachliche Kommunikation ist daher weit mehr als reiner Informationsaustausch, sie ist letztlich ein Medium zur Produktion und Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse166. Die Sozialwissenschaft (man möchte ergänzen auch die Kulturwissenschaft) – so schreibt Bourdieu – muss „den Beitrag der Wörter zur Konstruktion des Sozialen untersuchen; und den des Klassifizierungskampfes – ein Element jedes Klassenkampfes – zur Bildung von Klassen: Alters-, Geschlechts- und Gesellschaftsklassen, aber auch Clans, Stämmen, Ethnien, Nationen“167. Dabei hängen Form und Inhalt des Diskurses Bourdieu zufolge „von der sozialen Position des Sprechers“ ab, wobei dessen soziale Funktion auch in einem passenden Verhältnis zu seiner diskursiven Aussage stehen muss, um Wirkmacht zu besitzen168. Daraus ergibt sich, dass die Möglichkeiten der Einflussnahme auf offizielle Diskurse also weitgehend auf Eliten beschränkt sind und der Diskurs selbst mit elitären Funktionen verbunden ist169. Eine in diesem Sinne zu verstehende Elite etabliert laut McVeigh politische Strukturen und initiiert Projekte, die zur Vereinigung, Nationalisierung und zum Management der Massen dienen170. Für die vorliegende Arbeit kann festgehalten werden, dass sich folglich aus der Konstruktion des Nationalen im Gesellschaftsdiskurs Rückschlüsse auf Formierung, Gestalt, Praxis und Intention nationaler Identität in einer Gesellschaft schließen lassen. Ausprägungen nationaler Identität werden im Diskurs konstruiert und „verhandelt“ und somit letztlich auch zu einer normativen Handlungsgrundlage mit entsprechenden Auswirkungen, die sich im Speziellen zum Beispiel im Bereich der Außenpolitik eines „Nationalstaates“ widerspiegeln können171. Angewandt auf die hier untersuchte Thematik ist die Nation also keine objektive „Realität“, sondern als eine primär „diskursiv existente“, abstrakte, aber dennoch normativ wirksame Denkschablone zu verstehen – schließlich auch als sozialintegratives Deutungsmuster172. Wie McVeigh schreibt, fungiert „effektiver Nationalismus“ hier ähnlich wie eine Religion: „it must offer something shared yet transcendent, abstract yet visible, mundane yet profound, reasonable-sounding yet inexpressible. It is the dream of the masses and the vision of a powerful few“173. Die Linguisten De Cillia, Reisigl und Wodak gehen dabei von folgenden Annahmen aus, um nationale Identität in Diskursen zu untersuchen: 1. Nationen sind geistige Konstrukte im Sinne von Benedict Andersons „imagined communi-
Schützeichel (2004), S. 343; Paltridge (2006), S. 179. Bourdieu (1990), S. 99. 168 Ebd., S. 103, 105. 169 Vgl. ebd., S 103 ff. 170 McVeigh (2004), S. 85. 171 Vgl. Boekle/Nadoll/Stahl (2001), S. 2. 172 Vgl. Kittel (1995). 173 McVeigh (2004), S. 35. 166 Vgl. 167
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ties“174. 2. Nationale Identitäten werden diskursiv durch Sprache „produziert, reproduziert, transformiert und zerstört“. 3. Nationale Identität kann in Bourdieus Sinn als Habitus verstanden werden. 4. Die diskursive Konstruktion von (nationaler) Identität führt immer zur Konstruktion von Unterschieden und Gemeinsamkeiten im Sinne einer „in-group“ und „out-group“. 5. Es gibt immer konkurrierende Ausprägungen nationaler Identität und niemals nur eine Form. Nationale Identitäten sind viel eher „dynamisch, fragil, ‚verwundbar‘ und oftmals nicht zusammenhängend“175. Diese Arbeit baut auf den Prämissen der CDA zur Untersuchung des Nationalen auf, folgt aber der Argumentation des Soziolinguisten Jan Blommaert, der im Gegenteil nicht zu einer Verengung des diskursanalytischen Ansatzes rät, sondern zu einem möglichst weitgefassten Verständnis hiervon: „There can be no theory of the critical analysis of discourse – but there can, and should, be a permanent will to think theoretically while we work practically“176. 2. Untersuchungsansatz Nationalismus ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld177, in dem Beiträge aus Fächern wie der Geschichtswissenschaft, der Kulturanthropologie sowie verschiedener Bereiche der Sozial- und Kulturwissenschaften gleichermaßen vertreten sind. In dieser Arbeit wird ein insofern interdisziplinärer Ansatz verwendet, als sich kulturwissenschaftliche und politologisch-soziologische Methoden miteinander verbinden. Nationalismus soll hier in seinen gesellschaftlich-politischen und kulturellen Dimensionen zunächst diskursanalytisch untersucht und diese Ergebnisse in einem ergänzenden Schritt durch quantitatives und qualitatives Material empirisch abgeglichen werden178. In ihrem Verständnis und in der Verwendung ihrer zentralen Arbeitstermini (Diskurs, Identität bzw. Identifikation, Patriotismus, Nation bzw. nationness) basiert diese Studie mithin: 1. auf Ansätzen und Methoden der von der Diskurs- und Sozialtheorie Pierre Bourdieus stark beeinflussten, primär soziologischen Richtung der Nationalismusforschung179; 174 Dieser Prämisse wird hier nur unter den erläuterten Vorbehalten gefolgt. Statt den statischen Rest-Essentialismus von Andersons „imagined communities“ völlig unkritisch zu übernehmen, wird hier Nation eher im Sinne Brubakers als relational-prozesshafte Kategorie verstanden. 175 De Cillia/Reisigl/Wodak (1999), S. 153 f. 176 Blommaert (2005), S. 235. 177 Vgl. auch Geulen (2004); Smith (2000), S. 1. 178 Eine darüber hinaus gehende stringente Untersuchung institutioneller Manifestierung des Nationalen (z. B. auch im Sinne institutionalistischer Ansätze o.ä.) würde jedoch den Rahmen der Untersuchung übersteigen und wird hier daher nicht verfolgt. 179 Brubaker (1996); Billig (1995); Calhoun (2007); Smutny (2004).
IV. Untersuchungsansatz und Erkenntnisziel
39
2. auf Ansätzen der an Michel Foucault (teilweise auch an Bourdieu) orientierten, (sozio-)linguistisch-kulturwissenschaftlichen Kritischen Diskursanalyse180. Diese den Sozial- und Kulturwissenschaften entlehnten Methoden und Termini werden vorliegend in eine japanologische Perspektive gestellt. Hierzu dienen zwei einschlägige Forschungsrichtungen als Fundament bzw. Ausgangsbasis der Untersuchung: 1. Die japanologischen Vorarbeiten zur Ideengeschichte des japanischen Nationalismus, die die Instrumente zum Verständnis der Grundlagen und Charakteristika des japanischen Nationalismus bereitstellen181. 2. Die diskursbezogen politologisch und makrosoziologischen Forschungen der Japanwissenschaft zum Themenkreis, die Nationalismus in gegenwärtigen Gesellschaftsprozessen lokalisieren und dabei auch an den Mechanismen und Funktionen von dessen Verhandlung und Konstruktion interessiert sind182. Stärker als die genannten Vorarbeiten soll hier japanischer Gegenwartsnationalismus zudem im sozioökonomischen Gesamtkontext der japanischen Gegenwartsgesellschaft betrachtet werden. Wie ausgeführt, umfasst die Diskursanalyse primär den relevanten japanischen Gesellschaftsdiskurs auf den Ebenen Politik, Wissenschaft, Kultur und Medien183. Um die bei der Analyse dieser Makro-Ebene gewonnenen Ergebnisse besser einordnen und ein hinreichend realistisches und tiefenscharfes Gesamtbild japanischer Nationalismusdiskurse im behandelten Zeitraum zu zeichnen, werden zusätzliche empirische Daten beigezogen. Somit kann die vorliegende Studie in ihrem kombinierten Ansatz eine Untersuchungslücke schließen, welche die oben beschriebenen Vorarbeiten methodisch hinterlassen haben. Insofern leistet die Arbeit auch einen Beitrag zur Nationalismusforschung im Allgemeinen. Denn während hier bislang Makro-Betrachtungen vorherrschen, schlägt der Historiker Eric Hobsbawm vor, auch Mikro-Ebenen in die Analyse mit einzubeziehen. Ihm zufolge werde Nationalismus hauptsächlich „von oben“ konstruiert, könne aber nicht ohne eine Analyse „von unten“ verstanden werden184. Mit der geschilderten Schwerpunktbildung der vorliegenden Arbeit wird eben dies angestrebt. Erst seit vergleichsweise kurzer Zeit zeigt sich ein verstärktes Interesse De Cillia/Reisigl/Wodak (1999); Blommaert (2005); Jäger/Jäger (2007). Doak (2001); (2007); Antoni (1998); (2002); Oguma (2000); (2002a); (2002b). 182 Richter (2003); (2004); (2008c); (2008d); McVeigh (2004); Suzuki (2007a); (2008); Takahara (2006); Samuels (2007); Miura (2010). 183 Daher werden die extreme Rechte, die in zahlreiche Gruppierungen zersplittert ist (uyoku dantai) und rechte Subkulturen wie z. B. die latent nationalistischen Motorradgangs (bôsôzoku) bei der vorliegenden Untersuchung keine zentrale Rolle spielen, da sie weitgehend außerhalb dieses öffentlichen Diskurses stehen. Gleichwohl können die Grenzen zwischen beiden Bereichen verschwimmen. Siehe zur Thematik rechtsradikaler Gruppen etwa Shibuichi (2007), Hippin (2002), McNeill (2001), Satô (1998), Yasuda (2012). 184 Hobsbawm (1990), S. 10. 180 181
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daran, den „banalen“ Nationalismus der „gewöhnlichen Leute“ zu untersuchen, wobei auch die in dieser Arbeit vorgesehene Verwendung qualitativer Interviews ein noch relativ neuer Ansatz der Nationalismusforschung ist185. Diese Dualität verknüpft sich dabei auch mit einem besonderen Verständnis von Nationalismus, denn Nationalismus und Patriotismus sollen hier nicht nur als politische, sondern gerade auch als (sozio)kulturelle Phänomene untersucht werden, wenngleich beide Bereiche stets miteinander verbunden sind186. Zur politischen und kulturellen Dimension von Nationalismus schreibt der Anthropologe Yoshino Kôsaku187: „Whereas political nationalism seeks to achieve a representative state for its community and to secure citizenship rights for its members, cultural nationalism is the regeneration of the national community by creating, preserving or strengthening a people’s cultural identity when it is felt to be lacking, inadequate or threatened.“
Nationalismus ist nach Yoshino nicht bloß eine einseitig ablaufende Produktion und Übermittlung einer Ideologie „von oben“, sondern es gilt hier auch einen fortwährenden Prozess von Konsum und ideologischer Reproduktion mit zu berücksichtigen, an dem die verschiedenen Bevölkerungsschichten beteiligt sind188. Dieser Prozess „von unten“ kann dabei sowohl Konkretes als auch eine aus dem Konsum resultierende, „sinnstiftende Erfahrung“ umfassen189. Nationalismus beinhaltet, wie Yoshino zusammenfasst, die Facetten von Produktion und Konsum und kann in einen „formellen, staatsregulierten“ und einen „informellen, markt orientierten“ Prozess gegliedert werden190. 3. Fragestellungen und Aufbau Diese Dualität von Nationalismus spiegelt sich auch im strukturellen Aufbau der Arbeit wider. Wie sich aber zeigen wird, lässt sich eine strikte Trennung in Analyseschritte „von oben“ und „von unten“ schwer durchhalten, was wiederum den Charakter von Nationalismus als einen fortwährenden, diskursiven Verhandlungsprozess zwischen „Eliten-“ und „Massenebene“ weiter verdeutlicht. In der vorliegenden Arbeit stellen sich weitere Anschlussfragen zum Themenkreis: Welche Ausprägungen nationaler Identifikation lassen sich feststellen und von welchen Akteuren wird diese wie und in welchen Zusammenhängen „verwendet“? Wie wird mit Nationalismus und Patriotismus diskursiv umgegangen? Lassen sich bestimmte (wiederkehrende) Narrationen, Muster, Stereotype etc. herausarbeiten? Wie sind solche Erzählungen und Argumentationsmuster in ihrem Fox/Miller-Idriss (2008), S. 537 – 537; De Cillia/Reisigl/Wodak (1999). Brubaker (1996); vgl. Yoshino (1999a), S. 1. 187 Yoshino (1999a), S. 1. 188 Yoshino (1999a), S. 2; vgl. ähnlich Billig (1995). 189 Vgl. Yoshino (1999a), S. 2. 190 Yoshino (1999b), S. 9. 185
186 Vgl.
IV. Untersuchungsansatz und Erkenntnisziel
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derzeitigen Zusammenhang bzw. dem früherer Jahrzehnte zu bewerten? Welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten werden dabei erkennbar? Lassen sich vor dem Hintergrund des derzeitigen soziökonomischen Wandels etwa „zeitgeschichtliche“ Unterschiede zur Rolle des Patriotismus und Nationalismus in früheren Dekaden festmachen? Wie steht es in diesem Kontext zudem neben der Selbst- auch mit der Fremdwahrnehmung (z. B. Antiamerikanismus)? Die Studie ist hierzu in folgende Untersuchungsschritte unterteilt: Im Anschlusskapitel werden zunächst einige Kernaspekte in der Entwicklung des japanischen Nationalismus in der Zeit von 1945 bis zu Beginn des hier untersuchten Zeitraums ab 1998 nachgezeichnet. Diese sollen als historischer Kontext für die Analyse gegenwärtiger Nationalismusdiskurse dienen. Im weiteren Verlauf lassen sich somit Diskontinuitäten und Kontinuitäten in Bezug auf den Nationalismus des Untersuchungszeitraums für ein verbessertes Gesamtverständnis leichter aufbereiten. Die folgenden vier Hauptkapitel gliedern sich in zwei Teile: die Kapitel C. und D. sind auf die „Elitenebene“ (In der Hauptsache Politiker, (Medien)Intellektuelle und Wissenschaftler), also gewissermaßen auf „Nationalismus von oben“ fokussiert. Hier handelt es sich vor allem um Beurteilungen und Visionen von Eliten, die den Zustand und die Zukunft Japans als Nation und Staat sowie die Rolle von Nationalismus und Patriotismus betreffen. Diese „diskursiven Eliten“ verfügen gemäß dem Untersuchungsverständnis dieser Arbeit über die Macht, bestimmte Nationen- und Identitätsbilder nachhaltig zu formen, eben über die Deutungshoheit, die sie durch ihre prominente Position im Diskurs ausüben191. Die Kapitel E. und F. untersuchen eher die „Massenebene“, also den Nationalismus „von unten“. Dazu werden in Kapitel F. die Ergebnisse von zwölf qualitativen Interviews mit jüngeren Japanern im Alter zwischen 18 und 29 vorgestellt, in denen u.a. deren Vorstellungen von Nation und Staat zur Darstellung kommen. Da wie bereits angedeutet, in der 2000er Dekade insbesondere der Nationalismus der jüngeren Generation im Mittelpunkt des Interesses stand, wurden für die Interviews dementsprechend junge Erwachsene unter dreißig Jahren befragt. Das Kapitel E. befasst sich zwar primär mit Nationalismus „von unten“, beinhaltet aber parallel einen Diskurs von Eliten (in diesem Fall insbesondere Wissenschaftlern und (Medien)Intellektuellen) über die Masse. Im Schlusskapitel G. werden die erarbeiteten Ergebnisse in einer zielführenden Abschlussanalyse zusammengefasst und bewertet, wobei der übergeordnete Kontext der Globalisierung und deren Charakteristika als einer dritten Analyseebene auf besondere Weise zum Tragen kommen.
191 Vgl.
Kajetzke (2007), S. 110.
B. Japanischer Nachkriegsnationalismus von 1945 bis 1998 – ein Abriss I. 1945 – 1960: Nachkriegsnationalismus in der Links-Rechts-Konfrontation Das Jahr 1945 wird oft als Zäsur, als Bruch Japans mit dem Vorkriegsregime betrachtet, doch dies ist nur bedingt der Fall. Die beiden Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und die bedingungslose Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg führten als vorläufiger Endpunkt die katastrophalen Auswirkungen der imperialistischen Expansionspolitik des japanischen Kaiserreiches in drastischer Weise vor Augen. Nach gängiger Lesart verloren Militarismus und Nationalismus in Japan vor diesem Hintergrund schlagartig an ideologischem Rückhalt und ein bedingungsloser Pazifismus trat an deren Stelle1. Nach anfänglich verbreiteter Gegnerschaft zeigten sich insbesondere die japanischen Sozialisten ab den 1950er Jahren als Befürworter des Pazifismus-Artikels 9 der noch jungen Nachkriegsverfassung. Sozialisten wie Suzuki Mosaburô (1893 – 1970) waren strikte Befürworter des neuen Pazifismus und wendeten sich gar gegen die Ausübung von Gewalt selbst im Selbstverteidigungsfall2. Nachdem Ende der amerikanischen Besatzung und der Wiedererlangung der Souveränität Japans 1952 versuchten Teile der Konservativen freilich, die Nachkriegsreformen umzukehren und die Vorkriegsordnung wenigstens teilweise wiederherzustellen3. Die neue Nachkriegsordnung wurde insbesondere von Intellektuellen aus dem progressiven, linksliberalen Lager wie dem Politologen Maruyama Masao (1914 – 1996) oder dem Sinologen Takeuchi Yoshimi (1910 – 1977) propagiert, die zu Ikonen der japanischen Nachkriegsdemokratie wurden. Doch starb der japanische Nationalismus wirklich mit einem Mal nach der Zäsur des Kriegsendes? Diverse Studien haben in den letzten Jahren Zweifel an dieser Version unmittelbarer Nachkriegsgeschichte aufkommen lassen und zeigen auch zahlreiche Kontinuitäten zum Vorkriegsregime auf4. In der Tat bildete die krasse Links-Rechts-Opposition (sayû tairitsu) der unmittelbaren Nachkriegszeit einen fruchtbaren Nährboden
1 In der ersten Hälfte der 1950er Jahre überwog jedoch noch der Anteil der Gegner des Pazifismus-Artikels der neuen Verfassung (Artikel 9). Dieses Meinungsbild schlug erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ins Gegenteil um. Vgl. Yoshida (2005), S. 86. 2 Samuels (2007), S. 31. 3 Winkler (2011a), S. 7. Zu Verfassungsänderungsbemühungen vor 1980 vgl. Winkler (2011a), S. 180 ff. 4 Vgl. z. B. Doak (2007), S. 250f.; Doak (2001); Gayle (2001); Oguma (2002a).
I. 1945 – 1960: Nachkriegsnationalismus in der Links-Rechts-Konfrontation
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für Nationalismus verschiedenster Ausprägungen gerade auch von links, von denen der neue Pazifismus nur eine Spielart war. Der Diskurs der progressiven Intellektuellen, der sich ab den späten 1940er Jahren und in den 1950er Jahren formierte5, steht gemeinhin für „grass-roots pacifism, commitment to the Peace Constitution, support for neutralist foreign policy and opposition to rearmament“6. Als Galionsfigur dieser Schule kann Maruyama Masao angesehen werden, der mit seinen Schriften zur Aufarbeitung von Japans Kriegsvergangenheit und zum Aufbau der Nachkriegsdemokratie beitrug. Doch trotz seiner Nationalismuskritik war Maruyama keineswegs antinationalistisch. Seine Version eines „gesunden“ (kenzen na kokuminshugi) oder „korrekten“, demokratisch verwurzelten, liberalen „civic nationalism“ stand jedoch im starken Kontrast zum Vorkriegsultranationalismus bzw. militaristischem Etatismus7. Hierbei wurde wie Oguma Eiji analysiert, die Vorstellung von Demokratie selbst zum Patriotismus (aikoku toshite no minshushugi)8. Für Maruyama war „korrekter Nationalismus“ (tadashii kokuminshugi) mit demokratischer Revolution zu verbinden9. Er erkannte im japanischen Nationalismus seit der Meiji-Restauration einen staatszentrierten Etatismus von oben (ue kara no kokkashugi), dem er seinen „richtigen Nationalismus“ von unten (kokuminshugi) entgegensetzte10. 1. Linker Ethnonationalismus als oppositioneller Anti-Etatismus Wie der Japanologe Curtis Gayle ausführt, bildeten sich in den 1950ern darüber hinaus weitere Konzepte von Nation unter Intellektuellen aus dem linken Spektrum heraus. Besonders der Kommunistischen Partei (Kyôsantô) nahestehende Intellektuelle konzeptualisierten die japanische Nation der Nachkriegszeit ethnisch (minzokushugi) als einen mit Maruyamas Vorstellung konkurrierenden „korrekten“ bzw. gesunden (ethnischen) Nationalismus11. Inwieweit Maruyama von solchen ethnischen Färbungen von Nation frei war, oder ob er gar auch ein verkappter Ethnonationalist war, ist Gegenstand von Diskussionen12. Allgemein kann jedoch festgehalten werden, dass der linke Nationalismus der Nachkriegszeit antistaatlich konnotiert ist und sich so insbesondere gegen ein Wiederauferstehen des ultranationalistischen Vorkriegs-Etatismus (kokkashugi)
Gayle (2001), S. 1. Ward (2006), S. 172. 7 Gayle (2001), S. 1. 8 Oguma (2002a), S. 67 ff. 9 Ebd., S. 88. 10 Vgl. ebd., S. 89. 11 Gayle (2001), S. 1 f. 12 Ebd., S. 4. 5 Vgl. 6
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B. Japanischer Nachkriegsnationalismus von 1945 bis 1998 – ein Abriss
richtet. Linker Nationalismus ist im Gegensatz zum Vorkriegsnationalismus13 dabei oftmals stark ethnisch gefärbt. Dieser Ethnonationalismus (minzokushugi) der Nachkriegslinken sollte zudem in einer antiimperialistischen Opposition zum Nachkriegsstaat stehen und damit verbunden in Gegnerschaft zu den als imperialistisch aufgefassten USA. Asiatische nationalistische Befreiungsbewegungen wurden im Sinne eines „nationalen Selbstbestimmungsrechts“ (minzoku jiketsu) demzufolge ebenso nachdrücklich unterstützt bzw. stellenweise gar als Vorbild für die Etablierung eines japanischen Nachkriegsnationalismus aufgenommen14. Oguma führt aus, dass hierbei stellenweise auch ein Mitgefühl (kyôkan) mitschwang, das sich aus dem Schmerz über den eigenen gekränkten Nationalismus speiste15. In diesem Denkklima bildete sich auch unter progressiven Intellektuellen die Vorstellung einer durch einen illegitimen Nachkriegsstaat „kolonisierten“, ethnischen japanischen Nation heraus16. Doak zufolge galt ethnischer Nationalismus unter marxistisch beeinflussten Theoretikern schon in der Vorkriegszeit als ein progressiver Weg sich nationaler und imperialistischer Politik entgegenzustellen17. Der Kulturwissenschaftler Suzuki Sadami sieht im kommunistischen und antiamerikanischen Ethnonationalismus gar eine japanische Version des Stalinismus18. Die vor allem im progressiven Lager verbreitete Sichtweise, die den japanischen Ultranationalismus auf einen „bösen“ Staat und dessen Eliten reduziert, die ihr Volk getäuscht und gewissermaßen als „Geisel“ genommen haben, ist in letzter Konsequenz ihrerseits ein revisionistischer Versuch gewesen, Kriegsschuld von sich zu weisen. Kevin Doak schreibt über diesen Ansatz, das Japan der Kriegszeit auf das Problem eines extremen Etatismus zu reduzieren: „Behind such antistatist historical modes of explanation often lurked an alternative concept of nationalism that, rooted in ethnic identity, was not merely compatible with wartime ideology but had actually fanned the flames of wartime aggression more effectively than the Japanese state ever could“19.
13 Dies soll nicht implizieren, dass der Nationalismus der Vorkriegszeit frei von ethnischen Konnotationen war. Jedoch war durch Japans Expansion auf den asiatischen Kontinent und die Einverleibung nichtjapanischer Bevölkerungen ein ethnisch basierter Nationalismus in umfassendem Stil ideologisch schwer umsetzbar. vgl hierzu Oguma (2002a). 14 Oguma (2002a); Gayle (2001). 15 Oguma (2002a), S. 115. 16 Gayle (2001), S. 10. 17 Doak (2001), S. 7. Wie Doak in diesem Zusammenhang anmerkt, war die ethnische Nation als marxistische Vision einer Verwirklichung wahrer sozialer Gerechtigkeit in Japan und Asien auch einer der Gründe dafür, dass Teile des linken Lagers den japanischen Einmarsch auf dem asiatischen Festland „als Angriff auf den globalen, kapitalistischen Imperialismus“ durchaus befürworteten. Vgl. Doak (2001), S. 6. 18 Suzuki, S. (2005), S. 245. 19 Doak (2001), S. 2.
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Ähnlich argumentiert Gayle, der den progressiven Intellektuellen Tôyama Shigeki (1914 – 2011) aus dem Umfeld der Rekiken20 folgendermaßen zitiert: „in order to prevent the return of pre-war ‚ultranationalism‘ or ‚imperial authorianism‘, postwar Japan urgently required a new, proletarian form of ‚progressive nationalism‘ which could distance itself from the bureaucracy and political elite“21. Auch diese 1951 gemachte Aussage zeigt, dass der Nationalismus mit der Zäsur von 1945 nicht einfach verschwand, sondern mehr noch, dass von linker Seite die Idee eines „Gegennationalismus“ entstand, mit dem eine Rückkehr des faschistischen Vorkriegsnationalismus zu verhindern sei. Nation beinhaltete nach dieser Auffassung die Möglichkeit und Notwendigkeit geschlossen politischen Widerstand gegen ein „unterdrückerisches“ zentralistisches System – den Staat und seinen elitären Bürokratieapparat – zu leisten. In dieser Hinsicht ist, wie auch Oguma betont, der sich unmittelbar nach Kriegsende entfaltende Diskurs um die Kriegsverantwortung des Kaisers nicht als eine Ablehnung des japanischen Nationalismus zu verstehen. Vielmehr ist er als der Ausgangspunkt eines neuen Nationalismus zu begreifen, bei dem sich die Loyalität zu Japan im Aufbäumen gegen die den Vorkriegsnationalismus repräsentierenden Eliten in Bürokratie und Militär manifestiert, wobei das Volk und auch der das Vorkriegsjapan ebenso repräsentierende Kaiser üblicherweise von jeglicher Verantwortung ausgenommen wurden 22. 2. Die Vermeidung der Schuldfrage Über die problematischen Implikationen dieses Anti-Etatismus schreibt Doak: „In short, to blame the war on ‚extreme statism‘ was successful precisely because it did not question the supportive role played by millions of ordinary Japanese across the political spectrum whose nationalist sentiments during the war were often ethnic and, in that sense, truly ‚beyond the state‘ (chô-kokka)“23. Somit wurde die Schuld der Massen aufgehoben und auf eine Schuld der Führungseliten des zentralistischen Staates reduziert. Auch das alliierte Oberkommando (GHQ) unterstützte durchaus eine solche Sichtweise japanischer Kriegsverantwortung, in der das Volk von der Führungsebene abgekoppelt und die Schuld der Leader betont wurde24. Ähnlich können die japanischen Kriegsverbrecherprozesse von Tôkyô (1946 – 1948) eingeordnet werden, in denen zwar einige wichtige Führungsfiguren ihrer Strafe zugeführt wurden, die Frage nach der Kriegsverantwortung des Kai-
20 Rekishigaku Kenkyûkai (Vereinigung für geschichtswissenschaftliche Forschung), kurz Rekiken. 21 Zitiert nach Gayle (2001), S. 2. 22 Vgl. Oguma (2002a), S. 104 – 107. 23 Doak (2001), S. 2 – 3. 24 Yoshida (2005), S. 31.
B. Japanischer Nachkriegsnationalismus von 1945 bis 1998 – ein Abriss
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sers – auch auf Druck des Oberkommandeurs der Alliierten Douglas McArthur hin – aber völlig ausgeblendet blieb25. Auf diese Weise konnte durch die Abwälzung aller Schuld auf die Führungs eliten, die das Volk nur getäuscht hätten, auch eine Art „Opferbewusstsein“26 zelebriert werden, wobei diese „Täuschung“ es laut dem Historiker Yoshida Yutaka ermöglichte, die Nachkriegsdemokratie als neues Wertesystem reibungslos zu propagieren 27. Indem man die Mitschuld der Massen ignorierte, konnte die Basis für einen raschen Neuanfang geschaffen werden, der durch die Verurteilung und teilweise Entfernung der Verantwortlichen einen vermeintlich umfassenden Bruch mit dem alten System und eine damit verbundene moralische Überlegenheit suggerierte. Nach außen konnte Japan zudem durch die Kriegsverbrecherprozesse ein Minimum an übernommener Kriegsverantwortung nachweisen. Aber innerhalb Japans wurde ein tiefergehender Diskurs um Japans Verantwortung ignoriert oder gar von der Regierung unterdrückt28, was Yoshida als „doppelten Standard“ bezeichnet29. Wie auch Sven Saaler in diesem Kontext schreibt, räumte Japan seine Kriegsverantwortung mit dem Friedensvertrag von San Francisco 1951 ein, in Japan sahen viele den Krieg wie heutige Revisionisten aber als „unvermeidbar“ an30. In der sich rasch abzeichnenden Konfrontation mit der Sowjetunion war die amerikanische Besatzungsmacht zudem bemüht, über Zensur und weitere Restriktionen kommunistische Entwicklungen in Japan zu unterbinden und die Einverleibung des Landes in den sowjetischen Einflussbereich zu verhindern. Insofern kam auch den USA ein japanischer (antikommunistischer) Nationalismus nicht ungelegen. 1970 wurde in der linksliberalen Tageszeitung Asahi Shinbun schließlich Japans Rolle als „Täter“ gegenüber Asien erstmals thematisiert31. Wie noch ausgeführt wird, ist die zu dieser Zeit entstandene Opposition zwischen einem „bösen“ Nationalismus „von oben“ und einem „guten“ Nationalismus „von unten“, die sich des Weiteren in Misstrauen und in einer andauernden Skepsis gegenüber dem zentralistischen Staatsapparat und seiner politischen Eliten manifestiert, bis heute zu beobachten. Die Wiederauferstehung des ethnischen Nationalismus in der Nachkriegszeit steht zudem in unmittelbarer Verknüpfung zum Yoshida (2005), S. 42 ff.; vgl. auch Watanabe (2001), S. 27 ff. Herausbildung eines Bewusstseins, trotz der eigenen imperialistischen Expansion auf den asiatischen Kontinent, das eigentliche „Opfer“ zu sein, wurde freilich auch durch die Atombombenabwürfe und die Besetzung durch die USA (1945 – 1952) noch weiter begünstigt. 27 Vgl. Yoshida (2005), S. 59. 28 So zeigten sich auch die Sozialisten teils nicht gewillt, sich mit der Frage japanischer Kriegsverbrechen auseinanderzusetzen, gerade auch vor dem Hintergrund der amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Yoshida (2005), S. 93. 29 Yoshida (2005), S. 82, 91. 30 Saaler (2005), S. 129. 31 Yoshida (2005), S. 152. 25
26 Die
II. Wirtschaftsnationalismus als Garant des japanischen Nachkriegspazifismus
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gleichzeitig erstarkten Mythos von Japan als „homogener Nation“32. Laut McVeigh hat dieser Mythos von der „homogenen Nation“ im Nachkriegsjapan einflussreichen Eliten ein machtvolles Instrument „sozialen Managements“ an die Hand gegeben33.
II. 1960 – 1973: Wirtschaftsnationalismus als Garant des japanischen Nachkriegspazifismus II. Wirtschaftsnationalismus als Garant des japanischen Nachkriegspazifismus
1. Die Yoshida-Doktrin als Japans neuer Diplomatiekompass Mit dem in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre einsetzenden japanischen Wirtschaftswunder begann sich ein stärker wirtschaftlich konnotierter Nationalismus herauszubilden, der, zunächst staatlich gefördert, später auch auf der Massenebene zunehmend an Bedeutung gewann. Diese neue Ausprägung schlug sich in Stolz auf den japanischen (wirtschaftlichen) Erfolg nieder und reifte in der Folge zur nationalen Vision, zur Führungsmacht der Weltwirtschaft aufzusteigen. Der Wirtschaftssoziologe und Japanwissenschaftler Bai Gao arbeitet zwei Phasen des ökonomischen Nationalismus in Japans Nachkriegszeit heraus. Während in den 1950er Jahren unter den politischen Akteuren keine einheitliche Vorstellung über die nationalen Interessen Japans existierten und somit einen fragmentierten Wirtschaftsnationalismus34 konkurrierender Strategien reflektierte, so kristallisierte sich ab den 1960er Jahren ein Konsens heraus, dem zufolge Japans nationales Interesse auf seinem Wirtschaftswachstum beruhe35. Yoshida Shigeru – mit einer etwa eineinhalbjährigen Unterbrechung von 1946 – 1954 Premierminister Japans – war ein prominenter Verfechter dieser Sichtweise und konnte sie auch gegen internen Widerstand innerhalb der konservativen Regierungspartei LDP36 durchsetzen. Die nach ihm benannte „Yoshida-Doktrin“ wurde zum Leitfaden japanischer Nachkriegsdiplomatie für die folgenden Jahrzehnte und besagte, dass Japan unter dem militärischen Schutz der USA international ein diplomatisch nur schwaches Profil annehmen solle, um der obersten Priorität – dem wirtschaftlichen Wiederaufbau – alle Kräfte zuführen zu können37.
32 Vgl. hierzu Oguma (2002a); (2002b); McVeigh (2004); Doak (2001), S. 34. Vor 1945 wurde Japans Überlegenheit ganz im Gegensatz dazu meist damit begründet, dass Japan eine „Mischnation“ (kongô minzoku) sei. Vgl. Oguma (2002a); Oguma (2002b). 33 McVeigh (2004), S. 205. 34 Zu einer Analyse der Charakteristika des japanischen Wirtschaftsnationalismus, die hier nicht en detail vorgenommen werden kann, vgl. auch McVeigh (2004), S. 100 – 126. 35 Gao (1998), S. 228. 36 Die LDP wird gemeinhin als konservative Partei angesehen. Gemäß dem Japanologen Christian Winkler ist hier jedoch Vorsicht angebracht, da die LDP über eine bemerkenswerte ideologische Flexibilität verfüge. Vgl. Winkler (2011a), S. 4. 37 Gao (1998), S. 231.
B. Japanischer Nachkriegsnationalismus von 1945 bis 1998 – ein Abriss
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Dieser ökonomische Nationalismus stieß unter Marxisten zunächst auf starken Widerstand, da man unter anderem befürchtete, Japan könnte durch eine amerikanisch-japanische Allianz in neue Kriege hineingezogen werden – insbesondere mit dem in einem solchen Fall verfeindeten Sowjetblock38. Unter den Marxisten bevorzugte man hingegen eine unbewaffnete Neutralität Japans. Einflussreiche Vertreter dieser Linie waren z. B. der Literaturkritiker Yoshimoto Takaaki (1924 – 2012), der neben einer japanischen Neutralität Befürworter eines „populären Nationalismus“ war, welcher in Abgrenzung zu der „vom Ausland beeinflussten Eliten“ auf der „Kultur der Massen“ basieren sollte39. Aber auch unter den Konservativen gab es Kritiker, die Japan unabhängiger von den USA machen wollten. Der spätere Premier Kishi Nobusuke (Amtszeit 1957 – 1960) etwa strebte eine Vorreiterrolle Japans in Asien an, nach der Japan der Repräsentant Asiens für den Westen werden sollte40. Diese Widerstände, die gemäß der Analyse von Gao in den 1950ern konkurrierende Nationalismen repräsentierten, kulminierten in den gegen den japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrag gerichteten, scharfen Protesten von 1960 bzw. 1970 (Anpo Tôsô). Nach 1960 wandte sich die LDP schließlich der Yoshida-Doktrin zu, um stärker ökonomische statt politische Fragen zu betonen. Yoshi da verstand es geschickt, sowohl die konservativen Revisionisten hinter sich zu vereinen, als auch die linken Pazifisten, die er durch seine Zugeständnisse in Sachen Verfassung auf seine Seite bringen konnte41. Auch Premier Ikeda Hayato (Amtszeit 1960 – 64) sah die Lösung der japanischen Probleme wie Yoshida in einer starken Wirtschaft42. Mit seinem „National Income Doubling Plan“ ist er damit einer der Väter der japanischen Hochwachstumsphase. Dabei weigerte er sich, in seiner Amtszeit eine Verfassungsänderung anzustreben und widmete der wirtschaftlichen Entwicklung die volle Aufmerksamkeit43. Der Wirtschaftsvorrang wurde von seinem Nachfolger Satô Eisaku (Amtszeit 1964 – 1972) zwar kritisiert, an der Verfassung hielt aber auch er fest44. Die Yoshida-Doktrin gewann schließlich großen Rückhalt und Yoshida wurde selbst zur Schlüsselfigur des neuen konservativen Mainstream in Japan45. Die Militärausgaben gingen zurück, und auch mit den drei nichtatomaren Prinzipien46 manifestierte sich ein neuer Kurs der Konservativen, der der Verfassung neutral
38
Vgl. ebd., S. 232 f. McVeigh (2004), S. 208. 40 Gao (1998), S. 232. 41 Vgl. Samuels (2007), S. 34 f. 42 Vgl. Gao (1998), S. 233. 43 Watanabe (2001), S. 69. 44 Ebd., S. 69. 45 Vgl. Winkler (2011a), S. 8; Nakano (2015), S. 31. 46 Kein Besitz, keine Herstellung und keine Einführung von Atomwaffen auf japanisches Gebiet (hikaku san-gensoku). 39
II. Wirtschaftsnationalismus als Garant des japanischen Nachkriegspazifismus
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bis positiv gegenüberstand und sich auf die Wirtschaft konzentrierte47. Nach dem Scheitern der Protestbewegung gegen den japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrag spaltete sich auch das linke Lager auf. Die einen gaben ihren Traum einer Unabhängigkeit von den USA auf, die anderen konzentrierten ihre Bemühungen verstärkt auf die Innenpolitik und nahmen Japans Rolle in der Ordnung des Kalten Krieges als unveränderbar hin48. Dieser Fokus auf den Wirtschaftsnationalismus verdrängte – so Gao – durch die langanhaltende Wachstumsphase Japans bis in die 1980er Jahre hinein einen politischen Nationalismus49. Die Änderung der Verfassung (vor allem Artikel 9) stand zwar auch immer wieder im Raum, konnte aber nie ein bedeutsames Thema im Diskurs der regierenden LDP werden50. So sicherte der japanische Wirtschaftsnationalismus für Dekaden den Nachkriegspazifismus. 2. Das (Wieder-)Aufflammen eines kulturellen Nationalismus Der wirtschaftliche Nationalismus hatte in dieser Phase Schnittstellen zu einem kulturellen Nationalismus. Der Literat und Kommentator Shiba Ryôtarô (1923 – 1996), der insbesondere mit seinen Historienromanen „Ryôma ga yuku“ (Ryôma kommt, 1963 – 1966) „Saka no ue no kumo“ (Wolken über dem Hügel, 1968 – 1972) zu einer Art „Volksliterat“ der Nachkriegszeit aufstieg, sprach die Gefühle der Zeit mit seinen in der Bakumatsu- und Meiji-Zeit beheimateten Geschichten an. Sven Saaler weist auf die Bedeutung von solchen Historienromanen für die Bildung von Geschichtsbewusstsein allgemein bzw. für den japanischen Fall der Nachkriegszeit speziell hin. Shiba sei es dabei gelungen, seine Werke eher als historische Wahrheit, denn als literarische Fiktion erscheinen zu lassen51. Der wirtschaftliche Aufstieg Japans oder auch die erfolgreich ausgerichtete Tôkyô-Olympiade 1964 kreierten ein gewisses Maß an Stolz auf die eigenen Leistungen, die sich vor dem Hintergrund des noch nicht lange zurückliegenden Krieges jedoch nicht ohne weiteres ein offen nationalistisches Ventil suchen konnten. Shiba sprach mit seinen in der vermeintlich „guten alten“ Meiji-Zeit spielenden Geschichten dieses Bedürfnis an und verklärte den Nationalismus der Meiji-Zeit inklusive der Sino- Japanischen und Russisch-Japanischen Kriege. Während Shiba den japanischen Imperialismus und Militarismus ab den 1930er Jahren ablehnte und die japanische Kriegsverantwortung anerkannte, thematisierte er diese „dunklen“ Kapitel japanischer Geschichte in seinen Romanen nicht. Stattdessen schob er diese einfach in den Hintergrund und glorifizierte die „unverWatanabe (2001), S. 69 f. Gao (1998), S. 233. 49 Dass Japan sich bei seinem Fokus auf das Wirtschaftswachstum auf den militärischen Schutz der USA verließ, wurde auch von Anrainerstaaten wie China begrüßt, welches die engen japanisch-amerikanischen Beziehungen einem eigenständigen, militärisch hochgerüsteten Japan vorzog. Vgl. Inoguchi (2008), S. 7. 50 Gao (1998), S. 234. 51 Saaler (2005), S. 152. 47 Vgl. 48
B. Japanischer Nachkriegsnationalismus von 1945 bis 1998 – ein Abriss
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fänglichere“ Meiji-Zeit und ihren Kampf für die nationale Einheit und den Erhalt des kulturellen Erbes gegen die wachsende westliche Bedrohung52. Wie Saaler zu Shiba festhält, lieferten seine Erzählungen jedoch auch Stoff für Geschichtsrevisionisten wie den Erziehungswissenschaftler Fujioka Nobukatsu (*1943), den Mitbegründer der 1996 gegründeten revisionistischen Vereinigung Tsukuru-kai53. In besonders drastischer Erinnerung bleibt aus dieser Zeit jedoch der Romancier Mishima Yukio (1925 – 1970), der nach seiner Wandlung zum Nationalisten und Tennôisten seine eigene Privatarmee (Tate no kai) unterhielt. Unter anderem auch in zahlreichen (literarischen54) Beiträgen machte er seine Sympathien für den ultrarechten Flügel deutlich und entwarf einen „ästhetisierten“ kulturellen Nationalismus. 1970 schließlich drang er mit seinen Vertrauten in einen Stützpunkt der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte (Jieitai, SDF) in Tôkyô ein, um die dortigen Soldaten zu einem Putsch zur Wiederherstellung der kaiserlichen Macht aufzufordern. Als dieser Aufruf erfolglos blieb, tötete sich Mishima per seppuku („Harakiri“) selbst. In rechten Kreisen genießt er bis heute entsprechenden Heldenstatus. Diese literarischen Auseinandersetzungen mit dem japanischen Nationalismus manifestierten sich auch in der Populärkultur der damaligen Zeit, insbesondere in Form eines Booms von Kriegsmangas bzw. Kriegsepen (senki-mono), der mit der wirtschaftlichen Erholung in den 1950er Jahren einsetzte und sich bis in die 1960er Jahre fortsetzte55. Der Soziologe Eldad Nakar bemerkt in seiner Analyse des Phänomens, dass dieses die damalige Stimmung der Gesellschaft, ihre Ängste, Sehnsüchte und Ideen in Bezug auf die Vergangenheit widergespiegelt habe56. Yoshida Yutaka interpretiert diesen Erfolg von Kriegsepen präziser als einen latenten Komplex gegenüber den USA durch die Niederlage im Zweiten Weltkrieg und als die Wiedererstarkung eines Nationalismus auf der grass roots-Ebene57. Zusammen mit dem Auftauchen von anonymen Kriegsberichten in den 1950er Jahren wurde mit diesem Boom die Aufmerksamkeit auf das eigene Leid sowie den „Mut des einfachen Soldaten“ gelenkt58. Yoshida sieht in dieser „Militärkultur“ eine bedeutende Rolle zur Erzeugung eines vermeintlich „naiven Patriotismus“ (mujaki na aikokushin)59. Diese Kriegsbeschönigung rief allerdings auch Kritiker auf den Plan60. 52
Ebd., S. 152 f. Ebd., S. 153. 54 Vgl. z. B. seine Kurzgeschichte „Yûkoku“ (Patriotismus) von 1966. Die Geschichte spielt vor dem historischen Hintergrund des Niniroku Jiken, einem Putschversuch einer Gruppe von Armeeangehörigen gegen die Regierung in den 1930er Jahren, der letztlich niedergeschlagen wurde. Mishima verklärt darin den Doppelselbstmord eines Armeeoffiziers, der sich für keine der beiden Seiten entscheiden kann und mit seiner Frau den Freitod wählt. 55 Vgl. Nakar (2003); Yoshida (2005), S. 94 f. 56 Nakar (2003), S. 70. 57 Yoshida (2005), S. 95, 125. 58 Ebd., S. 101 f. 59 Ebd., S. 126 f. 60 Ebd., S. 108, 129. 53
III. 1973 – 1990: Folklore, Exotik und ein Japan, das „nein“ sagen kann
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Ab den 1960er Jahren wandelte sich die pessimistische Rückwärtsgewandtheit der Kriegsepen schließlich mit dem Aufkommen von Science Fiction-Mangas, wie denen von Tezuka Osamu (1928 – 1989), die eine bessere Zukunft zum Thema hatten, anstatt sich mit einer schwierigen Vergangenheit zu befassen61. Der Boom von Kriegsepen konnte nichts mehr an der Etablierung des japanischen Nachkriegspazifismus unter der Führung progressiver Intellektueller ändern, der seinerseits jedoch auch als ein „pazifistische“ Form des Nationalismus gesehen werden muss62.
III. 1973 – 1990: Folklore, Exotik und ein Japan, das „nein“ sagen kann 1. Folklore und furusato – Das Exotische im eigenen Land Ab den 1960er Jahren setzte in Japan eine Renaissance der Folklore ein, die sich auch in die 1970er Jahre hinein fortsetzte63. Der Volkskundler Yanagita Kunio (1875 – 1962), der mit seinen gesammelten „Volkserzählungen“ (Tono monogatari, 1912) einer der Pioniere der „Folklore-Studien“ (minzokugaku) in Japan wurde, stieg zum Idol und Helden von Anti-Establishment-Gruppen auf. Der Anthropologe Ronald A. Morse bezeichnet ihn als „celebrity intellectual“ der 1970er Jahre64. Yanagita gehört dabei zu den Vordenkern bzw. kann als eine wichtige Quelle für den popularisierten Nihonjinron („Japanerdiskurs“) gesehen werden65. Das Genre Nihonjinron erlebte besonders in den 1970er und 1980er Jahren eine Blütephase66 und versucht in sich selbst orientalisierender Weise zu ergründen, was „das Besondere“ an Japan und „den Japanern“ sei67. Dazu gehören auch Deutungen, dass Japan nicht von „Fremden“, sondern nur von Japanern selbst „verstanden“ werden könne68. Yoshino Kôsaku sieht das Genre als intellektuelle Säule des gegenwärtigen kulturellen Nationalismus in Japan69. Diese Anfang der 1990er Jahre gemachte Aussage hat im Prinzip bis heute ihre Gültigkeit behalten. Gerade vor dem Hintergrund von Japans wirtschaftlichem Aufstieg versuchte sich der Nihonjinron auch daran, diese Erfolge mit dem Besonderen an „den Japanern“ zu erklären. Nakar (2003), S. 70 f. Oguma (2002a); vgl. Takekawa (2007); McVeigh (2004). 63 Vgl. hierzu Gebhardt (2001), S. 134 f. 64 Morse (1990). 65 Yoshino (1992). 66 Die Wurzeln des Genres lassen sich jedoch bis in die Meiji-Zeit zurückverfolgen. Ein Beispiel ist Nitobe Inazos „Bushidô – die Seele Japans“ von 1899. Vgl. hierzu auch Kap. D. 67 Zur kritischen Auseinandersetzung mit der Thematik Nihonjinron seien unter anderem die Beiträge von Befu Harumi (2001), Sugimoto Yoshio (1999) sowie Yoshino Kôsaku (1992) genannt. 68 Vgl. Yoshino (1999b), S. 17. 69 Yoshino (1992), S. 36. 61 Vgl. 62
B. Japanischer Nachkriegsnationalismus von 1945 bis 1998 – ein Abriss
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Die Renaissance der Folklore spiegelte laut Morse die Stimmung der damaligen Zeit wider, als zunehmende Umweltverschmutzung, Japans stärkeres internationales Engagement sowie auch die Spannungen, die ein zunehmend technologisiertes Leben mit sich brachte, zu einer stärkeren Selbstreflexion führten. Um 1972 verbanden sich diese Entwicklungen mit einem „Boom der Selbstprüfung“70. Die Folkloreschriften sprachen eine Nostalgie an, die auf die Entdeckung „wahrer“ japanischer Tradition abzielte71. Die damit verbundene Wiederentdeckung des Regionalen zeichnete sich z. B. in der Literatur72 oder auf anderen Ebenen, insbesondere Werbekampagnen ab, die das Bild des furusato benutzten, des ruralen Heimatortes, dessen Verlust sich in der Urbanisierung zeigt73. Bekannte Beispiele sind die Kampagnen der japanischen Staatsbahnen (mittlerweile privatisiert), deren Slogan „Discover Japan“ aus den 1970er Jahren in den 1980ern schließlich sich selbst exotisierend in der Kampagne „Exotic Japan“ mündete74. Diese Kampagnen suggerieren, dass das „Fremde“ im eigenen Land auf seine (Wieder)Entdeckung warte. Hatten früher die meisten Japaner zwar auch rurale Wurzeln75, so spielte diese Werbung schon damals eine eher nur „imaginierte Heimat“ wider. In diesen Diskursen wird die Stadt zum Symbol für die vom Westen aufgezwungene Moderne, wohingegen die so Entfremdeten im Wald, in der Region, im (Heimat)Dorf ( furusato) das „traditionelle“, „verlorengegangene“ Japan „wiederentdecken“ können. Dieses ursprüngliche Japan bietet eine identitätsstiftende Projektionsfläche für den „entwurzelten“ Menschen der modernen Massen- und Konsumgesellschaft. Im Regionalen jedoch, wo die als „traditionell“ und als „typisch japanisch“ wahrgenommenen Bräuche erhalten geblieben zu sein scheinen, findet das Individuum eine Identität, der darüber hinaus etwas Geheimnisvolles, Mysteriöses, teils Spirituelles anhaftet. Diese Exotisierung der eigenen „traditionellen“ Bräuche verbindet sich in einer zweiten Stufe mit der Überhöhung des angeblich besonders geheimnisvollen Japans. Das Resultat ist ein hybrides Gebilde aus vermeintlich wiederentdeckter „typisch japanischer“ und „traditioneller“ Spiritualität, Brauchtum, Öko-Thematik und Ethno-Esoterik. Die Kernthesen der Folklore-Renaissance sind bis heute immer wieder aufgegriffen worden (vgl. auch Kap. D.). Das Narrativ von der Schönheit der Region, Morse (1990). Ebd., S. 188. 72 Diese Entwicklung spiegelt sich in der japanischen Gegenwartsliteratur besonders in den 1970er und 1980er Jahren wider, in Werken von Autoren wie dem Nobelpreisträger Ôe Kenzaburô (*1935) oder Furui Yoshikichi (*1937). Hierbei spielt insbesondere der Gegensatz von Stadt als Zeichen der Moderne und Dorf bzw. Region als Zeichen für Tradition und Ursprünglichem eine wichtige Rolle. In der Region kann so die eigene, in der Moderne „verlorene“ Identität wiederentdeckt werden. Die Folklore-Renaissance beschreibt so im Grunde die Wiederentdeckung des Regionalen durch Großstädter. Vgl. hierzu Gebhardt (2001). 73 Ivy (1995). 74 Vgl. hierzu auch Asaba (2004), S. 106 ff. 75 Ebd. 70 71
III. 1973 – 1990: Folklore, Exotik und ein Japan, das „nein“ sagen kann
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der Heimat, in der meist auch das folkloristische des furusato mitschwingt, war anfangs als Establishment-Kritik gedacht, kam jedoch schnell im Mainstream an und wurde und wird auch gern von der Werbung und den Medien ausgenutzt76. Die „Zurück zur Natur“-Rhetorik zwecks Identitätsfindung, Gemeinschafts- und Harmonieförderung für den entwurzelten Menschen der Moderne ist freilich nicht dazu geeignet, ihre Kritik auf eine übergeordnete Ebene zu bringen und erschafft in ihrer teilweise selbstorientalisierenden Hervorhebung und vermeintlichen Wiederentdeckung von Traditionen, Bräuchen etc. ihrerseits eine (nationalistische) Gegenideologie, die vor dem Hintergrund ihrer stets konsumistischen Aufbereitung dem kritisierten kapitalistischen System und dessen etabliertem Nationalismus aber mehr nützt als schadet. 2. Konservative Bemühungen zur Stärkung japanischer Identität In den 1970er Jahren begann sich allmählich das Protestklima in Japan zu entspannen und der Marxismus verlor an Wirkkraft. Ein Grund hierfür war auch, dass der durch das japanische Wirtschaftswunder generierte Massenwohlstand das Interesse an politischen Veränderungen schwinden ließ und somit auch Teile der Linken konservativ wurden77. Auch die Intellektuellenlandschaft blieb von diesem Ruck ins Konservative nicht verschont78. Nach der Normalisierung der Beziehungen zu Südkorea 1965 zeichneten sich in den 1970er Jahren auf politischer Ebene weitere Versuche einer Annäherung zu Asien ab, wobei insbesondere die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu China 1972 unter Premier Tanaka Kakuei (1972 – 1974) zu nennen ist. Unter der Nakasone-Administration (1982 – 1987) wurden schließlich deutliche Tendenzen erkennbar, Japans nationale Identität vermehrt auch „von oben“ zu stärken, was von einer offensiveren Beschäftigung mit Japans Kriegsvergangenheit begleitet, erstmals deutlich machte, dass solche Versuche von Japans Nachbarn China und Südkorea kritisch beäugt würden. Nakasone Yasuhiro (LDP) nahm zum einen die Tradition von Besuchen japanischer Premierminister am umstrittenen Yasukuni-Schrein 1985 wieder auf 79, zum anderen fallen in seine Amtszeit zwei „Schulbuch-Affären“ Robertson (1988), S. 495 f. Hudson (2006), S. 415. 78 Prohl (2000), S. 119. 79 Im Grunde haben alle Premierminister seit der Meiji-Zeit den Yasukuni-Schrein besucht, um der in Kriegen für Japan gefallenen Soldaten zu gedenken. Erstmals kam es nach einem Besuch des damaligen Premiers Miki Takeo 1976 zu ausländischen Protesten, worauf darauffolgende Premierminister die Besuche aussetzten. Nachdem Nakasones Besuch am Schrein zum 40. Jahrestages des Kriegsendes am 15. August 1985 ebenfalls zu heftigen Protesten in China und Südkorea führte, verzichtete er wie auch seine Amtsnachfolger auf den Brauch, bis Hashimoto 1996 und Koizumi Anfang der 2000er Jahre die Besuchstradition wieder aufnahmen. Vgl. hierzu auch Pyle (2007), S. 329; Samuels (2007), S. 125; Inoguchi (2008), S. 6; vgl. auch Nelson (2003), S. 456; Nakano (2015), S. 100. 76 Vgl.
77 Vgl.
B. Japanischer Nachkriegsnationalismus von 1945 bis 1998 – ein Abriss
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(1982, 1986), die sich an beschönigenden Darstellungen in japanischen Geschichtslehrwerken entzündeten80. Diese Entwicklungen führten ab den 1980ern zu der Erkenntnis, dass für eine Verbesserung der Beziehungen zu den asiatischen Staaten insbesondere die Unterschiede in der Geschichtssicht und –aufarbeitung zum Haupthindernis werden würden81. Der oben beschriebene „doppelte Standard“ geriet laut Yoshida allmählich ins Wanken82. Und auch bei Nakasone, dem das Image des Hardliners anhaftete, stellt Yoshida einen Wandel in der Wahrnehmung des Krieges als „Invasionskrieg“ (shinryaku sensô) fest. So äußerte Nakasone 1982, dass es von den betroffenen Ländern und von Geschichtswissenschaftlern das weltweite Urteil über Japan gebe, einen Invasionskrieg geführt zu haben83. Gleichzeitig zielten Ini tiativen etwa der LDP darauf ab, zur Stärkung der Identität der Japaner gegen ein solches als „masochistisch“ empfundenes Geschichtsbild der Kriegsverbrecherprozesse von Tôkyô (Tôkyô saiban sensô shikan) und einem damit verbundenen Täterbewusstsein anzukämpfen84. Außenpolitisch versuchte Nakasone, Japan zu „internationalisieren“ (kokusai ka), was konkret auch eine aktivere Rolle in internationalen Fragen bedeutete. Japan sollte demnach nicht mehr nur ein „Follower“ sein, sondern zu einem „internationalen Staat“, bereit für globale Führungsrollen gemacht werden. Zu diesem Zweck plädierte er für eine simultane Stärkung der nationalen Identität85. Gemäß dem Politologen Singh war Nakasones Ansatz ideologisch unterfüttert mit einem „liberalen Nationalismus“, der sich weniger an Traditionen, als an tatsächlichen, nationalen Interessen orientieren sollte86. Doch wie „liberal“ war dieser Nationalismus wirklich? Nakasone gründete 1987 das Forschungsinstitut Kokusai Nihon Bunka Kenkyû Sentâ (International Research Center for Japanese Studies), kurz Nichibunken, in Kyôto, dessen erste beiden Leiter der Philosoph Umehara Takeshi (*1925) und der Psychologe Kawai Hayao87 (1928 – 2007) wurden88 – beide Vertreter einer nationalkonservativen Yoshida (2005), S. 186 f.; Saaler (2005). Yoshida (2005), S. 194. 82 Ebd., S. 186 ff. 83 Ebd. S. 190. 84 Ebd., S. 188. 85 Yoshida (2005), S. 188 ff. 86 Vgl. Singh (2010), S. 436 ff. 87 Gleichzeitig zeichnete sich in den 1980er Jahren ein verstärkter Trend ins Spirituelle ab, wobei die Nichibunken-Chefs Umehara und Kawai – letzterer versuchte in seinen Arbeiten nicht weniger als die „Psyche der Japaner“ zu ergründen – als wichtige Akteure dieses Trends gesehen werden können. Vgl. Gebhardt (2001). 88 Das Nichibunken befasst sich insbesondere mit der Erforschung japanischer Kultur und in diesem Zusammenhang vor allem mit Religion, Kunst und dem Japanbild im In- und Ausland und wirkt nach Einschätzung von Inken Prohl durch zahlreiche Veröffentlichungen und Symposien im In- und Ausland meinungsbildend. Das Nichibunken kann als national80
81 Vgl.
III. 1973 – 1990: Folklore, Exotik und ein Japan, das „nein“ sagen kann
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Agenda. Mit dem Institut sollte insbesondere auf Japans Außenwahrnehmung Einfluss genommen werden89, wobei Kritiker vor dem Hintergrund dieser Ereignisse jedoch vor neuem Nationalismus warnten90. Nakasone steht laut Winkler in klarem Kontrast zu Yoshida Shigeru und seinen Nachfolgern, die Wirtschaftsfragen eine absolute Priorität einräumten91. Wie der Politologe Nakano Kôichi darlegt, kann Nakasone als erster Vertreter einer neuen rechten Strömung (shin-uha rengô) gesehen werden, die reaktionären Nationalismus mit neoliberalen Ideen verknüpfte und dabei einen ähnlichen Weg einschlug wie Großbritannien unter Margaret Thatcher oder die USA unter Ronald Reagan92. Mithin war Nakasone der Prototyp eines neuen neoliberal-nationalistisch geprägten politischen Mainstream, der später von Nachfolgeregierungen wie Hashimoto, Koizumi, Asô oder Abe aufgegriffen und weiterentwickelt wurde und sich dabei auch gegen die von Nakano so bezeichneten „alten Rechten“ (kyû-uha rengô) wendete, deren Doktrin sich aus einem wirtschaftsnationalistischem „Developmentalismus“ (kaihatsushugi) und einem Klientelismus (onkoshugi) zusammensetzte und sich im sogenannten „1955-System“ (gojûgonen taisei), der von 1955 bis 1993 andauernden Herrschaft der LDP manifestierte93. Der Wirtschaftsboom, der auf einer Immobilienblase basierenden, japanischen Bubble Economy, tat indes ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre sein Übriges, japanische Großmachtphantasien zu befeuern, die teils auch durch das Japan- Bashing im Ausland (insbesondere in den USA) begünstigt wurden94. Das wachsende Interesse an „ethnospirituellen“ Themen in den 1980er Jahren nahm so auch Einfluss auf Japans Wirtschaftsnationalismus, der eine zwischen ethnisch und rassistisch schillernde Gestalt annahm. Nakasone führte den ökonomischen Erfolg des Landes in dieser Phase in einer ethnonationalistisch durchtränkten Äußerung von 1986 auf Japans vermeintliche „rassische Homogenität“ zurück95. An anderer Stelle beschworen Morita Akio (1921 – 1999), Gründer des Sony-Konzerns, und der konservativ eingestuft werden, wobei Kritiker bemängeln, wie Prohl zudem ausführt, dass Umehara und andere (ehemalige) Vertreter der Einrichtung unterschwellig die „Bedeutung des Kaisers als nationales Symbol zu bekräftigen“ suchen. Vgl. Prohl (2000), S. 100. 89 Bereits mit der Gründung der Japan Foundation 1972 intensivierte Japan seine Bemühungen im Bereich der Kulturdiplomatie und –austausch, um ähnlich wie mit dem Nichibunken Einfluss auf seine Außenwirkung zu nehmen. Vgl. zu Japans Kulturdiplomatie auch Kap. C. 90 Vgl. auch Prohl (2000). 91 Winkler (2011a), S. 12. 92 Nakano (2015). 93 Ebd. Laut Nakanos Definition überlappte sich der durch die Yoshida-Doktrin repräsentierte konservative Mainstream mit der Allianz der „alten Rechten“, könne aber aufgrund von etwa durch Kishi repräsentierten, konservativen Nebenströmungen nicht synonym für die „alte Rechte“ verwendet werden. Nakano (2015), S. 31 f. 94 Azuma/Kitada (2008), S. 248 f. 95 Antoni (2003), S. 167.
B. Japanischer Nachkriegsnationalismus von 1945 bis 1998 – ein Abriss
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Literat und ehemalige Gouverneur von Tôkyô Ishihara Shintarô (*1932) in ihrem Buch von 1989 ein Japan, das nun „Nein“ sagen könne (NO to ieru Nihon) und verfolgten damit eine japanische Vormachtstellung, die sich betont von den USA emanzipieren sollte96.
IV. 1990 – 1998: Der Neonationalismus der „Lost Decade“ 1. Japans Blick nach Asien – zwischen Rückkehr und Abkehr Das Platzen der „Bubble Economy“ 1990 führte in Japan zu einer deutlichen Zäsur, welche die von wirtschaftlicher Rezession geprägte, sogenannte „Lost Decade“ einleitete. Das Kôbe-Erdbeben 1995 sowie der im gleichen Jahr von der neureligiösen Vereinigung Aum-shinrikyô verübte Sarin-Giftgasanschlag auf die U-Bahn in Tôkyô verursachten weitere bedeutende Einschnitte in das öffentliche Bewusstsein97. Das Ende des Kalten Krieges, das auch eine enorme Intensivierung der Globalisierung auslöste, brachte in Japan zwei gegensätzliche Trends mit sich: zum einen ein sich plötzlich steigerndes Interesse an Asien, oft auch als „Rückkehr nach Asien“ bezeichnet, zum anderen verstärkte sich durch das Ende der Bubble und der bipolaren Weltordnung die Erkenntnis, dass Japans Nachkriegsordnung in eine Krise geraten war. Mit dem Scheitern des Sozialismus verstärkten sich so auch die konservativen Bemühungen, die japanische Nachkriegsordnung zu verändern bzw. komplett aufzugeben. Dabei war die „Rückkehr nach Asien“ selbst von gegensätzlichen Trends gekennzeichnet, die jedoch beide das verstärkte Interesse Japans an den Ländern Asiens bestätigten. Einerseits gab es eine positive Neugier Japans an seinen Nachbarn, die sich insbesondere auch in einem verstärkten Kulturaustausch mit anderen asiatischen Ländern bemerkbar machte. Die Japanologinnen Barbara Gatzen und Hilaria Gössmann sehen als Gründe hierfür eine nostalgische Haltung Japans gegenüber Asien, die sich mit „der in vielen Industrienationen zu beobachtenden Nostalgie im Bezug auf andere, wirtschaftlich weniger entwickelte Länder“ decke98. Wie der Medienwissenschaftler Iwabuchi Kôichi von der Waseda-Universität dazu anmerkt, ist diese „Rückkehr nach Asien“ im Kontext einer Neubehauptung der eigenen Identität als ein asiatisches Land zu verstehen und spiegelt eine Neubestimmung der eigenen Position in der asiatischen Gemeinschaft wider99. Generell haben sich in Ostasien seit dieser Zeit grenzüberschreitende Kulturbewegungen intensiviert, so dass sich dieser Prozess nicht auf Japan beschränkt100. Ebd., S. 167; McVeigh (2004), S. 273; Samuels (2007), S. 120. Iida (2002), S. 237 ff. 98 Gatzen/Gössmann (2003), S. 247. 99 Iwabuchi (2002b), S. 547. 100 Vgl. Iwabuchi (2004), S. 112. 96
97
IV. 1990 – 1998: Der Neonationalismus der „Lost Decade“
57
Auf politischer Ebene zeigte sich gleichzeitig zunächst die Tendenz, entschiedener mit der eigenen Kriegsverantwortung gegenüber den asiatischen Nachbarn umzugehen. Als ein wichtiger Schritt in dieser Richtung können die Äußerungen des damaligen Premiers Hosokawa Morihiro (*1938) von 1993 gewertet werden, der sich für Japans Aggression im Pazifikkrieg entschuldigte. Sie bezeichnete er in einer Presseerklärung vom 10. August 1993 zunächst als „‚Invasionskrieg‘, der falsch war“ (shinryaku sensô), aber einige Tage später, am 23. August, abgeschwächt als „Invasionshandlungen“ (shinryaku kôi)101. In dieser Deutlichkeit betrat Hosokawa für einen japanischen Spitzenpolitiker Neuland. Auch seine Nachfolger im Amt, Hata Tsutomu (*1935) und Murayama Tomiichi102 (*1924) äußerten sich 1994 und 1995 in ähnlicher Weise zu Japans Kriegsverantwortung. Murayama bat anlässlich des 50. Jahrestages des Kriegsendes 1995 um Entschuldigung für die japanische Kolonialherrschaft und Aggression (Murayama danwa)103. Yoshida Yutaka sieht in diesen Ereignissen einen Wandel im öffentlichen Diskurs zu dieser Zeit hin zu mehr Selbstreflektion und zitiert auch Meinungsumfragen, denen zufolge 59 % der Befragten Hosokawas Äußerungen zustimmen bzw. eher zustimmen, wohingegen nur 16 % diese ablehnen oder eher ablehnen104. In der häufig unscharfen Sprache japanischer Politiker erkennt Yoshida aber eher ein unklares Geschichtsbewusstsein105. Somit können solche Äußerungen also auch als notwendiges „Minimum“ an Selbstreflexion gewertet werden, bei der im Zuge von Japans Neuorientierung nach Asien, Geschichte zum „Schlüssel“ wird. Der ehemalige LDP- und spätere DPJ-Politiker Ozawa Ichirô (*1942) war in den 1990er Jahren einer der Vordenker in dieser Richtung und zeigte sich als neoliberaler Visionär mit seinem einflussreichen Buch „Nihon kaizô keikaku“ („Reformplan für Japan“, mittlerweile sind über zwanzig Auflagen erschienen) von 1993. Darin relativiert Ozawa die japanische Expansion auf den Kontinent, die nicht nur eine Invasion gewesen sei, sondern auch eine Bewegung, die auf eine „Symbiose“ mit der Region abgezielt habe106. Yoshida sieht darin eine ähnliche Relativierung wie in Hata Tsutomus Formulierung „Im Ergebnis ein Invasionskrieg“ (kekka toshite no senryaku sensô)107. Der Beginn einer wachsenden Auseinandersetzung mit Japans Kriegsvergangenheit ab den 1980er Jahren entwickelte sich nun zu einem wahren „Boom der Geschichte“, wobei immer stärker auch der gegensätzliche Versuch erkennbar wurde, die japanische Geschichte zu revidieren und umzudeuten. Sven Saaler sieht einen Hauptauslöser für das Auftreten des Geschichtsrevisionismus ab den 1990ern Vgl. hierzu Yoshida (2005), S. 2. Ebd., S. 5. 103 MOFA, (1995). 104 Ebd., S. 3, 4. 105 Ebd., S. 7. 106 Ozawa (2006). 107 Ebd., S. 8. 101
102
B. Japanischer Nachkriegsnationalismus von 1945 bis 1998 – ein Abriss
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sogar im unmittelbaren Zusammenhang mit Versuchen der damaligen Regierung, eine Aussöhnung mit Asien voranzutreiben108. Hierbei taten sich einige konservative Intellektuelle in prominenter Weise hervor, die es sich mit der Gründung der revisionistischen Atarashii Rekishi Kyôkasho o Tsukuru-kai, oder kurz Tsukuru-kai („Verein zur Erstellung neuer Geschichtslehrbücher“) 1996 zum Ziel setzten, alternative Geschichtslehrbücher zu erstellen109. Diese laut Steffi Richter durchaus finanzkräftige Organisation mit über 10.000 Mitgliedern sieht ihre Aufgabe darin, es der jungen Generation durch entsprechende Schulbücher zu ermöglichen, wieder stolz auf Japan und seine Traditionen zu sein und einer „masochistischen Geschichtsauffassung“ ( jigyaku shikan), die Japan als Aggressor sieht, ein Ende zu setzen110. Der bisherige Geschichtsunterricht in den Schulen wird von den Revisionisten zuweilen sogar mit „Hirnwäsche“ gleichgesetzt. Die Tsukuru-kai möchte schlichtweg das gesamte Bild der japanischen Geschichte revidieren111, wobei breite Unterstützung gegen die „masochistische Geschichtsauffassung“ vor allem auch von Politikern der regierenden LDP kommt112. Mehr noch, wie Saaler herausarbeitet, sind die Ursprünge dieses Revisionismus gar in einer kleinen Gruppe innerhalb der LDP zu finden, wobei sich der junge Abe Shinzô Anfang der 1990er als eine der Hauptfiguren der parteiinternen Rekishi Kentô Iinkai (Ausschuss zur Untersuchung der Geschichte) hervortat, die 1993 in Reaktion auf Hosokawas Einordnung des Krieges als Aggression gegründet wurde113. Dieser Ausschuss organisierte Veranstaltungen, bei denen bekannte Revisionisten und Tsukuru-kai-Größen wie Nishio Kanji oder Nishibe Susumu auftraten114. Die Tsukuru-kai ist dabei jedoch nur eine von zahlreichen revisionistischen Vereinigungen, die ab Mitte der 1990er entstanden und wie Nakano anmerkt, für eine stärkere Organisierung des Revisionismus (soshikiteki na rekishi shûseishugi) ab dieser Zeit stehen115. 2. Japans Weg in den Neoliberalismus – zwischen Großmachtanspruch und Rezessionsrealität Samuels zufolge waren die 1990er zwar wirtschaftlich eine „Lost Decade“, sicherheitspolitisch aber waren sie eine Zeit bedeutender Umwälzungen116. Das Saaler (2016), S. 174. Richter (2003); Saaler (2005); Rose (2006). 110 Richter (2003), S. 89. 111 Ebd., S. 92. 112 Saaler (2003), S. 126. 113 Saaler (2016), S. 175. 114 Ebd. 115 Nakano (2015), S. 107 f., 185. 116 Samuels (2007), S. 86. 108 Vgl. 109
IV. 1990 – 1998: Der Neonationalismus der „Lost Decade“
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Ende des Kalten Krieges zeigte die Grenzen der Yoshida-Doktrin auf und führte zu einem Wandel des konservativen Mainstream, der sich unter Nakasone bereits abgezeichnet hatte und später unter Koizumi und Abe seine vorläufige Vollendung fand117. In den 1990er Jahren wandelte sich die Politik und zielte vermehrt auf einen japanischen Großmachtstatus ab, wodurch die Änderung der Verfassung nach 30 Jahren wieder zu einem Thema wurde. Diese „von rechts“ geführte Bewegung schloss auch sog. „Strukturreformen“ (kôzô kaikaku) mit ein, die laut Watanabe zusammen mit Militarisierung und Verfassungsreform zu einem Set wurden118. Ozawa Ichirô zeichnete mit seinem oben erwähnten Bestseller einen vielbeachteten Weg in diese Richtung vor und leitete aus der wirtschaftlichen Führungsposition Japans eine generelle Großmachtposition ab. Vor dem Hintergrund des Endes des Kalten Krieges und der Kritik an Japans passiver Rolle im Golfkrieg 1991, forderte Ozawa, dass Japan ein „normales“ Land werden solle ( futsû no kuni)119 und rief zu internationalen Beiträgen (kokusai kôken), insbesondere im UN-Rahmen auf. Laut Ozawa könne Japan durch den Mangel an natürlichen Ressourcen nur durch Beiträge zur internationalen Sicherheit, Frieden und Handel überleben. Er forderte zudem, Geschichtsfragen nicht aus dem Weg zu gehen, da die wirtschaftlichen Beziehungen zu Asien von vitaler Bedeutung seien120. Wie Shinoda ausführt, beeindruckte Ozawa mit seinem Buch Meinungs- und Wirtschaftsführer gleichermaßen und kann zu den Politikern gerechnet werden, die in den 1990ern besondere Aufmerksamkeit auf sich zogen121. 1993 verließ er die LDP und sorgte maßgeblich dafür, dass die seit 1955 ununterbrochene Herrschaft der Partei ein Ende fand. Er war es auch, der Hosokawa Morihiro als Führer der Acht-Parteien Koalition gegen die LDP auswählte122. Während bisherige japanische Regierungen laut Nakano internationale Zusammenarbeit vor allem in einem wirtschaftlichen und kulturellen Rahmen dachten, lieferte Ozawa die ideologische Grundlage, die Aufrechterhaltung einer freien Wirtschaftsordnung nicht nur durch ökonomische, sondern auch durch militärische Beiträge abzusichern und wurde damit ein Wegbereiter kommender neoliberal-nationalistischer Regierungen123. In Ozawas UN-Zentrismus, sieht Nakano einen Etatismus (kokkashugi), der vor allem auch eine Stärkung des japanischen Einflusses und Prestiges verfolgte124.
Winkler (2011a), S. 14; Pyle (2007). Watanabe (2009), S. 199 f., 208; Watanabe (2001). 119 Ozawa (2006), S. 102. 120 Ozawa (2006), S. 150 f. 121 Shinoda (2004), S. 37, 52. 122 Ebd., S. 37. 123 Nakano (2015), S. 83 ff. 124 Nakano (2015), S. 90. 117 Vgl.
118 Vgl.
B. Japanischer Nachkriegsnationalismus von 1945 bis 1998 – ein Abriss
60
Tabelle 2
Ideologische Grenzziehungen zwischen rechts und links nach 1945125 Bezug
Links
Rechts
Opposition
Establishment
Establishment
Staat
staatskritisch
tendenziell staatskritisch
pro
Nation
civic/ethnic
Kaiser (Tennô)
tendenziell ethnic kontra
Artikel 9
pro
kontra oder neutral pro
„masochistisches Geschichtsbild“
pro
pro
USA
kontra
kontra oder neutral
China/Südkorea
pro
pro
Gegenwärtige Vertreter
Kommunistische Partei
Asahi Shinbun, LDP, DPJ/DP, Abe Shinzô, Kang SangKoizumi Jung etc. Jun’ichirô etc.
Opposition
pro (aber Ablehnung der Nachkriegsordnung) civic/ethnic tendenziell ethnic pro oder neutral tendenziell pro pro bis kontra (tendenziell kontra) pro bis kontra (tendenziell kontra) tendenziell pro
pro bis kontra
kontra kontra Pro- und Kontra-Lager (tendenziell kontra) kontra (aber pro Taiwan) Nishibe Susumu, Kobayashi Yoshinori, etc.
Neoliberale Strukturreformen, die von Akteuren wie Ozawa entschieden gefördert wurden, fingen erstmals unter der Regierung Hashimoto Ryûtarôs (1996 – 1998) an, ernsthaft an Fahrt aufzunehmen. Der Politologe Watanabe Osamu sieht in ihr die erste echt neoliberale Regierung Japans126. Hierzu zählt Watanabe 125 Diese Übersicht soll tendenzielle Schwerpunkte der einzelnen Lager aufzeigen, denn freilich sind in allen Fraktionen verschiedenste ideologische Ausprägungen zu finden. Wie in Kapitel F. näher ausgeführt, verliert eine klassische Rechts-Links-Einteilung zudem auch zunehmend an Trennschärfe. Für ähnliche Klassifizierungen siehe McVeigh (2004), S. 71 ff., Samuels (2007) und Asaba (2004). McVeigh unterscheidet zwischen: 1) „Revolutionary Renovationism“, der sich von „ausländischen Einflüssen“ abnabelt und für den er als Beispiel die Kommunistische Partei Japans anführt. 2) „Reformist Renovationism“, der ein „anpassungsfähiges Japan“ anstrebt und im (links)liberalen Spektrum zu verorten sei. 3) „Conservative Renovationism“, der ein „starkes Japan“ fordert und vor allem in der LDP beheimatet ist. Vertreter sind Yoshida Shigeru oder Nakasone Yasuhiro 4) „Reactionary Renovationism“: japanzentristisch und xenophob ist diese Richtung unter antistaatlichen Rechtsradikalen vertreten, McVeigh (2004), S. 71 – 76. 126 Watanabe (2009), S. 222.
IV. 1990 – 1998: Der Neonationalismus der „Lost Decade“
61
Hashimotos Maßnahmen zur Entlastung multinationaler Unternehmen bei gleichzeitiger Vergrößerung der finanziellen Lasten für die Bevölkerung127. Diese Politik führte allerdings auch zu einer Entfremdung der ländlichen Stammwählerschaft der LDP, die zu Gunsten des neoliberalen Kurses „geopfert“ wurde. Unter Koizumi, der Anfang der 2000er Jahre umfassende neoliberale Reformen durchsetzte (z. B. die Postprivatisierung), wurde dies an Slogans wie „Strukturreformen ohne Sakrilege“ (seiiki naki kôzô kaikaku) besonders erkennbar128. Nakasone, Ozawa, Koizumi oder Abe stehen für die von Nakano so bezeichnete „neue Rechte“, die auch vor dem gewachsenen Politfilz der „alten Rechten“ in den eigenen Reihen keinen Halt macht und diesen mit dem Image der „Reformer“ bzw. dem der „wahren Konservativen“ für ihren neoliberalen Kurs opfert129.
127 Ebd., S. 222. Für eine Darstellung der Charakteristika des japanischen Neoliberalismus im Vergleich auch zum westlichen Neoliberalismus vgl. Watanabe (2009), S. 216 – 232. 128 Vgl. Watanabe (2009), S. 225. 129 Nakano (2015).
C. Nationalismus „von oben“ Teil 1 – die politische Ebene I. Japan auf dem Weg zu einem „normalen“ Land? (Identitäts-)Politische Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts Im Jahr 1999 gab es ein weiteres Ereignis in einer langen Reihe von Vorfällen, die zu der Schlussfolgerung verleiten könnten, dass Japan auf dem Weg in einen neuen „härteren“ oder zumindest selbstbewussteren Nationalismus sei. Der japanischen De-facto-Fahne (hi no maru) und der Hymne (kimi ga yô) wurde ein offizieller rechtlicher Status zugesprochen, der beiden Symbolen bis dato verwehrt geblieben war1. Dieses Ereignis war im wahrsten Sinne des Wortes symbolkräftig, da nationale Identität insbesondere durch Symbole ausgedrückt wird, die repräsentativ für eine „Nation“ sind 2. Wie Yoshino Kôsaku anmerkt, haben die japanische Fahne und Hymne insbesondere durch den Sport (vgl. auch Kap. E.) ihr negatives Image der Nachkriegszeit verloren, man könne aber allein deswegen nicht von einem wachsenden Nationalismus sprechen3. Er weist jedoch auf die lange vergeblichen Bemühungen des japanischen Kultusministeriums (MEXT, Monbushô) hin, seit den 1950er Jahren Flagge und Hymne zu protegieren, die auch in der Bevölkerung mit der von Südkorea und Japan ausgerichteten Fußball-WM 2002 über Nacht zum Erfolg führten4. Die offizielle Annahme der beiden Symbole kann folglich als Versuch verstanden werden, die nationale Identifikation mit Japan „von oben“ zu stärken. In diesem Kapitel soll der japanische Gegenwartsnationalismus zunächst auf politischer Ebene näher untersucht werden. Immer deutlicher wurde seit den 1990er Jahren hier die Erkenntnis, dass eine Förderung des Nationalismus auf innenpolitischer Ebene unmittelbare außenpolitische Konsequenzen nach sich ziehen würde. Es zeigten sich außerdem insbesondere die Spannungen zwischen Japans pazifistischer Nachkriegsverfassung und den aktuellen globalen Herausforderungen. Die japanische Politik stand also vor dem Dilemma, dass die Versuche, eine international stärkere Rolle einzunehmen (etwa Japans Versuche einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu gewinnen), oder der Versuch, den Patriotismus der Bevölkerung zu stärken, insbesondere von seinen Nachbarn China und Südkorea skeptisch aufgenommen werden würden. Einige dieser Herausforderungen sollen Takekawa (2007), S. 64. Morris (2002), S. 280. 3 Yoshino (2007), S. 7. 4 Ebd., S. 7. 1 Vgl. 2 Vgl.
I. Japan auf dem Weg zu einem „normalen“ Land?
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im Folgenden genauer betrachtet werden, bevor im zweiten Teil dieses Kapitels expliziter auf Diskursbeiträge einzelner Spitzenpolitiker eingegangen wird. 1. Die Dauerkrise des „Artikel 9“ im Spannungsfeld von Außen- und Innenpolitik Eine der Hauptfragen Japans ab Anfang der 2000er Jahre, die gleichzeitig auch untrennbar mit Japans Rolle in der internationalen Gemeinschaft sowie seiner Geschichte als militaristischem Aggressorstaat verknüpft ist, drehte sich um die Reform der pazifistischen Nachkriegsverfassung, die insbesondere von konservativen und neoliberalen Kräften seit den 1990ern zunehmend gefordert wurde5. Hiermit ist vor allem die Frage einer Revision des „Pazifismus“-Artikels 9 der 1947 in Kraft getreten aktuellen Verfassung verbunden, der es Japan verbietet, Krieg zu führen und in Verbindung damit, Streitkräfte zu besitzen6. Während Japan sich bis heute an den Verzicht auf kriegerische Handlungen gehalten hat, wurde letzterer Teil des Artikels 9 liberal ausgelegt. Japan besitzt bereits seit den 1950er Jahren in einer sehr liberalen Auslegung der Verfassung mit den sogenannten „Selbstverteidigungsstreitkräften“ (Jieitai, SDF) ein De-factoMilitär, wobei die Verfechter einer Verfassungsänderung hier auch auf die offizielle Umwandlung der SDF in ein „normales“ Militär abzielen. Die SDF sind dabei längst hochgezüchtete Streitkräfte, die es sowohl was Militärausgaben als auch Ausrüstungsqualität betrifft einigen Experten zufolge schon vor Jahren je nach Definition unter die „Top 3“ der potentiell stärksten Militärs weltweit schafften7. In einem sich wandelnden globalen Sicherheitsklima wird die Verfassungsreform von ihren Befürwortern als notwendig erachtet, um so eine proaktivere SiMito (2008); Watanabe (2009); Winkler (2011b). In Artikel 9 heißt es hierzu: „Aspiring sincerely to an international peace based on justice and order, the Japanese people forever renounce war as a sovereign right of the nation and the threat or use of force as means of settling international disputes. In order to accomplish the aim of the preceding paragraph, land, sea, and air forces, as well as other war potential, will never be maintained. The right of belligerency of the state will not be recognized.“ http://japan.kan tei.go.jp/constitution_and_government_of_japan/constitution_e.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 7 Lind (2004); Hughes (2005); vgl. auch Samuels (2007), S. 79, 104 ff.; Kido (2009), S. 153 f. Lind (2004), S. 94 ff. und ähnlich auch Hughes (2005) kommen zu dem Ergebnis, dass Japans Militärmacht unterschätzt werde. Lind zufolge würden bei der Beurteilung militärischer Stärke meist die Militärausgaben eines Landes prozentual zu seinem Bruttoinlandsprodukt (GDP) zu Rate gezogen. Nach diesen Maßstäben seien Japans Ausgaben (etwa 1 %) niedrig. Aussagekräftiger sei jedoch ein Blick auf die totalen Ausgaben, da eine Wirtschaftsmacht wie Japan selbst mit einem Budget von nur 1 % des GDP freilich mehr und modernere Waffen anschaffen kann, als ein armes Land, das dafür aber 10 % seines GDP aufwendet. Die japanische Marine und Luftwaffe seien zudem laut Lind nach den USA zu den potentiell stärksten weltweit zu zählen. Vgl. Lind (2004). Pyle zufolge verstehe es die Regierung überdies, die tatsächlichen Militärausgaben geschickt zu verschleiern, da Materialien, die etwa in Europa in das Budget aufgenommen würden, im japanischen Fall nicht angeführt seien. Vgl. Pyle (2007), S. 368. 5 6
C. Nationalismus „von oben“ Teil 1 – die politische Ebene
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cherheits- und Außenpolitik verfolgen zu können, die beispielsweise größere japanische internationale Beiträge auch in Form von militärischen Auslandseinsätzen miteinschließen würde8. Die Voraussetzungen für solche Beiträge wurden 2015 in Abe Shinzôs zweiter Amtszeit ganz ohne die tatsächliche Revision der Verfassung geschaffen. Bevor auf diese Maßnahmen im folgenden Abschnitt näher eingegangen wird, soll hier nun zunächst primär erläutert werden, wie eine solch fundamentale Neuausrichtung im japanischen Politikdiskurs seit den 1990er Jahren heranreifen und vorangetrieben werden konnte. Richard J. Samuels unterteilt den Diskurs hierzu in vier Fraktionen, die zwischen den Koordinaten einer Befürwortung der Anwendung militärischer Gewalt und deren Ablehnung und damit auch verbunden der Beziehung zu den USA, oszillieren9. Unter den Befürwortern sieht Samuels zum einen die „Neoautonomisten“, die eine japanische Autonomie und weitgehende Isolation Japans gerade auch von den USA fordern. Politische Vertreter dieser Richtung sind z. B. der Ex-Gouverneur von Tôkyô, Ishihara Shintarô10, und auf Intellektuellenebene die in Kap. D. näher beleuchteten Revisionisten Nishibe Susumu und Kobayashi Yoshinori. Auf der anderen Seite stehen die von Samuels so bezeichneten „normalen Nationalisten“, die ein „starkes Japan“ fordern, dabei proamerikanisch sind und durch Politiker wie Ozawa, Koizumi oder Abe repräsentiert werden. Die „normalen Nationalisten“, die auch eine Änderung der Verfassung verfolgen, bilden dabei den derzeitigen konservativen Politik-Mainstream. Demgegenüber fürchten die Gegner einer Revision einen neuen Militarismus Japans. Zu den Gegnern zählen laut Samuels zunächst die „Pazifisten“, die aus der Nachkriegsdenkrichtung der unbewaffneten Neutralität (vgl. Kap. B.) hervorgingen und insbesondere von diversen NGOs, Sozialisten und Kommunisten vertreten werden. Schließlich gibt es als viertes Lager die Befürworter eines japanischen „Mittelmachtstatus“. Stellvertretend für diese Linie waren der ehemalige Premier Miyazawa Kiichi (1919 – 2007) oder der ehemalige LDP-Politiker Kôno Yôhei (*1937), der in verschiedenen Regierungsämtern tätig war11. Neben der Transformation der SDF soll die Verfassungsänderung Auslandseinsätze japanischer Truppen erleichtern. Hier sieht sich Japan insbesondere seit den 1990er Jahren stärkerem ausländischem (insbesondere amerikanischem) Druck ausgesetzt, mehr (militärische) Beiträge für die internationale Gemeinschaft bzw. im Rahmen seiner Sicherheitsallianz mit den USA zu leisten. Gerade nach dem 11. September 2001 zeigte sich in den USA eine Ungeduld hinsichtlich der passiven japanischen Sicherheitspolitik12. Der Diskurs um „internationale Beiträge“ (kokusai kôken-ron), der wie gesehen in den 1990ern in prominenter Weise von Politikern Winkler (2011a), S. 45ff.; Samuels (2007); Pyle (2007). Samuels (2007), S. 110 – 113. 10 Zu Ishihara vgl. auch Asaba (2004), S. 260 ff. 11 Samuels (2007), S. 112 ff. 12 Pyle (2007), S. 341. 8 Vgl. 9
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wie Ozawa Ichirô angestoßen wurde, ist dabei die gängigste Argumentationsbasis für die Reformer, die den diffusen Druck von außen, zu dem auch jüngst die wachsenden Spannungen mit China beitragen, allzu gern nutzen, um eine vermeintliche Unabwendbarkeit der Verfassungsänderung zu konstruieren. Politiker wie Ozawa sagen jedoch offen, dass die Reform im Grunde gar nicht nötig sei, die bloße Interpretation (kaishaku kenpô) genüge13. Diese Haltung spiegelt die von konservativen Kräften seit jeher verfolgte Doppelstrategie wider, die sich wie folgt darstellt14: 1. Die maximale Ausreizung des Interpretationsspielraums von Artikel 9 unter Aufrechterhaltung des status quo. Insbesondere das Konzept der „internationalen Beiträge“ im Sinne eines „Beitrags für den (weltweiten) Frieden“ bietet ein Schlupfloch für eine Interpretation der Verfassung. Nach dieser seien (militärische) Beiträge für den Weltfrieden verfassungsrechtlich abgedeckt. 2. Die Fortsetzung der Bemühungen, Artikel 9 ganz abzuschaffen oder den Bedürfnissen entsprechend zu revidieren, um auch verfassungsrechtlich die Rückkehr zu einem „normalen“ Land widerspiegeln zu lassen und sich aller möglichen Hürden der Verfassung zu entledigen. Trotz des gerade unter den Abe-Administrationen gewachsenen Drucks auf Artikel 9 wurde bisher die Interpretationsstrategie bevorzugt. Am Anfang einer langen Kette von Ereignissen und Maßnahmen zur Aufweichung des Artikels 9 stand der erste Auslandseinsatz japanischer Truppen im Rahmen der UN Peace keeping Operation (PKO) in Kambodscha 1992 – 9315. Weitere PKOs folgten. Die Auswirkungen der Terroranschläge vom 11. September 2001 führten zu einer weiteren Ausweitung der Interpretationsstrategie16. Die Koizumi-Administ ration bewertete die Angriffe auf die USA als Angriffe auf Japan selbst, so dass der Geltungsraum der japanischen Sicherheitspolitik sich plötzlich mit dem der amerikanischen deckte17. Koizumi nutzte dabei die unübersichtliche Situation für den eiligen Erlass von Anti-Terror-Gesetzen18, mit denen die folgenden Unterstüt13 Ozawa plädierte schon 1993 für diese Lösung: eine Auslandsentsendung mit UN-Mandat sei selbst mit der derzeitigen Verfassung seiner Auslegung nach möglich. Trotzdem schlage er eine Ergänzung des Artikels 9 vor, der zufolge zur „Friedensschaffung“ (heiwa sôshutsu) im UN-Rahmen Einsätze der SDF möglich werden sollen. Vgl. Ozawa (2006), S. 123 f. Von den SDF separat aufgestellte UN-Reserven sollten hierbei an UN-geführten Friedensmissionen teilnehmen. Mit diesem UN-zentrierten Ansatz zielte er auf eine von den USA unabhängigere Außenpolitik ab. Vgl. hierzu Mito (2008), S. 69; Ozawa (2006). 14 Vgl. hierzu auch Raddatz (2012), S. 112. 15 Hughes (2005), S. 11; Pyle (2007); Winkler (2011a), S. 45 f. 16 Für eine zusammenfassende Darstellung dieser langsamen Eskalationspolitik und der Aushöhlung der Yoshida-Doktrin seit den 1990er Jahren vgl. auch Samuels (2007), S. 86 – 108. 17 Singh/Shetler-Jones (2011), S. 513. 18 Bereits im Oktober 2001 wurde vom Parlament das „Anti-Terrorism Special Measures Law“ verabschiedet. Der gesamte Prozess benötigte nur drei Wochen und eine 33-stündige
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zungsmissionen für die amerikanischen Kriege in Afghanistan und im Irak legitimiert wurden19. Koizumis Politik 20 war eine radikalisierte Fortführung der sich seit dem Ende des Kalten Krieges wandelnden japanischen Sicherheitspolitik, die von einem räumlich erweiterten Sicherheitsverständnis ausgeht. SDF-Auslandsmissionen wurden verstärkt als Maßnahme der „nationalen Sicherheit“ gesehen, was den generellen Wandel von „Sicherheit“ in räumlicher und funktionaler Weise zur selben Zeit reflektiert21. Japan hat sein Engagement bei internationalen Militäroperationen bislang auf non combat-Aufgaben beschränkt, die zur logistischen Unterstützung oder humanitären Zwecken dienten, dabei klaren Regeln unterworfen waren und ihren Befürwortern zufolge zudem von Artikel 9 gedeckt waren22. Trotz der keineswegs neuen Diskussionen um Artikel 9 kam es in der 2000er Dekade zum ersten ernsthaften Versuch, Japans pazifistische Nachkriegsordnung zu beseitigen, indem Premierminister Abe Shinzô es sich während seiner ersten Amtszeit (2006 – 2007) zum Ziel setzte, den Artikel zu revidieren. Wenngleich dieser Plan auch aufgrund seiner kurzen Amtszeit nicht erfolgreich war, so gelang es ihm dennoch im Jahre 2007, ein Gesetz für das zur Revision nötige Volksreferen dum zu verabschieden, welches das Prozedere festlegt23. Die generell hohe Hürde einer Revision, bei der ein Änderungsvorschlag zunächst mit einer Zweidrittelmehrheit das Ober- und Unterhaus passieren muss, beDebatte, um beide Parlamentskammern zu passieren, im Gegensatz zu sonst monatelangen Gesetzgebungsprozeduren. Hughes/Krauss (2007), S. 160; Iida (2003), S. 28. Iida Yumiko kritisiert die schnelle Verabschiedung des Gesetzes, bei der es keine Zeit für eine tiefgreifende Debatte gab, die aber dafür wie in anderen Ländern auch vermehrte Kontrollmaßnahmen und folgenschwere Einschnitte in die Pressefreiheit nach sich gezogen habe. Vgl. Iida (2003), S. 28. 19 Vgl. Samuels (2007), S. 96 ff. SDF-Truppen wurden zur logistischen Unterstützung des amerikanischen Afghanistan-Feldzugs in den Indischen Ozean entsandt. Nach dem Erlass des „Law Concerning Special Humanitarian and Reconstruction Assistance in Iraq“ wurden SDF-Einheiten schließlich auch ab 2003 zur logistischen Unterstützung der US-Truppen im Irak eingesetzt. Vgl. Hughes (2005), S. 10. 20 Die Japanologen bzw. Politologen Hughes und Krauss betonen im Rahmen dieser sich wandelnden japanischen Außen- und Sicherheitspolitik während der 2000er Dekade die Rolle Koizumis. So habe er Veränderungen des japanischen politischen Systems für eine Stärkung des Premierministeramtes nutzen können, die es ihm erlaubten, sich den nötigen Rückhalt für Maßnahmen auf populistische Weise direkt in der Bevölkerung zu sichern, ohne auf die Unterstützung der zersplitterten Parteienfraktionen angewiesen zu sein. So konnte er in einem „top-down“-Ansatz seine Beliebtheit im Volk direkt nutzen. Vgl. H ughes/ Krauss (2007), S. 158 – 160. 21 Singh/Shetler-Jones (2011), S. 507. Nakasone hatte bereits in den 1980ern die Trennung von Angelegenheiten der nationalen und der internationalen Sicherheit in Frage gestellt. Ebd., S. 508. 22 Vgl. Hughes/Krauss (2007), S. 164. 23 Onishi (2007); Berkofsky (2012), S. 156.
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vor im anschließenden Volksreferendum eine einfache Mehrheit genügen würde, war sicher der Hauptgrund dafür, dass der Artikel 9 dem Druck seiner Gegner bislang standhalten konnte24. Aufgrund dieser Erschwernisse, versuchte Abe zu Beginn seiner zweiten Amtszeit unter dem Deckmantel, dem Volk mehr demokratische Mitspracherechte einräumen zu wollen, parallel eine Revision des Artikels 96 voranzutreiben, der die allgemeinen Bedingungen für eine Reform der Verfassung regelt25. Seine wahren Absichten, Artikel 96 nur als Mittel zum Zweck der Reform von Artikel 9 zu nutzen, wurden jedoch weithin bekannt und die Ablehnungshaltung der Bevölkerung gegenüber dieser Initiative wuchs26. Abe und seiner LDP geht es dabei aber seinen Kritikern zufolge nicht nur um die Zersetzung des Pazifismus, sondern wie Nakano Kôichi anmerkt, um eine generelle Verfassungsreform, die auch grundlegende Menschenrechte und demokratische Prinzipien beeinträchtigt, was nicht zuletzt im von der LDP 2011 intern beschlossenen Vorschlag einer neuen japanischen Verfassung deutlich wird 27. 24 Vgl. Watanabe (2009), Onishi (2007). Die Verfassungsfeinde sind auch parteiübergreifend vernetzt. In diesem Kontext ist z. B. die Vereinigung shin-kenpô seitei giin dômei (Abgeordneten-Allianz zur Festlegung einer neuen Verfassung) zu nennen, ein Bündnis von Parlamentariern, die eine Revision anstreben. Ihr derzeitiger Vorsitzender ist der ehemalige Premier Nakasone Yasuhiro, der Hatoyama Yukio (DPJ) in diesem Amt ablöste. Zu den weiteren Mitgliedern gehören Spitzenpolitiker wie der ehemalige Premierminister Fukuda Yasuo (LDP) oder Abe Shinzô (LDP). 25 Abe zielte auf eine Änderung der Zweidrittelmehrheit zu einer einfachen Mehrheit für Verfassungsreformen ab. Sein Argument war es, mehr Demokratie fördern zu wollen, da selbst, wenn im Volk eine Mehrheit für eine Änderung existiere, diese durch die im Vorfeld nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament nicht realisiert werden könne. Vgl. Chuô Kôron (2013), S. 16 ff. An anderer Stelle sprach er auch davon, mit der Änderung von Artikel 96 die Verfassung in die Hände des Volkes „zurückgeben“ zu wollen, um den Volkswillen leichter einbeziehen zu können. Abe/Hyakuta (2013), S. 46. 26 Vgl. zu Artikel 96 auch Nakano (2015), S. 158 f.; vgl. auch die vom konservativen Magazin Seiron angeführten Umfragen, welche die Ablehnungshaltung im Volk aufzeigen. http://seiron-sankei.com/2284 (Zugriff 20. 06. 2016). 27 Nakano weist beim LDP-Vorschlag auf die Löschung des Artikels 97 der aktuellen Verfassung hin, in dem die Gewährung grundlegender Menschenrechte festgelegt ist sowie auf die Ergänzung eines neuen Notstandsartikels. Vgl. Nakano (2015), S. 158, 163 f. Artikel 11, der dem Volk ebenfalls grundlegende Menschenrechte einräumt, wurde zumindest in abgewandelter Form beibehalten. Nakano merkt zudem an, dass der LDP-Vorschlag ein nicht weiter definiertes „öffentliches Interesse“ (kôeki) über individuelle Rechte stelle und sieht auch die Absicht, Yasukuni-Schrein-Besuche des Premierministers legal zu machen. Vgl. Nakano (2015), S. 181. Der geplante Notstandsartikel, den Nakano mehrfach kritisch hervorhebt, kann etwa auch bei Naturkatastrophen ausgerufen werden und räumt dem Premier weitreichende Freiheiten ein. Die Ausrufung des Notstandes muss zwar vom Parlament im Voraus oder auch nachträglich autorisiert und bei Fortsetzung alle 100 Tage neu beschlossen werden, dies dürfte aber bei Mehrheiten, wie sie die LDP gerade in Abes zweiter Amtszeit im Parlament genoss, reine Formsache sein. Der vollständige Verfassungsvorschlag der LDP ist auf deren Homepage einsehbar: https://www.jimin.jp/policy/policy_topics/pdf/seisaku-109.pdf (Zugriff: 20. 06. 2016).
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Die Gründe Abes und seiner konservativen Anhänger für eine Verfassungsreform liegen zum einen in der Vorstellung, dass die Verfassung von den USA zur „Schwächung Japans“ aufgezwungen worden 28 und damit nicht „japanisch“ sei (oshitsuke kenpô). Die Reform ist daher ein Kernelement in Abes Vision des „Loskommens vom Nachkriegsregime“ (sengo rejîmu kara no dakkyaku)29. Wie an späterer Stelle noch genauer behandelt, meinen Abe und seine Gleichgesinnten mit diesem „Nachkriegsregime“ eine unter der Einwirkung der amerikanischen Besatzung nach der japanischen Niederlage entstandene politische und gesellschaftliche Ordnung, die den verfassungsrechtlich verankerten Pazifismus zu ihrem zentralem Gesellschaftswert erklärt hat. In Verbindung mit der durch die Kriegsverbrecherprozesse von Tôkyô von den „Siegern“ verordneten, „masochistischen“ Sicht auf die eigene Geschichte sollte diesem Verständnis gemäß die Schwächung Japans erreicht werden. Daran schließt als Feindbild der Verfassungsgegner auch der in Kapitel B. skizzierte, linke Mainstream an, der unter dem starken Einfluss der progressiven Intellektuellen sowie der Medien und des Erziehungssystems „Pazifismus“ als dominierenden Gesellschaftswert installiert und das „masochistische Geschichtsbild“ propagiert habe. In der Argumentation der konservativen Verfassungsfeinde auf politischer Ebene kommt daraus jedoch ein interessanter Widerspruch zum Vorschein. Während einerseits die Verfassung als von den USA „aufgezwungen“ dargestellt wird und nun also für eine unabhängigere und proaktivere Position Japans geopfert werden soll, versucht man die Notwendigkeit der Verfassungsänderung anderseits mit internationalen Beiträgen zu legitimieren, die letztlich auch implizieren, den USA militärisch zu Diensten zu sein. Hier nutzen Abe und seine Unterstützer also antiamerikanische Rhetorik in Bezug auf die „aufgezwungene“ Verfassung, obwohl deren Änderung eher nicht – wie ebenfalls oft argumentiert – eine stärkere japanische Souveränität nach sich zöge, sondern mit einer stärkeren militärischen Einbeziehung in amerikanische Geostrategien wohl eher das Gegenteil bewirken würde. Diese teilweise widersprüchliche Argumentation von Verfassungsgegnern wie Abe ändert jedoch nichts an der Folgsamkeit des (proamerikanischen) Teils der Konservativen gegenüber der Führungsmacht USA30. Gerade vor dem Hintergrund internationaler Krisen (11. September, Nordkoreas Atomwaffen, Piraterie, Senkaku-Inselstreit etc.) haben es die Verfassungsgegner 28 Die Kritik der von den USA „aufgezwungenen“ Verfassung existierte im Grunde seit deren Bestehen. Wie einige Autoren gezeigt haben, war die japanische Seite bei der Ausarbeitung jedoch selbst stark beteiligt, was den Mythos von der „aufgezwungenen Verfassung“ zumindest teilweise relativiert und diesen Terminus eher als ein populistisches Schlagwort im Sinne einer „nationalen Selbstbefreiung“ von Fremdherrschaft erscheinen lässt. Vgl. Mito (2008); S. 63 – 66; Watanabe (2009). 29 Watanabe (2009), S. 232 f. 30 Zu den graduellen Unterschieden zur antiamerikanischen Konservativen, die das Ziel der Verfassungsreform mit größerer Unabhängigkeit von den USA verknüpft und eher im Anti-Establishment zu finden ist, vgl. Kap. D.
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in den letzten Jahren durch den Aufbau einer entsprechenden Drohkulisse verstanden, bei immer mehr Menschen ein Gefühl für die Unabwendbarkeit einer Reform zu erzeugen31. So konnte auch Japans Teilnahme an der potentiell brisanten, aber dennoch wenig beachteten PSI-Initiative32, oder die Entsendung von Truppen in den Indischen Ozean ab Anfang 2009 über diese neuen Bedrohungsszenarien gerechtfertigt werden. Letztere wurde von der Regierung Asô (LDP) als „maritime Bewachungshandlungen“33 (kaijô keibi kôdô) deklariert und durch das im Juni 2009 mit Hilfe der Demokratischen Partei Japans (Minshutô, DPJ) verabschiedete Anti-Piraterie-Gesetz (kaizoku taisho-hô) legitimiert, das den japanischen Sicherheitskräften auch die Anwendung von Gewalt ermöglichte34. Laut Watanabe konnte mit diesem Gesetz die amerikanische Irritation über die in Abes erster Amtszeit gescheiterte Verfassungsreform gerechtfertigt werden und zum anderen konnte man den USA durch diesen Beitrag seine Loyalität unter Beweis stellen35. Tabelle 3
Übersicht japanischer Premierminister seit 1998 Premierminister
Partei
Amtszeit
Abe Shinzô
Jimintô (LDP)
Seit Dezember 2012
Noda Yoshihiko
Minshutô (DPJ)
September 2011 – Dezember 2012
Kan Naoto
Minshutô (DPJ)
Juni 2010 – September 2011
Hatoyama Yukio
Minshutô (DPJ)
September 2009 – Juni 2010
Asô Tarô
Jimintô (LDP)
September 2008 – September 2009
Fukuda Yasuo
Jimintô (LDP)
September 2007 – September 2008
Abe Shinzô
Jimintô (LDP)
September 2006 – September 2007
Koizumi Jun’ichirô
Jimintô (LDP)
April 2001 – September 2006
Mori Yoshirô
Jimintô (LDP)
April 2000 – April 2001
Obuchi Keizô
Jimintô (LDP)
Juli 1998 – April 2000
Hashimoto Ryûtarô
Jimintô (LDP)
Januar 1996 – Juli 1998
Vgl. auch Watanabe (2009), S. 266. (Proliferation Security Initiative) ist eine nichtbindende globale Initiative zur Verhinderung des illegalen Handels mit Massenvernichtungswaffen, die vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush 2003 ins Leben gerufen wurde. Unter den Teilnehmerstaaten ist auch Japan, das mit seiner Küstenwache in diesem Zusammenhang auch an internationalen Militärübungen teilnahm. Relativ unbeachtet blieb bis jetzt allerdings die Tatsache, dass Japan durch die Partizipation an dieser Initiative in bewaffnete Auseinandersetzungen hineingezogen werden könnte. Zur PSI-Initiative vgl. z. B. Song (2007). 33 http://www.kantei.go.jp/jp/asospeech/2009/06/19danwa.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 34 Vgl. Berkofsky (2012), S. 211 f. 35 Watanabe (2009), S. 260 f. 31
32 PSI
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Abes Rücktritt 2007, das komplizierte Revisionsprozedere sowie der Macht verlust der LDP im Jahr 2009 und die anschließende, dreijährige Herrschaft der DPJ bedeuteten zunächst eine weitere Schonfrist für den Artikel 9, wenngleich auch beim damaligen Führungspersonal der DPJ eine gewisse „Verfassungsmüdigkeit“ feststellbar war36. Gerade unter Führung des im Dezember 2012 zurückgetretenen, letzten DPJ-Premiers Noda Yoshihiko wurden Möglichkeiten zur Erweiterung japanischer Sicherheitspolitik ausgelotet und Noda zeigte sich wie Abe Shinzô als Befürworter eines „Rechts auf kollektive Selbstverteidigung“ (shûdanteki jiei-ken)37. Für Nakano Kôichi entsprach Nodas Politik der des primär in der LDP beheimateten neoliberal-nationalistischen Mainstreams38. Sowohl in der LDP als auch in der DPJ existieren freilich verschiedene Lager, die sich bezüglich der Verfassung in pro, contra und status quo einteilen lassen. Die LDP gilt aber gemeinhin als Partei, die stärker für eine Verfassungsänderung eintritt39. Zu den Gründen für das Misslingen von Abes Reformversuch in seiner ersten Amtszeit verweist Watanabe neben der Gründung der Vereinigung 9-jô no kai40 (Artikel 9-Vereinigung) im Jahr 2004, die vor dem Hintergrund der Krise des Artikel 9 ins Leben gerufen, zu einem Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung beigetragen habe41, auf die allgemeine Ausrichtung der DPJ (Minshutô). Diese sei „reaktionären Positionen“ gegenüber kritisch eingestellt und habe den auf die Unterstützung der DPJ angewiesenen Abe scheitern lassen42. Nach dem Zusammen36 Von ihrem einstigen Spitzen-Trio Ozawa Ichirô und den beiden ehemaligen Premiers Hatoyama Yukio und Kan Naoto, zeigte sich nur Kan als Unterstützer des Artikels 9. Die (auf dem Papier) sozialdemokratische DPJ erwies sich nach ihrer Machtübernahme 2009 in ihrem Bekenntnis zu Pazifismus und Demokratie zwar verfassungstreu, ließ allerdings damals durchblicken, dass Verfassungsänderungen, wenn es den Willen dafür gäbe, auch durchgeführt werden könnten. Vgl. Watanabe (2009). 37 Vgl. Berkofsky (2012). 38 Nakano (2015), S. 145. Die DPJ (mittlerweile DP) ist alles andere als frei von nationalkonservativen Positionen und Watanabe sieht sie sogar als zweite konservative Partei, deren Ziel es neben Verfassungs- und Strukturreformen sei, Japan zu einem Großmachtstatus zu führen und in dieser Hinsicht mit der LDP konkurriere. Er bescheinigt beiden Parteien die Tendenz, einer echten Diskussion um eine Verfassungsänderung aus dem Wege gehen zu wollen. Vgl. Watanabe (2009), S. 7, 234. 39 Dies wurde etwa im LDP-Manifest für die Unterhauswahl 2009 deutlich. Darin heißt es in offensiven Slogans u.a.: „Neue Regeln für ein neues Japan, für heute und die Zukunft. Wir lassen die Änderung der Verfassung Realität werden“. Dies alles für das erklärte Ziel „einen Staat, der Vertrauen und Stolz besitzt“ weiter zu verbessern. Vgl. https://www.jimin. jp/policy/manifest/pdf/2009_yakusoku_a.pdf (Zugriff: 20. 08. 2014). 40 Unter ihren Unterstützern sind auch zahlreiche prominente Intellektuelle wie der Literaturnobelpreisträger Ôe Kenzaburô (*1935), der mittlerweile verstorbene Literaturkritiker Katô Shûichi (1919 – 2008), oder der bereits erwähnte Philosoph Umehara Takeshi zu finden. 41 Watanabe (2009), S. 235 ff. Bei Watanabes Ausführungen fällt auf, dass die Unterstützer der Vereinigung 9 jô no kai überwiegend über 50 Jahre alt zu sein schienen und somit einige von ihnen schon die Proteste gegen den japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrag 1960 miterlebt haben. Watanabe (2009), S. 239, 240.
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schluss der DPJ mit einer Abspaltung der populistischen „Restaurationspartei“ (Ishin no tô) zur Minshintô (Demokratische, Partei, DP) 2016 versuchten die Demokraten zudem als Gegengewicht zur LDP ihr verfassungstreues Profil zu schärfen, was jedoch den deutlichen Sieg der LDP bei den Oberhauswahlen im selben Jahr nicht verhindern konnte. Letztere ging dabei dem Risiko aus dem Weg, die Revision zum zentralen Wahlkampfthema zu machen und stellte wirtschaftliche Themen in den Vordergrund. 42
Watanabes Einschätzung, dass die Partei bisher eine allzu offene Betonung dieses Punkts vermied, da es im Volk weiterhin eine große Skepsis gegenüber der Reform gebe, hat daher an Aktualität kaum eingebüßt43. Doch wie sieht es tatsächlich mit der öffentlichen Meinung beim Thema Verfassung aus? Wie Watanabe ausführt, hatten nach dem Ende des Kalten Krieges die Unterstützer einer Änderung zunächst an Boden gewonnen44. Dies bestätigt sich bei einem Blick auf Umfrageergebnisse der konservativen Yomiuri Shinbun, die zeigen, dass die Revisionsbefürworter in den 1980er Jahren noch in der Minderheit waren und ab den 1990er Jahren üblicherweise die Mehrheit stellten45. Die Verfassungsgegner stellten hier ab 1993 die Mehrheit, die 2004 einen Höchstwert von 65 % erreichte. In den Folgejahren sank die Zustimmung jedoch und 2008 erreichten die Gegner der Reform erstmals wieder eine Mehrheit, nur um nach 2009 erneut zur Minderheit zu werden46. Ab 2010 lag die Befürwortung der Reform bei Werten von teilweise über 50 %47, wobei jedoch nach 2014 als Folge der offensiven Maßnahmen Abes zur Neuinterpretation der Verfassung eine erneute Zunahme der Reformgegner festzustellen war. So lag die Zustimmung bei nur noch 42 % bei einer fast paritätischen Ablehnung von 41 %48. Auch die Umfragen der linksliberalen Asahi Shinbun zeigen ein vergleichbares Bild, indem die Gegner der Reform ab Ende der 1990er Jahren in der Mehrheit waren und erst seit 2014 wieder in Unterzahl gerieten49. Hierbei scheint es jedoch ein generationsbedingtes Gefälle zu geben, das sich in einer stärkeren Unterstützung der aktuellen Verfassung in höheren Alterskohorten niederschlägt50. Watanabe (2009), S. 234. Watanabe (2009), S. 8. 44 Watanabe (2009), S. 235. 45 In einer Umfrage von Mai 1981 waren nur 27,8 % für eine Verfassungsänderung, 43,9 % dagegen. In einer Erhebung von 1957 waren noch 44 % für die Änderung, 32 % dagegen. Yomiuri Shinbun (1981); Yomiuri Shinbun (1957). Insgesamt kann festgestellt werden, dass von 1981 – 1991 die Verfassungsgegner in der Minderheit waren und sich erst um 1993 ein entgegengesetzter Trend abzuzeichnen begann. Vgl. Yomiuri Shinbun (2008b). 46 Yomiuri Shinbun (2009) 47 Vgl. z. B. die Umfrage von 2013. Yomiuri Shinbun (2013). 48 Yomiuri Shinbun (2014) 49 Asahi Shinbun (2016). 50 Eine Studie der Mainichi Shinbun von 2015 zeigte, dass zwar in allen Alterskohorten die Zahl der Revisionsgegner überwog, diese aber mit zunehmendem Alter zunimmt und 42 43
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Mithin zeigt sich, dass die Änderung der Verfassung in den vergangenen Jahren durchaus mehrheitsfähig geworden ist. Wie aber auch 2015 wieder bestätigt, ist es jedoch nach wie vor möglich, durch aktuelle Ereignisse eine Übermacht gegen die Revision zu erreichen. Hier lässt ein genauerer Blick auf die Studien weitere Zweifel an einer reibungslosen Revision der pazifistischen Nachkriegsordnung aufkommen. Die generelle Reform der Verfassung erreicht zwar hohe Zustimmungswerte in Umfragen, in der expliziten Frage, ob der in Artikel 9 festgeschriebene Verzicht auf Krieg (sensô hôki) revidiert werden solle, besteht allerdings weiterhin starker Widerstand51. Hier waren bei der Umfrage der Yomiuri Shinbun von 2011 nur 32 % für eine Revision dieser Klausel, 45 % stimmten gegen eine Revision und für die Beibehaltung der Interpretationsstrategie, 13 % lehnten die Reform ab und forderten zudem auch die wortgetreue Auslegung52. Diese Werte wurden ähnlich auch 2014 wieder erreicht53. Ebenso sprachen sich bei einer Umfrage der Mainichi Shinbun von 2015 76,3 % gegen die Änderung von Artikel 9 an sich aus, 21,5 % dafür54. Wenngleich also eine aktive Kriegsführung weiterhin kritisch gesehen zu werden scheint, hat sich gleichzeitig aber das Bild der SDF in den vergangenen Jahren stark verbessert, indem deren Rolle unabhängig von Alter und Geschlecht positiv gesehen wird55. Dies kann auf verschiedene Image-Kampagnen, die positive Resonanz auf Japans PKO-Missionen56 sowie auch die Katastrophenhilfe nach dem die Zahl der Befürworter einer Revision unter den unter 19-jährigen am größten war. Vgl. Mainichi Shinbun (2015). Dies schien sich auch 2015 bei den Massendemos für den Erhalt des Artikels 9 und gegen Abes Politik zu bestätigen. Hier fiel bei eigenen Beobachtungen der Proteste auf, dass sich die überwiegende Mehrheit der Demonstranten im Alter von über 40 Jahren befand und die jüngere Generation in der deutlichen Minderheit war. 51 Yomiuri Shinbun (2011). Als Gründe für die Verfassungsreform wurden in dieser Umfrage vor allem die Interpretationsgrenzen der Verfassung in den sich wandelnden Rahmenbedingungen (50 %) sowie die Beschränkungen der Verfassung bei internationalen Beiträgen Japans (36 %) genannt. 52 Yomiuri Shinbun (2011). Als Begründung gegen die Revision wurden die Verankerung der Verfassung im Volk (50 %) sowie der Stolz auf die pazifistische Verfassung (39 %) angeführt. Gerade letztere Nennung zeigt erneut die nationalistische Komponente des japanischen Pazifismus. 53 Yomiuri Shinbun (2014). 54 Mainichi Shinbun (2015). 55 Dieser Trend lässt sich z. B. auch anhand von Umfragedaten des japanischen Kabinettsbüros von 2015 feststellen, die durch alle Alterskohorten mit Werten um die 90 %-Marke ein positives bzw. eher positives Bild der SDF aufzeigen. Auch im historischen Verlauf seit Beginn der Umfrage 1969 wird eine sich stetig verbessernde Bewertung erkennbar von einem 1972 erreichten „Tiefstwert“ von immerhin noch 58,9 % Zustimmung zum aktuellen Niveau von über 90 %, wobei die 80 %-Marke erstmals um die die Jahrtausendwende überschritten wurde. http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-bouei/2 – 2.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 56 Vgl. Samuels (2007), S. 72 f., 81. Vgl. hierzu auch Daten des Kabinettsbüros von 2015, die eine positive Bewertung bisheriger Auslandseinsätze der SDF zeigen. Hierbei sprachen sich auch 25.9 % dafür aus, noch mehr Beiträge für den Weltfrieden zu leisten, während sich eine Mehrheit von 65.4 % mit dem bisherigen Niveau zufrieden zeigte. Bei der Frage nach
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Tôhoku-Beben 2011 zurückgeführt werden57. Der Rückhalt des Pazifismus-Artikels in der Bevölkerung ist weiterhin erheblich und die öffentliche Debatte hat sich gerade auch nach der Fukushima-Katastrophe von 2011 und seit der zweiten Amtszeit Abe Shinzôs erneut verstärkt. Die Aussicht auf eine Mehrheit im entscheidenden Volksreferendum bleibt selbst bei den aktuellen Mehrheiten von Abes LDP im Ober- und Unterhaus weiterhin mehr als fraglich. Die Diskussion um Artikel 9 und Japans Wandel in der Außen- und Sicherheitspolitik spiegelt auch die generellen Konflikte zwischen einem eher nationalistisch konnotierten Realismus und einem liberalen Internationalismus wider. Die Realisten, die ein „normales“ Land58 fordern, haben oberflächlich gesehen an Bedeutung gewonnen. Doch wie z. B. Jennifer Lind in ihrem Artikel aufzeigt, kann selbst Japans Pazifismus während des Kalten Kriegs mit realistischen Theorien des power balancing erklärt werden, der zufolge (Sicherheits)Kosten, so gut es geht, auf Verbündete (die USA) abgewälzt werden59. Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, einen „Rechtsruck“ Japans vor allem an konservativen Bestrebungen wie der Verfassungsänderung festzumachen, die nicht für das plötzliche Erstarken eines nationalistischen Realismus stehen, sondern eher für dessen qualitativen Wandel. Die Debatte um den Pazifismus-Artikel 9 basiert auf der Annahme einer Kontinuität von antimilitaristischen Normen, die durch die Verfassungsänderung einen Bruch erfahren könnte. Kritiker befürchten, dass die Revision Japan zum bloßen Erfüllungsgehilfen amerikanischer Geostrategien degradieren oder noch schlimmer, gar in einen unmittelbaren neuen Militarismus oder Expansionismus führen könnte – den Rückfall in das Vorkriegsregime60. Doch wie oben skizziert, hat es erwünschten Schwerpunktsetzungen war die Nennung „Beiträge für den internationalen Frieden“ rückläufig gegenüber 2012 und der Wunsch nach mehr Einsatz für die innere Sicherheit gewann an Zustimmung. http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-bouei/index.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 57 Die Aufgabe der SDF sahen die Befragten der angeführten Studie des Kabinettsbüros von 2015 interessanterweise auch in erster Linie in der Katastrophenhilfe (81,9 %) und erst an zweiter Stelle im Landesschutz (74,3 %). http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-bouei/ zh/z10.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 58 Wie Katzenstein und Okawara jedoch anmerken, gibt es kein „normales“ bzw. „unnormales“ Land. Vgl. Katzenstein/Okawara (2008). 59 Lind (2004). Lind vergleicht in diesem Beitrag konstruktivistische und realistische Theorien auf ihre Fähigkeit hin, den Wandel in Japans Außenpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges zu erklären. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, dass ein realistischer Ansatz einem konstruktivistischen (Antimilitarismus als die Außenpolitik beeinflussende Norm) überlegen ist. 60 Die von Ozawa Ichirô vorgeschlagene und von anderen Vertretern der DPJ wie Kan Naoto unterstützte Variante von UN-geführten japanischen Militäreinsätzen könnte so ein (mittlerweile eher unrealistischer) Kompromiss sein, da es so relativ unwahrscheinlich wird, dass Japans Auslandseinsätze zu neuen imperialistischen Abenteuern führen. Dabei weist die im linken (aber auch im antiamerikanischen rechten Lager) zu findende Ablehnung „internationaler Beiträge“ ebenfalls interessante ideologische Muster auf. Der Verfassungsexperte Watanabe Osamu sieht die „Militarisierung“ Japans nicht im Sinne eines nationalistischen
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diese Kontinuität auf politischer Ebene gar nicht gegeben, und von den Interpretationsspielräumen hinsichtlich der Verfassung wurde seit jeher lebhafter Gebrauch gemacht. Die ab den 1970er Jahren massiv aufgerüsteten SDF-Truppen sind de facto längst entgegen der Verfassung ein „normales“ Militär, das auch über formidable Angriffskapazitäten verfügt61. Der Bruch dieser Kontinuität hat also nicht erst mit den ersten Auslandsmissionen ab den 1990er Jahren begonnen, wenngleich sich freilich jüngst eine Eskalation der Interpretationsstrategie gezeigt hat, die darauf abzielt, auch effektiv an konkreten Kriegshandlungen teilnehmen zu können. Dass der Nachkriegspazifismus dabei vor allem durch den Schutz der USA möglich bzw. zumindest erleichtert wurde, bleibt dabei ebenfalls ein Argument, das nicht ohne Weiteres von der Hand gewiesen werden kann. Auch mit abgewandelter Verfassung müsste Japan seine pazifistische Rolle nicht unbedingt aufgeben. Gleichzeitig könnte das Beibehalten von Artikel 9 allerdings auch ein „moralischer“ Schutz sein. Angriffe durch hochgerüstete Nachbarn wie China oder Nordkorea, die durch die Spannungen der letzten Jahre durchaus jederzeit möglich sind, würden bei einem weiterhin pazifistischen Japan umso schwerer zu legitimieren sein, als es Angriffe auf ein „normales“ Japan wären, das mittlerweile wie im Senkaku-Konflikt gesehen, auch selbst „mit dem Säbel rasselt“. Während über den Umgang mit Nordkorea wenig Zweifel herrschen, stellt gerade auch die Frage nach dem Umgang mit China unter den Konservativen einen Spaltpilz dar62. Samuels zufolge ist von den vier oben dargestellten Haltungen zu Artikel 9 und den damit verbundenen strategischen Optionen Japans jene der Pazifisten mittlerweile am unwahrscheinlichsten. Die Aufrechterhaltung des status quo, die auch teilweise von den „normalen Nationalisten“ und Befürwortern einer Mittelmachtrolle unterstützt wird, hätte für Japan dennoch den unschätzbaren Vorteil, Artikel 9 nach Belieben als gestaltbares Verhandlungswerkzeug der Außenpolitik einzusetzen, um das Ausmaß eigener Beiträge auch weiterhin eigenständig gestalten zu können63. 2. Mit Waffengewalt zum Weltfrieden – Abe Shinzô und seine Doktrin des „proaktiven Pazifismus“ Abes zweite Amtszeit ab Dezember 2012 wurde zur bisher größten Belastungsprobe für Artikel 9. Der Premier wagte sich jedoch wohl auch hauptsächlich aufTennô-Prinzips (Tennô-sei) sondern im Kontext einer „internationalen Ideologie“ namens internationale „Beiträge“ und „Verantwortung“. Watanabe (2001), S. 24. Hier schwingt latent eine gerade im linken Lager oft zu beobachtende Haltung mit, die vorgibt antinationalistisch zu sein, aber dabei Isolationismus einer stärkeren Integration in die internationale Gemeinschaft vorzieht („japanische Soldaten sollen nicht im Ausland sterben“). 61 Vgl. hierzu Lind (2004). 62 Vgl. hierzu Winkler (2011a), S. 41. Zur Rolle des aufstrebenden Nachbarn China in der sich wandelnden Sicherheits- und Außenpolitik Japans vgl. z. B. auch Samuels (2007), S. 136 ff. und Pyle (2007), S. 328 ff. Zur Rolle Nord- und Südkoreas vgl. ebenfalls die Beiträge von Samuels (2007) und Pyle (2007), S. 341 ff. 63 Vgl. auch Lind (2004), S. 120.
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grund der gespaltenen öffentlichen Meinung nicht daran, das tatsächliche Änderungsprozedere in Gang zu setzen, brachte das Thema nach seinem Wahlsieg 2016 aber erneut auf die Agenda. Die LDP und ihr Koalitionspartner Komeitô verfügten zwar von Beginn an über komfortable Mehrheiten in Ober- und Unterhaus, im Oberhaus fehlte Abe aber lange die für die Revision nötige Zweidrittelmehrheit – die er bei den Wahlen von 2016 schließlich erreichte. Er hatte sich dementsprechend auf eine längere Meinungsbildung eingestellt und musste zudem auch erkennen, dass seine anfangs hohen Unterstützungswerte durch eine allzu aggressive Politik schnell in Mitleidenschaft gezogen werden konnten64. Dass der von Kritikern der Verfassungsänderung befürchtete neue Militarismus jedoch auch ohne die tatsächliche Revision von Artikel 9 möglich ist, stellte der Premier eindrucksvoll mit einer Reihe von Maßnahmen unter Beweis, die in einem bisher ungekannten Ausmaß die Interpretationsstrategie der Vorgängerregierungen ausreizt. Die Drohkulisse eines ebenfalls aufrüstenden Nachbarn China nur allzu gern nutzend, wurden unter Abe die Lockerung der bis dato strengen japanischen Waffenexportregeln65, die Aufstockung des längere Zeit rückläufigen Militäretats auf Rekordniveau66, die Einrichtung eines nationalen Sicherheitsrats (NSC) nach US-Vorbild im Jahr 2013 oder die Verabschiedung eines Geheimhaltungsgesetzes67 (tokutei himitsu hogo-hô) im gleichen Jahr als weitreichende Maßnahmen beschlossen, die in kürzester Zeit eine bis dahin ungekannte Erweiterung japanischer Hard Power68 mit sich brachten69. Abgerundet durch Abes Installation von Gleichgesinnten wie Hyakuta Naoki (*1956), Momii Katsuto (*1943) oder Hasegawa Michiko (*1946) in den Schaltstellen des halbstaatlichen Fernsehsenders Inoue/Gough (2014). Waffenexporte waren seit den 1960er Jahren verboten, was eine weitere Komponente der pazifistischen Nachkriegsordnung darstellte. Vgl. Fackler (2014a). In einer Umfrage der Asahi Shinbun sprach sich auch eine klare Mehrheit gegen die Lockerung von Waffenexporten aus. Asahi Shinbun (2014a). 66 2013 wurde die Erhöhung der bis dato über den Zeitraum von zehn Jahren rückläufigen Militärausgaben um 2,6 % auf 232,4 Mrd. US-Dollar für die nächsten fünf Jahre beschlossen. Für 2016 wurde ein Rekordbudget von 5,9 Billionen Yen (48 Mrd. US-Dollar) avisiert. Sieg/Takenaka (2013); McCurry (2015); Asahi Shinbun (2015d). 67 Das neue Gesetz wurde innerhalb kürzester Zeit verabschiedet und soll den Schutz von Staatsgeheimnissen erhöhen, wobei Geheimnisverrat mit hohen Gefängnisstrafen geahndet werden soll. Kritiker bemängeln die unklare Definition von „Staatsgeheimnis“, die es der Regierung ermöglichen könnte, generell unliebsame Informationen zum „Geheimnis“ zu erklären und so die Meinungs- und Informationsfreiheit erheblich einzuschränken, zumal auch kaum genügende Überwachungsmechanismen gegen Missbrauch des Gesetzes existierten. Vgl. Soble (2013), Fackler (2013). 68 Hier im Sinne Nyes verwendet, also als „harte“ Machtausübung über militärische Gewalt, Geld, etc. im Gegensatz zur „Soft Power“, zu der etwa Machtausübung über Kulturaustausch etc. gezählt werden kann. Vgl. Nye (2004). 69 Vgl. auch Nakano (2015), Shimizu (2014) und Koga (2014) für eine kritische Auseinandersetzung mit den Maßnahmen Abes. 64 Vgl.
65 Japanische
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NHK70 entsteht ein Gesamtbild, das irritierende Tendenzen der Entdemokratisierung offenbart71. Der Höhepunkt dieser Politik war im Sommer 2015 erreicht. Abe nutzte die günstigen Mehrheiten seiner LDP und der Kômeitô, um einen Katalog von Sicherheitsgesetzen (Heiwa anzen hôsei)72 vom Parlament absegnen zu lassen, der bereits 2014 in einem Kabinettsbeschluss angekündigt wurde. Darunter befand sich auch das besonders umstrittene „kollektive Selbstverteidigungsrecht“ (shûdanteki jiei-ken). Abe argumentierte mit der „Alternativlosigkeit“ des Gesetzespakets vor dem Hintergrund der sich wandelnden sicherheitspolitischen Lage, um „das Leben und die friedliche Existenz des Volkes zu beschützen“ und „Kriege im Vorfeld zu verhindern“73. Japan, das 70 kriegsfreie Jahre unter seiner pazifistischen Ordnung verbracht hat, soll nun dieser neuen Logik zufolge ausgerechnet durch die Ermöglichung von Kampfeinsätzen im Ausland zukünftige Kriege verhindern. Zweifel an den tatsächlichen Intentionen dieser tiefgreifenden und demokratisch kaum geprüften, außenpolitischen Kursänderungen unter der jüngsten Abe-Administration, die die ursprüngliche Intention der japanischen pazifistischen Verfassung vollkommen umkehren, sind allerdings gerade durch die widersprüchlichen Aussagen der Regierung selbst nicht unberechtigt. Bei einer Pressekonferenz74 im Juli 2014 beteuerte Abe, dass Japan durch das kollektive Selbstverteidigungsrecht keineswegs wieder zu einem kriegführenden Land werde. Auch die Verteidigung anderer Länder käme nicht in Frage. Japan werde stattdessen weiterhin pazifistisch bleiben. Dass bei selbiger Pressekonferenz auch so apodiktische Sätze fielen wie: „ob das kollektive Selbstverteidigungsrecht von der aktuellen Verfassung gedeckt sei, solch abstrakte und theoretische Fragen stehen nicht zur Debatte“, ruft freilich Kritiker auf den Plan, die solche Aussagen Abes als Beispiel anführen, wie Einwände gegen seine Politik im Keim erstickt werden75. Auch bei der Vorlage der neuen Sicherheitsgesetze im Parlament setzte sich der Premierminister über die Einschätzung mehrerer Verfassungsexperten hinweg – darunter auch die des von der LDP 70 Der rechtslastige Romancier Hyakuta zog sich Anfang 2015 wieder aus dem NHK zurück. Der aus der freien Wirtschaft stammende Momii, sorgte mit der Relativierung der Trostfrauen-Thematik für Aufsehen. Vgl. Kawamoto (2014). Die Philosophin Hasegawa ist gleichzeitig auch im Vorstand der rechten Nippon Kaigi tätig (vgl. auch Kap C. I. 5). 71 Vgl. hierzu auch Nakano (2015), Koga (2014). 72 Der Katalog besteht aus zehn Gesetzesmodifizierungen sowie einem neuen Gesetz, die den japanischen Selbstverteidigungsstreitkräften bisher ungekannte Handlungsmöglichkeiten geben sollen. Für die Details des Gesetzes vgl. auch http://www.cas.go.jp/jp/ gaiyou/jimu/housei_seibi.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 73 Yomiuri Shinbun (2015b); Soble (2015); http://www.wsj.com/articles/abe-pushes-security-bills-through-japans-lower-house-1437023839 (Zugriff: 20. 06. 2016). 74 http://www.kantei.go.jp/jp/96_abe/statement/2014/0701kaiken.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 75 Koga (2014), S. 3; Nakano (2015).
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selbst bestellten Juristen Hasebe Yasuo (*1958) von der Waseda-Universität – die Abes Gesetzespaket als verfassungswidrig bezeichneten und zudem dessen vage Formulierung monierten76. Vor dem Hintergrund solcher Geschehnisse mag sich der Eindruck aufdrängen, dass das von der LDP dominierte Parlament zu einer Marionette geworden ist, die zum Absegnen von weitreichenden Gesetzen verwendet wird, welche in rekordverdächtig kurzer Zeit, also meist ohne größere parlamentarische oder öffentliche Debatten verabschiedet werden77. Doch Abes semi-autokratisches Vorgehen löste auch Widerstand aus. Im Unterhaus kam es zu tumultartigen Szenen und die Oppositionsparteien boykottierten gar die Abstimmung über die Sicherheitsgesetze78. Noch eindrucksvoller war jedoch ein spürbarer Wandel des öffentlichen Klimas, denn nachdem Abe nach seiner erneuten Machtübernahme rund zweieinhalb Jahre ohne größeren Widerstand seine Politik vorantreiben konnte, ließen ab 2015 erstmals auch größere Teile der Bevölkerung Gegenwehr erkennen. Bei Demonstrationen gegen die Sicherheitsgesetze kamen nach Schätzungen bis zu 100.000 Menschen zusammen79, die den gesellschaftlichen Protest80 sicht- und hörbar machten. Dabei fiel auch das Engagement der jungen Generation auf 81, wenngleich sie jedoch – basierend auf eigenen Beobachtungen der Proteste – insgesamt eher noch eine Minderheit auszumachen schien. Auch aus Umfragen ging die Ablehnungshaltung im Volk hervor, was sich in einer sinkenden Zustimmung des Abe-Kabinetts niederschlug. Laut NHK-Daten überwog erstmals seit Amtsantritt Abes 2012 im Juli 2015 die Zahl derer, die das Kabinett nicht unterstützen (pro: 41 % anti: 43 %), wobei sich der Anteil der Regierungsgegner im August 2015 noch weiter auf 46 % vergrößerte82. Eine Umfrage der Asahi Shinbun kam im Juli 2015 zu einem ähnlichen Ergebnis, wobei 56 % gegen die neuen Sicherheitsgesetze stimmten und nur 26 % dafür. Eine Mehrheit von 48 % sah zudem eine Verletzung der Verfassung gegeben, 24 % beurteilten den Gesetzeskatalog als verfassungskonform83. Der so mit einem Wandel des öffentlichen Soble (2015); Nakano (2015); zu Hasebe vgl. Itô/Hôri/Hasebe (2015). Vgl. auch Nakano (2015). 78 Asahi Shinbun (2015b). Auch vor der finalen Abstimmung über den Gesetzeskatalog im Oberhaus im September 2015 versuchten Oppositionelle zunächst im zuständigen Komitee gewaltsam die Abstimmung zur Weiterleitung des Katalogs ins Oberhaus zu verhindern. Sankei Nyûsu (2015). 79 Soble (2015). 80 Vgl. hierzu auch Nakano (2015), S. 219. 81 Hier erlangte beispielsweise die 2015 gegründete und 2016 wieder aufgelöste Studentenorganisation SEALDs („Students Emergency Action for Liberal Democracies“) eine gewisse Bekanntheit. http://www.sealds.com/#sealds (Zugriff: 20. 06. 2016). 82 http://www.nhk.or.jp/bunken/yoron/political/2015.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 83 Laut Asahi-Daten kam es im November 2014 bereits einmal zu einer leichten Mehrheit von Gegnern des Abe-Kabinetts. http://www.asahi.com/articles/ASH7F3FZDH7FUZ PS001.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 76
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Klimas konfrontierte Abe gab nach der Verabschiedung des Gesetzespakets ein weiteres Beispiel seiner Demokratievorstellung zum Besten. Er bemängelte, dass das „Verständnis der Bevölkerung noch unzureichend“ sei, er sich aber alsbald an die ausführliche Erklärung seiner Politik machen wolle84. Der Premier stellte mit seinem Vorgehen eindrucksvoll unter Beweis, dass für die Schaffung neuer internationaler – auch militärischer – Handlungsspielräume eine tatsächliche Änderung der Verfassung nicht zwingend erforderlich ist. Die Interpretationsspielräume der aktuellen Verfassung werden schlicht in einem bisher nicht gekannten und rechtlich überaus zweifelhaften Maß ausgeweitet, was aufgrund der unklaren Erfolgsaussichten einer Revision auch die einzige „verlässliche“ Möglichkeit sein dürfte, Japans militärische Macht auszubauen. Mit seinen Mehrheiten im Parlament stellte Abe die Weichen in Richtung der konservativen Vision, Japan zu einem „normalen Land“ zu formen, das selbstverständlich Krieg führen kann – und dies an der Verfassung und der Bevölkerung vorbei. Wie erneut im Mai 2017 angekündigt, bleibt die tatsächliche Revision und damit ex post-Legitimierung seiner Interpretationsstrategie jedoch Abes erklärtes Ziel85. Mit seiner Doktrin des „proaktiven Pazifismus“ (sekkyokuteki heiwashugi), unter der obige Maßnahmen zusammenlaufen, versuchte der Premier dabei, die Militarisierung als eine eigentliche Fortsetzung des japanischen Nachkriegspazifismus zu kaschieren, die in einer Sinnumkehrung nun „alternativlos“ sei, um den Frieden zu wahren. Wenn auch mit anderen Schwerpunktsetzungen, lässt sich Abes Doktrin dabei gewissermaßen als Fortsetzung der Überlegungen von Ozawa Ichirô aus den 1990er Jahren sehen, wobei der Premier sich nicht auf den von Ozawa propagierten UN-Rahmen beschränkt86. Abe unterstrich die Bedeutung dieses „proaktiven“ Pazifismus, der zu „Wohlstand“ und „Frieden“ in der Welt beitragen soll, indem er ihn auch in seine Erklärung zum 70. Jahrestag des Kriegsendes (Abe danwa) einbezog87. Wie er an anderer Stelle ausführte, soll das neue Friedenskonzept den als „passiv“ empfundenen Pazifismus der Nachkriegszeit ablösen88. Militärische Machtausübung wird hier also als legitimer Teil einer aktiven „Friedensschaffung“ verstanden, wie auch räumlich gesehen die Bewahrung von Frieden von einem nationalen auf einen globalen Maßstab gehoben wird. In einem Dokument des Außenministeriums von 2014 wird dieses neue außenpolitiYomiuri Shinbun (2015b). Rich (2017). 86 Die Parallelen von Ozawa und Abe können hier auch möglicherweise in der Tatsache liegen, dass wie Nakano schreibt, der Politologe Kitaoka Shin’ichi (*1948) nicht nur Ghostwriter von Ozawas Bestseller „Nihon kaizô keikaku“ war, sondern auch aktuell einem Beraterstab des Abe-Kabinetts angehört und zu den Befürwortern der Interpretationsstrategie beim kollektiven Selbstverteidigungsrecht gehört. Vgl. Nakano (2015), S. 89. 87 http://www.kantei.go.jp/jp/97_abe/discource/20150814danwa.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 88 Abe/Hyakuta (2013), S. 42. 84 85
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sche Selbstverständnis näher umrissen. So heißt es darin, Japan beharre weiter auf seiner pazifistischen Ausrichtung, werde aber als ein Hauptakteur der internationalen Gemeinschaft in Zusammenarbeit mit Partnerstaaten, allen voran den USA, „proaktiven Pazifismus“ anwenden, denn kein Land könne allein Frieden und Sicherheit aufrecht erhalten89. Abgesehen von dem neuen Anspruch ein Hauptakteur der internationalen Gemeinschaft zu sein, der die Abwendung von der jahrzehntelangen „low profile“-Diplomatie Japans unterstreicht, wird die unter Koizumi begonnene Erweiterung des Sicherheitskonzepts, bei dem Landesverteidigung nicht mehr an den Staatsgrenzen endet, erkennbar. Der auf internationaler Kooperation basierende, proaktive Pazifismus soll nicht nur die nationalen Interessen stärken, sondern auch zu Frieden und Sicherheit in Japan und der ganzen Welt beitragen. Abschreckung, die Stärkung der Beziehungen zu den USA und anderer Partner sowie die Verbesserung globaler Sicherheit werden als primäre Ziele aufgeführt, wobei unter anderem auch das kollektive Selbstverteidigungsrecht und der nationale Sicherheitsrat als Säulen dieser neuen außenpolitischen Doktrin gelten sollen90. Dass Japan bereit ist, etwa mit dem kollektiven Selbstverteidigungsrecht größere internationale Beiträge zu leisten, wurde von den USA wohlwollend zur Kenntnis genommen, die auch die jüngst verabschiedeten Sicherheitsgesetze unterstützen, um gegen China ein regionales Gegengewicht aufzubauen91. Kritiker wie Nakano Kôichi sehen Abes Maßnahmen entsprechend als eine blinde Nachahmung der USA (tai-bei tsuizui), die mit der Unterhöhlung des Konstitutionalismus die Entscheidungsmacht auf den Premier und eine kleine Machtelite zu konzentrieren versuche92. Dass die Bevölkerung sich laut Umfragen internationale Beiträge in nichtmilitärischen Bereichen wünscht, wird ebenso konsequent ignoriert93. Diese Vorgänge sind freilich vor der Folie der sich wandelnden geopolitischen Lage in Asien und weltweit zu lesen, in der Japan zunächst nach dem Ende des Kalten Krieges und dann ab den 2000er Jahren mit einem wirtschaftlich wie militärisch erstarkenden China seine eigene Position neu (er)finden muss. Während das Land sich bisher auf den Schutz der USA verlassen konnte, versucht Japan unter Abe sein außenpolitisches Gewicht zu stärken, wobei der schwelende Konflikt mit China um die Senkaku-Inseln willkommene Rechtfertigungen für Maßnahmen wie die militärische Aufrüstung liefert. Es wurde deutlich, dass Abe versucht, Japans Einflussmöglichkeiten im sich wandelnden Machtgefüge Ostasiens zu erweitern und andere Staaten in der Region, deren Verhältnis zur aufstrebenden Weltmacht China ähnlich getrübt ist, stärker an sich zu binden, wobei neben jenem mit den 89
MOFA (2014).
90 Ebd.
Fackler/Sanger (2014); Soble (2015). Nakano (2015), S. 162. 93 Einer Umfrage der Nachrichtenagentur Jiji Tsûshin-sha von August 2015 zufolge sprachen sich 81 % gegen militärische Beiträge aus und nur 10 % dafür. Jiji (2015). 91
92 Vgl.
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USA auch weitere regionale Bündnisse vertieft werden sollen94. Dabei erweiterte er die lange primär auf Wirtschaftskraft beruhende Hard Power Japans nun innerhalb kürzester Zeit um militärische Kapazitäten. 3. Außenpolitik ohne Waffen: Human Security, Entwicklungshilfe und Kulturdiplomatie als Lückenfüller eines „unnormalen Landes“ Auch wenn die japanische Politik nach jahrelangen zähen Debatten über den Artikel 9 unter Abe Shinzô die Weichen dafür gestellt hat, selbst ohne die tatsächliche Revision der Verfassung ihre militärischen Machtspielräume zu erweitern, so verfolgte sie doch aufgrund der de facto weiterbestehenden, verfassungsrechtlichen Schranken im Zeitraum dieser Untersuchung eine zweigleisige Strategie. Diese war mit einer intensivierten Auslotung von Möglichkeiten verknüpft, abseits militärischer Macht verstärkt internationalen Einfluss auszuüben. Dabei nutzte Japan die Beschränkungen der Verfassung sogar zum eigenen Vorteil, um das Image eines friedliebenden, auf Kooperation bauenden Partners zu vermitteln. Hier sind insbesondere die Bereiche „Human Security“ (mit starker UN-Bezogenheit) und Entwicklungshilfe sowie Kulturdiplomatie anzuführen, wobei letztgenanntes Instrument im nächsten Abschnitt gesondert diskutiert werden soll95. Im noch relativ jungen Bereich „Human Security“ ist Japan neben Kanada ein zentraler staatlicher Akteur. Das Konzept „Human Security“ wurde mit dem „Human Development Report“ der UNO im Jahr 1994 eingeführt und bezeichnet ein neues Sicherheitsparadigma, bei dem die Sicherheit von Menschen96 – im Gegensatz zum klassischen Konzept der Sicherheit von Staaten – zum Bezugspunkt wird, wobei sich die beiden Formen nicht notwendigerweise ausschließen, sondern ergänzen97. Trotz der vergleichsweise wichtigen Rolle, die Japan in diesem Bereich spielt, blieb die Bedeutung von „Human Security“ – außerhalb der Politikwissenschaft – in der Japanforschung überraschend unbeachtet, obwohl sie von der japanischen Politik zu einem wichtigen diplomatischen Pfeiler erklärt wurde. Fackler/Sanger (2014); Fackler (2014a), Fackler (2014b). Vgl. auch Raddatz (2012), S. 113. 96 Human Security steht für eine Erweiterung des Sicherheitskonzepts, bei dem Sicherheit durch einen präventiven Charakter gekennzeichnet ist. Sicherheit schließt dabei explizit die Gewährleistung von Menschenrechten und die Schaffung von Möglichkeiten der Entwicklung ein, so dass z. B. Entwicklungspolitik diesem Verständnis zufolge selbst zur Sicherheitspolitik wird. Die Paradigmen Human Security, Menschenrechte und Human Development ergänzen sich hierbei also gegenseitig. Vgl. auch MacFarlane/Khong (2006). 97 Obwohl zunächst relativ unbeachtet, hat das Konzept eine weitreichende Neustrukturierung des Diskurses um Sicherheit und Entwicklung befördert. Japan betont dabei eine „weitgefasste“ entwicklungspolitische Variante, während Kanada oder auch das Human Security Network Vertreter der „engen“ Variante sind, die die humanitäre Sicherheit des Individuums betonen. Zum Thema Human Security vgl. z. B. MacFarlane/Khong (2006) und zur Kritik des Konzepts Brock (2008). 94 Vgl. 95
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Wie Satomi Ho schreibt, hat die japanische Regierung, seit das Konzept zum ersten Mal 1999 im „Diplomatic Blue Book“ als zentrale Säule japanischer Außenpolitik (unter Premier Obuchi Keizô) benannt wurde, dazu geneigt, den Einsatz für Human Security-Grundsätze als hilfreich für die Einnahme einer Führungsposition Japans in der internationalen Gemeinschaft insgesamt zu deuten98. Die Ursprünge für Japans Engagement liegen im Golfkrieg 1991, als das Land durch die Kritik von außen, nur Geld und keine Truppen geschickt zu haben, nach Alternativen für einen aktiveren internationalen Beitrag suchte99. Über ein solcherart verstärktes Engagement erhoffte sich Japan zudem einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat100. Die Unterschiede in den Human Security-Konzepten Japans und Kanadas liegen unter anderem auch darin, dass Japan den Gebrauch von Gewalt oder „humanitäre Interventionen“ aus den oben genannten Verfassungsbeschränkungen vermeiden möchte101. Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Entwicklungshilfe (Official Development Assistance, ODA). Hier war Japan in den 1990ern zwischenzeitlich zweitgrößter Geber und rangierte im Jahr 2012 immerhin noch auf Platz fünf 102. Japanische ODA war dabei natürlich nie ein rein humanitärer Beitrag. Wie Ho schreibt, diente die verstärkt gezahlte Entwicklungshilfe z. B. in den 1970er Jahren dazu, vor dem Hintergrund des Öl-Schocks einen stabilen Fluss von Gütern und Energie zu gewährleisten und lag so unmittelbar im nationalen Interesse103. Die Entwicklungshilfe – nach wie vor wichtiger Exponent japanischer „Scheckbuchdiplomatie“ – ist laut dem Politologen Craig Hayden einer von drei miteinander verbundenen Pfeilern der japanischen „Public Diplomacy“ nach dem Zweiten Weltkrieg, zu denen er des Weiteren internationale Angebote des halbstaatlichen Senders NHK sowie die Kulturdiplomatie zählt104. Die japanische Public Diplomacy wird dabei wie der ehemalige Diplomat und Professor der Keiô-Universität Agawa Naoyuki anführt allerdings keineswegs nur von der Regierung, d. h. dem Außenministerium (MOFA), betrieben, sondern ist gleichzeitig auch die Domäne von Bildungseinrichtungen, NPOs, Think Tanks und Konzernen105. Die ökonomische Zusammenarbeit hatte dabei lange Zeit ein Übergewicht in der japanischen Außenpolitik106. Ho (2008), S. 102. Ebd., S. 102 f. 100 Ebd., S. 103. Japan ist zudem auch ein bedeutender UN-Beitragszahler und rangierte 2012 mit 12,5 % des UN-Budgets nach den USA (22 %) auf Platz zwei. http://www.un.org/ ga/search/view_doc.asp?symbol=ST/ADM/SER.B/853 (Zugriff: 20. 06. 2016). 101 Ho (2008), S. 104. 102 http://www.oecd.org/dac/stats/aidtopoorcountriesslipsfurtherasgovernmentstighten budgets.htm (Zugriff: 20. 06. 2016). 103 Ho (2008), S. 103. 104 Hayden (2011), S. 79. 105 Agawa (2008), S. 225. 106 Agawa (2008), S. 229. 98
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Insbesondere ab der 2000er Dekade erlangte jedoch von Regierungsseite die Kulturdiplomatie verstärktes Gewicht. Unter Premier Koizumi wurde z. B. 2004 das „Council on the Promotion of Cultural Diplomacy“ ins Leben gerufen, mit dem Ziel, durch den Kulturaustausch zu Wohlstand und Frieden in der Welt beizutragen107 und Japan als eine „friedliche Nation des kulturellen Austauschs“ zu etablieren108. Die Wurzeln japanischer Kulturdiplomatie reichen freilich weiter zurück. Zu den regierungsgeförderten Einrichtungen und Programmen, die als verlängerter Arm japanischer Kulturdiplomatie gesehen werden können, gehören das bereits erwähnte, 1987 gegründete Nichibunken, das als konservativ ausgerichtete Forschungseinrichtung Einfluss auf das Japan-Bild im Ausland nimmt, sowie auch Austauschprogramme wie das im gleichen Jahr ins Leben gerufene JET-Programm109, dessen Teilnehmer nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatländer zu „Japan-Freunden“ gereift, zum Verständnis des Landes beitragen sollen und denen daher insbesondere auch für die japanisch-amerikanischen Beziehungen eine gewisse Bedeutung nachgesagt wird110. Der prominenteste Akteur japanischer Kulturdiplomatie ist jedoch die 1972 gegründete „Japan Foundation“ (Kokusai Kôryû Kikin), die seit 2003 als unabhängige Einrichtung unter dem Mandat des MOFA operiert111. Die Stiftung unterhält in 21 Ländern 22 Büros und finanziert sich durch Regierungszuschüsse, Spenden und andere Investitionen112. Dabei sind die drei Bereiche Kulturaustausch, Sprachausbildung im Ausland sowie Förderung der Japanwissenschaft durch Stipendienprogramme die primären Betätigungsfelder der Japan Foundation113. Hayden beschreibt die Stiftung als Fundament japanischer „Soft Power“114, die zeige, dass sich Kultur als zentrales Mittel der Außenpolitik einsetzen lasse115. Wie Hayden 107 http://japan.kantei.go.jp/koizumiphoto/2004/12/07bunka_e.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 108 http://japan.kantei.go.jp/koizumiphoto/2005/07/11culture_e.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 109 Das JET-Programm richtet sich vor allem an englische Muttersprachler, die in Japan an Schulen und anderen lokalen Einrichtungen im Sprachunterricht u.ä. assistieren und so den internationalen (Kultur)Austausch fördern sollen. http://www.jetprogramme.org/e/ introduction/goals.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 110 Vgl. Agawa (2008), S. 233 f. 111 Hayden (2011), S. 84. Wie Hayden schreibt, war der Kulturaustausch jedoch zumindest sehr einseitig, da es der Japan Foundation untersagt war, ausländische Kultur Japanern näherzubringen. Vgl. Hayden (2011), S. 85. 112 http://www.jpf.go.jp/e/about/outline/ar/2012/html/index.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 113 Agawa (2008), S. 226; Vgl. auch http://www.jpf.go.jp/e/about/outline/about_02.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 114 Der Begriff „Soft Power“ wurde von dem Politologen Joseph S. Nye Jr. geprägt. Er beschreibt das Erreichen von bestimmten Zielen oder Interessen eines Staates durch andere Mittel als militärische Macht oder Geld („Hard Power“). Kultur ist hierbei ein Beispiel für Soft Power. Vgl. Nye (2004). 115 Hayden (2011), S. 85 f.
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weiter ausführt, ist Soft Power im Falle Japans keine bloße Handlungsalternative der Außenpolitik, sondern vor dem Hintergrund der Beschränkungen der pazifistischen Verfassung und der langen Phase wirtschaftlichen Niedergangs eine Notwendigkeit, gerade auch weil China und Südkorea zu regionalen Konkurrenten aufgestiegen seien116. 4. Japans Neuerfindung als konsumierbare Marke: Die Beispiele „Cool Japan“ und „Environmental Nation“ Die Koizumi-Regierung hat das Potential der Popkultur für den Kulturaustausch erstmals stärker beleuchtet – etwa für die Beziehungen zu Südkorea117. Hier wurde „Cool Japan“118 als Soft Power-Instrument der Kulturdiplomatie entdeckt, mit dessen Hilfe über die Kreierung eines positiven Japan-Bildes im Ausland die japanischen Einflussmöglichkeiten auf globaler Ebene erweitert werden sollen. Mit dem Begriff „Cool Japan“ wird die wachsende Beliebtheit japanischer Popkultur im Ausland beschrieben, wobei Kritiker wie die Kulturkommentatoren Ôtsuka Eiji (*1958) und Ôsawa Nobuaki (*1976) nicht ganz zu Unrecht anmerken, dass weniger konkrete Zahlen als Beweise für den vermeintlichen Erfolg japanischer Popkultur im Ausland herangezogen werden (können), sondern es sich vielmehr nur um den (subjektiven) Eindruck davon handele, was zur Folge habe, dass die Illusion (gensô) der internationalen Konkurrenzfähigkeit japanischer Popkultur verbreitet werde119. Cool Japan steht auch für einen Wandel in der Außenwahrnehmung Japans. Denn das Land wurde bis zum Ende der Bubble Economy im Jahr 1990 vielmehr als Wirtschaftsgroßmacht und nicht als globale Kulturmacht wahrgenommen. Wie Iwabuchi dazu anmerkt, war Japan eher ein Technologielieferant für den Kulturkonsum (z. B. Walkman), zeigte dann aber zum ersten Mal seine Präsenz auf dem globalen Kulturmarkt mit dem Engagement von Sony und Matsushita (Panasonic) in Hollywood120. Seit den 1990ern etablierte sich das Land dann auch stärker als Produzent von Kultur – insbesondere Popkultur (Manga, Anime etc.) – und gewann hierbei an globaler Popularität. Allerdings ist der Cool Japan-Diskurs121 durch zahllose Widersprüche gekennzeichnet. David Leheny zufolge hat selbst die japanische Regierung ihre Probleme Hayden (2011), S. 77. http://japan.kantei.go.jp/policy/bunka/050711bunka_e.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 118 Der Begriff „Cool Japan“ geht auf den Journalisten Douglas McGray zurück, der in einem Artikel von 2002 „Japan‘s Gross National Cool“ Japans Soft Power-Potential beschrieb. McGray (2002). 119 Ôtsuka/Ôsawa (2005), S. 206 f. 120 Iwabuchi (2002a), S. 22; Iwabuchi (2002c), S. 447. 121 Für eine Einführung und Analyse des Diskursfeldes Cool Japan seien unter anderem die Beiträge von Gebhardt (2008a), Allison (2009), Daliot-Bul (2009) genannt. Für den japanischen Diskurs vgl. z. B. Azuma/Kitada (2008), Azuma (2010). 116 117
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damit, das genaue Ausmaß des Erfolges japanischer Popkultur im Ausland zu erfassen, was dazu führt, dass die Information fragmentarisch und anekdotenhaft bleibt122. So stuft Leheny Japan als wichtig, aber nicht beherrschend im Bereich asiatischer Popkultur ein. Wie er weiter ausführt, haben vor Douglas McGrays Einführung des „Cool Japan“-Begriffs wenige japanische Wissenschaftler Nye’s Soft Power-Konzept in Bezug auf Japan verwendet – die verbreitete Meinung war, dass nur die USA Soft Power besäßen123. Wie Iwabuchi anmerkt, war das Besondere an japanischen Kulturexporten lange Zeit, dass sie sich zumeist kulturell neutral darstellten oder gar ihre japanische Herkunft zu verschleiern suchten (mukokuseki), so dass der Konsum dieser Produkte also nicht unmittelbar mit einem positiven Image japanischer Kultur einhergehen konnte124. Japanische Popkultur ist also, wie Hayden dazu ausführt, nicht populär, weil sie „typisch“ japanisch sei, sondern gerade deswegen, weil die eindeutige Referenz japanischer Herkunft meist fehle125. Dies ist ein Problem für japanische Policy-Maker, die nun genau das Gegenteil anstreben und mit Cool Japan eine Nation Branding-Strategie verfolgen, mit der Japan als eine attraktive und „liebenswerte“ Marke bzw. als konsumierbares Produkt präsentiert werden soll126. Der wirtschaftliche Niedergang ab den 1990er Jahren steht dabei im Zusammenhang mit der gleichzeitigen Entdeckung des japanischen Kulturpotentials127 als alternativem Einfluss- und Investitionsfeld. In Zeiten schwindender industrieller Wettbewerbsfähigkeit zielen die japanischen Regierungsinitiativen also darauf ab, Japan zu einer auf geistigem Eigentum basierenden Macht zu machen128, in Bereichen wie Technologie, Design, Marken oder Content Products und Kreativkultur wie Software und Musik. Cool Japan als eine Form von Soft Power verspricht somit die Chance, auch ohne militärische Machtausübung Einfluss auf die Globalpolitik zu nehmen und den status quo beizubehalten129. Cool Japan dient dabei nicht nur als ein alternatives Diplomatieinstrument für Japans Hard Power-Kapazitäten – schrumpfende wirtschaftliche Bedeutung und beschränkte Möglichkeiten militärischer Machtausübung – sondern zugleich auch vor dem Hintergrund der demografisch bedingt sinkenden Inlandsnachfrage als Weg zu neuem wirtschaftlichem Wachstum130. In
Leheny (2006), S. 213. Ebd., S. 216, 221. 124 Iwabuchi (2008), S. 127; Iwabuchi (2002a). 125 Hayden (2011), S. 83. 126 Vgl. hierzu Allison (2009), S. 94; vgl. auch Daliot-Bul (2009) zur den japanischen Nation Branding-Bemühungen. 127 Vgl. auch Ôtsuka/Ôsawa (2005), S. 277. 128 Vgl. Daliot-Bul (2009). 129 Leheny (2006), S. 223. 130 Vgl. Hayden (2011), S. 79. Vgl. auch Daliot-Bul (2009). 122 123
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der Konsequenz soll diese Soft Power das Vertrauen in Japan erhöhen131 und bietet die Chance, nach langer Post-Bubble-Rezession wieder eine weltweite Rolle zu spielen, in einer Art „friedlichem Kulturimperialismus“. Dennoch, wie der Japanologe und Politologe Otmazgin herausgearbeitet hat, zeigt Soft Power durchaus ihre Grenzen, da die Akzeptanz der Kultur eines Landes nicht zwingend mit einem guten Image dieses Staates verbunden ist132. Obwohl die Möglichkeiten von Cool Japan als Instrument der Kulturdiplomatie von höchster Regierungsseite bereits durch Premiers wie Koizumi oder auch Asô bemerkt und explizit adressiert wurden133, tat sich die Regierung mit einer Umsetzung der theoretisch verfügbaren Soft Power in eine konkrete Politik lange schwer134. Dass die japanische Regierung in der zweiten Amtszeit Abe Shinzôs mittlerweile auch das Amt des Cool Japan-Beauftragen geschaffen hat, unterstreicht jedoch, welche Hoffnungen man von offizieller Seite in diesen Bereich der Kulturdiplomatie setzt. Erste Zuständige war Inada Tomomi (*1959), die später von ihrem LDP-Parteikollegen Yamaguchi Shun’ichi (*1950) in diesem Amt abgelöst wurde. Beiden Politikern wird eine Nähe zur rechten Vereinigung Nippon Kaigi (Japan-Konferenz) nachgesagt135. Inada, ab 2016 kurzfristig auch Verteidigungsministerin und stellenweise gar als zukünftige Premierministerin gehandelt, steht ihrem Förderer Abe mit einem eigentümlichen Mix aus Geschichtsbeschönigung und neoliberalen Forderungen nach der schlanken Regierung kaum nach136. Sie erlangte zudem Bekanntheit über die Landesgrenzen hinaus, als sie sich und ein weiteres Mitglied von Abes Kabinett und der Nippon Kaigi, Takaichi Sanae (*1961), zusammen mit dem Rechtsradikalen Yamada Kazunari, Hitler-Bewunderer und Vorsitzender der „Japanischen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei“ (Kokka Shakaishugi Nihon Rôdôsha-tô), ablichten ließen137.
131 Vgl.
ebd. Otmazgin (2007), S. 5. 133 Gebhardt (2008a); Hayden (2011). 134 Hayden (2011), S. 77. 135 Kim/Kim (2014). 136 Inada äußerte in ihrem Buch mit dem passenden Titel „Ich will Japan beschützen. Familie, Heimat, unser Vaterland“ von 2010 ihre Zweifel an der „Geschichtssicht der Prozesse von Tôkyô“, ein Begriff der in revisionistischen Kreisen als Synonym für „masochistisches Geschichtsbild“ verwendet wird. Inada beschreibt auch freimütig, wie sie der Vereinigung Jiyûshugi shikan kenkyû-kai (Studiengruppe liberales Geschichtsbild) des Revisionisten Fujioka Nobukatsu beigetreten sei. Neben einem Kampf für die Verfassungsreform und der Abkehr vom „Nachkriegsregime“ wolle sie sich für „japanische Werte“ wie Familie und Region einsetzen und strebt dabei einen Konservatismus gegen Amerikanisierung und Globalisierung an. Vgl. Inada (2010). 137 McCurry (2014). 132
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Dass es die Abe-Regierung mit Cool Japan ernst meinte, zeigte auch die Einrichtung des mit einem beträchtlichen Budget138 ausgestatteten „Cool Japan Fund“ (Kaigai juyô kaitaku shien kikô, kurz Kûru Japan kikô) 2013 durch das METI (Min istry of Economy, Trade and Industry). Dieser soll dabei helfen, die Kluft zwischen der Popularität von japanischen Kulturprodukten im Ausland und den Problemen japanischer Unternehmen dieses Potential in lukrative Geschäfte umzumünzen, zu überwinden139. Auch das im März 2013 ins Leben gerufene „Cool Japan Promotion Council“ (Kûru Japan suishin kaigi), das dem Kabinettsbüro (Naikakufu) unterstellt ist, setzt sich zum Ziel, „die Stärken japanischer Kultur und Traditionen zu vermarkten (sangyôka)“140. Dass Cool Japan mittlerweile wichtiger Bestandteil von Japans Wirtschaftsstrategie geworden ist, bei der Patriotismus, Wirtschaftswachstum und internationale Einflussnahme Hand in Hand gehen, lässt sich Abes Worten beim ersten Treffen des Gremiums entnehmen141: „It is one of the important policy issues for the Abe Cabinet to break through the stagnation that hangs over Japan and to develop the country further from now on, have the Jap anese people feel confident of the greatness of Japan including its tradition and culture, and make all people realize that things from Japan are great, which will also lead to the burgeoning of a sense of respect for Japan.“
Auch in einem Papier des dem Oberhaus (sangiin) beratend angeschlossenen Recherchebüros (Chôsashitsu) von 2013 werden die hohen Erwartungen an Cool Japan deutlich142: „In der ernsten Wirtschaftslage unseres Landes (…) befinden sich Schlüsselindustrien (…) in einer schwierigen Situation. Von Cool Japan – dieser im Leben und der Kultur unseres Landes verwurzelten Faszination (miryoku) – werden hierbei Effekte wie eine Verbesserung internationaler Wettbewerbsfähigkeit und die Schaffung neuer Arbeitsplätze erwartet, und zwar durch die Vermarktung dieses Mehrwerts ( fukakachi) in Form von Produkten und Services – nach außen gerichtet über eine Auslandsverbreitung zwecks Eroberung von Weltmärkten (…) und nach innen gerichtet über Inlandstourismus, Shopping etc. Der Existenzwert von Cool Japan als neuem (…) Industriesektor, wurde in den letzten Jahren evaluiert und als wichtiger Pfeiler einer Wachstumsstrategie verortet, wobei nach dem Tôhoku-Erdbeben auch erwartet wird, dass [Cool Japan] eine Rolle 138 Das Startkapital liegt bei 371 Millionen Dollar mit einem Budgetziel von rund einer Milliarde Dollar. http://www.reuters.com/article/2013/11/24/us-japan-cool-idUSBRE9AN0JB20131124 (Zugriff: 20. 06. 2016). Die Shareholder des Cool Japan Funds sind neben dem Staat eine Reihe von privaten Großunternehmen aus unterschiedlichen Branchen. http:// www.cj-fund.co.jp/ (Zugriff: 21. 06. 2016). 139 Hierzu gehören Maßnahmen wie die Bereitstellung von Risikokapital, Marktinformationen u.ä., um Cool Japan zu mehr Durchschlagskraft zu verhelfen. Vgl. METI (2015). Die Homepage des METI bietet eine Übersicht über die Aktivitäten im Bereich Cool Japan: http://www.meti.go.jp/english/policy/mono_info_service/creative_industries/creative_ industries.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 140 http://www.cas.go.jp/jp/seisaku/cool_ japan/ (Zugriff: 20. 06. 2016) 141 http://japan.kantei.go.jp/96_abe/actions/201303/04cooljpn_e.html (Zugriff: 20. 06. 2016) 142 Kamata/Nakano (2013), S. 43.
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dabei spielen wird, zum Wiederaufbau beizutragen, etwa beim Ausräumen schädlicher Gerüchte über Lebensmittel etc.“
Wie an derartigen Darstellungen erkennbar, reifte Cool Japan von einem relativ vagen Soft Power-Instrument in den letzten Jahren verstärkt zu einem Allheilmittel, gerade auch für die wirtschaftlichen Herausforderungen Japans. Infolgedessen ist Cool Japan auch zu einem zentralen Betätigungsfeld japanischer Nation Branding-Strategien geworden, mit denen im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit vermehrt versucht wurde, das Land zu einer „Marke“ mit bestimmten Attributen zu entwickeln143. In diesem Zusammenhang ist der Antrag des „Cool Japan Advisory Council“ (Kûru Japan kanmin yûshikishakaigi), einer Expertenkommission aus Regierungsbeauftragten und Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Medien aufschlussreich, die 2011 ihren Vorschlag für eine Cool Japan-Strategie mit dem Titel „Creat ing a New Japan – Tying together ‚culture and industry‘ and ‚Japan and the world‘“ vorlegte144. Der Bericht definiert für Cool Japan als Zielindustrien neben der Content-Industrie (Manga, Anime etc.), Mode, Cuisine, Kosmetik, Dienstleistungen, die Vermarktung regionaler Produkte sowie als nach innen gerichtete Maßnahme die Förderung des Tourismus nach Japan. Bemerkenswert ist der Bericht insofern, als er ganz explizit den Begriff der „Marke“ („Japan Brand“) verwendet und Japan als ein „Produkt“ entwirft und bewirbt, wobei mit Bedacht gewählte Nationenstereotype hier nicht fehlen dürfen, um das „korrekte Image“ der Marke „Japan“ zu vermitteln. Vor dem Hintergrund von Tôhoku-Erdbeben und Fukushima-Katastrophe hebt der Bericht zunächst die Notwendigkeit hervor, das Vertrauen bzw. den „Glanz der ‚japanischen Marke‘“ wiederherzustellen145. Japan soll durch neue Wirtschaftsmodelle und Lifestyles eine internationale Führungsrolle übernehmen und zum Vorbild der Welt des 21. Jahrhunderts werden146. Diese Lifestyles sollen beispielsweise „harmonie-“ oder „umweltorientiert“ sein, wobei der Wert der Marke Japan durch verstärkte Kommunikations-, d.h. Marketing-Maßnahmen, nicht nur im Ausland, sondern interessanterweise auch in Japan selbst gefördert werden soll, denn es sei „absolut essentiell für das japanische Volk diese Basis wiederzuentdecken und in der Welt zu verbreiten“147. Wie auch Daliot-Bul anmerkt, wird in den Nation BranVgl. auch Hayden (2011), S. 79. METI (2011). 145 Hier setzt auch die „Japan Tourism Agency“ (Kankô-chô), eine dem Ministry of Land, Infrastructure, Transport and Tourism (MLIT) untergeordnete Stelle an, die sich ebenfalls an Nation Branding-Konzepten versucht. Die Agentur stellte 2012 ihren Plan zur Schaffung einer „Tourism Nation“ vor, wobei mit diesem „Label“ die Wirtschaft des Landes nach der Erdbebenkatastrophe von 2011 angekurbelt und das Vertrauen in die „japanische Marke“ zurückgewonnen werden soll. Die Wiederbelebung des Tourismus, der den „Stolz der Nation“ zeige, sei dabei essentiell für Japans Neubelebung. Vgl. MLIT (2012), S. 1. 146 METI (2011), S. 2. 147 METI (2011), S. 2. 143
144
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ding-Strategien die Möglichkeit gesehen, den Patriotismus der Japaner wiederzubeleben und für die nationalen Interessen einzuspannen148. Dass freilich Nationen alles andere als „natürlich“ sind und auch Japaner selbst erst „lernen“ müssen, was „japanisch“ ist, wissen auch die Autoren des Papiers, weswegen sie nicht vergessen zu betonen, dass Japaner selbst erst ihre eigene „einzigartige“ Kultur „wiederentdecken“ müssen, und dass die Selbsterkenntnis des „Japanese style“149 zunächst auch ein Japan-internes Unterfangen darstellt. Der Wert Japans, so führt der Bericht weiter aus, müsse die Attribute „Spiritualität“, „Empathie“, „Aufnahmebereitschaft“, „Vitalität“ und „andere Japan definierende Qualitäten“ enthalten150. Ziel des Strategiepapieres ist es letzten Endes, Wege zu finden, Cool Japan zu einer Antriebsfeder wirtschaftlichen Wachstums zu machen. Das Dokument spricht hier von wahren „Goldminen“, die nur auf ihre Ausbeutung warten151. Dabei zeigt sich eine eigentümliche Verwendung von bekannten japanischen Klischees und Stereotypen, die hier auf die (Neu)Definierung der japanischen Nation im Sinne eines weltweit konsumwürdigen, Werte stiftenden Produktes angewendet werden. Ohne irritierend zu wirken, könnte das Wort „Japan“ hier auch an vielen Stellen durch den Namen eines beliebigen, zu bewerbenden Produktes ersetzt werden, woran die Banalisierung von „Nation“ zu einer leeren und austauschbaren Kategorie im Zuge solcher Nation Branding-Strategien erkennbar wird. Dabei bestätigt sich in überraschend offener Weise, dass Nationen diskursiv konstruiert werden und sich in einem ständigen Redefinierungsprozess befinden. Dazu passend spricht der Bericht davon, „Japan als Geschichte“ zu präsentieren und auch die Erholung von der Erdbebenkatastrophe 2011 als „story of recovery“ für das Marketing der „Japan Brand“ mehr oder weniger explizit zu nutzen152. In der Verbindung von Nationalismus mit neoliberaler Globalisierung reifen Yoshino zufolge, nationale Identität und Symbole selbst zu einem äußerst wirksamen Produkt heran, wobei die durch das Nationale beförderte „kollektive Solidarität“ selbst zum Motor von Massenkonsum wird153. Gerade die immer wieder auftauchenden Komponenten des „Lernens“ und „Wiederentdeckens“ vermeintlicher Traditionen spielt bei solchen Nation Branding-Initiativen eine zentrale Rolle, wobei sich Widersprüche oft nur mühsam kaschieren lassen. Ein prominentes Beispiel ist dafür die angesprochene Imaginierung Japans als „umweltorientiert“. Im Zuge ihrer Bemühungen um nichtmilitärische, ideologi148
Daliot-Bul (2009), S. 260.
149 Ebd. 150 Ebd. Spätestens, wenn „kulturelle Vorteile“ Japans hier etwa auch im Bereich Wohnungsbau konstruiert werden, dürften zumindest bei denjenigen, die schon einmal in Japan gelebt haben, erste Zweifel an der Stichhaltigkeit der vorgestellten Thesen aufkommen. 151 Ebd., S. 2. 152 METI (2011), S. 2. 153 Yoshino (2007), S. 10.
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sche Vorherrschaft hatte die japanische Politik 2007 vor dem Hintergrund globaler Ressourcenverknappung und „Klimawandel“ Japan als „Environmental Nation“ neu definiert, mit dem Ziel, der Erschaffung einer nachhaltigen Gesellschaft (sustainable society)154. Dieser Nation Branding-Ansatz ist dabei auf UN-Strategien wie dem ESD-Konzept (Education for Sustainable Development) der UNESCO155 abgestimmt und lässt die Liebe zur Natur, Heimat und Tradition sowie den Schutz der Umwelt zur Schaffung einer friedlichen und nachhaltigen Welt zu einer Art „Öko-Nationalismus“ zusammenfließen156. Wie an anderer Stelle genauer ausgeführt157, wird Japans umweltpolitischer Führungsanspruch dabei aus der landeseigenen Geschichte und seinen vermeintlich traditionellen Werten abgeleitet, wobei das Land als friedliebende, im Einklang mit der Natur lebende „Umweltnation“ re-imaginiert wird. Hierzu wird ein spezifisch „japanisches Modell“ für eine nachhaltige Gesellschaft entworfen, von dem freilich auch die japanische Wirtschaft profitieren soll. Die japanische Regierung erläutert ihre Strategie wie folgt158: „(…) Japan is in an ideal position to create a working model of a sustainable society as a „miniature Earth“, in the sense that Japan has few natural resources (…), and yet has strengths such as traditional wisdom from living in harmony with nature, environmental and energy-related technologies that have enabled socio-economic development, (…). We should take full advantage of these strengths to create a ‚leading environmental nation,‘ (…). Through such efforts Japan will utilize in modern-day society its traditional wisdom for coexistence with the natural environment. Moreover, (…) Japan will use its world-leading environmental and energy-related technologies, its experience and wisdom in overcoming severe pollution, and its abundant supply of passionate and capable human resources to derive from the environment both economic growth and vitality in local societies, creating a ‚Japanese model‘ in which Japan, as a leading environmental nation, contributes to the development and the prosperity of the globe, to be shared with Asia and with the world.“
Abe Shinzôs Vision des „schönen Japan“159 (vgl. auch Kap. C. II.) zeigt sich dabei an anderer Stelle unter dem Titel „Creation of a Beautiful Nation in which Tradition [sic!] Wisdom for Coexistence with Nature is applied to Modern SocieVgl. hierzu Kankyôshô (2007) zum Regierungsbeschluss von 2007. die UNESCO-Homepage: http://www.unesco.org/new/en/education/themes/ leading-the-international-agenda/education-for-sustainable-development/ (Zugriff: 20. 06. 2016). 156 Vgl. Raddatz (2012). Bei genauerer Untersuchung der japanischen UNESCO-Schulen werden hier zum einen die Verbindung von Patriotismus- und Umwelterziehung, zum anderen auch ideologische Parallelen zu dem unter Abe geänderten Erziehungsgesetz deutlich: siehe hierzu den Bericht der dem Erziehungsministerium MEXT unterstellten Japanese National Commission for UNESCO oder auch die Homepage der UNESCO-Schulen: JNCU (2010); http://www.unesco-school.mext.go.jp/ (Zugriff: 20. 06. 2016). 157 Raddatz (2012). 158 Kankyôshô (2007), S. 6 f. 159 Abe (2006). 154
155 Vgl.
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ty“, wenn eine vorgeblich spezifisch japanische Tradition der Naturverbundenheit konstruiert wird, die als Lösung für die Probleme der modernen Weltgesellschaft herhalten soll: „Since ancient times, Japanese people have had a view of nature in which every living thing is respected as part of nature. Japanese people have traditionally embraced a sense of respect for nature and have lived in harmony with nature“160. Diese nicht weiter hinterfragte Imagination Japans als „Umweltnation“ hat dabei ihre Parallelen im Gesellschaftsdiskurs, in dem sich in den 1990er und 2000er Jahren analog zu diesen Regierungsinitiativen Tendenzen gezeigt haben, die Natur-Thematik national zu codieren161. Hier können Intellektuelle wie der Philosoph Umehara Takeshi (*1925) und der Geograph Yasuda Yoshinori (*1946) als prominente Diskutanten angeführt werden162. Beide konstruierten Japan als eine mit der Natur seit grauer Vorzeit in einer symbiotischen Beziehung lebende Nation163. Trotz des vermeintlichen „Gegenbeweises“ für die japanische Natursymbiose, in Gestalt der Reaktorkatastrophe von Fukushima, wird dieses Narrativ weiterhin genutzt. Im Gegenteil, die „Umweltnation“ hat neuen Aufschwung erhalten, indem man die Umweltkatastrophe sogar als „unjapanisch“ erscheinen lassen will164. Das dem Umweltministerium angeschlossene „Central Environmental Council“ (Chuô kankyô shingi-kai) empfahl dem damaligen Umweltminister Matsumoto Ryû (DPJ) in einem Bericht vom 27. April 2011 den Wiederaufbau mit dem Prinzip eines Lebens im „Einklang mit der Natur“ anzugehen. Die Basis des vorgeschlagenen Sanierungsplans sollte daher die „Koexistenz mit der Natur“ sein und dazu dienen, mit dem Vorbild Japans der internationalen Gemeinschaft eine neue „Gesellschaftsform“ vorzuleben165. Ähnlich schlug der ehemalige Umweltstaatssekretär Kobayashi Hikaru vor, Japan zu einer „Marke“ zu machen, die für die „Symbiose mit der Natur“ stehe, in der er ohnehin eine japanische Tradition erkannte. Der Wiederaufbau der Erdbebenregion könne gar zum Sinnbild einer Wiederbelebung der „japanischen Ästhetik“ und der „Harmonie mit der Natur“ werden166. Es zeigt sich dabei, dass solche selbstorientalisierenden Stereotype, die vermeintlich genuin japanische Traditionen skizzieren, von offizieller Seite immer wieder spezifisch für die Förderung und Legitimierung wirtschaftlicher Interessen genutzt werden. Besonders deutlich scheint dies gerade bei zukunftsträchtigen Bereichen wie Popkultur (Cool Japan), Umwelt oder auch der Robotik auf, die man mit einer nationalen Codierung versieht. Für letztgenanntes Feld arbeitet die Japa-
Kankyôshô (2007), S. 7. Raddatz (2012). 162 Vgl. Kap. D. II. 1.; Raddatz (2012), S. 116 ff. 163 Umehara/Ueda (2001); Yasuda (2002). 164 Raddatz (2012), S. 122. 165 Kankyôshô (2011). 166 Nippon.com (2012). 160
161 Vgl.
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nologin Cosima Wagner in ihrer Studie vergleichbare Exotisierungsbestrebungen heraus167. Die verstärkten Versuche der japanischen Regierung, solche Nation Branding-Initiativen zu organisieren, bestätigen sich auch beim 2013 eingerichteten „Japan Brand Fund“. Vor dem Hintergrund von Überalterung und damit verbundener Marktschrumpfung in Japan ist die Auslandsexpansion das Credo der japanischen Wirtschaft geworden. Die zur Aufrechterhaltung von Wirtschaftswachstum nötigen Maßnahmen beschreibt das METI hierbei wie folgt: „To achieve this goal, it is imperative that Japan utilizes its attractive products and services that make full use of the unique characteristics of Japanese culture and lifestyle, and develops this attractiveness into new business, so as to draw overseas demand to Japan“168. Dazu soll der „Japan Brand Fund“ helfen, die „Attraktivität Japans“ in neue Geschäftsmöglichkeiten umzumünzen, indem er entsprechende Fördermöglichkeiten für Unternehmen zur Verfügung stellt169. Das gestiegene Interesse an der Schaffung von „nationalen Marken“ ist dem Medienwissenschaftler Iwabuchi zufolge dabei ein generell seit den 1980er und 1990er Jahren zu beobachtender Trend, wobei Kultur im zunehmenden Maße den nationalen Strategien von Staaten und einer ganzen Reihe von Akteuren dazu dient, ihre politischen und wirtschaftlichen Ziele durchzusetzen170. Kultur soll nicht nur staatliche Soft Power-Kapazitäten stärken, sondern auch internationales Kapital anlocken und neue Wirtschaftszweige aufbauen, um so die internationale Konkurrenz auszuschalten171. Iwabuchi bezeichnet diesen Marketing-Nationalismus naheliegend als „brand nationalism“172. In den Medienexporten des Cool Japan-Spektrums erkennt Iwabuchi zudem den politischen Willen, das Japan-Bild gerade in Ostasien zu verbessern und die Erinnerung an den japanischen Kolonialismus auszulöschen173. Daliot-Bul spricht diesen revisionistischen Charakter von Markenstrategien wie Cool Japan ebenfalls an, aus denen Japan mit einer „weißen Weste“ hervorgehen und dem Kalkül zufolge über die Beliebtheit der japanischen Popkultur in Asien eine „kollektive Amnesie“
167 Wagner dekonstruiert darin das Narrativ einer typisch japanischen Roboter-Tradi tion oder -Affinität als „Techno-Orientalismus“ und weist darauf hin, dass solche Zuschreibungen immer dann betont wurden, „wenn ein nationales, vor allem wirtschaftliches Inter esse“ dahinterstand, wobei sie auch entsprechende Versuche von offizieller Seite wie der japanischen Außenhandelsorganisation JETRO in diesem Kontext anführt. Wagner (2013), S. 167 f. 168 METI (2013). 169 Ebd. 170 Iwabuchi (2008), S. 136 171 Iwabuchi (2008), S. 137. 172 Iwabuchi (2008), S. 136. 173 Iwabuchi (2008), S. 137.
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im Hinblick auf Japans Vergangenheit erreicht werden soll, um dem Land einen Neustart in der Region zu ermöglichen174. Die japanischen Nation Branding-Strategien wirken jedoch trotz der verstärkten Bemühungen, speziell unter der Regierung Abe, weiterhin unkoordiniert und basieren eher auf vagen Annahmen, als auf belastbaren Zahlen, was die Erfolgsaussichten eher schmälert. Dass in den letzten Jahren gerade bei Cool Japan versucht wurde, konkrete Strategien und Förderprogramme zur Erschaffung einer attraktiven „Japan Brand“ auf den Weg zu bringen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese – trotz unbestrittener Erfolge japanischer Popkultur im Ausland – zu großen Teilen auf erheblicher Überschätzung der eigenen Möglichkeiten beruht. Kulturimperialismus soll hier zur Triebfeder für Wirtschaftswachstum und größere internationale Einflussnahme werden; es bleibt aber fraglich, ob westliche Orientalismen von „Sushi“ und „Samurai“ ausreichen, um eine folgsame Schar von „Japan-Fans“ im Ausland zu erschaffen und die japanische Marke gegen andere aufstrebende Mächte erfolgreich zu positionieren. Markenstrategien wie Cool Japan oder die Umweltnation unterstreichen daher eher den Mangel an nachhaltigen Konzepten auf Seiten der japanischen Regierung und Wirtschaft, denen aufgrund schwindender „harter“ wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit offenbar nur noch die Hoffnung auf „softe“ kulturelle Nationalstereotype bleibt, um so eine Scheinattraktivität japanischer Produkte zu konstruieren. Die Kritik von Ôtsuka und Ôsawa aus dem Jahre 2005 hat deswegen an Aktualität nichts eingebüßt. Die beiden Autoren sehen die Versuche von Regierung und Think Tanks, Cool Japan in eine Staatspolitik zu überführen bzw. als Wirtschaftsmotor zu verwenden, als wirkungslose Strategie und Verschwendung von Steuergeldern. Die Einmischung des Staates in diese Bereiche sei nicht zuletzt auch deswegen problematisch, weil die Kreativindustrien unabhängig bleiben müssten175. Dass gerade die orientalistische Facette der vermeintlichen „Einzigartigkeit“ japanischer Kultur durch deren massive Förderung und damit einhergehenden Nivellierung an ihrer „Eigenartigkeit“ und Exklusivität einbüßen könnte, ist nur ein weiterer Widerspruch der japanischen Ambitionen, bei denen zwar irgendwie klar zu sein scheint, dass die japanische Kultur Soft Power besitzt, aber es keine Auskunft darüber gibt, welche neu gewonnenen Einflussmöglichkeiten sie genau bereithält176. Auch die Tatsache, dass bei Cool Japan-Initiativen und ähnlichen Nation Branding-Ansätzen, mit denen eigentlich die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigt werden sollen, der Blick in die Vergangenheit auf vermeintliche japanische Traditionen oftmals im Zentrum steht, illustriert das Fehlen wirklicher Konzepte und Strategien. Dass selbst regierungskritische Kommentatoren wie der ehemalige METI-Beamte Koga Shigeaki (*1955), der stellenweise mit durchaus Daliot-Bul (2009), S. 254. Ôtsuka/Ôsawa (2005), S. 10, 190. 176 Vgl. auch Hayden (2011), S. 116 f. 174
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treffenden Analysen etwa zu Abe Shinzôs Politik aufwartet, die „japanische Marke“ und das speziell „Japanische“ (Nihon rashisa) als Heilmittel für die japanische Misere sieht, mag diesen Eindruck nur noch weiter unterstützen177. Wie sich in dieser Studie noch an weiteren Beispielen verdeutlichen lässt, zeigt diese Vorgehensweise, dass eine vage „japanische“ Codierung in bestimmten Kreisen als vermeintliches Patentrezept für die Probleme der japanischen Gegenwartsgesellschaft verstanden wird. 5. Eine Serie von Missverständnissen oder die Renaissance des Staats-Shintô? Die Einflussnahme der japanischen Religionslobby auf die Politik Abseits von Artikel 9 zeigten sich innenpolitisch weitere Spannungen mit Japans Nachkriegsverfassung. So etwa im Punkt der verfassungsmäßig festgesetzten Trennung von Religion und Staat (seikyô bunri). Am 15. Mai 2000 hielt der damalige japanische Premierminister Mori Yoshirô (LDP, *1937) eine Rede vor etwa 400 Teilnehmern einer Veranstaltung der mit der einflussreichen Organisation Jinja Honchô178 (Vereinigung der Shintô-Schreine) verbundenen Vereinigung der Shintô-Parlamentarier179 (Shintô seiji renmei kokkai giin kondankai) anlässlich ihres dreißigjährigen Bestehens180. Der Anlass inspirierte Mori zu einer gewagten Aussage, die eine öffentliche Debatte nicht nur in Japan, sondern auch in Japans Anrainerstaaten, insbesondere in China und Südkorea auslösen sollte181. Er sprach von Japan als dem kami no kuni, dem Land der Götter, mit dem Kaiser im Zentrum, ein Gedanke, für den er nun schon 30 Jahre lang arbeite182. Kami no kuni ist ein ideologisch belasteter Begriff aus der Zeit vor 1945, als der Staats-Shintô die Staatsdoktrin bzw. -religion des ultranationalistischen Japan
Koga (2014). 1946 gegründete Jinja Honchô verwaltet nach eigenen Angaben etwa 80.000 Schreine in ganz Japan. Als ihre Zielsetzung gibt die Vereiningung neben der Schreinverwaltung u.a. die Bewahrung „japanischer Traditionen“ und Shintô-Rituale an, sowie nicht weniger als einen Beitrag zum Gedeihen Japans und zum Weltfrieden. Dabei macht sie keinen Hehl daraus, dass der Shintô zum Fundament der Politik werden soll und auch Ziele wie die „Normalisierung“ der Erziehung oder Aufklärungsarbeit bezüglich der Landesfahne und -hymne auf der Agenda stehen. Vgl. hierzu http://www.jinjahoncho.or.jp/ (Zugriff: 20. 06. 2016). 179 Die Vereinigung der Shintô-Parlamentarier ist eine Unterorganisation der Shintô seiji renmei (kurz Shinseiren), die zusammen den politischen Arm der Vereinigung Jinja Honchô bilden. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Nelson (2003) zu den Verstrickungen von Politik und religiösen Vereinigungen – in diesem Fall LDP. 180 Nawrocki (2002), S. 289. 181 Mori entschuldigte sich zwar für seine Bemerkungen, nahm diese aber nicht zurück. Vgl. Nawrocki (2002), S. 290. 182 Vgl. Nawrocki (2002), S. 291. 177 Vgl. 178 Die
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war183. Doch die Wurzeln der Begrifflichkeit reichen sogar noch weiter zurück, bis in die vormoderne Zeit. Im Kern beklagte Mori in seiner Rede die mangelnde Religiosität der heutigen japanischen Gesellschaft. Diese führe schließlich zu einer Orientierungslosigkeit der Jugend, da sie weder von den Eltern, noch den Schulen oder der Gesellschaft die nötige Führung erhalte. Als Ausweg plädiert er für eine stärkere Vermittlung von religiösen Werten in den Schulen. Gerade weil in Japan Religionsfreiheit herrsche, so Mori weiter, müsse es möglich sein, über Religion zu reden184. Der Redner beschränkte sich bei seinen Ausführungen zwar nicht allein auf den Shintô, stellte diesen aber durch Wortwahl und bevorzugte Erwähnung in den Mittelpunkt. Die Japanologin Lisette Gebhardt sieht in seinen Ausführungen Verbindungen zu Umehara Takeshis ökologisch-ethnoesoterischer Version des Shintô und wertet Moris Beitrag als Versuch, „Religion als Mittel der Sozialisation des (korrekten) japanischen Staatsbürgers innerhalb einer japanischen Wertgemeinschaft“ erscheinen zu lassen185. Trotz heftiger Kritik aus den Nachbarstaaten Japans blieb die verbale Entgleisung Moris jedoch zunächst ohne größere Konsequenzen. Seine Umfragewerte in Japan fielen jedoch dramatisch, und im Oktober 2000 lag der Unterstützungswert seiner Regierung bei gerade noch 15 %186. Der Skandal schadete freilich Moris weiterer Karriere nach seinem Rückzug als Premierminister in keiner Weise. So übernahm er u.a. das Präsidentenamt des Organisationskomitees für die Olympiabewerbung von Tôkyô für das Jahr 2020. Während seiner Amtszeit als Premierminister von 2001 – 2006 machte auch Koizumi Jun’ichirô von sich reden, als er es sich trotz heftiger internationaler Proteste nicht nehmen ließ, alljährlich auch am 15. August anlässlich der Gedenkfeiern zum Ende des Zweiten Weltkrieges, den 1869 errichteten Yasukuni-Schrein in Tôkyô zu besuchen, in dem der Toten japanischer Kriege gedacht wird – darunter auch der so genannten „Klasse A-Kriegsverbrecher“ des Zweiten Weltkriegs187. Diese Besuche sorgten für internationales Aufsehen und insbesondere in China 183 Bereits kurz nach der Kapitulation Japans am 15. August 1945, erließ das Oberkommando der alliierten Truppen in Japan (GHQ) am 15. Dezember 1945 die sog. „Shintô-Direktive“, die den Staats-Shintô abschaffte und somit Religionsfreiheit und die Trennung von Staat und Religion gewährleisten sollte. Vgl. Lokowandt (1981), S. 6; Shimazono (2005), S. 1078. Die Staatsbezogenheit der Schreine wurde dadurch ebenfalls aufgelöst (Shimazono (2005), S. 1078). Zudem entsagte Kaiser Hirohito 1946 in seiner Neujahrsansprache selbst seiner Göttlichkeit (Lokowandt (1981), S. 6). Dies entzog der zentralen Rolle des Tennô im System des Staats-Shintô zwar die Legitimation, verhinderte aber in der Praxis nicht, dass einige Shintô-Vertreter dem Tennô das Recht absprachen „anderen Japanern zu verbieten, an seine Göttlichkeit zu glauben“ (Ebd., S. 7). Wie Klaus Antoni anmerkt, legitimierte sich die gesamte spirituelle und religiöse Autorität des japanischen Kaisertums sowohl früher als auch jetzt noch durch die religiös-politische Ideologie des Shintô. Vgl. Antoni (2002), S. 274. 184 Vgl. Nawrocki (2002), S. 291. 185 Gebhardt (2001), S. 44 f. 186 Ôtake (2003), S. 49. 187 Vgl. Samuels (2007), S. 114.
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und Südkorea für wiederholte anti-japanische Proteste188. Gleichzeitig machte Koizumi jedoch ebenfalls durch eine Annäherung an die Nachbarn China und Südkorea auf sich aufmerksam189, die er durch seine Schreinbesuche immer wieder in Frage stellte. Er entschuldigte sich in seiner Erklärung (Koizumi danwa) anlässlich des 60-jährigen Jahrestages des Kriegsendes auch für Untaten, die Japan in anderen Ländern verübt habe190. Nachdem Koizumis Amtsnachfolger auf offizielle Besuche am Schrein verzichteten, nahm der aktuelle Premier Abe Shinzô diese Tradition japanischer Premierminister nach längerem Zögern mit einem Besuch im Dezember 2013 wieder auf. Diese Episoden auf allerhöchster politischer Ebene werden begleitet von den Forderungen diverser Intellektueller, die seit geraumer Zeit die Rückkehr zum „ursprünglichen“ Shintô propagieren (vgl. auch Kap. D.). Rechtlich gesehen stehen diese Tendenzen auf einer sehr brüchigen Basis, da Japans Verfassung als Lehre aus den Erfahrungen mit dem „Staats-Shintô“ die Trennung von Staat und Religion fordert191. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass der politische Shintô nach dem Krieg nicht einfach verschwand192. Vor diesem Hintergrund zeigen sich beachtliche Verknüpfungen von Politik und Shintô wie an den Aktivitäten der genannten Vereinigungen Jinja Honchô oder Shinseiren deutlich wird, deren Lobbyarbeit erst gar nicht versucht, ihre neonationalistischen Ziele zu verschleiern193. Der dabei über das Religiöse weit hinaus188 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Medienecho über die Schreinbesuche Koizumis, das die Medienwissenschaftler Killmeier und Chiba in ihrem Artikel untersuchen. Demzufolge berichtete die linke Tageszeitung Mainichi Shinbun am kritischsten und mit 79 % auch am häufigsten über die Kriegsverbrecher-Thematik. Die wirtschaftsorientierte Zeitung Nikkei Shinbun war in ihrer Berichterstattung überwiegend kritisch (62 %). In der linksliberalen Asahi Shinbun war die Berichterstattung mit 44 % „fragmentiert“ und begann ab 2004 sogar die Yasukuni-Schrein-Problematik verstärkt als innenpolitische Angelegenheit zu definieren, die auch die Sichtweisen Chinas und Südkoreas in Frage stellten. Die konservative Yomiuri Shinbun war nur in 25 % der Fälle kritisch, dem niedrigsten Wert. Yomiuri unterstützte Koizumi in der Yasukuni-Frage somit am deutlichsten. Vgl. Killmeier/ Chiba (2010). Anzumerken an der Studie von Killmeier und Chiba ist die Tatsache, dass bereits die Nennung der Kriegsverbrecher-Thematik als Hauptindikator für eine Yasukuni-kritische Berichterstattung gewertet wurde. 189 Insbesondere die Beziehungen zum Nachbarn Südkorea wurden während seiner Regierungszeit intensiviert, z. B. durch einen regen Kulturaustausch und die gemeinsame Austragung der Fußballweltmeisterschaft 2002. 190 Kantei (2005). 191 Samuels (2007), S. 114. 192 Der Japanologe Ernst Lokowandt zeigt auf, dass der Shintô auch nach 1945 recht schnell wieder Fuß fasste und sich nicht wirklich von seiner früheren politischen Macht distanzierte. Vgl. Lokowandt (1981), S. 2 ff.; vgl. auch Nakajima/Shimazono (2016). 193 Nelson beschäftigt sich in seinem Aufsatz näher mit der Shinseiren. Diese wurde 1969 mit dem Ziel gegründet, bei der schließlich gescheiterten Verabschiedung eines Gesetzentwurfs zur staatlichen Unterstützung des Yasukuni-Schreins (Yasukuni-hôan) im gleichen Jahr behilflich zu sein. Zu den Zielen der Vereinigung zählt die Ehrung und Respektierung
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gehende, politische Anspruch der Shinseiren wird in der Absicht deutlich, „Japan seinen Stolz und sein Selbstbewusstsein zurückgeben“ zu wollen194. Zu den konkreten Zielsetzungen der Vereinigung gehört neben der Revision der Verfassung, der offiziellen Verehrung der „Heldenseelen“ (eirei) im Yasukuni-Schrein auch die Schaffung einer Gesellschaft, die Tennô und japanische Traditionen ehrt195. Dass Jinja Honchô oder Shinseiren sich der Unterstützung ihrer Sache gewiss sein können, zeigen auch aktuelle personelle Verflechtungen: Führungsfiguren aus beiden Vereinigungen finden sich in der einflussreichen, rechtskonservativen Vereinigung Nippon Kaigi196 („Japan-Konferenz“), die 1997 gegründet wurde und 35.000 Mitglieder zählt197. Zudem werden 15 der 19 Angehörigen von Abe Shinzôs zweitem Kabinett der Vereinigung zugerechnet198. Die Nippon Kaigi übt aber nicht nur Einfluss auf Politik, sondern auch auf die zentralen Medienorgane aus und installierte mit Hasegawa Michiko ein hochrangiges Mitglied im Führungsgremium des NHK199. Ebenso bezeichnend ist die Tatsache, dass Abe selbst aktuell Vorsitzender der der Shinseiren untergeordneten „Vereinigung der Shintô-Parlamentarier“ ist, der wiederum auch 16 Minister aus Abes 19-köpfigen, zweiten Kabinett angehören 200. Diese Aktivitäten, die einen neuen politischen Shintô anstreben, gehen von der Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt und kaum weiter problematisiert vonstatten, wobei erst in jüngerer Vergangenheit diese zunehmend deutlichen Bestrebungen vereinzelte Kritiker auf die wachsende Gefahr der religiösen Rechten hinweisen ließ201. Die Verflechtungen religiöser Lobbygruppen mit der japanischen Spitzenpolitik verdeutlichen, dass auch knapp 70 Jahre nach Kriegsende politisch des Kaiserhauses. Landesweit sollen laut Nelson zusätzlich zum Yasukuni-Schrein Kriegsgedenkstätten an Schreinen errichtet werden. Des Weiteren arbeite die Vereinigung auf die Ausarbeitung einer neuen Verfassung sowie die Korrektur von Lehrplänen hin. Ein Unterarm der Shinseiren, die Seikyô kankei o tadasu-kai (wörtl. Gesellschaft zur Berichtigung der Beziehungen zwischen Religion und Staat) zielt ihrem Namen gemäß darauf ab, Mitglieder des japanischen Parlamentes, der japanischen Medien etc. „aufzuklären“. Außerdem gibt sie Wahlempfehlungen für Politiker aus, wobei sie sich insbesondere als Unterstützerin der LDP geriert. Die Vereinigung der Shintô-Parlamentarier besteht dabei aus denjenigen Parlamentsmitgliedern, die sich der Agenda der Shinseiren verpflichtet haben, womit die Shinseiren sicherstellen will, dass ihre Ziele realisiert werden können. Vgl. hierzu Nelson (2003), S. 461, 462. 194 Vgl. die Homepage der Vereinigung http://www.sinseiren.org/ (Zugriff 20. 08. 2014). 195 http://www.sinseiren.org/shinseirentoha/shinseirenntoha.htm (Zugriff 20. 08. 2014). 196 Vgl. dazu die Liste der Vorstände auf der Homepage der Nippon Kaigi: http://www. nipponkaigi.org/about/yakuin (Zugriff: 20. 08. 2014). 197 Kim/Kim (2014). 198 Larsson (2014); Katô (2014); Nakajima/Shimazono (2016). 199 http://www.nhk.or.jp/keiei-iinkai/member/ (Zugriff: 20. 08. 2015). 200 http://www.sinseiren.org/shinsai_top/shinsai_photo_iwate/230530_iwate_1.pdf (Zugriff 20. 08. 2014), vgl. auch Larsson (2014). 201 Vgl. hierzu Nakajima/Shimazono (2016); Saaler (2016); Larsson (2014).
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einflussreiche Kräfte existieren, die auf die Renaissance eines politischen Shintô hinarbeiten, welcher die verfassungsrechtliche Trennung von Religion und Staat ignoriert und wie der Politologe Nakajima Takeshi (*1975) und der Religionswissenschaftler Shimazono Susumu (*1948) aufzeigen, deutliche Parallelen zum historischen Staats-Shintô aufweist202. Diese Seilschaften von Politik, insbesondere der LDP, und religiös-nationalis tischen Gruppen sind kein neues Phänomen, wenngleich gerade unter Koizumi und Abe besonders ausgeprägt. Bereits Hashimoto Ryûtarô war vor seinem Amtsantritt als Premier 1996 Vorsitzender der überparteilichen Organisationen „Vereinigung von Parlamentariern zum gemeinsamen Besuch am Yasukuni-Schrein“ (Minna de Yasukuni Jinja o sanpai suru kokkai giin no kai) und der einflussreichen „Vereinigung der Hinterbliebenen“ (Nihon Izoku-kai)203. Letztere, ursprünglich 1947 gegründete Vereinigung, rief schon in den 1950ern japanische Politiker dazu auf, den Yasukuni-Schrein wieder zu besuchen 204. Gerade der umstrittene Yasukuni-Schrein, Relikt der gekränkten japanischen Imperialismusbestrebungen und gleichzeitig Symbol für Japans Geschichtsrevisionismus205, bietet durch die gewachsene internationale Aufmerksamkeit die Möglichkeit, sich mit dem Besuch am Schrein in den einschlägigen, religiös-konservativen Kreisen in Japan als nach außen hin unbeugsamer und patriotischer Politiker zu profilieren. Andererseits machten die internationalen Proteste nach offiziellen Schreinbesuchen deutlich, dass Japan nicht ohne Weiteres seine Forderungen nach einer eigenen „japanischen“ Interpretation der Vergangenheit würde durchsetzen können. Der Versuch, die Beziehungen zu Staaten wie Südkorea und China zu verbessern und gleichzeitig einen „emanzipierteren“ Umgang mit der eigenen Geschichte zu verfolgen, gestaltet sich so immer schwieriger. Wie unten weiter diskutiert, bleibt es allerdings insbesondere bei Spitzenpolitikern wie Koizumi unklar, inwieweit er die Agenda eines politischen Shintô bzw. Nationalismus nicht nur aus machtpolitischem Kalkül für seine persönlichen Zwecke genutzt hat, um die Unterstützung mächtiger religiös-konservativer Vereinigungen wie den oben genannten zu gewinnen. Nakano Kôichi kommt zu einer ähnlichen Einschätzung und weist darauf hin, dass Koizumi sich vor und nach seiner Amtszeit nie weiter für den Yasukuni-Schrein interessiert habe, aber mit den dortigen Besuchen von innenpolitischen Problemen wie wachsenden sozialen DifNakajima/Shimazono (2016). Nakano (2015), S. 100. 204 Nelson (2013), S. 461. Die LDP arbeitete 1969 in Zusammenarbeit mit der Jinja Honcho und der Nihon Izoku-kai am schließlich gescheiterten Gesetzesentwurf (Yasukuni hôan), der den Yasukuni-Schrein wieder in staatliche Kontrolle überführen sollte. Vgl. ebd. 205 Abgesehen von der Verehrung von Kriegsverbrechern im Schrein, zeigen sich die Glorifizierungs- und Revisionismustendenzen auch im dem Schrein angeschlossenen Museum Yûshûkan. Mit dem Ziel seinen Besuchern eine genaue „Wahrheit“ über die japanische Geschichte zu übermitteln, werden die Kriege Japans mit der üblichen revisionistischen Rhetorik als „defensive“ bzw. „Befreiungskriege“ bezeichnet. Saaler (2005), S. 97. 202 203
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ferenzen ablenkte, indem er Nationalismus und antichinesische Stimmung in der Bevölkerung geschürt habe206. Insbesondere bei Abe, der die ambivalente Politik Koizumis in Bezug auf den Umgang mit Japans Geschichte radikalisiert fortführt, wird deutlich, dass er ohne die Unterstützung religiöser Vereinigungen wie der Shinseiren oder Nippon Kaigi wohl kaum regieren könnte und zugleich deren Einfluss auf die japanische Politik auf ein bisher ungekanntes Maß erhöht hat. 6. Populistischer Nationalismus im Zeitalter von „Koizumi-Theater“ und „Abenomics“ Die von Skandalen und Krisen geschüttelte japanische Politik leidet seit den 1990er Jahren an einem massiven Vertrauensverlust, wobei zwangsläufig der Ruf nach politischen Korrekturen lauter wurde207. Dies öffnete verschiedenen Reformern innerhalb der japanischen Politiklandschaft die Tür, die wie die neokonservative Gruppe um Ozawa Ichirô grundlegende Veränderungen in der Ausrichtung Japans anstrebten 208. Die wachsende Unzufriedenheit über Korruption, Politfilz und Stagnation eröffnete neue Möglichkeiten für politischen Populismus209. Der Politologe Ôtake Hideo sieht hier das Jahr 2000 (Stichwort Katô no ran) als Ende japanischer Cliquenpolitik und Beginn des japanischen Populismus210. Koizumi Jun’ichirô wurde zum Exponenten dieser Entwicklung. Er verstand es, durch seinen Politikstil Cliquenkämpfe innerhalb seiner Partei zu umgehen, und sich durch seinen öffentlichkeitswirksamen Populismus die breite Unterstützung der Bevölkerung und der Medien zu sichern. Wie Kenneth B. Pyle anmerkt, verfügte Koizumi dabei im Gegensatz zu Nakasone oder Ozawa weniger über eine eigene Strategie für Japan211. Er ver-
Nakano (2015), S. 126. Ôtake (2003), S. iv, 21. Der Politologe Ôtake Hideo unterscheidet zwischen drei Ebenen des Vertrauens in die Politik: 1.) der Systemebene (Demokratie, Faschismus, Kommunismus etc.), 2.) der politischen Organisation (Parteien, Bürokratieapparat, Wahlsystem etc.) und schließlich 3.) der individuellen Ebene innerhalb politischer Organisationen. Der Vertrauensverlust infolge zahlreicher Skandale könne als mangelndes Vertrauen in die zweite und dritte Ebene verstanden werden, als Enttäuschung etwa in einzelne Politiker, die die Erwartungen nicht erfüllen. Vgl. ebd., S. iv. 208 Im Falle Ozawas waren dies u.a. der Umbau des politischen Systems an sich sowie Forderungen nach starker Führung und Beiträgen Japans, die nicht rein wirtschaftlicher Natur sein sollten. Ôtake (2003), S. 6. 209 Ôtake arbeitet als Merkmal des Populismus eine Taktik der Polarisierung von „gut“ vs. „böse“, „dem normalen Bürger“ vs. „der Elite“ heraus, bei der sich die politische Führung über die Nutzung solcher Feindbilder als „Held“ bzw. „Anwalt“ des Volkes darstellt. Dabei kommt den Massenmedien, insbesondere dem Fernsehen, bei diesem Prozess eine zentrale Rolle zu. Ôtake (2003), S. 118 ff. 210 Ôtake (2003), S. 34 f.; vgl. auch Iida (2003), S. 25. 211 Pyle (2007), S. 355. 206 207
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stand es aber gleichwohl, sich die Ideen solcher Vordenker zu Nutze zu machen und deren Reformpläne erfolgreicher umzusetzen als diese selbst212. Für seinen Erfolg werden dabei immer wieder zwei Hauptgründe angeführt: Seine Medientauglichkeit und seine catchphrase-Rhetorik. Diese sich ergänzenden Talente erleichterten es ihm, die Medien populistisch zu nutzen und sich ein massenwirksames Image zu verschaffen 213. Kurze Slogans wurden zu seinem Markenzeichen, mit denen er der Öffentlichkeit zunächst unverständliche, weil komplizierte Sachverhalte, als eigentlich ganz leicht verständlich näher brachte214. Seine Ambitionen, die verfilzte Politiklandschaft zu entflechten, verliehen ihm zudem die Aura des „volksfreundlichen Reformers“215. Diesen neuen Populismus setzte Koizumi geschickt ein, um seine neoliberalen Strukturreformen als unausweichliche Maßnahmen darzustellen. Er pflegte einen dramatisierenden und emotionalisierenden Politikstil, von manchen Kritikern auch als pathetische „Performances“ bezeichnet216, mit dem er die Medien und die Bevölkerung gleichermaßen beeindruckte – reflektiert im Begriff des „Koizumi-Theaters“ (Koizumi gekijô)217. Koizumis „one phrase“-Politik zeigte allerdings auch die Gefahren, wie mit Populismus Reformen durchgesetzt werden, die den Mehrheitsinteressen der Bevölkerung zuwiderlaufen, aber von dieser selbst begeistert aufgenommen werden218. Den teilweise zerstörerischen Charakter dieser Politik versuchte Koizumi meist gar nicht zu verbergen: „Die LDP zerstören“ (Jimintô o bukkowasu) war einer seiner bekannteren Slogans, mit dem er deutlich machte, dass der „Feind“ seiner Reformen in der eigenen Partei lauerte219. Die traditionelle, konservative Allianz der LDP mit ihren Unterstützern aus den ruralen Regionen Japans war ihm ein Dorn im Auge, da dieses in der Tat verfilzte System von Abhängigkeiten und Entlastungen von Landwirtschaft und lokaler Industrie seinen neoliberalen Vorstellungen entgegenstand 220. Aus Sicht der Neoliberalen standen diese alten konservativen 212 Vgl.
ebd. Iida (2003), S. 26; Fukunaga (2006); Ôtake (2003). 214 Vgl. auch Iida (2003), S. 23 f.; Fukunaga (2006). 215 Vgl. auch Ôtake (2003), S. iv; Fukunaga (2006). 216 Vgl. z. B. Nakano (2015), S. 119. 217 Vgl. Iida (2003), S. 24; Fukunaga (2006); Ôtake (2003). 218 Iida analysiert die Rhetorik Koizumis an dem Beispiel „Kôzô kaikaku nakushite, keiki kaifuku nashi“ (Ohne Umstrukturierung keine wirtschaftliche Erholung). Laut Iida auf den ersten Blick neutral und vernünftig, beruhe dieser Slogan auf einer Tautologie. Die Menschen sollen mit dieser Aussage akzeptieren, dass Strukturreformen und wirtschaftliche Erholung zusammenhingen, obwohl diese Verknüpfung nicht existiere. Gleichzeitig werde so von den sozialen Folgen wie Arbeitslosigkeit, die mit den Reformen einhergingen, abgelenkt. Die von seinen Reformen in negativer Weise Betroffenen bat er schlicht, mit Durchhalteparolen „die Schmerzen [zu] ertragen“ (itami ni taeru). Vgl. Iida (2003), S. 27. 219 Suzuki (2008); Ôtake (2003). 220 Vgl. Watanabe (2009), S. 228. 213
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Strukturen den Visionen einer „schlanken Regierung“ entgegen und bedeuteten in erster Linie „Kosten“221. Die bereits unter Hashimoto angestrengte Stärkung von Kabinett und Premierministeramt222, eine neoliberale Verschlankung und Entfilzung des japanischen Politiksystems, die es dem Premier erlaubte, unabhängiger zu regieren sowie mehr Macht unter sich und seinem Kabinett zu vereinen, kamen sowohl Koizumi als später auch Abe bei der Durchsetzung ihrer Reformen und der Ausübung ihres Populismus entgegen, wobei letzterem auch das gleichzeitige Fehlen einer echten politischen Opposition die Durchsetzung weitreichender Reformen ermöglichte223. Durch seine beispielhaft zwiespältige Politik gelang es Koizumi, über die Reformer hinaus auch reformkritische Konservative für sich zu gewinnen und beide Lager in seine Strategie einzubinden. Er verstand es, sich den Anstrich eines „Konservativen“ zu geben – z. B. durch seine Yasukuni-Schrein-Besuche224 – mit denen er die reaktionäre Rechte auf seine Seite ziehen konnte. Diese hätte ansonsten seinen Reformen, die das Entfilzen der etablierten Konservativen verfolgte, sicherlich ablehnender gegenübergestanden. Im Gegensatz zu Abe, zeigte sich Koizumi aber wenig interessiert daran, ein Hauptthema der Konservativen anzugehen – die Änderung der Verfassung225. Im Grunde präsentierte sich Koizumi als ein Neoliberaler, dem ein ernsthafter, japanischer Nationalismus nicht in den Sinn kam226. Nationalismus war für Koizumi jedoch ein effektives, populistisches Machtinstrument, um die nötige Unterstützung für seine Reformen zu erhalten 227. Wie der Philosoph Kayano Toshihito (*1970) nicht zu Unrecht anmerkt, konnte er paradoxerweise durch Nationalismus-Rhetorik die Menschen, die schließlich die größten Opfer seiner Politik wurden, auch zu seinen größten Unterstützern machen 228. Denn Koizumi oder auch Abe sahen sich einerseits mit dem Wegbrechen eines Teils der traditionellen LDP-Wählerschichten durch ihre neoliberale Reformpolitik konfrontiert, versuchten dies andererseits durch einen scharfen Nationalismus und den Schulterschluss mit einflussreichen konservativen Gruppen wie der Nippon Kaigi abzufedern 229. Vgl. hierzu auch Nakano (2015). http://japan.kantei.go.jp/central_government/frame.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 223 Vgl. zur Stärkung der Kabinettsfunktion unter Koizumi bzw. Abe auch Hughes/ Krauss (2007); Shimizu (2014); Nakano (2015). 224 Einer Umfrage zufolge unterstützten 27,5 % (dafür bzw. eher dafür) der Befragten Koizumis damalige Yasukuni-Besuche anlässlich des Kriegsendes, 30 % reagierten gleichgültig, 39,2 % waren dagegen (dagegen bzw. eher dagegen). Vgl. Suzuki (2007a), S. 173. 225 Vgl. Winkler (2011a), S. 19. 226 Vgl. auch Ôtake (2003). 227 Ähnlich ordnet auch Ôtake etwa Koizumis Überprüfung einer Verfassungsreform und entsprechende Aktionen ein, die nur ein Lippenbekenntnis gegenüber den Konservativen in der LDP geblieben seien. Vgl. Ôtake (2003), S. 91. 228 Amamiya/Kayano (2008), S. 109 f. 229 Vgl. auch Nakano (2015). 221 222
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Der von Koizumi etablierte Populismus wurde auch zum Vorbild für seinen Nachfolger Abe Shinzô, der die Instrumentalisierung von Nationalismus zur Durchsetzung seiner ebenso neoliberalen Agenda noch konsequenter und virtuoser weiterentwickelte. Ähnlich wie Koizumi gibt sich auch Abe das Image des „Reformers“ und setzt dabei bevorzugt polarisierende ja/nein-Rhetorik ein, um eine vermeintliche Alternativlosigkeit zu suggerieren 230. Der Premier legt hierbei auffällig großen Wert auf die Außenwirkung seiner Regierung, so dass den Medien und auch dem Internet eine zentrale Rolle für seine Politik zugedacht wird. Während Koizumi dem Politologen Kang Sang-Jung zufolge, Teil einer Emotionalisierung der Politik (seiji no kanseika) war231, so gilt dies auch für Abe, der wie Koizumi die „Alternativlosigkeit“ seiner Politik in kurze, häufig emotionalisierte und theatralisierte Slogans verpackt und in paternalistisch-selbstgefälliger Diktion vorträgt, wobei seine Aussagen oftmals das genaue Gegenteil seiner Taten suggerieren. So spricht Abe beispielsweise gern davon, das Leben des Volkes „beschützen“ zu wollen oder für dieses „verantwortlich“ zu sein, erhöht allerdings gleichzeitig mit der Einführung des „kollektiven Selbstverteidigungsrechts“ das Risiko eines Krieges232. Kritiker Abes weisen darauf hin, dass er und sein Team nicht nur solche medialen Inszenierungen für sich zu nutzen wissen, sondern auch ganz genau die Fluktuationen der öffentlichen Meinung beobachten, um bei allzu starkem Gegenwind – wenn nötig – gemachte Aussagen entsprechend abzuschwächen, anzupassen oder gar komplett zu verdrehen233. Abe benutzt dabei den Nationalismus auch gerade, um seine Unterstützungswerte zu lenken. Einige Medienberichte wiesen darauf hin, dass der durch seine Wirtschaftspolitik überaus beliebt gewordene Abe seine abnehmenden Unterstützungswerte durch die Forcierung einer nationalistischen Politik auffrischen wollte234. So fiel sein Besuch am Yasukuni-Schrein nicht ganz zufällig in eine Zeit, in der sich die Erfolge von Abenomics und damit seine Unterstützungswerte abzuschwächen begannen 235. Abe offenbarte zudem ein gewisses strategisches Geschick, indem er zu Beginn seiner zweiten Amtszeit den Fokus auf unverfängliche Themen wie „Abenomics“ legte, was bei Bevölkerung und Wirtschaft zunächst gleichermaßen gut ankam. Nach einer zwei Dekaden andauernden Rezession wusste Abe freilich, dass gerade Shimizu (2014); Nakano (2015). Kang (2006), S. 35. 232 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Koga (2014), S. 4 – 22. 233 Für eine Auseinandersetzung mit Abes Rhetorik und seiner Selbstinszenierung in den Medien siehe Koga (2014); Shimizu (2014), S. 45 ff.; Tsuda et al. (2013). 234 Nishiyama (2013). Der Politologe Nakano Kôichi weist zudem darauf hin, dass die Abe-Regierung zwar über hohe Unterstützungswerte verfüge, gerade bei den wichtigen Themen wie dem kollektiven Selbstverteidigungsrecht, der Mehrwertsteuererhöhung oder dem Wiederanfahren von Atomkraftwerken allerdings Differenzen zur Meinung der Bevölkerung sichtbar würden. Vgl. Nakano (2015), S. 150. 235 http://www.bbc.com/news/business-24936348 (Zugriff: 20. 06. 2016). 230 Vgl. 231 Vgl.
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mit Erfolgen in der Wirtschaftspolitik am ehesten der Grundstein für eine stabile Regierung gelegt werden könnte. Den anfänglichen Erfolg von Abenomics oder auch das Anfachen eines „Hurra-Nationalismus“ im Zuge der Olympia-Bewerbung für 2020 nutzte der Premier auch dazu, seine Popularität zu stärken 236, was ihm bei den Oberhauswahlen 2013 half, auch hier eine Mehrheit zu erringen, die er mit einem erneuten Fokus auf die Wirtschaft bei den Wahlen 2016 gar noch ausbaute. Mit der solcherart durch „weichere“ und akzeptiertere Formen des Nationalismus beruhigten Öffentlichkeit konnte Abe von seinen eigentlichen Vorhaben wie der Verfassungsreform bzw. –Interpretation ablenken, um diese zunächst eher im Hintergrund über Schleichwege wie den Artikel 96, später auch ganz direkt voranzutreiben. Hier sollte Abe jedoch nicht als bloßer Nationalist gesehen werden, ohne seine neoliberalistische Agenda ausreichend hervorzuheben, denn sie soll Japan, wie im LDP-Programm zu den Oberhauswahlen 2013 angekündigt, zu dem Land machen, in dem Unternehmen ihre Geschäfte am leichtesten tätigen können (sekai de ichiban kigyô ga katsuyaku shiyasui kuni)237. Diese Agenda beinhaltet in prominenter Weise die „drei Pfeile“ seiner primär auf einer laxen Geldpolitik beruhenden „Abenomics“-Politik 238, welche in „Umverteilungen nach oben“ Banken und Unternehmen durch Steuersenkungen entlastet, während die Bevölkerung von vermeintlich alternativlosen steuerlichen Mehrbelastungen betroffen ist. Auch sein Einsatz für das umstrittene Freihandelsabkommen TPP (Trans-Pacific Partnership)239, das in der Kritik steht, speziell die bisher durch Importzölle geschützte heimische Landwirtschaft zu bedrohen, ist Teil von Abes neoliberaler Agenda. Ironischerweise stellte dieser Wirtschaftszweig traditionell einen mächtigen Wählerstamm für Abes LDP, womit er die Absicht seines Vorgängers Koizumi zu teilen scheint, die LDP „zerstören“ zu wollen, was auch sein strategisches Verhalten in der Frage zu erklären hilft240. 236 Abenomics trug damit anfänglich nicht unwesentlich zu Abes ungewöhnlich hohen Unterstützungswerten bei, die lange Zeit im Bereich zwischen 60 % und 65 % pendelten. Dieser Trend begann sich laut NHK-Erhebungen erst ab Ende 2013 abzuschwächen und erreichte 2015 mit der Verabschiedung der neuen Sicherheitsgesetze einen vorläufigen Tiefpunkt. http://www.nhk.or.jp/bunken/yoron/political/index.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 237 http://jimin.ncss.nifty.com/pdf/sen_san23/2013sanin2013 – 07 – 04.pdf (Zugriff: 20. 06. 2016). Vgl. hierzu auch Nakano (2015). 238 Diese Wirtschaftspolitik gründet auf drei Säulen oder auch „Pfeile“ genannt: 1) expansive Geldpolitik der Bank of Japan, 2) eine forcierte Fiskalpolitik, die Konjunkturpakete beinhaltet und 3) Wachstumsreformen. Mit dieser Geldschwemme soll die seit Jahren anhaltende Deflation in Japan in eine milde Inflation umgekehrt werden. 239 Vgl. für eine genauere Analyse der neoliberalen Komponente in Abes Nationalismus auch die Beiträge von Bix (2013); Nakano (2015). 240 Während DPJ-Politiker wie die ehemaligen Premiers Kan Naoto oder Noda Yoshihiko nach Fukushima als Befürworter des Abkommens auftraten, positionierte sich Abes LDP in der Opposition als Gegnerin des Beitritts. Abe nahm vor seiner Wiederwahl zum Premier 2012 auf die anfängliche Ablehnungshaltung seiner Partei gegenüber der Aufnahme von
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Diese Strategie zeigt auch, dass Abe aus seinen eigenen Fehlern und denen konservativer Vorgängerregierungen mit ähnlichen Absichten gelernt hat241. Seine Aura des Hardliners und „Machers“ wirkte auf weite Teile der Bevölkerung attraktiv, obwohl seine erste Amtszeit und die unabsehbaren mittel- bis langfristigen Folgen der schuldenbasierten Abenomics-Politik eigentlich größere Skepsis gegenüber seiner Person erwarten ließen. Mit populistischer Instrumentalisierung von Nationalismus zur Verwirklichung neoliberaler Ziele ist Abe dabei ein weiteres Beispiel dafür, dass Neoliberalismus und Nationalismus keineswegs einen Gegensatz bilden müssen. Wie auch Nakano Kôichi herausarbeitet242, hat sich in Japan vielmehr die Verbindung beider Ideologien zum neuen politischen Mainstream seit den 1980er Jahren immer klarer herauskristallisiert und unter Koizumi und Abe radikalisiert. Nakano attestiert der zweiten Abe-Regierung einen neoliberalen „Korporatismus“ (kigyôshugi), einen oligarchisch anmutenden Herrschaftsstil ihrer politischen und wirtschaftlichen Eliten, die einen „reaktionären Etatismus“ sowie die „Abkehr vom ‚Nachkriegsregime‘ der parlamentarischen Demokratie“ zur Folge hätten243. Gerade auch beim Thema TPP, bei dem Nakano den Druck der USA hinter der japanischen Aufnahme der Beitrittsverhandlungen sieht, die ihrerseits einen Bruch von LDP-Wahlversprechen der Nichtteilnahme darstellten, bemängelt der Politologe die Intransparenz, bei der weder die Wähler noch Parlamentarier die genauen Vertragsinhalte kennen, globale Unternehmen jedoch ihre Forderungen einbringen würden 244. Dabei wird immer wieder Abes Zögern deutlich, Japans internationale Position durch einen allzu krassen Nationalismus aufs Spiel zu setzen 245. Bei seinem Drahtseilakt treibt er konservative Kernprojekte wie die Verfassungsänderung äußerst Beitrittsverhandlungen zum TPP keinen entscheidenden Einfluss, nur um dann nach seiner Wahl die Aufnahme der Beitrittsgespräche entgegen den Wahlversprechen der LDP durchzusetzen. Für eine nähere Auseinandersetzung mit der TPP–Debatte vgl. z. B. den Beitrag von Mulgan (2014a). 241 Im Gespräch mit Hyakuta merkte Abe dazu selbstgefällig an, dass er durch seinen plötzlichen Rücktritt in seiner ersten Amtszeit dem Volk „Unannehmlichkeiten“ (meiwaku) bereitet habe und die Kritik an seiner zweiten Kandidatur anfangs groß gewesen sei, da auch in Wirtschaftskreisen die Meinung verbreitet war, dass die Zeit für Abes „Abkehr vom Nachkriegsregime“ wegen nicht ausreichender öffentlicher Zustimmung noch nicht reif sei. Abe ergänzte unbescheiden, er hätte nicht mehr schweigend mit ansehen können, wie Japan unter der Regierung der DPJ auf eine ungewisse Zukunft zugesteuert sei. Vgl. Abe/Hyakuta (2013), S. 17 – 20, 23. 242 Vgl. Nakano (2015). 243 Vgl. Nakano (2015), S. 154 f. 244 Vgl. Nakano (2015), S. 165. 245 Hier wurden von amerikanischer Seite auch immer wieder Bedenken an den Revisionismustendenzen der japanischen Regierung laut und wie Nakano schreibt, habe sich gezeigt, dass die Gefolgschaft Japans bei Wirtschafts- und Sicherheitsfragen kein Freibrief für den Geschichtsrevisionismus sei. Vgl. Nakano (2015), S. 166, 169.
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vorsichtig voran und versucht stattdessen über die Umwege des „proaktiven Pazifismus“ die Erfordernisse globaler Machtpolitik mit der Agenda seiner konservativen Unterstützer zu vereinen. Dies wird auch in seiner Vorgehensweise in Bezug auf Geschichtsfragen deutlich, was Gegenstand des folgenden Abschnitts ist. 7. Der offizielle Umgang mit Japans Kriegsschuld – per Schlingerkurs durch die Geschichte Der Umgang der japanischen Regierung mit der Vergangenheit erweist sich als äußerst ambivalent und widersprüchlich. Einerseits hat sich Japan in den letzten Jahren mehrfach offiziell für seine Kriegsvergangenheit entschuldigt. Hier sind insbesondere die Regierungserklärungen der Premiers Murayama von 1995 (Murayama danwa), Koizumi von 2005 (Koizumi danwa) oder auch Abe Shinzôs von 2015 (Abe danwa) anzuführen 246. Eine ähnlich wichtige Position nimmt auch die Stellungnahme des ehemaligen Kabinettssekretärs Kôno Yôhei von 1993 (Kôno danwa) in Bezug auf die „Trostfrauen“247 ( jugun ianfu) ein 248. Demgegenüber stehen jedoch Ereignisse wie die „Schulbuchaffäre“ in den 2000er Jahren oder der Umgang mit dem Thema Yasukuni-Schrein, die das Geschichtsbild der Regierung immer wieder in Zweifel ziehen lassen. Koizumi und Abe, die sich einerseits für Japans Kriegsschuld entschuldigen, besuchten andererseits den Yasukuni-Schrein in ihrer offiziellen Funktion als Premierminister. Beim Thema Yasukuni war zumindest Abes Haltung lange Zeit unklar. Er zeigte sich zwar stets als Befürworter des Schreins249, zögerte jedoch lange Jahre, eindeutig Position zu beziehen, ob er diesen selbst jemals als Premier offiziell besuchen würde250, was er dann schließlich im Dezember 2013 tat251. Dies kann ebenso als ein MOFA (1995); Kantei (2005); Kantei (2015). diesem Euphemismus werden Zwangsprostituierte bezeichnet, die den japanischen Truppen während des Krieges zu Diensten sein mussten. Ihre Zahl wird im sechsstelligen Bereich angesetzt. Die meisten von ihnen waren dabei koreanischer Herkunft. Vgl. Tanaka (2002). 248 Die Kôno danwa bestätigt den zwanghaften Charakter des „Trostfrauen“-Systems und die Beteiligung des japanischen Militärs hierbei. Vgl. MOFA (1993). 249 Er betonte jedoch, dass Yasukuni vergleichbar mit dem Nationalfriedhof von Arlington sei, und es weniger darum ginge, was die im Schrein verehrten Seelen gedacht hätten, sondern alleine, dass diese für ihr Land gestorben seien. So seien in Arlington auch Gefallene der Südstaaten aus dem amerikanischen Sezessionskrieg beerdigt, was nicht bedeute, dass man für die Sklaverei eintrete. Solche Geschichtsfragen solle man lieber den Historikern überlassen. Vgl. Abe/Tahara (2013), S. 17; Abe/Shinohara (2013), S. 23. 250 In seiner ersten Amtszeit als Premierminister hatte Abe den Yasukuni-Schrein nicht offiziell besucht. Dies war laut Stockwin vor allem den sich zu dieser Zeit verschlechternden Beziehungen zu China geschuldet. Um deren Bedeutung zu betonen, besuchte Abe bereits kurz nach seinem ersten Amtsantritt 2006 China offiziell. Vgl. Stockwin (2007), S. 229. 251 In seiner offiziellen Stellungnahme zum Schreinbesuch erklärte er, dass von Japan niemals mehr ein Krieg ausgehen dürfe. Japan müsse zudem freundschaftliche Beziehungen 246
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Zugeständnis an seine konservativen Unterstützer gesehen werden, die zwischenzeitlich schon Grund gehabt hatten, an seiner Haltung zu zweifeln. Auf weitere Besuche, insbesondere zu den symbolträchtigen Jahrestagen des Kriegsendes am 15. August, verzichtete er jedoch. Abe steht beispielhaft für den jahrelangen Schlingerkurs japanischer Regierungen. In seiner Regierungserklärung252 zum 70. Jahrestag des Kriegsendes übernahm er die Position seiner Vorgänger in Bezug auf Japans Kriegsverantwortung und betonte, dass das Land damals den falschen Weg eingeschlagen habe, wobei er auch den Begriff der „Invasion“ (shinryaku) verwendet, der von Konservativen oft abgelehnt wird. Zudem warnte er davor, die Geschichte aus politischen Motiven zu verzerren. Gleichzeitig hob er hervor, dass man, wo doch die Mehrheit der Bevölkerung nach dem Krieg geboren sei und direkt keine Schuld auf sich geladen habe, sich nicht ewig entschuldigen könne – eine Position, die auch in der Bevölkerung anschlussfähig ist253. Trotz der vorgebrachten Kritik an seiner Erklärung254 zeigt sich hier erneut, dass Abe das japanische Ansehen nicht durch übermäßigen Nationalismus gefährdet, denn sein Verhalten im Vorfeld zu seiner Rede ließ einen ganz anderen Text befürchten. So hat er nicht nur mit relativierenden Aussagen wie „Es gibt keine wissenschaftlich oder international festgelegte Definition für Invasion“255 von sich reden gemacht, sondern zeigte auch eine ambivalente Haltung gegenüber den offiziellen Stellungnahmen von Kôno und Murayama. Wenn er nicht das Amt des Premiers bekleidete, sprach er sich für eine Revision bzw. Annullierung dieser Erklärungen aus, was ihm den Beifall seiner rechten Unterstützer eintrug, während seiner Amtszeiten als Premier versprach Abe dann allerdings sie unangetastet zu lassen 256. Im Hinblick auf die in konservativen Kreisen als besonders unbequem empfundene Erklärung von Kôno von 1993, die die Verstrickung des japanischen Militärs zu Asien und den Ländern weltweit führen, um den Weltfrieden zu realisieren. Vgl. MOFA (2013). Umfragen zeigten eine eher negative Haltung gegenüber Abes Besuch. Laut Sankei Shinbun und Fuji News Network lag die Ablehnung bei 53 % gegenüber 38 % Zustimmung. Als Hauptgrund für die Ablehnung wurde mangelndes außenpolitisches Gespür genannt. http://www.sankei.com/politics/news/140106/plt1401060023-n1.html (Zugriff:20. 06. 2016). 252 Kantei (2015). 253 Vgl. hierzu eine Umfrage der Yomiuri Shinbun vom 18. August 2015 bei der eine Mehrheit Abes Erklärung und auch seine Entschuldigung positiv bewertete, aber ebenfalls 63 % der Meinung waren, dass Japan sich nicht weiter entschuldigen solle. Yomiuri Shinbun (2015a). 254 Die Asahi Shinbun bemängelte beispielsweise, dass Abe nur die Formulierungen von Murayama und Koizumi zitiert habe, seine Formulierungen indirekt gehalten seien und sein persönliches Geschichtsverständnis unklar bleibe. Asahi Shinbun (2015c). 255 Shimizu (2014); vgl. auch http://www.shugiin.go.jp/internet/itdb_shitsumon.nsf/ html/shitsumon/a183076.htm (Zugriff: 20. 06. 2016). 256 Yoshida (2013); Gustafsson (2013); Narusawa (2013).
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bei der zwangsweisen Rekrutierung der „Trostfrauen“ bestätigt, wählte Abe letztlich einen eigenwilligen Schlingerkurs, indem er versprach, Kônos Stellungnahme intakt zu lassen, gleichzeitig aber 2014 deren Überprüfung durch ein von der Regierung eingesetztes Team von Wissenschaftlern 257 anordnete, durch die Zweifel an der Kôno danwa gestreut werden sollten 258. Damit konnte er seinen konservativen Unterstützern einerseits suggerieren, für das Reinwaschen japanischer Geschichte einzutreten, ohne andererseits außenpolitisch irreparable Schäden anzurichten. Hier kam den Konservativen zusätzlich auch der Skandal von auf falschen Zeugenaussagen basierenden Artikeln der Asahi Shinbun entgegen, der in der Folge dergestalt instrumentalisiert wurde, dass die „Trostfrauen“ keinerlei Zwang ausgesetzt gewesen sein sollen 259, wobei die japanische Regierung anschließend sogar versuchte, Druck auf die UNO auszuüben und sie zur Revision eines Reports zum Thema zu bewegen 260. Wie Nakano Kôichi schreibt, hätten konservative Medien wie Yomiuri Shinbun oder Sankei Shinbun auf manipulative Weise versucht, den Eindruck zu erwecken, dass „die ‚Trostfrauen‘-Frage an sich“ eine „Erfindung (netsuzô) von Asahi Shinbun“ gewesen sei und so zu einer Schwächung der linksliberalen Zeitung beigetragen 261. Auch Abe nutzte die Chance, sich einzumischen und die Berichterstattung der Asahi Shinbun zu kritisieren 262. Diese mehr oder weniger dosierten nationalistischen und revisionistischen Auswüchse signalisieren zweifelsohne das neuerliche Erstarken eines selbstbewusste257 Dem Untersuchungsteam gehörte mit Hata Ikuhiko (*1932) nur ein Historiker an, der mit seinem Werk in einer Grauzone aus schlicht konservativen und revisionistischen Sichtweisen zu verorten ist. Der Abschlussbericht der Wissenschaftler ist online einsehbar: http:// www.kantei.go.jp/jp/kakugikettei/2014/__icsFiles/afieldfile/2014/06/20/20140620houko kusho_2.pdf (Zugriff: 20. 06. 2016). 258 Die Untersuchung befasste sich dabei weniger mit der geschichtlichen Richtigkeit hinter Kônos Stellungnahme, sondern vielmehr, wie diese zustande kam. Dabei kommt der Abschlussbericht zu dem Ergebnis, dass Teile des Statements von Kôno das Ergebnis von Verhandlungen mit Südkorea waren. Vgl. auch Fackler (2014c). Wie der Historiker und Experte des Themenbereiches Yoshimi Yoshiaki (*1946) aufzeigt, hat der Abschlussreport, obwohl er einerseits Ungenauigkeiten bzw. fehlende Beweise für die Aussagen der Kôno danwa suggeriert, andererseits relevantes, Kônos Stellungnahme unterstützendes Material schlicht ignoriert. Vgl. Yoshimi (2014), S. 111 f.; vgl. auch Nakano (2015), S. 166. 259 Ende 2014 stellte sich heraus, dass Artikel der Asahi Shinbun zur „Trostfrauen“-Thematik aus den 1980er und 1990er Jahren, die die zwanghafte Rekrutierung von „Trostfrauen“ belegen sollten, mutmaßlich auf den Falschaussagen des Zeugen Yoshida Seiji (2013 – 2000) basierten. Konservative Zeitungen wie die Yomiuri Shinbun entschuldigten sich gar dafür, in früheren Berichten den Begriff „Sexsklaven“ verwendet zu haben und äußerten ihre Zweifel am zwanghaften Charakter des „Trostfrauen“-Systems. Vgl. Soble (2014). 260 Vgl. Nakano (2015), S. 166 f. Der besagte UNO-Report von 1996 geht auch auf die Aussagen von Yoshida Seiji ein, die sich im Rahmen der Asahi-Affäre als falsch herausstellten. Der Originalreport ist abrufbar unter: http://www1.umn.edu/humanrts/commission/country52/53-add1.htm (Zugriff: 20. 06. 2016). 261 Nakano (2015), S. 156. 262 Soble (2014).
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ren, politischen Nationalismus in Japan und bedienen so die konservativen Wünsche, wurden von Abe aber bislang nicht so weit getrieben, dass sie seine generell neoliberalistisch ausgerichtete Agenda bzw. das internationale Ansehen Japans entscheidend gefährden könnten. Im Gegenteil, die Abe-Administration hat in Geschichtsfragen durchaus auch positive Akzente vorzuweisen. Unter Außenminister Kishida wurde Ende 2015 ein weitreichendes Abkommen mit Südkorea zur Beilegung der „Trostfrauenfrage“ verabschiedet263. Auch mit den USA wurde die Aussöhnung vorangetrieben. Barack Obama besuchte 2016 als erster amtierender US-Präsident Hiroshima und Abe im Gegenzug Pearl Harbor, wobei beide Seiten allerdings auf Entschuldigungen verzichteten 264.
II. Nationalismus in den Diskursbeiträgen japanischer Spitzenpolitiker 1. Ozawa Ichirô – ein nationales Projekt zur Rettung Japans Im Folgenden sollen die Diskursbeiträge dreier hochrangiger Politiker der letzten Jahre vorgestellt werden. Den Anfang macht Ozawa Ichirô (früher LDP, später DPJ), ein Urgestein der japanischen Politik, der auf eine lange Karriere in hohen Partei- und Regierungsämtern zurückblicken kann. Zwar war er selbst nie Premierminister, bewerkstelligte es jedoch – zumeist eher aus dem Hintergrund agierend 265 – seinen Einfluss geltend zu machen. Wie gesehen, ist er als ein Schlüsselstratege des japanischen Neokonservatismus ab den 1990ern zu betrachten, der außenpolitischen Realismus und neoliberale Reformen einer entbürokratisierten, „kleinen Regierung“ verbindet266. Doak erkennt bei Ozawa eine starke Betonung von Prinzipien des „bürgerlichen Nationalismus“ (civic nationalism) und einer stärkeren Selbstständigkeit der Bürger, mit denen der Politiker bei gleichzeitiger Ablehnung eines ethnisch konnotierten Nationalismus dem Problem eines weitgehend vom Staat abgekoppelten, populären Nationalismus begegnen wollte267.
263 Darin wurde die Beteiligung des japanischen Militärs eingeräumt und neben einer Entschuldigung Abes wurde die Gründung eines Fonds beschlossen, der der Unterstützung ehemaliger Trostfrauen dienen soll. http://www.mofa.go.jp/a_o/na/kr/page4e_000364.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 264 Auch hier zeigte sich erneut die ambivalente Politik der japanischen Regierung, indem die damalige Verteidigungsministerin Inada Tomomi nur zwei Tage nach ihrem gemeinsamen Besuch mit Abe in Pearl Harbor den Yasukuni-Schrein am 29. Dezember 2016 besuchte. https://www.washingtonpost.com/world/japans-defense-minister-visits-yasukuni-afterpearl-harbor/2016/12/29/79119c84-ce02 – 11e6-b8a2 – 8c2a61b0436f_story.html?utm_ term=.4ae3897287ba (Zugriff: 30. 12. 2016). 265 Vgl. z. B. den Beitrag von Shinoda (2004) für eine Analyse von Ozawas Rolle in Japans Außenpolitik ab Ende der 1980er Jahre. 266 Vgl. zu Ozawa auch Ôtake (2003). 267 Vgl. Doak (2007), S. 269 f.
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Ozawa stellte das Thema „Leadership“ ins Zentrum seines Buches Ozawashugi – kokorozashi o mote, nihonjin (Ozawaismus – habt einen Willen, Japaner!)268. Sein Einsatz des Nationalismus wirkt dabei eher etwas hölzern. Ozawa kritisiert einen Mangel an Führungsstärke, der Japans Gesellschaft an den Rand des Zusammenbruchs gebracht habe. Das Land befinde sich durch Probleme in Wirtschaft, Erziehung und Politik in einer schweren Krise269. Die Hauptursache für einen von ihm konstatierten Verlust der Moral, für Skandale und Kriminalität sieht Ozawa im Verlust der Erziehung, wobei er den Eltern vorwirft, ihre Kinder „zu weich“ zu erziehen. Die Wurzeln dieser Fehlentwicklung erkennt er in einem falsch verstandenen, „disziplinlosen“ Liberalismus und Individualismus in der Nachkriegszeit. Durch die Kriegsniederlage habe Japan seine Wertesicht komplett verloren. Wenn sich diese Probleme verstärkten, würde die japanische Gesellschaft gar komplett zerstört270. Ozawa sieht Parallelen zur Bakumatsu-Zeit (an anderer Stelle zur Taishô-Zeit) und leitet aus der 200-jährigen, stabilen Herrschaft der Edô-Zeit die Folgerung ab, dass diese gar nicht so schlecht gewesen sein könne. Ein undemokratisches, feudales System derart zu loben, legt freilich Widersprüche in seiner Argumentation offen. Einerseits bemängelt er, Japan sei keine echte Demokratie, und seit der Edô-Zeit hinge das Volk einem Obrigkeitsglauben an, weswegen man eine Revolution fordern müsse, in der das Volk die Politik bestimme. Andererseits kritisiert er die „Nachkriegs-Konsensgesellschaft“271, in der alle mitentscheiden, aber niemand Verantwortung trage. Daraus könnten ihm zufolge keine Leader hervorgehen 272. Als Konsequenz aus diesen historischen Vergleichen ergibt sich für Ozawa, dass Japan eine Restauration wie zur Meiji-Zeit benötige und sich in diesem Sinne auch wie damals ein „nationales Projekt“ wiederholen müsse. Er drängt auf schnelle Ozawa (2009). Ozawa (2009), S. 10. 270 Ebd., S. 170. 271 Aufgrund des Nachkriegssystems, in dem die Hauptaufgabe der Bürokratie ihm zufolge in der Verteilung von Wohlstand bestand, seien keine „richtigen“ Politiker mit politischer Führungsstärke nötig gewesen (auch bedingt durch den Schutz der USA). Die japanische Gesellschaft sei „traditionell“ eine Konsensgesellschaft, in der Widerspruch nicht gewünscht sei. Über dieses Nachkriegssystem weiß Ozawa zu berichten, dass das alliierte Oberkommando (GHQ) natürlich Japan demokratisieren wollte, aber er gibt zu bedenken, dass es das Ziel des GHQ gewesen sei, ein erstarkendes Japan zu verhindern. Mit dieser Lesart ist er den üblichen konservativen Positionen etwa eines Abe Shinzô sehr nahe. Vgl. Ozawa (2009), S. 57 ff. 272 Ebd., S. 117 f. Nicht weniger abstrus erscheint es, wenn Ozawa Japans Mangel an Führungsstärke geographisch deuten will. Japan sei durch seine Lage, durch seine Berge und das Klima geschützt, reich und fruchtbar. Deswegen seien in der Jômon- (10.000 bis 300 v. Chr.) und Yayoi-Zeit (300 v. Chr. – 300 n. Chr.) so viele verschiedene Völker nach Japan gekommen. In einem solchen Land seien keine Leader nötig, anders als in China oder in den USA, wo es immer die Gefahr von Aufständen und Grenzverletzungen gebe. Ebd., S. 74 – 75. 268 269
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Reformen, da Japan bis zum „Untergang“ nicht viel Zeit bliebe. Diese Reformen würden jedoch durch das Nachkriegssystem (inklusive Verfassung) blockiert273, weswegen zu seinem Programm auch die Revision der Verfassung gehört. Was Japan jedoch konkret für ein Projekt braucht, wird allenfalls zwischen den Zeilen erkennbar; eine echte Vision hat Ozawa nicht. Zudem beansprucht Ozawas Führungsfigur besondere Handlungsfreiheit. Denn es sei wichtig, dass man ihr alles anvertraue, und auch die Medien ihr hinreichende Zeit gäben274. Japaner glaubten leicht, ein Leader sei ein Diktator, aber dieser sei nur eine Fälschung von Ersterem. Nach Ozawa wolle ein Leader seine Untertanen nur glücklich machen 275, was freilich die meisten Diktatoren auch selbst glauben. Sein problematisches Verhältnis zur Geschichte wird auch an anderer Stelle deutlich: So fordert er zwar, dass Leader einen Blick für die Geschichte haben müssten, um Fehler nicht zu wiederholen, aber denjenigen, denen Geschichtsbücher zu schwierig sein sollten, die Geschichtsromane von Shiba Ryôtarô als vollwertige Alternative nahelegt276. Auch den japanischen Imperialismus in Japan reduziert Ozawa auf eine angebliche Schwäche der seinerzeitigen japanischen Diplomatie: Da die internationalen Probleme damals nicht gelöst werden konnten, sei es zum Krieg gekommen. Heute gebe es als Spätfolge daraus dank eines „Nachkriegsdenkstopps“ einen Diplomatie-Mangel277. Hinsichtlich Japans internationaler Rolle bleibt er weitestgehend seiner Marschroute aus den 1990ern treu. So erneuert er seine Forderungen einer weiteren Liberalisierung, indem man Vertrauen in die eigenen Produkte und deren Wettbewerbsfähigkeit haben müsse278. Zudem merkt er an, dass Japan für die USA nach dem Kalten Krieg nicht mehr so wichtig sei, weswegen das Land wieder das selbstständige Denken lernen müsse279. Dabei kritisiert er Koizumis Außenpolitik gegenüber dem Irak und Ostasien. Die SDF seien zweifellos eine Armee, und wenn man sie ins Ausland schicke, müsse man eine gute Erklärung parat haben, um den Verdacht auszuräumen, dass Japan in alte Muster zurückfalle280. Koizumi habe auf rechtlich dürftiger Grundlage gehandelt, und auch in der Yasukuni-Frage müssten seine Beweggründe verständlicher werden, wenn man den Schrein unbedingt besuchen wolle281. Generell, so heißt es weiter, müsse man überlegen, was Japan für die Welt tun könne. Für die UNO solle das Land als Vorreiter ein von den SDF unabhängiges 273
Ebd., S. 73. Ebd., S. 73. 275 Ozawa (2009). 276 Ebd., S. 135 f. 277 Ebd., S. 145. 278 Ozawa (2009), S. 34 f. 279 Ebd., S. 144. 280 Ebd., S. 148 f. 281 Ebd., S. 151. 274
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Militärkontingent bereitstellen. Auf diese Weise würde es keine Probleme mit der Verfassung und Japans Geschichte geben, und das Land könne mithin Beiträge für den Weltfrieden leisten 282. Zweifel an dem von Ozawa propagierten (militärischen) Einsatz für den Weltfrieden sind indes durchaus angebracht, wenn er an anderer Stelle anmerkt, dass Japan problemlos auch Atomwaffen anschaffen könne, wenn der Druck Chinas entsprechend stark werde283. Wie erwähnt, erklärt Ozawa zwar das Bildungssystem für gescheitert, kritisiert aber auch Abes Reformen hin zu einer Patriotismuserziehung in den Schulen. Man könne das Problem nicht lösen, indem man das Wort Patriotismus einfach hinschreibe. Dieser entstehe nicht qua Gesetz, sondern ganz natürlich durch die richtige Erziehung und Disziplin. Menschen, die Familie, Freunde und ihre Gemeinschaft nicht liebten, könnten auch ihr Land nicht lieben. Bevor man über Patriotismus spreche, müsse man also zunächst über Familie und Freunde nachdenken 284. Der Krieg habe bewiesen, dass ein Patriotismus von oben nicht fruchte. Wahrer Patriotismus entstehe vielmehr ganz natürlich im Alltag. Während Amerikaner und Briten allerdings glaubten, sie hätten die Gesellschaft selbst gemacht, glaubten Japaner sie sei „von oben“ geformt worden, weshalb der Feind auch „oben“ zu suchen sei285. 2. Abe Shinzô – Die „Befreiung vom Nachkriegsregime“ Abe Shinzô286 (LDP), bereits von September 2006 bis September 2007 Premierminister Japans, startete im Dezember 2012 erneut als großer Hoffnungsträger der Konservativen in seine zweite Amtszeit. Der Slogan seiner damaligen Wahlkampagne lautete „Japan zurückgewinnen“ (Nihon o torimodosu), der sich in der Folge als Kampfschrei der Konservativen ausbreitete und zum Synonym ihrer reaktionären Politik wurde, die „Stolz“ und „Macht“ Japans wiederherstellen soll. In seinem Wahlkampfpamphlet erklärte es Abe zum folgerichtigen Ziel, nicht nur ein freundliches (yasashii), sondern auch „vitales Japan“ (takumashii Nihon) zu schaffen, auf das man „stolz sein“ kann (hokori aru Nihon) – mithin ein ganz „neues Japan“ (atarashii Nihon o tsukurou)287. Ozawa (2009), S. 158 – 162. Berkofsky (2012), S. 162. 284 Ebd., S. 182. 285 Ebd., S. 186. 286 Abe stammt aus einer Politikerdynastie. Sein Vater Abe Shintarô (LDP, 1924 – 1991) war Außenminister in der Regierung von Nakasone Yasuhiro. Sein Großvater ist der ehemalige Premier Kishi Nobosuke (1896 – 1987), der aufgrund seiner Rolle während des Zweiten Weltkriegs zwischenzeitlich als Klasse-A-Kriegsverbrecher geführt wurde. Der frühere Premier und Friedensnobelpreisträger Satô Eisaku (1901 – 1975) ist zudem Abe Shinzôs Großonkel. Abe schreibt über seinen Großvater Kishi und die Kritik an ihm, dass dieser immer ein aufrichtiger Politiker gewesen sei, der sich stets über die Zukunft des Landes Gedanken gemacht habe. Vgl. Abe (2006), S. 24. 282
283 Vgl.
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In seiner Internetpräsenz288 gibt sich Abe als aktiver, weltgewandter und gleichzeitig volksnaher Staatsmann. Als die drei Hauptbereiche seines politischen Engagements gibt er Außenpolitik, Erziehungsreformen sowie die Reform der japanischen Verfassung an. Der Wahlspruch, mit dem Abe die Besucher empfängt, lautet „das schöne Land Japan“ (Utskushii kuni, Nihon). Unter dem leicht abgewandelten Titel „Auf in ein schönes Land“ (Utsukushii kuni e) gelang ihm 2006 ein vielbeachteter Bestseller. Der letzte Absatz des Buches fasst seine Marschrichtung treffend zusammen: „Mein Land Japan ist von einer schönen Natur gesegnet, es ist ein Land, das eine lange Geschichte und eine eigenständige Kultur besitzt“289. Und es heißt weiter: „Eher als sich aufgrund seines Japanerseins in Demut zu üben, sollte man stolz sein und hart arbeiten, um einen Weg in die Zukunft zu bahnen“290. 287
Abseits solcher konservativer Klischees gibt sich Abe über weite Strecken als klassischer Nationalist, als Typus, der auch im japanischen Politikbetrieb in dieser Form zwischenzeitlich rar geworden war. Er gilt manchem Beobachter sogar als eine zentrale Figur hinter dem Erstarken des gegenwärtigen Geschichtsrevisionismus291. Dem Thema Nationalismus widmet Abe dazu passend ein gesondertes Kapitel mit dem Titel „Was ist Nationalismus?“. Darin versucht er, eine „Natürlichkeit“ nationalen Denkens abzuleiten und dieses vor allem auch im Vergleich zum Nationalismus in anderen Ländern als „natürlich“, „nötig“ und „unausweichlich“ darzustellen. Abe zufolge, könne man kein Individuum von der Kultur, Geschichte und Tradition seiner regionalen Gemeinschaft, in der er geboren und aufgewachsen sei, losschneiden, womit er auch einen unausweichlichen Bezug zum Staat herzustellen versucht292. Der Staat wird bei Abe dabei nicht nur zur zwangsläufigen Erweiterung lokaler Gemeinschaft oder „Heimat“, sondern auch zur Verlängerung der eigenen „Familie“. Zur Grundlage der eigenen Existenz wird es somit, sein Land und seine Familie zu beschützen und damit auch die Geschichte der Heimatregion, in der die eigene Existenz eingeschrieben sei293. Abes Versuch, das schlechte Image des Staates im Nachkriegsjapan zu revidieren, nähert sich so graduell einem Ethnonationalismus an, der Abstammung und Territorium betont294. Dieser hat bei ihm zwar einen weltoffenen Anstrich und steht mit seiner gleichzeitigen (zumindest theoretischen) Betonung von Demokratie und Menschenrechten nicht zwangsläufig im Verdacht 287
http://jimin.ncss.nifty.com/pdf/seisaku_ichiban24.pdf (Zugriff: 20. 06. 2016). http://www.s-abe.or.jp/ (Zugriff: 20. 06. 2016). 289 Abe (2006), S. 228. 290 Ebd., S. 228. 291 Vgl. Saaler (2016), S. 175 f. 292 Abe (2006), S. 96. 293 Ebd., S. 96. 294 Kevin Doak sieht bei Abe jedoch einen civic nationalism am Werk, was er u.a. an Abes Gebrauch des Wortes kokumin=bürgerliche Nation (anstatt minzoku=ethnische Nation) festmacht. Vgl. Doak (2007), S. 271 f. 288
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imperialistischer Ziele, gleichwohl lässt sich sein Konstrukt aber durchaus im Sinne eines nationalistischen „Nebeneinander der Nationen“ interpretieren, wobei er für Japan freilich eine Führungsposition anstrebt. Diese Führungsrolle, auf die seine Vision vom schönen, neuen Japan hinausläuft, ist indes durch einige Hindernisse verstellt, insbesondere die Nachkriegsverfassung. Diese repräsentiert für Abe nicht nur eine unter der amerikanischen Besatzung entstandene Ordnung, sondern sei auch den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts schlicht nicht mehr gewachsen 295. Mit seinem Wahlspruch „Befreiung vom Nachkriegsregime“ (sengo-rejîmu kara no dakkyaku), strebt er nicht nur eine Revision des Geschichtsbildes an, das auf Japans Kriegsschuld pocht, sondern auch eine neue Verfassung, die sich die Japaner selbst geben, wodurch auch international größere Handlungsspielräume ermöglicht werden sollen. Seine Politik „nationaler Interessen“ beinhaltet dabei auch verstärkte Beiträge zur „internationalen Gemeinschaft“296. Während Abe hierbei nicht zwangsläufig militärische Beiträge Japans im Vordergrund sieht, so sollen die Voraussetzungen hierfür durch das „kollektive Selbstverteidigungsrecht“ bzw. die tatsächliche Verfassungsreform geschaffen werden. Außenpolitisch sieht Abe keine Alternative zur Fortsetzung der japanisch-amerikanischen Allianz. Jedoch hat er speziell in seiner zweiten Amtszeit vermehrt versucht, die Kooperation mit den ASEAN-Staaten zu stärken sowie auch darüber hinaus alternative Partner zu finden 297. Er strebt hier eine „Außenpolitik der Werte“ (kachikan gaikô) an, mit der er in der Welt allgemein und in Asien speziell Demokratie, Grundrechte und Freiheit propagieren möchte298. Dass Japans Führerschaft in Asien angeblich auch ein Wunsch der asiatischen Jugend sei, diskutiert Abe in einem Gesprächsband mit dem rechtslastigen Bestseller-Romancier und Abe-Verehrer Hyakuta Naoki299 (*1956), der die Vision der beiden mit „Japan, blühe inmitten der Welt in all deiner Pracht“ (Nihon yo, sekai no man’naka de sakihokore) euphorisch umreißt300. Hyakuta sorgte in der Vergangenheit durch 295
Vgl. https://www.s-abe.or.jp/policy/consutitution_policy (Zugriff: 20. 06. 2016). Vgl. Abes Homepage zu diesem Punkt: http://www.s-abe.or.jp/policy/foreign_policy (Zugriff: 20. 06. 2016). 297 Sein Blick auf die südostasiatischen Staaten ist einerseits damit zu erklären, dass er auf diese Weise ein regionales Gegenwicht zu den wachsenden Ansprüchen Chinas auf die Führungsposition in Ostasien aufbauen könnte, andererseits hat diese Allianz den Vorteil, dass Geschichtsprobleme im Verhältnis zu diesen Staaten im Gegensatz zu den Nachbarn China und Südkorea eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielen. 298 Mito wirft Abe jedoch vor, insbesondere im Zuge seiner Verfassungsänderungspläne das Ziel verfolgt zu haben, zusammen mit seinen konservativen Unterstützern verfassungsrechtlich garantierte Bürgerrechte zu beschneiden und die Macht des Staates zu stärken. Vgl. Mito (2008), S. 62. 299 Hyakuta hatte insbesondere mit seinem 2006 erschienenen und 2013 mit großem Erfolg verfilmten Roman Eien no zero („The Eternal Zero“) enormen Erfolg, wobei er in seiner Erzählung die Kamikaze-Flieger-Thematik verklärt. 296
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die Leugnung des Nanking-Massakers oder seine Unterstützung des Rechten Tamogami Toshio (vgl. auch Kap. D.) bei den Gouverneurswahlen von Tôkyô 2014 für Aufsehen301. 300
Abe und die ihm gleichgesinnten Konservativen versuchen einen solchen ideologischen Führungsanspruch Japans auch historisch abzusichern, indem negative Geschichtskapitel positiv umgedeutet werden. Wie in seinem bisherigen politischen Schaffen deutlich wurde, geht es ihm primär darum, den Stolz auf das eigene Land zu reaktivieren, wobei Revisionismus in der Beurteilung von Japans Rolle im Zweiten Weltkrieg deutlich spürbar wird302. In Bezug auf Japans Kriegsvergangenheit betont Abe, dass man auch eine Verantwortung den Menschen gegenüber habe, die früher gelebt hätten. Er hege Zweifel, ob man die Geschichte einfach in Gut und Böse einteilen könne. Da er in Japan geboren und aufgewachsen sei, möchte er Vertrauen in sein Land haben. Er empfiehlt daher, aus der Sicht des damaligen Volkes die Geschichte nochmals unbefangen zu überprüfen303. Bei diesem Ansatz bleiben kontroverse Resultate nicht aus, und die Tatsache, dass das von ihm kritisierte, „masochistische Geschichtsbild“ gerade von jenen mitgeformt wurde, die den Krieg aktiv erlebt haben, muss in seiner Argumentation freilich konsequent ausgeblendet werden. Abes Relativierung japanischer Kriegsschuld offenbart dabei einen wichtigen Mechanismus des Revisionismus-Mainstream, nämlich sich zum Anwalt eines undemokratischen und imperialistischen Systems zu machen304, obwohl Akteure wie Abe gleichzeitig die demokratische Stabilität des heutigen Japan preisen. „Stolz auf Japan“ kann anscheinend nicht ohne eine geschichtliche Kontinuität gedacht werden, in der sich „dunkle Kapitel“ zwangsläufig zu „guten Kapiteln“ wandeln müssen. Und so hat auch in Abes Fantasie vom „schönen Land“ alles „Hässliche“ zu verschwinden. Dazu gehört seine Verklärung von Kamikaze-Piloten, die ihm zufolge daran glaubten, dass Japan ein reiches Land werde und Frieden herrsche, wenn sie den Krieg gewönnen. Sie seien in den Kampf gezogen, um ihr „geliebtes Land“ und ihre Familie zu beschützen. Und so scheint eines ganz sicher: „Im Anblick des Todes, dachten sie [die Kamikaze-Piloten] an die Menschen, die sie lieben, und hofften, dass die ewige Geschichte Japans weitergehen möge“305.
300 Vgl. Abe/Hyakuta (2013), S. 175 ff. Vgl. zu Abe und Hyakuta auch Saaler (2016), S. 177. 301 Vgl. auch Saaler (2016), S. 177. 302 Der Japanologe Stockwin schreibt hierzu: „Abe’s priorities are much closer to those of post-war revisionism, harking back to a rather mythical Japanese past (Japan as a ‚beautiful country‘), and taking aim at the 1946 Constitution and the Occupation period law on education. (…) There is more than a hint of nihonjinron-type thinking in Abe’s ideological outlook“. Stockwin (2007), S. 228. 303 Abe (2006), S. 26. 304 Vgl. hierzu Ueno (2004). 305 Abe (2006), S. 107.
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Nach Abes eigentümlicher Interpretation, dass Japans heutiger Reichtum auf den „kostbaren Leben“ der Kamikaze-Flieger aufgebaut sei306, war der japanische Faschismus gewissermaßen eine „Voraussetzung“ für den heutigen Reichtum und hatte somit implizit „etwas Gutes“. Auch im Gespräch mit Hyakuta macht Abe aus seiner Bewunderung der Kamikaze-Piloten keinen Hehl. Er lobt den Schriftsteller als jemanden, der in seinen Romanen die Thematik des sich für den Anderen Aufopfernden beschreibe, ein Gefühl, das ihn selbst in seinem politischen Leben begleite307. Solche Beschönigungen japanischer Gewaltgeschichte erscheinen auch deshalb dubios, weil bei den einseitigen Schilderungen in Abes Bestseller mit keinem Wort zur Sprache kommt, um was es in diesem Krieg eigentlich ging. Dies erweist sich als problematisch, weil der Krieg so dem Unwissenden weniger als Aggression, sondern eher als heroischer „Verteidigungskrieg“ gegen eine unbekannte, Japan bedrohende Macht erscheint. In Abes Darstellung wird Japans Kriegsschuld und dem ultranationalistischen System des Landes zur Kriegszeit keine weitere Aufmerksamkeit gewidmet. Bei gleichzeitiger Betonung und Verklärung der Rolle des Tennô, die sich nahe am kokutai308 bewegt („Der Tennô betet fürs Volk“, „Das Tenno-System ist die Wurzel des japanischen ‚Nationalcharakters‘“309) und der vermeintlich alternativlosen Verwurzelung des Individuums in regionalen Gemeinschaften, konstruiert Abe das Bild einer „Schicksalsgemeinschaft“, die durch Traditionen, Geschichte und Kultur zwangsläufig, „natürlich“ und im Grunde „unausweichlich“ miteinander verbunden sein soll. Für die gesellschaftliche Installation solcher „Werte“ ist freilich das Erziehungssystem von zentraler Bedeutung, weswegen Abes Reformen, die während seiner ersten Amtszeit Patriotismus zum Gegenstand des Schulunterrichts werden ließen, besondere Aufmerksamkeit verdienen. Neben einem Ende der „Kuschelpädagogik“ (yutori kyôiku) fordert Abe eine stärkere Leistungsüberwachung, die eine Kontrolle von Lehrern und deren eventuelle Absetzung bedingt. Der „abgeschlossene Ort“ Schule soll sich öffnen, und Privatisierungen sollen mehr „Wettbewerb“ erreichen310. Ziel des Bildungssektors ist es für Abe neben der „Wiederherstellung von Moral“, ein „Volk zu erziehen, das einen Willen besitzt und einen Staat aufzubauen, der Würde hat (hinkaku aru kokka)“311. Mit Blick auf diese Maßnahmen scheint Abe in die Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit von „Heimatliebe“ und Nationalismus also selbst kein vollständiges 306 Ebd., S. 107. Eine ähnliche Bemerkung machte er auch anlässlich seines Besuchs am Yasukuni-Schrein, als er die im Schrein verehrten „Märtyrer der Showa-Ära“, die verurteilte Kriegsverbrecher umfassen, als Fundament für den heutigen Reichtum Japans bezeichnete. Asahi Shinbun (2014b). 307 Abe/Hyakuta (2013), S. 2. 308 Vgl. Abe (2006), Kap. A. 309 Ebd., S. 101, 104. 310 Abe (2006), S. 211. 311 Ebd., S. 207, 212.
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Vertrauen zu setzen, denn er schreibt auch: „Damit die Jugend das Land [kuni], in dem sie geboren und aufgewachsen ist, auf natürliche Weise lieben kann, muss bei der Erziehung und in der Region zunächst Heimatliebe [kyôdoai] ‚gezüchtet‘ [hagukumu] werden. Das Bewusstsein, zu einem Land zu gehören, wird dann in der Erweiterung dazu ‚gebraut‘ [ jôsei sareru]“312. Diese alchemistisch anmutende Rhetorik, die impliziert, dass die gewünschte Identität erst mühsam installiert werden muss, steht im Widerspruch zu ihrer angeblichen Natürlichkeit. Umso mehr muss sie sprachlich konstruiert werden, wenn Abe etwa am Beispiel des Sports aufzuzeigen versucht, dass es Dinge wie (nationale) Gemeinschaft gebe, die man nicht „kaufen“ könne313. Nicht nur an solchen Aussagen wird deutlich, dass Revisionismus und Nationalismus eher Werkzeuge der Verschleierung sind. Zum einen Revisionismus, um den im „Nachkriegsregime“ gewachsenen Bedenken gegen neue Großmachtambitionen ideologisch zu begegnen, zum anderen Nationalismus, um die sozialen Auswirkungen einer neoliberalen Agenda zu kaschieren. Abe ist wie Ozawa ein Verfechter von „Strukturreformen“ und fordert eine Gesellschaft des „fairen Wettbewerbs“, in der auch Verlierer immer wieder eine „neue Chance“ bekommen sollen (sai-charenji)314. In diesem Sinne wird der „Stolz auf Japan“ zum „ideologischen Strohhalm“, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten wachsender Differenzen ermöglichen soll315. Sowohl Ozawa als auch Abe verfolgen Ziele wie Verfassungs- und Erziehungsreformen, wobei ihre Absichten und Ausrichtungen dabei aber leicht differieren. Während Ozawa Japan schlicht international stärker positionieren will, ohne dabei unbedingt auf einen stark ideologischen Nationalismus zurückgreifen zu müssen, zeigt sich Abe als jemand, der einen wachsenden Machtanspruch Japans auch kulturell und nationalistisch herleiten möchte. Im Gegensatz zum nationalistischen Populismus eines Koizumi, der eher aufgesetzt wirkt, lässt sich bei Abe durchaus auch echte Überzeugung vermuten. Dennoch verfolgt auch Abe eine eigentümliche Mixtur aus Nationalismus und Neoliberalismus, die an seine politischen Vorbilder Margaret Thatcher und Ronald Reagan, aber auch an seine Vorgänger Nakasone oder Koizumi erinnert. Seine Vision von der „Abkehr vom Nachkriegsregime“ und der Schaffung eines „schönen Japan“ zielt letzten Endes auf eine internationale Führungsrolle des Landes ab, die auch militärische Handlungsfreiheit einschließt. Wie gesehen, pflegt Abe eine Ambivalenz, bei der er in Interviews und anderen Diskursbeiträgen japanische Kriegsschuld allein durch ihre Nichterwähnung beschönigt, offiziell jedoch an der Abe (2006), S. 95. Ebd., S. 220 ff. 314 Abe schreibt hierzu, es sei natürlich nicht der Sinn des Lebens, wirtschaftlich wohlhabend zu werden. Wenn man nicht regulär beschäftigt sei, hieße dies nicht unbedingt, dass man unglücklich werde. Wichtig sei ein Lebenssinn und Arbeit. Abe (2006), S. 226. 315 Vgl. auch Richter (2008c), S. 115. 312 313
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Linie der Vorgängerregierungen zu diesem Thema (bislang) festgehalten hat. Denn ein allzu offen nach außen gerichteter Nationalismus und Geschichtsrevisionismus würde international nicht akzeptiert werden und der Verwirklichung seiner Visionen eher im Wege stehen. 3. Asô Tarô – Japans neo-asianistischer Führungsanspruch Asô Tarô (*1940, LDP), Enkel des ehemaligen Premiers Yoshida Shigeru, wurde 2012 Vizepremier und Finanzminister in Abes Kabinett. Von September 2008 bis September 2009 war Asô als erster Katholik zudem selbst Premierminister, sorgte aber eher abseits des Amtes mit seiner Leseschwäche von Schriftzeichen oder seiner Liebe für Mangas für Aufsehen. 2013 machte er auch international mit der Äußerung von sich reden, Japan solle bei der Verfassungsrevision ähnlich klandestin vorgehen wie die Nazis bei der Änderung der Weimarer Verfassung, wie auch die Besuche japanischer Politiker am Yasukuni-Schrein im Geheimen vollzogen werden sollten316. In der Yasukuni-Frage schlug er zudem vor, dass auch der Tennô den Schrein besuchen solle, ein Vorgang, der nach 1978, als man euphemistisch als „Märtyrer der Shôwa-Ära“ bezeichnete Kriegsverbrecher in den Schrein aufnahm, nicht mehr stattgefunden hat317. Solche Aussagen lassen das Urteil von Hughes und Krauss verständlicher erscheinen, die ihn sogar noch rechtslastiger und nationalistischer als Abe einstufen318. Wie Abe und Ozawa propagiert Asô eine stärkere außenpolitische Rolle Japans, wobei er diese speziell in Asien sieht. Während Ozawa primär die amerikanisch-japanischen Beziehungen betont, wandte sich Abe in seiner zweiten Amtszeit zunehmend auch den Belangen in Asien zu. Eher noch stärker zeigt sich dieser asiatische Fokus bei Asô, der die Rolle westlicher Länder gelegentlich in den Hintergrund rückt. Er erklärte zwar, dass die USA in der Tagesordnung vor Asien rangieren319, sparte aber in der Vergangenheit auch nicht mit Kritik an den USA, als er z. B. die US-Besetzung des Irak als „naiv“ bezeichnete320. In seinem Buch „Großartiges Japan“ (Totetsu mo nai Nihon) von 2007 überschreibt Asô ein Kapitel sogar mit „Neuer Asianismus – Die Asô-Doktrin“ (Aratana Ajia-shugi – Asô dokutorin). Hier skizziert er eine Führungsrolle Japans in Asien, in der das Land zum Vorbild und Lehrmeister für andere Staaten werden soll – eine geschichtlich keineswegs neue Denkweise, die einen nationalistisch konnotierten, japanischen Führungsanspruch in Asien mit panasiatischem321 Anstrich 316 http://www.independent.co.uk/news/world/asia/japanese-finance-minister-taroaso-refuses-to-resign-over-nazi-remark-8743991.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 317 Samuels (2007), S. 126. 318 Hughes/Krauss (2007), S. 171. 319 Samuels (2007), S. 126. 320 Hughes/Krauss (2007), S. 172. 321 Zum japanischen Panasianismus vgl. z. B. den Sammelband von Saaler/Koschmann (2006).
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versieht. Eine der Kernaussagen des Buches lautet: Alle reden Japan schlecht, aber in Wirklichkeit ist Japan gut und wird noch besser. Asô erklärt: „Ich bin überzeugt, dass Japan wundervolle Kräfte besitzt. Das ist kein Nationalismus, nein so etwas Primitives nicht“322. Er zeigt sich dabei – im scharfen Kontrast zum Pessimisten Ozawa, der Japans Untergang herbeiredet – als Berufsoptimist, der allen aktuellen Problemen der japanischen Gegenwartsgesellschaft – wie der Überalterung oder wachsenden sozialen Differenzen – positive Aspekte abgewinnen kann. Entgegen den Schwarzmalereien in den Medien, so Asô, sei Japans wirtschaftliches Niveau hoch und auch die internationale Präsenz stark. Das Land werde international als leistungsstarker Akteur geschätzt und verfüge sogar noch über latente Kraftreserven. Außerdem hätten japanische Standards globale Bedeutung erlangt, wobei er Sony, Nintendo, Toyota, Manga, J-Pop etc. anführt323. Die Welt blicke daher neidisch auf japanische Firmen, und zudem sei das Land zu einer führenden „Umweltschutznation“ aufgestiegen. Darauf könnten die Japaner stolz sein324. Viele dieser Erfolge lägen allerdings in der Vergangenheit, es fehle eine vergleichbare Vision für die Zukunft325. Dennoch sieht Asô Japan gerade jetzt als auf vielen Gebieten weltweit führend, denn das Land sei (ideologischer) Vorreiter („Thought Leader“) in Asien. Als eigenwillige Beispiele hierfür gibt er die Bereiche Umweltschutz und Nationalismus an (Japan könne anderen mit seiner Geschichtsaufarbeitung Vorbild sein)326. Asô bedient sich gern der Schablone der vermeintlichen Außensicht Japans, um daraus einen Führungsanspruch des Landes abzuleiten. Darauf trifft eine aufschlussreiche Episode seines Buches zu, in der sich ein Inder für die mit japanischer Entwicklungshilfe gebaute U-Bahn in Neu-Delhi bedankt. Für Asô folgt daraus: Weder die Wirtschaftshilfe noch die technische Hilfe im Rahmen des Projekts sei das Wichtigste, das man durch Japan bekommen habe, sondern der „japanische Arbeitsethos“, die Tugend hingebungsvoller Arbeit. Kurzum, die „japanische Kultur“ an sich sei das größte „Geschenk“ an Indien. Dabei sei dies, so Asô nonchalant, doch bloß die normale Art und Weise, mit der man in Japan arbeite327. Ein gutes Beispiel, wie sich aus der Perspektive „des Anderen“ das Eigene umso positiver herausarbeiten lässt.328. Asô erscheint Japan mithin als eine Art schlummernder Riese. Dennoch wolle er nicht sagen, dass Japan das am meisten fortgeschrittene Land Asiens sei und auch Asô (2007), S. 39. Asô (2007), S. 13 f. 324 Asô (2007). 325 Asô (2007), S. 20. 326 Asô (2007), S. 21 f. 327 Asô (2007), S. 10 f. 328 Für Asô Grund genug, die japanische Arbeitsweise trotz Nebeneffekten wie Karôshi (Tod durch Überarbeitung) als nicht ganz so falsch zu sehen und die Kritik daran als „masochistisch“. Asô (2007), S. 12. 322 323
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von einer ethnischen Überlegenheit könne keine Rede sein329. Die japanisch-asiatischen Beziehungen seien dabei für beide Seiten überaus wichtig, denn Japan sei durch seine rasche Entwicklung zum Thought Leader und Stabilitätsfaktor in Asien geworden und könne auf dem Kontinent auch Demokratie und Marktwirtschaft betreffend die größte Tradition vorweisen330. Das Land leiste zudem seinen Beitrag in der Welt z. B. durch ODA und Wirtschaftshilfen, wobei Asô keinen Hehl daraus macht, dass diese Mittel der Einflussnahme dienen. Dabei liege die Stabilität Asiens im nationalen Interesse331, wofür in der Vergangenheit die japanisch-amerikanische Allianz gesorgt habe. Ohne Frieden und Stabilität hätte es keinen wirtschaftlichen Fortschritt in Asien gegeben, das müssten auch die USA-Skeptiker anerkennen332. Schließlich bestehe das Besondere Japans darin, dass das Land in zwischenstaatlichen Beziehungen nicht mit einem Überlegen- und Unterlegenheitskonzept, sondern auf gleichberechtigter Basis vorgehe333. Im fortschreitenden transnationalen Austausch (Jugendkultur etc.) in Asien hätten sich die Lebensweisen und Visionen einander angenähert334. Natürlich gebe es in jedem Land eine originäre Kultur, die wohl nicht verloren gehe, aber es habe sich bis zu einem gewissen Grad auch eine gemeinsame Kultur gebildet. Es sei dabei zwar wichtig, dass Japan gegenüber den Nachbarn weiterhin Mitgefühl und Selbstreflektion zeige, aber es sei ebenso wichtig, Japans komplette Nachkriegsgeschichte zu berücksichtigen335. Wie diese Aussagen zeigen, steht Asôs Geschichtsbild im Kontrast etwa zu der Version, die Abe Shinzô in seinen Diskursbeiträgen propagiert. So ist ersterer der Auffassung, dass der übersteigerte japanische Nationalismus China, Korea und andere asiatische Länder ins Unglück gestürzt habe. Dieser Geschichte müsse man mit fortwährender Selbstreflektion begegnen, wobei ihm zufolge Japan seine historische Lektion aus dem Umgang mit Nationalismus gelernt habe336. Dennoch mahnt er: Wie die Geschichte zeige, fordere die Instrumentalisierung von Nationalismus große Opfer. Japans junge Demokratie neige zwar zu einem „stürmischen Charakter“, der leicht zu übersteigertem Nationalismus führen könne, doch sei das 329 Asô (2007), S. 26. Inwieweit dieser Punkt seiner wahren Überzeugung entspricht, lässt sich aufgrund anderslautender Aussagen hinterfragen. So äußerte Asô sich 2005 folgendermaßen: „Ein Land mit einer Kultur, einer Zivilisation, einer Nation [minzoku], einer Sprache, das gibt es nur in Japan“. Vgl. Asahi Shinbun (2005a). 330 Asô (2007), S. 27, 28. Asô sieht Japan nicht als einzigen Thought Leader, sondern im benachbarten Südkorea eine weitere Führungskraft, die viele Werte mit Japan teile und ein verlässlicher Partner sei. Beide Länder seien stabile Demokratien und könnten gemeinsam für Stabilität und Fortschritt in Asien sorgen. Ebd., S. 31 f. 331 Ebd., S. 29 f. 332 Ebd., S. 31. 333 Ebd., S. 32. 334 Ebd., S. 33 f. 335 Ebd., S. 34. 336 Asô (2007), S. 23.
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Land mittlerweile gereift337. Die Demokratie sei kein Weg, der zwangsläufig zu nachhaltigem Frieden führe, was die Shôwa-Periode mit ihren Phasen von Nationalismus, Anarchie und Nachkriegsdemokratie gezeigt habe. Insofern könne Japan aus seinen eigenen Erfahrungen den asiatischen Nachbarn erklären, wie es diesen langen Weg bewältigt habe338. Über die Ernsthaftigkeit solcher Aussagen kann nicht zuletzt aufgrund kontroversen Verhaltens in anderen Fragen, wie etwa dem Yasukuni-Schrein, spekuliert werden, den Asô im April 2013 besuchte. Wie Ozawa, Abe oder Koizumi gehört auch Asô zum konservativ-neoliberalen Politik-Mainstream, wenn er die Erhaltung gesellschaftlicher „Vitalität“ fordert. Zwar müsse auch ein Safety Net aufgebaut werden, aber die Gesellschaft sei fortwährenden Veränderungen unterworfen339. Auch Asô offenbart sich als Thatcher-Anhänger und gewinnt der Deregulierung des Arbeitsmarktes etwas Positives ab, wenn etwa Taxifahrer sich freuen sollen, dass sie immerhin noch teilzeitbeschäftigt statt arbeitslos seien340. Mithin trügen unsichere Beschäftigungsverhältnisse gar eher zur „Vielfalt“ und „Freiheit“ in der Gesellschaft bei. Asô zufolge hätten die Gehaltsunterschiede zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten zwar zugenommen, aber wenn dadurch die Zahl der Arbeitslosen abnehme, würden die Differenzen in der Gesellschaft insgesamt abnehmen341. Der Vergleich, mit dem Asô autoritäre Systeme als stellvertretend für die gerechte Gesellschaft annimmt, macht dann auch nicht mehr stutzig: Man habe noch nie von Armen in Amerika gehört, die ins „gerechte“ (sozialistische) China oder Sowjetrussland ausgewandert seien, während das Gegenteil häufig vorkomme342. Asôs irritierender Ansatz, die wachsenden sozialen Unterschieden in Japan auf diese Weise schönzureden, ist kein exotischer Irrläufer des Diskurses, sondern in der rechtskonservativ-neoliberal verbrämten Diskussion durchaus gängige Argumentationstaktik. Ein besonders dreistes Beispiel lieferte Inada Tomomi, die in der Kritik an den wachsenden Unterschieden eine latente Fixierung auf das Geld zu erkennen glaubte, wo doch Einkommensunterschiede keine ausschlaggebenden Differenzen seien. Denn, so Inada: „Es ist auch eine schöne Lebensweise auf dem Land zu leben und Waka und Haiku zu dichten, diese Wertesicht war ursprünglich die geistige Kultur Japans“343. Führende konservative Politiker wie Abe, Asô oder auch Inada dokumentieren somit, wie Nationalismus auch und vor allem als sozialer Kitt „von oben“ verordnet wird, um bei zunehmenden, sozialen Differenzen den „nationalen Zusammenhalt“ zu beschwören und ursprüngliche, vermeintlich
337
Ebd., S. 23 f. Ebd., S. 23 f. 339 Asô (2007), S. 14. 340 Ebd., S. 95. 341 Asô (2007), S. 96. 342 Ebd., S. 90. 343 Inada (2010), S. 42 f. 338
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„japanische Werte“ quasi als Ersatz für den schwindenden, materiellen Wohlstand zu konstruieren, die dabei als besonders erstrebenswert erscheinen.
III. Conclusio: Das schöne neue Japan nimmt Gestalt an Das Ende des Kalten Krieges, die sich verstärkende Globalisierung, der Wandel des regionalen Machtgefüges in Asien sowie die wirtschaftliche Rezession (ushinawareta 20-nen) haben Japan ab den 1990er Jahren und noch verstärkt nach dem 11. September 2001 vor neue Herausforderungen gestellt. Der Wandel der globalen Rahmenbedingungen hat dabei Japans außenpolitisches Selbstbild in Frage gestellt, das zuvor primär von der Yoshida-Doktrin, also von der Wirtschaftsmacht, kombiniert mit einer durch den Schutz der USA gestützten „low profile“-Diplomatie, gekennzeichnet war. „Japan! Be proud of yourself in the center of the world“344 – dieser englische Titel des Gesprächsbandes von Abe Shinzô und Hyakuta Naoki fasst recht treffend die konservative Doktrin zusammen, die die innen- und außenpolitische Neuausrichtung Japans im Untersuchungszeitraum charakterisierte und erste Vorläufer in den 1980er Jahren unter Nakasone hatte. Sie steht für die Bemühungen, Japan zu einem „normalen“, „starken“ und „stolzen“ Land zu machen, das auch ganz selbstverständlich militärische Hard Power ausüben kann. Die Stärkung des Patriotismus im Innern, mit der sich Stolz auf Geschichte und vermeintliche Traditionen verbinden und die Erweiterung des japanischen Einflusses nach außen sind dabei die Pfeiler der konservativen Vision, die Japan, mit den Worten Abes gesagt, zu einem „schönen Land“ werden lassen sollen, das selbstbewusst ist und sich aufgrund seiner Vergangenheit nicht länger in „masochistischer“ Demut übt. Ein bedeutender Schritt für die interne Stärkung des Patriotismus war die Reform des Erziehungsgesetzes (kyôiku kihon-hô) während der ersten Amtszeit Abes 2006345, mit der die ideologische Deutungsmacht über die zukünftigen Generationen gesichert werden sollte. Das alte, im Jahre 1947 unter Mitwirkung des amerikanischen GHQ entstandene und bis dato gültige Gesetz war Abe und vielen Konservativen ein Dorn im Auge346, da es den Stolz auf das eigene Land verhindere und ein „masochistisches“ Geschichtsbild befördere. Mit der Revision sollte nun der Patriotismus zum expliziten Unterrichtsgegenstand werden347. Unter den Zielsetzungen des Erziehungsministeriums heißt es in Abschnitt 4 und 5 des Artikels 2 des revidierten Gesetzes nun348: Abe/Hyakuta (2013). Vgl. hierzu auch Winkler (2011a), S. 55 f. 346 Vgl. Winkler (2011a), S. 55. 347 Einige in dieser Frage moderate Konservative wie Ozawa Ichirô oder der LDP-Politiker Katô Kôichi (1939 – 2016) äußerten allerdings ihre Zweifel, ob man Patriotismus auf diese Weise Jugendlichen aufzwingen sollte. Winkler (2011a), S. 59. 348 MEXT (2006a). 344 345
III. Conclusio: Das schöne neue Japan nimmt Gestalt an
121
„(…) (4) to foster an attitude to respect life, care for nature, and contribute to the protection of the environment. (5) to foster an attitude to respect our traditions and culture, love the country and region that nurtured them, together with respect for other countries and a desire to contribute to world peace and the development of the international community.“349
Umweltschutz, Respekt vor Traditionen und Patriotismus sollen hier also mit einem Willen verknüpft werden, zu weltweitem Frieden beizutragen350. Die zitierte Textstelle kann dabei als stellvertretend für Japans innen- und außenpolitische Neuausrichtung gesehen werden, die eine Stärkung japanischer Identität bei gleichzeitig verstärkter Integration in die internationale Gemeinschaft351 (besonders im UN-Rahmen) verfolgt, wobei hier mit „japanischen Beiträgen“ dafür geeignete Akzente gesetzt werden sollen. Diese Entwicklung zielt nicht primär auf eine Militarisierung ab, wie viele Kritiker befürchten. Stattdessen verfolgte die Regierung eine zweigleisige Politik in Bezug auf die verfassungsrechtlichen Beschränkungen, wobei bisher der tatsächlichen Revision die maximale Interpretation der aktuellen Verfassung vorgezogen wurde. Die ohnehin schon seit Jahrzehnten von Widersprüchen gezeichnete Anwendung des Artikels 9 wird so immer stärker zur Scheinrealität. Zudem wird neben der unter Abe forcierten tatsächlichen Betonung militärischer Kapazitäten vor allem versucht, Japan – wie u.a. auch von Asô skizziert – als ideologischen Vordenker zu positionieren, der sich abseits militärischer Macht an eine internationale Führungsrolle herantastet. Hierbei wird gerade auch über Internationale Organisationen versucht, Japans Einflusssphären zu erweitern (ODA, Human Security etc.). Neben diesen auf finanzieller Hard Power basierenden Instrumenten hat Japans Soft Power im Untersuchungszeitraum an Aufmerksamkeit gewonnen, wobei Cool Japan oder die „Umweltnation“ als prominenteste Beispiele gelten können, mit denen eine „japanische Marke“ etabliert werden soll. Diese neuen Strategien stehen für alternative Ansätze, die infolge der abnehmenden wirtschaftlichen Bedeutung Japans ab den 1990er Jahren nötig geworden waren. Gerade auch der im Erziehungsgesetz enthaltene Umweltaspekt ergänzt sich zudem mit Strate gien wie der „Umweltnation“, die einerseits auf UN-Ansätze abgestimmt sind und andererseits helfen sollen, Japans Einfluss im Ausland zu vergrößern. Über das Anerziehen ökologischer Verantwortung kann hierbei nun sowohl Stolz auf die Nation als auch eine aktivere Rolle in der internationalen Gemeinschaft verwirklicht werden352. Für das japanische Original vgl. MEXT (2006b). soll jedwede Form von Diskriminierung verhindert werden. In Artikel 4 heisst es dazu: „(1) Citizens shall all be given equal opportunities to receive education according to their abilities, and shall not be subject to discrimination in education on account of race, creed, sex, social status, economic position, or family origin.“ MEXT (2006a). 351 Vgl. auch Akaha (2008), Raddatz (2012). 352 Raddatz (2012), S. 115. 349
350 Gleichzeitig
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C. Nationalismus „von oben“ Teil 1 – die politische Ebene
Der Cool Japan-Komplex stellt sich wie das Narrativ der „Umweltnation“ als eine Nation Branding-Strategie dar, die die japanische Marke international attraktiv positionieren und somit auch zu neuen wirtschaftlichen Wachstumsmöglichkeiten beitragen soll. Die Bereiche Kultur und Umwelt gehören dabei zu den Kernfeldern der japanischen Identitätspolitik „von oben“, die neben den parallel vorangetriebenen Bemühungen, auch militärische Handlungsfreiheit zu gewinnen, sich weiterhin Japans pazifistisches Nachkriegsimage zum Fundament machen. Sie sind anschauliche Beispiele dafür, wie das Land aktiv Wege sucht, globale Standards nach eigenen Vorstellungen zu beeinflussen und sich als ein internationales Vorbild zu profilieren, ohne dabei militärische Macht in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei zielen diese Nation Branding-Strategien auch darauf ab, nach innen den Patriotismus der Japaner zu stärken, in dem etwa Umweltschutz und das „coole“ Japan als vermeintlich japanische Traditionen konstruiert werden. Nach außen hin sollen sie ein positives Japan-Image befördern. Dass Japans Neupositionierung jedoch ausgerechnet durch das „Wiederentdecken“ vermeintlicher japanischer Traditionen gelingen soll, unterstreicht die Ideenlosigkeit der Politik und so wirken die japanischen Markenstrategien folglich weiterhin unkoordiniert und in ihrer Verwendung gängiger Orientalismen stark gekünstelt. Mithin zeigt sich an diesen Bemühungen jedoch, wie der „aufgezwungene“ Pazifismus als „japanische Norm“ und internationalen Vorbildrolle nutzbar wird353. Das reformierte Erziehungsgesetz ist dabei ein prominentes Beispiel, wie die japanischen Konservativen aus ihrer Not der verfassungsrechtlichen Beschränkungen eine Tugend machen und auf Basis des ungeliebten Nachkriegspazifismus einen vermeintlich japanischen Wertekanon konstruieren, mit dem die globalen Herausforderungen zu bewältigen sein sollen. Auch Abes „proaktiver Pazifismus“ ist eine radikalisierte Form der maximalen Ausnutzung des status quo, der eine Stärkung militärischer Macht ohne eine eigentliche Verfassungsänderung durchführt und sie gleichzeitig als Friedenssicherungsmaßnahme deklariert, die die Tradition des Nachkriegspazifismus angeblich bloß in „proaktiver“ Weise fortführt. Wie auch die Analyse repräsentativer Beiträge von japanischen Spitzenpolitikern zeigen konnte, wurde die Auseinandersetzung mit Nationalismus im Untersuchungszeitraum zum zentralen Punkt der Politik, die Abe und Asô offensiv gestalten, wenngleich mit zweifelhaften Resultaten. Es bleibt jedoch fraglich, ob es Sinn macht, die nationalistischen Entwicklungen auf politischer Ebene überstürzt als „wachsenden“ Nationalismus zu interpretieren. Denn wie ausgeführt, war Japans Nachkriegspolitik zu keinem Zeitpunkt „nicht nationalistisch“ – frühere Ausprägungen waren wie gesehen z. B. Wirtschaftsnationalismus und der Pazifismus selbst. Gleichwohl ist der Umgang mit Nationalismus in den vergangenen Jahren jedoch durchaus offensiver und selbstbewusster und damit sichtbarer geworden. Zudem hat er unter Abe einen qualitativen Wandel hin zu einer stärker hervortretenden militaristischen und etatistischen Nuance erfahren, die notwendigerweise 353
Vgl. auch Raddatz (2012).
III. Conclusio: Das schöne neue Japan nimmt Gestalt an
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größeres Konfliktpotential bereithält als frühere Ausdrucksformen des Nachkriegsnationalismus. Nakano Kôichi resümiert aus den Entwicklungen der letzten Jahre einen Rechtsruck (ukeika) der japanischen Politik354, der in Abes zweiter Amtszeit ab 2012 nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen war. Dieser Rechtsruck ist aber, wenn überhaupt, nur bedingt mit einem „wachsenden“ Nationalismus gleichzusetzen, sondern stellt, wie Nakano auch selbst herausarbeitet, eine eigentümliche Verbindung von Nationalismus und Neoliberalismus dar, die er als „neue Rechte“ bezeichnet355. Während Nakano hinter der nationalistischen Komponente tatsächliche Überzeugung zu vermuten scheint, so dient, wie aufgezeigt, der Nationalismus eher als populistisches Instrument und Vehikel neoliberaler Machtpolitik. Insofern ist der „neue“ Nationalismus also nicht nur als Gegenreflex zur neoliberalen Globalisierung, sondern als unverzichtbares Werkzeug zu deren Ausweitung zu verstehen. Wie Nakano erläutert, haben in den vergangenen Jahren die Bemühungen um eine (Neo)Liberalisierung der japanischen Politik (seiji no jiyûka) eine gegenteilige Tendenz zu bedenklich antiliberaler Politik (hanjiyû no seiji) ausgelöst, die Bürgerrechte zunehmend beschneidet, weitreichende Gesetze undemokratisch durchbringt und intransparente Macht in einer nationalistisch-neoliberalen Politik- und Wirtschaftselite konzentriert356. Während jedoch die Politik im Untersuchungszeitraum sich einerseits bemühte, den japanischen Nationalismus zu stärken bzw. als Vehikel der Deregulierung zu nutzen, wurde andererseits erkennbar, dass dabei versucht wurde, sich in einem international tolerierten Rahmen zu bewegen, der einen potentiell gefährlichen, japanischen Sonderweg bislang unwahrscheinlich erscheinen ließ. Die Frage, ob der angestrebte Weg zu einem „normalen Land“ direkt in Richtung Vorkriegsmilitarismus und -expansionismus führt, ist somit tendenziell zu verneinen. Deswegen erscheint auch George Mulgans Argument des „Doppelstandards“ nicht völlig falsch, dem zufolge man in Bezug auf Japan kritischer als bei anderen Ländern sei und vorschnell davon ausgehe, dass „ein militärisch stärkeres Japan […] notwendigerweise eine Gefahr für den Rest Asiens und nicht ein stabilisierender Einfluss“ sein könnte, wobei sie auch einen Unterschied zwischen „Militarismus“ und „erweiterten militärischen Rollen“ geltend macht357. Dennoch steht die pazifistische Verfassung sinnbildlich für ein Japan, das vorgeblich mit seiner nationalistischen, imperialistischen und militaristischen Gewaltvergangenheit abgeschlossenen hat. Die von den Konservativen weiterhin angestrebte Reform dieser Grundordnung muss nicht nur in Japan selbst, sondern auch gegenüber der internationalen Gemeinschaft glaubhaft machen, dass sie nicht in alte Muster zurückfällt, sondern verantwortungsvoll mit ihrer neuen Rolle umge354
Nakano (2015).
355 Ebd.
Nakano (2015), S. 180 f. Mulgan (2014).
356 Vgl. 357
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C. Nationalismus „von oben“ Teil 1 – die politische Ebene
hen kann. Gerade hier ist jedoch ein gewisser Zweifel an den wahren Intentionen der aktuellen japanischen Regierung angebracht. Dies aufgrund der demokratisch zweifelhaften Vorgehensweise Abes, der weil das offizielle Verfassungsänderungsprozedere unklare Erfolgschancen hat, auf juristisch umstrittene Weise vollendete Tatsachen schafft. Abes Neuinterpretation der Verfassung steht hier für den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die sich ab den 1990er Jahren immer stärker abgezeichnet hat. Japan verfolgte allerdings auch im Untersuchungszeitraum dieser Studie weiterhin einen primär pazifistischen Weg. Wenn durch den Senkaku-Konflikt mit China oder die jüngste Billigung des „kollektiven Selbstverteidigungsrechts“ das Risiko eines bewaffneten Konfliktes mit japanischer Beteiligung zwar gewachsen sein mag, so erscheint es selbst unter dem aktuellen Premier weiterhin unwahrscheinlich, dass Japan Alleingänge nicht international legitimierter, militärischer Machtausübung beschließen könnte. Es zeigt sich jedoch, dass die japanische Politik versucht, auf verschiedenen Ebenen in der Globalpolitik eine aktivere Rolle zu spielen. Wie der Politologe Inoguchi Takashi herausarbeitet, dürfte sich die japanische Rolle also in den kommenden Jahren immer deutlicher zu der einer „global ordinary power“ wandeln358. Die Frage, der sich auch Kritiker der neuen japanischen Politik stellen müssen, ist, ob ein introvertiertes und isoliertes Japan nicht potentiell „gefährlicher“ sein könnte, als es ein aktiv in die internationale Gemeinschaft integriertes Japan ist. Hierbei könnte eine stärkere internationale Einbindung Japans zudem auch Chancen bieten, um den in den letzten Jahren immer deutlicher gewordenen Trend zum Geschichtsrevisionismus zu korrigieren, dessen Stichwortgeber im Intellektuellendiskurs zu finden sind und im folgenden Kapitel genauer beleuchtet werden.
358
Inoguchi (2008).
D. Nationalismus „von oben“ Teil 2 – (Medien-)Intellektuelle und Wissenschaftler I. Der konservative Diskurs – die Nachkriegsordnung als Feind, Stolz als Ziel Auch wenn bereits herausgearbeitet wurde, dass Nationalismus auch in Japan kein exklusives Deutungsmuster der Konservativen ist, so hat er bei ihnen tendenziell freilich einen stärkeren Rückhalt. Deswegen soll in diesem Abschnitt zunächst der Diskurs konservativer Intellektueller zum Thema Nationalismus und Patriotismus genauer untersucht werden. Seit den 1980er Jahren, als die Intellektuellenlandschaft einen konservativen Schub erlebte (vgl. Kap. B.), der sich in den 1990ern in einem stärker werdenden (neo)nationalistischem Geschichtsrevisionismus fortsetzte, kristallisierte sich in diesen Kreisen immer stärker ein gemeinsames Feindbild heraus – die japanische Nachkriegsdemokratie. In einigen Beiträgen wurde in jüngerer Zeit versucht, den konservativen und nationalistischen Diskurs im gegenwärtigen Japan näher zu charakterisieren1. Der Politologe Akaha Tsuneo sieht als Ziel nationalistischer Intellektueller die Restauration des Stolzes auf die japanische Nation durch die Rehabilitierung des Patriotismus, die Stärkung eines Staatszentrismus und die Verfolgung einer aktiveren Außenpolitik 2. Akaha zufolge, bedeutet für die meisten Japaner heute Nationalismus und Patriotismus dasselbe3. Die heutigen Nationalisten betonten die zentrale Rolles des Staates und den Patriotismus, um Japan zu definieren: „In their view, postwar Japanese national identity has been based on the rejection of what wartime Japan had represented, that is, the rejection of both nationalism and patriotism. To eradicate this legacy, the nationalists demand that the Japanese people embrace patriotism as an essential element of the post-postwar Japan“4. Der Politologe Kaihara Hiroshi kennzeichnet den Diskurs der Konservativen als pessimistisch, da sie das japanische Volk als degenerierend darstellten und dabei mit besonderer Sorge auf die Jugend schauten. Danach seien Jugendkriminalität, sinkende akademische Leistungen etc. das Resultat fehlender Moral, die nur durch das Festhalten an Tradition und Geschichte aufrechterhalten werden könne. Durch die amerikanische Besatzungspolitik und den linken Mainstream der Nachkriegszeit mit seiner Betonung von „extremem Individualismus“ sei es jedoch nicht möglich, Akaha (2008); Kaihara (2009); Winkler (2011a); Winkler (2011b). Akaha (2008), S. 156. 3 Ebd., S. 158. 4 Ebd., S. 158. 1 2
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D. Nationalismus „von oben“ Teil 2
stolz auf Japan zu sein5. Während bei Akaha die Konservativen als ein ideologischer Monolith erscheinen, betont Kaihara die Vielfalt konservativer Denkströmungen und unterteilt in die Hauptlager „orthodox“ („hardcore“)“ und „moderat“6. Auch der Japanologe Christian Winkler hebt hervor, dass einflussreiche konservative Intellektuelle wie Nishio Kanji (*1935), Yagi Hidetsugu (*1962) oder Fujiwara Masahiko (*1943) keine „vereinte konservative Front“ bildeten7. In vielen Fällen seien ihre Beziehungen im Gegenteil sogar durch Feindseligkeiten und Animositäten geprägt, wobei er auf die Streitigkeiten innerhalb der revisionistischen Vereinigung Tsukuru-kai hinweist8, die zu Austritten prominenter Mitglieder wie Yagi Hidetsugu oder auch von Nishibe Susumu und Kobayashi Yoshinori im Jahre 2002 führten. Saaler bemerkt in Bezug auf Kobayashi, dass dessen Austritt jedoch nicht als Abkehr von deren Doktrin verstanden werden dürfe9. Winkler plädiert zudem für eine Unterscheidung zwischen den Bezeichnungen „konservativ“ und „rechts“. Beide betonten Traditionen, rechte Intellektuelle strebten jedoch eine Gesellschaft an, in der alle außer dem Kaiser gleich seien und erklärten sich mit dem Volk solidarisch, weswegen sie sich auch – im Gegensatz zu den Konservativen – gegen soziale Ungleichheiten stellten. Konservative jedoch misstrauten der öffentlichen Meinung und der Fähigkeit „gewöhnlicher Leute“, vernünftige politische Entscheidungen zu treffen10. Wie aber auch Winkler anmerkt, kommen solche Differenzierungen in der Realität nicht immer so deutlich zum Vorschein11. Wie im Folgenden anhand der Analyse der Beiträge konservativer Hauptakteure erkennbar wird, sind Konservative zwar nicht vereint in ihrem Denken; es lassen sich aber durchaus Gemeinsamkeiten ausmachen. Zu diesen zählt der Wille sich vom „Nachkriegsregime“ zu befreien, was insbesondere das Eintreten für die Verfassungsreform beinhaltet sowie eine weit verbreitete Skepsis oder gar Ablehnung gegenüber asiatischen Staaten, insbesondere Südkorea oder China, die als „antijapanisch“ gelten. Als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal innerhalb der Konservativen erscheint dabei deren grobe Aufspaltung in eine proamerikanische und eine antiamerikanische Strömung. Bei einem Teil der proamerikanisch eingestellten Konservativen ist allerdings die Unterstützung der japanisch-amerikanischen Allianz mehr deren vermeintlicher Unausweichlichkeit geschuldet als wahrer Überzeugung. Dadurch zeigen viele konservative Intellektuelle graduelle Unterschiede zum Mainstream konservativer Politiker, die zwar ebenfalls eine Abkehr vom Nachkriegsregime verfolgen, dabei aber am Bündnis mit den USA festhalten wollen. Kaihara (2009), S. 339 f. Ebd., S. 340 f. 7 Winkler (2011b), S. 4. 8 Ebd. 9 Saaler (2005). 10 Winkler (2011a), S. 4. 11 Ebd. 5 6
I. Der konservative Diskurs – die Nachkriegsordnung als Feind, Stolz als Ziel
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Der in Kapitel C. behandelte, eher auf politischer Ebene zu findende konservative Mainstream der „normalen Nationalisten“ zielt aber wie die Konservativen des vorwiegend antiamerikanischen Anti-Establishments („Neoautonomisten“) durch Maßnahmen wie die Verfassungsänderung auf die Erschaffung einer „würdevollen Nation“ ab, die weniger materialistisch und individualistisch sei, dafür mehr Stolz auf die eigene Geschichte und Traditionen ermögliche12. Laut Winkler werde dabei zwar eine klare Vorstellung erkennbar, wie diese Nation aussehen solle, in der Frage, wie diese erreicht werden könne, herrsche jedoch Unklarheit13. Während der politische konservative Mainstream hier durchaus eine demokratische Ausrichtung anstrebt, tritt diese bei den konservativen Intellektuellen aus dem Anti-Establishment hingegen nicht immer so deutlich hervor. Als ein überaus einflussreicher Strang des konservativen Diskurses im Untersuchungszeitraum dieser Studie sind die Intellektuellen aus dem Dunstkreis der 1996 gegründeten Tsukuru-kai zu sehen. Als kleine Bewegung gestartet, haben es die Vordenker dieser Vereinigung stellenweise geschafft, ihre Sicht japanischer Geschichte zu einer Art common sense in weiten Teilen der Konservativen zu machen, wobei sie von Beginn an Unterstützer in der Politik hatten. Im Folgenden sollen die Positionen von fünf einflussreichen Akteuren dieses Diskurses vorgestellt werden: Kobayashi Yoshinori (*1953), Nishibe Susumu (*1939), Fukuda Kazuya (*1960), Fujiwara Masahiko (*1943) und Saeki Keishi (*1949). Während Fukuda und Fujiwara nie direkt mit der Tsukuru-kai verbunden waren, so können sie jedoch wie auch Saeki, der auch an der Anfertigung des Schulbuchs der Tsukuru-kai beteiligt war14, in ihren Ansichten in ideologischer Nähe zu den Sichtweisen dieser Vereinigung verortet werden. 1. Anti-Establishment-Held oder rechter Agitator? Der Pop-Nationalist Kobayashi Yoshinori Kobayashi Yoshinori (*1953) ist ein Manga-Autor, der in Japan bereits ab den 1970er Jahren größere Bekanntheit erlangte15. Erst in den 1990ern wendete er sich politischen Themen zu und erreichte mit seiner ab 1992 erschienenen Manga-Serie „Gômanizumu sengen“ (Großspuriges Manifest) Verkaufserfolge. Im Jahre 1995 wurde er zum Ziel eines Attentatsplans der neureligiösen Aum-Bewegung16. Bis 2002 war der Mangaka Mitglied der revisionistischen Tsukuru-kai17 und wirkte Winkler (2011a), S. 156. Ebd., S. 156. 14 Oguma (2002a), S. 14. 15 Richter (2008b), S. 62. 16 Sasaki (2009), S. 259. 17 Sein Austritt steht in Zusammenhang mit einem internen Streit in der Tsukuru-kai über die Positionierung der Vereinigung in Bezug auf die USA. Wie Steffi Richter anmerkt, ging Kobayashi die Kritik der Vereinigung an amerikanischer Machtpolitik und der neoliberalen Politik der japanischen Regierung nicht weit genug. Vgl. Richter (2008b), S. 61. 12 13
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D. Nationalismus „von oben“ Teil 2
auch an deren Schulbuch mit, bei dem er unter anderem die Autorenschaft des Abschnitts über den Kriegsverbrecherprozess von Tôkyô (1946 – 1948) beanspruchte18. 1998 schließlich gelang Kobayashi mit „Sensô-ron“ (Über den Krieg) sein vieldiskutierter Bestseller, der für eine Neuordnung des japanischen Nationalismusdiskurses ab den späten 1990er Jahren steht. Denn das Manga kann als Ausgangspunkt der Debatte um Nationalismus in Popkultur und Internet während der 2000er Dekade gesehen werden, die in Kapitel E. gesondert behandelt wird. In Sensô-ron verklärt der Mangaka den Aufopferungswillen japanischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg und kritisiert den Egoismus im heutigen Japan19. Hierbei hebt Kobayashi auch die Kamikaze-Einheiten (tokubetsu kôgeki-tai) hervor, deren meist jugendliche Angehörige ihr Leben zum Schutz von Vaterland (sokoku), Heimat (kyôdo), Familie und Tennô gegeben hätten20. Um Anliegen wie die Bewahrung der „Ehre“ japanischer Soldaten „um jeden Preis“21 durchzusetzen, besteht Kobayashis Hauptforderung in der Abkehr vom Nachkriegssystem. Von dessen als „individuumszentriert“ (ko) kritisierter Gesellschaft will er zu einer neuen Öffentlichkeit (ôyake) im Sinne von mehr Gemeinschaftsgeist gelangen 22. Er kritisiert den Materialismus und das „Hängen“ am eigenen Leben als „Nachkriegsrassismus“ und die japanische „Konsensgesellschaft“, in der „niemandes Gefühle verletzt werden sollen“, als „Schulklassendemokratie“23. Aufgrund solcher Aussagen wird der Mangaka üblicherweise als konservativer oder nationalistischer Autor eingestuft. Der Kulturkommentator Sasaki Atsushi bezeichnet ihn als „Rechtsextremen“ (kyoku’u) und beschreibt sein Denken als „unverfälschtes Rechtstum“24. Kobayashi selbst wehrt sich gegen solche Einordnungen und sieht sich nicht als jemanden, der irgendeinen Konservatismus vertrete, sondern als jemanden, der sowohl in rechten (Tsukuru-kai) wie linken Bewegungen (HIV-Blutkonservenskandal25) mitgewirkt habe26. Zudem fuße er doch ausschließlich auf Rationalität und Logik 27. Durch seine „rationale“ Fassade ziehen sich jedoch tiefe Risse seiner Radikalität, wenn er sich selbst etwa mit umgeschnallter Sprengstoffweste zeichnet und Berndt (2003), S. 211. hierzu Sakamoto (2008), deren Beitrag auch für eine ausführliche Analyse des Mangas angeführt sei. 20 Kobayashi (1998), S. 80 – 86. 21 Kobayashi et al. (1999), S. 35 f. 22 Vgl. auch Richter (2008b), S. 63. 23 Kobayashi/Kamisaka (2009), S. 31 – 36. 24 Sasaki (2009), S. 260 f. 25 In den 1980er Jahren steckten sich in Japan über eintausend Menschen durch verseuchte Blutkonserven mit HIV an. Kobayashi befasste sich zu dieser Zeit kritisch mit diesem Thema. 26 Kobayashi et al. (1999), S. 97; Ronza (2007), S. 30. 27 Kobayashi/Kamisaka (2009), S. 65. 18 Vgl.
19 Vgl.
I. Der konservative Diskurs – die Nachkriegsordnung als Feind, Stolz als Ziel
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als „Kamikaze“-Kämpfer bereithält oder sein Verständnis für Terrorismus zum Ausdruck bringt28. Kobayashi provoziert gern mit dem Bruch solcher (Nachkriegs) Tabus, die kalkulierbare Reaktionen aus dem von ihm vorzugsweise als „links“ diffamierten Medien- und Bildungsestablishment hervorrufen 29. Dabei inszeniert er sich bewusst als „antielitäre“ Stimme des „kleinen Mannes“, der das ausspricht, was ohnehin die meisten dächten bzw. was die Eliten vor dem Volk „versteckt“ hielten. So sieht er seine Aufgabe darin, Medien und Intellektuelle zu kritisieren, die aus seiner Sicht eine mit Vorsicht zu behandelnde „Clique“ darstellten30. Gern versucht er den Eindruck zu erwecken, als ein „neutraler Kommentator“ der Materie über den ideologischen Lagern zu stehen. So merkt er beispielsweise an, dass er zwar zu den Verteidigern des „großasiatischen Krieges“ gehöre (daitôasensô kôtei-ron), aber auch die damaligen politischen und militärischen Eliten kritisiert hätte, wenn er deren Zeitgenosse gewesen wäre. Heute lebenden Intellektuellen spricht er schlicht die Berechtigung ab, das damalige Japan als Ganzes zu verteufeln31. Vielmehr sieht er prinzipiell das gleiche Meinungsklima heute wie damals zu Kriegszeiten, nur die Slogans hätten sich von „Teufel Amerika und Großbritannien“ (Kichiku beiei) zu „Pazifismus“ (Han-sen heiwa) gewandelt32. Tatsächlich hat Kobayashi, insbesondere in jüngerer Zeit, nicht davor haltgemacht, andere Rechte anzugehen, die seinen Vorstellungen von Patriotismus und Konservatismus nicht gerecht werden oder anderweitig eine „Gefahr“ für das übergeordnete „Japanische“ darstellen, dem alles andere unterzuordnen ist. Wie im Folgenden weiter ausgeführt, zählen zu seinen Lieblingszielen konservative Atombefürworter, die Abe-Regierung oder Internet-Rechte (netto uyoku), denen er wahlweise abspricht, wahre Patrioten zu sein oder die er gar zu „Linken“ umdeutet33. Die vermeintliche Rationalität und Ausgewogenheit, mit der Kobayashi sich gern brüstet, offenbart nicht nur an solchen Stellen Brüche, denn in seiner letztlich recht einfachen Schwarz-Weiß-Welt, die aus „guten“ (konservativen) Patrioten – wie ihm selbst – und antijapanischen „Linken“ bzw. zu Linken umgedeuteten Konservativen besteht, ist nicht viel Platz für Schattierungen. Kobayashi steht repräsentativ für eine zunehmend an Einfluss gewinnende Strömung reaktionärer Radikalkonservativer, die Antiamerikanismus als Grundprinzip ihres Denkens einsetzen. Darin bilden die Abkehr vom Nachkriegssystem und eine „Rückkehr zum Japanischen“ zwei Seiten derselben Medaille. Denn die Werte der Nachkriegsgesellschaft wie Demokratie, Individualismus, Menschenrechte und Pazifismus werden hier als von den USA oktroyiert und als „unjapanisch“ empfunden. In diesem Kontext stellt die japanische Linke ein weiteres Feindbild Kobayashi (2015), S. 108; Kobayashi/Miyadai/Azuma (2015), S. 82. Vgl. z. B. Kobayashi (1998), S. 22 ff. 30 Ronza (2007), S. 30. 31 Ronza (2007), S. 31. 32 Kobayashi (1998), S. 21. 33 Vgl. Uno et al. (2014), S. 33; Kobayashi (2012a); Kobayashi (2015). 28 29
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D. Nationalismus „von oben“ Teil 2
dar, da sie für diese Nachkriegswerte eintritt. Laut Kobayashi seien Menschenrechte, Gleichheit oder Feminismus allesamt amerikanische Werte und genauso wie Pazifismus und Individualismus Japan von den USA aufgezwungen worden34. Mit diesen Ansichten ist Kobayashi dem Anti-Establishment USA-kritischer Rechter zuzuordnen. Der Manga-Autor steht dementsprechend auch Globalisierung und Neoliberalismus aufgrund damit verbundener, wachsender sozialer Unterschiede ablehnend gegenüber und fordert als Konsequenz eine von den USA unabhängigere Politik. Für ihn sind die USA ein bloßer Kriegstreiber, der Japan in eine Vasallen-Rolle zwängt35. Damit steht Kobayashi wie etwa auch sein langjähriger Weggefährte Nishibe Susumu den von Samuels so bezeichneten „Neoautonomisten“ nahe36. Mithin sieht sich Kobayashi häufiger Kritik von etablierten proamerikanischen Konservativen ausgesetzt37. Weil er das Medium Manga verwendet, wird Kobayashi zudem oft nachgesagt, dass er ein vorwiegend jüngeres Publikum anspreche38. Sakamoto Rumi sieht Kobayashis Mangas gar als Beispiel für einen neuen naiven „Pop-Nationalismus“39. Der Erfolg seiner Mangas gilt daher vielen Beobachtern als Beweis dafür, dass nationalistisches Gedankengut unter der Jugend vermehrt an Akzeptanz gewinnt (vgl. hierzu auch Kapitel E.). Er selbst wehrte sich in einem Interview gegen Einschätzungen, mit jugendorientierten Agitationen „Kobayashi-Jünger“ heranzuzüchten, und kokettierte zugleich damit, keinen Überblick über seinen Einfluss in der Öffentlichkeit zu haben40. Dennoch kann er auf Nachfrage problemlos seine insgesamt in die Millionen gehenden Verkaufszahlen angeben41. Im Gespräch mit Gleichgesinnten wie der Schriftstellerin Kamisaka Fuyuko (1930 – 2009) schlägt Kobayashi jedoch andere Töne an. Hier stellt er erfreut fest, dass nun endlich Nationalismus auch unter jungen Leuten erwache, wobei er seiner Arbeit gleichwohl einen konkreten Einfluss auf diese Entwicklung einräumt42. Insbesondere nach Fukushima und seit der zweiten Amtszeit Abes gibt sich Kobayashi stellenweise auch als Kritiker eines übersteigerten und inhaltsleeren Nationalismus, wie er aus seiner Sicht etwa von den von ihm gescholtenen netto uyoku propagiert werde. Entsprechend möchte er auch den Vorwurf, am vermeintlichen Rechtsruck Japans Schuld zu tragen und Phänomene wie die Internet-Rechten hervorgebracht zu haben, nicht auf sich sitzen lassen und bietet an, dies, falls zutreffend, mit seinen Mangas zu korrigieren43. Kobayashi (1998), S. 23. Vgl. hierzu z. B. Kobayashi (2015). 36 Samuels (2007), S. 120 f. 37 Ronza (2007), S. 28. 38 Sasaki (2009), S. 262; Ronza (2007), S. 40. 39 Sakamoto (2008). 40 Ronza (2007), S. 40 f. 41 Ebd., S. 41. 42 Kamisaka/Kobayashi (2009), S. 29. 34 35
I. Der konservative Diskurs – die Nachkriegsordnung als Feind, Stolz als Ziel
43
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2. Nachkriegsjapan auf dem Prüfstand radikalkonservativer Intellektueller
Kobayashi Yoshinoris Kritik an der Überbetonung des Individuums in der Nachkriegszeit gehört auch zum Credo vieler anderer, dem neonationalistischen Diskurs nahestehender Akteure. Im Jahr 1999 traf sich der Mangaka mit drei weiteren, repräsentativen Vertretern dieses Diskurses zu einem Gespräch zum Thema Krieg und Staat44, wie man sie selten an einen Tisch bekommt: Neben Kobayashi geht es hier um den Literaturkritiker Fukuda Kazuya (*1960), den Sozioökonomen Saeki Keishi (*1949) und den Wirtschaftswissenschaftler und ehemaligen Kommunisten Nishibe Susumu (*1939). Wie Kobayashi war auch Nishibe zeitweise für die neonationalistische Tsukuru-kai aktiv. Fukuda Kazuya machte mit seinem Spitznamen „rechter Punk“ (panku uyoku) vor allem in den 1990er Jahren von sich reden45, während Saeki insbesondere auch in den 2000ern einige Beiträge zum Themenkreis Patriotismus/Nationalismus beisteuerte46 und in dieser illustren Runde eher noch als vergleichsweise gemäßigt bezeichnet werden kann. Vor dem Hintergrund von Kobayashis Erfolgsmanga Sensô-ron und dessen Erörterung als Erklärungsmodell der Beziehung von Individuum und Gemeinschaft im Nachkriegsjapan macht Fukuda gleich zu Beginn klar: „Ich bin Nationalist“. Nationalist zu sein bedeute, dass alles, die gesamte Generationenreihe, mit einander verbunden sei. Er betont Einheitlichkeit (ittaisei) und Fortdauer ( jizoku), weswegen man auch Verantwortung für das übernehmen müsse, was frühere Generationen getan hätten. Mit der Betonung des Individuums (ko) unter den Linken, könne man sich aber damit aus der Affäre ziehen, dass man mit all dem nichts zu tun habe47. Fukudas Begriff von „Verantwortung“ sollte jedoch nicht über seine revisionistischen Tendenzen hinwegtäuschen. Die vier Akteure beklagen eine übertriebene „Ich-Fixiertheit“ und den Materialismus im Nachkriegsjapan. So kritisieren sie auch diejenigen, die – ihres Erachtens – zu sehr am eigenen Leben hängen. Nishibe, der nach eigener Aussage Hitler verabscheut, aber Mussolini „mag“48, erzählt zum Beispiel von seinem Vater, der ein schlechtes Gewissen gehabt habe, den Krieg überlebt zu haben49. Er spekuliert über den Sinn des Lebens und erklärt in Anlehnung an Mishima Yukio, dass man manchmal keinerlei Botschaft vertreten könne, wenn man nicht bereit sei, sein Leben dafür einzusetzen50. Kobayashi/Miyadai/Azuma (2015), S. 11 f. Kobayashi et. al. (1999). 45 Vgl. zu Fukuda auch Sasaki (2009), S. 179 – 197; Iida (2002), S. 256 ff. 46 Vgl. z. B. Saeki (2008). 47 Kobayashi et al. (1999), S. 28. 48 Kobayashi et al. (1999), S. 212. 49 Ebd., S. 242. 50 Ebd., S. 94. 43
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Fukuda kann dem zustimmen und ergänzt, nur, wenn man sein Leben riskiere, könne man es voll auskosten51. Der Wert des Lebens erscheint ihm eher konstruiert, und auch Saeki sieht im Konzept der Menschenrechte „große Probleme“52. Diese Kritik der „Ich-Fixiertheit“ und der „Überbewertung“ des Wertes von Leben im Nachkriegsjapan instrumentalisieren die vier zum Beschönigen nationalistischer Opferpolitik, u.a. in Gestalt der Kamikaze-Einheiten, in denen sie den japanischen „Nationalcharakter“ und japanische „Ästhetik“ voll entfaltet sehen53. Fukuda zufolge hätten frühere Mütter, deren Sohn „für das Land“ gestorben sei, den Wert des Lebens eher gespürt, als heutige Kinder, denen ihre Eltern ständig sagten, wie wichtig sie seien54. Kobayashi empört sich an anderer Stelle auch darüber, wie peinlich es sei, wenn Männer nur an ihre Pensionsansprüche dächten, wo doch momentan die Änderung der Verfassung das drängendste Problem sei. Mit den Worten des Philosophen Nakajima Yoshimichi (*1946) sieht er das Beziehen einer Pension sogar als amtliche Bestätigung dafür, ein „Schwächling“ bzw. „Sozialschmarotzer“ zu sein55. Der Mathematiker Fujiwara Masahiko (*1943), der als weiterer, repräsentativer Akteur des konservativen Gegenwartsdiskurses gewertet werden muss, teilt eine solche Individualismuskritik. So heißt es bei ihm, dass das amerikanische GHQ (alliiertes Oberkommando) hinter der Verneinung des Gemeinwohls (ôyake) zu Gunsten des Individuums stünde, und sich in Japan die Vorstellung einer Kausalkette von Gemeinwohl=Staat=Imperialismus gebildet habe56. Fujiwara sieht Japan als „zweites Karthago“, das für alle Zeiten geschwächt werden sollte durch die „Gehirnwäsche der Siegerjustiz“ und die „Fiktion“, Japan habe im Krieg „Böses“ getan57. Mit solchen Aussagen ist er auf einer Linie mit Nishibe, Kobayashi oder auch Ishihara Shintarô, die auch die Urteile der Kriegsverbrecherprozesse von Tôkyô als „Siegerjustiz“ abtun und nicht anerkennen58. Fujiwara vertritt wie die meisten Neonationalisten die Meinung, dass nur ein stärkerer Stolz auf Japan die gegenwärtigen Probleme der japanischen Gesellschaft – er nennt Moralverlust, Absinken schulischer Leistungen etc. – lösen könne. Man könne aber diesen Stolz durch das im Nachkriegsjapan vermittelte Bild von Japans Geschichte nicht wiederherstellen, wenn nur das Schlechte an Japan vermittelt würde59. Ähnlich wie Abe Shinzô verfolgt Fujiwara einen organizistisch angehauchten Nationalismus, indem er sein Konzept der „drei Lieben“ entwirft, das aus der Liebe 51
Ebd., S. 94. Ebd., S. 104 f. 53 Ebd., S. 58. 54 Ebd., S. 106. 55 Kamisaka/Kobayashi (2009), S. 36 f. 56 Fujiwara (2011), S. 25. 57 Fujiwawa (2005), S. 84 – 96; Fujiwara (2011), S. 71. 58 Vgl. auch Samuels (2007), S. 121. 59 Fujiwara (2011), Kap. 1. 52
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zur Familie (kazoku), zur Heimat (kyôdo) und zum „Vaterland“ (sokoku) bestehe60. Wer diese dreifache Liebe nicht verspüre, dem könnte auf der Welt, wohin er auch ginge, kein Vertrauen bzw. Respekt entgegen gebracht werden61. Für Fujiwara beinhaltet diese Heimatliebe neben der Tradition und Kultur Japans eine äußerst banale Zuneigung zu dessen „Feldern“, „Tälern“, „Blumen“ und „Bergen“62. Dabei erscheint ihm diese Liebe als Patriotismus und nicht als Nationalismus. Zu letzterem sieht er den Unterschied, dass man im Nationalismus, den er als „schmutzige Denkweise“ ( fuketsu na kangae) mit Etatismus (kokkashugi) gleichsetzt, nur auf den eigenen Vorteil bedacht sei. Patriotismus hingegen, der für ihn Heimat- (kyôdo-ai) und Vaterlandsliebe (sokoku-ai) umfasst, sei für jeden Menschen überall unerlässlich und im Gegensatz zu Nationalismus für Fujiwara sogar „schön“ (utskushii)63. Da Patriotismus (aikokushin) im Ausland jedoch häufig als Nationalismus missverstanden werde, plädiert er für das Wort „Vaterlandsliebe“ (sokoku-ai)64. Bei Fujiwara wird somit die Absicht deutlich, belastete Begriffe wie Nationalismus oder auch Patriotismus durch vermeintlich neutralere Begriffe wie „Heimatliebe“ zu ersetzen, die sich dabei jedoch inhaltlich nicht verändern (vgl. hierzu auch Kap. F). Auch die anderen, oben genannten Diskursakteure sehen die Notwendigkeit, den Stolz auf Japan wieder zu wecken, wobei sie der Geschichtsinterpretation eine zentrale Bedeutung zumessen. Ansonsten ein Kritiker Abes, begrüßt Kobayashi dessen Erziehungsreformen, durch die nicht nur das Individuum, sondern auch das Gemeinwohl und die traditionelle Kultur betont werde. Bis jetzt hätten linke Lehrer das Singen der Hymne und auch die Flagge verboten, was als „unnatürlicher Zustand“ nun aufgehoben sei. Und weiter führt er aus: „Im Erziehungsbereich geht persönliche Freiheit nicht an, es ist wichtig ein Gefühl für die Gemeinschaft zu bilden. Kinder dürfen nicht einfach machen, was sie wollen“65. Hinsichtlich Japans internationaler Rolle treten Akteure wie Kobayashi, Nishibe, Ishihara Shintarô oder auch Fujiwara im Gegensatz zu Politikern wie Abe Shinzô dabei aber für eine autonome Rolle Japans in der internationalen Gemeinschaft ein66. Samuels erklärt diese Denkrichtung mit den Worten des ebenfalls dieser Linie zuzuordnenden Historikers Nakanishi Terumasa (*1947) von der Universität Tôkyô. Nakanishi sieht die Notwendigkeit, dass Japan eigenständig werden 60 In seinem vorangegangenen Buch waren es noch „vier Lieben“, wobei Fujiwara die „Menschenliebe“ ( jinrui-ai) mittlerweile nicht mehr explizit dazu zählt, sondern eher als Ergebnis der anderen „drei Lieben“ sieht, ohne die die Menschenliebe nur ein auf Sand gebautes „Luftschloss“ sei. Vgl. Fujiwara (2005), S. 112; Fujiwara (2011), S. 94. 61 Fujiwara (2005), S. 112; Fujiwara (2011), S. 94. 62 Fujiwara (2011), S. 94. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 95. 65 Kamisaka/Kobayashi (2009), S. 84 f. 66 Vgl. Samuels (2007), S. 14, 120 ff.
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müsse, um seinen „nationalen Geist“ wiederzubeleben und so den Moralverlust und die (sozialen) Krisen zu bewältigen, die er als Folge des Niedergangs japanischer Werte und Identität sieht67. Zu diesem Zweck müsse das Land sich von einem „fehlgeleiteten“ Pazifismus verabschieden und eine auf „Einzigartigkeit“ basierende „nationale Identität“ aufbauen68. Intellektuelle wie Nakanishi oder Nishibe verfolgen eine autonome Position Japans zudem auch aus dem schlichten Grund, dass sie die Bereitschaft bzw. die Fähigkeit der USA anzweifeln, Japan im Ernstfall überhaupt verteidigen zu wollen bzw. zu können69. Wie Samuels anmerkt, kooperieren Mainstream-Konservative selten offen mit solchen Neoautomisten und machen sich eher über deren Positionen lustig. Nakanishi jedoch sei immerhin zu einem Berater von Premier Abe Shinzô aufgestiegen70. Bei ihren konkreten Konzeptionen von Staat und Nation, Nationalismus und Patriotismus gehen allerdings die Meinungen auch unter Konservativen teilweise stark auseinander. So sind sich die meisten Konservativen zwar einig, dass sie das Nachkriegssystem abschaffen wollen, aber mit welcher Art von Identität die entstandene Lücke geschlossen werden soll, darüber herrscht Uneinigkeit. Kobayashi etwa hebt den Aspekt des Gemeinwohls (ôyake) und der Gemeinschaft stark hervor, wobei er sich auch als Kritiker von „zu viel Staat“ positioniert. Verschiedentlich merkte er etwa kritisch an, dass es derzeit statt einer Vaterlands- oder Heimatliebe (kokyô-ai) nur eine Renaissance des Nationalismus im Sinne eines Etatismus (kokkashugi) gebe71 . Individuum und Staat würden mit diesem Etatismus unvermittelt miteinander verbunden, aber der Patriotismus (patoriotizumu) gehe verloren72. Mithin erscheint Kobayashis Konzept von Gemeinwohl (ôyake) als das Bindeglied von Individuum und Staat, wobei Patriotismus bei ihm eher als Bezug zur „Heimatregion“ Japan gedacht wird, bei der im Gegenteil der Zentralstaat an sich nicht zwangsläufig als wichtigster Loyalitätsbezug zu fungieren scheint. Entsprechend kritisiert Kobayashi eine Zerstörung der Regionalgemeinschaften und Familien sowie den Versuch des Staates, solche Probleme mit einem „von oben“ verordnetem Etatismus (kokkashugi) zu lösen73. Insofern steht Kobayashi einem ethnischen Nationalismus nahe, der Territorium, Kultur und Tradition betont, aus dem sich unausweichliche Verpflichtungen des Individuums gegenüber der Nation ergeben. Damit zeigt der Manga-Autor durchaus auch Schnittstellen zu Fujiwaras bzw. Abes Konzeptionen, wobei Letztere allerdings gleichzeitig stärker als Koba yashi für eine Unterstützung des Staates eintreten.
Samuels (2007), S. 122. Samuels (2007), S. 122. 69 Winkler (2011a), S. 40; Samuels (2007). 70 Samuels (2007), S. 123. 71 Kamisaka/Kobayashi (2009), S. 86 f. 72 Ebd., S. 87. 73 Kamisaka/Kobayashi (2009), S. 87. 67
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Sasaki beschreibt die ideologische Ausrichtung Kobayashis als konservativen Patriotismus (hoshu aikoku), bei dem das Territorium (kokudo) namens Japan zum Objekt seiner Loyalität werde, das ihn als „Japaner“ mit umfasse und bei dem außerdem der Tennô als Verkörperung dieser japanischen Identität zum Bezugspunkt von Verehrung (ikei) werde74. Steffi Richter attestiert Kobayashi, basierend auf dem Politologen Kang Sang-Jung, einen „nostalgisch emotionalen Patriotismus“, wobei sie dafür einen Rückhalt unter jungen und älteren Generationen als eine Form von „Nationalismus von unten“ erkennt75. Wenngleich Richter auf die möglichen Verbindungen der Nationalismen von unten und oben hinweist, so fehlt hier eine weitere Präzisierung im Hinblick auf die unkritische Übernahme des Konzepts „naiver Patriotismus“ oder auch die Differenzierung von Patriotismus und Nationalismus76. Bei einem staatszentrierten Konzept von Patriotismus bleibt Kobayashis Loyalität zum japanischen Gegenwartsstaat tatsächlich mehr als fraglich. Er geht viel eher von einer zeitlosen „japanischen Identität“, einer nationalen Kontinuität auch abseits von staatlicher Macht aus. Daraus ergibt sich bei ihm jedoch die äußerst politische und wenig „naive“ Pflicht, für diese „japanische Sache“ zu kämpfen, wann immer er sie „bedroht“ sieht. Während Nishibe in der Beziehung von Öffentlichkeit und Staat ähnliche Ansichten wie Kobayashi entwickelt, plädiert Fukuda jedoch dafür, Staat mit Öffentlichkeit (ôyake) gleichzusetzen77. Ebenso wird die Frage, ob Land (kuni) und Staat (kokka) dasselbe seien, bei Nishibe und Fukuda zum Gegenstand von Diskussionen78. Wenn ausgewiesene Nationalisten schließlich selbst anmerken, wie kompliziert doch die Materie sei, und dabei auf englische Begriffe für Land, Staat und Nation ausweichen müssen, um überhaupt noch zu wissen, über was sie reden, wird deutlich, wie konstruiert Nationalismus und Patriotismus sein müssen, wenn sogar ihre einflussreichsten Verfechter nicht mehr so richtig weiter wissen79. Während Saeki sich in der Gesprächsrunde mit Nishibe, Kobayashi und Fukuda bei diesem Thema etwas bedeckt hielt, beschrieb er an anderer Stelle Patriotismus als Konstrukt des modernen Staates80. Patriotismus entstehe nicht natürlich, sondern müsse erst von oben „eingetrichtert“ werden81. Vor dem Hintergrund von Abes Erziehungsreform spricht er Linken wie Rechten die Überzeugungskraft ihrer Argumente ab und macht ihnen den Vorwurf, Patriotismus als natürlich anzusehen, wobei beide Lager sich in Widersprüche verwickelten82. Wenn, wie KonserSasaki (2009), S. 260 f. Richter (2008b), S. 61 f. 76 Vgl. Richter (2008b), S. 61. 77 Kobayashi et al. (1999), S. 167. 78 Ebd., S. 169. 79 Vgl. ebd., S. 163 – 178. 80 Saeki (2008), S. 123 f. 81 Ebd. 82 Saeki (2008), S. 114 f. 74
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vative behaupteten, Nationalismus eine natürliche Sache sei, ergebe sich die Frage, warum er dann überhaupt gelehrt werden müsse. Die Kritik der Linken an den Reformen richte sich gegen die Rolle des Staates, der Patriotismus nicht „von oben“ aufzwingen solle, vergesse laut Saeki aber dabei, dass die von ihnen vertretenen demokratischen und pazifistischen Werte auch von oben bzw. außen – nämlich durch die USA – aufgezwungen worden seien83. Aus dieser vermeintlich beide Seiten abwägenden Darstellung arbeitet Saeki letztlich eine Unvermeidbarkeit der patriotischen Erziehung heraus84 und lässt so graduell seine nationalistische Agenda hervortreten. 3. Die Mechanismen des (neo-)nationalistischen Geschichtsrevisionismus Radikalkonservative Intellektuelle stehen bei ihrer Forderung nach einer Abkehr vom Nachkriegssystem und einer „Rückkehr zum Japanischen“ vor Legitimationsproblemen, die in der landeseigenen Gewaltgeschichte begründet liegen. Wie Sven Saaler anmerkt, ist es jedoch gerade ein fundamentales Anliegen der Rechtskonservativen, die japanischen Kriegsziele als „ehrenhaft“ zu bekräftigen, da ihrer simplen Logik zufolge die Würde der Nation nicht aufrechterhalten werden kann, wenn es stimmen sollte, dass Millionen von Japanern für eine ungerechtfertigte Sache umsonst gestorben seien85. Entsprechend wird hier der Geschichtsrevisionismus zum Mittel der Wahl, der in Japan seit Mitte der 1990er polarisierte – nicht unähnlich dem deutschen Historikerstreit der 1980er86. Revisionismus setzt freilich primär bei der Erziehung an und so steht insbesondere die Jugend im Fokus gegenwärtiger Bestrebungen. Hier konnte die Tsukuru-kai allein durch die offizielle Annahme ihres Geschichtslehrbuchs87 einen großen Erfolg verbuchen88, wenngleich es letztlich nur an wenigen Schulen eingeführt wurde89. Saeki (2008), S. 114 f. Saeki (2008), S. 123 ff. 85 Saaler (2016), S. 175. 86 Vgl. hierzu auch Richter (2008a); Saaler (2005). 87 Saaler zählt im Einzelnen die Hauptkritikpunkte am Textbuch der Tsukuru-kai auf: So wurde von Kritikern angemerkt, dass die Lehrbücher Japan als geschlossene kulturelle Einheit darstellen und eine geschichtliche Kontinuität von vormoderner Zeit bis zum heutigen Tag stark betonen. Dabei erscheint die japanische Geschichte als tennôzentriert und Japan als anderen asiatischen Ländern überlegen. Des Weiteren wird der Imperialismus des Landes während der 1930er und 1940er als rein defensive Maßnahme gegenüber der zunehmenden westlichen Einflussnahme in Ostasien dargestellt. Die anschließenden Kriege Japans werden als Befreiung Asiens deklariert, und japanische Kriegsverbrechen finden keine Erwähnung. Vgl. Saaler (2005), S. 52. Zusammenfassend wurden die betreffenden Bücher von Experten mehrheitlich als „staats-, tennô- und japanzentrisch, sowie verächtlich gegenüber Asien“ eingestuft. Zitiert nach Richter (2003), S. 90. 88 Saaler (2003); Richter (2003); Saaler (2005). 89 Richter (2003) spricht hier von unter 1 % von Schulen, die das Buch verwenden. 83
84 Vgl.
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Dabei sind die revisionistischen Darstellungen im Textbuch freilich nicht alle neu, sondern haben ihrerseits – auch außerhalb von Schulbüchern – eine längere Eigengeschichte. Das Geschichtsbild der Tsukuru-kai kann als eine Revisionismusströmung gesehen werden, die in den vergangenen Jahren dominant geworden ist und auch Intellektuelle beeinflusst hat, die nicht zur Vereinigung gehören bzw. gehörten. Im Kern basiert sie jedoch ebenfalls auf dem Dualismus der zwei konkurrierenden Geschichtsbilder, die sich nach dem Krieg herausgebildet haben. Stark vereinfachend lässt sich die Sichtweise von Japans Kriegsbeteiligung in das einerseits tendenziell progressive Bild einteilen, bei dem Japans Krieg als eine Invasion bzw. Aggression auf dem asiatischen Kontinent interpretiert wird (shinryaku sensô) und andererseits das konkurrierende, tendenziell konservative Geschichtsbild, bei dem Japans „Vorrücken“ auf den asiatischen Kontinent als ein „Befreiungs-“ bzw. „Verteidigungskrieg“ aufgefasst wird. Neonationalistische Intellektuelle operieren hier freilich auf Basis letzterer Sicht und versuchen, das etablierte progressive Bild abzulösen, das sie als „masochistisch“ empfinden ( jigyaku shikan). Dieses „masochistische“ Geschichtsbild verhindert ihrer Ansicht nach die „Rückkehr zum Japanischen“ und somit den „Stolz“ auf Japan. In der Konstruktion ihres implizit eher „sadistischen“ Geschichtsbildes lassen sich bei den neonationalistischen Revisionisten einige wiederkehrende Mechanismen herausarbeiten, mit denen das „masochistische“ Geschichtsbild eines „bösen“ imperialistischen Japan als „falsch“, „fabriziert“ und „aufgezwungen“ widerlegt werden soll: 1. Zweifel an Zeugenaussagen bzw. deren Nichtanerkennung als Beweise90 2. Selektive Quellenauswahl und Interpretation von Sachverhalten je nach Bedarf 3. Herunterrechnen von Opferzahlen oder Kritik an geltenden Definitionen 4. Umfangreiche Diskussionen von Details, durch die vom eigentlichen Vorwurf abgelenkt wird. Alternativ: Durch Widerlegung von Details wird der Hauptvorwurf als haltlos zurückgewiesen 5. Verweis auf damals geltende (Rechts)standards bzw. der Hinweis, dass über Geschichte mit heute gültigen Standards nicht geurteilt werden dürfe 6. Verweis auf die Schuld „der anderen“. Alternativ werden die Vorwürfe des „Gegners“ diesem selbst vorgeworfen. Kobayashi Yoshinori macht dabei in seinen Beiträgen regen Gebrauch von den genannten Mechanismen. Beim Thema der oftmals zwangsrekrutierten „Trostfrauen“ etwa benutzt er einen beliebten Kniff mit fragwürdiger Überzeugungskraft: Dass der Begriff „Militär-Trostfrau“ ( jûgun ianfu) damals nicht existiert habe, wird zum Ausgangspunkt, auch den Vorgang zwangsweiser Rekrutierung durch die Armee an sich abzustreiten. Sein Gewährsmann ist in diesem Fall der konservative Historiker Hata Ikuhiko (*1932). Kamisaka ergänzt, dass sich die US-Besatzer mit dem Euphemismus „Recreation and Amusement Association“ 90
Vgl. zu diesem Punkt auch Ueno (2004).
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geschickter bei der Bezeichnung japanischer Armeeprostituierter angestellt hätten91. Auch in seinem Bestseller Sensô-ron lehnt er den Vorwurf einer zwangsweisen Verschleppung und Versklavung von Frauen durch die japanische Armee ab und stellt die „Trostfrauen“ verharmlosend als Prostituierte dar, die im Grunde „freiwillig“ ( jihatsuteki) oder „notgedrungen“ (yamunaki) mit den Soldaten bloß ihre „Geschäfte“ gemacht hätten (Nihon-hei o aite ni shôbai shite ita dake), wobei er die Möglichkeit einer Ausbeutung der Frauen in „Einzelfällen“ einräumt. Eine pauschale Schuldzuweisung an die japanische Armee lehnt er jedoch ab, denn mit der gleichen Berechtigung könne man sagen, dass es die Schuld der Eltern oder der Vermittler bzw. Bordellbetreiber war92. Auch Kamisaka greift in ihrem Gesprächsband mit Kobayashi auf einen der genannten Mechanismen zurück, indem sie Vorkommnisse wie die Massenselbstmorde von Zivilisten 1945 in Okinawa (teils von der japanischen Armee angeordnet93) in Furcht vor den anrückenden amerikanischen Truppen mit dem damaligen öffentlichen Klima ( jidai no kûki) entschuldigt, ohne das man den Massenselbstmord oder die „Trostfrauen“-Problematik nicht verstehen könne94. Es sei kein Wunder, dass sich damals Frauen nach dem Motto „lieber unbefleckt sterben, als von amerikanischen Soldaten vergewaltigt zu werden“ selbst umgebracht hätten oder sich als „Trostfrau“ hergegeben hätten nach dem Motto „wenn es für die [japanischen] Soldaten ist…“. Mithin seien (japanische) „Trostfrauen“ gewissermaßen auf ihre Weise „glücklich“ gewesen95. Kamisaka vermutet sogar, dass auch sie „Trostfrau“ geworden wäre, wenn sie Soldaten damit hätte „helfen“ können96. Während Kobayashi einerseits an der Korrektheit von Zeugenaussagen von ehemaligen „Trostfrauen“ zweifelt, misstraut er freilich keineswegs den Aussagen, in denen ehemalige japanische Soldaten die Zeuginnen als „Lügnerinnen“ bezeichnen97. In Bezug auf die zahlreichen koreanischen „Trostfrauen“ sinniert Kamisaka darüber, ob es im Zuge der Annexion Koreas durch Japan nicht im Gegenteil als „Diskriminierung“ gelten müsse, keine Koreanerinnen zu rekrutieren98. Es habe wohl einerseits auch Fälle von Zwangsverschleppung durch MenschenKamisaka/Kobayashi (2009), S. 50 – 53. Kamisaka lässt hierbei freilich unerwähnt, dass japanische Regierungsstellen diese Einrichtung 1945 selbst auf den Weg gebracht haben, um Vergewaltigungen der japanischen Zivilbevölkerung zu verhindern und nebenbei die „Reinheit“ der „japanischen Rasse“ sicherzustellen, indem sich ein paar wenige „für das Volk opfern“ sollten. Vgl. hierzu auch Tanaka (2002). 92 Kobayashi (1998), S. 180 f. 93 Brooke (2005). 94 Kamisaka/Kobayashi (2009), S. 59. 95 Ebd., S. 59 f. 96 Ebd., S. 153. 97 Ebd., S. 151 f. 98 Ebd., S. 63. 91
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händler gegeben, aber andererseits hätten Polizei und Armee versucht, das Leben der „Trostfrauen“ zu verbessern und geldgierige Mittelsmänner auszuschalten99. Diese Aussage wird nur noch durch den Hinweis überboten, dass „Trostfrauen“ in zwei Jahren das verdienten, was Kamisaka damals als Schülerin in 50 Jahren eingenommen hätte100. Wenngleich Mathematiker, fühlt sich auch Fujiwara Masahiko durchaus dazu in der Lage, die Geschichte umzuschreiben. Der „Hobby-Historiker“ versucht, sich als einen eher gemäßigten, betont beide Seiten abwägenden Analysten der Materie darzustellen, der gerade aufgrund seines naturwissenschaftlichen Hintergrunds den Eindruck erwecken möchte, einen sicheren Blick für „Fakten“ und Genauigkeit zu haben. So fühlt er sich im Stande, den kontroversen Komplex des Massakers von Nanking101 (1937) aufzuklären, der neben der „Trostfrauen“-Thematik eines der bevorzugten Betätigungsfelder der Revisionisten darstellt102. Fujiwara beginnt seinen Ausflug ins Geschichtsfach mit einem Zitat aus dem Buch von Iris Chang zum Nanking-Massaker103, das die Brutalität japanischer Truppen vor Ort in drastischer Weise beschreibt und merkt dann dazu an: „Wenn es stimmt, dass unsere Väter und Großväter solche Dinge systematisch getan haben, könnten wir uns als Japaner auf 100 Jahre hinaus nicht mehr erholen. Vaterlandsliebe [sokoku-ai] und Stolz könnte man so unmöglich besitzen“104. Doch der von Fujiwara so direkt angesprochene Leser kann sich beruhigen: Diese Vaterlandsliebe ist eigentlich nicht in Gefahr, denn Fujiwara kann beim besten Willen keine Beweise für das Massaker finden. Ihm zufolge mangelt es an einer geeigneten Quellenlage, die vorliegend keine einzige Primärquelle hergebe105. Dennoch taucht an späterer Stelle eine unvermutete Primärquelle auf, in der „nur“ von einigen tausend Opfern die Rede ist, deren Informationswert Fujiwara aber implizit in Zweifel zieht106. Außerdem gebe es darü-
99
Ebd., S. 153. Ebd., S. 168 f. 101 Im Jahr 1937 massakrierten japanische Truppen im Verlauf ihrer Besetzung der damaligen chinesischen Hauptstadt Nanking dort tausende chinesische Einwohner. Angaben über die Opferzahlen schwanken stark und gehen von bis zu 300.000 Todesopfern aus. Die Sino-Amerikanerin Iris Chang (1968 – 2004) hat mit ihrem nicht unumstrittenen Buch „The Rape of Nanking – The Forgotten Holocaust of World War II“ 1997 dazu das wohl bekannteste Werk vorgelegt und ist beliebte Zielscheibe japanischer Revisionisten. Vgl. Chang (1997). 102 Auch Kobayashi Yoshinori beschäftigt sich in Sensô-ron mit dem Massaker. Vgl. Kobayashi (1998), S. 152ff. Für eine Analyse revisionistischer Beiträge zum Nanking-Komplex und deren Methodik vgl. auch Richter (2008b). 103 Chang (1997). 104 Fujiwara (2011), S. 104. 105 Fujiwara (2011), S. 108. 106 Fujiwara (2011), S. 111 f. 100
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ber hinaus keine „sorgfältig“ durchgeführte Studie (kichinto shita chôsa)107, wobei der Begriff der „Sorgfalt“ aus der Feder eines Fachfremden freilich der Interpretation des Lesers überlassen bleibt. Zweifel an Zeugenaussagen, chinesischen Quellen, Opferzahlen und der Definition von „Massaker“ oder „Invasion“ (shinryaku) gehören zu einer Verschleierungstaktik, mit Wortspielereien und der Betonung von Details vom eigentlichen Thema der japanischen Aggression abzulenken108. Laut Fujiwara habe es zwar auch Soldaten gegeben, deren man sich als Japaner „schämen müsse“; solche Verbrechen passierten aber im Ausnahmezustand des Krieges überall (bankoku kyôtsû no hanzai)109. Damit zieht er sich auf einen zynischen Allgemeinplatz zurück, mit dem auch die Kriegsverbrechen von Nanking relativiert werden sollen. Der Autor impliziert gar eine Art Verschwörung hinter der Verhandlung des Massakers bei den Kriegsverbrecherprozessen von Tôkyô, da nach dem Holocaust durch die Nazis nun auch den Japanern ein „großes Massaker“ angehängt werden sollte. Außerdem sieht er es keineswegs als Zufall, dass angesichts der amerikanischen Atombombenabwürfe auf Japan mit etwa 200.000 Opfern für das Nanking-Massaker eine ähnliche Opferzahl veranschlagt worden sei110. Nanking sei so keine geschichtliche, sondern eine politische Tatsache111. Dabei führt er immer wieder chinesische Gräueltaten an japanischen Soldaten oder Siedlern an, die mit dem Etikett des „antijapanischen Terrors“ als „unrechtmäßig“ gegenüber der nach damaligem Recht „rechtmäßigen“ Kolonialisierung des Landes erscheinen sollen112. Auch Kobayashi, Nishibe, Saeki und Fukuda befassen sich in dem bereits angeführten Gesprächsband mit dem Nanking-Massaker. So stellt sich auch bei ihnen zunächst die groteske Frage, ab wie vielen Toten überhaupt ein Massaker anfängt, und ob Nanking ein großes113 oder doch eher „kleines“ Ereignis dieser Art war114. Kobayashi schiebt das Massaker einer chinesischen „Guerilla“ in die Schuhe, die die Verbrechen verübt habe, um es dann so aussehen zu lassen, als seien es Japaner gewesen115. Auch einen latenten Antijudaismus lassen die Amateur-Historiker durchblicken. Kobayashi sieht bei Iris Chang Verbindungen zur „jüdischen“ Industrielobby in den USA, Nishibe weiß in diesem Kontext von einer „jüdischen Lobby“ in Deutschland zu berichten, die dort Druck ausübe116.
Fujiwara (2011), S. 108. Fujiwara (2011), S. 104 – 122, 132. 109 Fujiwara (2011), S. 115. 110 Fujiwara (2011), S. 119. 111 Ebd., S. 120. 112 Fujiwara (2011), S. 163. 113 Im Japanischen wird das Nanking-Massaker oftmals auch als Nankin dai-gyakusatsu (großes Massaker von Nanking) bezeichnet. 114 Kobayashi et al. (1999), S. 44. 115 Ebd., S. 45. 107
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Mithilfe solcher Mechanismen wird in „moderaten“ Fällen Japans Schuld relativiert und in extremen Situationen das Opfer-/Täterverhältnis komplett umgedreht, um Japan den „Opferstatus“ verleihen zu können117. Im Rahmen dieses Revisionismus fällt allerdings der Mangel an ausgebildeten Historikern auf, bei dem sich Amateurhaftigkeit gar zur Auszeichnung wandelt. Zum Beispiel sind Nichthistoriker Mitbegründer der Tsukuru-kai, vorliegend der Literaturwissenschaftler Nishio Kanji (*1935) und der Erziehungswissenschaftler Fujioka Nobukatsu (*1943)118. Die Tsukuru-kai geriert sich als „grass roots“-Bewegung mit antielitärem Anstrich119. Die „Geschichte des Volkes“ soll vermeintlich von diesem selbst und aus dessen Sicht „von unten“ geschrieben werden, ohne sie durch etablierte Experten zu „verfremden“. Anders sind die fragwürdigen Ergebnisse der Revisionisten auch kaum denkbar, die durch eine wissenschaftliche Ausbildung nur behindert würden. In Kapitel E. wird dieser Aspekt des Anti-Elitismus, in dem das Konzept des Experten abgelehnt wird, noch einmal gesondert aufgegriffen. 116
Dabei stehen die hier untersuchten Radikalkonservativen exemplarisch für eine Form von „nostalgischem“ Nationalismus, der einer für unwürdig empfundenen Gegenwart eine glorifizierte Vergangenheit entgegensetzt, um an die Restauration „japanischen Geistes“ und Identität zu appellieren120. Diese „Utopisierung“ der Vergangenheit121 ist gleichzeitig an eine Utopisierung der Zukunft geknüpft, die die Ursachen der gegenwärtigen Probleme in einer kollektiven „nationalen Anstrengung“ rückgängig machen soll122. 4. Wer hat Angst vorm weißen Mann? Racializing als Rechtfertigungsstrategie Eine in bisherigen Darstellungen des japanischen Geschichtsrevisionismus kaum behandelte Facette ist der latente Rassismus, mit dem versucht wird, Japan als Opfer des westlichen Rassismus darzustellen, um den japanischen Imperialismus zu relativieren. Fujiwara bemerkt nicht zu Unrecht, dass der amerikanische Kampf gegen Japan im Zweiten Weltkrieg und generell die imperialistischen Bestrebungen der westlichen Großmächte in Asien auch rassistisch konnotiert waren (Stichwort „die gelbe Gefahr“). Er verweist ebenso auf die Diskriminierung von Afro-Amerikanern in den USA, die Massaker an Indianern, ja selbst die Ausrottung der Bisons, um den imperialistischen Geist der amerikanischen „FronKobayashi et al. (1999), S. 42 f., S. 51 f. Vgl. auch Richter (2008b), die bei ihrer Analyse vergleichbarer revisionistischer Beiträge zum Thema zu ähnlichen Ergebnissen kommt. 118 Vgl. hierzu auch Saaler (2016), S. 179. 119 Vgl. Oguma/Ueno (2003). 120 Vgl. McVeigh (2004), S. 66. 121 Vgl. Sakamoto (2008). 122 McVeigh (2004), S. 68. 116 117
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tier“-Ideologie des „Manifest Destiny“123 zu kritisieren, welche die Grundlage für den amerikanischen Rassismus und Imperialismus hergebe124. Mithin glaubt er, den USA und dem Westen insgesamt eine „Liebe zu Konflikten“ attestieren zu können125. Mit dieser Mentalität des „die anderen haben auch schlimme Dinge getan“ soll japanische Gewaltgeschichte kleingeredet und relativiert werden. Nur allzu gern übernimmt er eben diesen Rassismus für seine eigene Argumentation. Natürlich ohne auf den japanischen Rassismus gegen andere Asiaten126 oder seine antiwestliche Version davon einzugehen, stilisiert er den Pazifischen Krieg auch als einen Krieg der Solidarität der „farbigen Völker“ (auch die kolonisierten Koreaner und Chinesen sollen hier dazugehören) gegen die Herrschaft der „Weißen“ in Asien, für den asiatische Führer Japan dankbar gewesen seien127. Aus diesem „Racializing“ leitet er implizit eine moralische Berechtigung für den Krieg ab und kann so die Opferrolle Japans weiter betonen, das sich und Asien doch tatsächlich nur vor den „bösen“ Absichten des „weißen“ Mannes schützen und allen Völkern Frieden und Wohlstand bringen wollte – Japan als „Retter“ Asiens. Bei Fujiwara heißt es überdies, dass der Imperialismus aus „heutiger Sicht“ nicht gut war, die Japaner aber eigentlich den Frieden liebten128. Mithin erscheint es bei ihm so, als sei Japan in den Krieg hineingezwungen worden, der bei ihm ein „hundertjähriger Krieg“ ist und schon mit der Ankunft Perrys 1853 begann129. So kann er praktischerweise die japanische Verantwortung für den Krieg den Amerikanern bzw. dem Westen allgemein anlasten, die Japan zur Öffnung zwangen. Im gleichen Zuge erscheint auch die Kolonisierung Asiens als Notwendigkeit zur Sicherung der japanischen Existenz, wobei die gewaltsame Landnahme auf dem asiatischen Kontinent nach “damaligem Recht“ ohnehin „in Ordnung“ gewesen sei130. Dem japanischen Edelmut in den japanischen Kolonien – völlig „uneigennützig“ – Wasserleitungen und andere Infrastruktur zur Verfügung gestellt zu haben131, stellt er den Imperialismus des weißen Mannes gegenüber und bezweifelt daher, dass Japan die Unterwerfung Asiens langfristig geplant haben könnte. Den „Angelsachsen“, die in Fujiwaras Kreisen eher eine schimpfliche Konnotation mitfüh123 „Manifest Destiny“ ist eine Vorstellung, die ihre Wurzeln im 17. Jh. hat und die Landnahme auf dem amerikanischen Kontinent ideologisch rechtfertigen soll. Amerika war demnach dafür bestimmt („destined“) sich vom Atlantik bis zum Pazifik auszubreiten und jeden Zentimeter des Kontinents zu kolonisieren. Diese Expansion sei demzufolge unausweichlich und darüber hinaus eine „zivilisatorische Verpflichtung“. Vgl. Weidinger (2006), S. 63. 124 Fujiwara (2011), S. 187 f. 125 Fujiwara (2005), S. 90. 126 Vgl. z. B. Oguma (2002a). 127 Fujiwara (2011), S. 230 f. 128 Fujiwara (2011), S. 228 f. 129 Fujiwara (2011), S. 124, 227 – 231. 130 Ebd., S. 134, 153. 131 Vgl. Fujiwara (2011), S. 138.
I. Der konservative Diskurs – die Nachkriegsordnung als Feind, Stolz als Ziel
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ren, schreibt er gleichwohl die Tugend zu, die weltbesten Langzeitstrategen zu sein. Da diese Eigenschaft den Japanern jedoch gänzlich fehle, ist für ihn bewiesen, dass Japan, entgegen der Vorwürfe der Amerikaner in den Kriegsverbrecherprozessen von Tôkyô, gar nicht in der Lage gewesen sein konnte, imperialistische Aggressio nen auf dem asiatischen Kontinent von langer Hand geplant und durchgeführt zu haben132 – eine Argumentation, der man zumindest eine gewisse Rabulistik nicht absprechen kann. Diese im besten Fall essentialisierende „Beweisführung“, bei der wie in diesem Beispiel zunächst durch die Konstruktion fragwürdiger Nationalcharaktere „nicht widerlegbare“ und vollendete „Tatsachen“ geschaffen werden, dekuvriert einerseits den pseudo-gelehrten Impetus Fujiwaras, der sich betont objektiv, die „Fakten“ abwägend und vermeintlich wissenschaftlich gibt. Anderseits dient seine Vorgehensweise nach dem Motto „es kann nicht sein, was nicht sein darf“ dazu, von eigener Schuld abzulenken, indem die Schuld „der anderen“ betont wird und so weitaus erdrückender erscheint. Alle Probleme Japans haben bei Fujiwara ihren Ursprung im westlichen Individualismus133. Der gesamte Westen wird Japan als monolithische Kraft undifferenziert gegenübergestellt. Dabei erscheint Amerika oft als pars pro toto des Westens, wenn nicht gar der gesamten, nicht-japanischen Welt und gerät mithin zum kompletten Gegensatz Japans. Fujiwara, der einige Zeit in den USA lehrte, schmückt sich gleichwohl gern mit seinen Kontakten zu Professoren amerikanischer Elite-Universitäten, um seine eigene Autorität hervorzuheben. Auch andere Vertreter des neonationalistischen Diskurses sind solchen rassistischen Argumentationsstrategien nicht abgeneigt. Nishibe Susumu spricht vom „weißen Imperialismus“, der mit dem Plan einer Invasion näher rückte, und den Japan „verzweifelt“ abzuwehren versuchte134. Japan hätte nur die Wahl zwischen Kapitulation und Kampf gehabt und sich für letzteren entschieden. Dies deutet Nishibe als einen grundlegenden Stolz als Ethnie/Nation (minzoku), die nicht kapituliere135. Der Kampf gegen die „Weißen“ wird hier zur Quelle für „Nationalstolz“, aber laut Nishibe habe es im Verlauf des Krieges auch Stoff für Selbstreflektion gegeben, weswegen man nicht zu voreilig stolz auf den Krieg sein dürfe136. Ebenso kann Fukuda im Krieg einige Berechtigung erkennen, wenn man ihn als eine „Reconquista“ Asiens von der „Herrschaft der Weißen“ (hakujin shihai) betrachte137. Zudem weiß Kobayashi über „die Weißen“ zu berichten, dass die „Angelsachsen“ auf eine 500-jährige Geschichte von Invasion, Massakern, Versklavung und Kolonisierung zurückblickten, 100 Millionen Indianer ermordet hätten Fujiwara (2011), S. 127. Fujiwara (2011), Kap. 8. 134 Kobayashi et al. (1999), S. 37. 135 Ebd., S. 58. 136 Kobayashi et al. (1999), S. 58. 137 Ebd., S. 38. 132 133
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und auf ihre Taten auch noch stolz seien (kagaisha no hokori)138. Aus dem Kampf gegen „die Weißen“ und deren Versuch, die „gelbe Rasse“ (kôshokujinshu) zu Sklaven zu machen, leitet er somit einigen Stolz ab139. Nishibe resümiert, dass die „Angelsachsen“ eine Ethnie/Nation (minzoku) seien, die immer nur Krieg geführt habe, wobei Fukuda ergänzt, dass die Motive ihrer Herrschaft andere seien. Engländer seien bloße „Piraten“, die nur an Gewinn interessiert seien, während Japaner, wann immer sie die Kontrolle über ein Land übernahmen, Schulen und Krankenhäuser bauten. Nishibe zieht daraus den unkomplizierten Schluss, dass die damaligen Japaner wohl „gute Menschen“ waren140. 5. Der Kampf um die „eigene“ Geschichte Wie der Historiker Bo Strath ausführt, ist Geschichte eher ein Abbild („image“) der Vergangenheit und weniger die Vergangenheit, wie sie wirklich war141. Viel wichtiger noch, Geschichte ist nicht unveränderlich, sondern wird kontinuierlich revidiert und den wechselnden Interessen und Notwendigkeiten angepasst142. Nationalismus bildet bei dieser Anpassung von Geschichtsbildern einen wichtigen Faktor, da die Revision von Geschichte auch mit einer Revision des Nationenbildes einhergehen kann143. Die Untersuchung relevanter Diskurse zeigt, dass gegenwärtige Revisionismusbestrebungen primär darauf abzielen, das „Recht“ auf eine eigene, autonome Geschichtssicht zu konstruieren. Vorliegend soll der Schandfleck des japanischen Imperialismus gelöscht und eine Kontinuität „reiner“ japanischer Geschichte von grauer Vorzeit bis heute erschaffen werden. Fukuda Kazuya erklärt in einem Gespräch mit Kayama Rika hierzu, dass er in einem über das Nanking-Massaker geschriebenen Artikel aus Sicht der Japaner vor Ort und nicht der Chinesen schreiben wollte144. Er wendet sich hier gegen jene Sichtweise, die nur eine Wahrheit kennt145. Geschichte erscheint bei den Radikalkonservativen in narzisstischer Weise als etwas, das einem selbst „gehört“146 und was umso mehr an „Wahrheit“ gewinnt, je stärker man es selbst beeinflusst. Hier wird aber insbesondere durch die Globalisierung und den damit wachsenden Druck von außen (China, Südkorea) deutlich, wie die ohnehin künstlichen Grenzen „nationaler Geschichte“ aufgeweicht werden. 138
Ebd., S. 40, 89. Kobayashi et al. (1999), S. 89 f. 140 Kobayashi et al. (1999), S. 91. 141 Strath (2000), S. 19. 142 Vgl. Ueno (2004), S. 3. 143 Vgl. Raddatz (2013a). 144 Kayama/ Fukuda (2003), S. 48 f. 145 Sasaki (2009), S. 182 f. 146 Vgl. Raddatz (2013a); vgl. auch Iida (2002), S. 246. 139
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Das „Anrecht“ auf die eigene Geschichte wird dabei gelegentlich nicht nur für nationalistische Zwecke, sondern auch in sich nationalistisch hergeleitet. Saeki Keishi ist ein Beispiel hierfür. Er versucht, sich in seinem Buch „Japans Patriotismus“ („Nihon no Aikokushin“) von 2008 als Vermittler zwischen den beiden Geschichtsbildern (progressiv vs. konservativ) zu positionieren und übt Kritik an beiden Sichtweisen147. Doch täuscht der angestrebte Eindruck, dass er dabei die Argumente abwägt. Bei genauerem Hinsehen steht er vielmehr der radikalkonservativen Geschichtssicht eines Nishibe, Kobayashi oder Fujiwara sehr nahe. Er versucht, beide Kriegsperspektiven zu kombinieren, indem der japanische Feldzug bei ihm eine „Befreiung“ war, die sich aber in der Folge zur Invasion wandelte148. Saeki konstruiert einen Gegensatz aus einem westlichen und einem japanischen Geschichtsbild, wobei das westliche von einem jüdisch-christlich konnotierten „Messianismus“ geprägt sei, was z. B. auch im deterministischen marxistisch-progressiv beeinflussten Geschichtsbild hervortrete149. In seiner Überzeugung, dass Geschichte nicht in „gut“ oder „schlecht“ eingeteilt werden könne, macht Saeki deutlich, dass das progressive Geschichtsbild im Nachkriegsjapan durch das „japanische Geschichtsbild“ abzulösen sei, das auf der Idee der „Zeitströmung“ ( jisei) basiere, die dabei auch „originär japanisch“ sei150. Die Idee eines „Flusses der Geschichte“ führt bei Saeki zu der praktischen Konsequenz, dass Geschichte nicht mehr „messianisch“ oder zielgerichtet ist, sondern ein „wertfreier“ Strom der Zeit, in dem Dinge „einfach passieren“151. So versucht sich Saeki an der Befreiung vom „westlichen“ und „unjapanischen“ Geschichtsbild und stellt den Krieg mit all seinen Konsequenzen als „unvermeidlich“, quasi schicksalhaft dar, wobei auch die Vorstellung mitschwingt, Geschichte könne nur aus der damaligen Zeit und nach damaligen Gesetzen verstanden werden. Mithin wird Kritik an japanischer Gewaltgeschichte als „westlich“ abgelehnt, da sich bei einem vermeintlich „japanischen“ Geschichtsbild die Frage nach „gut“ und „böse“ gar nicht mehr stellt – alles „passiert“ im „Strom der Zeit“. Die Konstruktion eines „Rechts“ auf die eigene Geschichtssicht sowie der Hinweis, man dürfe Geschichte nicht aus der heutigen Zeit betrachten152 soll eine kritische Überprüfung japanischer Geschichte im Keim ersticken. Ein grundlegender Zweifel an der Ratio des radikalkonservativen Arguments besteht jedoch in der Frage, wie die Fixierung auf die (geschönte) Vergangenheit überhaupt die Lösung für gegenwärtige Herausforderungen liefern soll. Fujiwara etwa, der sein Buch „Der Stolz der Japaner“ betitelt153, verwendet zwei Drittel des Textes auf Saeki (2008), S. 215. Saeki (2008), S. 285. 149 Vgl. Saeki (2008), S. 258 f. 150 Saeki (2008), S. 258. 151 Vgl. ebd., S. 256 – 259. 152 Vgl. Fujiwara (2011), S. 173. 153 Fujiwara (2011). 147
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die Revision japanischer Imperialismusgeschichte, um im Rest seiner Betrachtung daraus eine Wiederherstellung des Stolzes abzuleiten, mit der heutige Krisen zu bewältigen seien.
II. Die „Entkriminalisierung“ des Nationalen abseits neonationalistischer Ansätze– drei Beispiele 1. Der Grand Seigneur der „spirituellen Intellektuellen“: Umehara Takeshis „unpolitischer“ Ethnonationalismus Der Philosoph Umehara Takeshi (*1925), von dem in dieser Studie schon am Rande die Rede war, ist ein Urgestein des japanischen Kulturdiskurses und übt seit den späten 1960er Jahren auch durch seine diversen Ämter einen nicht zu unterschätzenden Einfluss aus. Gleichwohl ist er in der westlichen Japanforschung relativ wenig rezipiert worden154. Laut Inken Prohl gründet sich Umeharas Einfluss auf den Rückhalt, den er in Politik oder auch großen, nationalkonservativ ausgerichteten Verlagen wie PHP genießt155. In den 1980ern Leiter des Nichibunken (s.o.), fungierte er von 1997 bis 2003 als Direktor des japanischen P.E.N.-Clubs156. Trotz seines fortgeschrittenen Alters ist Umehara in Japan auch noch in den 2010er Jahren ein beliebter Gesprächspartner geblieben. So wurde der betagte Philosoph Ehrenvorsitzender des als Reaktion auf das Tôhoku-Erdbeben 2011 von der japanischen Regierung ins Leben gerufenen „Reconstruction Design Council“157. Hinsichtlich seiner ideologischen Positionierung vermittelt seine Selbsteinschätzung einen ersten Eindruck. Im Rahmen eines im Mai 2011 gehaltenen Vortrags wird er auf einem Blog mit den Worten zitiert: „Wenn man mich fragt, was von beidem ich bin, so bin ich ein Mensch, von dem man sagt, er sei rechts [uyoku]. Bloß Krieg ist etwas Schlechtes. Wenn man Artikel 9 ändert, glaube ich, ist das schlecht“158. Diese Selbsteinschätzung ist zunächst insofern aufschlussreich, als sich Konservative für gewöhnlich eher als „konservativ“ (hoshu) denn als „rechts“ (uyoku) bezeichnen würden. Sie ist aber auch hilfreich, um Umehara ideologisch Zu den Ausnahmen zählen Gebhardt (2001) und Prohl (2000). Prohl (2000), S. 103. 156 Umehara erhielt auch diverse Auszeichnungen, darunter 2002 den Friedenspreis der „Goi Foundation“, die ihre Mission im Erreichen des Weltfriedens sieht und zur Begründung der Preisverleihung an Umehara schreibt: „For revealing timeless wisdom for a harmonious future through his unique and comprehensive study of Japanese culture. „Umehara’s Japanology,“ crossing disciplines of Japanese intellectual history, ancient studies, literature, religion and various other fields, is an endless pursuit of truth, unimpeded by common beliefs and knowledge, to help guide the future of humanity“. https://www.goipeace.or.jp/en/ work/award/award-2002/ (Zugriff: 20. 04. 2017). 157 http://www.cas.go.jp/jp/fukkou/english/ (Zugriff: 20. 06. 2016). 158 http://www.kyotolaw.jp/introduction/furukawa/2011/05/post-32.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 154 155
II. Die „Entkriminalisierung“ des Nationalen abseits neonationalistischer Ansätze 147
einzuordnen, der sich einerseits für die Nachkriegsverfassung einsetzt, die in konservativen Kreisen überwiegend als von Amerika oktroyiert gilt und eher von den Linken verteidigt wird. Andererseits versucht er in seinen Beiträgen, insbesondere zu Shintôismus und Buddhismus, ein Japanbild zu zeichnen, das sich leicht in einer Grauzone von Esoterik, Spiritualität und Ethnonationalismus verliert und eher konservativen Phantasien japanischer Überlegenheit und Einzigartigkeit Vorschub leistet. Die Japanologinnen Lisette Gebhardt und Inken Prohl zählen Umehara zu den sogenannten „spirituellen Intellektuellen“159. Gebhardt stuft seine Standpunkte zur „japanischen Spiritualität“, die auf Theorien aus der Vorkriegszeit zurückgingen, als nationalkonservativ ein, seine Haltung sei rückwärtsgewandt und wertkonservativ. So seien seine Thesen von einer nationalen Selbstbehauptungsstrategie geprägt. Japan solle sich dabei nicht mehr länger als Peripherie der westlichen Kultur sehen160. Andere Kritiker wie der Journalist Ian Buruma bezeichnen Umehara als „nationalistischen Anthropologen“ und „Yamatoist“161. Prohl erkennt in seinen Thesen zudem Parallelen zur kokutai-Ideologie162. Der Anthropologe Befu Harumi sieht Umehara speziell auch als einen bedeutenden Akteur des Nihonjinron an, und nennt in diesem Zusammenhang weitere ehemalige Angehörige des Nichibunken163. Vor diesem Hintergrund können manche Äußerungen Umeharas überraschen. In einem in der Asahi Shinbun erschienenen Gespräch mit dem Politologen und Historiker Iokibe Makoto164 (*1943) von 2005 spricht er als Zeitzeuge des Krieges von seiner „Kriegsallergie“. Er habe sich bei den marxistischen Bewegungen nach dem Krieg zwar allein gefühlt, fühle sich aber nun auch wieder einsam. Das Volk drifte nach rechts, und er habe das Gefühl, der Etatismus (kokkashugi) käme wieder zurück165. Spricht aus dieser Nationalismusfurcht etwa seine Altersweisheit? Wie sich zeigt, liegt der Fall etwas anders. In neueren Beiträgen neigt Umehara dazu, die kulturelle Nähe Japans zu Asien betonen, die auf Reisanbau beruhe, der verbunden mit Polytheismus eine naturfreundliche Kultur geschaffen habe. Eben dieser Reisanbau, den Umehara in Kontrast zu westlichen Kulturen des „Weizenanbaus“ sieht, ist auch Thema in einem Gesprächsband mit dem Historiker Ueda Masaaki (*1927). In ähnlicher Weise lobt Gebhardt (2001); Prohl (2000). Gebhardt (2001), S. 44, 48. 161 zitiert nach Prohl (2000), S. 100. Prohl widerspricht Buruma hier jedoch, indem sie anmerkt, dass Umehara die Ursprünge Japans in der prähistorischen Jômon-Ära und nicht im viel jüngeren Kaiserreich Yamato sehe. Vgl. ebd. 162 Ebd., S. 125. 163 Vgl. Befu (2001), S. 15. 164 Iokibe ist wie Umehara ebenfalls im „Reconstruction Design Council“ tätig und fungiert dabei als Vorsitzender. http://www.cas.go.jp/jp/fukkou/english/ (Zugriff: 20. 06. 2016). 165 Asahi Shinbun (2005b). 159
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er hier die vermeintlich tolerante, aufnahmebereite japanische Kultur und hebt in besonderer Weise hervor, wie stark Japaner „im Einklang mit der Natur“ lebten, wohingegen die christliche Kultur die Natur unterwerfe und zerstöre166. In dieser Essentialisierung und Reduzierung von ganzen Kulturkreisen auf ein Grundnahrungsmittel kristallisiert sich Umeharas Denken graduell heraus. Japan wird wahlweise als pars pro toto für (ost)asiatische Kultur (da China eine Art hybride Reis-/Weizenkultur sein soll), oder als einzelnes Land in Gestalt einer eigenständigen „Zivilisation“ dem gesamten „Westen“ gegenübergestellt, wie dies auch andere Konservative wie Fujiwara Masahiko praktizieren. Laut Umehara habe demgemäß die späte Aufnahme der Landwirtschaft in Japan eine eigenständige Kultur hervorgebracht. Deren Lebensweise als Jäger und Sammler habe sich als fair (byôdô) mit geringer sozialer Diskriminierung erwiesen167. Die Weltanschauung mit Göttern (kami) und die Waldbezogenheit, die es seit der Jômon-Zeit (10.000 – 300 v. Chr.) gebe, kennzeichne klar die Mentalität einer „Jäger- und Sammlernation“ (shuryô saishû minzoku). Im Shintô sei diese Jômon-Denkweise über Götter die ganze Zeit erhalten geblieben168. Nicht nur hier sieht Umehara urgeschichtliche Perioden in der Vorgeschichte Japans wie Jômon- und Yayoi-Zeit in einer Kontinuität mit dem heute existenten Japan169. Bei Umehara erscheint die Natur als eine Art mystischer Ort, deren metaphysische Kraft sich in Form von „Wäldern“170, „Regen“ etc. manifestiert. Dies bringt er mit einem shintôistischen Denken in Verbindung, in der seine implizite Überzeugung mitschwingt, dass diese polytheistischen „Reiskulturen“, da sie im Einklang mit der Natur lebten, den „Weizenkulturen“ überlegen seien. Denn letztere unterwürfen die Natur (hier fehlen laut Umehara Wälder und selbst Regen) und zerstörten somit das Göttliche in ihr. Da er im konservativen Sinne Modernisierung als Zerstörung von Tradition begreift, das „wahre“ Japan dieser Vorstellung zufolge also nur vormodern existierte, bedeutet die von den westlichen Kulturen aufgezwungene Modernisierung nicht nur die Zerstörung der Natur, sondern gleichzeitig die Zerstörung des „traditionellen Japans“, das implizit im Einklang mit dem Göttlichen lebte. In der Opposition aus den zerstörerischen Kräften des Westens und den natur-/ gottesliebenden und friedliebenden Japanern/Asiaten, lässt sich auf diese Weise eine japanisch-asiatische Überlegenheit konstruieren. Umehara ist dabei einer der wichtigsten Vertreter eines (spirituellen) „Natur-Nationalismus“171, der in Japan eiUmehara/Ueda (2001). Umehara/Ueda (2001), S. 60. 168 Umehara/Ueda (2001), S. 61 169 Vgl. Raddatz (2012), S. 117. 170 Zur Bedeutung der Wald-Thematik im Diskurs der spirituellen Intellektuellen vgl. auch Prohl (2002). 171 Die Japanologin Tessa Morris-Suzuki schreibt, dass Konzeptionen von „Natur“ generell für die Konstruktion nationaler Identität wichtig seien, was besonders für den ja166 167
II. Die „Entkriminalisierung“ des Nationalen abseits neonationalistischer Ansätze 149
nen durchaus prominenten Strang des Nationalismusdiskurses172 darstellt und zudem andere prominente Intellektuelle wie etwa den Geographen Yasuda Yoshinori (*1946) einschließt. Dieser betont ähnlich wie Umehara die Bedeutung des Waldes und imaginiert die Japaner als im Einklang mit der Natur lebendem „Waldvolk“, demgegenüber der christlich geprägte Westen den Wald zerstöre173. Dieser vermeintliche „common sense“ der „typisch japanischen“ Naturverbundenheit findet sich stellenweise auch im allgemeinen konservativen Diskurs, etwa in den untersuchten Beiträgen eines Abe Shinzô oder Fujiwara Masahiko wieder174. Auch Umeharas Versuche, den Shintô zu „entkriminalisieren“, den er als vom Staats-Shintô missbraucht darstellt, gehen in eine ähnliche Richtung. Der Philosoph zeigt sich so auch als erbitterter Kritiker des Yasukuni-Schreins als prominenten Symbols des historischen Staats-Shintô und tritt als vermeintlich „unpolitischer“ Intellektueller auf, der einen naturverbundenen Spiritualismus propagiert. Während er sich als Gegner eines politischen Nationalismus inszeniert (Anti-Yasukuni, Pro-Nachkriegsverfassung), tritt zugleich ein deutlicher, kulturell, spirituell und ethnisch konnotierter Nationalismus hervor. Dieser erscheint aber nicht zwingend exklusiv, sondern verfolgt stellenweise eine panasiatische Vision auf Basis der „Reiskulturen“, die ihm zufolge eine gemeinsame Kultur teilten. Als problematisch kann an diesen Argumentationsmustern eine latente Schuldzuweisung an den Westen gesehen werden. Da die Meiji-Zeit mit ihrer Politik der Verwestlichung japanische Traditionen zerstört habe, lässt sich dem Westen folglich auch die implizite Schuld an Japans imperialistischen Irrwegen anlasten. Der Nachkriegspazifismus erscheint bei Umehara jedoch ganz anders als bei Kobaya shi, Nishibe und anderen Konservativen nicht als von den USA aufgezwungen, sondern eher als Japans eigentliche Tradition und wird aus der Geschichte eines angeblich friedliebenden und im Einklang mit der Natur lebenden Volkes abgelei-
panischen Fall gelte, wofür sie Umehara Takeshi und den Geographen Yasuda Yoshinori als Beispiele anführt. Die Wurzeln dieses japanischen Natur-Nationalismus liegen bei zur kokugaku gehörenden Gelehrten wie Motoori Norinaga (1730 – 1801), die erstmals ein „distinktiv japanisches“ Gespür für die Natur konstruierten, wobei sich dieses Denken ab der Meiji-Zeit weiterentwickelte. Denker wie der Philospoh Watsuji Tetsurô (1889 – 1960) waren weitere prominente Vertreter, die den Mythos vom besonderen Gespür der Japaner für die Natur in der Zwischenkriegsperiode fortschrieben. Vgl. Morris-Suzuki (1998), S. 35, 51, 56 f. 172 Vgl. hierzu auch Raddatz (2012). 173 Hierbei zieht er ähnlich wie Umehara eine durchgehende Linie von der urgeschichtlichen Jômon-Zeit bis heute, um das „Wesen der Japaner“ zu charakterisieren. Ebenso hebt er auch die Unterschiede von ostasiatischen „Reiskulturen“ und westasiatischen oder europäischen Kulturen des „Weizenanbaus“ hervor, die Yasuda wegen ihrer Viehzucht als „Haustiervölker“ bezeichnet (kachiku no tami). Im Zuge der Globalisierung sieht Yasuda eine „Rückkehr zum Wald“ gar als einzige Möglichkeit, Japans Überleben zu sichern. Vgl. Yasuda (2002). Vgl. zu Yasuda auch Morris-Suzuki (1998), S. 35; Raddatz (2012), S. 117 f. 174 Vgl. auch Raddatz (2012).
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tet175. Diese Sichtweise teilt Umehara auch mit Revisionisten wie Fujiwara Masahiko wobei beide in ähnlicher Weise den japanischen Pazifismus auf die Geschichte der Heian- und Edo-Zeit zurückführen176. Umehara positioniert sich bisweilen als Nationalismuskritiker und versucht die Quadratur des Kreises, wenn er, wie im Gespräch mit dem Literaturkritiker Katô Shûichi vorgeschlagen, versuchen will, „japanische Kultur“ von Nationalismus zu trennen, die auch gern von der Politik missbraucht werde177. In der asiatischen Zivilisation aber, so Umehara, sei Japan nur Peripherie, worauf ihm sein Gesprächspartner Ueda jedoch widerspricht. Wichtig sei vielmehr eine Neubewertung der Jômon-Kultur178. Wenn Umehara hier von der Existenz einer „japanischen Kultur“ ausgeht, so ist dies allerdings stets mit einem nationalistischen Rahmen verbunden. Bei spirituellen Intellektuellen wie Umehara ist die Tendenz erkennbar, japanische, religiöse Traditionen umzudeuten, was etwa an Narrativen von Shintô als indigener Religion Japans deutlich wird179. Mit ex post angelegten Wunschvorstellungen von japanischer, religiöser und kultureller Kontinuität und Homogenität, die „dem Japanischen“ zu Grunde liegen sollen, werden ähnliche Muster wie beim derzeitigen Geschichtsrevisionismus erkennbar, insofern sie eine Ex-Post-Utopie japanischer Geschichte und Kultur entwerfen, die in sich nationalistisch angelegt ist. Inken Prohl sieht in den Texten von Umehara und vergleichbaren Akteuren eine Form des religiösen Nihonjinron, der nicht nur eine Überlegenheit japanischer Religion im Speziellen, sondern eine generelle japanische Überlegenheit zu konstruieren sucht und gleichzeitig die Lösung für die „Rettung der Welt“ bereitzuhalten glaubt180. Nationalismus wird bei Umehara zuweilen auf einen Etatismus (kokkashugi) reduziert, worin eine gewisse Ablehnung von politischem Nationalismus zugunsten eines kulturellen Nationalismus zum Ausdruck kommt. Dennoch verfolgt auch Umeharas Nationalismus freilich politische Ziele. Der betagte Philosoph gibt sich vordergründig weitgehend „unpolitisch“, wobei sein Eintreten für vermeintliche Traditionen Japans und vormoderne japanische Spiritualität jedoch auch im interkulturellen Dialog den japanischen Vormachtanspruch deutlich machen soll. Indem Umehara teilweise mit progressiven Positionen kokettiert, erlangt er eine flexibel gestaltbare Position im Diskurs, die es ihm ermöglicht, Schnittstellen zu allen ideologischen Lagern zu öffnen und sein Kernanliegen zu fördern, nämlich die Renaissance vermeintlich durch die Moderne verloren gegangener, japanischer „Traditionen“. Dies lässt ihn zum Stichwortgeber nationalistischer Kreise mit ganz anderen Ambitionen werden. Raddatz (2012). Fujiwara (2011). 177 Asahi Shinbun (2004). 178 Umehara/Ueda (2001), S. 59 f., 63. 179 Prohl (2002), S. 154. 180 Prohl (2002), S. 154 f. 175 Vgl. 176
II. Die „Entkriminalisierung“ des Nationalen abseits neonationalistischer Ansätze 151
2. „Guter“ Volksnationalismus vs. „böser“ Elitennationalismus – Matsumoto Ken’ichi Der Kommentator und Autor Matsumoto Ken’ichi (1946 – 2014) war ein Diskurs teilnehmer, der sich einer eindeutigen Einordung in rechts oder links zu entziehen schien und zwischen den Lagern oszillierte. Am ehesten lässt er sich als repräsentativ für die Kontinuität eines vergleichsweise gemäßigten Nachkriegsnationalismus kennzeichnen, der in moderat-konservativen wie teilweise auch liberalen Kreisen beheimatet ist und vorliegend an das Geschichtsbild von Shiba Ryôtarô anknüpft. In zahlreichen Büchern setzte sich Matsumoto mit dem Thema Nationalismus sowie dem progressiven und konservativen Denken in Japan auseinander. Dabei agierte er als Berater der DPJ und auch für den halbstaatlichen Fernsehsender NHK. Er gehörte dennoch außerhalb Japans zu den unbekannteren Akteuren des Diskurses. In seinem Buch „Nihon no nashonarizumu“ (Japans Nationalismus) von 2010 bezeichnet Matsumoto einerseits die Bestrebungen Japans zur Expansion auf den asiatischen Kontinent als „Invasionskrieg“ (shinryaku sensô), die eher progressive Lesart japanischer Aggression in Asien, andererseits steht er in seiner Sichtweise der Meiji-Zeit dem von ihm bewunderten Romancier Shiba Ryôtarô nahe und bezeichnet die Sino-Japanischen (1894 – 95) und Russisch-Japanischen (1904 – 05) Kriege als Konflikte, die zur „Verteidigung“ nationaler Interessen gedient hätten und keine Invasionskriege gewesen seien181. Auch seien sie „tennôfreie“ Kriege gewesen und hätten vielmehr den Willen des Volkes widergespiegelt, mithin sei Japan von der Meiji-Zeit bis in die Zeit dieser beiden Kriege kein militaristischer Staat gewesen182. Diese vom Volk „gewünschten“, vermeintlich „guten“ Kriege der Meiji-Zeit stellt Matsumoto die Erzählung eines von bösen Eliten verführten Volkes gegenüber, das in einen schlechten Pazifischen Krieg gezwungen wurde. Interessanterweise ist Shiba Ryôtarô sein Gewährsmann, der die Sache genauso beurteilt habe183. Historienromane werden hier also zur Sekundärliteratur realer Ereignisse – wie gesehen, im Falle von Shibas Werken kein unüblicher Vorgang. Matsumoto verklärt die Meiji-Zeit (1868 – 1912) und zeigt sich als Kritiker des tennôzentrierten Faschismus der Shôwa-Zeit (1926 – 1989), im Rahmen dessen der Tennô als japanisches Herrschaftsprinzip fungierte184. Matsumoto betont seine Sympathien für einen „revolutionären Romantizismus“ (kakumei-teki romanshugi) und fühlt sich in seinem Bestreben, „die Realität auszublenden, um das Schöne zu sehen“ Nationalisten wie dem Philosophen Kita Ikki (1883 – 1937) oder auch dem Schriftsteller Mishima Yukio (1925 – 1970) nahe185. Wenngleich er also einen Eliten- oder zumindest tennôzentrierten Nationalismus oder Etatismus abzulehnen Matsumoto (2010), S. 77. Matsumoto (2010), S. 77 f. 183 Matsumoto (2010), S. 78. 184 Ebd., S. 82. 185 Matsumoto (2010), S. 112, 121. 181
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D. Nationalismus „von oben“ Teil 2
scheint, spielt er mit solchen Aussagen, die mit „romantisierter“ Ästhetik realer Gewalt Vorschub leisten. Matsumoto zeigte sich somit als eine Art “Neo-Romantiker“, der dem japanischen Nationalismus viele Niederlagen attestiert, aber in diesen Niederlagen auf die möglichen großen „Chancen“ einer anderen Geschichte hinweist186. In diesem Sinne möchte er die japanische Geschichte, wie er selbst zugibt, „umschreiben“ (kakinaosu)187. In solchem Denken schwingt der Gedanke der japanischen, nationalistischen Gewaltgeschichte als eine Art „Ausrutscher“ mit, die auch die Möglichkeit zu „Gutem“ beinhaltet haben könnte. Insofern lässt sich Matsumoto jener Denkrichtung zurechnen, die Japans Ultranationalismus als einen Bruch im generellen Modernisierungsprozess des Landes sieht188. In seiner Betonung von Nationalismus im Kontext von Revolution und dem „Willen der Massen“ sowie der Verklärung der Meiji-Zeit spiegelt sich demnach auch der Wille zu einer (demokratischen?) Modernisierung wider. Dies kann erklären, warum Matsumoto die Rolle des Tennô während der Meiji-Zeit zu relativieren sucht und die Entstehung des kokutai erst nach dem Russisch-Japanischen Krieg ansetzt189. Er unterstreicht das revolutionäre Element des Nationalismus, wobei er sich Tennô-kritisch bis -feindlich zeigt und stattdessen den Nationalismus als „Volkswillen“ ausweist. Während sich Matsumotos Vorstellungen von Nation hier stellenweise im Sinne eines „civic nationalism“ eher bürgerlich (kokumin) konnotiert geben, kann er primordiale und ethnonationalistische Einschlüsse in seinem Weltbild allerdings nicht verhehlen, wenn er etwa die Existenz eines dem modernen Nationalismus verwandten Nationalgefühls (minzoku kanjô) seit dem Altertum erkennt190. Ähnliches bestätigt sich auch, wenn er – sich der ethnischen Minderheiten in Japan durchaus bewusst – Japan und Südkorea zu den wenigen Ländern weltweit zählt, die aus nur einer (ethnischen) Nation (minzoku) bestünden191. 3. Die Kritik an der Kritik: Kayano Toshihito und sein „aufgeklärter“ Anti-Anti-Nationalismus Der Philosoph Kayano Toshihito (*1970), der sich als Linken bezeichnet192, gehört wie die Soziologen Azuma Hiroki (*1971) oder Kitada Akihiro (*1971) zu einer neuen Generation von Wissenschaftlern, die in der ersten Hälfte der 1970er geboren (2. Babyboomer-Generation, dankai junior), wachsenden Einfluss auf den japanischen Gegenwartsdiskurs ausüben. Kayano, der von sich sagt, einst auf der 186
Vgl. ebd., S. 121. Ebd., S. 121. 188 Ueno (2004). 189 Matsumoto (2010). 190 Matsumoto (2010), S. 135. 191 Ebd., S. 124. 192 Vgl. Amamiya/Kayano (2008). 187
II. Die „Entkriminalisierung“ des Nationalen abseits neonationalistischer Ansätze 153
Seite der Nationalismuskritiker gestanden zu haben193, stellt in seinem Buch „Ist Nationalismus schlecht?“ (Nashonarizumu wa aku na no ka) von 2011 die Frage, was an Nationalismus eigentlich so schlimm sei. Er inszeniert sich als Kritiker der (linken) Nationalismus-Kritiker, die im multikulturalistischen oder globalistischen Eifer das Ende des Nationalstaates herbeisehnten oder sich gar in staatenlosen und nationslosen Utopien von herrschaftsfreien, selbstregierten Gemeinschaften verlören194. Auch wenn sich bei Kayano stellenweise ein gewisser Essentialismus in seinem Verständnis von Nation und Nationalismus nachweisen ließe, erscheint er dennoch nicht als ausgemachter Nationalist und gibt sich in seiner Nationalismusanalyse „aufgeklärt“. Seine Kritikpunkte an der linken Nationalismuskritik und ihren utopischen Gegenentwürfen mögen teilweise berechtigt sein. Und auch seine Hinweise darauf, wie umfassend nationalistische Ideologie greift, es also nicht nur einen extremen Nationalismus gibt, der in Kriege und Verbrechen mündet, sondern dass diese Ideologie unsere moderne Gesellschaft und unser ganzes Denken (auch zwangsläufig das der in dieser Gesellschaft sozialisierten „Anti-Nationalisten“) durchdringt, wirken plausibel. Allerdings zieht diese anscheinend „berechtigte“ Relativierung des Nationalismus bei Kayano als implizites Resultat ein laissez-faire des Nationalismus nach sich. Seine irritierende Methode, mit teilweise zutreffender Kritik als schillernder „Anti-Anti-Nationalist“ aufzutreten, liefert jedoch den „echten“ Nationalisten eine willkommene Argumentationsgrundlage. So wirft er den Nationalismuskritikern vor, die Entstehung von Faschismus zu fördern bzw. den Nationalismus im Gegenteil zu fanatisieren195. Diese These würde aber nur in dem Maße Sinn ergeben, in dem Anti-Nationalismus im Rahmen der Globalisierung generell Nationalismus als Gegenbewegung erzeugen kann. Dass auch Anti-Nationalismus – hinreichend radikal – faschistoide Züge annehmen könnte, mag angenommen werden, geht aber über den Rahmen dieser Arbeit hinaus. Kayano fordert stattdessen, Nationalismus nicht mit einem Anti-Nationalismus zu begegnen, sondern mit einer anderen Form von Nationalismus196. Mit seinem Ansatz, Feuer mit Benzin zu löschen, steht er – vielleicht unbewusst – in der Tradition der von ihm kritisierten Nachkriegslinken, die wie in Kapitel B. aufgezeigt, den Vorkriegsnationalismus durch einen alternativen Nationalismus zu ersetzen bzw. zu bekämpfen versuchten. Kayano steht gleichzeitig für eine Neuentdeckung des Nationalismus durch die zweite Babyboomer-Generation, die teilweise auffällig (nach)lässig mit Nationalismus umgeht.
Uno et al. (2014), S. 13. Kayano (2011). 195 Kayano (2011), S. 210 f. 196 Amamiya/Kayano (2008), S. 104. 193
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D. Nationalismus „von oben“ Teil 2
III. Nationalismus von links 1. Rechts und Links im Gespräch – Nishibe Susumu vs. Kang Sang-Jung/ Kobayashi Yoshinori vs. Kayano Toshihito und Miyadai Shinji/Suzuki Kunio vs. Sataka Makoto Wie in Kapitel B. und am Beispiel von Kayano erläutert, sind Nationalismus und Patriotismus kein Monopol der Konservativen. Auch die japanische Linke hat eine lange Tradition in der Nutzung von Nationalismus – selbst ihre Betonung des Pazifismus kann als eine Form von Nationalismus gesehen werden197. Um einen umfassenderen Überblick über Nationalismusdiskurse im gegenwärtigen Japan zu bekommen, ist es deswegen ratsam, auch einen Blick auf den Diskurs linker Intellektueller zu diesem Thema zu werfen. Zu Beginn werden hierzu einige Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen links und rechts anhand direkter Gespräche zwischen Akteuren der beiden Lager herausgearbeitet. Im Jahr 2003 traf sich Nishibe Susumu zu einem von dem Journalisten Tahara Sô’ichirô (*1934) moderierten Gespräch zum Thema Patriotismus mit dem Politologen Kang Sang-Jung (*1950). Der in Japan geborene und aufgewachsene zainichi-Koreaner198 Kang studierte an der Waseda-Universität in Tôkyô und an der Universität Nürnberg-Erlangen. In zahlreichen Büchern setzt er sich mit Identitätsthemen wie zainichi und Nationalismus auseinander, wobei er als scharfer Nationalismuskritiker auftritt. Auch Nishibe und Tahara lässt er schnell wissen, dass er den Nationalismus für eine Krankheit hält. Der von ihm ebenfalls kritisierte Patriotismus habe außerdem wenig mit Heimatliebe (aikyôshin) zu tun, sondern stünde eher im Konflikt dazu, was bei Tahara jedoch auf Unverständnis stößt199. Doch auch Nishibe kann als Neonationalist mit der Aussage überraschen, dass weder Nationalismus noch Patriotismus eine wirkliche Substanz besäßen200. Außenpolitisch betrachtet Kang Japan als eine Kolonie der USA, womit er Nishibes ungeteilte Zustimmung findet. Anders als dieser fordert Kang jedoch, einen stärkeren asiatischen Regionalismus als Alternative zum japanisch-amerikanischen Sicherheitsbündnis. Japan und Südkorea sollten eine Allianz bilden, wobei Kang die militärische Stärke des Nachbarn betont. Ferner wünscht er sich für die Zukunft auch ein Bündnis mit China, um einen Gegenpol zur amerikanischen Vorherrschaft zu bilden 201. Einige Sympathiepunkte kann Nishibe deshalb wohl auch bei Kang erlangen, weil er ihm versichert, kein „Neocon“ (im Sinne des japanischen konservativen und proamerikanischen Politik-Mainstream) zu sein 202. Oguma (2002a). Zainichi oder präziser zainichi kankokujin/chôsenjin ist die Bezeichnung für in Japan ansässige Koreaner. 199 Tahara/Nishibe/Kang (2003), S. 184. 200 Ebd., S. 176. 201 Tahara/Nishibe/Kang (2003), S. 26. 202 Ebd., S. 29. 197 198
III. Nationalismus von links
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Ähnlich wie Kobayashi Yoshinori ist Nishibe Verfechter einer atomaren Bewaffnung Japans bei gleichzeitiger Abkehr von Amerika. Das Land soll sich selbst verteidigen, anstatt „Vasall“ der USA zu sein 203. Nishibe sieht hier sogar das isolierte Nordkorea als eine Art „Vorbild“204. Als Japans Kriegsverantwortung zur Sprache kommt, vertritt Kang freilich die progressive Lesart des Krieges. Nishibe überrascht dagegen mit der Äußerung, es wäre besser gewesen, wenn der Shôwa-Tennô nach Kriegsende zurückgetreten wäre. Zudem sehe er die Kriegsverantwortung des Tennô nicht in der Tatsache, dass Japan den Krieg angefangen, sondern, dass es eine solch schwere Niederlage erlitten habe. In diesem Sinne trage der Tennô gegenüber dem japanischen Volk die Verantwortung205. Kang vermeidet es, beim Thema Tennô Stellung zu beziehen. Nishibes Aussage verdeutlicht indes, dass der Tennô im gegenwärtigen nationalistischen Diskurs ähnlich wie auch bei Kobayashi Yoshinori oder Fukuda Kazuya206 nicht mehr der unbedingte Grundpfeiler des japanischen Nationalismus sein muss, sondern auch unter Rechten im Sinne der Nachkriegsverfassung eher als ein Symbol fungiert, das die Kontinuität von Kultur, Geschichte und Tradition Japans repräsentiert207. Dennoch bleibt er auf dieser Basis von zentraler Bedeutung. Auf Nachfrage Taharas, welcher „originäre Wert“ bewahrenswert sei, ist Nishibes Antwort: „der Tennô“208. Im weiteren Gespräch mit Kang stellt Nishibe den Krieg erwartungsgemäß als Verteidigungskrieg dar, räumt aber ein, dass man zwischen Invasion und Verteidigung nicht sauber unterscheiden könne; es habe präventive und hegemoniale Elemente gegeben 209. Nach heutigen Regeln seien sicherlich einige Taten Japans falsch gewesen, womit Nishibe die Notwendigkeit betont, aus der damaligen Sicht zu urteilen 210. In einer TV-Gesprächsrunde211 von 2007 traf Kobayashi Yoshinori auf Kayano Toshihito, wobei der Soziologe Miyadai Shinji (*1959) als Moderator fungierte. Miya dai wurde in den 1990ern insbesondere mit Arbeiten zu Themen wie Enjo kôsai212 203
Ebd., S. 29, 238 ff. Ebd., S. 116. 205 Ebd., S. 50. 206 Fukuda propagiert gar einen tennôlosen Nationalismus. Vgl. hierzu Sasaki (2009). 207 Tahara/Nishibe/Kang (2003), S. 55. Nishibe sieht auch schon die Rolle des Tennôs vor dem Krieg als eher symbolisch an (Ebd., S. 175). In von ihm 1990 und 2004 vorgeschlagenen Neufassungen der japanischen Verfassung beschreibt er folglich die verfassungsgemäße Rolle des Kaisers in seinem Artikel 1 als „ein Symbol für die Tradition des Volkes und damit als Symbol der Einheit der japanischen Bürger“. Zitiert nach Winkler (2011a), S. 67, 115. 208 Tahara/Nishibe/Kang (2003), S. 191. 209 Ebd., S. 98. 210 Ebd., S. 112 f. 211 http://www.videonews.com/marugeki-talk/326/ (Zugriff: 20. 06. 2016). 212 Enjô kôsai bezeichnet das Eingehen sexueller Beziehungen im Gegenzug für materielle Leistungen und wird üblicherweise für Verhältnisse dieser Art zwischen Oberschülerinnen und älteren Männern verwendet. 204
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D. Nationalismus „von oben“ Teil 2
und zur Aum-Vereinigung bekannt und äußerte sich auch verschiedentlich zum Themenkreis Nationalismus213. Er ist dabei nicht eindeutig als links oder konservativ einzuordnen, sympathisiert aber in den vergangenen Jahren verstärkt mit konservativen Positionen. Entsprechend zeigt er auch Schnittmengen mit dem Mangaka, indem er zunächst lobt, wie spannend Kobayashis Manga zum Thema Okinawa sei, und dabei auch Kobayashis USA-Kritik Positives abgewinnen kann 214. Der Manga-Autor macht auf den Widerspruch aufmerksam, dass japanischer Imperialismus immer kritisiert werde, während amerikanischer und westlicher, bis in die jüngste Zeit andauernder Kolonialismus nirgendwo, z. B. in Schulbüchern, negative Darstellungen nach sich ziehe. Aus seiner Sicht sei der Pazifische Krieg deswegen ein „Rassenkrieg“ ( jinshu sensô) gewesen, worauf er stets hinweise. Miyadai stimmt ihm zu und sieht die Wurzeln des Rassismus in den USA, von wo ihn die Nazis aufgenommen hätten 215. Kayano zeigt, wie ein Teil der linken Intellektuellen sich traditionell eher rechten Positionen annähert. So kritisiert er die klassische linke Kritik am Staat und sieht Nationalismus und Patriotismus als unverzichtbare Selbstverständlichkeiten an, wenn man vom Grundprinzip des Nationalismus ausginge, dem zufolge der Staat den Menschen dienen solle. Hier übersieht Kayano freilich, dass Nationalismus den Staat nicht zwingend benötigt216. Er bemerkt auch Gemeinsamkeiten mit Kobayashi und spricht davon, wie die europäische Linke im Kontext der Globalisierung erkannt habe, dass ein Wirtschaftspatriotismus nötig sei, um die eigene Wirtschaft zu schützen. Kayano sieht es als unmöglich an, den Staat zu überwinden und kommt zu dem Fazit, dass man Nationalismus „nicht aus seinem Kopf verbannen sollte “217. Auch Miyadai sieht Nationalismus und Patriotismus als nötiges „commitment“ in einem Staat, und attestiert Kayano lachend, doch wohl eher ein Rechter zu sein. Selbst Kobayashi räumt in dem Interview Schnittmengen mit sozialistischem Denken ein, wenn er etwa die wachsenden Sozialdifferenzen in Japan kritisiert, die er aber auf nationalistischer Basis lösen möchte. Kayano erkennt dagegen in dieser Art von Problemlösung auch Gefahren und weist auf die Armut von Immigranten in Japan hin, die die gleichen Schwierigkeiten wie Japaner hätten. Auch seinen Anti-Elitismus trägt Kobayashi erneut zu Schau, wenn er Abe und Koizumi für ihre neoliberale Politik tadelt und dem konservativen Politik- und Wirtschaftsestablishment vorwirft, durch Erziehungsreformen Patriotismus zu fordern, während dieses bei höheren Steuern ins Ausland ausweichen würde. Auch der Relativierung einiger Konservativer, dass, wenn man die Armut in China oder Indien mit der in Japan vergleiche, es in Japan praktisch keine sozialen Differenzen gäbe, kann der Mangaka wenig abgewinnen. Miyadai/Miyazaki (2007). http://www.videonews.com/marugeki-talk/326/ (Zugriff: 20. 06. 2016). 215 Ebd. 216 Dies zeigen z. B. staatenlose oder Diaspora-Nationalismen (z. B. kurdischer Nationa lismus). 217 http://www.videonews.com/marugeki-talk/326/ (Zugriff: 20. 06. 2016). 213 Vgl. 214
III. Nationalismus von links
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Dass gerade die Bewertung der Globalisierung die Grenzen zwischen links und rechts recht schnell verschwimmen lassen kann, wurde auch bei Kobaya shis erneutem Aufeinandertreffen mit Miyadai 2015, das vom Soziologen Azuma Hiroki moderiert wurde, deutlich. Selbst Kobayashi zeigt sich von den Ansichten Miyadais verwirrt und fragte in die Runde, ob dieser nun konservativ oder (links) liberal sei218. Zudem stellte sich heraus, dass sich in jüngster Zeit selbst vermeintlich (ehemals) als liberal geltende Akteure wie Miyadai und Azuma verstärkt in die ursprünglich eher konservative Fragestellung einmischen, wie der „verlorene Stolz“ auf Japan wiederhergestellt werden könne, wobei Miyadai auch den Verlust eines den „Nationalstaat unterstützenden, gemeinsamen Empfindens“ anspricht.219. Nicht nur bei ihrer gemeinsamen Erörterung vermeintlich japanischer Besonderheiten (Nihon rashisa), für die sie den Popkultur- und Cool Japan-Bereich heranziehen220, befinden sich Miyadai und Azuma häufig in auffälliger Nähe zu den Positionen Kobayashis, der den Verlust der Gemeinschaft und die „Gleichmachung“ in der Globalisierung beklagt221. Zur ideologischen Neukonstruktion Japans plädiert Azuma schließlich für eine Überwindung der Links-Rechts-Opposition, die sich in ihrer Auseinandersetzung auf einen kurzen Geschichtszeitraum von etwa 150 Jahren ab der Meiji-Zeit beschränkt habe, und skizziert einen dritten Weg, bei dem er hofft, das passende Japanbild in der japanischen Geschichte (neu) entdecken zu können 222. Dieser Ansatz ist freilich in seiner Darstellung des japanischen Imperialismus als „nur einer Facette“ japanischer Geschichte eher dazu geeignet, der revisionistischen Relativierung japanischer Kriegsschuld Vorschub zu leisten. Der als linksliberal einzuordnende Kommentator Sataka Makoto (*1945) und Suzuki Kunio (*1943), Mitbegründer der neurechten Vereinigung „Issuikai“223 (Mittwochstreff) unterhalten sich in einem Gesprächsband von 2010 über die Unterschiede von links und rechts224. In dieser Erörterung ideologischer Grenzziehungen sieht Sataka den größten Unterschied zwischen beiden Lagern darin, dass Rechte eher das Individuum als Ansatzpunkt wählten, Linke die Gesellschaft. Suzuki widerspricht ihm und führt an, dass Rechte durch Terrorakte oder Staatsstreiche sehr wohl auch einen gesellschaftlichen Ansatz wählten 225. In der unterschiedlichen Auffassung der Rolle des Staates sehen die beiden einen bedeutenden Unterschied, da für die Linke der Staat oftmals als bloßes Unterdrückungsinstru-
Kobayashi/Miyadai/Azuma (2015), S. 58. Kobayashi/Miyadai/Azuma (2015), S. 49 ff., 147. 220 Kobayashi/Miyadai/Azuma (2015), S. 189 ff. 221 Kobayashi/Miyadai/Azuma (2015), S. 151, 201. 222 Kobayashi/Miyadai/Azuma (2015), S. 151, 219 f. 223 Zur Issuikai vgl. z. B. den Beitrag von Hippin (2002). 224 Sataka/Suzuki (2010). 225 Sataka/Suzuki (2010), S. 22. 218
219
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D. Nationalismus „von oben“ Teil 2
ment des Individuums gesehen werde, während Rechte eher ein Gefühl von Einheit zwischen Individuum und Staat empfänden226. Sataka erkundigt sich bei Suzuki, ob Heimatliebe (aikyôshin) und der Staat miteinander verknüpft werden können, und wie Nationalismus und Patriotismus zusammenhingen227. Suzuki entgegnet, dass es gut sei, wenn man sowohl seine Heimatregion als auch sein Land lieben könne, denn darin zeige sich die „glückliche“ Verschmelzung namens Patriotismus228. Er merkt zudem an, dass es viele Linke gebe, die um das Wort Patriotismus (aikokushin) zu vermeiden, lieber von Heimatliebe (aikyôshin) sprächen und macht unvermittelt gar einen Rechtsruck in der japanischen Gesellschaft aus229. Sataka weist im Gegenzug darauf hin, dass Koizumi für seine Strukturreformen an die Heimatliebe (aikyôshin) der Leute appelliert und dabei einen direkten Bezug zum Staat (aikokushin) herzustellen versucht habe230. Als Sataka mit USA-Kritik aufwartet und behauptet, die USA seien selbst der Urheber von Terror, entgegnet Suzuki, Sataka sei ja mit dieser Meinung noch weiter rechts als er selbst, gar ein lupenreiner Rechter (pyua uyoku)231. Die beiden gehen dazu über, Pro- bzw. Antiamerikanismus als Trennungsmerkmal der Rechten herauszuarbeiten, weswegen sich auch die Tsukuru-kai aufgespalten habe. In seinem Schlusswort erkennt Suzuki auch bei Sataka konservatives Denken in Bezug auf Heimatliebe, Traditionen und Kultur und kommt zu dem Ergebnis, dass die Einteilung in links und rechts heute keinen Sinn mehr habe232. Dieser kurze Überblick zeigt bereits, dass sich Schnittmengen zwischen links und rechts, vor allem im Bereich eines antiglobalistischen Antiamerikanismus, ausmachen lassen, der in beiden Lagern Nationalismus befördert. Wie im nächsten Abschnitt näher untersucht wird, sind selbst bei linksliberalen Akteuren, die nicht ganz so offen mit Nationalismus umgehen wie Kayano, Tendenzen in diese Richtung nachweisbar. Darüber hinaus beginnt der Staat, über dessen Rolle sich beide Lager traditionell spalteten, vor dem Hintergrund der Globalisierung auch unter Linken seinen Schrecken zu verlieren. 2. Restnationalismus im linksliberalen Spektrum – das Beispiel Kang Sang-Jung In seinem Buch „Aikoku no sahô“233 (Patriotische Etikette) versucht sich der Politologe Kang Sang-Jung am Thema Patriotismus abzuarbeiten und lotet gleichSataka/Suzuki (2010), S. 128 f. Ebd., S. 134, 144. 228 Ebd., S. 144. 229 Ebd., S. 148; 168 – 172. 230 Ebd., S. 149. 231 Ebd., S. 174. 232 Ebd., Nachwort. 233 Kang (2006). 226 227
III. Nationalismus von links
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zeitig die Möglichkeiten für einen neuen, alternativen Patriotismus aus. Ähnlich wie Kayano steht auch Kang für einen partiellen Wandel in der Perspektive auf den Staat innerhalb des linksliberalen Spektrums. So beschreibt er, wie sein Bild vom Staat einst negativ war, was er als Spiegelbild für die japanische Nachkriegsdemokratie sieht, die Themen wie Patriotismus aus dem Weg gegangen sei234. Kang hebt das Ende des Kalten Krieges als Zäsur in diesem Ablauf hervor, und führt aus, wie Yasukuni-Schrein, Verfassungsänderung und verwandte Themen im Kontext einer Neuorientierung zu sehen seien. Hier versuche Japan, sich von einem unvollständigen Staat ( fukanzen kokka) zu einem vollendeten (kanzen kokka) zu wandeln, wobei er jedoch bezweifelt, dass diese Entwicklung etwa in die Vorkriegsordnung zurückführen könnte235. Der Politologe beanstandet die Darstellung von Patriotismus (aikokushin) als Verlängerung von Heimatliebe (kyôdoai) im Sinne der Liebe zum eigenen Herkunftsgebiet und negiert unter Bezugnahme auf Abe Shinzôs Buch „Utsukushii kuni e“ (s.o) durchaus berechtigt eine Konstruktion von Patriotismus als „natürlich“236. Er betont zudem einen Unterschied zwischen der Liebe zur Heimat (kyôdo) und derjenigen zum Landesterritorium (kokudo) bzw. dem Vaterland (sokoku, aikoku) und stellt die Liebe zum Vaterland (patoria) auch in einen Gegensatz zum Nationalismus (nashonarizumu), wobei er den genannten Identitäten allerdings eine subtile Symbiose (bimyô na kyôsei kankei) bescheinigt237. Wenn er hier theoretisch auch nicht völlig falsch liegen mag, so liefert er jedoch das wichtigste Argument gegen die Trennung von „Heimatliebe“ und „Patriotismus“ selbst, wenn er an anderer Stelle beschreibt, wie der moderne Nationalstaat nicht aus lokalen Gemeinschaften (kyôdoteki na kyôdôtai) und deren Werten hervorgegangen sei, sondern sich erst durch deren Auflösung emanzipiert habe238. Doch gerade weil im Zuge der Nationalisierung diese Homogenisierung bzw. Vereinnahmung regionaler Identitäten stattgefunden hat, kann lokale Gemeinschaft kaum mehr außerhalb des so neu entstandenen „nationalen Rahmens“ gedacht werden, ohne das Bild der „nationalisierten“ Region selbst nicht auch ideologisch zu verzerren. Wenngleich Kang einerseits zu Recht die Natürlichkeit von Patriotismus bestreitet, so bleibt bei seinen Ausführungen über die Unterschiede von ethnischer und bürgerlicher Nation – er spricht hierbei von ethnos (etonosu, minzoku) als „naKang (2006), S. 56 f. Ebd., S. 59. 236 Vgl. Kang (2006), S. 128 ff., 143 f. Dennoch könnte er sich an anderer Stelle widersprechen, wenn er ausführt, dass der Ursprung von aikokushin (Patriotismus), aikyôshin (Heimatliebe), kyôdoai (Heimatliebe), sokokuai (Vaterlandsliebe) jeweils im Patriotismus (patoriotizumu) liege. Dieser sich in der Liebe zur Heimat (kokyô, patria) ausdrückende Patriotismus sei im Gegensatz zum Nationalismus geschichtlich kein neu aufgetretenes Phänomen. Vgl. ebd, S. 145 f. 237 Ebd., S. 149, 150, 154, 195. 238 Kang (2006), S. 70, 71. 234 235
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türlicher“ und demos (dêmosu) als „fiktiver“ Version – stellenweise unklar, inwieweit er die Vorstellung von ethnos, das er als eine auf „Empfindungen“ (kanseiteki) wie Sprache, Landschaftscharakteren, Kulturmerkmalen oder Blutsbeziehungen aufbauende Sichtweise des Nationalstaats definiert, nicht auch selbst als „natürlich“ existente Tatsache auffasst239. Eher noch verstärkte Skepsis hinterlässt Kangs häufige und unkritische Bezugnahme auf den wegen seiner prominenten Rolle im Naziregime umstrittenen Staatsrechtler Carl Schmitt (1888 – 1985) oder auch den von Revisionisten wie Nishibe ebenso gern zitierten Max Weber-Schüler Robert Michels (1876 – 1936), der – eigentlich Sozialist – in Benito Mussolinis faschistischer Partei Karriere machte240. Der solcherart angelegte Ansatz Kangs führt zwangsläufig zu fragwürdigen Ergebnissen. Sein neuer „Patriotismus“ beinhaltet eine „Entkriminalisierung“ von Heimatliebe im Sinne einer Loyalität zu seinem lokalen Herkunftsort (kyôdo, furusato), indem er sie von einem auf den Staat gerichteten, „ideologisch vorbelasteten“ Patriotismus (aikokushin) zu trennen sucht. Er beschwört neue Formen von Heimat (patoria), da die neoliberale Durchdringung trotz ihrer negativen Auswirkungen auf regionale Gemeinschaften auch die Möglichkeiten ihrer Neuordnung biete, womit sich die Chance zu einem „Neo-Patriotismus“ böten241. Diese neue Art der Heimatliebe will Kang mit einem Lokalpatriotismus (aikyôshin) verbinden, was Möglichkeiten neuer pluralistischer Solidarität impliziere, da der von der „nationalen Identität“ okkupierte Raum unter Umständen so aufgebrochen werden könne242. Kangs Sichtweise, ausgerechnet im sonst kritisierten Neoliberalismus Chancen zu sehen, die „Heimat zu erneuern“ (patoria no saisei) und Landesgrenzen „von unten“ zu überwinden243, offenbart nicht den einzigen Widerspruch in seiner Utopie neuer „pluralistischer“ und vermeintlich nichtnationaler lokaler Identitäten, mit denen implizit auch eine transnationale, innerasiatische Annäherung vorangetrieben werden soll. Kangs Art, den Widersprüchen des Nationalismus zu begegnen, mag auch seiner zainichi-Identität geschuldet sein, wenn er die Unterschiede von Heimat (patoria) und Nationalität betont. Wenn er jedoch anmerkt, dass er seine Heimat-Region, die Kumamoto-Präfektur, liebe244, scheint es eher so, als wolle er sich bei solchen Loyalitätsbekundungen vor allem dagegen absichern, nicht selbst als Nationalist oder Patriot eingestuft zu werden, indem er Region und (National)Staat voneinander abgrenzt. Während die Nation als konstruiert abgelehnt wird, kann die Heimat (patoria) in seinen Ausführungen im Gegensatz dazu umso natürlicher erscheinen.
Kang (2006), S. 35 ff., 70, 90, 128. Vgl. z. B. Kang (2006), S. 68, 79 ff., 146. 241 Vgl. ebd., S. 156 ff. 242 Ebd., S. 157 f. 243 Ebd. 244 Ebd., S. 150. 239 Vgl. 240
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Folglich wird diese diffuse, lokale Gemeinschaft in ihrer Regionalismus-Utopie ebenso überhöht. Fraglich ist auch, ob die bei Kang weiter mitschwingende Skepsis gegenüber dem Staat in einen staatsbezogenen Patriotismus übergehen würde, wenn sein idealer „pluralistischer“ Staat entstünde. Kangs Traum von einem vermeintlich antinationalistischen, innerjapanischen Regionalismus, der aber den Rahmen „Japan“ nie ganz verlässt, bleibt einem Restnationalismus verhaftet und im Konstruktionsversuch einer vermeintlich nichtnationalistischen Identität ebenso ideologisch befangen. Fragwürdig erscheint auch die bei Kang und anderen Linksliberalen erkennbare Neigung, zwischen einem „bösen“ Nationalismus oder Patriotismus „von oben“ und einem „naiven“, potentiell „guten“ (Lokal)Patriotismus „von unten“ zu unterscheiden (vgl. auch Kap. E.). 3. Region vs. Zentrum – Kang Sang-Jung und Sataka Makoto in der Nationalismusfalle Kang steht als ein Beispiel dafür, wie gerade in den Diskursen des hier untersuchten Zeitraumes – speziell unter dem Einfluss der Globalisierung – eine stärkere Beschäftigung mit dem Gegensatz Region vs. Zentrum, lokale ortsgebundene Identität vs. Zentralregierung in Tôkyô zu erkennen war. Diese Diskurse zeigen eine Kontinuität mit den in Kapitel B. angesprochenen furusato- und „Folklore“-Thematiken in Intellektuellenkreisen, insbesondere der 1970er und 1980er Jahre auf. Die Beschäftigung mit dem Gegensatz von Region und Zentrum bildet zunächst auch einen Bereich des konservativen Diskurses. Im oben erwähnten Gespräch zwischen Ueda Masaaki und Umehara Takeshi kritisiert ersterer etwa die zentralistische Geschichtsschreibung, bei der Regionen zur Peripherie würden. Es sei wichtig, Geschichte auf Basis der Regionen neu zu entdecken (saihakken)245. Ueda betont zudem auch grenzüberschreitende Strömungen bei der Entstehung japanischer Kultur, und plädiert statt einer nur auf Japan beschränkten Geschichtssicht auch die Berücksichtigung sowohl lokaler als auch globaler Aspekte246. Die Problematisierung zentralistischer Herrschaftsgewalt im Kontrast zu „unterdrückter“ Lokalkultur stellt jedoch eine Narration dar, die eine starke Tradition im politisch eher linken Spektrum hat. In ihrem Gesprächsband „Nihon-ron“ (Japandiskurs) spitzen Sataka Makoto und Kang Sang-Jung den Sachverhalt weiter zu und geben einen Einblick in die Beziehung von linksliberalen Intellektuellen zum Thema Nationalismus247. Die beiden Autoren konstruieren ein Japanbild, in dem der zentralistische Herrschaftsapparat in Tôkyô („die Bürokratie“, kanryôsei) die Regionen des Landes de facto unterjocht hält, als „innere Kolonien“. Umehara/Ueda (2001), S. 45. Ebd., S. 43. 247 Sataka/Kang (2007). 245
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Unter dem Aspekt der Dichotomie von Nation und Region diskutieren die beiden ihre Sicht der „inneren Kolonialisierung“ Japans. Sataka nimmt dazu Kangs im vorangegangen Abschnitt diskutiertes Buch „Aikoku no sahô“248 als Aufhänger zur Feststellung, dass Nation und „Region“ (chiiki), die er mit „Heimat“ (kyôdo) und „Patria“ (patoria) gleichsetzt, nicht identisch seien 249. Insofern wurde laut Kang die Tôhoku-Region während der Meiji-Zeit zur inneren Kolonie (kokunai shokuminchi), woraufhin Sataka ergänzt, dass man das ganze ländliche Japan kolonisiert habe, wenn das Tôhoku-Beispiel auf Gesamtjapan übertragen würde250. Folglich gäbe es nicht nur externe Kolonien, sondern auch interne. Beachte man dies nicht, verstünde man auch das Konzept der Kolonie nicht251. Aus der in Kapitel B. dargestellten Kritik an (Zentral)Staat und Bürokratieapparat, die sich insbesondere unter der japanischen Nachkriegs-Linken manifestiert hat, ergibt sich, wie am Beispiel von Kang und Sataka deutlich wird, eine Tendenz, regionale bzw. lokale Gemeinschaften zu betonen und zu verklären. Indem sie als vermeintlich unverfängliche Identitätsalternative zu Nation und Staat imaginiert werden, laufen die linksliberalen Intellektuellen jedoch Gefahr, nationalistischen Spielarten wie dem furusato-Nationalismus (vgl. Kap. B.) Vorschub zu leisten. Dieser glaubt, „verloren gegangene Traditionen“ und das „eigentlich“ Japanische in der Region und „Heimat“ zu finden, ohne dabei freilich einem nationalen Denkrahmen entkommen zu können. So wird das Regionale, die Heimat(region), zum romantisierten Allheilmittel, zur „Realutopie“, mit der gegenwärtige Herausforderungen wie Globalisierung und Neoliberalismus und damit verbundene Probleme wie wachsende Sozialdifferenzen zu bewältigen sein sollen. Für Kang und Sataka ist folglich „aus dem Patria ein Wunder denkbar“252. Das Ethos der Menschen zur Meiji-Zeit sollte laut Kang in anderer Form nun fortgeführt werden in einer Opposition gegen die Zentralgewalt253. Dies sei es, wenn man heute über Patriotismus nachdenke254. Das „System“ Tôkyô wird hier zum Symbol des Staates bzw. der Nation selbst, zum „Turm zu Babel“ und zum unterdrückerischen Apparat, der die Regionen im Stich lässt255. Sataka ergänzt: „Sich dem Luftschloss entgegenzustellen, das ist wahrlich Patriotismus. Zurückbekommen, es bedeutet, das Land zurückzubekommen“256. Kang plädiert gar für eine „neue Grammatik“, die in der Lage ist, bis in die Region zu dringen, um die Politik der LDP umzustürzen, und sieht in der neuen LoKang (2006). Sataka/Kang (2007), S. 19. 250 Sataka/Kang (2007), S. 20 f. 251 Ebd., S. 21. 252 Ebd., S. 31. 253 Vgl. Sataka/Kang (2007), S. 26. 254 Sataka/Kang (2007), S. 26. 255 Ebd., S. 23 – 26. 256 Ebd., S. 26.
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kalfokussierung die Möglichkeit, dass sich die japanische Gesellschaft tiefgreifend verändere257. Hier wird der erneute Widerspruch deutlich, die Rückkehr zur Region bzw. den Gegenimpuls aus der Region weiterhin gesamtjapanisch bzw. national zu denken. Dieser oppositionelle Gegennationalismus strebt also nicht wirklich eine regionalstaatliche, antinationale Ordnung an, sondern fordert „das Land“ (Japan) insgesamt zurück und verharrt so im nationalstaatlichen Rahmen. Die Erzählung vom Verlust des Regionalen und die Etatismus-Kritik ist demgemäß auch nicht allzu weit entfernt von Konzeptionen eines Nationalisten wie Kobayashi Yoshinori. Kang bemängelt die Zerstörung der Region (patria) durch die (neoliberale) Regierungspolitik, wobei sich der Staat nicht mehr um das Wohl des Volkes (kokumin) sorge258. Stattdessen wollten seine Vertreter mittels Erziehungsreformen Jugendliche heranzüchten, die bereit seien, für das Land zu sterben. Da es keine Fremdenlegion wie in Frankreich gebe und durch den Geburtenrückgang die Zahl der Freiwilligen abnehme, habe man diese Maßnahme ins Leben gerufen 259. Eine fragwürdige Interpretation Kangs, die zudem impliziert, dass es in Ordnung wäre, Ausländer statt Japaner für Japan sterben zu lassen. Die Polarisierung von Peripherie (Region) und Zentrum (Staat) belegt gleichzeitig auch die Kontinuität der linken Staatskritik seit der Nachkriegszeit. Kang kritisiert jedoch auch das progressive Geschichtsbild, das den Nationalstaat fördere, weil dieser die Menschen vom Feudalismus befreit habe. Ihm zufolge würde dabei nicht bedacht, wie viele Menschen durch diese Modernisierung Leid erfahren hätten 260. Hier schwingt erneut die Narration von den verloren gegangenen, lokalen Traditionen und Kulturen mit, die andererseits in der Region immer noch latent vorhanden seien oder (wieder)entdeckt werden könnten. Kangs und Satakas Utopie spiegelt das Bild eines „bösen“ imperialistischen und aufgezwungenen Zentralstaates wider, welcher die Regionen „kolonisiert“ hält. In der Erweiterung ist diese Sichtweise mit jener kompatibel, die die Kriegsverantwortung allein auf die politischen und militärischen Eliten abwälzt, welche das „unschuldige“ Volk getäuscht hätten. In Bezug auf das Verhältnis zum Staat kommt es gerade durch die Folie Neoliberalismus im linken Diskurs zu einigen interessanten Widersprüchen. So lässt die durch Globalisierung und Neoliberalismus begünstigte Verschärfung sozialer Differenzen die Linke offener für nationale Lösungen und die Forderung nach „mehr Staat“ werden 261. Andererseits, wie am Beispiel von Sataka und Kang gesehen, gibt es durchaus Schnittstellen zum Neoliberalismus in Bezug auf dessen auflösende Wirkung auf Nationalgrenzen, was sich mit der traditionellen, linken (National) Staats-Skepsis verträgt. Hier laufen Sang und Sataka Gefahr, mit ihrem verklärten 257
Ebd., S. 29 f., 34. Ebd., S. 35. 259 Ebd., S. 36. 260 Sataka/Kang (2007). 261 Vgl. hierzu auch Suzuki (2008), S. 35 ff. 258
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Regionalismus die Arbeit der Neoliberalen zu verrichten, die eine Dezentralisierung und Entbürokratisierung vorantreiben und Verwaltungsrollen zunehmend regional abwälzen wollen.
IV. Neo-Nihonjinron 1. Die Mechanismen des Nihonjinron Klassische Motive des Genres Nihonjinron (Japaner-Diskurs) sind „Gruppenorientierung“, „homogene Gesellschaft“ oder „kulturelle Einzigartigkeit“ der Japaner262. Zu den Hauptproduzenten dieses Diskursfeldes zählt der Anthropologe Yoshino Kôsaku Intellektuelle, Journalisten, Diplomaten und insbesondere auch Wirtschaftseliten 263. Nihonjinron steht für die Reproduktion und den Konsum japanischer, „kultureller Besonderheit“ und ist wie Yoshino formuliert, Beispiel für einen „sekundären“ Nationalismus, der sich mit der „Instandhaltung“ und „Erweiterung“ nationaler Identität in bereits etablierten Nationen befasse264. Demgegenüber sei „primärer Nationalismus“ ein Prozess, der auf die originäre Erschaffung nationaler Identität abziele265. Da ein allzu offener, staatsinduzierter Nationalismus bei der Mobilisierung größerer Bevölkerungsmassen leicht scheitern kann – gerade in Japan herrscht durch die landeseigene Geschichte des Ultranationalismus freilich ein erhöhter Grad der Sensibilisierung – verspricht ein solcher „sekundärer Nationalismus“ in Form des massentauglich aufbereiteten Nihonjinron ungleich einflussreicher zu sein bei der alltäglichen Reproduktion von nationaler Identität266. Dafür spricht auch, dass Nihonjinron alles andere als ein kauziger Nischenmarkt ist, sondern von mächtigen Verlagshäusern wie z. B. „PHP“ gefördert wird, die das Mantra von der „Besonderheit der Japaner“ zu einer kommerzialisierten und für die breite Masse aufbereiteten Ausdrucksvariante des japanischen Nationalismus werden lassen 267. Die Veröffentlichungen von PHP richteten sich Prohl zufolge an „ein allgemeines Publikum, vor allem aber Angestellte und Manager“268. Der populäre Nihonjinron kommt dabei oftmals in pseudowissenschaftlichem Gewand daher, besteht aber, wie der Kulturanthropologe und Nihonjinron-Spezialist Harumi Befu anmerkt, eher auf Intuition und „impressionistischen Beobachtungen“ denn auf „zeitraubender Analyse großer Datenmengen, Untermauerung von Hypo
Yoshino (1999b), S. 16 f. Yoshino (1999b); Yoshino (1992). 264 Yoshino (1999a), S. 3; Yoshino (1999b), S. 8. 265 Yoshino (1999b), S. 8. 266 Vgl. hierzu auch Yoshino (1999b). 267 Vgl. Prohl (2002), S. 157; vgl. auch Befu (2001), S. 60 – 65. 268 Ebd., S. 103. 262
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thesen oder der ausführlichen Lektüre des bisherigen Forschungsstands – allesamt wissenschaftliche Standardprozeduren“269. Das Genre Nihonjinron basiert traditionell auf japanischen Selbstbildern, die vielfach durch importierte westliche Orientalismen und Exotisierungen des Landes gespeist bzw. angereichert werden. In diesem Sinne haben auch steigende Ausländerzahlen in Japan in den vergangenen Jahren in Medien (insbesondere Zeitungen und TV) und Literatur einen eigenen Markt geschaffen bzw. wiederbelebt, der das Japanbild von Ausländern mitsamt ihren Stereotypen ins Land trägt. Als ein Beispiel kann die Reihe „Watashi wa Nihon no koko ga suki“ (Das mag ich an Japan) gelten, in der Ausländer über das berichten, was sie an Japan lieben. Hierbei wird erneut das Schema deutlich, mit dem sich durch das Japanlob Dritter (Ausländer) der Nationalstolz als „normal“ und „gesund“ konstruieren lässt270. Mit der Betonung des Japanbildes „des anderen“ soll gewissermaßen volkspädagogisch der Patriotismus der Japaner selbst gestärkt werden. Die Wirkung dieses Ansatzes lässt sich z. B. an einer Rezension des Users „JAN“ beim Online-Kaufhaus Amazon zu einem der Bände der Reihe271 ablesen, in der es heißt: „Ein Buch, das einen von Herzen denken lässt, dass es gut ist, Japaner zu sein“272. Nihonjinron erweist sich somit auch als ein symbiotisches Zusammenspiel von westlichem Orientalismus und japanischem Selbstorientalismus. Der nach Japan getragene Orientalismus mündet in selbstexotisierende Tendenzen im japanischen Diskurs, die in einer Endlosschleife wiederum ihre Rückkopplung im Westen haben. Um das vermeintlich Besondere an Japan und am „Japanischsein“ hervorzuheben, bildet daher der Blick des Auslands (v.a. der des Westens) auf Japan einen fundamentalen Pfeiler des Nihonjinron. Befu erklärt das Interesse am Japanbild des Auslands mit der aus seiner Sicht historisch gesehen eher unbedeutenden Position Japans, bei der das Land stets nur der Abnehmer von Technologien und Ideen anderer weiterentwickelter Staaten wie China oder Korea war273. Die japanische Begeisterung für ausländische – insbesondere westliche – Berichte über Japan sieht Befu daher einem Minderwertigkeitskomplex geschuldet274. Der aufklärungsresistente, westliche Orientalismus, der auch Teile der Japanwissenschaft selbst durchzieht, dient mithin nicht selten der „Orientierung“ japanischer (konservativer) Zirkel, die auf den Entwurf einer japanischen Kulturdominanz abzielen. So äußerte sich z. B. der Japanologe Donald Keene (*1922), der Befu (2001), S. 61. eine genauere Analyse dieses Phänomens in TV-Sendungen siehe den Beitrag der Japanwissenschaftlerin Alexandra Hambleton (2011), die darin untersucht, wie in japanischen TV-Sendungen Ausländer dazu dienen, Ansichten japanischer kultureller Identität zu verstärken. 271 Katô (2010). 272 http://www.amazon.co.jp/gp/pdp/profile/A1UFSB4GW4KKCK/ref=cm_cr_dp_pdp (Zugriff: 20. 06. 2016). 273 Befu (2001), S. 57. 274 Ebd., S. 57. 269
270 Für
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sich mit Standardwerken zur japanischen Literatur verdient gemacht hat und nach dem Tôhoku-Erdbeben von 2011 die japanische Staatsbürgerschaft annahm, dass er sich bis heute mit dem Ergründen der „Seele der Japaner“ (Nihonjin no kokoro wa nani ka) und der japanischen Tradition beschäftige. Zwar habe Japan den Krieg militärisch verloren, doch die japanische Kultur habe gewonnen275. 2. Fujiwara Masahikos Version vom „Kampf der Kulturen“ Keene gehört auch zu den Gewährsleuten von Fujiwara Masahiko276, der nicht nur mit den oben beschriebenen Ausflügen ins geschichtsrevisionistische Fach Aufmerksamkeit erregt hat. Der emeritierte Professor kann auch als einer der prominentesten Vertreter des aktuellen Nihonjinron gesehen werden. Mehr noch, er steht für dessen Wiederbelebung in der 2000er Dekade. Im Jahre 2005 sorgte er mit seinem Bestseller „Kokka no hinkaku“ (Die Würde des Staates), der sich mehr als 2 Millionen Mal verkaufte277, für Schlagzeilen, in dem er den Bushidô278 als vermeintliche „Seele“ Japans (wieder)entdeckte279. Mit seinem Buch „Nihonjin no hokori“ (Stolz der Japaner) von 2011 präsentierte er eine weitere Kostprobe zum Thema280. Revisionismus und Nihonjinron sind bei Fujiwara zwei Seiten der gleichen Medaille. Erstere dient zur „Dekonstruktion“ des bestehenden Nachkriegssystems, letztere ist sein reaktionärer Vorschlag, das so entstandene Ideologievakuum mit einem neuen (alten) japanischen Denken – dem Bushidô – zu füllen. Nihonjinron wird hier zur Strategie der Wiederherstellung des „verlorenen Stolzes“ auf das eigene Land und die japanische Nation (minzoku). Zu diesem Zweck „demystifiziert“ er den Westen als „barbarisch“281 und setzt an dessen Stelle die Überlegenheit japanischer Kultur. So habe Japan allein schon im Mittelalter mehr bedeutende literarische Werke hervorgebracht als ganz Europa zusammen 282. Es gebe wohl wenige Leute, die mehr als drei bekannte europäische Werke aus dieser Zeit aufzählen
Keene (2012), S. 308, 311. Fujiwara (2005), S. 101. 277 Buck-Albulet (2009), S. 123. 278 Bushidô (Der Weg des Kriegers) bezeichnet ein Regelwerk mit Ursprüngen im spätmittelalterlichen Japan, das die erstrebenswerten Tugenden der Samurai festlegte. Der Philosoph Nitobe Inazô (1862 – 1933), der selbst einer Samuraifamilie entstammte, verfasste 1900 mit seinem an ein westliches Publikum gerichteten Buch „Bushido: The Soul of Japan. An Exposition of Japanese Thought“ einen einflussreichen Beitrag über den Bushidô, der als eine Art früher Vorläufer des Nihonjinron-Genres gelten kann. 279 Siehe zu Fujiwaras „Kokka no hinkaku“ beispielsweise auch den Beitrag der Tübinger Japanologin Buck-Albulet (2009). 280 Fujiwara (2005); Fujiwara (2011). 281 Fujiwara (2005), S. 13 f. 282 Ebd., S. 14. 275
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könnten. Ihm selbst kämen nur die „Canterbury Tales“ in den Sinn 283. Sechs Jahre später ist ihm mit dem „Beowulf“ immerhin ein weiteres Werk eingefallen 284. Diese Taktik, die eigene (gespielte?) Unbildung als gegebene „Wahrheit“ zu konstruieren, nutzt Fujiwara in ähnlicher Weise, wenn er subjektive Eindrücke und Klischees über japanische Kultur als vollendete Tatsachen darstellt. Ihm zufolge verfügen Japaner über ein ganz eigenes Empfinden für Ästhetik (tokuyû no bikan) und einen „überlegenen Schönheitssinn“ (bikan no sugureta Nihonjin)285. Japans „Schönheit“ wird ebenso zur „Tatsache“, wobei derlei subjektive Zuschreibungen freilich objektive Beweiskraft haben sollen. Japaner hätten so ein besonderes Empfinden für Schönheit und Natur, worin er den wichtigsten Grund für die in der Welt „beispiellose“ (sekai ni kantaru), japanische Literatur sieht286. Japanischer Gartenbau stehe weltweit an der Spitze, und auch die Klischeekünste Teezeremonie, Kalligraphie und Ikebana gibt er als weitere Beispiele für die Empfindsamkeit gegenüber der Natur an, die den „Kern der Japaner“ bilde (Nihonjin no kaku) und eine in der Welt beispiellose Kunst schaffe287. Überdies hätten Japaner die Fähigkeit, den Kontrast zwischen der Ewigkeit der Natur und der Vergänglichkeit des Lebens zu spüren, denn Japans Natur mit Taifunen und Erdbeben fördere betont diesen Sinn für Vergänglichkeit (mujôkan)288. Bushidô und eben dieses Gespür für das vergängliche Leben, das er im Konzept des mono no aware (wörtl. „Sensibilität für Dinge“) weiterentwickelt sieht, bilden Fujiwaras Pfeiler der „japanischen Seele“ und der einzigartigen japanischen Empfindsamkeit für die Natur289. Solche Behauptungen unterfüttert der „Naturwissenschaftler“ gern mit (Reise)Berichten von Ausländern in Japan oder seinen persönlichen ausländischen „Bekannten“, die ihm in ihrem Orientalismus diese vermeintlich japanischen Besonderheiten schildern 290. Hierbei wird erneut die beispielhafte Facette einer auf dem Import westlicher Orientalismen fußenden Selbstexotisierung als zentralem Mechanismus des Nihonjinron erkennbar. Den Westlern spricht Fujiwara hingegen das „japanische Schönheitsempfinden“ ab, wenn er Amerikanern zwar einräumt, die schöneren Kirschbäume zu haben, aber westliche Menschen das japanische Empfinden für die Schönheit von Kirschblüten, Herbstlaub, oder auch das Singen von Insekten nicht teilten, denn Letzteres werde im Westen stets als Lärm und nicht als Musik aufgefasst291. In seiner Episode hierzu beschwert sich sein amerikanischer Gast über die tierische 283
Ebd., S. 14. Fujiwara (2011), S. 60. 285 Fujiwara (2011), S. 37, 225. 286 Fujiwara (2005), S. 97. 287 Fujiwara (2005), S. 98 f. 288 Fujiwara (2005), S. 98 f. 289 Fujiwara (2005), S. 100 f. 290 Vgl. z. B. Fujiwara (2005), S. 96. 291 Fujiwara (2005), S. 100 f. 284
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Ruhestörung, während Fujiwara wegen der Schönheit des Gesanges „Tränen“ in den Augen gehabt habe und sich fragt: „Warum haben wir gegen diese Kerle den Krieg verloren?“292. Neben ihrer Larmoyanz dient diese Rhetorik freilich dazu, die vermeintliche „Wahrheit“ zunächst vorzugeben und mit der daraus resultierenden Polarisierung zur „Wahl der Seiten“ aufzufordern. Denn Japaner, die das Singen von Insekten als Lärm auffassen könnten, werden sich besser Fujiwaras Meinung anschließen, um nicht als „unjapanische“ Außenseiter abgestempelt zu werden. So verwundert es nicht, dass Fujiwara Logik und Rationalität als westliche Gefahren kritisiert293, weil sie sein Gedankengebäude offensichtlich nur allzu schnell zum Einsturz bringen könnten. Danach würden freilich schon elementare Geographiekenntnisse über Klimazonen verhindern, Japans Jahreszeitenwechsel als etwas Besonderes zu sehen 294. „Japanische Kultur“ ist in den von Akteuren wie Fujiwara repräsentierten, ethnozentristisch konnotierten Diskursen häufig etwas, was nur „Japaner“ selbst besitzen können295. Wie die Japanologin Buck-Albulet darlegt, arbeitet Fujiwara hier mit der Etablierung nationaler, vermeintlich spezifisch japanischer „Emotionen“, die als „schöne Emotionen“ einer westlichen Rationalität entgegengestellt werden 296. Wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen, so benutzt Fujiwara ähnlich wie Umehara Takeshi die Narration von den im Einklang mit der Natur lebenden Japanern und deren „äußerst wundervollem Naturverständnis“ (hijô ni subarashî shizen-kan)297. Er baut diese Selbstexotisierung weiter aus und drapiert seine reaktionäre Strategie der Rückkehr zum „guten alten“ Japan mit strapazierten Klischees wie Kirschblüten oder dem erwähnten mono no aware. Zudem ergänzt er sie durch die auch durch Japans Kriegsvergangenheit in Verruf geratene Bushidô-Ethik, in der er eine Alternative zur westlichen Logik und Rationalität erkennt. Laut Fujiwara ist die Welt nicht schwarz oder weiß, sondern grau298, eine Erkenntnis, der er selbst jedoch keineswegs folgt, wenn er Japan dem Westen antagonistisch gegenüberstellt. Er betreibt eine Strategie der Polarisierung mit einem 292 Fujiwara (2005), S. 101 f. Ähnlich zieht er das westliche Unverständnis für japanische Haiku-Gedichte als Beispiel für die Besonderheit der Japaner in einer Art umgekehrtem Ethnozentrismus heran, wenn er süffisant die Reaktion eines westlichen Mitreisenden, der wohlgemerkt zum allerersten Mal in seinem Leben ein Haiku sieht, schildert. Fujiwara (2005). 293 Ebd., S. 58 f. 294 Vgl. Fujiwara (2005), S. 107 – 109. Das solche Klischees erfolgreich auch die Bevölkerung im Allgemeinen durchdringen, zeigt sich etwa am vorliegenden Beispiel der Jahreszeiten, so dass man nicht verwundert sein darf, in Japan gefragt zu werden, ob es da, wo man herkomme, denn Jahreszeiten gebe und bei Bejahung der Frage nicht selten auf ungläubiges Staunen trifft. 295 McVeigh (2004), S. 191. 296 Buck-Albulet (2009), S. 140. 297 Vgl. Fujiwara (2005), S. 108. 298 Fujiwara (2005), S. 55 – 57.
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Weltbild, in dem es nur die Wahl zwischen Japan und „dem Westen“ gibt, und nur die USA und gelegentlich Großbritannien als pars pro toto für „den Westen“ Platz haben. Der solcher Art festgelegte Mathematiker ist auch auf den westlichen Orientalismus als Legitimationsbasis angewiesen, wobei der Bezug auf den Bestseller „Kampf der Kulturen“ des Politologen Samuel Huntington von 1996 nicht fehlen darf 299. Dessen orientalistisch motivierte Weltordnung, bei der er die Welt in sieben Zivilisationen einteilt, von denen Japan als einzige ein Einzelstaat ist, kommt Fujiwara freilich entgegen300. So entsteht Fujiwaras eigene Version von „Kampf der Kulturen“, bei dem zunächst alles Westliche zerstört werden muss, um zu einem ursprünglichen Japan zurückzukehren, in dem das „amerikanisierte“ Nachkriegsjapan wie ein unnatürlicher Einschnitt in die „natürliche“ japanische Überlegenheit erscheint. Kriminalität, Moralverlust301 – alles Schlechte kommt aus dem Westen, alles Schlechte ist unjapanisch. Wenngleich sich der Mathematiker als Kapitalismuskritiker inszeniert, so sollen doch die ersten Ausländer nach Japans Landesöffnung 1853 überrascht gewesen sein, dass die dort angetroffenen Einwohner „arm, aber glücklich“ gewesen seien302. Eine Erzählung, die prädestiniert dafür ist, nach Maßgaben eines Abe Shinzô oder Koizumi Jun’ichirô vom neoliberalen Mainstream ausgeschlachtet zu werden. In diesem Sinne fungieren konservative Intellektuelle wie Fujiwara als Steigbügelhalter für die ideologische Festigung neoliberaler Politik, bei der Nationalismus als Palliativ gegen die Zunahme sozialer Differenzen verabreicht wird. Buck-Albulet sieht die wachsenden sozialen Unterschiede in Japan sogar als einen der Hauptgründe für den Erfolg von Fujiwaras Buch, das nicht Logik, sondern Emotionen bedient303. Selbst auf einem double standard aufbauend, meint Fujiwara, die Doppelmoral des Westens und „westliche Werte“ als bloßes Gerede enttarnen zu können. Soziale Ungleichheiten und Diskriminierung in den USA werden schlicht als Problem des ganzen „Westens“ ausgewiesen304. „Westliche Ideologien“ wie Kapitalismus, Kommunismus und Demokratie, Freiheit und Gleichheit sieht er als gescheiterte
299 Fujiwara (2011), S. 34. Auch andere Konservative wie z. B. Saeki greifen nur allzu gern auf Huntington für ihre Zwecke zurück. Vgl. Saeki (2008), S. 272. 300 Abgesehen davon, dass Huntingtons Aufteilung der Welt in wenige „monolithisch“ erscheinende Kulturkreise generell fragwürdig ist und zahlreiche Angriffspunkte für Kritik bietet, so würden mehr Argumente für eine Aufnahme Japans in Huntingtons sinozentristischen Kulturkreis sprechen, zu dem er neben China, Staaten wie Nord- und Südkorea, Taiwan oder Vietnam zählt. Vgl. Huntington (2011). Vgl. zu diesem Punkt auch die Analyse von Klaus Antoni, der Huntington als ein Beispiel sieht, wie das japanische Selbstbild in hohem Maße das Japanbild im Ausland bestimmt, vgl. Antoni (1998), S. 376. 301 Fujiwara (2011), S. 20. 302 Fujiwara (2011), S. 40 f. 303 Vgl. Buck-Albulet (2009), S. 125. 304 Fujiwara (2005), S. 91.
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„Fiktionen“305. Mehr noch, für ihn ist es eine „Selbstverständlichkeit“, dass Menschen nicht frei seien306. Japan habe immer nur die Wahl zwischen vom Westen bestimmten Dogmen gehabt (er führt u.a. Imperialismus, Kommunismus, Neoliberalismus an)307. Die Reaktivierung des Bushidô, bei dem Mitleid zum Ersatz für Gerechtigkeit wird, lassen allerdings erkennen, dass es Fujiwara um autoritäre Lösungen geht. Denn Mitleid ist ein dehnbarer Begriff, der die Verantwortung für wachsende soziale Ungleichheiten tendenziell überflüssig macht und ein Recht des Stärkeren impliziert, bei dem der Schwächere auf den bekannten „trickle down“-Effekt angewiesen bleibt. Fujiwaras Ansatz, der Rationalität unterdrückt und stattdessen Emotionen fördert, dient so vor allem der Stärkung von antidemokratischer Herrschaft. 3. Cool Japan und der „J-Boom“ als Nihonjinron Cool Japan ist ein Diskursfeld – in seiner Ausprägung als Instrument der Kulturdiplomatie in Kapitel C. bereits analysiert – welches zeigt, wie Subkultur zur Hochkultur bzw. „nationalen Kultur“ aufsteigen kann. Im Fall von Cool Japan geht es um die vermeintliche oder tatsächliche Macht, die japanische Popkultur (aber auch Mode, Cuisine etc.) auf ein nicht-japanisches (insbesondere westliches) Publikum ausübt, um die damit verbundenen Einflusswege über Soft Power, sowie Medien- und Marketingstrategien abseits reiner Verkaufszahlen zu nutzen. Wie die Soziologin Sharon Kinsella am Beispiel von Mangas anmerkt, wurden diese aus einem langen Schattendasein „nationaler Peinlichkeit“ befreit und in den Rang „nationaler Kultur“ erhoben308. In die gleiche Richtung geht die Ernennung von ehemals belächelten oder gar gefürchteten Popkultur-Nerds (Otaku) zu Nationalhelden309. Gleichzeitig weist Cool Japan Schnittstellen zum latent nationalistischen Nihonjinron auf, die in diesem Abschnitt genauer untersucht werden sollen. Cool Japan tritt dabei zunächst als Form des westlichen Orientalismus auf, der Japans Popkultur monolithisch als „cool“ imaginiert. Lisette Gebhardt attestiert dem Cool Japan-Konzept bei der Diskussion der „coolen“ Erzeugnisse im Kontext einer „japanischen Postmoderne“ oder eines „japanischen Technoanimismus“310 einen Fujiwara (2005), S. 65 – 94. Ebd., S. 67. 307 Fujiwara (2011), S. 225. 308 Kinsella (1999), S. 568. 309 Vgl. Gebhardt (2008a). 310 Der Komplex des Technoanismismus, der ebenfalls dem Nihonjinron-Genre zugeordnet werden kann, wurde für die spezifische Thematik der Robotik in Japan von der Japanologin Cosima Wagner untersucht. In diesem Diskursfeld stößt der Beobachter leicht auf Deutungen, die eine in Japan angeblich besonders ausgeprägte spirituelle Verbindung von Mensch und Maschine konstruieren, um damit eine spezifisch japanische Roboteraffinität aus dem Nationalcharakter bzw. der Shintô-Prägung zu erklären, was Wagner jedoch als Selbstorientalisierung zurückweist. Wagner (2013). 305 Vgl. 306
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„Restorientalismus“311. Im Sinne der oben aufgeführten Mechanismen wurde diese exotisierende Außenwahrnehmung nach Japan (re)importiert und mittlerweile so wirkmächtig, dass sie Strategien des Nation Branding nach außen wie nach innen beeinflussen konnte312. Ex post wird diese „Coolness“ sogar als „typisch“ japanisch gedeutet, was wiederum untypisch erscheinen sollte, weil der Erfolg japanischer Popkultur laut Iwabuchi Kôichi lange Zeit auf ihre kulturelle „Geruchslosigkeit“ (odourlessness) zurückgeführt wurde, die ihre japanische Herkunft zu verleugnen suchte (s.o). Mithin sollte es eigentlich schwierig sein, an ihr etwas besonders „Japanisches“ herauszuarbeiten313, wobei in der genaueren Betrachtung weitere Widersprüche in der Erzählung von Cool Japan deutlich werden. Iwabuchi314 und andere Kommentatoren betonen, dass auch japanische Kultur weniger als „japanisch“, sondern eher als ein hybrides Produkt in- und ausländischer Einflüsse zu sehen ist. Gerade auch, was die japanische Popkultur betrifft, so ist das „Japanische“ daran ohne amerikanische Nachkriegs-Popkultur kaum zu denken. Wie z. B. der Kulturkommentator und Mangaka Ôtsuka Eiji (*1958) hervorhebt, gehen selbst die als „typisch japanisch“ geltenden Mangas auf westliche (amerikanische) Ursprünge zurück315. Die Macher von Cool Japan begeben sich also auf dünnes Eis, sobald sie den Erfolg japanischer Popkultur im Ausland undifferenziert als Beliebtheit „japanischer Kultur“ interpretieren316. Ähnlich wie auch Ôtsuka Eiji hat der Soziologe Azuma Hiroki auf die amerikanischen Wurzeln der vermeintlich originären japanischen Popkultur der japanischen Otaku hingewiesen317. Für Azuma sind die meisten der ab den 1980er Jahren produzierten Anime, die als typisch japanisch gelten, bloß das Ergebnis der Weiterentwicklung ursprünglich amerikanischer Techniken318. Wie er dazu weiter ausführt, stehe im Zentrum der Otaku-Kultur der Wunsch nach einem simulierten „Pseudo-Japan“ (gijiteki na Nihon), das ironischerweise nach der Zerstörung des „guten alten Japan“ durch die USA auf amerikanischem Ausgangsmaterial
Gebhardt (2008a). Während, wie in Kapitel C. gesehen, Cool Japan auch zunehmend als nach innen wirkende Identitätsstrategie genutzt wird, bleibt das Hauptziel der Bemühungen dennoch die Beeinflussung der Außenwirkung Japans. Dies hat gelegentlich die Kreation eines double audience zur Folge. Die Online-Ausgabe der Zeitung Asahi Shinbun unterhielt z. B. auf ihrer englischsprachigen Seite www.asahi.com lange eine „Cool Japan“-Rubrik – mittlerweile in eine „Manga & Anime“-Sparte überführt – die interessanterweise auf der japanischen Seite fehlt. 313 Vgl. Iwabuchi (2002c), S. 455. 314 Vgl. Iwabuchi (2002a). 315 Ôtsuka/Ôsawa (2005), S. 13 ff. 316 Vgl. Ôtsuka/Ôsawa (2005), S. 178. 317 Azuma (2001), S. 20 f. 318 Ebd., S. 22 f. 311 312
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basiert319. Der Soziologe sieht die inferiore Position zu den USA und die traumatische Erfahrung des Verlusts traditioneller Identität durch die Kriegsniederlage im Zentrum der Otaku-Kultur, die in der Konstruktion einer japanischen Nerd-Kultur versuche, die Unterlegenheit selbst als Überlegenheit darzustellen320. Entsprechend sind die der Otaku-Popkultur latent inhärenten Nationalismustendenzen, auf die noch genauer einzugehen ist, weniger aus einer etwaigen kulturellen Tradition heraus entstanden, sondern laut Azuma eher durch den Verlust einer solchen321. In ähnlicher Weise interpretieren Otsuka und Ôsawa in diesem Zusammenhang jene Aspekte und Besonderheiten, die heute gemeinhin „japanische Kultur“ repräsentieren, als vom Westen (seiô) entdeckt. Durch die „Anerkennung“ dieser Merkmale japanischer Kultur durch die westliche Wahrnehmung werden sie zum Anlass, stolz auf sie zu sein322. In dieser kompromisslosen Sichtweise der Autoren kann „japanische Kultur“ und deren vermeintliche „Einzigartigkeit“ folglich nicht ohne den Filter des „westlichen Betrachters“ gedacht werden. Laut Ôtsuka und Ôsawa beziehen die Japaner ihre Identität in der Konsequenz aus dem vom westlichen Auge gesehenen Japan323. Dies wird gerade auch am Cool Japan-Diskurs eindrucksvoll deutlich, lassen sich dessen Ursprünge doch auf den Artikel des „westlichen Beobachters“ Douglas McGray von 2002 zurückverfolgen. Cool Japan ist ein weiteres Beispiel für das Muster, die Außensicht zu verwenden, um damit einen verstärkten Stolz auf das eigene Land zu legitimieren. Die Stimme „des Anderen“ ist zum Zelebrieren dieser komplexbehafteten Selbstsicht unerlässlich, um den Wert „des Eigenen“ zu messen. So kommt in einem Artikel der Nikkei Business zum Thema Cool Japan etwa die CBS-Reporterin Lucy Craft zu Wort, die im Kontext von Cool Japan kolportiert: „Ich denke, aus der Tatsache, dass ihre Popkultur und Spitzentechnologie von Jugendlichen im Ausland hochgeschätzt wird, könnten die Japaner ruhig mehr Stolz beziehen“; und sie fügt an: „So wie es auch Stimmen gibt, die sich vor einem Rechtsruck Japans fürchten, wäre es doch schade, wenn der Stolz auf die eigene Kultur und der Patriotismus sich nach innen richten würden“324. Stattdessen fordert sie ein Japan, das den Stolz nach außen richtet325. Wie Iwabuchi Kôichi kritisiert, steht bei solchen Diskussionen um Japans Stellung als Kulturmacht immer der Aspekt der Ausweitung japanischer Nationalinteressen im Vordergrund, während die Komplexität transnationalen Kulturaustauschs unbeachtet bleibe326. Dass nun ausgerechnet Otaku und Subkultur als Zeichen der Azuma (2001), S. 23 f. Azuma (2001), S. 23 – 26. 321 Azuma (2001), S. 25. 322 Ôtsuka/Ôsawa (2005), S. 12 ff. 323 Ebd., S 13. 324 Harada (2007). 325 Ebd. 326 Iwabuchi (2002c), S. 448. 319
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japanischen kulturellen und allgemeinen Strahlkraft herhalten müssen, nur weil die japanische Popkultur ein gewisses Interesse im Ausland auf sich gezogen hat, lässt, wie Ôtsuka und Ôsawa süffisant anmerken, nicht nur auf den Zustand des japanischen Nationalismus schließen327, sondern zeigt wie in Kapitel C. angedeutet, vor allem auch die generelle Ratlosigkeit japanischer politischer Entscheidungsträger. Dennoch, die Wiederentdeckung des nationalen Raums bricht sich derzeit vor allem im populärkulturellen Bereich Bahn. Nicht nur im audiovisuellen Medienbereich, sondern in anderen Alltagsbereichen wie Mode, Cuisine oder dem Internet tritt sie deutlich zutage. Das Japanische wird dabei zu einem (Marketing)-Label, das gern mit einem plakativ vorangestellten „J-“ gekennzeichnet wird. Den Anfang machten Begriffe wie „J-Pop“, zur Bezeichnung japanischer Popmusik, oder die neue japanische Literatur „J-Bungaku“328. Mittlerweile ist dieser J-Boom zu einem umfassenden Phänomen geworden, dem stellenweise Ansätze einer Selbstabschottung vom Globalkapitalismus attestiert werden329. Wie in Kapitel C. gesehen, steht die J-Codierung jedoch für eine Strategie des Nation Branding, die „das Japanische“ erfassen und im globalen (Kultur-)Konkurrenzkampf positionieren soll330. Dabei wird auf politischer Ebene in einem neoliberal-globalistischen Ansatz versucht, neben einer Etablierung kultureller Dominanz auch eine gleichzeitige Ökonomisierung der vermeintlichen Soft Power zu erreichen. Die stärkere Internationalisierung Japans führt mithin zwangsläufig zu einer forcierten Nationalisierung331. In der radikalen Sichtweise Ôtsukas und Ôsawas ist das große „J“, mit dem die „Japan Brand“ gern griffig betitelt wird, jedoch ein bloßer „Fake“ ( feiku toshite no Nihon), was allerdings nicht heißen solle, dass irgendwo noch eine Originalversion existiere, sondern eher, dass Japan stets ein durch den westlichen Betrachter entdeckter „Fake“ sei332. Die Ausführungen Azumas bzw. Ôtsukas und Ôsawas zeigen hier die Einflüsse postmoderner Theoretiker wie Jean-François Lyotard oder Ôtsuka/Ôsawa (2005), S. 176. Vgl. hierzu Gebhardt (2008b), S. 265 – 286. 329 Vgl. hierzu Richter (2008c), S. 110 – 112. Richter macht dabei deutlich wie diese J-Codierung zwischen den subkulturell- bzw. klassisch-nationalistischen Polen des „cool“ (Cool Japan) und „beautiful“ (Abe Shinzô) oszilliert und das „coole“ und das „schöne“ Japan zu einem Set werden. Vgl. Richter (2008c). 330 Interessant ist, dass Kritik an den Erfolgsaussichten von Cool Japan gelegentlich ebenso in Argumentationsmustern des Nihonjinron verwurzelt ist. Kobayashi Yoshinori z.B. betont in seinem Gespräch mit Miyadai und Azuma die Unmöglichkeit, die Originalität von Sushi oder Manga im Ausland zu reproduzieren und spricht Nicht-Japanern die Möglichkeit ab, bestimmte japanische Empfindungen vollends zu begreifen. Kobayashi/ Miyadai/Azuma (2015), S. 189 ff., 196. 331 Zum Aspekt der Internationalisierung als Instrument der Nationalisierung vgl. auch McVeigh, der am Beispiel der Bemühungen zur „Internationalisierung“ (kokusaika) im japanischen Erziehungssystem darlegt, wie durch die Auseinandersetzung mit „dem Anderen“ japanische Identität verstärkt wird und als einzigartig und nicht transferierbar erscheint. Vgl. McVeigh (2004), S. 142 f. 332 Ôtsuka/Ôsawa (2005), S. 17. 327
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Jean Baudrillard und weisen im Weiteren darauf hin, dass bei der neuerlichen Verwendung der „J-Codierung“ als nationalistischem Marketing-Label, das was auch immer gerade „J“ sein mag, als Projektionsfläche eines quasi-utopischen „Pseudo“- oder „Fake“-Japan konsumgerecht aufbereitet wird. Dahinter steht eine nur vorgetäuschte „Realität“ (Stichwort: „Simulacrum“333), da das, was als „japanische Kultur“ bezeichnet wird, nicht existieren kann, ohne zwischen dem Janus-Kopf aus westlichem Orientalismus und japanischem Selbstorientalismus zu oszillieren. Auch Cool Japan als Facette dieser J-Codierung besteht mithin auf einer vom Ausland „entdeckten“ Sichtweise, die nach Japan importiert als „japanische Kultur“ etikettiert und mit einer Pseudo-Tradition versehen wird. Zum einen in eine Nation Branding-Strategie gegossen, um Japans Image und Position im Ausland positiv zu beeinflussen, zum anderen aber auch nach innen gerichtet als identitätsstiftende Erzählung. Dieser Wandel von einer einstigen kulturellen „Geruchslosigkeit“ japanischer (Pop)Kultur zur Konstruktion eines herausgehobenen und spezifisch „japanischen Charakters“ scheint für eine Aufwertung der „Marke Japan“ unabdingbar334.
V. Nationalkonservative Netzwerke in Stiftungen, Verlagen und Think Tanks– eine Einführung Wie an den Beispielen der japanischen Kulturdiplomatie und „Cool Japan“ deutlich gemacht, wurde im Untersuchungszeitraum dieser Studie von Regierungsseite vermehrt versucht, Einfluss auf die Konstruktion und Stärkung japanischer Identität sowie die Außenwahrnehmung des Landes zu nehmen. Solche Initiativen, die zur Etablierung gezielter Japanbilder im In- und Ausland beitragen sollen, werden jedoch nicht nur von verschiedenen Ministerien und regierungsnahen Einrichtungen, sondern insbesondere auch von Medien, Werbeagenturen, Verlagen, Stiftungen, Think Tanks und anderen Nichtregierungs-Organisationen vorangetrieben, die teils in Kooperation mit Regierungskreisen, teils mehr oder weniger unabhängig agieren. In diesem Abschnitt soll anhand einiger Beispiele ein kurzer Einblick in diese Organisationen sowie ihre Aktivitäten und Vernetzungen gegeben werden, die in der Japanwissenschaft bisher nur fragmentarisch behandelt worden sind. Zum Beispiel ist hier die 1962 gegründete „Nippon Foundation“ (Nippon Zaidan) anzuführen, eine primär in den Bereichen Gesundheit und Bildung aktive, gemeinnützige Stiftung, die nicht nur wegen ihrer formidablen Vernetzung und finanziellen Möglichkeiten einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausübt335. Die Nippon Foundation unterhält u.a. gemeinsame Förderprogramme mit den Vereinten Nationen336 und verfügt zudem über einen einschlägigen Think Tank, die 1997 Baudrillard (1994). Vgl. auch Daliot-Bul (2009). 335 Zur Nippon Foundation vgl. auch Postel-Vinay/Selden (2010). 336 http://www.un.org/depts/los/nippon/ (Zugriff 20. 06. 2016). 333
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gegründete „Tokyo Foundation“ (Tôkyô Zaidan), dem mittlerweile auch der „Ryôichi Sasakawa Young Leaders Fellowship Fund“ unterstellt ist. Letzterer fördert ausgewählte Universitäten weltweit und kann so aktiven Einfluss auf die Japanwissenschaft im Ausland nehmen. Im Rahmen eines breiten Themenspektrums ist die Tokyo Foundation auch im Bereich der Außenpolitik mit der Erarbeitung von (Strategie)Papieren und Regierungsempfehlungen befasst. Ein Blick auf die Beiträge in dieser Richtung zeigt einerseits, dass darin Japans imperialistische Vergangenheit durchaus als „Aggression“ gilt, vor (Politiker)Besuchen am Yasukuni-Schrein allerdings aus eher pragmatischen Gründen abgeraten wird337. Andererseits wird in einem Beitrag von 2013 die Notwendigkeit gesehen, die japanische Kommunikationsqualität gegenüber dem Ausland zu verbessern, um angesichts der „einseitigen“ Berichterstattung über Geschichtsfragen den Ausländern auch die „japanische Sichtweise“ besser vermitteln zu können338. Denn mit Argumenten, die man nur in Japan verstünde, komme man international nicht weiter. Japan müsse deswegen überlegt auf die internationale Meinung einwirken und sich so die Welt zum Verbündeten machen339. Als eine kostengünstige und effektive Maßnahme für die geforderte Stärkung japanischer „Public Diplomacy“ sieht man dabei die Übersetzung „überlegener japanischer Bücher“ (Nihon no sugureta shoseki) ins Englische340. Dass solche Vorschläge durchaus Potential haben, die Regierungspolitik zu beeinflussen, zeigt die von der Abe-Administration 2014 beschlossene Einrichtung von „Japan Houses“ im Ausland, mit denen das Land Gegenpropaganda im Ausland betreiben will, gerade auch was Geschichtsfragen betrifft341. In dem gleichen Strategiepapier der Tokyo Foundation, dessen Empfehlungen für die Außenpolitik Abes unter dem Schlagwort „Realismus statt Nationalismus“ zusammengefasst werden, wird neben der Forderung nach einer Verbesserung der Beziehungen zu Südkorea und China vor allem die Wichtigkeit der japanisch-amerikanischen Allianz betont, in der sich Japan als verlässlicher Partner beweisen 337 Vgl. hierzu z. B. folgende Kommentare auf der Homepage der Stiftung: http://www. tokyofoundation.org/en/articles/2014/japan-and-korean-peninsula, http://www.tokyofoun dation.org/en/articles/2013/abes-choice-nationalism-or-pragmatism, http://www.tokyofoundation.org/en/articles/2013/reshaping-japans-next-decade (Zugriff 20. 06. 2016). 338 The Tokyo Foundation (2013), S. 13. 339 Ebd., S. 3. 340 Ebd., S. 13. 341 Vgl. hierzu z. B. Nakano (2015), S. 168. Mit den Japan Houses soll das Vertrauen und Ansehen Japans im Ausland verbessert und auf eine „korrektes“ Verständnis beim Thema Geschichtsfragen hingearbeitet werden, wobei unter Addierung der Cool Japan-Komponente auch die japanische Marke befördert werden soll. Vgl. auch einen Artikel der konservativen Sankei Shinbun: http://www.sankei.com/politics/news/140828/plt1408280027-n1.html (Zugriff: 20. 06. 2016).
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soll. Der Think Tank drängt auf ein generell stärkeres internationales Engagement Japans, das nicht mehr „reaktiv“, sondern „proaktiv“ agieren solle und betont die Einflussmöglichkeiten über Internationale Organisationen wie die UNO oder auch Abkommen wie das TPP342. An anderer Stelle wird auch der Ausbau militärischer Kapazitäten befürwortet343. Dabei müsse Japan jedoch dem Ausland zeigen, dass es auf den Prinzipien von Demokratie und Menschenrechten fuße, um so Befürchtungen eines Zurückfallens in seine imperialistische Vergangenheit auszuräumen, weswegen auch aus strategischem Kalkül von übertriebenem, inländischem Nationalismus abgeraten wird344. Insgesamt präsentiert sich die Tokyo Foundation als konservativ, wobei beim Thema Diplomatie eine internationale Einbindung Japans betont und eine pragmatische Außenpolitik japanischer Interessen einem unüberlegten Nationalismus, der diesen Interessen schaden könnte, vorgezogen wird. Mit dieser Ausrichtung ist die Denkfabrik ideologisch meist auf einer Linie mit dem neoliberal-konservativen Mainstream, für den auch LDP-Politiker wie Asô Tarô oder Abe Shinzô stehen. Eine nähere Auseinandersetzung mit der Tokyo Foundation wäre jedoch nicht vollständig ohne einen Blick auf ihre Mutterorganisation Nippon Foundation und deren kontroverse Gründerfigur Sasakawa Ryôichi (1899 – 1995) zu werfen, der nach dem Krieg einige Zeit als mutmaßlicher Kriegsverbrecher inhaftiert war, später aber ohne Verurteilung wieder freikam345. Die Japanologin Karoline Postel-Vinay und der Ostasienwissenschaftler Mark Selden beschreiben in einer der wenigen Vorarbeiten zur Nippon Foundation die noch zu Lebzeiten Sasakawas begonnenen Versuche, dessen Biographie positiv umzuschreiben und eine historische Figur zu schaffen, die so „bemerkenswert war, dass sie jenseits der Grenzen von wahr und falsch zu suchen war“346. Wie die Autoren ausführen, ist die Nippon Foundation dabei selbst an der Finanzierung der jüngsten Biographien Sasakawas in dieser Richtung beteiligt, wobei die Wissenschaftler auch auf die Vernetzungen der Stiftung mit revisionistischen Vereinigungen wie der Tsukuru-kai aufmerksam machen347. The Tokyo Foundation (2013). Vgl. die Ausgabe des hauseigenen Journals Japan Perspectives vom Februar 2013 hierzu: http://www.tokyofoundation.org/en/additional_info/JP_Feb2013.pdf (Zugriff 20. 06. 2016). 344 Ebd., S. 55 f. 345 Vgl. Postel-Vinay/Selden (2010). 346 Vgl. Postel-Vinay/Selden (2010). Wie in dem Beitrag angesprochen, wurde Postel-Vinay als eine Unterzeichnerin einer Petition gegen den französischen Ableger der Nippon Foundation von der Stiftung (erfolglos) wegen Verleumdung verklagt. Diese Vorgehensweise der Organisation bestätigte, dass insbesondere der Ruf des Gründers Sasakawa Ryôichi von allem historischen Zweifel unbeschadet gehalten werden soll. 347 Aus dem Umfeld dieser Vereinigung stammt etwa der Verfasser einer aktuellen Biographie, die von Sasakawas Sohn Yôhei (*1939) autorisiert wurde. Postel-Vinay/Selden (2010). 342 343
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Mittlerweile führt Sasakawas Sohn Yôhei die Nippon Foundation, der auch durch diverse Publikationen in konservativen Medien in Erscheinung tritt, wobei er jüngst auch an den Patriotismus der Japaner appellierte348. Er unterhält Beziehungen bis in höchste Kreise, was auch in seiner Ernennung zum japanischen Sonderbotschafter für nationale Aussöhnung in Myanmar349 oder in seinem Sitz im Bewerbungskomitee bzw. Beirat für die Olympiade 2020 in Tôkyo deutlich wurde350. Dass bekannte Revisionisten wie der konservative Kritiker Yayama Tarô (*1932) oder auch der Anglist Watanabe Shôichi (1930 – 2017) im Kuratorium der Nippon Foundation sitzen bzw. saßen351, lässt die Stiftung ebenfalls in einem kontroversen Licht erscheinen352. Auch beim Blick auf die für die Tokyo Foundation tätigen Wissenschaftler trifft man auf „alte Bekannte“ wie Yasuda Yoshinori353, der mit seinen ethno-spirituell verbrämten Traktaten über die besondere Beziehung der Japaner zur Natur bereits weiter oben in Erscheinung getreten ist. Watanabe und Yayama gehören auch zum Autorenkreis des erwähnten PHP-Verlages (Peace and Happiness through Prosperity), der 1946 vom Panasonic-Gründer Matsushita Kônosuke (1894 – 1989) ins Leben gerufen wurde. Inken Prohl zählt PHP zu den größten und einflussreichsten Verlagshäusern in Japan und weist auch auf angeschlossene Publikationen wie das konservative Magazin Voice oder die Verbindungen der Verlagsgruppe zum konservativen Nichibunken-Forschungsinstitut hin354. Der Verlag verfügt ebenfalls über einen angeschlossenem Think Tank, das „PHP Research Institute“355, der sich mit einem breiten Spektrum an Themen befasst, wobei in den Vorschlägen des Instituts Akzentsetzungen in Richtung eines stärker globalisierten Japans erkennbar werden, das realistisch-pragmatisch auf die internationalen Herausforderungen reagieren soll. Entsprechend werden der TPP-Beitritt gefordert sowie als Reaktion auf Fukushima eine verbesserte Kommunikationspolitik der Regierung, die die Abwendung von Image-Schäden für
348 Vgl. sein Buch „Hin zu einem geliebten Vaterland“ („Ai suru sokoku e“). Sasakawa (2016). 349 http://www.mofa.go.jp/announce/announce/2013/2/0225_01.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 350 https://tokyo2020.jp/jp/organising-committee/structure/advisory-meeting/ (Zugriff: 20. 06. 2016). 351 http://www.nippon-foundation.or.jp/about/organization/ (Zugriff: 20. 3. 2014). 352 Yayama äußerte sich beispielsweise relativierend über die Annexion Koreas 1910, in der er Unterschiede zu einer Kolonisierung sieht, da die Japaner den Koreanern vielmehr eine gleichberechtigte Stellung eingeräumt hätten, was Yayama u.a. im Bau von 5213 Grundschulen bis Kriegsende verwirklicht sieht. Yayama (2013), S. 5. 353 http://www.tkfd.or.jp/research/contemporary-pathology/s00027 (Zugriff: 20. 06. 2016). 354 Prohl (2000), S. 103. 355 http://thinktank.php.co.jp/ (Zugriff: 20. 06. 2016).
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Japan durch „Gerüchte“ im Ausland erreichen soll356. Auch im Hinblick auf die Verfassungsänderung wird ein überlegteres Vorgehen empfohlen, dass dem Volk die Notwendigkeit ausführlich erklärt, anstatt zu einer allzu abrupten Strategie zu greifen, mit der man bei der entscheidenden Volksabstimmung Schiffbruch erleiden könnte357. Ein Blick auf das PHP-Verlagsprogramm zeigt ein breit gefächertes Angebot, das aber auch deutlich nationalkonservative Akzente aufweist. PHP und Voice zielen darauf ab, ein positives Japanbild zu zeichnen und somit neuen Stolz auf Japan zu ermöglichen, wobei deutliche Anleihen beim Nihonjinron und Geschichtsrevisionismus hervortreten. Zu den aktuell produktivsten Hausautoren in dieser Richtung gehört der Jurist Takeda Tsuneyasu (*1975), der in den letzten Jahren mit PHP-Publikationen wie „Warum ist Japan in der Welt am beliebtesten“ oder „Wann haben die Japaner angefangen, Japan zu lieben“ versucht, die Heimatliebe der Japaner zu entfachen und dabei auch das Nihonjinron-Genre bedient358. Er propagiert zudem die Wiederentdeckung japanischer Mythen, etwa der aus dem 8. Jh. stammenden Chronik Kojiki, wobei er auch soziale Medien zur Verbreitung entsprechender Botschaften nutzt: „Eine Nation [minzoku], die nichts über ihre Mythen lernt, wird untergehen. Daraus folgt, wenn sich das Kojiki verbreitet, wird die japanische Nation felsenfest“359. Takeda lobte an anderer Stelle auch die Aktivitäten der rechtsradikalen Gruppierung Zaitoku-kai (vgl. auch Kap. E.), durch die angebliche „Sonderrechte“ (tokken) in Japan lebender Koreaner bekannt geworden seien360. Ein weiterer prominent besetzter Think Tank, der keinen Hehl aus seinen Absichten macht (hierzu gehören die Standardthemen Verfassungsreform und eine „korrekte“ Sichtweise auf die japanische Geschichte), ist das JINF, das „Japan Institute for National Fundamentals“, das 2007 gegründet wurde361. Präsidentin ist die Journalistin Sakurai Yoshiko (*1945), regelmäßige Autorin konservativer Magazine. Vizevorstand von JINF ist der Politologe Takubo Tadae (*1933), der wiederum im Kuratorium der Nippon Foundation sitzt. Zu den Direktoren der Organisation gehört auch der rechtspopulistische, langjährige Gouverneur von Tokyo, Ishihara Shintarô. Ebenso gehören Takubo und Sakurai zusammen mit anderen bekannten Rechtskonservativen, wie Hyakuta Naoki oder dem ehemaligen Präsidenten der Nippon Kaigi, Miyoshi Tôru (*1927), der „Volksvereinigung zur Schaffung der Verfassung des schönen Japan“362 (Utsukushii Nihon no kenpô o tsukuru kokumin 356 http://thinktank.php.co.jp/wp-content/uploads/2016/07/seisaku_teigen20110422.pdf (Zugriff: 20. 06. 2016). 357 http://thinktank.php.co.jp/wp-content/uploads/2016/05/policy_v8_n66.pdf (Zugriff: 20. 06. 2016). 358 Vgl. Takeda (2011); Takeda (2013a). 359 https://twitter.com/takenoma/status/114495017619431424 (Zugriff: 20. 06. 2016). 360 Yasuda (2015), S. 256. 361 http://jinf.jp/ (Zugriff 20. 06. 2016). 362 https://kenpou1000.org/about/member.html (Zugriff 20. 06. 2016).
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kaigi) an, die die von der LDP geplante neue Verfassung auf der Ebene einer Bürgerinitiative vorantreibt363 und erneut die Verknüpfungen der Abe-Regierung mit konservativ-revisionistischen Kreisen aufzeigt. Wenngleich eine ausführliche Untersuchung der Rolle von Stiftungen, Think Tanks und anderen Organisationen bei der Konstruktion und Etablierung rechtskonservativer Ideen im Rahmen dieser Arbeit nicht vorgenommen werden kann, so soll diese Darstellung eine erste Vorstellung vermitteln, wie weit die Vernetzung konservativer und revisionistischer Kreise in Japan geht. Wenngleich die japanische Konservative kein Monolith ist, bestätigt sich ihre gute Vernetzung untereinander, zwischen Intellektuellen, Medien, Politik und Stiftungen und macht das Potential deutlich, dass diese Personen und Organisationen bei der Konstruktion, Verbreitung, Institutionalisierung und auch Vermarktung von Japanbildern und japanischer Identität eben durch ihre einflussreichen Positionen spielen können. Bestes Beispiel hierfür ist die selbst in Japan bis vor kurzem relativ unbekannte Nippon Kaigi oder auch die Shinseiren, deren Mitglieder die überwältigende Mehrheit des zweiten Abe-Kabinetts stellen und so maßgeblich die Politik Japans beeinflussen. Laut Nakano Kôichi habe Koizumi bereits diese „institutionelle Solidarität“ (soshikiteki rentai) zwischen revisionistischen Vereinigungen wie der Nippon Kaigi und entsprechenden Elementen in der LDP gefördert, und im Machtkampf mit den alteingesessenen Konservativen die Revisionisten bevorzugt behandelt, wodurch diese in der Folge zur LDP-internen Hauptströmung herangewachsen seien364. Das Ausmaß dieser Verflechtungen wurde auch 2017 an dem Skandal um Moritomo Gakuen, der Betreibergesellschaft eines Kindergartens mit nationalistischer Ausrichtung, deutlich. Die Gesellschaft hatte für den Bau einer Schule Land von der Regierung weit unter Wert gekauft365. Medienrecherchen sowie die Aussagen des damaligen Direktors von Moritomo Gakuen, Kagoike Yasunori (*1953), der gleichzeitig als Chef der regionalen Niederlassung der Nippon Kaigi in Ôsaka fungierte, offenbarten die engen Verbindungen der Institution zu LDP-Spitzenpolitikern wie Inada Tomomi oder Abe Shinzô. Auch Abes Frau Akie geriet in den Fokus, u.a. weil sie vor Bekanntwerden des Skandals für das Amt einer ehrenamtlichen Direktorin an der neuen Schule vorgesehen war und angeblich auch im Namen ihres Mannes Spenden an Kagoike übergab, was Abe vehement bestritt366.
Nakano (2015), S. 182. Vgl. Ebd., S. 185. 365 Hurst (2017). 366 Hurst (2017). 363 Vgl. 364
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VI. Post-Fukushima-Nationalismus – Möglichkeiten und Grenzennationaler Einheit 1. Nationale Einheit „von oben“ Am 11. März 2011 erschütterte ein Jahrhundertbeben der Stärke 9,0 vor der Nordostküste Japans die Tôhoku-Region, dem ein zerstörerischer Tsunami und die Atomkatastrophe von Fukushima folgten. Insgesamt forderte die Dreifach-Katastrophe etwa 16.000 Menschenleben. Dabei mag es wohl auch der Einzigartigkeit des Ereignisses geschuldet sein, dass sich mancher Kommentator zu äußerst befremdlichen Aussagen hinreißen ließ. Ishihara Shintarô (*1932), der damalige Gouverneur von Tôkyô, interpretierte die Ereignisse in einem Interview vom 14. März 2011 etwa als eine „göttliche Strafe“ (tembatsu) – eine Äußerung367, die er wegen starker Proteste wenig später zurücknahm368. Seiner Wiederwahl als Gouverneur im Jahr 2011 schadete dies übrigens nicht. Ishiharas Aussage sollte nicht die einzige irritierende Wortmeldung in der Phase der Aufarbeitung nach der Naturkatastrophe bleiben. Die Psychiaterin Kayama Rika (*1960) charakterisierte das vorherrschende Klima als „Katastrophen-Nationalismus“ (shinsai nashonarizumu)369. Allerorten machten Parolen wie „Ganbare Nihon!“ (Halt durch, Japan!), oder „Minna de ganbarô Nihon“ (Lass uns alle zusammen kämpfen, Japan) die Runde, die auf Transparenten, an Gebäuden, Lebensmittelverpackungen und sonstigen Gegenständen angebracht bzw. aufgedruckt wurden (s. Abbildung. 1) und auch Jahre später den Alltag durchdrangen370. Diese von Politik, Medien und Werbung propagierten Durchhalteparolen lassen dabei die von Michael Billig371 beschriebenen, banalen Aspekte nationalistischer Alltagsdurchdringung überdeutlich hervortreten. Auch in den Kommentaren und den hastig zusammengeschriebenen Büchern zur Katastrophe eröffnete sich das für diese Arbeit ergiebige Untersuchungsfeld des „Post-Fukushima-Nationalismus“372. Als prominentes Beispiel kann der ehe367 Für eine Auseinandersetzung mit Ishiharas Problembemerkung vgl. auch Takahashi (2012), S. 106 ff. 368 http://www.theguardian.com/world/2011/mar/15/tokyo-governor-tsunami-punish ment (Zugriff: 20. 06. 2016). 369 Asahi Shinbun (2011a). 370 Vgl. Raddatz (2013b), S. 352. Die von oben verordnete, „nationale Einheit“ wurde nur durch die in einigen Gaststätten kurz nach dem Beben verbreitete Praxis überboten, ein separates Menü zur Unterstützung der Tôhoku-Region anzubieten. Die Zutaten hierfür kamen aus den radioaktiv belasteten Nordostpräfekturen. Ähnliches konnte und kann in manchen Supermärkten beobachtet werden, in denen weiterhin Solidaritätskäufe von Produkten aus der Katastrophenregion beworben werden. Freiwillige Verstrahlung gerät hier zur gesellschaftlich gar nicht so subtil forcierten Unterstützung von Landsleuten in Not – ein im Nachkriegsjapan selten gewordenes Beispiel für „harten“ Nationalismus, der an die Gesundheit geht. 371 Billig (1995).
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Abbildung 1: Fächer und Plakat mit Durchhalteparolen: „Japan, halte durch!“ (Fotos R.R.)
malige General Tamogami Toshio (*1948), angeführt werden, der aufgrund eines kontroversen Essays zu Japans Kriegsvergangenheit 2008 aus den SDF entlassen wurde373. Er gilt besonders bei Internet-Rechten (netto uyoku) als Held (vgl. Kap. E.) und kandidierte 2014 erfolglos für das Amt des Gouverneurs von Tôkyô, wobei es heißt, er habe besonders jüngere Wähler angesprochen374. Tamogami erklärt, dass die Disziplin der Japaner nach dem Beben die Weltöffentlichkeit beeindruckt habe, weil es nicht zu größeren Unruhen oder Aufständen gekommen sei375. Den Grund interpretiert er biologistisch, indem ihm zufolge Harmonie und Teamgeist in die DNA der Japaner eingebrannt seien und diese vor dem Krieg selbstverständlichen Eigenschaften auch jetzt noch funktionierten376. Aus der Sicht des Ex-Generals manifestiert sich in der Naturkatastrophe gar die „Einzigartigkeit“ Japans, deren Wurzeln er in grauer Vorzeit erkennt und die bis zum heutigen Tag in der DNA der Japaner fortwirke, was für ihn ein „natürlicher“ Grund ist, stolz auf Japan zu sein377. 372
Der bekannte Kritiker Satô Masaru (*1960) kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie Tamogami. Er sieht die Japaner als eine Nation, die sich bei Krisen stark zeige (kiki ni tsuyoi minzoku) und eine ihnen inhärente Fähigkeit besitze, in solchen 372 Für eine einführende Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten des japanischen Post-Fukushima-Diskurses s. z. B. die von Steffi Richter und Lisette Gebhardt herausgegebenen Sammelbände: Richter/Gebhardt (2012); Gebhardt/Richter (2013). 373 Vgl. Saaler (2016), S. 177. 374 Vgl. Higuchi (2015), S. 117. 375 Tamogami (2012), S. 54. 376 Vgl. ebd., S. 55. 377 Ebd., S. 5.
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Ausnahmesituationen besondere Geschlossenheit zu zeigen, in denen sich gar die „japanische Seele“ (Yamato-damashii) offenbare378. Allerdings sieht Satô den Atomunfall in Fukushima mit der Gefahr behaftet, dass die Welt Japan das Label eines „atomaren Verbrecherstaats“ (Genshiryoku hanzai kokka) anheften könnte, während in den Arbeitern vor Ort in Fukushima jedoch die „Heldenhaftigkeit der japanischen Seele“ (Yamato-gokoro no ôshisa) verwirklicht sei379. Nicht nur bei Satô wurde der unermüdliche Einsatz der Arbeiter in Fukushima, die unter Lebensgefahr versuchten, die Katastrophe einzudämmen, zum Ziel nationalistischer Verklärung, da sie ihr Leben „für Japan“ aufs Spiel setzten und so vermeintlich patriotisch agierten. Doch wie zum Teil auch den Berichten der deutschen Presse zu entnehmen war, stellten sich die Gründe oftmals deutlich banaler dar: nicht Patriotismus, sondern die vergleichsweise gute Bezahlung und die Chance auf Arbeit lockten Verzweifelte in den havarierten Meiler.380. Auch der eher dem linksliberalen Spektrum zuzuordnende Philosoph Takahashi Tetsuya (*1956), der selbst aus der Fukushima-Präfektur kommt, schätzte die Ereignisse etwas nüchterner ein, indem er die durch Fukushima symbolisierte Atomkraft ähnlich wie den Yasukuni-Schrein als ein System der (Auf)opferung (gisei shisutemu) sieht. In diesen Systemen, so Takahashi, werde die Vorteilsnahme durch bestimmte Personen dadurch ermöglicht, dass andere Personen oder auch Dinge dafür „geopfert“ würden. Für die Geopferten bestehe der „Gewinn“ wiederum darin, dass das System ohne ihre Hingabe nicht funktioniere. Diese Art der Opferung sei im Alltag versteckt und würde in der Gemeinschaft (Staat, Nation, Gesellschaft etc.) als heldenhaft verklärt (bika) und gerechtfertigt381. Die 50 Arbeiter im Atommeiler von Fukushima (von den Medien auch „Fuku shima 50“ genannt), die kurz nach dem Tsunami zur Notmannschaft und letzten Hoffnung Japans gegen den bevorstehenden GAU wurden, sieht Takahashi kritisch als gegenwärtige Version der japanischen Kamikaze-Kommandos (heisei no tokkôtai), die sich ähnlich wie die im Yasukuni-Schrein verehrten „Heldenseelen“ (eirei) für Japan „aufopferten“382. Gleichzeitig werde die Region Fukushima nun jedoch als „Mülleimer der Nation“ behandelt und ihre Bevölkerung diskriminiert383. Ähnlich wie Takahashi äußerte sich der zwischen konservativen und eher liberalen Positionen oszillierende Literaturwissenschaftler Katô Norihiro (*1948), der mit Takahashi in den 1990ern bei dem Thema des Umgangs mit japanischen Kriegstoten heftig aneinander geriet384. Katô macht Parallelen zum Vorkriegsjapan Satô (2011), S. 3, 19. Satô (2011), S. 2, 3. 380 Spiegel Online etwa zitierte einen von ihnen mit den Worten: „Ich kenne keinen, der es für Japan macht. Die meisten brauchen das Geld“. Spiegel Online (2011). 381 Takahashi (2012), S. 27. 382 Ebd., S. 36. 383 Takahashi (2012). 384 Vgl. zu Katô und Takahashi Sasaki (2009), S. 271 f. Zu Katô vgl. auch Iida (2002). 378 Vgl. 379
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aus und vermutet, dass das öffentliche Klima 1941, als der für Japan aussichtslose Krieg anfing, wohl ähnlich gewesen sein müsse385. In diesem Kontext moniert Katô eine verantwortungslose Regierungspolitik und eine „gleichgeschaltete“ Medienberichterstattung (hôdô no isshoku), die sich in plumpen Durchhalteparolen wie „Wir glauben an Japan“ ergangen hätten386. 2. Von Post-War zu Post-Fukushima – das Tôhoku-Beben als größte Zäsur seit 1945? Indem Katô Norihiro und Takahashi Tetsuya mit ihrer Medienkritik bzw. Vergleichen wie Yasukuni/Fukushima übergeordnete Verknüpfungen ansprechen, geben sie Beispiele dafür, wie das Tôhoku-Erdbeben und die Katastrophe von Fukushima zu einer bedeutenden Zäsur im japanischen Gesellschaftsdiskurs führten und sogar eine Neubewertung von Japans Nachkriegszeit mit sich brachten387. Stellenweise wurden die Ereignisse als das endgültige Ende der Nachkriegszeit bzw. in Anspielung auf den Zweiten Weltkrieg als „zweite Niederlage“ gedeutet. Als besonders bemerkenswert gilt dabei, dass diese beiden Zäsuren jeweils nuklear herbeigeführt wurden. Der Kritiker Seki Hirono (*1944) spricht vom Atombombenabwurf auf Hiroshima als Ende des Vorkriegsregimes und von Fukushima als endgültigem Ende des Systems „Japan AG“388. Auch bei Takahashi, der neben Fukushima Okinawa als zweites „Aufopferungs-System“ (gisei shisutemu) der Nachkriegszeit sieht, werden Japans schicksalhafte Verknüpfungen mit dem Nuklearen erkennbar. Während Fukushima das Symbol des Opfers für Japans Nachkriegsentscheidung, Atomkraft „friedlich“ zu nutzen ist, wird Okinawa zum Opfer, das nötig war, um Japan in der Nachkriegszeit durch die dort stationierten US-Soldaten und den „atomaren Schutzschirm“ der Amerikaner zu schützen389. Noch aufschlussreicher dafür, welche Bedeutung Fukushima für eine Neuausrichtung japanischer Identität entwickeln könnte, war ein im März 2012 im konservativen Meinungsmagazin Seiron erschienener Artikel des Autors und Kritikers Satô Kenji (*1966)390. Ihm zufolge sei das Erdbeben ein Ereignis, das die „Nachkriegszeit“ (sengo), von der man vorher nicht genau wusste, wann oder ob sie schon geendet habe, nun durch eine dafür nötige, gemeinsame Erfahrung (kyôtsû taiken) beenden könnte391. Satô sieht in dieser neu anbrechenden Epoche die Möglichkeit für einen Neuaufbau Japans (atarashii kunizukuri)392. 385
Katô (2011), S. 25 f.
386 Ebd.
Vgl. auch Raddatz (2013b), S. 354. Seki (2011), S. 19. 389 Vgl. Takahashi (2011). 390 Vgl. hierzu auch Raddatz (2013b). 391 Satô (2012), S. 213. 392 Ebd., S. 213, 217. 387
388
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Was Revisionisten wie Nishibe, Kobayashi und Fujiwara seit Jahren mit zweifelhaftem Erfolg versuchen, könnte also nach dieser Lesart durch das Erdbeben, dem stellenweise die gleiche Wirkung wie Japans Kriegsniederlage zugeschrieben wurde, forciert werden. Autoren wie Satô sehen die Möglichkeit für Japan, sich durch die Naturkatastrophe endlich seiner Reputation als „bösartiges“ Land zu entledigen und mit dem Image des „guten“ Opfers einen Neuanfang zu machen393. Mit dieser neuen „Opferrolle“ verschwindet in Satôs Perspektive nicht nur der Zwang, Kriegsverantwortung zu übernehmen, auch China und Südkorea könnten nicht mehr so leicht die „Geschichtskarte“ als Druckmittel ausspielen394. Er erwähnt dabei auch das wachsende Vertrauen, das die Selbstverteidigungsstreitkräfte im Zuge der Aufbauarbeiten erfahren hätten395. Neben solchen Identitätsfragen stellte sich als weitere unmittelbare Folge die Frage nach Japans zukünftigem Umgang mit der Atomkraft, wobei deren Unterstützung unmittelbar nach dem GAU verständlicherweise rapide abnahm396. Auch der Nuklearwissenschaftler Iida Tetsuya (*1959) sieht in der Reaktion auf Fukushima Parallelen zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals habe keiner mehr von Krieg gesprochen, so wie unmittelbar nach Fukushima weder die Regierung, noch Medien und Intellektuelle für die Atomkraft eintraten397. Die öffentliche Meinung habe sich in Richtung Atomausstieg gewendet, wobei konservative Politiker in LDP und DPJ, ebenso wie Energiefirmen und Wirtschaftsgruppen diese öffentliche Stimmung teilweise ignorierten398. Die 2012 abgelöste DPJ-Regierung von Premier Noda hatte auch unter dem Druck der Bevölkerung399 (Stichwörter: Sayonara genpatsu, Ajisai kakumei) zwischenzeitlich einen Atomausstieg bis 2040 ins Auge gefasst, der jedoch unter dem Amtsnachfolger und Atombefürworter Abe Shinzô im April 2014 zugunsten einer Fortsetzung der atomaren Energienutzung wieder ausgesetzt wurde. Satô (2012), S. 216. Vgl. ebd., S. 217. 395 Satô (2012). 396 Nach Fukushima befürwortete eine große Mehrheit der japanischen Bevölkerung einen Ausstieg aus der Atomenergie. Laut einer Umfrage vom März 2012 waren es 80 %, weswegen auch die japanische Regierung zwischenzeitlich gezwungen war, ihre Politik entsprechend anzupassen. Vgl. Gonoi (2012), S. 204. 397 Iida/Choi (2011), S. 145. 398 Ebd., S. 146. 399 Hier ist neben der Gründung einer „Grünen Partei“ im Juli 2012 speziell die „Hortensien-Revolution“ (Ajisai kakumei) anzuführen, bei der mit regelmäßigen Massenprotesten (in prominenter Weise auch vor dem Amtssitz Nodas) gegen ein Wiederanfahren von Atommeilern demonstriert wurde. Eine Bürgermobilisierung dieses Ausmaßes schien nach dem Ende der Proteste gegen den amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrag in den 1960er Jahren in Japan kaum noch möglich. Der Soziologe Gonoi Ikuo stellt hier gar einen Wandel in der Sichtweise von Demonstrationen fest, so habe es zwischen den 1990er Jahren und den 2000er Jahren einen Übergang von „gewalttätigen“ zu „festlichen“ Demonstrationen gegeben (bôryoku kara shukusai), was sich in einem Imagewandel der Demonstration als Ausdruck direkter Demokratie widerspiegele. Vgl. Gonoi (2012), S. 202 f.; vgl. hierzu auch Raddatz (2013b). 393
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In der öffentlichen Debatte erscholl freilich gerade unmittelbar nach Fukushima der Ruf nach dem Atomausstieg besonders laut. Beispielsweise sah Katô Norihiro für Japan keine andere Möglichkeit, als von dieser Energieform Abstand zu nehmen400. Und auch andere Intellektuelle mit gesellschaftlichem Einfluss wie die Literaten Ôe Kenzaburô (*1935) oder Murakami Haruki (*1949) forderten in ähnlicher Weise eine Abkehr von nuklearer Energiegewinnung401. In weiten Teilen des linken Lagers, gerade auch der Japanischen Kommunistischen Partei (KPJ), hat Fukushima zu einer noch stärkeren Kritik von Atomkraft und einer damit einhergehenden Betonung des Pazifismus-Artikels 9 geführt, der sich zusammen mit dem Widerstand gegen die japanische Teilnahme am Freihandelsabkommen TPP in einer Art isolationistischem Anti-Atom-Pazifismus manifestiert402. In ähnlicher Weise tritt auch die bereits erwähnte Kyûjô no kai (Artikel 9-Vereinigung) auf, die ihr Programm zum Schutz von Artikel 9 mit dem Atomausstieg verbindet. Ohne die isolationistische Komponente der extremen Linken zu teilen, verknüpft sich jedoch auch im gemäßigteren linksliberalen Spektrum die Kritik an der Atomkraft mit einer Kritik am TPP-Beitritt403. Während das linke Lager in Japan traditionell schon immer eher gegen die Atomkraft war, spaltete sich die konservative Seite, welche die Atomkraft einst tendenziell befürwortete, nach Fukushima in ein Pro-Atom- und Anti-Atom-Lager auf404. Hier tritt in prominenter Weise Kobayashi Yoshinori als Atomkraftgegner in Erscheinung. In seinem im August 2012 erschienenen Manga Datsu-genpatsu-ron (Über den Atomausstieg) holt er zu einem Rundumschlag gegen Atombefürworter in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft aus und fordert diese auf, doch selbst in die 30km-Sperrzone um den havarierten Meiler von Fukushima zu ziehen, wenn sie Atomkraft für so sicher hielten, wobei er vor ihrer Demagogie warnt und gar zur „Verteidigung des Landes“ aufruft405. Auch vor alten Weggefährten wie Nishibe Susumu macht Kobayashi nicht Halt und bezeichnet ihn und andere prominente Atombefürworter wie den Sozialwissenschaftler Nakano Takeshi (*1971) als „selbsternannte Konservative“ ( jishô hoshu)406. Der streitbare Manga-Autor erkennt in der „pazifistischen Verblendung“ (heiwa boke) der japanischen Nachkriegsgesellschaft den wesentlichen Grund, aus dem man sich scheue, die Gefahren der Atomkraft zur Kenntnis zu nehmen407. Das japanische Volk, ja die Fortdauer des japanischen Staates selbst würden so einer dauerhaften Gefahr ausgesetzt, wobei der Staat seiner Schutzpflicht nicht mehr Katô (2011), S. 69. Asahi Shinbun (2011b); Iida/Choi (2011), S. 146. 402 Raddatz (2012), S. 123; Raddatz (2013b). 403 Als Beispiel hierfür kann das linksliberale Meinungsmagazin Sekai genannt werden. 404 Raddatz (2013b), S. 355. 405 Kobayashi (2012a), S. 20. 406 Kobayashi (2012a). 407 Ebd. 400 401
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nachkomme408. Um selbst nicht als „Linker“ zu erscheinen, setzt er den Vorwürfen anderer Konservativer und ihrer Plakatierung der Atomgegnerschaft als „links“, entgegen, dass die Thematik nichts mit links oder rechts zu tun habe und wirft den konservativen Atomfreunden vor, selbst links zu sein, da sie in ihrem atomaren „Fortschrittsglauben“ am ehesten progressiven Intellektuellen ähnelten409. „Echte Konservative“ müssten sich jedoch für die Bewahrung des japanischen „Nationalcharakters“ (kunigara) einsetzen410. Dabei bestätigt er sich auch als scharfer Kritiker eines Wirtschaftszentrismus und des damit verbundenen Filzes der Atomlobbyisten (genpatsu mura) aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft, der finanzielle Interessen über das Gemeinwohl des Volkes stellt411. Denn die im Krieg gefallenen „Heldenseelen“ (eirei) hätten nicht für materielle Interessen gekämpft, sondern für den Schutz von Familie, Heimat und Traditionen412. Das konservative Polit-Establishment im Dunstkreis von Abe Shinzô beharrt jedoch weiterhin auf der Atomkraft bzw. ist auf diesen Kurs zurückgeschwenkt. Ihre Argumentation ist primär wirtschaftszentriert und beschwört gelegentlich gar den Rückfall in eine graue Vorzeit, sollte der Atomausstieg tatsächlich vollzogen werden413. Der emeritierte Politikwissenschaftler und Kritiker Kobayashis, Nakagawa Yatsuhiro (*1945) tritt als Vertreter dieser Richtung auf. Er warnt vor der Zerstörung der japanischen Wirtschaft und dem Untergang des Landes (bôkoku)414. Da keine Technologie ohne Risiken zu haben sei, wirft er Atomgegnern, besonders aus dem linken Spektrum, einen sektenhaften Glauben an den Ausstieg vor und bezweifelt die Effektivität alternativer Energien. Schließlich, so Nakagawas „Argumentation“, sei durch Fukushima noch niemand gestorben, während durch Autounfälle jährlich 5000 Personen umkämen415. Ähnlich wie Kobayashi treten auch andere Ikonen der rechten Szene, wie der Aktivist und Publizist Suzuki Kunio (*1943) für den Atomausstieg in Erscheinung. Letzterer fordert im Gegensatz zu Kobayashi jedoch einen gemeinsamen Kampf von links und rechts416, wobei er eine wachsende Ablehnungshaltung gegenüber der Atomkraft im konservativen bis rechtsradikalen Lager feststellt. Ein Teil der Internet-Rechten (netto uyoku) würde den Atomausstieg jedoch als „antijapanisch“ brandmarken, weil Linke diesen befürworteten und verdächtigten ihre Gegner der Absicht, Japan schwächen bzw. zerstören zu wollen417. Doch könne man als Rechter Kobayashi (2012a), S. 41, 68. Kobayashi (2012a), S. 116 ff.; vgl. hierzu auch Raddatz (2013b), S. 359. 410 Ebd., S. 118. 411 Vgl. Raddatz (2013b), S. 358. 412 Kobayashi (2012a), S. 88. 413 Vgl. Raddatz (2013b), S. 358 f. 414 Nakagawa (2011), S. 7. 415 Ebd., S. 15. 416 Suzuki (2011c). 417 Vgl. Suzuki (2011a). 408
409 Vgl.
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nun nicht länger schweigen, wo das „schöne Japan“ (utsukushii kokudo) atomar verschmutzt werde418. Suzuki berichtet von rechten Anti-Atom-Demos, bei denen die Aktivisten auf ihr sonst übliches, einschüchterndes Auftreten mit Kampfanzügen und schwarzen Lautsprecherwagen verzichteten, wodurch sich auch „normale Bürger“ ermutigt sähen, sich diesen Protestzügen anzuschließen419. Hier macht er unfreiwillig darauf aufmerksam, wie geschickt rechte Gruppen die Ängste „normaler Bürger“ für ihre Zwecke instrumentalisieren420. Im vorliegenden Diskursfeld ergeben sich zunehmend drängende Fragen nach Japans zukünftiger ideologischer Orientierung. Es wurde deutlich, wie große und unvermittelte Krisen das Selbstbild einer Nation erschüttern und Forderungen nach einer Rekonstruktion dieses Bildes aufwerfen, um auf aktuelle und kommende Herausforderungen antworten zu können. Einige Diskursteilnehmer warten dabei mit Visionen auf. Hier lässt sich der Anthropologe und Religionswissenschaftler Nakazawa Shin’ichi (*1950) anführen, der „sich für die Reinkarnation eines Menschen, der vor 600 Jahren schon einmal gelebt hat“421, hält und mit postmodern-esoterisch geprägtem Denken dem Umfeld der „spirituellen Intellektuellen“ zuzurechnen ist. Während er in der Vergangenheit mit nationalkonservativen Positionen kokettierte und sich die Aura des intellektuellen „Tricksters“ gab422, tritt er in der Folge als Mahner auf, der Japan als Zivilisation in der Krise sieht, aus der es offenbar nur einen Ausweg gibt: die Abkehr vom alten System aus Kapitalismus und Atomkraft, das ihm monotheistisch erscheint, hin zu einer neuen ganzheitlichen Lehre, die er „Energology“ („Energie-Existenz-Diskurs“) nennt und deren Ideen er bereits in den Arbeiten von Karl Marx, Martin Heidegger und Georges Bataille gefunden zu haben glaubt423. Nakazawa fordert eine Wende, die auf erneuerbaren Energien – insbesondere der Solarenergie – basiert und dabei buddhistisch konnotiert ist424. Passenderweise erkennt er in der von ihm angestrebten Energierevolution, die weder eine bloße Rückkehr zur Natur (shizen kaiki), noch in die Welt (sekai fukki) sei, frappierende Ähnlichkeiten zu den Entstehungsprinzipien japanischer Zivilisation (Nihon bunmei no seiseigenri) selbst425. In seiner streckenweise eher spiritualistisch konnotierten Neuorientierung sieht Nakagawa aber ehrgeizige Möglichkeiten, Vorreiter für eine neue Weltbewegung zu werden426.
Suzuki (2011c). Suzuki (2011b). 420 Raddatz (2013b), S. 362. 421 Prohl (2000), S. 104. 422 Gebhardt (2001), S. 54 ff. 423 Ebd. 424 Nakazawa (2011), S. 13, 66. 425 Nakazawa (2011), S. 57, 98. 426 Nakazawa (2011), S. 57. 418
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Der Wissenschaftsphilosoph Sasaki Chikara (*1947) plädiert in ähnlicher Weise für einen „ökologischen Sozialismus“ (kankyô shakaishugi), der auf erneuerbaren Energien basiert, wobei er Deutschland und die nordeuropäischen Länder als Musterbeispiel anführt. Sasaki kritisiert eine auf Naturwissenschaft basierende Technologisierung, die die Natur zum Gegner habe, als „Imperialismus gegen die Natur“, wofür er die Atomkraft beispielhaft sieht427. In der japanischen Nachkriegs-Atompolitik macht er gar den Nachfolger des Ultranationalismus der Vorkriegszeit aus und fordert stattdessen eine Neubewertung der „traditionellen Natursicht“428. Auch Umehara Takeshi sah sich nach dem Beben in seiner Zivilisationskritik und der Betonung von Natur und Spiritualität bestätigt. Er bezeichnete den Unfall von Fukushima als Zivilisationskatastrophe (bunmei-sai), die neben der Notwendigkeit des Atomausstiegs auch generelle Fragen nach den Grenzen der modernen (westlichen) Zivilisation an sich aufwerfe. Umehara stellt hier die Notwendigkeit zur Erschaffung einer neuen Zivilisation (shin-bunmei) fest, die auf einer Koexistenz mit der Natur beruhe, wobei er aufgrund der vermeintlichen Tradition Japans in dieser Hinsicht dessen mögliche Vorbildrolle zu erkennen glaubt429. Zu alternativen Vorschlägen kommt der Soziologe Azuma Hiroki, der bei der Kreation seines „Japan 2.0“ die Notwendigkeit für eine neue „Vision“ entwickelt, wie das Land nach dem Beben zu gestalten sei430. Allerdings bemängelt er, dass die Linke in Wahrheit konservativer sei als die Konservativen und von Letzteren eher erwartet werde, Japan ändern zu wollen. Konkret beinhaltet Azumas Vision die „touristische Erschließung“ des Atommeilers von Fukushima, um das Interesse und das Verständnis für die Katastrophenregion zu verbessern431. Ihm zufolge sollte der zerstörte Meiler den mit einer vagen Vorstellung anreisenden Touristen ähnlich wie ein Besuch des Konzentrationslagers von Ausschwitz eine nachdrückliche Erfahrung bieten und zu dem Gedanken führen: „Das ist ja krass“ (kore wa yabai)432. Wie an den diskutierten Positionen deutlich wird, hat sich im Post-Fukushima-Japan ein Diskurs entwickelt, der sich im komplexen Spannungsfeld von Atomkraft, Natur, Kapitalismus, Pazifismus, Globalismus und nationalistischem Isolationismus vollzieht. Dabei lässt sich eine Kernfrage der Debatte zuspitzen: Soll Japan seinen vor dem Beben begonnenen Weg zu einem neoliberalen, auch militaristisch beeinflussten Globalismus fortsetzen, oder soll das Land den tendenziell introvertiert-nationalistisch codierten Isolationismus verfolgen, der je nach ideologischer Couleur, Aspekte wie antinuklearen Natur- und Umweltschutz sowie die Stärkung des Pazifismus betont? Sasaki (2012), S. 15. Ebd., S. 15, 18. 429 http://toyokeizai.net/articles/-/6624 (Zugriff: 20. 06. 2016). 430 SIGHT (2012), S. 31. 431 SIGHT (2012). 432 http://wpb.shueisha.co.jp/2012/09/04/13790/ (Zugriff: 20. 06. 2016). 427
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Hier hat die zweite Regierungszeit Abes erste Antworten geliefert, der mit seinem Abenomics-Projekt und der Erklärung, dem TPP-Abkommen beitreten zu wollen, einerseits neoliberale Wirtschaftspolitik forciert und andererseits über Militarisierung und nationalistische Rhetorik versucht, Japan als ein eigenständiges und „proaktiv“ handlungsfähiges Führungsmitglied der Weltgemeinschaft zu positionieren. Gerade das TPP-Abkommen erwies sich dabei als ein wichtiger und kontroverser Prüfstein. Von seinen Verfechtern wird der Beitritt – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des Wiederaufbaus – als unabdingbar dargestellt, während die TPP-Gegner nach dem Motto „Japan zuerst“ die Rückkehr zu einem globalkritischen Wirtschaftsnationalismus fordern. Dieser „neue“ Nationalismus soll im folgenden Abschnitt näher untersucht werden. 3. Das Tôhoku-Beben als Scheideweg zwischen Globalismus und Isolationismus – die Renaissance des Wirtschaftsnationalismus bei Nakano Takeshi und Mitsuhashi Takaaki Wenngleich antiglobale Propaganda freilich zum Standardrepertoire konservativer Kommentatoren aus dem antiamerikanischen Lager zählt, so hat die Diskussion über Japans Beitritt zum Freihandelsabkommen TPP nach dem Tôhoku-Beben einen Subdiskurs zu Tage gefördert, der mit fatalistischer Untergangsrhetorik ein Bedrohungsszenario zeichnet, bei dem Japan kurz vor der Zerstörung durch globalistische Kräfte zu stehen scheint. Als Gegenmittel dazu wird in verschiedenen Schattierungen ein „starkes Japan“ gefordert, das seine Standards global verteidigen bzw. durchsetzen und sich nicht umgekehrt vom Globalismus „vereinnahmen“ lassen soll. Im Folgenden sollen die Beiträge des Sozialwissenschaftlers und ehemaligen Mitarbeiters des METI433 Nakano Takeshi (*1971) sowie des Wirtschaftsautors Mitsuhashi Takaaki (*1969) näher analysiert werden, die zu den prominentesten Wortführern dieses Diskurses gehören und bereits vor Beginn des „Abenomics-Hype“, der im folgenden Kapitel thematisiert wird, eine ideologische Renaissance des japanischen Wirtschaftsnationalismus im Post-Fukushima-Japan einläuteten434. Nakano wird mit seinen englischsprachigen, zum Teil preisgekrönten Beiträgen435 insbesondere zum Thema Wirtschaftsnationalismus, auch in der westlichen Forschung rezipiert436. Umso erstaunlicher mag sein Plädoyer für einen stärkeren japanischen Wirtschaftsnationalismus erscheinen, das gelegentlich die Bahnen gängiger Wissenschaftspraxis verlässt. Nakano ist erbitterter Gegner des japanischen Beitritts zum Freihandelsabkommen TPP (Trans-Pacific Partnership) und 433 METI: Ministry of Economy, Trade and Industry (Japanisches Ministerium für Wirtschaft und Industrie). 434 Eine Analyse der Positionen Nakanos und Mitsuhashis findet sich auch in Raddatz (2012). 435 Nakano (2004). 436 Vgl. zu Nakano z. B. Pryke (2009), S. 63.
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erklärte auch in Youtube-Videos, was er vom amerikanischen Druck auf Japan hält. Mit in die Kamera gehaltenen Mittelfingern ruft der ehemalige Professor der renommierten Universität Kyôto aufgebracht: „No, we can’t“.437 Inwieweit diese weniger wissenschaftliche Seite Nakanos, der zudem ohne jegliche Berührungsängste die Nähe rechtskonservativer und revisionistischer Medien sucht438, seinem westlichen Publikum bekannt ist, sei dahingestellt. Für seine Forderung nach mehr Nationalismus dient Nakano das Tôhoku-Beben als Aufhänger439. Es ist eines von vielen Beispielen, bei denen die TPP-Thematik und die Tôhoku-Katastrophe miteinander verknüpft und dabei fundamentale Fragen nach Japans zukünftiger Rolle aufgeworfen werden. Nakano sieht in „3/11“ weit mehr als eine Naturkatastrophe, nämlich eine Krise der „herrschenden“, globalistischen Ideologie, der zufolge der Nationalstaat seine Gültigkeit verliere und zurückweiche. Nötig sei jedoch ein Paradigmenwechsel ohne den diese Krise nicht überwunden werden könne. Mithin müsse die Bedeutung der japanischen Nation insgesamt überdacht werden440. Denn trotz aller internationalen Hilfe habe letztlich der japanische Staat nach dem Beben durch Umverteilung von Staatsressourcen alle Maßnahmen zu Rettung und Wiederaufbau getroffen. Die Staatsmacht sei in Krisen also immer noch der wichtigste Faktor, und der Globalismus, der die Schwächung der Zentralmacht zugunsten globaler und lokaler Souveränität fordere, habe einen schweren Rückschlag erlitten, da solche Ausnahmesituationen nicht in Opposition von Region und Zentrum, sondern nur mit deren Zusammenarbeit gelöst werden könnten441. Um Krisen zu überwinden, bedürfe es laut Nakano also staatlicher Macht (kokuryoku442), wobei er deren Verstärkung und Aufrechterhaltung im Wirtschaftsbereich als „Wirtschaftsnationalismus“ definiert443. In diesem Sinne habe gerade die Tôhoku-Katastrophe den lange tabuisierten Nationalismus der Japaner auf völlig „natürliche“ Weise „hervorquellen“ lassen (shizen to wakiagatta)444. Unter Bezugnahme auf eine Rede des Tennô nach dem 437 http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=Kugb94D0xCU (Zugriff: 20. 06. 2016). 438 s. z. B. Nakanos Auftritte in rechtskonservativen Medien wie Channeru Sakura (hier auch zusammen mit Mitsuhashi) oder auch in Nishibe Susumus Sendung „Nishibe Susumu Seminar“ des Senders Tokyo MX: http://www.mxtv.co.jp/nishibe/archive.php?show_date=20130601 oder http://www.youtube.com/watch?v=6Nz6DYwQpuA (Zugriff: 20. 06. 2016). 439 Nakano (2011). 440 Ebd., S. 243. 441 Nakano (2011), S. 7 f. 442 Kokuryoku muss bei Nakano in einem nationalstaatlichen Sinne verstanden werden, in dem die Macht eines Staates und der ihm zu Grunde liegenden „Nation“ quasi deckungsgleich sind. Also sowohl in der Bedeutung von „national power“ als auch „state power“. 443 Nakano (2011), S. 19. 444 Ebd., S. 11 f.
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Beben, der darin zur nationalen Einheit aufruft, macht Nakano ein entsprechendes Bewusstsein aus, zur selben „Schicksalsgemeinschaft“ (unmei kyôdôtai) zu gehören445. Zur Überwindung einer derartigen Krise, so fährt er fort, müsse die ganze Nation solidarisch sein. Da der Tennô446 auch per Verfassung für die Einheit der Nation (kokumin tôgô) stehe, sei dessen Botschaft umso bedeutender447. Die Hinnahme von Umverteilungen für den Wiederaufbau sei folglich nur unter dem Aspekt des Nationalismus zu verstehen. Mithin falle die Mobilisierung von Ressourcen umso leichter, je stärker der Nationalismus sei448. Folglich spalte sich die Nation, wenn das nationale Einheitsgefühl verloren gehe449. Nakano kritisiert die vor allem in Wirtschafts- und Politikkreisen zum Dogma verhärtete Sichtweise, Japan müsse aufgrund von Geburtenrückgang und Überalterung verstärkt auf ausländische Märkte drängen und ausländische Kräfte ins Land locken450. Er fordert einen totalen Vorrang „nationaler“ Politik gegenüber neoliberal-globaler Politik (Wiederaufbau vs. Strukturreformen) als einzige Wahlmöglichkeit, wenn er zuspitzt: „kurzum, je stärker sich unser Land globalisiert, desto schwieriger wird der Wiederaufbau der Katastrophengebiete in Tôhoku“451. Das Ziel Japans müsse also die Stärkung des Staates und die Verteidigung der Nation sein452, wobei die Gefahren in Nakanos Feindbildern Globalismus und Multikulturalismus lauern. Dagegen soll sein Wirtschaftsnationalismus geeignet sein, die Fortdauer der Nation zu sichern und zudem Beträge für den „Weltfrieden“ zu leisten453. Der Staat müsse daher, ebenso wie er das Volk bei Naturkatastrophen schütze, auch die Menschen vor der Globalisierung schützen454. In der Globalisierung würden die Interessen der Unternehmen über die der Bevölkerung gestellt, und die „Nation“ habe in dieser „egoistischen“ Denkweise keinen Platz455. Globalistische Bestrebungen erscheinen ihm als technokratische Bestrebungen von Eliten ohne Rückhalt oder Nutzen für das Volk, die gar einem die Staatsmacht schwächenden „Selbstmord“ ( jisatsu kôi) gleichen456. Von der Globalisierung profitierten nur UnNakano (2011), S. 14 f. Auf antinationalistische Verfassungsbefürworter abzielend, merkt Nakano in Bezug auf den Tennô an, dass dieser als nationales Symbol in der Verfassung festgeschrieben und diese daher im Kern nationalistisch sei. Vgl. Nakano (2011), S. 120. 447 Ebd., S. 15. 448 Nakano (2011), S. 16 f. 449 Ebd., S. 18. 450 Vgl. ebd., S. 20. 451 Nakano (2011), S. 22. 452 Ebd., S. 69. 453 Ebd., S. 91 f., S. 209. 454 Nakano (2011), S. 23. 455 Nakano (2011), S. 34. 456 Vgl. Nakano (2011), S. 62, 215, 231 f. 445 Vgl. 446
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ternehmen, während sich in der Bevölkerung stattdessen soziale Unterschiede vergrößerten und sich die Nation „zersetze“457. Aus der Destabilisierung der sozialen Ordnung entstehe schließlich der Nährboden für Totalitarismus458. Nakano kritisiert politischen Populismus, ist aber selbst nicht frei davon, wenn er etwa vor den unabsehbaren Konsequenzen ausländischer Investitionen in Japan warnt. Denn es sei schwierig, nichtjapanischen Investoren, die nicht die gleiche Kultur teilten, unternehmerisches Handeln, das auf einem Nationalcharakter (kokuminsei) beruhe, verständlich zu machen459. In dieser Doppelmoral wäre freilich gegen ausländische Aktien in japanischem Besitz kaum etwas einzuwenden. Staaten wie die USA und China erscheinen Nakano als Gefahr, indem sie versuchten, andere Länder – speziell Japan – zu schwächen. Inmitten der schwierigen, weltweiten Bedingungen versuche jedes Land seine fehlende Staatsmacht durch Verstärkungen der Herrschaft (shihairyoku) zu kompensieren. Da man selbst keinen Wohlstand mehr erzeugen könne, strebe man danach, den Markt anderer Länder zu beherrschen und ihren Reichtum zu „rauben“, was Nakano als „Staatskapitalismus“ (kokkashihonshugi) bezeichnet. Die USA versuchten so seit den 1980ern, Druck auf Japan auszuüben und ihre Kontrolle auszubauen, da die eigenen „nationalen Fähigkeiten“ abgenommen hätten460. In der Aufnahme der TPP-Beitrittsverhandlungen sieht er den Wunsch der Abe-Regierung die Beziehungen zu den USA zu verbessern461. Nakanos Nationalismus basiert stark auf wirtschaftlichen und politischen Machtprinzipien, während ihn die üblichen konservativen Diskursfelder wie Geschichtsrevisionismus oder die Diskussion des „Japanischen“ im Sinne eines Nihonjinron nach eigener Aussage kaum interessieren462. Auch die Verfassungsreform sieht er eher als ein Projekt von Neoliberalen und Anhängern von Strukturreformen, die die Zwänge der Globalisierung als Argument für die Revision anführten463. Die Verfassung sei jedoch das Staatswesen (kokutai) eines Landes und ihre Schaffung bzw. Änderung erfordere ein breites fachliches Wissen – eine Voraussetzung, die er den derzeitigen Verfassungsgegnern abspricht464. Ähnlich wie Nakano hat sich auch Mitsuhashi Takaaki als Kritiker der Globalisierung im Allgemeinen und eines TPP-Beitritts im Speziellen positioniert. Er startete seine Karriere im Internet in als tendenziell nationalistisch geltenden Foren wie 2channeru (vgl. Kap. E.) und veröffentlicht mittlerweile Bücher im Monatstakt, wobei das Internet aber weiterhin ein wichtiges Instrument für ihn bleibt. Nakano et al. (2013), S. 80; Nakano (2011), S. 35, 36, 40. Nakano (2011), S. 37. 459 Ebd., S. 40, 175. 460 Ebd., S. 236 ff. 461 Vgl. Nakano/Shibayama/Se (2013), S. 25. 462 Nakano et al. (2013), S. 75 – 78. 463 Vgl. Nakano et al. (2013), S. 71 ff. 464 Ebd., S. 72 f. 457
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2channeru bezeichnet er als den besten „Think-Tank“ der Geschichte, dessen User-„Schwarmintelligenz“ er über die tendenziöse Berichterstattung der Medien stellt, die Japans (wirtschaftliche) Zukunft bloß schlechtredeten465. In einem vor dem Tôhoku-Beben erschienenen Buch von 2010 macht Mitsuhashi schon im ersten Satz klar, dass er Japan „liebt“466. Er zeichnet Japans wirtschaftliche Zukunft in rosigem Licht und verweist lieber auf die Probleme anderer Staaten wie den USA, Südkorea oder China, um an den (Wirtschafts)Nationalismus der Japaner zu appellieren. Den Japan-Kritikern schlägt er vor, doch lieber aus Japan zu verschwinden, damit diejenigen, die das Land liebten, Japan umso leichter noch besser machen könnten467. Mitsuhashis ausgeprägte Zuversicht, die an die angesprochenen Arbeiten Abes oder Asôs erinnert, wurde selbst durch das Tôhoku-Beben kaum erschüttert, wenn er in einem kurz danach erschienenen Buch davor warnt, sich von der „Beben-Krise“ täuschen zu lassen. Japan sei trotz der Katastrophe weiterhin stark, wobei er sich auch als Kritiker des TPP und der damit verbundenen Politik des damaligen Premiers Naoto Kan und dessen DPJ profiliert468. Ähnlich wie Nakano sieht Mitsuhashi eine Gefahr darin, dass Japans Reichtum durch das TPP von Ländern wie den USA abgeschöpft und japanische Arbeitsplätze von Ausländern „geraubt“ werden könnten469. Mithin bringe der TPP-Beitritt für Japan keinerlei Vorteile. Stattdessen beschwört er die Kraft der japanischen Ethnie/Nation (minzoku), der er Erstaunliches zutraut. Das regelmäßig von Naturkatastrophen heimgesuchte Land habe ein hart arbeitendes Volk hervorgebracht, dessen Charakter durch die „schönen vier Jahreszeiten“, aber auch durch die Katastrophen geprägt sei470. Auf eben diesen traditionellen „Nationalcharakter“ (minzokusei) müsse sich das Volk zurückbesinnen471. Entgegen üblicher konservativer Argumentation kann Mitsuhashis Aussage überraschen, die Japaner könnten sich des weltweit stärksten Nationalismus rühmen, worauf man nur stolz sein könne472. Mit seiner Mischung aus Nationen-Stereotypen und Durchhalteparolen versucht er, gegen einen wachsenden Einfluss von außen anzukämpfen. Anstatt sich ausländischen Standards zu beugen, glaubt er an die Kraft der japanischen Wirtschaft (vor allem der Content-Industrie) und ist überzeugt, in Bereichen wie Cool Japan eigene Standards global werden zu lassen473.
Mitsuhashi (2010), S. 41, 169 ff. Mitsuhashi (2010), S. 10. 467 Ebd., S. 60 f. 468 Mitsuhashi (2011), S. 33 ff. 469 Ebd., S. 94 f. 470 Ebd., S. 201 f. 471 Ebd., S. 190. 472 Ebd., S. 203. 473 Vgl. Mitsuhashi (2010). 465 Vgl. 466
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Sowohl Nakano als auch Mitsuhashi stehen für einen globalkritischen Standardpopulismus und Wirtschaftsnationalismus, der einerseits ein introvertiertes oder gar isoliertes Japan fordert, das sich den Prinzipien von Globalisierung und Neoliberalismus entziehen, gleichzeitig aber in dieser Weltordnung japanische Interessen maximal forcieren bzw. japanische Standards global diktieren soll, ohne sich selbst zu öffnen oder seinen internationalen Verpflichtungen gerecht werden zu müssen474. Globalisierung oder nationalistische Isolierung erscheinen als einzige Handlungsalternativen, wenn sie in Schwarz-Weiß-Rhetorik vor der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen „Invasion“ von außen warnen, der sie als Gegenmittel die Rückkehr zum „Nationalen“ verschreiben, ohne jedoch echte Lösungsansätze anzubieten. Die dabei zwangsläufig entstehenden, logischen Gräben werden notdürftig mit nationalistischen Klischees und populistischer Rhetorik zugeschüttet, was zusammen mit der Konstruktion von Feindbildern wie den USA oder China eine vermeintliche, japanische Überlegenheit und Einheit beschwören soll. Nakano und Mitsuhashi konnten jedoch nicht verhindern, dass Japan unter Abe Shinzô im März 2013 Beitrittsverhandlungen zum TPP aufnahm, über dessen grundlegende Konditionen schließlich im Oktober 2015 eine Übereinkunft erzielt wurde475. Dass die Trump-Administration Anfang 2017 den Austritt der USA aus dem Freihandelsabkommen beschloss und somit den Anreiz des japanischen Beitritts in Frage stellte, schien dem Anti-TPP-Diskurs jedoch neuen Auftrieb verleihen zu können. Mitsuhashi erkannte in einem Beitrag von 2017 vor dem Hintergrund von Brexit und Trumps Wahlsieg eine weltweite Ermüdung gegenüber dem Globalismus, wobei er Japan am Scheideweg sieht, da das Land noch anachronistisch an Globalisierung und Einwanderung festhalte, die das Potenzial hätten, Japan zu zerstören476. 4. Konservative Großmachtphantasien im Rausch von „Abenomics“ In konservativen Kreisen wurde der LDP-Sieg bei den Wahlen im Dezember 2012 und die damit angebrochene zweite Amtszeit Abe Shinzôs äußerst euphorisch aufgenommen. Ungleich stärker noch als bei seinem ersten, nur kurzen Intermezzo als Premier von 2006 bis 2007 setzte man in diesen Zirkeln diesmal große Hoffnungen in den als „Hardliner“ geltenden Politiker. In nicht wenigen Beiträgen konservativer Medien sowie hastig zusammengeschriebenen Büchern wurde der neue Premier zu Beginn seiner zweiten Amtszeit gar als eine Art „Retter Japans“ dargestellt, wobei man sich gegenseitig mit Superlativen der Unterwürfigkeit zu überbieten suchte. Das konservative Magazin Seiron titelte in einer Sonderausgabe von April 2013 der damaligen Stimmung entsprechend: „Abe Shinzô, Prüfung für den Premierminister, der das Vaterland retten soll“477. Raddatz (2012). http://www.meti.go.jp/english/speeches/20151006_01.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 476 Vgl. Mitsuhashi (2017). 477 Seiron (2013). 474 Vgl. 475
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Zu dieser Euphorie478, die auch auf Teile der Bevölkerung überging, trug insbesondere der anfängliche Erfolg von Abes Wirtschaftpolitik („Abenomics“) bei479. Hinzu kam sein Engagement bei dem Prestigeprojekt der Olympia-Bewerbung von Tôkyô für 2020, mit dem der Premier ein „nationales Ziel“ massenpsychologisch beschwören konnte. Beide Bereiche nutzte Abe, um sich das Image des „Premiers der Tat“ zu verschaffen, und gleichzeitig boten die vergleichsweise ideologiearmen Themen Wirtschaft und Sport die Möglichkeit, breite Unterstützung für seine Regierung zu gewinnen, um im Fahrwasser von Abenomics- und Olympia-Trunkenheit seine eigentümliche, neoliberal-nationalistische Agenda zu forcieren. Abenomics befeuerte anfänglich auch die kühnsten Erwartungen konservativer Intellektueller, die nun endlich die Zeit eines neuen „starken Japan“ kommen sahen. Als ein Vertreter dieser Richtung kann der Anglist Watanabe Shôichi angeführt werden, der Abes Rhetorik völlig unkritisch übernahm und auch im Titel seines Buchs von 2013 in Anlehnung an den Wahlkampfslogan Abes „Gewinne Japan zurück!“ (Torimodose, Nihon o) zum Ausdruck brachte. In dramatisierender Ausdrucksweise sprach er darin von einem dunklen Schatten, der in Gestalt der DPJ-Herrschaft auf Japan gelastet habe und dem „Licht der Hoffnung“ (Abe Shinzô) gewichen sei. Japan hätte sich unter der DPJ quasi unter ausländischer Herrschaft befunden, aber diese „vaterlandsverräterische“ Politik sei nun zu Ende480 und auch die vernachlässigten Beziehungen zu den USA würden nun wieder gekittet481. Der Messias-Gestalt Abe und seiner LDP obliegt die Rolle, als demütige Retter Japans aufzutreten, die als einzige die „alternativlose“ Lösung kennten, wie Japans Krise zu beenden sei. Auch die konservative Journalistin Sakurai Yoshiko reiht sich in eine kritiklose Unterstützerschar Abes ein, wenn sie neben der Regenerierung (saisei) Japans eine Führungsrolle des Landes in Asien entwirft und in bekannter Schwarz-Weiß-Rhetorik von der „Alternativlosigkeit“ der Verfassungsreform spricht482. Das „Zurückgewinnen“ Japans (Nihon o torimodosu oder Nihon saisei) ist hierbei das konservative Stichwort, das signalisiert, dass Japan aus der Krise, die es fast „zerstört“ habe, zurück zu altem Glanz geführt werden soll. Katô Norihiro weist hierzu in einem NY Times-Artikel auf die Parallelen bei dieser Parole der japanischen Konservativen und der „Tea-Party“-Bewegung in den USA hin, die mit dem Slogan „Take Back America“ auf Stimmenfang geht. So 478
Von diesem Abe-Hype blieben auch teilweise westliche Beobachter nicht verschont. Der Japanologe Kevin Doak, der mit Abe seit jeher durch eine merkwürdige Beziehung des gegenseitigen, wohlwollenden Zitierens verbunden ist (vgl. Doak (2007) und Abe (2006)), nimmt den aktuellen Premier gegen Vorwürfe westlicher Medien in Schutz, die Abe als gefährlichen Nationalisten bezeichneten. Abe würde stattdessen den japanischen Nationalismus „demokratisieren“. Vgl. Doak (2013). 479 Abe selbst sah Japan ob seiner wirtschaftlichen Erholung gar als Motor eines weltweiten ökonomischen Aufschwungs. Abe/ Hyakuta (2013), S. 188. 480 Watanabe (2013), S. 1. 481 Ebd., S. 2. 482 Sakurai (2013), S. 131, 155.
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sieht Katô in der Nippon Kaigi, die den ideologischen und personellen Kern der Abe-Regierung bildet, das japanische Pendant zur Tea Party und präzisiert das eigentliche Motiv mit „Take Back Japan from America“483. Andere Kritiker Abes, wie der Kommentator und ehemalige METI-Beamte Koga Shigeaki (*1955) sehen in dem Motto nicht weniger, als die Absicht Japan wirtschaftlich und militärisch auf die Stufe westlicher Mächte zu heben, kurzum also die Rückkehr zum Vorkriegsjapan484. Einige Konservative versuchen auch die gängigen Kritikpunkte an Abe auszuräumen. Der Kritiker Tsuji Takayuki (*1951) begegnet dem Vorwurf, Abe sei ein rechter Hardliner, der Japan wieder in eine überwunden geglaubte Vergangenheit zurückführen wolle, mit der unbeholfenen Lesart, dass der japanische Faschismus eigentlich nicht rechts, sondern links gewesen sei, da es sich bei ihm um ein progressives Projekt gehandelt habe485. Auch die Nachkriegsverfassung sei eine sozialistisch durchtränkte Strategie der USA zur Schwächung Japans486. Wie Abe betont er die Bedeutung von Familie und Erziehung, denn Erziehung, die den Stolz auf das eigene Land fördere, sei außer in Japan überall common sense487. Für Tsuji kommt folglich nur Abe in Frage, Japan wieder zu einem starken Land zu machen. Während die DPJ versucht habe, das Land zu zerstören, könne es nur der Konservatismus bewahren488. Mit der Bemerkung, dass der japanische „Volkscharakter“ sich vor Wettbewerb scheue, diesen aber heutzutage brauche, zeigt Tsuji auch seine Nähe zum Neoliberalismus489. Zur Bewahrung von Traditionen und Nationalcharakter Japans, seien Wirtschaftsreformen nötig, für die sich das Land öffnen und dem Wettbewerb mit dem Ausland stellen müsse. Entsprechend befürwortet er auch den japanischen TPP-Beitritt490. Daraus wird erneut deutlich, dass man in Japan heute weniger progressiven oder alternativen Kräften, sondern ausgerechnet der im Nachkriegsjapan fast durchgängig regierenden, konservativen LDP am ehesten „Reformen“ und „Wandel“ zutraut, der meist neoliberaler Natur ist. Wenngleich mittlerweile etwas kritischer491, befeuerte auch Mitsuhashi Takaaki anfangs die Abenomics-Euphorie mit zahlreichen Beiträgen. Während er ähnlich wie Watanabe oder Tsuji der abgewählten DPJ die Absicht vorwirft, Japan „zerstören“ zu wollen, erkennt er im Gegensatz dazu in der Abenomics das Potential „die Weltgeschichte zu verändern“, denn Abe habe der von Deflation geplagten Katô (2014). Koga (2014), S. 63. 485 Tsuji (2013), S. 16 – 30, 113. 486 Ebd., S. 58 ff., 111 f. 487 Ebd., S. 130 ff. 488 Ebd., S. 152 ff. 489 Ebd., S. 178 ff. 490 Tsuji (2013), S. 119. 491 Vgl. Mitsuhashi (2017). 483
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Weltwirtschaft das richtige Rezept verschrieben492. Japans größtes Problem sei jedoch sein schwindendes Selbstvertrauen, wohingegen es jedoch gerade jetzt nötig sei, ein starkes Japan zu erschaffen493. Zu Mitsuhashis wenigen Kritikpunkten an Abenomics zählen die Strukturreformen, zu denen er TPP zählt, da diese auf eine Amerikanisierung der japanischen Wirtschaft abzielten. Von den TPP-Befürwortern in der LDP fordert Mitsuhashi, sich an die Bedeutung des Wortes „konservativ“ zu erinnern494. Auch in einem zusammen mit Tamogami Toshio herausgegebenem Buch frönt Mitsuhashi seinen Weltmachtphantasien, wobei auch Vorwürfe, Amerika habe es auf die „einzigartige“ japanische Technologie abgesehen, nicht fehlen dürfen. Denn es ist das Bild eines von Feinden umzingelten Japan zu bewahren, das als einzige Alternative „gezwungenermaßen“ nur den eigenen Großmachtstatus suchen kann495. Die Ähnlichkeit solcher Aussagen zu revisionistischen Sichtweisen des Krieges, nach der Japan durch die Bedrohung des westlichen Imperialismus gezwungen war, zur „Selbstverteidigung“ aufs asiatische Festland zu expandieren, ist frappant und bietet somit die ideologische Rückendeckung für potentielle Neuauflagen des japanischen Imperialismus. Die vorgestellten Beiträge zeigen, wie es im Zuge von Abenomics wieder verstärkt zu japanischen Großmachtphantasien gekommen ist, die wie in Kap. B. beschrieben, bereits in den späten 1980er Jahren zur Zeit der Bubble erkennbar wurden. Damals wie heute offenbaren sich dabei Anleihen bei Ethno- und klassischen Vorkriegsnationalismen. Ein Beispiel hierfür ist Fujii Satoshi (*1968), Berater des Abe-Kabinetts und Professor an der Universität Kyoto. Von Hause aus Bauingenieur, zeichnet Fujii entsprechend holzschnitthaft sein Bild der japanischen Nation als Familie im Sinne der kokutai-Ideologie und appelliert an den Zusammenhalt von „Team Japan“, um ein starkes und „widerstandsfähiges“ (resilient) Japan zu schaffen, bei dem Abenomics eine zentrale Rolle spielt. Ihm zufolge hätten sich aus der Vernachlässigung der Sichtweise, dass Japan „eine Familie“ (Nihon to iu hitotsu no kazoku) sei, wachsende soziale Differenzen ergeben496. Trotz des äußerlichen „Antinationalismus“ schlummere in den Japanern aber immer noch ein latenter Nationalismus, den er nun zu wecken versucht497. Die „Bande“ (kizuna) nach dem Tôhoku-Erdbeben oder der Weltmeistertitel der Frauennationalmannschaft 2011 hätten die Wichtigkeit von Nationalismus in Japan wieder erkennbar werden lassen498. In seiner organizistischen Sichtweise konstruiert Fujii zunächst vermeintlich „offensichtliche“ Analogien, in denen der NationalMitsuhashi (2013), S. 57. Ebd., S. 167 f. 494 Ebd., S. 192. 495 Tamogami/Mitsuhashi (2013). 496 Fujii (2013), S. 57 – 58. 497 Ebd., S. 58 f. 498 Vgl. Fujii (2013), S. 58 ff. 492 493
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staat die logische Verlängerung des Individuums darstelle. Harmlose Begriffe wie „Teamgeist“, und „Teammitglied“ werden wie selbstverständlich analog zu „Nationalismus“ und „Staat“ gesetzt, um sie im emotional-ideologisch aufgeladenen Kontext des Tôhoku-Bebens in Floskeln wie „Team Japan“ zu überführen499. Die offen nationalistische Rhetorik Fujiis, die sich am klassischen japanischen kokutai-Nationalismus orientiert, ist ein besonders gutes Beispiel, wie sich insbesondere nach Fukushima der Ton im Diskurs verschärft hat und auch lange Zeit undenkbare Floskeln und Forderungen wieder wie selbstverständlich „salonfähig“ werden. „Team Japan“ war auch einer der Slogans mit dem Inose Naoki (*1946), der im Dezember 2013 zurückgetretene Gouverneur von Tôkyô, die Stimmung und Bemühungen im Zuge der gewonnenen Olympiabewerbung der Hauptstadt für die Sommerspiele 2020 umschrieb500. Die Bewerbung wurde im Vorfeld bereits durch aufwendige Werbekampagnen begleitet und zeigte einmal mehr, wie über das vermeintlich unverfängliche Instrument Sport der Post-Fukushima-Zusammenhalt und der japanische „Soft-Nationalismus“ „von oben“ gestärkt werden sollten. Abe Shinzô sorgte dabei mit seiner Bewerbungsrede für Irritationen, als er behauptete, die Situation in Fukushima sei „unter Kontrolle“501. Tôkyôs erfolgreiche Olympia-Bewerbung wurde freilich zum Auslöser einer weiteren Euphoriewelle unter den Abe-Jüngern. Das konservative PHP-Verlagsmagazin Voice titelte in seiner Novemberausgabe 2013 entsprechend: „Japan wird mit dem Aufschwung der Olympiade strahlen“. In der gleichen Edition interpretierte PHP-Hausautor Takeda Tsuneyasu die erfolgreiche Bewerbung als Wunsch der gesamten Welt nach einer „Wiederaufbau-Olympiade“ (shinsai fukkô gorin). Takeda zufolge könne Japan mit einer erfolgreichen Austragung der Spiele nicht nur einen Beitrag für die Welt leisten, nein, auch die Japaner selbst könnten dadurch ihre Lebenskraft und ihr Selbstvertrauen zurückgewinnen502. So sei Olympia sogar als „vierter Pfeil“ der Abenomics zu bezeichnen, denn obwohl die Welt die japanische Wirtschaft nach dem Beben von 2011 eigentlich schon abgeschrieben hatte, hätte sich die ökonomische Lage rasch verbessert, während die Wirtschaft des Westens ganz ohne Erdbeben schwächelte503. Die erfolgreiche Bewerbung zeige, dass Japan „Eins“ geworden sei („All Japan“). Mit seiner Betonung auf Aspekten wie Sicherheit und Stabilität werde Japan mithin der Welt zeigen, dass es das fortschrittlichste Land überhaupt sei504. Von der Olympiade erhofft man sich in Japan freilich auch einen positiven Effekt auf die wirtschaftlichen Konsequenzen des Tôhoku-Bebens von 2011505. DaFujii (2013), S. 58 ff. Kameda (2013). 501 Lies (2013). 502 Takeda (2013b), S. 42 f. 503 Ebd., S. 44. 504 Ebd., S. 45. 505 Lies (2013). 499 Vgl.
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bei wird das Sportereignis von Kommentatoren wie Takeda zu einer Wiederaufbau-Propaganda für die Tôhoku-Region verwendet, obwohl primär die Hauptstadt von der Austragung profitiert. Während die Olympiade 1964 knapp 20 Jahre nach dem Krieg für Takeda den materiellen Wiederaufbau symbolisierte (busshitsuteki fukkô), so förderten die kommenden Spiele vor allem die spirituelle Erholung (seishinteki fukkô), die den Schlussstein der „Abkehr vom Nachkriegsregime“ bilde und den „verlorenen Stolz“ der Japaner wieder herstelle506. Bei der Abe-Hysterie fällt auf, dass es besonders der US-freundliche Teil der Konservativen ist, zu dem Vertreter wie Watanabe oder Sakurai gehören, der Abe zujubelt. Das US-kritische Lager reagierte, abgesehen von einigen Ausnahmen wie Mitsuhashi, insgesamt verhaltener. Kobayashi Yoshinori etwa kritisiert, dass Abe vor seiner Wahl einen „unnützen“ (muda) Nationalismus angefacht habe und in Bezug auf die Senkaku-Inseln selbst einen Krieg mit China nicht ausschloss, nach seiner Wahl jedoch plötzlich die japanisch-chinesischen Beziehungen als wichtigste bilateralen Beziehungen bezeichnet habe507. Auch in Bezug auf das TPP-Abkommen, bei dem der Premier gegen die anfängliche Ablehnung seiner LDP Beitrittsverhandlungen aufnahm, wirft Kobayashi dem Premierminister die Täuschung des Volkes vor508. Der Mangaka kritisiert die derzeitige Neigung Japans „mit Nationalismus zu spielen“ und sieht das Land nicht nur einer wirtschaftlichen und kulturellen „Invasion“ namens Globalisierung ausgesetzt, sondern sogar am „Vorabend eines Kriegsausbruchs“ (kaisen zen’ya)509. Dass die primär auf laxer Geldpolitik beruhende Abenomics jedoch keine nachhaltige Strategie sein kann, wurde spätestens 2014 deutlich, als Japan erneut in die Rezession rutschte und Abe Neuwahlen ausrief, um die Unterstützung für seine Politik zu testen510. Dass er diese Wahl zwar erneut gewann, dabei aber mit der geringsten Wahlbeteiligung seit Ende des Zweiten Weltkriegs seinen eigenen Negativrekord von 2012 unterbot, zeigt das Dilemma eines angeblich „nach rechts“ driftenden Japans, dessen Rechtsruck aber potentiell noch nicht einmal von der Hälfte der Bevölkerung aktiv unterstützt wird511.
Takeda (2013b), S. 51. Kobayashi (2013), S. 6 f. 508 Kobayashi (2013), S. 135 ff. 509 Kobayashi (2013). 510 Laut einer Umfrage der Asahi Shinbun vom Juli 2015 gaben 74 Prozent an, nicht das Gefühl zu haben, dass die Wirtschaftsmaßnahmen Abes zu einer Erholung der Konjunktur geführt hätten. Asahi Shinbun (2015a). 511 Vgl. hierzu auch Nakano (2015), S. 149 f. Bei den Unterhauswahlen 2012 lag die Wahlbeteiligung bei 59,32 %, 2014 wurde dieser Rekordwert mit 52,66 % nochmals unterboten. http://www.soumu.go.jp/senkyo/senkyo_s/news/sonota/nendaibetu/ (Zugriff: 20. 06. 2016). 506 Vgl.
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VII. Conclusio: Das Unbehagen an der „amerikanischen“ Moderne Die in diesem Kapitel untersuchten Diskursbeiträge haben die vielfältigen Zugänge zum Thema Nationalismus und Patriotismus unter Intellektuellen und Wissenschaftlern deutlich gemacht. Es wurde einmal mehr klar, dass Nationalismus ein dynamisches Phänomen ist, dessen Identitätsbilder ständigem Wandel unterliegen. Dabei werden diese Bilder in Reaktion auf bzw. in Interaktion mit den an den „Nationalstaat“ gestellten Herausforderungen und Erfordernissen entsprechend verändert und angepasst. Gerade auch einschneidende Ereignisse wie das Tôhoku-Beben 2011 haben dies nachdrücklich bestätigt, wobei sich nach Fukushima fundamentale Fragen zu Japans Neupositionierung gestellt haben, deren Diskussion andauert. Da Nationalismus immer auch in Abgrenzung zu einer „out-group“ wirkt, bedarf neben der Selbstwahrnehmung die Untersuchung der Fremdwahrnehmung einer ganz besonderen Beachtung. Gerade für den hier untersuchten Zeitraum ab 1998, der mit einem stärker werdenden Einfluss von Globalisierungsprozessen einherging, wurde deutlich, welch große bzw. stetig wachsende Rolle das Ausland, insbesondere die beiden Pole Asien und USA, bei der Beschäftigung mit „Japan“ spielt. Speziell die Rechte steht vor der Herausforderung eines erstarkenden Asien, das seit den 1990er Jahren deren Diskurse als bedeutendes Feindbild (v.a. China und Südkorea) beeinflusst und erstmals als Konkurrenz zu Japan erscheint512. Im Zuge der Globalisierung können auch Japans ehemalige Kolonien Südkorea und China mehr Einfluss auf die Interpretation von Geschichtsfragen nehmen, wobei der in diesen Ländern zu beobachtende antijapanische Nationalismus wiederum japanischen Rechten als Bestätigung für ihre Haltung dient513. Dies hat in Japan Revisionisten auf den Plan gerufen, die versuchen, derartige Ambitionen abzuwehren, indem sie das Recht auf ein „eigenes“, japanisches Geschichtsbild konstruieren. Die vorgestellten Diskurse zeigen, dass die Erörterung der Rolle von Staat und Nation, Patriotismus und Nationalismus immer auch untrennbar mit Japans Positionierung zwischen Asien und dem Westen, das heißt insbesondere den USA, verbunden ist. Diese Positionierung ist laut Iwabuchi Kôichi im Sinne eines Dreiklangs („triad“) mit den Komponenten „Japan“, „Asien“ und dem „Westen“ zu verstehen, die sich zu verschiedenen Zeiten jeweils unterschiedlich stark bemerkbar machten und so den japanischen Identitätsdiskurs seit der Meiji-Restauration (1868) und der erzwungenen Öffnung durch westliche Großmächte bestimmt haben514. Um selbst einer Kolonisierung durch den westlichen Imperialismus zu entkommen, versuchte Japan, auf Augenhöhe mit den westlichen Mächten aufzusteigen, und strebte zu Kimura (2007), S. 216 f. Vgl. auch ebd. 514 Iwabuchi (2002a), S. 6. 512 Vgl. 513
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diesem Zweck eine zügige Modernisierung nach westlichem Muster an, bei der gleichzeitig „nationale Traditionen“ betont wurden515. Mit dem Fortgang des japanischen Modernisierungsprojekts, das alsbald eigene imperialistische Zielsetzungen verfolgte, begann das Land sich immer weiter aus dem asiatischen Kontext abzutrennen, und westliche Standards wurden ultimative Ziele der eigenen Entwicklung. Wie Iwabuchi zu diesem Aspekt weiter ausführt, begann Japan, seine Identität aus der Opposition eines traditionellen, aber „unterentwickelten“ Asien einerseits und dem „entwickelten“ Westen andererseits zu beziehen516. Die Folge war ein latenter Inferioritätskomplex gegenüber dem Westen, und ein Überlegenheitsgefühl gegenüber Asien, das zu dem Paradoxon führte, dass Japan und Asien stellenweise selbst geographisch voneinander getrennt gesehen werden, ohne diesen Widerspruch anzuzweifeln517. Zugleich beförderten solche Komplexe Selbstexotisierungstendenzen in Form des Nihonjinron, mit denen versucht wurde, sich vom Westen kulturell und ideologisch zu emanzipieren. Dieser Identitätsdreiklang übt bis heute erheblichen Einfluss auf Japans Kalibrierung zwischen dem Westen und Asien aus. Da Globalisierung oftmals vereinfachend als „Amerikanisierung“ aufgefasst wird, erscheint die Rolle der USA in den vorliegenden Diskursen besonders markant, und mit dem Vormarsch des Neoliberalismus gerät die Globalisierung zu einer die ideologische Links-Rechts-Opposition nivellierenden Kraft. Die in Kapitel C. untersuchte, politische Ebene repräsentiert dabei eher Positionen des neoliberal-konservativen Politik-Establishment, das mehrheitlich immer noch (vordergründig) USA-freundlich eingestellt ist und wie jüngst unter Abe sogar versucht, amerikanische Machtpolitik zu kopieren. Im Kontrast dazu zeigt die Betrachtung konservativer Positionen auf der in diesem Kapitel untersuchten Ebene eine tendenziell antiamerikanische Haltung. Der revisionistische Intellektuellendiskurs war bereits oft Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen, wobei der auffällige Antiamerikanismus, der die meisten dieser „Intellektuellen“ verbindet, eher nur am Rande thematisiert wurde518vielleicht auch weil ein Teil der Revisionismuskritiker ihren „Gegnern“ in diesem Punkt äußerst nahesteht. Während sich konservative Intellektuelle und Politiker also bei ihrer reaktionären „Rückkehr“ zum Japanischen, das Kernthema Verfassungsreform inklusive, weitgehend einig sind, geht dies bei den Intellektuellen stärker mit einer Emanzipation von den USA einher, während die politische Ebene eine enge Beziehung zu den USA sucht. Auch wenn ein derartiger Antiamerikanismus natürlich nicht neu ist, so hat er sich durch den Einflussgewinn revisionistischer Kreise seit Mitte der 1990er Jahre merklich verstärkt, wobei seit der zweiten Amtszeit Abes eine Renaissance pro Oguma (2000), S. 239. Iwabuchi (2002a), S. 8. 517 Iwabuchi (2002a), S. 7. 518 s. hier zum Thema japanischer Antiamerikanismus auch die Beiträge von Harootunian (2004) und Watanabe (2008). 515 516
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amerikanischer Konservativer beobachtet werden kann, was an Debatten wie TPP, Atomkraft oder Abenomics erkennbar wird. Doch auch in Teilen der proamerikanischen Konservativen erscheint die Unterstützung der USA vielfach eher aus der pragmatischen Einsicht geboren, dass Japan ohne die Allianz mit den Vereinigten Staaten sicherheitspolitisch selbst heute kaum überlebensfähig wäre und das wiederaufflammende japanische Großmachtdenken durch aufstrebende Regionalmächte wie China ein allzu schnelles Ende nehmen könnte. In ihrem Antiamerikanismus offenbaren das konservative Anti-Establishment, das (an Bedeutung verlierende) linksliberale Establishment (tendenziell in Medien, Universitäten etc.) sowie das linke Anti-Establishment (z. B. die Kommunistische Partei Japans) bestimmte Gemeinsamkeiten. Links und rechts sind sich weitestgehend einig in der Rolle der USA als „Besatzer“ und „Hegemon“, wahlweise auch als „Terrorstaat“, der Japan nicht nur zeitweise militärisch besetzt hatte, sondern (besonders in der Vorstellung der Konservativen) ideologisch immer noch besetzt hält. Als Beispiel steht für die Rechte speziell die japanische Nachkriegsverfassung und das an ihr festhaltende, linke Establishment im Bildungssystem und in den Medien, das als „antijapanisch“ (vgl. auch Kap. E.) gebrandmarkt wird. Auffällig ist daher sowohl im rechten als auch im linken Lager die Tendenz, die USA als Projektionsfläche alles Schlechten zu nutzen, die zumeist monolithisch, stereotypisch und vage skizziert wird. Alternativ stehen die USA bei Konservativen oft als pars pro toto für „den Westen“ und dessen Werte. „Amerikanische Werte“ wie Menschenrechte, Demokratie, und Freiheit, die man wahlweise auch als „linke Werte“ dem progressiven Nachkriegsmainstream zuschreibt, werden aus diesem Grund von Teilen des konservativen Anti-Establishments abgelehnt oder zumindest kritisch betrachtet. Das proamerikanische Lager der Konservativen in Politik und teilweise auch im Intellektuellen-Diskurs hält jedoch einerseits formal an diesen Werten fest, wobei es in einen oft widersprüchlichen Drahtseilakt gerät und sich mit der Propagierung von „japanischen“ Werten und Traditionen sowie der Verfassungsreform („Abkehr vom Nachkriegsregime“) auf der Linie der antiamerikanischen Konservativen befindet. Auch der antiamerikanische Teil der Linken (pro „amerikanische“ Nachkriegsdemokratie, aber USA-kritisch) ist – ähnlich wie das konservative, proamerikanische Establishment (contra „amerikanische“ Nachkriegsdemokratie, aber Proamerikanismus) – in solchen ideologischen Widersprüchen gefangen. Das durch die USA zugefügte Trauma der Kriegsniederlage und die anschließende „ideologische Besetzung“ bilden den Rahmen der konservativen Befreiungs-Narration, die Japan zu alter Stärke zurückführen soll und nach ersten Anfängen in den 1980er Jahren seit Mitte der 1990er an Bedeutung gewonnen hat, wobei sie mittlerweile in Politik, Teilen der Medien und der Intellektuellenlandschaft zum common sense geworden ist. Die nach Japans Niederlage von außen „oktroyierten“ westlichen („amerikanischen“) Werte gelten bei Radikalkonservativen als „antijapanisch“ und „unnatürlich“, gar als diametraler Gegenentwurf, der mit den „traditionellen“ Werten Japans unvereinbar sei. Wenn der „amerikanische“
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Einfluss gebrochen werde, so das reaktionäre Kalkül, könne Japan den Schandfleck seiner Kriegsschuld auslöschen, sich von den als „unjapanisch“ empfundenen, westlichen Werten befreien und zu seinen „Traditionen“, welche die eigentliche Quelle für den Stolz auf Japan seien, zurückkehren. Es sind mithin die „westlichen“ Werte der Moderne, die Japan zur fortwährenden Selbstreflektion und Reue zwingen, die gemäß der „originär japanischen“ (Geschichts)Sicht nicht notwendig sei. Hier kommt dem Revisionismus eine zentrale Rolle zu, der im konservativen Werkzeugkasten auf das Purifizieren japanischer Geschichte abzielt und im Zuge der Dekonstruktion des Nachkriegssystems als vermeintlich „antijapanisch“ und „masochistisch“, die „wahrgewordenen“ Utopien als neue herrschende Diskurse zu installieren versucht, denn sie sollen den ungetrübten Stolz auf eine vermeintlich tadellose „japanische Nation“ freigeben. Diese Kritik an einer „amerikanischen“ Moderne spiegelt einen generellen Trend der Modernekritik im Kultur- und Gesellschaftsdiskurs des gegenwärtigen Japans wider519. Diskursiv werden der Westen bzw. die USA und Japan als Gegenpole konstruiert, wobei gern auch die Fremdsicht des Westens verwendet wird, um das Japanische zu überhöhen und das Westliche als dazu vergleichsweise „minderwertig“ zu „entzaubern“520. Obwohl die Moderne selbst erst „japanische Identität“ ermöglicht hat, herrscht in konservativen Diskursen die Auffassung einer authentischen japanischen Identität vor, die als Gegensatz zur Moderne begriffen wird521. Die „Moderne“ gilt dabei als primär „westlich“ und daher vermeintlich „unjapanisch“. Ihre Überwindung ist in der Konsequenz die (Wieder)herstellung eines „ursprünglichen“ oder „authentischen“ Japans522. Die (japanische) Moderne holt sich gewissermaßen selbst ein. In Bezug auf den Pol Asien bahnt sich sowohl links wie rechts (zumindest auf politischer Ebene) eine Annäherung bzw. stärkere Auseinandersetzung an. Dies kann als Kontinuität der ab den 1990er Jahren laufenden „Rückkehr nach Asien“ gedeutet werden. Denn auch aus der Ablehnungshaltung gegenüber Asien in großen Teilen des radikalkonservativen Anti-Establishments lässt sich im Umkehrschluss ein verstärktes Interesse an Asien ableiten523. Im Falle der revisionistischen Kreise wie z. B. der Tsukuru-kai und ihren Vordenkern wie Nishibe Susumu oder Kobayashi Yoshinori zeigt sich der Wille, „asiatische Ansprüche“ auf die Interpretation „japanischer Geschichte“ abzuwehren. Auf dieser Basis strebt man im anGebhardt (2001), S. 60. Vgl. auch Gebhardt (2001), S. 61. 521 Vgl. McVeigh (2004), S. 57 f. 522 Vgl. McVeigh (2004), S. 57. Vgl. zu diesem Punkt auch Azuma (2001), S. 28 f. Azuma schreibt über den japanischen Postmoderne-Diskurs der 1980er, dass dort die Auffassung existierte, nach der Japan aufgrund seiner unvollständigen Modernisierung im Gegenteil zu einer besonders schnellen Anpassung an die Postmoderne in der Lage sei. Während Moderne für den Westen stehe, sei Postmoderne diesem Diskurs zufolge mit „Japan“ gleichzusetzen. 523 Raddatz (2008), S. 47. 519
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tiamerikanischen Teil der Konservativen eine autonome bis isolationistische Rolle an, die sich von den USA und Asien emanzipiert. In linksliberalen Kreisen, etwa bei Intellektuellen wie Kang Sang-Jung, ist eine stärkere Loslösung von den USA ebenfalls ein wichtiges Ziel, was in einem konträren Ansatz allerdings durch eine Aussöhnung mit und Annäherung an Asien ergänzt werden soll. Japans Kalibrierung zwischen Asien und Amerika ist freilich nicht auf Geschichtsfragen beschränkt, sondern wurde aktuell auch wirtschaftspolitisch mit der Frage thematisiert, ob man dem Freihandelsabkommen TPP beitreten solle, bei dem die Protektionisten befürchten, dass z. B. die stark subventionierte und geschützte japanische Landwirtschaft durch die Liberalisierung zusammenbrechen könnte524. Dabei wurde der TPP-Diskurs von seinen Gegnern vor dem Hintergrund von Fukushima auf die Formeln TPP-Nichtbeitritt =„Wiederaufbau“ und TPP-Beitritt=“Plünderung Japans durch das Ausland“ reduziert. Wie an solchen Debatten erkennbar geworden ist, stellt Fukushima eine starke Zäsur dar, welche die fundamentale Frage nach Japans Rolle in der Weltgemeinschaft erneut aufgeworfen hat. Zusammen mit der Euphorie im Zuge von Abenomics, die wieder japanische Großmachtphantasien beflügelt, zeigte sich nach Fukushima also auch wieder ein wirtschaftlich codierter Nationalismus. Der „Wiederaufbau“ der Erbebenregion ist hier selbst zum Ziel nationalistischer Instrumentalisierung geworden, die aus der banalen Tatsache, dass Menschen in Krisen zusammenhalten sollten, Formen umfassender nationalistischer Propaganda entwickelt hat, die den Alltag bis heute ideologisch durchdringen. Auch der „Abenomics-“ und der „Olympia-Hype“ summieren sich zu einem Verharmlosungstrend des Nationalen, in dem Bereiche wie Wirtschaft und Sport die „Hurra“-Stimmung in der Bevölkerung anfachen sollen. Der durch das Beben allgegenwärtige Aspekt des Wiederaufbaus, eigentlich nur regional begrenzt, wird dabei zum Symbol für die japanische Nation insgesamt, die aus den Trümmern aufersteht und von ihrer Vergangenheit revisionistisch gesäubert einen Neuanfang in (altem) Glanz und Stolz vollführen soll. Die Beantwortung der Frage, wie diese neue Nation letztlich aussehen soll, steht noch aus.
524 Nakano Takeshi sieht gar eine starke Verbindung von Landwirtschaft und nationaler Identität. So sei nicht umsonst der japanische Reis zu einem nationalen Symbol geworden. Nakano (2011), S. 164.
E. Nationalismus „von unten“ Teil 1– Nationalismus zwischen Subkultur und Protestform I. Der Nationalismusboom in Sport, Popkultur und Internet 1. Die junge Generation im Fokus von Medien und Wissenschaft In diesem Kapitel wird der „Nationalismus von unten“ einer näheren Betrachtung unterzogen. In dessen Zusammenhang geriet im Untersuchungszeitraum neben Vorwürfen eines generellen Rechtsrucks der japanischen Gesellschaft insbesondere der Nationalismus der Jugend bzw. junger Erwachsener in den kritischen Fokus. Die Diskussion um den Rechtsruck der jüngeren Generation (wakamono no ukeika) wurde zu einer der Kerndebatten zum Thema Nationalismus und Patriotismus ab der 2000er Dekade1. Sie ist untrennbar verknüpft mit anderen Diskussionen, die sich um die Themen Nationalismus in Popkultur und Internet sowie die Verbindung von Armut und Nationalismus drehen. Dabei steht diese Debatte zunächst im deutlichen Widerspruch zum oben untersuchten, konservativen Diskurs unter Politikern und Intellektuellen, die einen mangelnden Patriotismus der Jugend beklagen und dieses Defizit etwa durch patriotische Erziehung zu beheben versuchen. Denn wie der Politologe Sasada anmerkt, galt die jüngere Generation nach dem Krieg lange eher als pazifistisch und tendenziell links2. Die Psychiaterin und Kommentatorin Kayama Rika löste mit ihrem Buch „Puchi nashonarizumu shôkôgun“ (Das Syndrom des kleinen Nationalismus) im Jahr 2002 die Debatte über den Jugendnationalismus aus. Kayama stellt darin einen Rechtsruck der Jugend fest und warnt vor einem neuen, potentiell gefährlichen Nationalismus. Sie äußert ihre Bedenken über die neue Japanliebe der Jugend, die sich z. B. in einem sorglosen Umgang mit nationalen Symbolen wie der Fahne (hi no maru) oder der Hymne (kimi ga yo) zeige, ohne dass dabei deren (nationalistische) Geschichte näher hinterfragt werde3. So beschreibt sie Jugendliche, die während der Fußballweltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea euphorisch die japanische Fahne schwenkten, die Hymne sangen oder wie im Trancezustand „Japan, Japan!“ oder „ich liebe Japan“ (Nihon, daisuki!) skandierten4. Angesprochen auf die Gründe ihres Verhaltens, verteidigten sie sich mit Antworten wie „weil ich 1 Für eine Analyse der Debatte um den Rechtsruck der jungen Generation siehe insbesondere die Beiträge von Suzuki (2005a; 2006; 2007a); Yoshino (2007); Takahara (2006; 2011); Raddatz (2008). 2 Sasada (2006). 3 Kayama (2002), S. 27. 4 Kayama (2002), S. 16 ff.
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in Japan geboren wurde“, „das hat nichts mit rechts oder links zu tun“ oder auch „die Fahne ist das Symbol des Teams“5. Kayama verortet diese und vergleichbare Erscheinungen – wie einen um die gleiche Zeit von ihr beobachteten Boom der japanischen Sprache und deren „Schönheit“ – im Kontext einer „kranken“ japanischen Gesellschaft, die diverse psychologische Auffälligkeiten aufweise6. Die Psychiaterin erneuerte ihre Thesen in einem Buch von 2012, indem sie der Jugend vorwarf, einerseits asiatische Popkultur zu konsumieren, andererseits immer xenophober zu werden7. Kayamas Beobachtungen wurden in der Folge auch von den Medien zustimmend aufgegriffen. Ein im Jahr 2004 in dem Magazin AERA erschienener Artikel nahm sich der Thematik unter dem Titel „Der ‚harte‘ Nationalismus der Twens“ an8. In dem oben zitierten Artikel aus der Nikkei Business von 2007 wurde sogar eine Verbindung zwischen dem Erfolg von „Cool Japan“ im Ausland und wachsendem Patriotismus der japanischen Jugend hergestellt9. Auch Sasada stellt einen Rechtsruck der jungen Generation fest, der sich in einem Wandel vom Pazifismus zum Nationalismus ausdrückte10. Als Gründe führt er den wachsenden Anti-Japonismus der Nachbarn Südkorea und China, die zunehmend konservativen Intellektuellen und Medien, Japans Erfolge bei großen Sportereignissen, sowie nationalistische Mangas an11. Darüber hinaus werden als Beispiele für den wachsenden Nationalismus bevorzugt auch die Rechtstrends im Internet oder die sich verstärkende Kritik an der Linken genannt12. Kayamas Thesen wurden in den folgenden Jahren heftig diskutiert, trafen insgesamt aber eher auf Widerstand13. Der Soziologe Kitada Akihiro warnt in diesem Zusammenhang vor überstürzten und ideologischen Urteilen, ohne weitere 5
Ebd., S. 29, 35. Kayama (2002), S. 30 – 36, 64 – 79. 7 In ihrem Buch „Wakamono no honne“ (Das wahre Gesicht der Jugend) wirft sie der jungen Generation vor, zwar koreanische Popkultur zu mögen, andererseits aber den Kern einer Bewegung zu bilden, die vermeintliche „Sonderrechte“ (tokken) von in Japan lebenden Koreanern kritisiere und im Internet nationalistische Politiker unterstütze, die eine japanische Invasion auf dem asiatischen Festland bestreiten. Laut Kayama nimmt die Zahl xenophober Jugendlicher laufend zu, die Asiens Kultur liebten, die Länder an sich aber hassten. Kayama (2012), S. 189. 8 AERA (2004). 9 Harada (2007). 10 Diese Äußerung ist insofern nicht ganz unproblematisch, als der japanische Nachkriegspazifismus wie erläutert selbst als eine Form von Nationalismus gesehen werden kann. Vgl. Takekawa (2007); Oguma (2002a). 11 Sasada (2006), S. 111 ff. 12 Vgl. Suzuki (2005a). 13 Jahre später äußerte sich Kayama über die heftige Kritik, mit der sie sich nach der Veröffentlichung ihres Buches konfrontiert sah. So sei sie u.a. als „Landesverräterin“, „antijapanische Denkerin“ beschimpft und ihr nahegelegt worden, Japan zu verlassen, wenn 6
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Faktoren wie etwa die ironisch-zynischen Elemente des Nationalismus im Internet in die Betrachtung einzubeziehen14. Gleichzeitig schließt er jedoch mögliche Gefahren dieses „kleinen Nationalismus“ (puchinasho) nicht komplett aus, da er weniger auf Ideologie, sondern eher auf einer emotionalen „grass roots“-Einstellung basiere. Alles in allem erkennt Kitada aber keine unmittelbare Gefahr in dem Phänomen15. Die Kritik des Soziologen Takahara Motoaki konzentriert sich auf Kayamas Neigung, die Probleme zu „psychologisieren“16, während der Kulturkommentator und Mangaka Ôtsuka Eiji von einer Modeerscheinung spricht und einen ideologischen Charakter bestreitet17. Der Politologe Asaba Michiaki stellt die Frage, ob Kayamas Beispiele, wie fahnenschwenkende Jugendliche, der Japanisch-Boom oder die sich polarisierende Gesellschaft, nicht eher Hinweise auf eine „Verwitterung“ des japanischen Nationalismus seien18. Auch anhand der Untersuchungsergebnisse von Oguma und Ueno über die Tsukuru-kai19 könne er eigentlich nur erkennen, dass insgesamt das Interesse der Menschen an Gesellschaftsproblemen steige20. Ist also alles bloß ein Missverständnis? Der Soziologe Suzuki Kensuke, der im Zenit der Debatte zwischen 2005 und 2007 zum gefragten Kommentator und Interviewpartner für die Thematik des Jugendnationalismus aufstieg, teilt bis zu einem gewissen Punkt Kayamas Beobachtungen, sieht aber in dem Phänomen keine Besonderheiten bzw. Gefahren eines „richtigen“ Nationalismus21. Suzuki ist es auch zu verdanken, dass die Diskussion etwas objektivere Züge annahm, denn er gehört zu den wenigen, die auch empirische Befunde beiziehen. So stützt er sich auf Umfragen, die wenngleich sie eine starke Identifikation mit Japan zeigen, dennoch keine nennenswerten Veränderungen gegenüber Studien aus früheren Jahren erkennen lassen 22. Die Zahl jüngerer Japaner, die Japan „liebten“ oder froh seien, dort geboren worden zu sein, hätte laut Suzuki wohl zugenommen, dies sei aber nicht als Nationalismus oder Patriotismus, sondern vielmehr als Heimatliebe (aikyôshin) zu verstehen 23. Die in manchen Studien erkennbar werdende Ablehnung ursprünglich linker Positionen durch die Jugend sollte auch laut Suzuki nicht überstürzt als es ihr dort nicht gefalle. Daran habe sie gesehen, dass das Thema dasjenige sei, das derzeit in Japan wohl die heftigsten Reaktionen hervorrufe. Vgl. Amamiya/Kayama (2008), S. 75. 14 Kitada (2005), S. 22. 15 Kitada (2005), S. 243. 16 Takahara (2006), S. 11. 17 Ôtsuka (2003), S. 189. 18 Asaba (2004), S. 286 f. 19 Oguma/Ueno (2003). 20 Asaba (2004), S. 287. 21 Suzuki (2006). 22 Suzuki (2005a), S. 156. 23 Suzuki (2006).
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„Rechtsruck“ interpretiert werden 24. Die Probleme im Diskurs ergäben sich aus der Agitation der Medien sowie generellen Definitionsproblemen25. Letzteres hebt auch der Anthropologe und Nationalismusexperte Yoshino Kôsaku hervor, der zudem das Fehlen empirisch fundierter Beiträge zur Thematik moniert26. Einige Artikel in den Printmedien wiesen im Kontext der Fußball-WM 2006 in Deutschland sogar auf eine schwächer werdende, patriotische Stimmung (aikokushin mûdo) im Vergleich zur WM 2002 hin 27. Die Debatte verlor um das Jahr 2008 zwar zunächst an Intensität, doch setzte sich trotz aller Kritik an Kayama die Vorstellung eines „kleinen Nationalismus“ als latente Jugenderscheinung durch, die im Wesentlichen bis heute weiterbesteht. Dabei scheint es allerdings so, als habe das Phänomen an Schrecken eingebüßt und könne als gegeben hingenommen werden. Auf Basis von Daten des Kabinettsbüros und von NHK arbeitet der Sozialwissenschaftler und Marktanalyst Miura Atsushi (*1958) in seinem Buch von 2010 ebenfalls einen wachsenden Patriotismus der jüngeren Generationen heraus, deren Erstarken er insbesondere unter Männern in den 20ern und Frauen in den 30ern feststellt28. Er ist damit einer der Ersten, der Kayamas Beobachtungen auch empirisch zu unterstützen scheint. Um 2011 erfuhr die Thematik eine kleine Renaissance. In einem Beitrag befasst sich Takahara Motoaki mit den Herausforderungen, die die Jugendnationalismusdebatte an die Nationalismusforschung stellt. Er argumentiert, dass wenn man von der traditionellen Links-Rechts-Opposition in Japan ausgehe, der Rechtsruck der Jugend bis „zu einem bestimmten Grad“ wohl eine Tatsache sei29. Doch diese in der Nachkriegszeit entstandene, ideologische Zweiteilung, die man auch in einem geschichtlichen Kontext sehen müsse, habe ihre Funktion eingebüßt, ganz einfach, weil sich die innen- und außenpolitische Situation geändert habe30. Auch der in Japan als Nationalismusexperte geltende Soziologe Ôsawa Masachi (*1958) widmete sich 2011 speziell der jüngeren Generation. Ähnlich wie Takahara argumentiert er, dass man, wenn man von der „traditionellen“ Dichotomie rechts/ links bzw. konservativ/progressiv ausginge, die japanische Gegenwartsgesellschaft einen Rechtsruck erlebt habe31. Diese Tendenz hätte in den 1990er Jahren mit den Diskussionen um neue Geschichtsschulbücher angefangen und sich mit dem „Gender-Free“- und Linken-Bashing im Internet ab den 2000er Jahren fortgesetzt, wobei in letzterer Entwicklung die Jugend als treibende Kraft gelte. Zum Symbol
Suzuki (2005a), S. 156. Suzuki (2006). 26 Yoshino (2007). 27 Asahi Shinbun (2006); AERA (2007). 28 Miura (2010), S. 12 ff. 29 Takahara (2011), S. 159. 30 Takahara (2011), S. 160 ff. 31 Vgl. Ôsawa (2011), S. 172. 24 25
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dieses Rechtsrucks der jungen Generation sei der Erfolg von Kobayashi Yoshinoris Manga Sensô-ron („Über den Krieg“) geworden32. Beim Blick auf eine seit 1973 regelmäßig durchgeführte Studie des halbstaatlichen Fernsehsenders NHK kommt Ôsawa zu dem Schluss, dass sich wachsender Nationalismus in Japan nur teilweise empirisch feststellen lasse, insgesamt aber eher dementiert werden müsse33. Das gleiche, nicht eindeutige Bild zeige sich auch für den vermeintlichen Rechtsruck der jungen Generation, der alles in allem nicht zweifelsfrei empirisch zu belegen sei34. Mithin gebe es, wenn man Theoretikern wie Benedict Anderson oder Ernest Gellner folge, im heutigen Japan kaum mehr eine Grundlage für Nationalismus, müssten also Verzerrungen der Medien für einen gefühlten Rechtsruck verantwortlich gemacht werden?35. Ôsawa vermutet als einen Grund der widersprüchlichen Datenlage einen neuen Nationalismus, der mit dem auf traditionellem Nationalismus basierenden Fragen nach dem Stolz auf Japan in Umfragen nicht plausibel abgebildet werden kann36. Mehr noch, ablehnende Haltungen zu solchen Fragen könnten auch für die Zustimmung einer anderen Form von Nationalismus stehen37. So versucht der Soziologe mit einer sperrigen Argumentationskette, die ihn unter anderem zu der Frage veranlasst, ob Stalin „Stalinist“ war, gegen die Studienergebnisse anzuschreiben. Dabei wird der fehlende empirische Beweis für den Rechtsruck gewissermaßen zur gegenteiligen Bestätigung. So führe eine durch die multikulturelle Durchdringung der Gesellschaft begünstigte Ironie („ich tue so, als würde ich das glauben, aber ich glaube das nicht“) dazu, dass in den Studien der Nationalismus nicht zutage trete, während jedoch die eigenen Handlungen (Konsum nationalistischer Popkultur etc.) das Gegenteil verrieten38. Auch der Aspekt, dass junge Leute nicht an Götter glaubten, aber an Wunder, verleihe seiner Meinung nach seinen Beobachtungen zusätzliche Plausibilität. Man gebe sich vordergründig aufgeklärt, glaube aber dennoch an Übernatürliches, eine Haltung, die er „ironisches Versunkensein“ (aironikaru na botsunyû) nennt39. Ôsawa stellt also einerseits die Bedeutung empirischer Sozialforschung in Frage; 32 Ebd.
Ôsawa (2011), S. 174 f. Ebd., S. 175 f. 35 Ebd., S. 179. 36 Ôsawa (2011), S. 184. 37 Ôsawa (2011), S. 184. 38 Vgl. Ôsawa (2011), S. 208 – 214. 39 Ôsawa (2011). Ôsawa nimmt den Bereich Religion als Beispiel ähnlich widersprüchlicher Themen, wobei er erneut die NHK-Daten heranzieht. Hier werde – ähnlich wie beim Nationalismus – der Glaube an Götter oder Buddha erst mit zunehmendem Alter stärker. Gleichzeitig gebe es unter der Jugend seit den 2000er Jahren allerdings einen Boom des Spirituellen, des verstärkten Glaubens an Wunder, das Jenseits u.ä bei gleichzeitig nachlassendem Glauben an Götter oder Buddha. Bei Älteren sei dieser Glaube an Wunder jedoch schwächer ausgeprägt. Ôsawa (2011), S. 180 – 182. 33
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E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
aber wieso sollte man dann plötzlich andererseits empirischen Daten glauben, auf denen seine Behauptung des jugendlichen Wunderglaubens basiert, wenn Ôsawa vorher den Wert der Studien zum Nationalismus anzweifelt? Auch wenn Ôsawa durchaus einige interessante Gedanken wie das mögliche Auftauchen eines neuen Nationalismus anführt, so bleibt der starke Zweifel bestehen, ob diese Aspekte wirklich zwangsläufig so verknüpft werden können oder müssen, wie es der Soziologe vorschlägt. Woher weiß Ôsawa beispielsweise, wie die politischen Haltungen und der Altersschnitt von Zuschauern des Anime „Code Geass“ aussehen, das er als Exempel nationalistischer Popkultur anführt? Ferner werden Zusammenhänge als gegeben betrachtet und verschiedene Datenquellen in einer Weise benutzt, der zufolge die Teilnehmer der Studien, bei denen wachsender Nationalismus nicht eindeutig messbar ist, die Popkulturkonsumenten sowie die als Konsumenten verdächtigten Personen gewissermaßen identisch sein müssten40. Ôsawas vermeintlich innovative Argumentation ließe mithin auch zahllose alternative Deutungsmodelle zu. Denn könnten in der Umkehrung diese Widersprüche nicht auch bedeuten, nationalistischen Lehren offenbar keinen Glauben zu schenken, woraus sich die Illusion ergäbe, sie etwa aus einer (jugendlichen) Protesthaltung heraus „gefahrlos“ konsumieren zu können? 2. Was von der Debatte übrig bleibt – driftet die junge Generation nach rechts? Was kann das vorläufige Fazit dieser heteronomen Debatte sein? Wichtige Schlüssel in der Bewertung dieser zentralen japanischen Nationalismusdiskussion der 2000er Jahre sind: 1. eine empirische Einordnung des Phänomens41, zu der ein Blick auf vorhandene Studienergebnisse beitragen kann. Diese werden später durch Ergebnisse eigener qualitativer Interviews (vgl. Kap. F.) ergänzt. Im Weiteren sind 2. Definitionsprobleme anzuführen42. Hieraus resultieren 3. Folgerungsfehler43. Diese drei Problemkreise werden dabei durch die Mechanismen des Diskurses und den Einfluss der Medien bedingt bzw. verstärkt. Im Studienmaterial zum Thema lassen sich sowohl Beweise als auch Gegenbeweise für den Rechtsruck der jungen Generation finden. Suzuki Kensukes Einschätzung, dass sich eine neue Heimatliebe (aikyôshin) unter der Jugend breitmache, wird von einigen Umfragen gestützt. In einer viel zitierten Befragung der Asahi Shinbun von 2007 gaben 94 % an, froh darüber zu sein, dass sie in Japan geboren wurden44. Miura stützt sich unter anderem auf diese Umfrage, um den wachsenden Patriotismus der Jugend zu belegen45. Gleichzeitig aber gaben in der genannten Studie nur Vgl. hierzu auch Ôsawa (2011), S. 214. Suzuki (2005a); Raddatz (2008); Raddatz (2013a). 42 Suzuki (2006); Yoshino (2007); Raddatz (2008); Takahara (2011). 43 Vgl. Suzuki (2007a); Raddatz (2008); Raddatz (2013a). 44 Asahi Shinbun (2007). 45 Miura (2010), S. 12. 40
41 Vgl.
I. Der Nationalismusboom in Sport, Popkultur und Internet
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EHU-DKUH
Grafik 1: Studie des Kabinettsbüros von 2015: „Stärke der Japanliebe“– nach Alter46
9 % der Befragten in den 20ern, bzw. 10 % der Befragten in den 30ern an, stark patriotisch (aikokushin) zu sein. Bei den 20- bis 29-Jährigen empfanden 54 % ein gewisses Maß an Patriotismus, 32 % bzw. 5 % spürten nur schwache bzw. gar keine Gefühle47. Insgesamt kam die Studie zu dem weiterführenden Ergebnis, dass Patriotismus mit dem Alter zunimmt und dabei eine starke Identifikation mit Japan sogar mit einem starken Gefühl für seine Kriegsverantwortung korreliert. Diese Daten werden in ähnlicher Weise auch von Regierungsstudien wie der regelmäßig durchgeführten Umfrage des Kabinettsbüros48 unterstützt. Grafik 1 zeigt die Ergebnisse dieser Umfrage von 2015. Auch hier wird deutlich, dass die „Stärke des Gefühls, Japan zu lieben“ (kuni o ai suru kimochi no teido) mit dem Alter zunimmt und Personen zwischen 20 und 39 Jahren am wenigsten patriotisch sind. Unter den unter 30-Jährigen ist auch der Anteil derjenigen, die angaben, ihre Liebe zu Japan sei schwach oder eher schwach, mit insgesamt etwa 14 % am Höchsten (ein Plus von 3 Punkten gegenüber der Vorjahresumfrage). Auch die Zahl der Unentschlossenen, die bei den unter 50-Jährigen mit 44 – 49 % sehr hoch ist, wandelt sich mit steigendem Alter in eine stärker werdende Japanliebe. Ein Blick auf dieselben Daten nach Geschlechtern aufgeschlüsselt, zeigt zudem, dass männliche Befragte generell patriotischer sind als weibliche, mit einer Ausnahme, der Kohorte der 20- bis 29-Jährigen. Hier sind Frauen mit 45 % patriotischer als Männer (39 %)49. 46
http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-shakai/2 – 1.html (Zugriff: 20. 06. 2016). Asahi Shinbun (2007). 48 Die Studien des Kabinettsbüros sind online abrufbar unter: http://survey.gov-online. go.jp/index.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 49 Interessant ist zudem, dass der Patriotismus unter 30- bis 39-Jährigen Frauen wieder schwächer wird, bevor er bei den über 50-Jährigen wieder stark ansteigt. Bei den Männern hingegen ist ein konstanter Anstieg mit zunehmendem Alter erkennbar. Was die Unent47
E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
212
Gefühl der Vertrautheit zu Südkorea 70%
63%
66%
60% 50% 40% 30%
32%
20%
0%
1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014
10%
Ich weiß nicht
Ich fühle Vertrautheit/eher Vertrautheit
Ich fühle keine Vertrautheit/eher keine Vertrautheit
Gefühl der Vertrautheit zu China 90% 80%
83%
79%
70% 60% 50% 40% 30%
10% 0%
15%
15% 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014
20%
Ich weiß nicht
Ich fühle Vertrautheit/eher Vertrautheit
Ich fühle keine Vertrautheit/eher keine Vertrautheit
Grafik 2: Studie des Kabinettsbüros von 2014, Gefühl der Vertrautheit mit Südkorea und China 50
schlossenen betrifft, so ist dieser Anteil in allen Altersstufen über 30 Jahren unter den weiblichen Befragten höher als bei den Männern, http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-shakai/2 – 1.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 50 http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-gaiko/2 – 1.html (Zugriff: 20. 06. 2016).
I. Der Nationalismusboom in Sport, Popkultur und Internet
213
Zu vergleichbaren Ergebnissen kam bereits eine Studie, die im Jahr 2007 auf dem Höhepunkt der „Jugendnationalismusdebatte“ unter Studenten in Japan, Südkorea und China erhoben wurde51. Wie das japanische Sample bei der Aussage „Wir sollten unser Land immer unterstützen, egal ob es richtig oder falsch liegt“ zeigt, hat dieser Patriotismus aber auch seine Grenzen. Nur knapp 6 % stimmten der Aussage zu bzw. energisch zu, immerhin 12 % teilweise. Insgesamt 82 % zeigten sich in dieser Frage jedoch ablehnend bis stark ablehnend. Dieses Ergebnis lässt einen wie von Kayama vermuteten, latent gefährlichen Nationalismus, der „von oben“ ausgenutzt werden könnte, zunächst unwahrscheinlich erscheinen52. Die Umfrage unter den Studenten zeigte allerdings gewisse Ressentiments gegenüber Südkorea und in eindeutig größerem Maße in Bezug auf China. Bei beiden Ländern widersprach zwar eine knappe Mehrheit der Aussage „allgemein gesagt, mag ich China/Südkorea nicht“, speziell im Fall von China stimmten jedoch etwa 44 % der Aussage teilweise bis stark zu. Gleichzeitig pflichtet eine überwältigende Mehrheit von knapp 89 % der Aussage „Japan, China und Südkorea sollten ihre Beziehungen verbessern, ohne sich mit Geschichtsproblemen aufzuhalten“ teilweise bis stark bei. Die Ressentiments gegen China und Südkorea, die in dieser Umfrage erkennbar wurden, fanden sich auch wiederholt in den in Kap. F. vorgestellten qualitativen Interviews mit jungen Erwachsenen. Auch die Umfragen des Kabinettsbüros53 zeigen in Bezug auf China und Südkorea prägnante Trends (Grafik 2). Während in den 1980er Jahren die Antwort „Ich spüre Vertrautheit“ im Falle von China hohe Werte von teilweise bis zu 79 % (1980) erhielt, sank dieser Wert kontinuierlich im weiteren Verlauf der 1980er und 1990er Jahre ab. Während der 2000er Jahre stieg das Misstrauen gegenüber der aufstrebenden Großmacht gleichzeitig rapide an und erreichte in der Umfrage von 2014 mit 83 % den höchsten Wert seit Beginn dieser Studie im Jahr 1978. Im Vergleich dazu wandelte sich das bis in die 1990er vorherrschende Misstrauen gegenüber Südkorea ab 1998 ins Gegenteil und erreichte bis 2011 Höchstwerte von über 60 % für die Antwort „Ich spüre Vertrautheit“. Hier können die gemeinsam ausgetragene Fußball-WM 2002 und der Korea-Boom ab 2003 als Positiv-Faktoren gelten. Ab 2012 zeigte sich dagegen eine rapide Verschlechterung des Südkoreabildes und mit nur 32 %, die Vertrautheit zum Nachbarn spürten, wurde 2014 ein ebenfalls historischer Tiefstwert erreicht54. 51 Diese Studie wurde unter Mitwirkung des Verfassers im Rahmen eines gemeinsamen Forschungsprojekts der Universitäten Waseda in Tôkyô, Yonsei in Seoul sowie Fudan in Shanghai durchgeführt. Hierzu wurden an allen drei Universitäten 2007 jeweils 400 Studenten u.a. zu Identitätsthemen befragt (Jahrgänge 1980 – 1989). Vgl. Raddatz (2008), S. 21 ff. 52 Zum Vergleich: Bei den 400 südkoreanischen Studenten antworteten auf dieselbe Aussage knapp 21 % mit Zustimmung oder starker Zustimmung und immerhin rund 31 % stimmten noch teilweise zu. Vgl. Raddatz (2008). 53 http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-gaiko/2 – 1.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 54 Interessant ist dabei auch, dass die Vertrautheit gegenüber den USA auf einem konstant hohen Niveau bleibt (2013: 83,1 %). Gleichzeitig beginnt sich auch eine stärkere Vertrautheit gegenüber Südostasien herauszubilden. Während in den 1990er Jahren hier nur
214
E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
Im Gegensatz dazu zeigt ein Blick auf den historischen Verlauf des Japanstolzes kaum Veränderungen. In einer regelmäßig durchgeführten Studie der konservativen Tageszeitung Yomiuri Shinbun antworteten 2008 auf die Frage, ob sie stolz seien, zum japanischen Volk zu gehören (Nihon kokumin dearu koto), 55 % mit „ja, sehr“ und 38 % mit „ja, ein bisschen stolz“, nur 6 % empfanden keinen Stolz55. Mit zusammengenommen 93 % Zustimmung war das zwar ein historischer Höchstwert, aber von einem signifikanten Unterschied zu den 91,1 %, die in der gleichen Umfrage von 1986 erreicht wurden, kann nicht gesprochen werden56. Auch die Umfrage von 1986 bestätigte bereits die Tendenz, dass Patriotismus mit dem Alter zunimmt und Personen in den 20ern am wenigsten patriotisch sind57. Es zeigt sich also eher eine Konstanz und nicht etwa ein Anstieg von Nationalismus in Japan. Dies wird ähnlich in einer seit 1973 durchgeführten und auch von Ôsawa58 angeführten Studie des Fernsehsenders NHK deutlich59. Der Aussage „ich bin froh, in Japan geboren worden zu sein“ (Nihon ni umarete yokatta) stimmten 2013 97 % zu; der gleiche Wert wurde auch 1993 erreicht, 1983 waren es ebenfalls 96 % und auch 1973 immerhin 91 %. Aussagen wie „Japan ist ein erstklassiges Land“ (ichiryû) oder „Japaner verfügen im Vergleich zu anderen Völkern über ein ausgesprochen überlegenes Naturell“ (sugureta soshitsu) erleben zudem seit den 2000er Jahren zwar erneut eine wachsende Zustimmung, reichen aber noch nicht an die in den 1980er Jahren erreichten Höchstwerte heran. Die Zustimmung zu letzterer Aussage sinkt zudem mit dem Alter der Befragten, während sich bei ersterer Aussage zur Erstklassigkeit Japans ähnliche Werte in allen Alterskohorten ergeben60. Grafik 3 zeigt den historischen Verlauf der oben erwähnten Befragung des Kabinettsbüros seit Ende der 1970er Jahre. Hierbei werden grob drei Phasen erkennbar. Ab Ende der 1970er verstärkte sich der Patriotismus und erlebte 1991 mit 55,4 % einen ersten Höhepunkt, was zeitlich in etwa mit dem Platzen der Bubble Economy zusammenfällt. Mit einsetzender Rezession fiel die Japanliebe bis 2000 erneut auf einen ähnlich tiefen Wert wie 1977 (2000: 46,4 %). Seit der Jahrtausendwende verstärkte sich die patriotische Stimmung erneut und erreichte 2013 einen Rekordwert von 58 %, bei einem gleichzeitig historischen Tiefstwert Werte von durchschnittlich etwa 35 % erreicht wurde, zeigt sich in der der 2000er Dekade eine zunehmende Vertrautheit, die in der Umfrage von 2013 einen Höchstwert von 60,4 % erreichte. Dieses zunehmende Gefühl der Nähe deckt sich also auch mit der wachsenden Bedeutung die dieser Region auch in der Politik, aktuell durch Abe Shinzô, zugedacht wird. http://survey.gov-online.go.jp/h25/h25-gaiko/2 – 1.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 55 Yomiuri Shinbun (2008a). 56 51,2 % antworteten damals sie seien sehr stolz, 39,9 % waren „ein bisschen stolz“ und 5,2 % nicht stolz. Yomiuri Shinbun (1986). 57 Yomiuri Shinbun (1986). 58 Vgl. Ôsawa (2011), S. 174 – 178. 59 https://www.nhk.or.jp/bunken/summary/research/report/2014_08/20140801.pdf (Zugriff: 20. 06. 2016). 60 Ebd.
I. Der Nationalismusboom in Sport, Popkultur und Internet
sehr stark/eher stark
sehr schwach/eher schwach
215
weder noch (ich weiß es nicht)
70.0% 60.0% 50.0%
51.8% 46.2%
55.4%
42.3% 41.3%
38.7%
37.9% 35.1%
30.0%
12.5% 9.5%
9.6%
11.3% 7.0%
5.7%6.6%
1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 2000 2002 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
10.0% 0.0%
58.0%
46.4%
40.0%
20.0%
57.0%
55.4%
Grafik 3: Studie des Kabinettsbüros von 2015 – Q1: „Stärke der Japanliebe“ – historischer Verlauf61
von insgesamt 5,7 %, die angaben, ihre Japanliebe sei schwach/eher schwach62. Aus den hohen Werten Ende der 1980er („Japan as No. 1“-Diskurs) und seit den 2000er Jahren (Fußball-Patriotismus, Popkultur-Nationalismus etc.) könnte man so durchaus gewisse Auswirkungen der nationalistischen Forcierung des Gesellschaftsdiskurses auf den Patriotismus der Bevölkerung in diesen beiden Phasen ablesen. Allerdings bleiben selbst die aktuell hohen Werte im historischen Vergleichsrahmen, womit die Studie des Kabinettsbüros zu ähnlichen Ergebnissen kommt wie die angeführte Umfrage der Yomiuri Shinbun. Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass es mit dem vorhandenen Studienmaterial nicht möglich ist, den behaupteten Rechtsruck der jungen Generation zweifelsfrei zu belegen. Auch hinsichtlich der Gesamtgesellschaft hat die Japanliebe offenbar nicht signifikant zugenommen, und war in früheren Dekaden sogar teilweise stärker. Vielmehr scheinen sich eher Änderungen in der Qualität dessen abzuzeichnen, was als „Japan“ verstanden wird bzw. was als Quelle für den Stolz auf Japan empfunden wird. Auf diesen Punkt hat auch Miura Atsushi hingewiesen63. In dieser Hinsicht weist auch ein Vergleich der Studien der Yomiuri Shinbun von 1986 und 2008 Veränderungen auf. Während 1986 52,7 % Japans „Geschichte, Traditionen, Kultur“ als Bezugspunkt für Stolz empfanden, stieg dies 2008 auf 72 % an. In beiden Jahren jedoch erhielten diese Kriterien insgesamt die höchste 61
http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-shakai/2 – 1.html (Zugriff: 20. 06. 2016).
62 Ebd. 63
Miura (2010).
216
E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
Zustimmung. 1986 waren „gesellschaftliche Stabilität, öffentliche Sicherheit“ und „Erziehungssystem, wissenschaftlich-technisches Niveau“ mit 42,6 % bzw. 41,0 % die zweit- und drittgrößte Quelle für Stolz auf Japan. Diese Kategorien erreichten 2008 jedoch nur noch 28 % bzw. 19 %. Stattdessen war die Kategorie „Land/Natur“ 2008 mit 43 % die zweitwichtigste Grundlage für Stolz (1986: 33,9 %) und auch der Stolz auf das „bloße“ Japanersein (kokuminsei) stieg von nur 20,1 % 1986 auf 28 %. Was das Image des Landes betrifft, so hat sich die Reihenfolge Wirtschaftsgroßmacht (61,3 %), pazifistischer Staat (53,2 %), Kulturstaat (21,8 %) von 1986 etwas verändert. 2008 sahen die Befragten Japan in erster Linie als pazifistischen Staat (60 %), dann als Wirtschaftsgroßmacht (36 %) und mit der dritthäufigsten Nennung als Kulturstaat (27 %)64. Die größte Erwartung an den Staat richteten 77 % schließlich in Bezug auf die Bewahrung von Frieden und Sicherheit, woran sich eine immer noch starke Unterstützung des Pazifismus ablesen lässt65. Das Bild von Japan als Wirtschaftsmacht verlor also (erwartungsgemäß) nach dem Platzen der Bubble 1990, zwei Dekaden der Rezession und jüngst auch durch die Auswirkungen des Tôhoku-Bebens immer stärker an Bedeutung. Das Beben selbst hat ebenfalls auch durch die in Kap. D. beschriebenen Maßnahmen von oben zu einem verstärkten Gefühl des gesellschaftlichen Zusammenhaltes geführt. So gaben in einer Studie des Kabinettsbüros von 2013 77,5 % an, eine stärkere Bedeutung gesellschaftlicher Beziehungen (shakai ni okeru musubitsuki) im Vergleich zu der Zeit vor dem Beben zu spüren66. Der qualitative Wandel des japanischen Nationalismus zeigt sich auch in der Erhebung des Kabinettsbüros, die nach den Quellen für „Stolz auf Japan“ fragte67. Grafik 4 zeigt hier eine Auswahl aus den 12 Antwortkategorien. Zum einen die vier mit den aktuell höchsten Zustimmungswerten, nämlich „öffentliche Sicherheit“, „schöne Natur“, „Überlegene Kultur und Künste“, „lange Geschichte und Traditionen“ und zum anderen die beiden Kategorien „Freie und friedliche Gesellschaft“ und „Wirtschaftliche Prosperität“, die für Japans Nachkriegsausrichtung als „pazifistisches Land“ und „Wirtschaftsnation“ stehen. Abgesehen von „öffentlicher Sicherheit“ zeigt sich, dass „softe“ Kategorien wie Natur, Kultur und Geschichte/Traditionen, die einem kulturellen Nationalismus zugeordnet werden können, seit den 2000er Jahren immer stärker als Quelle für den Stolz auf Japan ausgemacht werden. Im Vergleich dazu hat die Kategorie „wirtschaftliche Prosperität“ konsequenterweise seit dem Platzen der Bubble Anfang der 1990er kontinuierlich an Bedeutung verloren und war 2015 mit 12 % der zweitniedrigste Faktor. Die Zustimmungswerte zur Kategorie „freie und friedliche Gesellschaft“ sind dabei relativ konstant geblieben. Trotz der zwischenzeitlichen Abenomics-Euphorie, die zu einem vorübergehenden, neuen Selbstvertrauen auch in die Wirtschaft geführt hat, zeigt sich insgesamt aber die Notwendigkeit von Alternativbildern ob der mittel- bis langfristig wohl Yomiuri Shinbun (2008a). Yomiuri Shinbun (2008a). 66 http://survey.gov-online.go.jp/h24/h24-shakai/zh/z15.html (Zugriff 20. 06. 2016) 67 http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-shakai/2 – 2.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 64 65
I. Der Nationalismusboom in Sport, Popkultur und Internet
217 57%
60%
54%
50%
50% 46%
40%
30%
30% 20%
12%
0%
1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 2000 2002 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
10%
Öffentliche Sicherheit
Schöne Natur
Überlegene Kultur und Künste
Lange Geschichte und Tradition
Freie und friedliche Gesellschaft
Wirtschaftliche Prosperität
Grafik 4: Studie des Kabinettsbüros von 2015: „Stolz auf Japan“- historischer Verlauf68
eher gedämpften Aussichten für Japans Wirtschaft. Miura betont hier einen Paradigmenwechsel von einer wirtschaftlichen zu einer kulturellen Orientierung69, der in den genannten Studien auch schon erkennbar zu werden scheint. Dabei wird bei der angeführten Umfrage der Yomiuri Shinbun eine signifikante Diskrepanz deutlich: Einerseits werden Japans „Geschichte, Traditionen, Kultur“ als größte Quelle für Stolz empfunden, andererseits ist aber das Image von Japan als „Kulturstaat“ 2008 wie 1986 nur die dritthäufigste Nennung. Hieraus könnte sich also eine Forderung nach mehr Stolz auf die japanische Kultur ableiten, der allerdings „von oben“ noch nicht gebührend nachgekommen wird, da das Japanbild nach wie vor durch die „traditionellen“ Nachkriegskategorien wie „Pazifismus-“ bzw. „Wirtschaftsstaat“ bestimmt wird. Eine Forderung nach mehr Stolz bzw. die latente Bereitschaft, mehr für die Gesellschaft leisten zu wollen, lässt sich schließlich auch aus anderen Fragen der Regierungsstudien ableiten. In der Studie des Kabinettsbüros von 2015 zeigt sich eine hohe Zustimmung von 76 % auf die Frage, ob die Liebe zum eigenen Land anerzogen (sodateru) werden sollte, wobei ab der 2000er Dekade gar meist Werte um die 80 % erreicht wurden70. Auch in der Frage, ob die Interessen des Volkes bzw. der Nation oder die des Individuums bevorzugt werden sollten (kokumin zentai no 68
http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-shakai/2 – 2.html (Zugriff: 20. 06. 2016). Miura (2010). 70 Diese Zustimmung ist unter den unter 30-Jährigen mit 67.2 % bereits sehr hoch und nimmt mit dem Alter konstant zu. Im historischen Verlauf zeigt sich, dass um 1990 die Zustimmung hierfür abrupt anstieg (von 63 % auf 77 %), was auch daran liegen mag, dass 69
E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
218
Individuelle vs. nationale Interessen 60% 50% 40% 30% 20%
0%
1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 2000 2002 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
10%
Nationales Interesse vor persönlichen Interessen Persönliche Interessen vor nationalen Interessen Das kann man so pauschal nicht sagen Weiß nicht
Bereitschaft zuzuGesellschaftsbeiträgen Bereitschaft Gesellschaftsbeiträgen 80% 66%
70% 60% 50% 40%
32%
30% 20% 10%
2%
0%
Ich stimme zu
Ich stimme nicht zu
Weiß nicht
Grafik 5: Individuelle vs. nationale Interessen und die Bereitschaft zu Gesellschaftsbeiträgen71 die Frage vor 1990 etwas anders in der Befragung formuliert wurde. Auch nach 1990 zeigt sich ein leichter Anstieg der Zustimmung, die ab Mitte der 2000er erstmals die 80 %-Marke erreichte und ab 2014 auf die aktuelle Marke von 76 % leicht abfiel. http://survey.gov-online. go.jp/h26/h26-shakai/2 – 1.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 71 http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-shakai/2 – 1.html (Zugriff: 20. 06. 2016).
I. Der Nationalismusboom in Sport, Popkultur und Internet
219
rieki ka kojin no rieki ka), zeigt sich seit Mitte der 2000er Dekade ein interessanter Trend hin zur Betonung nationaler Interessen (Grafik 5)72. Die Gewichtung des öffentlichen Gemeinwohls spiegelt sich gleichzeitig in einem wachsenden Willen wider, einen Beitrag für die Gesellschaft (shakai e no kôken ishiki) zu leisten (Grafik 5). Diese Bereitschaft stieg seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre konstant an und kam 2015 auf eine Zustimmung von 66,1 %73. Dabei erreichten Beiträge im Rahmen der Sozialarbeit mit 37,5 % (shakai fukushi) und Umweltschutz mit 32,8 % (shizen/kankyô hogo) die höchste Zustimmung74. Auch in der Umfrage der Yomiuri Shinbun von 2008 gaben 73 % an, sie wollten dem Land dienen (kuni no yaku ni tachitai)75. Diese Zunahme eines auf nationalen Interessen und Gemeinsinn ausgerichteten Denkens könnte in der Konsequenz als zunehmender Patriotismus (miss)verstanden werden. Der Blick auf die vorgestellten Studienergebnisse zeigt also eher einen qualitativen als einen quantitativen Wandel des japanischen Nationalismus, wobei ein wachsender Nationalismus der jüngeren bzw. Gesamtbevölkerung nicht eindeutig nachweisbar ist. Indem im Diskurs diese empirische Dimension gewöhnlich außer Acht gelassen wird, kommt es durch damit einhergehende Definitionsprobleme zu Folgerungsfehlern. Problematisch ist, dass Kayama die Debatte mit „vagen“ Gefühlen eines „Rechtsrucks“ angestoßen hat. Denn diese Ungenauigkeiten spiegeln ein ebenfalls vages Verständnis von „Nationalismus“ wider, wenn Kayama oder auch viele andere Kommentatoren nicht fähig oder bereit sind, genauer zu erklären, was sie unter Nationalismus eigentlich verstehen, von welchen Maßstäben sie ausgehen und was genau an all dem „gefährlich“ sein soll. Wo beginnt ein „Rechtsruck“, und ab wann ist dieser problematisch76? Wie Suzuki Kensuke, Ôsawa Masachi und Takahara Motoaki nicht zu Unrecht anmerken, ist ebenfalls die Frage der Perspektive wichtig. Sollte man bei der Bewertung der Debatte von
72 1981 stimmten nur 25,4 % dieser Aussage zu, während ein ähnlich hoher Anteil von 25,5 % das Individuum betonte. Eine Mehrheit gab an, dass man dies nicht so pauschal entscheiden könne (38,5 %) bzw. machte keine Angaben (10,6 %). Der Anteil dieser Unentschlossenen, der damals zusammen über die Hälfte ausmachte, nahm in der Folgezeit konstant ab, während die Bejahung des nationalen Interesses 2009 einen Höchstwert von 56,6 % erreichte und 2015 bei 50,6 % lag. Da gleichzeitig die Bevorzugung des Individuums relativ konstant blieb (2015: 31.4 %), zeigt sich anhand dieser Daten, dass sich ab Ende der 1980er Jahre die Unentschlossenheit zugunsten eines Anstiegs der Bedeutung nationaler Interessen verschob. Vgl. http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-shakai/2 – 1.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 73 Gleichzeitig nahm die Zahl der Unentschlossenen und derjenigen ab, die sich noch keine Gedanken über diese Frage gemacht haben. Die Bereitschaft für Beiträge zur Gemeinschaft nimmt dabei ebenfalls mit dem Alter zu. Vgl. http://survey.gov-online.go.jp/ h26/h26-shakai/2 – 1.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 74 http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-shakai/zh/z10.html (Zugriff: 20. 06. 2016). 75 Yomiuri Shinbun (2008a). 76 Vgl. Raddatz (2008), S. 23.
220
E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
der traditionellen Rechts-Links-Opposition in Japan ausgehen, oder doch jüngste Veränderungen in diesem Verhältnis berücksichtigen? Generell gibt es also methodische Probleme bei der Messung des „Rechtsrucks“, die auch Yoshino Kôsaku feststellt77. Ferner wird der Versuch einer empirischen Auseinandersetzung mit der Thematik durch das bisweilen defizitäre Design der vorhandenen Studien selbst beeinträchtigt, die oftmals in wissenschaftlich unzureichender Weise nur wenige Antwortkategorien, manchmal sogar nur „Ja/Nein“-Alternativen anbieten und dadurch den Spielraum für ein möglichst präzises Meinungsbild einengen78. So versteht sich, dass Studienergebnisse wie jenes, bei dem über 90 % angeben, froh zu sein in Japan geboren worden zu sein, nicht unbedingt auf einen starken Patriotismus hindeuten müssen. Denn dahinter könnte beispielsweise auch die simple Wertschätzung des Lebensstandards in Japan stecken, was jedoch nicht gleichzeitig an eine patriotische Unterstützung des Staates gekoppelt sein muss79. Weitere Probleme bestehen in der oft fehlenden Definition des zentralen Untersuchungsgegenstandes „Jugend“ (wakamono), für den meist ein konkreter Altersbereich fehlt80. Dennoch basieren weitreichende Schlussfolgerungen auf vagen und unverifizierten Annahmen. Nationalistische Popkultur und Internet-Nationalismus werden somit oft pauschal zu einem Jugendphänomen verschmolzen81, weil man annimmt, sie seien primäre Jugendmedien82. Doch wie einige Umfragen vermuten lassen, sind Alterskohorten der 30er und 40er stärkere Konsumenten von nationalistischer Popkultur als Personen in den 20ern83. Darüber hinaus erscheint die Tatsache problematisch, dass der Diskurs von Akteuren wie Kayama geführt wird, die keine Experten für den Themenbereich sind, was auch an der Qualität ihrer Beiträge deutlich wird. Dennoch bildet gerade Kayama mit ihrem „kleinen Nationalismus“ (puchinasho) einen der Hauptreferenzpunkte und hat auch weitere Bücher zum Thema vorgelegt84. Hier wird ein weiteres Problem des (japanischen) Mediendiskurses erkennbar. Kommentatoren wie Kayama sind vielgebuchte Diskussionspartner der Medien und gewissermaßen „Experten für alles“. Dementsprechend groß ist ihr Einfluss auf Diskurse, obwohl (oder gerade weil) ihnen die Qualifikation oftmals fehlt. Auch der Umstand, dass qualifiziertere Akteure, wie etwa der Soziologe Suzuki Kensuke, wiederholt über mehrere Jahre zur Thematik befragt wurden oder veröffentlicht haben85, wobei sie Yoshino (2007), S. 2, 9. Vgl. auch Yoshino (2007), S. 3 f. 79 Raddatz (2008), S. 24. 80 In den gängigen Studien werden für gewöhnlich Personen ab 20 Jahren befragt, was ist aber mit den eigentlichen „Jugendlichen“ unter 20 Jahren? Vgl. Raddatz (2008), S. 24. 81 Ein Beispiel hierfür ist der Artikel von Sasada (2006). 82 Raddatz (2013a), S. 227 f.; Raddatz (2008). 83 Vgl. Suzuki (2007a); Miura (2007). 84 Kayama/Fukuda (2003); Kayama (2004); Kayama (2012). 85 Suzuki (2005a); (2006); (2007); (2008). 77 Vgl. 78
I. Der Nationalismusboom in Sport, Popkultur und Internet
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jedes Mal den Rechtsruck der Jugend in Zweifel zogen, weist in dieselbe Richtung. Trotz solcher Dementis ließ das mediale Interesse an dem Thema nicht nach und jedes Mal von Neuem wurde die reflexhafte Frage gestellt „Driftet die Jugend nach rechts“? Ein weiterer, damit unmittelbar verbundener Aspekt liegt in der japanischen Nationalismusforschung selbst begründet, wie Takahara in seiner Bewertung der Debatte andeutet86. Erst relativ spät wurden westliche Standardwerke zum Thema Nationalismus von der japanischen Forschung rezipiert, die sich in der Nachkriegszeit vor dem Hintergrund der landeseigenen Vergangenheit mit Nationalismus primär in seiner Ausprägung des Etatismus (kokkashugi) befasst hatte. Zudem kann letztlich auch darüber gestritten werden, inwieweit es sich bei Kayamas „kleinem Nationalismus“ (puchinasho) überhaupt um ein „neues“ Phänomen handelt, denn der Sozialpsychologe Michael Billig sprach schon Mitte der 1990er Jahre über den vergleichbaren „banalen“ Nationalismus87. Hier spielt das wiederholt zu beobach tende Defizit in der japanischen Wissenschaft eine Rolle, die westliche (englischsprachige) Literatur vielfach ungenügend bis gar nicht zu rezipieren (was freilich umso mehr auf populärwissenschaftliche Autoren wie Kayama zutrifft). Phänomene, die wissenschaftlich längst beschrieben wurden, können daher in Japan als vermeintlich neu und wahlweise auch besonders „japanisch“ dargestellt werden, was in der Erzeugung immer neuer Phrasen und Modewörter mündet, die im Grunde immer den gleichen Sachverhalt umkreisen. Vor solchen Fallen sind aber auch Kommentatoren nicht gefeit, die durchaus auch im westlichen Wissenschaftsbetrieb verankert sind, wie das Beispiel Sakamoto Rumi zeigt. Vor dem Hintergrund der Erfolge von Kobayashi Yoshinoris Mangas und u.a. auf den Beiträgen Kayamas aufbauend, führt die Kulturwissenschaftlerin Sakamoto den zweifellos zugkräftigen Begriff „Pop-Nationalismus“ ein. Damit beschreibt sie das vermeintlich neue Phänomen des „naiven“ Konsums einer „apolitischen“ und „ahistorischen“ Nation, der ihr zufolge nicht die Gefahr eines „harten“ Nationalismus enthalte, da er nicht durch die Unterstützung des Staates getragen sei88. In Bezug auf die vermeintliche „Ahistorizität“ muss sie allerdings auch selbst anmerken, dass Geschichte hier keine geringe Rolle spielt89. Auch in diesem Fall stellt sich die Frage, wie neu dieser „Pop-Nationalismus“ eigentlich sein soll. Wie die vorliegende Diskursanalyse bereits gezeigt hat, ist die Ablehnung des Staates ein seit der Nachkriegszeit präsentes Denkmuster, das dennoch andere Formen von Nationalismus nicht verhindert hat, die immer auch dem Staat nützen. Der in Kapitel B. angesprochene Kriegsmanga-Boom in den 1950er und 1960er Jahren kann etwa als eine Frühform des heutigen „naiven Pop-Nationalismus“ gedeutet werden. Takahara (2011). Billig (1995). 88 Sakamoto (2008). 89 Sakamoto (2008). 86 87
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E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
Herangehensweisen wie die von Kayama Rika, Sakamoto Rumi oder auch Kang Sang-Jung sind Beispiele für die tendenziell linksliberale Dualität eines „bösen“ Nationalismus „von oben“ und eines „naiven“, potentiell „guten“ Nationalismus des Volkes „von unten“. Diese eher irreführende Methodik geht davon aus, dass der banale „Pop-Nationalismus“ in gewisser Weise „von oben“ getrennt sei und etwas Gutes, weil vermeintlich „Herrschaftsfreies“, in sich trüge90. Im Wesentlichen entsprechen Sakamotos „Pop-Nationalismus“ und Kayamas „kleiner Nationalismus“ jedoch Billigs „banalem Nationalismus“, der sich eben nicht in letzter Konsequenz gegen den Staat richtet, sondern von diesem befördert und getragen wird91. Denn tatsächlich zeigt das „naive“ Konsumieren von nationalen Symbolen gerade die mehr oder weniger unbewusste, eher unterbewusste Akzeptanz nationaler Symbole in einer Art Bourdieuschem Habitus, ohne die auch der Nationalismus „von oben“ kaum „funktionieren“ würde. Die „Gefahr“, dass diese vermeintlich leeren Symbole mit einem „von oben“ verordneten Sinn gefüllt werden können, ist latent immer gegeben, was sich gerade auch im Erfolg der „von oben“ ausgegebenen Durchhalteparolen und deren Alltagsdurchdringung nach dem Tôhoku-Erdbeben bestätigte. Wenn Kayama zwar auf Gefahren „von oben“ hinweist, so scheint sie der in Japan historisch begründeten Auffassung zu folgen, nach der dies die einzige gefährliche Richtung des Nationalismus sein könne. Dieser Ansatz greift jedoch, wie in der weiteren Analyse des Nationalismus „von unten“ zu zeigen ist, deutlich zu kurz. 3. Nationalismus und Popkultur – das Beispiel Kenkanryû Im Jahr 2005 gelang dem Mangaka Yamano Sharin (*1971, der Name ist ein Pseudonym) mit seinem antikoreanischen Manga Kenkanryû (Manga über den verhassten Korea-Boom, hiernach Kenkanryû) ein Bestseller-Erfolg92. Drei Fortsetzungsbände sollten in kurzen Intervallen folgen93. Nach einer längeren Pause gab es 2015 mit dem Manga Dai-Kenkanryû (Manga über den sehr gehassten Korea-Boom) sogar ein Comeback und laut Verlagsangaben auf dem Einband verkaufte sich die Serie über eine Million Mal94. Das sind Größenordnungen, die an die Verkaufszahlen des „Altmeisters“ Kobayashi Yoshinori heranreichen. Während die Mainstream-Medien versuchten, Kenkanryû totzuschweigen, wurde es zum Exponenten eines neuen „grass roots“-Nationalismus, der mit der Verknüpfung beliebter Medien wie Manga und Internet eine subkulturelle und subversive Opposition zum Establishment von Eliten, Bürokraten und Massenmedien bedient95. Vgl. auch Raddatz (2013a). Smutny (2004), S. 63. 92 Yamano (2005). 93 Yamano (2006); (2007); (2009). 94 Yamano (2015). 95 Für eine ausführliche Analyse der Mangas vgl. Raddatz (2008); Raddatz (2013a); Sakamoto/Allen (2007); Tanaka/Itagaki (2007). 90 91
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Das Manga kann als Spillover-Produkt eines rechtslastigen Internetdiskurses auf die Popkultur gesehen werden, der seit Beginn der 2000er Jahre in bekannten japanischen Foren wie 2channeru96, Videoportalen wie Nico Nico Dôga97, einschlägigen Blogs, aber auch in weit verbreiteten japanischen Social Media wie Mixi98 oder speziellen „Patrioten-SNS“ wie MyNippon99 etc. zu beobachten ist und für gewöhnlich mit dem Begriff netto uyoku (Internet-Rechte) beschrieben wird100. Das netto uyoku-Phänomen zeigt sich in seiner ideologischen Ausrichtung primär als antikoreanisch (kenkan), antichinesisch (kenchû), anti-links und medienkritisch und ergeht sich dabei auch in rassistischen Tiraden gegen die Nachbarländer101. Takahara Motoaki erkennt hier einen Rechtsruck des japanischen Internets überhaupt, wobei sich ähnliche, wiederum gegen Japan gerichtete Hass-Bewegungen auch im südkoreanischen oder chinesischen Internet finden lassen102. Im Falle des Korea-Hasses können diese Ressentiments nicht nur auf die divergierenden Meinungen zu Geschichtsfragen zwischen Japan und Südkorea zurückgeführt werden, sondern lassen sich auch als Gegenreaktion auf die „Korean Wave“ (kanryû) in Japan deuten103. Die Korean Wave bezeichnet einen Boom südkoreanischer (Pop)Kultur, der um 2003/04 in Japan seinen Höhepunkt erreichte104. In Kenkanryû und von den netto uyoku wird der Korea-Boom gern als ein von den Medien inszenierter, künstlicher Hype dargestellt, der oftmals als Basis für den Korea-Hass dient105. Auch die mit Südkorea gemeinsam ausgetragene Fußball-WM 2002 kann bei vielen Internet-Rechten als ein Auslöser ihrer Animositäten ausgemacht werden106 und wird auch in Kenkanryû entsprechend thematisiert107. Kenkanryû selbst ist inhaltlich ein Rundumschlag gegen alles Koreanische und beschönigt zugleich die Kolonisierung der koreanischen Halbinsel durch Japan (1910 – 1945). Die Annexion Koreas wird als eine Verteidigungsmaßnahme dargestellt, die erforderlich war, um sich gegen den westlichen Imperialismus in Ostasien zu schützen108. Dabei entspricht die Argumentation der Mangas der im vor96
www.2ch.net (Zugriff: 20. 06. 2016). http://www.nicovideo.jp (Zugriff 20. 06. 2016). 98 www.mixi.jp (Zugriff 20. 06. 2016). 99 http://sns.mynippon.jp/?m=portal&a=page_user_top (Zugriff 20. 06. 2016). 100 Vgl. auch Raddatz (2013a), S. 218. 101 Vgl. McLelland (2008); Suzuki (2007a); Takahara (2006). 102 Der Soziologe vermutet, dass rechtslastige Foren und Blogs in die Zehntausende gehen, denen gegenüber nur eine geringe Zahl von Internetseiten stünde, die Japans Kriegsverantwortung betonten. Takahara (2006), S. 90. 103 Raddatz (2013a), S. 218. 104 Hayashi/Lee (2007). 105 Vgl. Raddatz (2008), S. 52. 106 Vgl. Yasuda (2015), S. 114 – 117, 189. 107 Vgl. Yamano (2005). 108 Yamano (2005). 97
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angegangenen Kapitel beschriebenen Lesart neonationalistischer Kreise. In letzter Konsequenz führt der Darstellungsstil der Mangas zu einer Vertauschung von Opfer- und Täterrolle zwischen Korea und Japan, und die japanische Invasion Koreas wird gar in eine Invasion Japans durch (Süd)Korea umgedeutet109. Konkret drehen sich die Episoden der Mangas um den Protagonisten Kaname, der zunächst der gängigen Meinung anhängt, Japan habe Korea während der Kolonisierung Schlechtes angetan. Auch an der Korrektheit der Medienberichterstattung zum Thema hat er anfangs keine Zweifel. An seiner Universität tritt Kaname schließlich einem Geschichtsclub namens „Forschungsgruppe Ostasien“ bei und erfährt indessen die „Wahrheit“ über Korea. Sie besagt, dass koreanische Kultur im Grunde wertlos sei, da sie nur japanische Kultur kopiere und als ihre eigene darstelle110. Im Verlauf der Handlung werden Koreaner als gerissene, hinterhältige und verbrecherische Personen dargestellt, die neben Steuerhinterziehung zahllosen anderen Betrügereien nachgehen und darüber hinaus auch noch Gewalt einsetzen. Zu einer Art „Stilmittel“ der Serie gerät das Bild koreanischer Männer, die bei jeder Gelegenheit wehrlose Frauen vergewaltigen. In einer Episode, die mit „die südkoreanische Verbrechernation“ (hanzai minzoku) betitelt ist111, werden Kriminalfälle mit koreanischer Beteiligung aus aller Welt akribisch zusammengetragen, um das verbrecherische „Essentielle“ an „den Koreanern“ herauszuarbeiten112. Der antikoreanische Serien-Rundumschlag soll dazu dienen, die Glaubwürdigkeit der etablierten Geschichtssicht fundamental in Frage zu stellen. Unter Anwendung der in Kapitel D. beschriebenen Revisionismus-Mechanismen schreibt Yamano die japanisch-koreanische Geschichte komplett um, wobei Stil und Vorgehensweise häufig an die Mangas von Kobayashi Yoshinori erinnern. Dazu wendet er bevorzugt Mechanismen an, die man am besten als „Trübung“ bezeichnen könnte. Er arrangiert Fakten komplett neu, um mit einer Taktik der Nebelkerzen den Ausgangsvorwurf zurückzuweisen, verschweigt jedoch andere wichtige Informationen. Dabei macht das Manga von einem zusätzlichen Stilmittel Gebrauch: Die Erörterungen zur japanischen Geschichte finden in Form von „Debatten“ statt, in denen Kaname und seine Freunde z. B. gegen Bürgergruppen oder südkoreanische Studenten „argumentieren“113. In einer dieser Debatten zum Thema „Trostfrauen“, die gegen südkoreanische Studenten ausgefochten wird, wissen Kaname und seine Klubkameraden zu berichten, dass die „Trostfrauen“ „normale Prostituierte“ und nicht etwa wie oft vorgeworfen „Sexsklaven“ gewesen seien. Auch habe der Begriff „Trostfrau“ ( jûgun ianfu, wörtl. in Kriegsdiensten stehende „Trostfrau“) damals gar nicht existiert, sonRaddatz (2013a), S. 224. Yamano (2005), S. 114; vgl. hierzu auch Raddatz (2013a). 111 Yamano (2007), S. 164 – 196. 112 Vgl. Raddatz (2013a), S. 221. 113 Vgl. Raddatz (2013a); Raddatz (2008); Sakamoto/Allen (2007). 109 110
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dern sei von der „antijapanischen“ Linken erfunden worden, um die Verwicklung der japanischen Armee bei der Anwerbung der Frauen zu suggerieren. Bis heute gebe es allerdings keine Beweise dafür, dass es sich dabei um eine zwangsweise Rekrutierung durch die Armee gehandelt habe114. Hinweise, dass die Frauen bis zum Zwanzigfachen des regulären Soldatensoldes verdient hätten115, sollen zudem insinuieren, dass das System an sich doch gar nicht so schlimm gewesen sein könne116. Bezeichnenderweise lässt Yamano diese Debatte auf „neutralem Boden“ in den USA vor einem amerikanischen Publikum stattfinden. Dies hängt einerseits mit der Resolution des US-Kongresses117 zum Thema „Trostfrauen“ von 2007 zusammen und soll anderseits freilich eine vermeintliche „Unbefangenheit“ suggerieren, da der japanisch-koreanische Streitfall einem „neutralen Publikum“ präsentiert wird. Der Ausgang steht natürlich fest. Durch den charakteristischen „Debatten-Stil“ der Manga-Reihe legt Yamano zudem nahe, dass die Ausführungen auf Rationalität, Argumenten und Fakten basieren118. Hier zeigt sich die japanische Seite um Kaname stets überlegen – so auch in diesem Fall. Kanames Team kann das eingangs skeptische US-Publikum mit seinen „Fakten“ überzeugen, so dass sich dieses schließlich über den koreanischen „Unsinn“ sogar noch lustig machen kann. Die koreanische Seite, auf der ein Universitätsprofessor ehemalige „Trostfrauen“ als Zeitzeuginnen vorstellt, ist letztlich unterlegen, da die japanische Seite Unstimmigkeiten in ihren Aussagen „nachweisen“ kann119. Auch die offizielle Erklärung des ehemaligen Kabinettsekretärs Kôno Yôhei von 1993 (Kôno danwa), in der die Verwicklung der Armee in den Rekrutierungsprozess der „Trostfrauen“ eingeräumt wird, weist das Manga zurück, da diese unter dem Druck Südkoreas entstanden sei120. Kenkanryû weist große Schnittstellen zu dem in Kapitel D. beschriebenen Revisionismus der Tsukuru-kai und den Verfechtern des „liberalen Geschichtsbildes“ auf 121. Deren Argumentation zufolge ist der Ausdruck jûgun ianfu kein historischer Begriff, weswegen es auch die geschichtliche Realität der „Trostfrauen“ nicht gegeben haben könne122. Kenkanryû präsentiert solche „Fakten“ oft in sarkastischer Weise und praktiziert somit eine problematische Relativierung von menschlicher Ausbeutung123.
114
Yamano (2007), S. 202 – 206.
115 Ebd.
Raddatz (2013a), S. 222. http://thomas.loc.gov/cgi-bin/bdquery/z?d110:H.Res121: (Zugriff: 20. 06. 2016). 118 Raddatz (2013a). 119 Yamano (2007). 120 Yamano (2007), S. 214. 121 Raddatz (2013a), S. 222 f. 122 Vgl. Ueno (2004), S. 208. 123 Raddatz (2013a). Speziell zur „Trostfrauen“-Thematik vgl. Tanaka (2002). 116 Vgl. 117
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Das Manga nutzt solche Pseudo-Rationalität, um die japanische Vergangenheit reinzuwaschen, und versucht eine alternative Narration zu entwickeln. Diese soll unter Ausblendung und Umschreibung aller dunklen Kapitel den Stolz auf Japan ermöglichen und wird somit zum Gegenentwurf des als „Gehirnwäsche“ empfundenen, „masochistischen Geschichtsbildes“124. Yamanos Manga-Reihe steht dabei wie die Tsukuru-kai in der Tradition einer ultra-positivistischen Geschichtssicht, die laut der Soziologin Ueno Chizuko (*1948) offizielle Dokumente vorzieht und Zeugenberichte wegen potentieller Ungenauigkeiten ablehnt. Da viele dieser Dokumente aber gegen Ende des Krieges vernichtet wurden, könnten, so Ueno weiter, die Verbrechen selbst ausgelöscht werden, wenn es gelänge die Opfer zum Schweigen zu bringen, oder ins Lächerliche zu ziehen. Somit identifiziere man sich zwangsläufig mit den damaligen Verantwortlichen125. Wie bereits an Revisionisten wie Kobayashi Yoshinori demonstriert, sollen solche Ansätze als besonders „rational“ dargestellt werden. Gleiches versucht Yamano, mit dem pseudowissenschaftlichen Design von Kenkanryû in Inhalt und Form zu bewerkstelligen126. Über den „Debatten-Stil“ hinaus findet die Geschichte im akademischen Klima einer Universität statt, wobei jedoch nie die Rede von Professoren oder Seminaren ist127. Darüber hinaus finden sich neben einer Bibliographie am Ende der Mangas auch Sachtexte, wobei einer von Nishio Kanji, dem Mitbegründer der Tsukuru-kai, verfasst wurde. Auch die Diskussion von real existierenden Zeitungsartikeln oder Büchern, sowie die Verwendung von Fotos weichen die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion zusätzlich auf 128. Unter anderem dienen die Bilder dazu, in Vorher-Nachher-Manier zu „beweisen“, wie Korea von der durch Japan zurückgelassenen Infrastruktur profitiert habe129. Mit dieser holzschnittartig konstruierten „Rationalität“, die teilweise sogar die Argumente der Gegenseite berücksichtigt130, kann dann die vermeintliche „Wahrheit“ entdeckt werden. Diese Wahrheit, die jedoch laut dem Manga angeblich von den „antijapanischen“ Medien und anderen Institutionen „versteckt“ wird, läuft darauf hinaus, dass Japan im Grunde Korea nichts Schlechtes angetan hat, sondern dem Nachbarn nur „helfen“ wollte131. Kaname, der anfänglich an die „offizielle“ Version der Geschichte glaubt, erfährt so im Zuge des Plots eine graduelle „Erleuchtung“. Er wird in ein „Schüler/Lehrer“-Verhältnis zu den schon „erleuchteten“ Klubälteren versetzt, und ganz ähnlich übernimmt auch der Leser Raddatz (2013a), S. 223. Ueno (2004), S. 110 – 115. 126 Raddatz (2013a), S. 220. 127 Sakamoto/Allen (2007). 128 Raddatz (2013a), S. 220. 129 Yamano (2005), S. 220. 130 Sakamoto/Allen (2007) bemerken hierzu jedoch, dass die Schlusspunkte von Debatten oder auch die Interpretation von Fakten in dem Manga stark kontrolliert werden. 131 Vgl. Raddatz (2013a). 124 Vgl. 125
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die „Schülerrolle“, in der er schrittweise immer mehr über die „versteckte Wahrheit“ erfährt132. Das Manga polarisiert dabei inhaltlich und visuell, um mit Stereotypen nur die „Wahl“ zwischen der japanischen und der koreanischen Seite zuzulassen133. Kompromisse sind nicht vorgesehen. Die Wahl der Seiten fällt jedoch nicht schwer, denn während Kaname und seine Mitstreiter als besonders rational und ruhig dargestellt werden, zeigt sich die koreanische Seite gern als laut, irrational und dünnhäutig134. Ihr ständiges Schwitzen und gelegentliches Ausstoßen unverständlicher, tierhafter Laute unterstreichen diesen Aspekt zusätzlich und verstärken die rassistische Komponente135. Während die japanischen Charaktere in sympathischer Weise gezeichnet sind, werden die Koreaner im Manga mit extrem schmalen Augen und hervortretenden Wangenknochen dargestellt, um sie auch optisch klar abzugrenzen136. Das Manga bedient klassische Stereotype vom „rationalen Japaner“ vs. dem „emotionalen Koreaner“ und der Überlegenheit Japans gegenüber anderen Asiaten137. Auch inhaltlich erscheint das Vermischen von verschiedensten Themen, Zeitebenen (damals und heute) und Lokalitäten (Japan vs. Süd- und Nordkorea) problematisch, indem es offenbar dazu dienen soll, ein statisches Bild von Korea und Japan zu kreieren138. Diese Mechanismen werden allein schon durch den Einsatz des Genres „Manga“ unterstützt, das nicht nur die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, sondern auch zwischen „Lernen“ und „Entertainment“ verschwimmen lässt. Mangas können komplizierte Sachverhalte durch die Mischung aus Bildern und „catchphrases“ verständlich erscheinen lassen, erleichtern die so einfache wie irreführende Verknüpfung von Raum und Zeit139 und tragen zudem durch bestimmte Bilderfolgen zur Suggestion gewünschter Assoziationen bei140. Unbedarfte Leser, die wenig über die japanisch-koreanische Geschichte wissen, könnten somit die fiktive Realität der Mangas als historische Realität auffassen. Nicht zuletzt kann allein mit dem Gebrauch des als „typisch japanisch“ geltenden Genres Manga eine national(istisch)e Aussage verbunden sein141.
Raddatz (2013a), S. 220; Raddatz (2008). Raddatz (2013a), S. 223. 134 Vgl. Sakamoto/Allen (2007). 135 Vgl. Itagaki (2007), S. 3; Raddatz (2013a), S. 223. 136 Vgl. Raddatz (2013a); Raddatz (2008), Sakamoto/Allen (2007). 137 Vgl. Hayashi/Lee (2007), S. 11; vgl. auch Oguma (2002b), S. 143. 138 Itagaki (2007), S. 2 f.; Sakamoto/Allen (2007). 139 Sasada (2006), S. 119; Berndt (2008), S. 291. 140 Raddatz (2013a), S. 220. 141 Raddatz (2008), S. 36. 132 133
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4. Die „Verflüssigung“ der Geschichte im Internetzeitalter Neben dem offensichtlichen Korea-Bashing in Kenkanryû ist besonders die Kritik an den japanischen Massenmedien auffällig, die pauschal als links, prokoreanisch und antijapanisch verfemt werden142. Ihnen wird vorgeworfen, Fakten zu verdrehen bzw. allgemein die Wahrheit „zu verstecken“143. Diese Kritik spiegelt einen generellen Verlust des öffentlichen Vertrauens in die Massenmedien in Japan wider, wobei laut Suzuki Kensuke vermehrt deren „Führer“- oder „Erzieher“-Rolle in der Gesellschaft infrage gestellt werde144. Als Beispiele hierfür werden immer wieder die Art der Berichterstattung über die Fußballspiele der japanischen Nationalmannschaft oder als besonders prominenten Vorfall der Umgang der Medien mit der Kollision eines chinesischen Fischerboots mit Schiffen der japanischen Küstenwache in von Japan beanspruchten Gewässern um die Senkaku-Inseln 2010 angeführt145. Insgesamt wird den Medien zum Vorwurf gemacht, die „eigentliche Stimmung“ der Bürger zu unterdrücken und in überheblichem Stil (ue kara mesen) aufzutreten146. Die Ursprünge dieser Medienkritik sind in tendenziell rechten Foren des japanischen Internets zu sehen, die den Massenmedien „Gehirnwäsche“ und Meinungsmache anlasten147. Ihre Verachtung bringen die Internet-Rechten auch in der Bezeichnung „Massenmüll“ (masugomi) für „Massenmedien“ (masukomi) zum Ausdruck148. Hier stehen primär linke Zeitungen wie Mainichi Shinbun oder Asahi Shinbun als Feindbilder im Fokus, wobei gerade letztere sich bereits seit den 1980er Jahren verstärkter Kritik von konservativer Seite ausgesetzt sieht und auch im Zuge ihrer in Teilen fehlerhaften Berichterstattung über die „Trostfrauen“-Thematik einen Imageschaden hinnehmen musste (s.o.)149. Während man die Medien solcherart als tendenziös darstellt, soll im Kontrast dazu das alternative Internet-Wissen überlegen sein150. Suzuki Kensuke verdeutlicht dies mit einer typischen Erzählung, nach der die Betroffenen zunächst den 142 Für eine detaillierte Analyse der in diesem Abschnitt behandelten Rolle der Massenmedien für Kenkanryû und die Internet-Rechten vgl. auch die Darstellungen in Raddatz (2008) und Raddatz (2013a). 143 Neben dem antikoreanischen Rundumschlag, tritt die Medienkritik in der Mehrzahl der Episoden der Kenkanryû-Reihe zu Tage. Vgl. Raddatz (2008); (2012a). 144 Suzuki (2007a), S. 166 – 168. 145 Murakami (2014), S. 178. Die Besatzung des Fischerboots wurde zunächst festgenommen, aber wenig später auf Druck Chinas wieder freigelassen. Der Vorfall schlug hohe Wellen in Japan und China und ist ein beliebtes Thema rechter Internetaktivisten. Ein Video des Vorfalls verbreitete sich blitzartig im Internet. 146 Suzuki (2007a), S. 166 – 168. 147 Suzuki (2007a). 148 Vgl. ebd. 149 Vgl. Kitada (2005), S. 197; Yoshimi (2003a), S. 59 – 61; vgl. Nakano (2015). 150 Raddatz (2013a), S. 224; Raddatz (2008).
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Massenmedien glaubten und es auch für die Wahrheit hielten, dass Japan im Krieg Schlimmes getan habe. Durch das Internet jedoch hätten sie erfahren, dass die Medien sich in Wirklichkeit einer tendenziösen Berichterstattung befleißigten151. Indem diese Narration auch dem Manga Kenkanryû und der „Erleuchtung“ Kanames und seiner Mitstreiter zu Grunde liegt, treten die Verknüpfungen von Internet und Popkultur erneut zutage. Auch in Kenkanryû wird die Rolle des Internets betont und dem „zensierten“ Wissen der Medien entgegen gestellt152. Schon für seine erste Debatte bereitet Kaname sich nur mit Hilfe des Internets vor, wobei er sich sogar rhetorisch fragt, ob das allein wohl ausreiche153. Freilich obsiegt er in der Debatte, was den Wert des Internet-Wissens nur noch weiter unterstreicht. Im dritten Band ist sogar ein ganzes Kapitel der Opposition von Internet und Medien gewidmet154. Darin wird die Ablehnung der Medien genauer erläutert und das Internet im Gefolge der Medien als „vierter Gewalt“ gar als „fünfte Gewalt“ geadelt155. Kaname und seine Freunde folgern, dass durch das Auftreten dieser „fünften Gewalt“ der „wahre“ Zustand der „antijapanischen“ Medien nun weithin bekannt geworden sei156. Für die Freunde steht fest, dass sie die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und die „Geschichtsverfälschung“ durch linke Kräfte, das „spezielle Asien“157 (tokutei ajia), oder die zainichi-Koreaner nicht länger dulden wollen158. Die sich in den Kenkanryû-Mangas widerspiegelnde Kritik der netto uyoku entspricht einem Medienbild, das von einer fundamentalen Opposition von Massenmedien und Gesellschaft ausgeht159. Die Unvermeidbarkeit der Informationsfilterung gerät hier den Medien zum Nachteil und wird als Argument benutzt, um die Geschichtssicht insgesamt infrage zu stellen160. Die Massenmedien erscheinen in dieser Perspektive, wie der Kommunikationswissenschaftler Winfried Schulz es ausdrückt, als ein „Fremdkörper“, „eine der Gesellschaft ‚aufgesetzte‘ wesensfremde Technik – mit dem Potential, Individuen und soziale Gruppen zu kontrollieren und zu manipulieren, der Gesellschaft zu schaden“161.
151 Suzuki (2007a), S. 169. Vgl. zu diesem Aspekt auch Yasuda (2015), der bei seinen Recherchen in rechten Gruppierungen auf ähnliche Aussagen stößt. 152 Vgl. Raddatz (2013a), S. 225. 153 Yamano (2005), S. 46. 154 Vgl. Raddatz (2008). 155 Yamano (2007), S. 84 – 89. 156 Ebd. 157 Von den Internet-Rechten häufig verwendeter, abschätziger Sammelbegriff für China, Süd- und Nordkorea. 158 Ebd., S. 89. 159 Vgl. Schulz (1989), S. 140. 160 Raddatz (2013a), S. 225. 161 Schulz (1989), S. 140.
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Gibt es dabei aber überhaupt so etwas wie eine „korrekte Realität“, die von den Medien „unverfälscht“ dargestellt werden könnte? Dies muss eher bezweifelt werden, denn wie auch Schulz über diesen Aspekt resümiert, repräsentiert die in den Medien dargestellte Realität „in erster Linie die Stereotype und Vorurteile der Journalisten, ihre professionellen Regeln und politischen Einstellungen, die Zwänge der Nachrichtenproduktion und die Erfordernisse medialer Darstellung“. Deswegen, so Schulz weiter, lässt die Medienwirklichkeit „nur bedingt Rückschlüsse zu auf die physikalischen Eigenschaften der Welt, die Strukturen der Gesellschaft, den Ablauf von Ereignissen, die Verteilung der öffentlichen Meinung“162. Die Internet-Rechten und die Protagonisten in Kenkanryû sind jedoch von der Existenz einer „Wirklichkeit“ abseits der von den Massenmedien dargestellten Realität überzeugt163. Der Soziologe Kitada Akihiro attestiert den Betroffenen, aus einem „romantisch“-idealistischen Antrieb heraus eine von den Medien verborgene Seite lesen zu wollen (ura o yomu)164. Wie der Jurist und Politologe Cass Sunstein ausführt, fungieren die in einer Gesellschaft geteilten Erfahrungen wie ein „sozialer Kitt“ und werden als solche primär erst durch die Medien ermöglicht165. Hierbei verweist er auf soziale Fragmentierungsgefahren des Internets: „A system of communications that radically diminishes the number of such experiences will create a number of problems, not least because of the increase in social fragmentation“166. Wie auch von den netto uyoku wird das Internet gern als Raum der freien Meinungsäußerung mit angeblich großem demokratischem Potential angepriesen. Doch wie Sunstein und andere nachgewiesen haben, findet ein demokratischer Austausch im Internet selten statt. Gerade durch die Möglichkeit, nach eigenen Interessen zu filtern, die das Internet gegenüber der klassischen „one-to-many“-Kommunikation der Massenmedien bietet, treffen sich im Internet eher Teilnehmer, die zu ähnlichen Einstellungen neigen167. Mit dieser Polarisierung geht leicht eine Radikalisierung der Betroffenen einher, weil eine Gruppe von Gleichgesinnten nur über einen begrenzten Argumentations-Pool verfügt und sich rasch auch von alternativen Meinungen und Informationen abzuschotten sucht, ein Verhalten, dass Sunstein mit „Information Cocoons“ bzw. „Echo Chambers“ umschreibt168. Auch weitere Gefahren wie die sogenannten „Cyber Cascades“ sind für das Internet kennzeichnend. Hierbei handelt es sich um das Phänomen einer inflationären Ausbreitung von Informationen, die – unabhängig davon, ob richtig oder falsch – einen authentischen Eindruck erwecken, weil sie von vielen Menschen geglaubt zu werden scheinen169. Schulz (1989), S. 139. Raddatz (2013a), S. 225. 164 Kitada (2005), S. 198. 165 Sunstein (2007), S. 6. 166 Ebd. 167 Sunstein (2007), S. 53 ff.; Winkler (2003), S. 12. 168 Sunstein (2007), S. 44 f., 64 – 69. 162
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Diese Mechanismen werden auch im Diskurs der Internet-Rechten sichtbar und spiegeln sich in den Kenkanryû-Mangas als „Internet-Spillover“ wider. Als Konsequenz hieraus können „Parallel-Realitäten“ entstehen, die in Konkurrenz zur Realität einer Gesellschaft treten. Suzuki Kensuke hat diesen Aspekt anschaulich beschrieben. Ihm zufolge sind Gedenkstätten („Memorials“) das Medium für das kollektive Gedächtnis170 einer Gesellschaft, und deren Bedeutung wird traditionell von den Medien interpretiert. Dieser Mechanismus wirkt integrierend, indem er durch die Erinnerung des Einzelnen ein Gefühl des Verbundenseins mit einer sozialen Gruppe bzw. der Gesellschaft ermöglicht. Da das somit gebildete Kollektiv das Memorial instand hält, können sich auch Menschen, die die Vergangenheit nicht persönlich miterlebt haben, durch dieses „erinnern“ und dadurch Teil der Gruppe werden171. 169
Als Kontrast dazu begünstigt speziell das Internet eine fragmentierend wirkende Funktion, welche die kollektive Erinnerung und die Rolle der Medien ablehnt. Dieses alternative System ist laut Suzuki „Fakten“-basiert, wobei es „beliebige Fakten“ in einer „beliebigen Realität“ entdeckt und daraus extrahiert. Die dadurch entstandene „Realität“ tritt schließlich an die Stelle des Memorials. Gleichzeitig fühlen sich so handelnde Personen anderen, die an das Memorial und nicht an die „Fakten“ glauben, überlegen172. Auf diese Weise können zahllose Parallelrealitäten konstruiert werden, mit denen die interpretative Rolle der Medien „umgangen“ wird. Mit dieser neuen, zum „Fetisch“ werdenden Realität kann nicht nur Geschichte revidiert, sondern auch das Bild eines „reinen“ Japan kreiert werden, das auf der willkürlichen Verwendung von nur in das eigene Weltbild passenden „Fakten“ aufbaut173. Das Teilen dieser Realität mit Gleichgesinnten übt seinerseits identitätsstiftende Wirkung aus. Denn da im Internet räumliche Nähe als gemeinschaftserzeugende Komponente wegfällt, treten andere nichträumliche Faktoren, wie Tradition, Werte oder Zielsetzungen als integrative Faktoren in den Vordergrund174. Bei den Internet-Rechten sind dies Revisionismus, der Hass auf die Medien und Länder wie Südkorea oder China175. Die Konstruktion des „reinen“ Japan im Zuge dieses „Cyber-Revisionismus“ hat die Fabrikation einer „eigenen“ Version von Geschichte zum Ziel, bei der keine Selbstreflexion mehr nötig ist, da sie „makellos“ ist176. 169
Ebd., S. 44. In seinem Verständnis von „kollektivem Gedächtnis“, Erinnerung des Einzelnen und der Gruppe, baut Suzuki hier auf dem Konzept des „kollektiven Gedächtnisses“ des französischen Soziologen Maurice Halbwachs (2008) auf. 171 Suzuki (2007a), S. 179 – 181. 172 Suzuki (2007a), S. 179 – 181. 173 Raddatz (2013a), S. 226; Raddatz (2008), S. 88. 174 Geser (1998). 175 Raddatz (2008), S. 99. 176 Raddatz (2008), S. 88. 170
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E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
Grafik 6: Die Herausforderungen an die Medienrealität im Internetzeitalter177
Der gegenwärtige Revisionismus betont dieses „Recht“ auf eine „eigene Geschichtssicht“ (vgl. Kap. D.), das auch die revisionistische Popkultur wie Kenkanryû durchzieht, wo Kaname und seine Freunde kritisieren, dass man Japan nicht erlaube, seine „eigene Geschichtssicht“ zu haben178. Geschichte wird also zu etwas, das man besitzen kann179, zu einem Zufluchtsort, formbar gemäß den eigenen Wünschen und Projektionen. Sakamoto benutzt hier den plastischen Ausdruck „lost utopia“, um zu beschreiben, wie Geschichte zu einer „fiktiven Vergangenheit“ umgeformt wird180. Gerade der fragmentierende Charakter des Internets unterstützt bzw. verstärkt diese „Verflüssigung“ der Geschichte und spielt dabei den Revisionisten in die Hände. Entgegen den hierarchischen „Offline“-Strukturen bietet das Internet die Möglichkeit, einfacher zu selektieren und sich somit zu radikalisieren, wobei Fakten, die die eigene Realität unterstützen, undifferenziert ausgewählt werden können, um gleichzeitig unliebsame Fakten ebenso leicht „auszublenden“181. 5. Nationalismus als Hobby – der „coole“ Nationalismus der Otaku Der Erfolg rechtslastiger Mangas und auch die zunehmende Urbarmachung des Internets durch rechte Kräfte seit den 2000er Jahren haben verstärkt die subkultu177 Aufbauend auf den Ausführungen von Suzuki (2007a): In einem „idealen“ System, in dem wie von den netto uyoku gefordert, die Massenmedien nur „Fakten“ darstellen und „korrekt“ berichten, würde sich folglich die von den Medien dargestellte Realität mit der empfundenen gesellschaftlichen Realität (nahezu) komplett decken (1). Die netto uyoku kritisieren aber, dass die Medienrealität sich nicht mit der gesellschaftlichen Realität decke (2). Sie verschärfen diese Probleme selbst, da sie in wie von Suzuki Kensuke und Cass Sunstein beschriebener Weise im Internet Parallelrealitäten erzeugen. Da Art und Anzahl dieser Realitäten im Grunde keine Grenzen gesetzt sind, entfernen sich medial interpretierte, gesellschaftliche Realität und die Realitäten der netto uyoku immer weiter voneinander (3) – mit potentiellen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. 178 Yamano (2005), S. 120 f. 179 Raddatz (2013a), S. 223. 180 Sakamoto (2008). 181 Vgl. Raddatz (2013a).
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relle Dimension des japanischen Nationalismus vor Augen geführt. Im japanischen Diskurs sind daher die sogenannten Otaku in den Blickpunkt gerückt, mit denen (Popkultur)-Nerds bezeichnet werden. Die Anfänge der medial stark ins öffentliche Bewusstsein gehobenen Otaku-Erscheinung können bis in die 1970er Jahre zurückverfolgt werden182. Dem Japanologen Christian Oberländer zufolge wurden sie allerdings erst in den 1980er Jahren zu einem Massenphänomen183. Neben Manga und Anime interessieren sich Otaku aber auch für Computer, das Internet, Video spiele und andere Subkultur-Domänen184. In der Regel wird dem Otaku dabei eine fanatische Beschäftigung mit seinem Hobby unterstellt, für die er sich oft von der Gesellschaft abkapselt, um seinen konsumistischen Aktivitäten – durch soziale Kontakte ungestört – nachgehen zu können185. Otaku bleiben deswegen weitgehend unsichtbar, was von ihnen durchaus auch gewollt ist186. Die Auseinandersetzung mit diesem zunächst eher belächelten, bzw. gar negativ assoziierten, subkulturellen Soziotypus gestaltet sich im japanischen Diskurs zwiespältig: zum einen wirft man ihm vor, eine gewichtige Rolle beim vermeintlichen Rechtsruck der Jugend zu spielen, zum anderen schwingt sich dieser ehemalige Außenseiter im Zuge von „Cool Japan“ zu einem „coolen“ Nationalhelden auf, als Prototyp des „Japanischen“ schlechthin (s.o.). Die Transformation des Otaku vom Antihelden zum Helden bestätigt sich auch in nationalistischer Popkultur wie Kenkanryû, mit der sich Otaku gewissermaßen selbst zelebrieren. Die „realen“ netto uyoku wie auch die „fiktiven“ Charaktere im Manga agieren dabei wie nationalistische Nerds, die ihr Dasein dem Finden von „Fakten“ widmen, mit dem sie japanische Geschichte als „Hobby-Historiker“ reinwaschen können187. Bei dieser mit Takaharas188 Begriffen des „otakuisierten Nationalismus“ (otaku-ka suru nashonarizumu) oder „Hobby-Nationalismus“ (shumika shita nashonarizumu) eingängig umschriebenen Einstellung kokettieren sie mit der „coolen“, antielitären Aura des „Untergrund-Rebellen“, dem es gelingt, die von etablierten Autoritäten „versteckte Wahrheit“ zu enttarnen189.
182 Entgegen gelegentlich anderslautender Versuche den Otaku als einen „typisch“ japanischen Soziotyp zu vereinnahmen, sind sie laut Azuma weniger als ein speziell japanisches Phänomen zu begreifen, sondern eher als eine Manifestierung postmoderner Kultur in Japan. Der Soziologe widerspricht auch Versuchen, ihre Wurzeln bis in die Edô-Zeit zurückverfolgen zu wollen. Die Otaku-Kultur sei eher als ein Kultur-Import aus den USA zu verstehen, der in Japan entsprechend domestiziert worden sei. Vgl. Azuma (2001), S. 19 ff. 183 Oberländer (2006), S. 99. Für eine nähere Beschreibung des Soziotypen Otaku vgl. auch Azuma (2001). 184 Vgl. auch Azuma (2001), S. 8. 185 Oberländer (2006), S. 111; Raddatz (2013a), S. 226. 186 Vgl. Oberländer (2006), S. 111. 187 Vgl. Raddatz (2013a). 188 Takahara (2006). 189 Raddatz (2013a), S. 227.
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E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
Dies zeigt sich auch in Kenkanryû dergestalt, dass Kaname und seine Freunde als Amateure rational genug sind, durch den Austausch in Diskussionen oder im Internet die „versteckte“ Wahrheit offenzulegen190. Azuma Hiroki sieht in solch demonstrativer, antiautoritärer Attitüde ein Otaku-Merkmal, indem sie allen Methoden, die nicht „otakuesk“ seien, kritisch gegenüber stünden191. Die nationalistische Otakuisierung zeigt sich schließlich auch im Medium selbst, wenn in Kenkanryû mit dem Otaku-Motiv gearbeitet wird und Yamano eine von Kanames Mitstreiterinnen als „Manga-verrückten“ Otaku darstellt192. Wie es Ôtsuka Eiji bereits an Phänomenen wie Kobayashi Yoshinoris Mangas analysierte, gehen Subkultur und Nationalismus hier eine verstärkte Verbindung ein193. Laut Azuma hat der rechte Diskurs nach dem Kalten Krieg überhaupt nur überlebt, weil er durch Akteure wie Kobayashi oder Fukuda Kazuya ins Subkulturelle abdriftete und „otakuisiert“ (otaku-ka) und „imitiert“ ( feiku-ka) worden sei194. Diese Entwicklung fällt sicher nicht ganz zufällig auch mit dem Auftauchen neuer Medien wie dem Internet zusammen, denn wie Takahara Motoaki anmerkt, seien die Anti-China- und Anti-Korea-Bewegungen eine Ausprägung von (rechten) Subkulturen, die das Internet seit den 1990er Jahren hervorgebracht habe195. Die netto uyoku sind zwar nicht zwangsläufig eine „Otaku-Bewegung“, doch zeigt ihre Art der Bezugnahme und Interaktion große Schnittstellen zu diesem Soziotypus196. Der allgemeine, hyperpositivistische „Fakten“-Glaube der Revisionisten197 verbindet sich bei den Internet-Rechten im Speziellen mit einem von dem Subkultur-Kommentator Murakami Yûichi so bezeichneten „Quellen-Fundamentalismus“ (sôsu genrishugi), der in pseudowissenschaftlicher Manier bei allem Vertrauen in das Internet stets Quellen und Belege für das Gesagte verlangt, wobei die Fähigkeit zum wissenschaftlich korrekten Umgang mit diesen freilich zu hinterfragen bleibt198. Die Hobby-Experten, die so eher unbewusst ihren eigenen Anti-Elitismus parodieren, schöpfen ihr Selbstverständnis aus dem Anspruch auf eine besonders ausgeprägte „media literacy“, wobei der theoretisch unbegrenzte Wissensschatz des Internets nicht nur durch die von Cass Sunstein beschriebenen Mechanismen eher zu einer Verkümmerung und Einschränkung des Wissens führt, da auch bei den Internet-Fundamentalisten die Fähigkeit zu einer tatsächlich
Sakamoto/Allen (2007); Raddatz (2013a). Azuma (2001), S. 11. 192 Yamano (2007), S. 93 f. 193 Ôtsuka (2007), S. 333 f.; vgl. auch Ôtsuka/Ôsawa (2005), S. 17 f. 194 Azuma (2001), S. 38. 195 Takahara (2006), S. 10. 196 Raddatz (2008), S. 90. 197 Steffi Richter spricht prägnant auch von einem „positivistischen Fakten-Fetischismus“. Richter (2008b), S. 57. 198 Vgl. Murakami (2014), S. 168. 190 Vgl.
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wissenschaftlichen Standards genügenden Sachreflexion in Zweifel gezogen werden kann199. In ihrer antielitären Haltung weisen die netto uyoku deutliche Parallelen zu etablierteren Revisionisten wie Kobayashi Yoshinori und der Tsukuru-kai auf 200, von deren Ideologie sie nachhaltig geprägt sind. Auch dort werden – wie in Kapitel D. gesehen – die Bürokratie, Experten und Elitismus abgelehnt und das Wissen und die Rationalität des „kleines Mannes“ hervorgehoben 201. Dabei wird auf „das Recht“ gepocht, als Japaner – unbeeinflusst von der Geschichtssicht einer „Siegerjustiz“ – die eigene Nationalgeschichte (um)schreiben zu können. Dieser Einstellung entsprechend arbeiteten auch am Schulbuch der Tsukuru-kai geschichtswissenschaftliche Amateure wie Nishibe Susumu, Saeki Keishi oder Kobayashi Yoshinori mit. Diese Sicht ist aber auch unter Intellektuellen und Politikern des konservativen Establishments schon längst keine exotische Extremposition mehr. Obwohl sie angeben, dass Intellektuelle den Kontakt zu den Menschen durch ihr „verdrehtes“ Bild der Geschichte verloren hätten, sind die Köpfe hinter der Tsukuru-kai jedoch überwiegend selbst einflussreiche Intellektuelle, was Zweifel an ihren pseudo-demokratischen Standpunkten aufkommen lässt202. Trotz der Verstrickungen zwischen etablierten Nationalisten und elitären Ideen einerseits und dem Diskurs der Internet-Rechten andererseits, ist einigen der alteingesessenen Konservativen das Online-Phänomen eher suspekt. Kobayashi Yoshinori kritisierte insbesondere nach Fukushima den dumpfen Nationalismus der atomfreundlichen (Internet-)Rechten, die ihre Daseinsberechtigung allein aus ihrer Eigenschaft zögen, Japaner zu sein, ansonsten aber über keine weiteren Qualifikationen verfügten 203. Er selbst hingegen wird von vielen Internet-Rechten verehrt und kann als Bindeglied zwischen etablierten Intellektuellen und subkulturellen Formen des Nationalismus gelten 204. Denn der Autodidakt Kobayashi ist in seiner Vorgehensweise durchaus als ein prominenter Prototyp der Amateur-Wissenschaftler im Internet anzusehen. Indem sich die positivistische Geschichtssicht durch das Internet zu einer Art „Hobby-Nationalismus“ verstärkt, wird Geschichte in der Informationsära zu einem sich schnell wandelnden, im ständigen Fluss befindlichen Konzept205. Latente Revisionismustendenzen können sich durch das Internet, das in Konkurrenz zu 199 Murakami merkt in diesem Zusammenhang sicher nicht zu Unrecht an, dass im Zeitalter von Internet und Smartphone die (media) literacy zugenommen haben sollte, tatsächlich aber abnehme. Vgl. Murakami (2014), S. 177. 200 Vgl. Raddatz (2013a). 201 Oguma/Ueno (2003), S. 16 – 19. 202 Vgl. Oguma/Ueno (2003), S. 16 – 19; Raddatz (2013a), S. 227. 203 Kobayashi (2012a), S. 190. In früheren Beiträgen merkte Kobayashi aber auch an, dass er die Internet-Rechten oft kritisiert habe, sie aber nun zu einem gemeinsamen, entschlossenen Kampf auffordere. Vgl. Suzuki (2007a), S. 171 f. 204 Raddatz (2008), S. 33 f. 205 Raddatz (2013a), S. 228.
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den klassischen Medien tritt, stärker und schneller verbreiten, da das Medium nicht nur passiven Konsum erlaubt, sondern den Konsumenten selbst zum „Sender“ von Information werden lässt206. Die dogmatische „offizielle Geschichte“ verliert somit ihr Monopol, da sie „von unten“ scheindemokratisch umgeschrieben werden kann und traditionelle Institutionen und „Experten“ hinterfragt. Solche Neuinterpretationen von Geschichte enthalten subversives Potential und können die Gesellschaft im Zuge „negativer Soft Power“ – z. B. durch die Beliebtheit von Medien wie Manga und Internet – schrittweise unterwandern207. Das Aufkommen von „Amateur-Experten“ muss sicherlich als eine problematische Entwicklung gesehen werden, da die Fragmentierungskräfte des Internets sich hier mit dem „Halbwissen“ von „Hobby-Historikern“ zu einem konflikthaltigen Trend mit radikalem Potential verbinden 208. Dass revisionistische und nationalistische Inhalte im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit vermehrt auch in der Popkultur „salonfähig“ wurden und weiter an Einfluss gewonnen haben, ist unbestreitbar. Popkulturelle Formen, die ähnlich wie Kenkanryû japanische (Kriegs)Geschichte verzerren, einfach neu schreiben oder Utopien davon entwerfen und überdies noch das unter Otaku weitverbreitete Interesse an Militärischem bedienen, sind dabei inflationär. Ôsawa führt hier die 2006/2007 im japanischen TV ausgestrahlte Anime-Serie „Code Geass“209 an. Aus deren Plot liest er die Thematik einer nationalistischen Befreiung Japans von der Besatzung des fiktiven „heiligen Reiches Britannia“ (im Grunde sind die USA gemeint) heraus210. Ein weiteres Beispiel ist die ab 2000 erschienene Manga-Erfolgsserie „Jipangu“ (Zipang) von Kawaguchi Kaiji (*1948)211. Und auch die auf dem „humoristisch-ironischen“ Ausschlachten von „Nationenstereotypen“ und einer Banalisierung der Weltkriegsgeschichte basierende, erfolgreiche Manga-Reihe „Axis Powers Hetalia“212 von Himaruya Hidekazu (*1985) kann als weiterer Vertreter dieses PopkulGrunwald et al. (2006). Raddatz (2013a), S. 228. 208 Vgl. ebd. 209 Die Serie spielt in einer fiktiven Gegenwart, in der die Welt in drei Reiche (Chinesische Föderation, Europäische Union und das Britannische Reich) aufgeteilt ist. Die Vergangenheit ist ebenfalls teils fiktiv, so umfasst das Britannische Reich den gesamten amerikanischen Kontinent aber nicht Großbritannien, das zur Europäischen Union gehört, da die britische Königin in der Realität der Serie einst nach Amerika flüchten musste. Die Thematik des japanischen Identitätsverlustes wird auch dadurch ausgedrückt, dass Japan nach seiner Eroberung durch das britannische Reich schlicht nur noch „Area 11“ heißt und seine Einwohner „Elevens“. Vgl. Ôsawa (2011). 210 Ôsawa (2011), S. 193 – 197. 211 Zu Kawaguchis Manga „Jipangu“ vgl. z. B. die Beiträge von Berndt (2008) oder Maxey (2012). 212 „Axis Powers Hetalia“ (Hetalia ist zusammengesetzt aus „Italia“ und „hetare“, jap. für Feigling) ist eine ab 2008 erschienene Manga-Serie, die es mittlerweile auch als Anime gibt. 206
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tur-Booms ab den 2000er Jahren gesehen werden, in denen die Themen japanische Geschichte und Identität eine zentrale Rolle spielen. Abgesehen von der Umschreibung der japanischen Geschichte an sich, spielte hier auch die popkulturelle Glorifizierung und Emotionalisierung des Krieges in den vergangenen Jahren eine Rolle. Mit Werken wie dem erwähnten Roman „Eien no zero“ (The Eternal Zero) von Hyakuta Naoki oder auch dem Manga/Anime „Shingeki no kyojin“ (Attack on Titan) von Isayama Hajime (*1986), wurden mit dem Zelebrieren von Opferbereitschaft für die Gemeinschaft Kassenerfolge gefeiert213. Trotz der in den vergangenen Jahren stark gewachsenen Präsenz nationalistischer Inhalte in Medien, Popkultur und Internet, bleibt zunächst unklar, in welchem Ausmaß diese Manifestationen einen Rückhalt in der Bevölkerung finden214. Dies lässt sich zwar einerseits in Form von „Verkaufszahlen“ ablesen, andererseits sind diese oftmals auch durch Medienhypes befördert worden und lassen nur bedingt Rückschlüsse auf die tatsächliche Akzeptanz solcher Positionen in der Bevölkerung zu. Wie erläutert, ist gerade das Phänomen rechter Mangas außerdem nicht allein auf die Jugend beschränkt, sondern scheint insbesondere auch mittlere Altersschichten zu betreffen 215. Im Weiteren bleibt fraglich, wie ernst der Nationalismus in Popkultur und vor allem im Internet zu nehmen ist. Das Internet stellt eine „utopische Parallelwelt“ dar, die einen alternativen Raum für Erfahrungen und Handlungen bietet und in der zunächst alle Gemeinschaften „imaginiert“ sind, was wiederum auch Fragen nach der Ernsthaftigkeit aufwirft216. Ironie und Zynismus sowie eine damit Wie der Titel andeutet, stehen hier die ehemaligen „Achsenmächte“ Japan, Deutschland und Italien im Zentrum des Plots, der in der Zeit der Weltkriege spielt. Achsenmächte, Alliierte und sonstige in der Serie auftretende Länder werden jeweils durch einen Charakter repräsentiert, der gleichzeitig auch stereotype „Volkscharaktere“ der jeweiligen Länder widerspiegelt. Italien zeigt sich dem Titel entsprechend als feige, Deutschland und Japan werden als ernsthaft (majime) charakterisiert. Japan wird zudem durch seine abgelegene Insellage eine eigenständige Kultur und Brauchtum attestiert. Das Land neige jedoch dazu, es den anderen recht machen zu wollen und keine eigene Meinung zu haben. Vgl. Himaruya (2008). 213 Vgl. hierzu Murakami (2014), S. 32 f. 214 Suzuki Kensuke beispielsweise hielt in einem Beitrag von 2007 die Zahl derjenigen, die nach dem Schema Anti-Korea, Anti-China und Anti-Massenmedien eingestellt denken und agieren, für nicht besonders groß, wobei er präzisere Ausführungen jedoch schuldig bleibt. Suzuki (2007a), S. 174. 215 Einer von Suzuki Kensuke angeführten Studie zufolge, die unter Studenten erhoben wurde, haben nur 5,7 % von ihnen Kenkanryû gelesen und 10,9 % Kobayashi Yoshinoris Shin-gomanizumu sengen (Neues Manifest der Arroganz). Von Suzuki angeführte Daten deuten darauf hin, dass Kenkanryû eher von Personen in den 30ern oder 40ern gelesen wird. Wie der Soziologe anmerkt, bedeute das Lesen solcher Mangas zudem nicht, dass man den Äußerungen darin zustimme, bzw. auch umgekehrt könnten solche Ansichten geteilt werden, ohne dass man solche Mangas lese. Vgl. Suzuki (2007a), S. 174, 185. 216 Thiedeke (2005), S. 339 – 342.
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verbundene Protesthaltung sind – wie auch von Kitada hervorgehoben – ständige Begleitfaktoren des Internet-Nationalismus217. Und auch beim Genre Manga, dem man freilich keine wissenschaftliche Faktentreue vorschreiben kann, bleibt laut der Japanologin Jaqueline Berndt „tendenziell in der Schwebe, wie ernst es seinen Geschichten womit ist“218. Dass die im Genre begründete, leicht zu verwischende Fakt-Fiktion-Schwelle solcher Mangas aber gerade der revisionistischen Sache entgegenkommt, erscheint nach den hier vorgelegten Ergebnissen eindeutig. 6. Vom Internet auf die Straßen – Die netto uyoku als „grass roots“-Demokraten? Der im Internet seit langem schwelende, latent rechte Diskurs der netto uyoku manifestierte sich seit Ende der 2000er Jahre immer deutlicher auch in der „realen Welt“. Hier gerieten erneut speziell die japanischen Massenmedien ins Fadenkreuz219, aber auch ausländerfeindliche Proteste oder die Atomkraftthematik gehörten zu den Betätigungsfeldern der Internet-Rechten. Demonstrationen gegen Fernsehsender wie NHK oder Fuji TV, denen eine prochinesische bzw. prokoreanische und daher eine „antijapanische“ Berichterstattung vorgeworfen werden, waren dabei öfter auch im Stadtbild japanischer Großstädte zu sehen (vgl. Abbildung 2). Das Internet spielt dabei für die Organisation, Durchführung und Nachbereitung solcher Demonstrationen die zentrale Rolle220. Das Teilnehmerfeld solcher Aufmärsche ist, basierend auf eigenen Beobachtungen, meist recht überschaubar. Jung und Alt, Frauen und Männer sind bei diesen Protestzügen gleichermaßen vertreten, wobei die Zahl der Personen im mittleren oder höheren Alter jedoch zu überwiegen scheint. Es ist gerade diese vermeintliche „Normalität“ der Teilnehmer solcher Demos, die ihre tatsächliche Radikalität umso unwirklicher erscheinen lässt. Da die Medien über solche Aufmärsche kaum berichten oder ihre Teilnehmerzahlen eher kleinreden, ist es über die von den Aktivisten genannten Zahlen hinaus schwierig, an unabhängiges Zahlenmaterial zu gelangen. Es lässt sich kaum quantifizieren, wie stark das netto uyoku-PhänoKitada (2005), S. 202. Vgl. auch Murakami (2014). Berndt (2003), S. 211. 219 Zu den Offline-Aktivitäten der netto uyoku vgl. z. B. auch Murakami (2014), S. 169 ff.; vgl. auch Yasuda (2012) und Kitada (2005). 220 Hierbei werden die Aktionen oft per Live Stream direkt im Internet übertragen, um Manipulationen durch die Massenmedien in ihrer Berichterstattung über die Demonstrationen zu unterlaufen. Außerdem wird somit auch die Zahl der Teilnehmer festgehalten, da befürchtet wird, die Medien könnten sie absichtlich kleinrechnen. Neben dem Verteilen von Flugblättern fällt das massive Mitführen japanischer Fahnen auf, Beschilderungen in Japanisch und Englisch (damit soll internationale Aufmerksamkeit für das Anliegen der Protestierenden erzeugt werden) sowie die Teilnahme von Menschen aus allen Altersklassen. Diese Aussagen beruhen auf eigenen Beobachtungen von Demonstrationen sowie den Arbeiten des Historikers Jeffrey Hall, der zu japanischen nationalistischen Internet-Bewegungen forscht. Vgl. Hall (2011). 217
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Abbildung 2: Antikoreanische Demonstration rechter (Internet)Aktivisten in Tôkyô, August 2012 (Foto R.R.)
men insgesamt einzuschätzen ist. Die netto uyoku und die mit ihnen verbundenen „grassroots“-/„Wutbürger“-Bewegungen offline sollten aufgrund ihres radikalen Potentials dennoch nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Als wichtige konzertierte Aktion der netto uyoku in den letzten Jahren können die Proteste gegen den Fernsehsender NHK in den Jahren 2009 und 2010 gesehen werden, die von dem Historiker Jeffrey Hall in seiner Masterarbeit näher dokumentiert wurden 221. Diese Proteste entzündeten sich an der von einigen Zuschauern als tendenziös empfundenen Dokumentation „Eine asiatische Großmacht“ (Ajia no ittô koku), die am 5. April 2009 ausgestrahlt wurde und die japanische Kolonialisierung von Taiwan (1895 – 1945) thematisierte. Die Kritiker der Sendung sahen die gesetzliche Pflicht des Senders zu neutraler Berichterstattung durch die Betonung negativer Aspekte der Kolonisierung in der Dokumentation als verletzt an 222. In einer offiziellen Stellungnahme, zu der sich NHK infolge der Proteste gezwungen sah, bestritt man den Vorwurf der tendenziösen Berichterstattung223. Der Sender sah sich jedoch weiterhin massiven (negativen) Zuschauerreaktionen in Form von Zuschriften und Anrufen ausgesetzt und wurde im Juni 2009 sogar von den Protestierenden verklagt224. Dennoch erfüllten die Proteste nicht ihr Ziel, NHK zu einer Änderung seiner Politik zu veranlassen 225. Die Demonstrationen gegen den Sender erreichten dabei Teilnehmerzahlen zwischen einigen hundert bis zu tausend Menschen 226. Hall (2011). Hall (2011), S. 17. Bereits im Jahr 2001 wurde der Vorwurf der mangelnden Neutralität von NHK im Rahmen einer Dokumentation über die „Trostfrauen“-Thematik laut. Vgl. Hall (2011), S. 11. 223 Ebd., S. 20. 224 Hall (2011), S. 35, S. 37 ff. 225 Ebd., S. 65. 226 Hall (2011), S. 31 f. 221
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Wie Hall herausarbeitet, spielte insbesondere der von dem rechten Filmemacher Mizushima Satoru 227 (*1949) gegründete Fernsehsender „Nihon Bunka Channeru Sakura“, kurz „Channeru Sakura“228, eine zentrale Rolle bei der Verbreitung von Informationen, Mobilmachung und Identitätsstiftung unter den Protestierenden 229. Der Sender berichtete dabei ebenfalls über die Proteste und stellte Bild- und Filmmaterial darüber im Internet zur Verfügung. Auch Abe Shinzô trat im Sender auf und teilte die Sorgen der Protestierenden in vielen Punkten 230. In der den netto uyoku eigenen Art, keine elitäre Deutungshoheit zu tolerieren, spürte der ihnen verbundene Channeru Sakura die in der NHK-Dokumentation auftretenden Zeitzeugen in Taiwan auf und interviewte sie erneut. Dieselben Personen, die sich in der NHK-Dokumentation negativ über die japanischen Besatzer geäußert hatten, gaben nun weitaus positivere Einschätzungen wieder231. Einige Methoden der Channeru Sakura-Reporter erschienen dabei jedoch ihrerseits fragwürdig. Sie interviewten z. B. die mehrheitlich hochbetagten taiwanesischen Zeitzeugen auf Japanisch, wobei die Befragten teilweise sichtliche Verständigungsprobleme erkennen ließen. So waren Situationen unvermeidlich, in denen an zentralen Stellen kaum zu entscheiden war, ob die Befragten das meinten, was sie sagten, bzw. ob ihnen hier nicht Aussagen in den Mund gelegt wurden 232. Im Falle der Proteste gegen Fuji TV richtete sich der Unmut gegen die vermeintlich „prokoreanische“ Ausrichtung des Senders. Die zur Fuji-Sankei-Mediengruppe gehörende Station ist zu Teilen in südkoreanischem Aktienbesitz und strahlt mehrstündige Blocks südkoreanischer Fernsehdramen aus. Die Protestierenden sehen darin eine Indoktrination der Zuschauer. Die zu der Firmengruppe gehörende Zeitung Sankei Shinbun ist allerdings für ihre Rechtslastigkeit bekannt, so dass die ideologische Gemengelage die nationalistischen Proteste gegen den Sender zu einer ins Paradoxe driftenden Aktion macht. 227 Mizushima, aktuell Präsident von Channeru Sakura wurde mit seinem Filmprojekt „The Truth about Nanking“ bekannt, mit dem versucht werden soll, das Nanking-Massaker als chinesische Propaganda-Fabrikation darzustellen. Mizushima positioniert Channeru Sakura dabei als die einzige „im Sinne des japanischen Volkes“ agierende Fernsehstation, die frei von wirtschaftlichen, politischen, religiösen Interessen und ohne den „Druck ausländischer Gruppen“ als ein „grass roots“-Medium (sômô media) die japanische Kultur „beschütze“ und somit als ein „neues NHK“ agieren solle. Vgl. Hall (2011), S. 13. Zu Mizushima vgl. neben Hall (2011) auch Richter (2008b). 228 Der Sender produziert nationalistisch aufbereitete Nachrichtensendungen und macht nach diversen finanziellen Schwierigkeiten, die zu einer zwangsweisen Einschränkung der Sendezeit führten, seine Inhalte auch in großem Umfang im Internet auf Plattformen wie YouTube zugänglich. Hall (2011). 229 Hall (2011), S. 33. 230 Hall (2011), S. 34. 231 Manche von ihnen erklärten, dass sie NHK sowohl Positives als auch Negatives über die Kolonialzeit berichtet hätten und NHK auch mehr von den positiven Aspekten in der Dokumentation hätte einfügen sollen. Ebd., S. 18. 232 Vgl. Hall (2011), S. 25.
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Furuya Tsunehira (*1982), rechter (Internet)aktivist, ehemaliger Herausgeber des seit 2011 erscheinenden Pop-Nationalismus-Magazins Japanizumu („Japanism“) und selbsternannter „Vertreter junger Konservativer“, nahm an Protesten gegen NHK und Fuji TV aktiv teil. Seine Eindrücke und die Motive der Aktivisten zu den Protesten gegen Fuji TV hat er in einem Buch zusammengefasst, das in plakativer Manga-Manier und einfachem Stil vor allem junge Leser ansprechen soll und gleichzeitig auch den Stereotyp des otakuesken netto uyoku bedient. Laut Furuya würden die Fernsehanstalten, obwohl sie doch „japanisch“ seien, nicht die Japaner unterstützen. Stattdessen hätten die Medien sich vollends von der Stimmung des Volkes entfernt, wobei die Gegenwehr des Volkes aus dem Internet heraus begonnen habe233. Furuya fasst auch die üblichen Vorwürfe der Internet-Rechten an der Berichterstattung der Medien zusammen. So würde bei Siegerehrungen die Auszeichnung südkoreanischer Sportler ausführlicher gezeigt, als die japanischer. Zudem sei es bei Spielen japanischer Sportmannschaften vorgekommen, dass man die japanische Hymne herausgeschnitten habe. Auch Fußballspiele Japans gegen Südkorea, bei denen Japan Heimrecht habe, würden mit „Südkorea-Japan“ und nicht mit „Japan-Südkorea“ angekündigt234. Furuya ist dem Dunstkreis von Channeru Sakura zuzurechnen und berichtet von einer ebenfalls beliebten Anekdote der Internetrechten: So sei die japanische Flagge, die vor dem Firmengebäude von Fuji TV wehe, schmutzig und zerschlissen. Und auch als Mizushima und der Ex-General Tamogami Toshio anboten, die Flagge zu ersetzen, habe der Sender dies abgelehnt. Dieser mangelnde Respekt vor „der schönen japanischen Flagge“, auf die „Japaner stolz“ seien, sieht Furuya als weiteres Zeichen für den „Landesverrat“ (baikoku) des Senders235. Dabei bleibt es jedoch nicht immer bei einfachen Protesten gegen die Medien; bei den Internet-Rechten in Ungnade gefallene Journalisten werden auch online wie offline bedroht und beleidigt236. Neben der allgegenwärtigen Medienkritik ist insbesondere auch die Diskussion um den Atomausstieg nach Fukushima zu einem weiteren Aktionsfeld für die Internet-Rechten geworden. Ihre Haltung ist bei diesem Thema jedoch zweigeteilt237. Ein Artikel des rechtslastigen Meinungsmagazins Gekiron griff es in seiner Augustausgabe von 2012 auf, wobei erneut das für die Internet-Rechte typische Thema der Eliten-Kritik deutlich zu Tage trat238. Dem Artikel zufolge fordere ein Teil der netto uyoku den Atomausstieg, da sie den Filz von Stromkonzernen und Politik kritisierten sowie Gefahren der Atomkraft im erdbebenreichen Japan befürchteten. Sie vermuteten sogar, dass die 2012 abgewählte DPJ-Regierung es sich zum Ziel Furuya (2012), S. 4 f. Furuya (2012), S. 22 f. 235 Ebd., S. 60 f. 236 Yasuda (2015), S. 81 f. 237 Vgl. Raddatz (2013b), S. 354 ff. 238 Vgl. Raddatz (2013a). 233
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E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
gemacht haben könnte, Japan durch die Atomkraft „zugrunde zu richten“239. Der mit der Nuklearenergie sympathisierende Teil der Internet-Rechten sieht sich mithin in Opposition zu den Anti-Atom-Aktivisten als „Anti-Anti-Atom-Bewegung“ (han-han-genpatsu)240. Ihre Vertreter fordern ein „starkes Japan“, was u.a. über die atomare Bewaffnung des Landes geschehen soll241. Die Proteste der netto uyoku, bei denen sie ihre Einstellungen auch verstärkt ins „reale“ Leben tragen, zeigen Parallelen zu anderen „Wutbürger“-Protesten weltweit, in denen die Verquickung von Internet und Protest deutlich wurden (z. B. die „Tea-Party“-Bewegung in den USA). Sie machten zudem das Potential des Internet für Mobilisierung und Koordinierung von sozialem Protest erkennbar242. Wie in anderen Ländern, zeigt sich auch in Japan dabei eine scheinbar stärker werdende Diskrepanz zwischen einem vermeintlichen „Volkswillen“, dem Staat und den Medien, weil das Internet, das als Parallelmedium zu den etablierten Massenmedien auftritt, in dieser Hinsicht Chancen und Risiken bietet. Dabei wird spürbar, dass die Massenmedien im Falle der netto uyoku oft kaum auf solche Proteste eingehen und aus der Sicht der Aktivisten immer weniger ihre Rolle als „social glue“ wahrnehmen können oder wollen. Insofern bestärkt die Haltung der diffamierten Medien die rechten Elemente in ihrer Erzählung, der zufolge die Medien bzw. Eliten die „Wahrheit“ vor dem Volk zu „verstecken“ oder zu verschleiern versuchen, um Japan „zu schaden“. Ansätze solche Erzählungen auch politisch auszuschlachten, zeigen sich jedoch nicht nur in Japan, sondern auch weltweit, wie es insbesondere die Trump-Administration eindrucksvoll bewiesen hat („fake news“, „alternative facts“). 7. Von virtuellem Hass zu realer Gewalt – Das Phänomen Zaitoku-kai Zum vielleicht bekanntesten Symbol der neuen Sichtbarkeit des lange Zeit überwiegend in der Anonymität des Internet versteckten netto uyoku-Phänomens ist die rechtsradikale „Bürgervereinigung gegen Sonderrechte von in Japan lebenden Koreanern“ (Zainichi tokken o yurusanai shimin no kai, kurz Zaitoku-kai) geworden. Die Gruppierung wurde 2006 vom rechten Aktivist Sakurai Makoto (*1972, eigentl. Takada Makoto) gegründet, der sich auch mit Vereinigungen wie „Volkskongress gegen das Abschalten der Atomkraftwerke“ (Genpatsu no hi wo kesanai kokuminkaigi) gegen den Atomausstieg positionierte243 und 2016 sogar für das Amt des Gouverneurs von Tôkyô kandidierte. Einen plastischen Eindruck von der kauzigen Art des Radikalen bekam die breitere Öffentlichkeit auch durch sein kurioses und vorzeitig abgebrochenes Aufeinandertreffen mit dem rechtspopulistischen, damaligen Bürgermeister von Ôsaka, Hashimoto Tôru, im Jahr 2014, bei dem es Kaname (2012), S. 29. Raddatz (2013b), S. 361 ff. 241 Yasuda (2012), S. 21. 242 Vgl. hierzu auch Yamaguchi (2013). 243 Yasuda (2012). 239
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fast zum Handgemenge zwischen beiden kam 244. Hashimoto, der durch Aussagen wie die „Trostfrauen waren damals nötig“245 selbst immer wieder für Schlagzeilen sorgte, zeigte bei dem Aufeinandertreffen, dass er von Sakurai wenig hält und behandelte ihn wie einen ungezogenen Schuljungen246. Die Zaitoku-kai, anfänglich mit 500 Aktivisten247 gestartet, zählte um 2015 bereits knapp 15.000 Mitglieder248 und steht für eine zunehmende Radikalisierung und Gewaltbereitschaft der Internet-Rechten, die mitunter Pogromstimmung erreicht249. Sakurai und seine Getreuen bezeichnen Koreaner als „Kakerlaken“ (gokiburi) oder „Milben“ (dani) und fordern dazu auf, sie aus Japan „rauszuwerfen“ (Chôsenjin o tatakidase!)250. Die Dehumanisierung des Gegners erleichtert auch noch radikalere Töne, wie sie bei einigen Aufmärschen aus dem netto uyoku-Umfeld zu vernehmen waren. Der Journalist Yasuda Kôichi (*1964) berichtet von Slogans wie „Schickt die Koreaner in die Gaskammern!“ (Chôsenjin o gasu-shitsu ni okure!)251. Das entsprechende Bildmaterial zu solchen Demos findet sich auf den einschlägigen Seiten im Internet. Das heterogene Teilnehmerfeld solcher Protestzüge sieht sich indessen selbst als „normale Bürger“ (ippan shimin), wobei man keinen Widerspruch zu Parolen wie „Erschießt die Chinesen!“ (Shina-jin o shasatsu shiro!) zu erkennen scheint252. Yasuda Kôichi hat die wohl umfangreichsten Recherchen zur Zaitoku-kai durchgeführt und dabei Sakurai und andere Aktivisten auch interviewt und ihre Aufmärsche verfolgt253. Der Journalist erkennt in Sakurai den Prototypen des „handelnden Konservativen“ (kôdô suru hoshu). Dieser Typ sei dem Journalisten zufolge vergleichsweise neu, da er Demonstrationen als Instrument nutze, die frü-
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https://www.youtube.com/watch?v=RiywljDQFRs (Zugriff: 20. 06. 2016). http://www.bbc.com/news/world-asia-22519384 (Zugriff: 20.06. 2016). 246 Vgl. hierzu auch Yasuda (2015). 247 Higuchi (2012), S. 3. 248 Vgl. Yasuda (2015), S. 42. 249 Vgl. hierzu Yasuda (2015). 250 Yasuda (2012), S. 26.; Yasuda (2015). 251 Yasuda (2015), S. 29, 86. 252 Yasuda weist auch darauf hin wie heterogen sich das Teilnehmerfeld bei netto uyoku-Protesten gestalten kann. So macht er leger gekleidete Jugendliche, junge Büroangestellte, oder auch Hausfrauen im mittleren Alter aus und weist darauf hin, dass diese Protestler so gar nicht dem üblichen Bild radikaler Rechter in Japan entsprechen, die gern mit schwarzen Lautsprecherwagen und Kampfmontur auftreten. Erst an ihren radikalen Parolen werde der Charakter der netto uyoku deutlich. Vgl. Yasuda (2015), S. 68 – 70. Auch Higuchi Naotos Interviewsample mit Aktivisten aus dem Umfeld der Bewegung zeigt ein relativ heterogenes Bild, wobei männliche Aktivisten in den 30ern und 40ern überwogen. Vgl. Higuchi (2012), S. 9. 253 Yasuda (2012); Yasuda (2015). Zur Zaitoku-kai vgl. z. B. auch Higuchi (2012); Yamaguchi (2013); Raddatz (2013b); Murakami (2014). 245
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E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
her eher als Mittel der Linken galten 254. Laut Yasuda stehe bei den netto uyoku eher als das Ziel (mokuteki), das Mittel (shudan) im Vordergrund, wobei das „Schreien“ bei den Protesten bzw. ihre Selbstverherrlichung (eiyû-shi suru koto) zur „patriotischen Bewegung“ (aikoku undô) würden 255. Ähnlich stünden bei Bewegungen wie der Zaitoku-kai das „Handeln“ bzw. die praktische Durchführung im Vordergrund, wobei entsprechend wenig Wert auf Theorie und Form gelegt werde. So hätten die Radikalen gewissermaßen einen neuen Weg gefunden, ohne formale oder ideologische Vorgaben den Hass aus dem virtuellen Raum auf die Straßen zu bringen256. Auch die Anthropologin Yamaguchi Tomomi betont den Performance-Charakter der Protestmärsche, der weniger bei den anwesenden Augenzeugen Aufmerksamkeit erregen soll, sondern vor allem für das Internetpublikum produziert werde. Dabei sollen die extremen Parolen für weitere Effekthascherei sorgen257 und durch die speziellen Mechanismen des Internet vielleicht auch zu einem größeren Phänomen aufgebauscht werden als es tatsächlich ist258. Nicht zuletzt betont Yasuda zudem auch den Beitrag der Zaitoku-kai für die Organisation (soshiki-ka) der netto uyoku zu einer Massenbewegung (taishû undô)259. Andere bekannte rechtskonservative Akteure wie Kobayashi Yoshinori, der gleichsam als Wegbereiter von Pop- und Internetnationalismus zu sehen ist, zeigen sich jedoch als scharfer Kritiker von Bewegungen wie der Zaitoku-kai und deren Diskriminierung von in Japan lebenden Koreanern. Der Mangaka wirft ihnen vor, dass sie von Sonderrechten und Patriotismus redeten, jetzt wo es „Sonderrechte von Koreanern“ gar nicht mehr gebe und wo es auch mit keinem Risiko mehr verbunden sei, von Patriotismus zu sprechen, nur um dies als Ausrede zur Rechtfertigung ihrer Diskriminierungen zu nutzen 260. Und auch der mittlerweile von Mainstream-Medien hofierte Veteran der rechten Szene, Suzuki Kunio, lobt zwar einerseits den geschickten Umgang der Zaitoku-kai mit dem Internet, spricht der Gruppierung jedoch andererseits ab, eine rechte Bewegung zu sein, mit der verblüffenden Begründung, dass es unter Rechten (uyoku) keine ethnische Diskriminierung gebe (minzoku sabetsu)261. 254
Ebd., S. 152. Yasuda (2015), S. 60. 256 Yasuda weist in diesem Zusammenhang auf den rechten Aktivisten Nishimura Shûhei (*1950) und dessen maoistisch konnotierter Betonung auf „Praxis“ hin, die auf Sakurai Makoto einen prägenden Einfluss gehabt habe. Vgl. Yasuda (2015), S. 71 – 73. 257 Vgl. Yamaguchi (2013). 258 Der Soziologe Higuchi Naoto weist darauf hin, das im Internet (etwa bei Videoportalen) besonders Contents mit hohen Clickzahlen Interesse auf sich ziehen, was die Clicks schließlich noch weiter erhöht. Dieser Effekt führt so zur Weiterverbreitung von Inhalten, die man eventuell selbst gar nicht unterstützt. Higuchi (2012), S. 12. 259 Tsuda et al. (2013), S. 20. 260 Kobayashi (2012b), S. 221. 261 Tsuda et al. (2013); Suzuki/Sôda (2013). In ähnlicher Weise wird auch von anderen Kommentatoren suggeriert, dass die xenophoben Auswüchse von klassischem rechten (uyo255
I. Der Nationalismusboom in Sport, Popkultur und Internet
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Higuchi sieht in der Zaitoku-kai zumindest die erste japanische Bürgerbewegung, die Ausländerhass zu ihrem Aushängeschild mache, bezweifelt aber, dass solche ausländerfeindlichen Gruppierungen in Japan in den kommenden Jahren das Ausmaß vergleichbarer Bewegungen in Westeuropa annehmen werden 262. Dennoch, das Phänomen war offensichtlich brisant genug, um bis in die UNO Wellen geschlagen zu haben 263. Mit einer an die japanische Regierung gerichteten Forderung, die Anti-Diskriminierungsgesetzgebung zu stärken, äußerte der UN-Ausschuss zur Beseitigung von Rassendiskriminierung (CERD) in einem Bericht von September 2014 seine Besorgnis über die antikoreanische Hetze rechter Gruppen in Japan, wobei implizit die Zaitoku-kai gemeint war264. Bloß lauwarme Verurteilungen durch Abe Shinzô und die weitgehende Tatenlosigkeit der Behörden konnten dem radikalen Treiben der Zaitoku-kai jedoch wenig Einhalt gebieten. Allerdings können ebenfalls stärker werdende Protestbewegungen auf Bürgerebene gegen die zunehmende Xenophobie in Japan jedoch als positives Signal gewertet werden 265. Yasudas Recherchen zu den netto uyoku verdeutlichen, wie das Internet als „Reservoir“ für Gruppierungen wie die Zaitoku-kai dient, um versprengte Individuen zusammenzuführen, die sonst wohl kaum so leicht zueinander gefunden hätten. Durch verschiedenste Motivationen, etwa aus Krisengefühlen oder genereller Unzufriedenheit gespeist, entdecken diese Individuen durch das Internet die „Wahrheit“, den wahren „Feind“ in Gestalt von Koreanern oder Chinesen, werden sich gleichzeitig auch ihres Patriotismus‘ sowie der Tatsache bewusst, dass es Gleichgesinnte gibt, wobei nach Yasuda, Gruppen wie die Zaitoku-kai für einige ihrer Mitglieder zu einer Heimstatt (ibasho) werden 266. Doch weist der Journalist ebenso auf den oftmals oberflächlichen Charakter dieser zumeist nicht durch reale soziale Beziehungen, sondern durch das Internet ermöglichten Gemeinschaften hin, was sich auch daran zeige, dass sich die Mitglieder, selbst wenn sie sich wiederholt bei Protestveranstaltungen treffen, untereinander oft nur mit ihren Online-Pseudonymen kannten 267. Yasudas Reportagen implizieren, dass gerade auch wachsende Sozialdefizite das netto uyoku-Phänomen nähren, indem die eigene Zukunftsangst und Unzufriedenheit auf vermeintlich bevorzugt behandelte Ausländer abgeladen werden, die über angebliche „Sonderrechte“ verfügten und gemäß klassischer, ausländerfeindlicher Rhetorik Japanern Sozialleistungen und Arbeit wegnehmen. Yasuda zitiert den „PR-Chef“ der Zaitoku-kai, Yoneda Takashi, mit den Worten: „In Japan verku) oder konservativen Denken zu trennen seien, und sie werden entsprechend als davon unabhängig erscheinende Xenophobie (haigaishugi) dargestellt. Vgl. z. B. Yasuda (2015), S. 66 f. 262 Higuchi (2012), S. 3, 8. 263 Vgl. auch Yasuda (2015), S. 236. 264 CERD (2014). 265 Vgl. hierzu auch Tsuda et al. (2013); Yasuda (2015). 266 Vgl. Yasuda (2015), S. 46 – 50, 91. 267 Yasuda (2015), S. 46.
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üben pro Jahr 30.000 Menschen Selbstmord, weil sie an Armut leiden. Aber dass hier lebende Koreaner [zainichi] sich umbringen, davon hat man noch nicht gehört. Das kommt daher, dass sie Sonderrechte [tokken] haben“268. Der Soziologe Higuchi Naoto zweifelt das von Yasuda suggerierte Erklärungsmodell jedoch an und kommt in seinen Interviews mit Mitgliedern der Zaitoku-kai zu anderen Ergebnissen 269. Wenngleich er einräumt, dass seine Daten nicht als repräsentativ für das gesamte netto uyoku-Phänomen gelten könnten und daher nicht auszuschließen sei, dass speziell auch ungebildete und prekäre Schichten Träger des Phänomens sind, so deuten seine Ergebnisse darauf hin, dass im Gegenteil Personen mit „white collar“-Hintergrund und Universitätsbildung überwiegen, die man üblicherweise der Mittelschicht zuordnen würde und daher wirtschaftliche Gründe oder geringe Bildung kaum als Erklärung dienen könnten 270. Dass freilich gerade die Mittelschicht von besonderer Ausdünnung betroffen ist, die sich aufgrund zunehmender Prekarisierungsängste ein Ventil im Ausländerhass suchen könnte, wäre eine Möglichkeit, die von Higuchi nicht weiter beachtet wird. Er bezweifelt indes eine „ursächliche“ Ausländerfeindlichkeit bei der Mehrheit der Aktivisten und kommt zu dem weiterführenden Ergebnis, dass primär ohnehin „patriotisch“ und „konservativ“ ausgerichtete Personen aus Interesse an den bekannten Streitthemen zwischen Japan und seinen Nachbarn China und Südkorea zur Zaitoku-kai gefunden hätten 271. Dabei wollten die Aktivisten jedoch nicht einer klassischen rechten Bewegung beitreten, sondern seien auf der Suche nach einer „konservativen Bürgerbewegung“ (hoshukei shimin dantai) gewesen, wobei sich aus Sicht der Betroffenen die Zaitoku-kai als einzige Alternative anbot272. Laut Higuchi spiele bei diesem Prozess das Internet eine entscheidende Rolle, durch das insbesondere Betroffene, die bisher nichts mit ausländerfeindlichen Bewegungen zu tun hatten, erst von der Existenz solcher Gruppen erfahren hätten und daher ihre Teilnahme ohne das Internet deutlich weniger wahrscheinlich gewesen wäre273. Knapp ein Viertel der von Higuchi Befragten kam eher zufällig über das Internet in Kontakt mit der Zaitoku-kai, ohne gezielt danach zu suchen, wobei eine Mehrheit von fast 40 % aktiv über die Internetrecherche nach alter-
Yasuda (2015), S. 58, 187 f. Higuchi (2012). Higuchi hat für seine Studie insgesamt 33 Personen befragt, davon 25 Mitglieder der Zaitoku-kai und acht Personen aus anderen vergleichbaren Gruppierungen. 270 Higuchi (2012). 271 Higuchi (2012). Interessant ist bei Higuchis Daten auch, dass eine Mehrheit von 54 % bisher noch nie Kontakt zu Ausländern hatte und von denen mit Kontakten nur 3 Personen (10 %) schlechte Erfahrungen gemacht haben. Vgl. Higuchi (2012), S. 12 f. 272 Higuchi (2012). 273 Wenngleich die Mehrheit vorher nicht in rechten Bewegungen aktiv war, engagierten sich immerhin 24 % der 33 Befragten schon vorher in anderen rechten Gruppierungen aktiv. Higuchi (2012), S. 10. 268
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nativen Informationen, die in den Massenmedien nicht berichtet würden, auf die Zaitoku-kai stießen 274. Die Zaitoku-kai ist mithin ein anschauliches Beispiel dafür, wie Rechte verstärkt das Internet für sich zu nutzen wissen bzw. wie auch umgekehrt die lange Zeit auf das Internet beschränkten netto uyoku seit einigen Jahren verstärkt „offline“ im Straßenbild sichtbar werden 275. Der Extremismus von Gruppen wie der Zaitoku-kai, die sich selbst oft als „Bürgerbewegungen“ bezeichnen, bestätigte allerdings, wie sich die in den virtuellen Sunsteinschen „Echo Chambers“ verengte Weltsicht zu einem explosiven Mix radikalisiert und die Betroffenen auf die Straßen treibt. Wie auch die teilweise widersprüchlichen Ergebnisse von Yasuda und Higuchi zeigen, ist immer noch wenig darüber bekannt, wer die netto uyoku sind und was sie zu Korea- oder China-Hassern werden lässt. Die Funktion des Internet und seiner Mechanismen kann dabei nicht genug betont werden. Es ist offenbar nicht nur zentraler „Auslöser“, sondern auch das unerlässliche Mittel zur Rekrutierung, Kommunikation, Vernetzung, Organisation und Propaganda der Internet-Rechten, das als ideal erscheinende Alternativ-Realität zu den etablierten Massenmedien zelebriert und ausgebaut wird. 8. Der wachsende Einfluss der netto uyoku – „nützliche Idioten“ für den neoliberalen Umbau Japans? Verstörend ist, dass die Zaitoku-kai keineswegs als Randphänomen abgetan werden kann. Die Vereinigung unterhält undurchsichtige Verknüpfungslinien zu führenden Politikern der LDP. So befand sich Inada Tomomi zusammen mit anderen Parlamentariern unter den Teilnehmern einer Veranstaltung der 2011 gegründeten revisionistischen Vereinigung „Nadeshiko Akushon/Japanese Women for Justice and Peace “276. Laut ihrer Homepage hat die Gruppierung sich das Ziel gesetzt, einen „Schlusspunkt unter die Lüge zu setzen“, dass die „Trostfrauen“ „Sexsklaven“ gewesen seien 277. Vorsitzende dieser Gruppierung ist die ehemalige Büroleiterin der Zaitoku-kai, Yamamoto Yumiko278. Auch Yamatani Eriko (*1950), damaliges Mitglied in Abes Kabinett, mit Nähe zur rechten Nippon Kaigi, machte 2014 international Schlagzeilen 279, weil sie sich (angeblich unwissentlich) auf einem Foto zusammen mit dem ehemaligen Vorstand der Zaitoku-kai, Masuki Shigeo (*1952), abbilden ließ280. Etwas weniger hohe Wellen schlug dabei die Tatsache, dass im Higuchi (2012). Raddatz (2013b), S. 361. 276 Yasuda (2015), S. 253. 277 http://nadesiko-action.org (Zugriff: 20. 06. 2016). 278 Yasuda (2015), S. 253. 279 http://www.reuters.com/article/us-japan-politics-photos-idUSKBN0HD0KN201 40918?feedType=RSS&feedName=worldNews (Zugriff: 20. 06. 2016). 280 Vgl. auch Yasuda (2015), S. 250; Nakano (2015). 274
275
248
E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
Internet auch ein freundschaftlich vertraut anmutendes Foto von Masuki und Abe Shinzô kursiert281. Über den tatsächlichen Einfluss von Gruppen wie der Zaitoku-kai auf die Politik kann nur spekuliert werden. Laut Yasuda nähere sich die Zaitoku-kai jedoch nicht der Politik an, sondern die Politiker näherten sich im Gegenteil der Gruppierung an 282. Wie einige Beiträge283 nahelegen, nutzen Abe Shinzô und seine LDP ganz bewusst das Internet verstärkt, zum einen um generell jüngere Wählerschichten anzusprechen, zum anderen, um speziell auch die netto uyoku als Unterstützerschicht zu binden. Neben Abes Verwendung von Social Media, mit der er seine „Nähe zum Volk“ demonstrieren will, findet sich auch auf dem von den netto uyoku frequentierten Videoportal Nico Nico Dôga Werbung der LDP284, die hier wohl ihre Zielgruppe erkennt. Dass sich Abe wie erwähnt in die Affäre um die Berichterstattung der Asahi Shinbun über die „Trostfrauen“ einmischte, rechte Getreue wie Hyakuta Naoki im halbstaatlichen Sender NHK platzierte oder in netto uyoku-Organen wie Channeru Sakura auftritt, relativiert nicht nur sein Verständnis von Pressefreiheit, sondern ist insbesondere auch Ausdruck eines Versuchs, sich bei den Internet-Rechten beliebt zu machen, deren Feindbild die vermeintlich „antijapanischen“ Massenmedien sind. Die Strategie der LDP geht indessen noch deutlich weiter. Der Partei angeschlossen ist der „LDP Net Supporter Club“ (Jimintô netto sapôtâzu kurabu, kurz J-NSC), eine Vereinigung von über 10.000 Freiwilligen 285. Dass die J-NSC angeblich mit netto uyoku durchsetzt ist und LDP-nützliche Internetpropaganda auch gegen die Opposition betreibt, wird von einigen Kommentatoren suggeriert286. Unter anderem mit Hilfe der J-NSC durchforstet die LDP das Internet auch aktiv, um Trends und Stimmungen zu analysieren, wobei man, wenn möglich, auf die Löschung LDP-kritischer Kommentare hinwirkt287. Der seit jeher unter den Internet-Rechten beliebte Abe hat das Potential der netto uyoku für seine Zwecke erkannt. So sind sie ihm und seiner LDP nicht nur als Propaganda-Truppe dienlich, sondern im Rahmen seines Rechtspopulismus als willige Unterstützerklientel auch leicht formbar. Umso mehr dient dies freilich auch Abes Vision des „schönen Japan“, das, wie erkennbar wurde, ein soft-autokratisches und neoliberales Japan ist, für dessen Realisierung er den Nationalismus in einer Doppelfunktion als Wegbereiter sowie zugleich als sozialen Kitt für die entstehenden Schäden benötigt.
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http://www.nikkan-gendai.com/articles/view/news/153627/4 (Zugriff: 20. 06. 2016). Yasuda (2015), S. 254. 283 Vgl. hierzu z. B. Tsuda et al. (2013). 284 Tsuda et al. (2013), S. 26 285 Tsuda et al. (2013), S. 39. 286 Vgl. Tsuda et al. (2013), S. 40 ff. 287 Vgl. Tsuda et al. (2013), S. 40 ff. 282
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Daten von Miura Atsushi dürften der LDP-Strategie Recht geben. Er zeigt auf, dass traditionelle Medien wie Zeitung und Fernsehen in der jüngeren Generation von 20 – 34 Jahren zunehmend dem Internet weichen. Gerade die junge Unterschicht, der Miura gern rechte Tendenzen nachsagt (vgl. Kap. E. II.), ist durch etablierte Medien wie Fernsehen und Zeitung kaum mehr zu erreichen. Hier schauen 44 % kein Fernsehen und 65 % lesen keine Zeitung, stattdessen sind Internet-Plattformen wie Nico Nico Dôga beliebt288. Zwar ist unter denen, die keine traditionellen Medien, sondern primär das Internet nutzen, einerseits auch die Zahl der Nichtwähler hoch, andererseits zeigen Miuras Daten, dass von jenen Internet enthusiasten, die wählen gehen, besonders die LDP und mit Abstrichen auch die mittlerweile in der Demokratischen Partei (Minshintô) aufgegangene „Restaurationspartei“ (Ishin no tô), also insgesamt konservative Parteien profitieren 289. In der Konstellation von etablierten Medien und Internet, Establishment und Opposition bahnt sich immer deutlicher ein möglicher Paradigmenwechsel an. Das Aufkommen der netto uyoku ab Anfang der 2000er Jahre hat zunächst gezeigt, wie die von den Medien repräsentierte Realität zunehmend durch die im Internet formulierten, alternativen „Wahrheiten“ infrage gestellt wurde. Diese Entwicklung wurde freilich durch die Diskurse revisionistischer Intellektueller befeuert, die schon seit den 1990er Jahren einer „masochistischen“ und von „Eliten“ aufgezwungenen Geschichtssicht ihre Version einer von allem Ballast gereinigten Geschichte „des Volkes“ entgegensetzten. In der Konsequenz konnte sich gerade mit Hilfe des Internets eine Art oppositioneller, (vermeintlich) antielitärer und oftmals auch widersprüchlicher „Gegennationalismus“ bilden, der mitunter in Konkurrenz zum etablierten Nationalismus in Medien, Politik und Wirtschaft trat. Dieses Establishment vertrat den status quo der Nachkriegsordnung (wenn auch nicht aus immer aus Überzeugung, sondern aus Pragmatismus). Der alternative Nationalismus „von unten“ blieb jedoch zunächst ohne eine nachhaltige Verknüpfung „nach oben“, wenngleich es, wie es etwa Saaler aufzeigt, freilich von Anfang an, gerade auch in konservativen Politikkreisen, treibende Kräfte hinter der Installation des revisionistischen Geschichtsbildes gab, deren Einfluss auf die Regierungspolitik, wie gesehen, unter Abe einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat290. Abe und seine Partei haben dabei aktiv versucht, ihren konservativ-neoliberalen Kurs über das Scharnier eines bisher ungekannten Rechtspopulismus mit diesem alternativen und revisionistischen Nationalismus „von unten“ für ihre Zwecke zu vereinen. Das Geschichtsbild revisionistischer Intellektueller, das auch die Parallelrealität der netto uyoku speist und auf der Sichtweise beruht, dass Japan – wie am Beispiel Kenkanryû gezeigt – das Opfer ist, das in seiner Geschichte „nichts Böses“ getan hat, droht dabei selbst immer mehr zur etablierten „Realität“ zu werden, ein ProMiura (2015), S. 146 – 160. Ebd., S. 158 – 160. 290 Vgl. auch Saaler (2016), S. 175. 288 289
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zess, der durch die konservative Lenkung des Diskurses, die Unterwanderung der Massenmedien und nicht zuletzt die revisionistisch geprägte Abe-Regierung selbst befördert wird. Die Sicht von Japan als „Aggressor“ droht somit zur belächelten „Parallelrealität“ degradiert zu werden. Da das Internet zumindest vorläufig fortfährt, die etablierten Medien immer mehr abzulösen, könnte Abes Symbiose mit den netto uyoku den ideologischen Paradigmenwechsel in Japan womöglich beschleunigen.
II. Der Diskurs der „Lost Generation“ – Zwischen Armut und Nationalismus 1. Japan auf dem Weg zur „Unterschichtsgesellschaft“? Die Hochwachstumsphase (1955 – 1972) schuf einen weitreichenden Massenwohlstand, der die Grundlage für die Vorstellung von Japan als „Mittelstandsgesellschaft“ ohne größere soziale Differenzen herausbildete. Die Mehrheit der Menschen hätte sich demnach selbst der Mittelschicht zugeordnet, und gerade auch der japanischen Regierung diente diese Wahrnehmung als Garant für politische Stabilität291. Wie der Japanologe David Chiavacci ausführt, sei das Mittelschichtsbewusstsein seit den 1970er Jahren sogar als „distinktiv japanisch“ betrachtet worden – jedoch erneut ohne tiefergehende empirische Basis292. Um die Jahrtausendwende begann diese ideologische Fassade japonesker Sozialgerechtigkeit jedoch erste Risse zu zeigen, die sich in den vergangenen Jahren erweitert und vertieft haben. Autoren wie der Ökonom Tachibanaki Toshiaki (*1943), der in seinem vielrezipierten Buch von 1998293 ungleiche Gehaltsverteilungen in Japan aufdeckte, waren um die Jahrtausendwende die ersten, die den Diskurs294 um die sozialen Differenzen konkret anstießen. Zu den Kernformeln gehören hier die „in Fluss geratene Gesellschaft“ (shakai no ryûdôka), der von dem Soziologen Yamada Masahiro (*1957) geprägte Begriff „Differenzgesellschaft“ (kakusa shakai) oder auch die von Miura Atsushi 2005 ausgerufene „Unterschichtsgesellschaft“ (karyû shakai)295. Schad-Seifert (2007), S. 105. Chiavacci (2008), S. 10. Denn problematisch ist beispielsweise auch, dass der Mythos der Mittelschichtsgesellschaft weniger auf objektiver Beurteilung basiert, sondern vielmehr auf dem subjektiven Klassenbewusstsein des Einzelnen. Dazu geben die zugrundeliegenden Studien meist fünf Antwortmöglichkeiten zum Klassenbewusstsein vor, von denen alleine drei Mittelschichtskategorien sind (untere, mittlere, obere Mittelschicht), womit freilich die überwiegende Mehrheit der Befragten dazu tendieren wird, sich nicht in Ober- oder Unterschicht, sondern in eine der Mittelschichtsklassen einzuordnen. Vgl. hierzu auch Chiavacci (2008), S. 10 f.; Shirahase (2010). 293 Tachibanaki (1998). 294 Für zusammenfassende Betrachtungen des Diskurses über wachsende soziale Differenzen in Japan, sei unter anderem auf die Artikel von Schad-Seifert (2007), Chiavacci (2008) und Shirahase (2010) verwiesen. 295 Yamada (2004); Miura (2005); Miura (2007); Miura (2015). 291
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II. Der Diskurs der „Lost Generation“ – Zwischen Armut und Nationalismus
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Die so angestoßene Diskussion hat sich um die Mitte der 2000er Jahre zu einem lebhaften Medien- und Wissenschaftsdiskurs entwickelt, in dem gern von den „Gewinnern“ (kachigumi) und „Verlierern“ (makegumi) im Prozess wachsender Differenzen gesprochen wird. Miura etwa untersucht auch den Einfluss der Prekarisierung auf das Konsumverhalten und versucht sich an einer Charakterisierung von Konsumpräferenzen in den verschiedenen Sozialschichten 296. Der Soziologe erkannte dabei zehn Jahre nach seiner ersten Studie von 2005 in einer Folgestudie von 2015 eine Verschärfung sozialer Differenzen, wobei die Zahl der Befragten, die sich als Unterschicht (karyû) einordnet, mit 43 % jene die sich als Mittelschicht sieht (36 %) merklich übertrifft. Laut Miura sei dieses Resultat vergleichbar mit dem Klassenbewusstsein zur Anfangszeit der Hochwachstumsphase um 1960297. Auch internationale Vergleichsstudien haben zunehmende Sozialdefizite in Japan aufgezeigt. Die OECD kam zu dem Ergebnis, dass relative Armut (inkl. Kinderarmut) und Einkommensungleichheit in Japan seit den 1980er Jahren stärker als im OECD-Durchschnitt gestiegen sind 298. Während Japans Armutsrate Mitte der 1980er noch bei 12 % lag299, wies das Land 2012 mit 16.1 % die sechsthöchste Rate relativer Armut unter den 34 Mitgliedern auf und lag damit weit über dem OECD-Mittelwert von 11,5 %300. Zudem werden anhand von OECD-Daten auch Veränderungen in den Einkommensqualitäten zwischen 1985 und 2008 deutlich. Dabei wird jedoch auch im Vergleich mit den anderen Mitgliedsstaaten erkennbar, dass die gerechte, „unterschiedslose“ japanische Gesellschaft schon in den 1980ern nicht viel mehr als ein Mythos war. Japan war im Grunde weitaus ungleicher als z. B. Deutschland oder die skandinavischen Länder. Gleichzeitig sind die Unterschiede in Japan allerdings nicht so drastisch gewachsen wie in Deutschland (2008 etwa auf dem Niveau Japans von 1985), Finnland oder Schweden301.
Miura (2005); (2007); (2015); vgl. hierzu auch Schad-Seifert (2007). seiner Studie von 2005 war bereits die Zahl der Befragten, die sich als Unterschicht einordneten mit 39 % in etwa gleich groß wie jene, die sich als Mittelschicht bezeichneten (38 %). Miura (2005). In der Studie von 2015 überwiegt unter männlichen Befragten insbesondere in den Alterskohorten der 20 – 24-Jährigen, 30 – 34-Jährigen, 40 – 44-Jährigen und der der über 50-Jährigen der Anteil derjenigen, die sich als Unterschicht bezeichnen. Bei den weiblichen Befragten sind es ebenfalls die 20 – 24-Jährigen, 30 – 34-Jährigen, 40 – 44-Jährigen sowie die 50 – 54-Jährigen und 60 – 64-Jährigen. Vgl. Miura (2015), S. 3 – 7. Auch Miuras Daten basieren auf einer Selbsteinordnung der Befragten in Ober-, Mittel- und Unterschicht. 298 OECD (2006), S. 31, 110 ff. 299 Ebd. 300 Der Bericht definiert die Rate für relative Armut (relative poverty rate) als „(…) share of the population with an income below half the ‚median equivalent disposable income‘, which equals household disposable income divided by the square root of the number of household members“. OECD (2015), S. 30. 301 Vgl. OECD Database on Household Income Distribution and Poverty: http://dx.doi. org/10.1787/888932535185 (Zugriff: 20. 06. 2016). 296
297 In
252
E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
In unmittelbarer Beziehung zu den wachsenden sozialen Differenzen stehen weitreichende Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Seit Ende der 1980er Jahre und insbesondere in der Rezession nach dem Platzen der Bubble 1990 haben sich in Japan vermehrt unsichere, nichtreguläre Beschäftigungsformen ausgebreitet, die Firmen eine Flexibilität bieten, die sie bei ihrer gesetzlich stark geschützten, regulären Belegschaft schwer realisieren können302. Zu diesen nichtregulären Formen zählen vor allem Zeitarbeiter (haken shain) und die bereits erwähnten Freeter. Schon im Jahr 2001 gab es 4,2 Millionen Freeter – das entsprach damals 21,2 % unter den 15- bis 35-Jährigen303. Im Jahr 2006 war bereits ein Drittel aller Beschäftigung in Japan nicht regulärer Natur und 2014 lag der Anteil bei 37 %304. Dabei werden rund 70 % der regulären Arbeit von Männern ausgeübt und ebenfalls 70 % der nicht regulären Arbeit von Frauen305. Hierbei zeigen sich nicht nur große Einkommensunterschiede zwischen regulären Vollzeitbeschäftigten und nicht regulär Beschäftigten wie Freetern, sondern zudem auch Probleme wie schwach ausgeprägte, soziale Sicherung und limitierte Möglichkeiten, über nicht reguläre Beschäftigung an einen Vollzeitjob zu kommen306. Dabei treffen die globalisierungsbedingt wachsende Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt sowie Einkommensungleichheiten vor allem jüngere Arbeitnehmer bzw. Berufsanfänger307, so dass auch in dieser Debatte zunächst erneut die junge Generation in den Fokus rückte. Dabei ergeben sich, wie noch auszuführen ist, zahlreiche Verknüpfungen zur oben behandelten Diskussion über den Jugendnationalismus. Im Diskurs hielt sich lange das Bild einer „faulen Jugend“, die angeblich freiwillig das Freeter-Dasein anstrebte. In offiziellen Papieren wurden Freeter gar als „beschämendes“ Phänomen bezeichnet308, obwohl die Regierung freilich selbst den Anstieg nicht regulärer Beschäftigung mit zu verantworten hat. Auch Kommentatoren wie Miura etwa charakterisierten Freeter als Personen, die zwecks Selbstsuche ( jibun sagashi) keine feste Beschäftigung ausüben wollen und nur eine für sie als passend empfundene Arbeit anstreben309. Miura erkennt zudem Passivität und fehlenden Willen (iyoku) als prägnante Merkmale der Prekarisierung, deren besonderes Fortschreiten er unter den zweiten Babyboomern (dankai junia, Jahrgänge
Vgl. zum Aspekt der Beschäftigungsflexibilität auch OECD (2015). Schad-Seifert (2007), S. 118. 304 Chiavacci (2008), S. 23; MIC (2015), S. 130; OECD (2015), S. 20. 305 MIC (2015), S. 130; OECD (2015), S. 16. Während laut dem japanischen Statistikbüro (MIC) die Zahl der Frauen, in nicht regulären Beschäftigungsverhältnissen mit dem Alter zunimmt, ist sie bei den Männern in den Alterskohorten der 15 – 24-Jährigen und über 55-Jährigen am höchsten. MIC (2015), S. 130. 306 OECD (2015), S. 33. 307 Vgl. Buchholz et al. (2008). 308 Genda (2005), S. 52. 309 Miura (2007), S. 41. 302
303
II. Der Diskurs der „Lost Generation“ – Zwischen Armut und Nationalismus
253
1971 – 1974) offenlegt und mit einem generationsbedingt schwach ausgeprägten Aufstiegswillen in Verbindung bringt310. Andere Wissenschaftler wie Genda Yûji (*1964) und Kosugi Reiko (*1952) sehen das Freeter-Phänomen differenzierter. Ersterer unterscheidet zwischen drei Freeter-Typen: a) der „Träumer-Typ“ der sich weitgehend mit Miuras Beschreibung deckt, b) der „Moratoriums-Typ“, der in Teilzeit arbeitet, bis er entschieden hat, was er im Leben tun will, c) Personen, die keine andere Alternative hatten, als Freeter zu werden311. Kosugi zeigt mit ihrer Studie wiederum, dass sich in Bezug auf die Jugend zwar grundlegende Kategorien herausarbeiten lassen, diese sich aber ihrerseits in zahlreiche Facetten gliedern312. Erst gegen Ende der 2000er Dekade hat sich das Freeter-Bild etwas gewandelt, nachdem immer mehr Berichte über die teilweise prekäre Lebenssituation von nicht regulär Beschäftigten bekannt wurden, die durch die schwierige Situation auf dem Arbeitsmarkt keine andere Chance hatten, als nicht reguläre und damit höchst unsichere Beschäftigungen anzunehmen. Hierbei wurde verstärkt auch von Seiten der Medien auf die Situation der sogenannten „Lost Generation“ aufmerksam gemacht, die üblicherweise die Jahrgänge der in der Dekade zwischen Anfang der 1970er und 1980er Jahre Geborenen umfasst. Diese Generation drängte im Post-Bubble-Japan während der sogenannten „Eiszeit für Jobsuchende“ (shûshoku hyôgaki) auf den Arbeitsmarkt, als es wegen der anhaltenden Rezession mit enormen Schwierigkeiten verbunden war, eine reguläre Beschäftigung zu finden313. Denn viele Unternehmen neigten dazu, im Rahmen ihrer Restrukturierungen eher auf Neueinstellungen zu verzichten, als ihre alternde Belegschaft vor die Tür zu setzen314. Dabei zeigen auch die Beiträge des Soziologen Yamada Masahiro Risse im Bild einer jungen Generation, die aus Freiheitsdrang oder Eigensinn die Vollzeitbeschäftigung scheut. Yamada erkennt im Gegensatz dazu bei diesem Thema oder auch bei weiblichen Rollenbildern (Beruf vs. Hausfrau) sogar einen Ruck ins Konservative315. Er beschreibt die schwindende Risikobereitschaft der jungen Generation und deren wachsendes Bedürfnis nach Stabilität, was er an Studien festmacht, die bestätigen, dass die Jugend wieder verstärkt dazu bereit ist, ihr ganzes Leben bei nur einer Firma zu arbeiten316. Da es diese Art von Sicherheit auf dem japanischen Arbeitsmarkt allerdings immer weniger gibt, erkennt er eine Umkehrung von Realität und Wunsch und sieht einen diametralen Wandel zu den 1980ern, in Miura (2005), S. 5 – 8, 88 f.; Miura (2015). Genda (2005), S. 52. 312 Kosugi (2008). 313 Vgl. hierzu z. B. Asahi Shinbun „Rosuto Jenerêshon“ Shuzaihan (2007); Suzuki (2008), S. 21 ff. 314 Genda (2005). 315 Yamada (2009). 316 Ebd., S. 10 ff. 310 311
254
E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
denen eine Vollzeitbeschäftigung ohne Probleme zu bekommen war, die Jugend sich aber stattdessen nach einer freieren Lebensweise gesehnt habe317. Neben solchen wissenschaftlichen Beiträgen trugen insbesondere auch (ehemals) Betroffene zur Revision des Bildes von der „faulen Jugend“ bei, die ihre Situation vermeintlich selbst verschuldet hat. Essayisten wie Amamiya Karin (*1975) oder Akagi Tomohiro (*1975), die sowohl zur „Lost Generation“ als auch zu den zweiten Babyboomern (dankai junia) gezählt werden können und somit aus der Kerngeneration stammen, die den Fokus dieser Debatte bildet, sind selbst ehemalige Freeter und haben durch das von ihnen hervorgerufene Medienecho auf die Probleme der Jugend auf dem Arbeitsmarkt aufmerksam gemacht. Mit ihren nachfolgend eingehender diskutierten Beiträgen konnten sie zusätzlich eine zwischen Armut und Nationalismus erkennbar werdende Korrelation verdeutlichen. Das netto uyoku-Phänomen sowie der Erfolg nationalistischer Popkultur wurde in Teilen des Diskurses einem bestimmten Teil der Jugend zugeschrieben, d.h. jenen, die von der Unsicherheit des Arbeitsmarktes betroffen sind318, woraus schließlich das Bild vom nationalistischen Freeter bzw. nicht regulär Beschäftigten hervorging. Auch Miura Atsushis Studie von 2007 kann teilweise in diese Richtung gedeutet werden, in der er nicht nur unter männlichen, nicht regulär Beschäftigten wie Freetern oder Zeitarbeitern hohe Nutzungswerte des als latent nationalistisch geltenden Internetforums 2channeru aufzeigt, sondern insbesondere im männlichen Prekariat auch starke Ressentiments gegen China oder Südkorea beschreibt – Miura spricht hier von einem nicht auf das eigene Land gerichteten „negativen“ Nationalismus319. Gleichzeitig stellt er auch in bestimmten Alterskohorten von männlichen Zeitarbeitern und Arbeitslosen eine starke Japan-Unterstützung beim Sport fest320. In seiner Studie von 2015 zeigt er erneut bei gleichzeitig auch in der Mittel- und Oberschicht verbreiteten Ressentiments gegen Ausländer besonders in der Unterschicht mit 25 % eine hohe, allgemeine Ablehnungshaltung gegen Ausländer auf 321. Dienen die Nachbarländer, ja generell das Ausland demnach also als Ventil für das Abladen eigener Frustrationen oder sind solche Ressentiments, wie Miura mutmaßt, Zeichen der Angst, den eigenen Arbeitsplatz an Ausländer zu verlieren322? 317
Ebd., S. 15 ff. Itagaki (2007); Takahara (2006); Suzuki (2008), S. 31 f. 319 Vgl. Miura (2007), S. 43 f., 155 – 159. Der Soziologe führt unter 30 bis 34-Jährigen Zeitarbeitern Umfragewerte von 61,5 % an, die angaben, China zu hassen und 53,8 %, die Südkorea hassen. Im Hinblick auf die 2channeru-Nutzung befragte Miura insgesamt 1170 männliche Personen zwischen 20 und 44 Jahren, von denen 36,9 % 2channeru nutzten. Nach Beschäftigung aufgeteilt (die Samplezahl sinkt dadurch erheblich), ergab sich unter 25 – 29-Jährigen Freetern ein Nutzeranteil von 77,3 % und unter 30 – 34-jährigen Zeitarbeitern ein Anteil von 61,5 %. Unter 20 – 24-Jährigen Freetern lag der Anteil „nur“ bei 40,7 %. Miura (2007), S. 43 f. 320 Miura (2007), S. 159. 321 Vgl. Miura (2015), S. 134 – 137. 322 Vgl. ebd., S. 134 f. 318 Vgl.
II. Der Diskurs der „Lost Generation“ – Zwischen Armut und Nationalismus
255
Stärke der Japanliebe nach Lebensstandard 90% 80%
77%
70%
65%
60%
56% 50%
50% 38%
40%
45%
46%
38%
30%
30% 20%
15% 8%
10% 0%
48% 42%
Oberschicht
15% 5%
6%
Obere Mittelschicht
Mittlere Mittelschicht
stark/eher stark
schwach/eher schwach
9%
8%
Untere Mittelschicht
Unterschicht
Weiß nicht
weder noch (ich weiß es nicht)
Grafik 7: Studie des Kabinettsbüros von 2015 – „Stärke der Japanliebe“ (Aufschlüsselung nach Lebensstandard)323
Neben solch latent nationalistischen Tendenzen weisen männliche Freeter und Zeitarbeiter in Miuras Studien zudem noch ein Otaku-artiges Verhalten auf 324. Ihm zufolge gibt es beim Prekariat auch hinsichtlich der Freizeitgestaltung geschlechtsspezifische Unterschiede. Insbesondere Männer zeigen demnach die Tendenz, sich komplett zurückzuziehen, ihre Zeit mit Handy und PC zu verbringen, im Internet zu surfen oder sich Videospielen hinzugeben, wohingegen die Hobbies der Frauen eher noch auf eine kreativere Freizeitgestaltung hindeuten325. 323
Gleichzeitig erzielen in Miuras Studie die sich als Oberschicht einordnenden männlichen Befragten die höchsten Werte bei eher „auf Japan gerichteten“ Kategorien wie Patriotismus oder Stolz auf die japanische Geschichte. Dabei werden jedoch teilweise auch unter Geschäftsführern oder Managern hohe Werte beim China- und Korea-Hass registriert326, was eine allzu pauschale Einordnung des Phänomens erschwert. Andere Wissenschaftler bezweifeln gar einen signifikanten Zusammenhang zwischen den wachsenden sozialen Unterschieden und dem Natio nalismusphänomen z. B. im Internet, das sich meist gegen die Nachbarn Südkorea und China richtet327. Kitada Akihiro etwa führt Daten an, die unter 20- bis 35-Jährigen erhoben wurden und die Stärke des Patriotismus messen. Hier zeigt das Ergebnis, dass Patriotismus umso stärker wird, je besser die persönliche Lebenssitu323
http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-shakai/4.html (Zugriff 20. 06. 2016). Raddatz (2008), S. 95. 325 Vgl. Miura (2005), S. 178 – 184. 326 Vgl. Miura (2007), S. 157 f. 327 Vgl. Azuma/Kitada (2008); Suzuki (2008), S. 31 – 41. 324 Vgl.
E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
256
Männliche Befragte 80% 70%
69%
60%
53%
60% 50%
39%
40% 30% 20%
8%
8%
Reguläre Angestelle
Nichtreguläre Angestelle
3%
10% 0%
32%
28%
Vorstand/Geschäftsführer
sehr stark/eher stark
schwach/eher schwach
weder noch (ich weiß es nicht)
Weibliche Befragte 80% 70%
66% 52%
60% 50%
41%
32%
40% 30% 20% 10% 0%
2% Vorstand/Geschäftsführer
sehr stark/eher stark
50%
44%
7%
7%
Reguläre Angestelle
Nichtreguläre Angestelle
schwach/eher schwach
weder noch (ich weiß es nicht)
Grafik 8: Studie des Kabinettsbüros von 2015 – „Stärke der Japanliebe“ (Aufschlüsselung nach Beschäftigung und Geschlecht der Befragten)329
ation ist. Unter den Personen, die ihre Lebensumstände als prekär bezeichneten, waren dementsprechend auch die meisten „Nicht-Patrioten“ zu finden328. Auch die Studie des Kabinettsbüros330 von 2015 unterstützt eher Kitadas Ergebnisse. Bei der Frage nach dem Grad der Japanliebe (kuni o ai suru kimochi no teido) zeigt sich bei einer Aufschlüsselung nach dem Lebensstandard331 (seikatsu no teido) – was dem Design der von Kitada angeführten Umfrage ähnelt – dass Patriotismus mit wachsendem Lebensstandard ansteigt und sich mit sinkendem Standard entsprechend abschwächt (Grafik 7). Diese Korrelation bleibt zwischen den Geschlechtern konsistent und fällt auch in den Alterskohorten der 20- bis 39-Jährigen ähnlich aus. In dieser Altersgruppe, in der auch die Freeter zu finden sind, ist die Zustimmung 329
Azuma/Kitada (2008), S. 262 f. http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-shakai/4.html (Zugriff 20. 06. 2016). 330 http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-shakai/4.html (Zugriff 20. 06. 2016). 331 http://survey.gov-online.go.jp/h26/h26-shakai/4.html (Zugriff 20. 06. 2016). 328 329
II. Der Diskurs der „Lost Generation“ – Zwischen Armut und Nationalismus
257
zur Antwortkategorie „schwach/eher schwach“ mit 23 – 25 % sogar am höchsten. Überdies ist die Zahl derjenigen, die in ihrer Japanliebe unentschlossen sind, in der Oberschicht gering und zwischen mittlerer Mittelschicht und Unterschicht am stärksten, wobei Frauen in dieser Frage generell unentschlossener sind als Männer332. Bei einer Aufschlüsselung der Kabinettsbüro-Daten nach Art der Beschäftigung (vgl. Grafik 8), bezeichneten zusammengenommen 69 % der männlichen Personen, die in geschäftsführenden Funktionen tätig waren, ihre Liebe zu Japan als „sehr stark“ oder „eher stark“, was die größte Zustimmung bedeutete und erneut die Korrelation von Patriotismus und wirtschaftlichem Status bestätigt. Gleichzeitig bildeten hier jedoch die nicht regulär Beschäftigten die zweitgrößte Gruppe mit einer Zustimmung von 60 % und waren damit patriotischer als regulär Beschäftigte (53 %), was Miuras Thesen unterstützen könnte. Auch bei den Frauen in leitenden Positionen war die „Japanliebe“ am stärksten (66 %), jedoch fielen die Unterschiede zwischen regulären und nicht regulären Angestellten geringer aus und beide Gruppen zeigten sich auch im Vergleich zu den Männern deutlich unpatriotischer bei gleichzeitig hoher Unentschlossenheit. Insgesamt besteht also begründeter Anlass, starken Patriotismus mit einem guten Einkommen bzw. gesellschaftlichen Status sowie sinkenden Lebensstandard mit entsprechend abnehmender Japanliebe zu verknüpfen. Allerdings sollten gewisse Indizien in Miuras Daten nicht unbeachtet bleiben, die – eher bei Männern – Verbindungen zwischen prekärer Beschäftigung und nationalistischen Tendenzen herstellen. Ein weiterer erwähnenswerter Aspekt aus Miuras Untersuchung von 2015 ist das Problem, den sozialen Aufstieg zu schaffen. So sehen sich 70 % derjenigen, die sich vor zehn Jahren zur Unterschicht zählten, heute immer noch in prekärer Situation333. Ein wichtiger Faktor hierfür ist, dass es generell schwierig ist, aus einem nicht regulären Arbeitsverhältnis heraus eine reguläre Vollzeitbeschäftigung zu finden, was sich mit zunehmendem Alter weiter verkompliziert. Abseits der extrem prekären Situation alleinerziehender Mütter kommt es hier gerade für Männer im Kontext traditioneller gesellschaftlicher Geschlechterbilder und Normen in Japan zu zusätzlichen, geschlechtsspezifischen Hindernissen, die männlichen Geringverdienern so gut wie keine Möglichkeit auf Heirat und Familie lassen334. Während Frauen, die in einer prekären Situation sind, durch Heirat sozial aufsteigen können, ist dies für Männer ungleich schwieriger. Diese Probleme werden auch im Essay des Freeters Akagi Tomohiro deutlich, der im folgenden Abschnitt zur Sprache kommt. 2. Kriegswünsche – Der Fall des Freeters Akagi Tomohiro Im Diskurs um Prekarisierung und Nationalismus hat trotz durchaus widersprüchlicher Datenlage das u.a. von Miura implizierte Bild des männlichen, nicht 332 Vgl.
ebd. Miura (2015), S. 58 ff. 334 Vgl. hierzu auch Miura (2015). 333
E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
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regulär beschäftigten Freeters oder Zeitarbeiters um die dreißig oder eher älter Dominanz erlangt, der – bevorzugt über das Internet – seiner nationalistischen Gesinnung frönt und dabei insbesondere die Nachbarn China und Südkorea ins Visier nimmt. Die oben beschriebenen Phänomene Pop- und Internet-Nationalismus, Hass auf China und Südkorea schienen sich plötzlich also auch vor der Folie wachsender Prekarisierung lesen zu lassen. Weitere Bestätigung schien dieses Bild durch den Aufsehen erregenden Artikel des Freeters Akagi Tomohiro zu erlangen, der 2007 in der Januar-Ausgabe des Magazins Ronza erschien. In diesem Artikel, betitelt mit „Ich will Maruyama Masao schlagen – 31 Jahre, Freeter. Mein Wunsch ist Krieg“ rechnet Akagi mit dem pazifistischen Nachkriegssystem ab, das progressive Intellektuelle wie Maruyama Masao mit geformt haben. Den von ihnen propagierten Pazifismus macht er für seine prekäre Situation verantwortlich und ihre Antikriegs-Slogans werden bei Akagi zur „Arroganz der Besitzenden, die uns in unserer Armut ein Leben lang gefangen halten“335. Akagi, der dem Artikel zufolge als Freeter in Nachtschicht arbeitet und aus Geldmangel bei seinen Eltern wohnt, beschreibt, wie er nach der Arbeit tagsüber in der nahegelegen Shopping-Mall Familien mit Kindern sieht und weiß, dass er aufgrund seiner unsicheren Lebensbedingungen nie heiraten, geschweige denn eine Familie haben wird. In seiner misslichen Lage sieht er einen Krieg als letzten Ausweg, um seine Situation irgendwie verbessern zu können336. Akagi strebt die Gleichheit im Leid an337, nach dem Motto „Wenn ich schon leide, sollen alle leiden“. Ihm zufolge sei Krieg schlimm, aber nur für jene, die etwas besäßen. Für Leute, die nichts zu verlieren haben, sei er nicht tragisch, sondern eine „Chance“338. Krieg sei ein Spiel auf Leben und Tod, in dem alle leiden, gegenüber dem Frieden als bloßer Demütigung der Schwachen, die noch nicht einmal darüber nachdenken müssten, was von beidem wünschenswerter sei339. Wenn allerdings ein Krieg ausbrechen sollte und viele Leute stürben, würde die verkrustete, japanische Gesellschaft in Bewegung geraten (ryûdôka), was sich laut Akagi viele junge Menschen wünschten340. Interessant ist zunächst, dass sich Akagi mit seinem literarischen Hilfeschrei – ob bewusst oder unbewusst – die Argumentationsmuster seines Kritikobjekts Neoliberalismus zu eigen macht, in denen stets von neuen „Chancen“ die Rede ist (vgl. auch die obige Darstellung von Abe Shinzôs Aussagen). Ganz ähnlich wird hier der Krieg zur neuen Chance. Auch wenn dieser die Ungleichheiten in einem gewissen Umfang eingrenzen mag, vergisst Akagi freilich, dass selbst im Krieg die Schwachen schwächer sind als die Starken – ein Vorwurf, der ihm auch von Kri335
Akagi (2007).
336 Ebd.
Akagi (2007), S. 59. Akagi (2007), S. 59. 339 Akagi (2007). 340 Ebd., S. 58. 337
338
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tikern gemacht wurde. Sie bescheinigten ihm, dass Freeter wie er die ersten seien, die man in den Krieg schicken würde, und überdies stellten sie ihm die Frage, warum er dann nicht Ernst mache, den Selbstverteidigungsstreitkräften beitrete, um dann nach Afghanistan oder den Irak zu gehen341. Der linksliberale Kritiker Sataka Makoto hielt ihm zudem entgegen, Krieg als Spiel zu sehen, bei dem man denke, nur der andere sterbe, man selbst aber nicht342. Auch an anderer Stelle spielt Akagi bewusst mit einem Widerspruch. Selbst Linker, spricht er von seiner Enttäuschung über linke Politik, die nichts unternehme, um die Situation der Jugend zu verbessern. Diese drifte somit nach rechts und unterstütze die Politik der Regierung, die eigentlich verantwortlich für ihre Lage sei. Es werde oft gesagt, der Hass gegen China und Südkorea (im Internet) sei ein Zeichen der Unzufriedenheit, aber die Internet-Rechten (netto uyoku) seien in Wahrheit eine mächtige soziale Bewegung343. Der von Akagi kritisierte Neoliberalismus erscheint hier als „friedlicher Krieg“, dem ein „echter“ Krieg immer noch vorzuziehen sei. Dass er mit solchen Aussagen insbesondere Kritik aus dem linken Lager heraufbeschwor, mag sein Kalkül gewesen sein, um in diesem Spektrum eine neue Diskussion anzustoßen. Die Essayistin und Autorin Amamiya Karin, die Gegenstand des folgenden Abschnitts ist, äußerte sich bei verschiedenen Gelegenheiten344 zu Akagis Artikel und bekundete ihre Sympathien für dessen Kriegsphantasien. Frieden wird zur Aufrechterhaltung eines prekären Zustandes, aus dem es kein Entrinnen gibt und erscheint somit als fundamentale Gefahr für die eigene Existenz, wenn in einer Spirale aus Niedriglöhnen und internationalem Billiglohnwettbewerb mit Immigranten aus China oder anderen Staaten das Überleben schon zu einem Kampf wird, der so aussichtslos ist, dass im Gegenteil der Krieg die Chance bietet, dem ohnehin sicheren Tod vielleicht sogar zu entgehen345. Über die Ausweglosigkeit der Lage schreibt Akagi in einem Beitrag von 2016, dass es irrelevant sei, ob die Zahl nicht regulärer Arbeiter steige oder sinke. Denn für diejenigen, die von den neuen „Göttern“ der Gesellschaft, mit denen er in neoliberaler Kritik die Unternehmen meint, nicht ausgewählt worden seien, also nicht regulär beschäftigt sind, werde sich das Leben nie ändern346.
Ronza (2007b), S. 88, 91. Ronza (2007b), S. 84. 343 Akagi (2007), S. 57. 344 Amamiya/Kayano (2008); Amamiya/Sataka (2008); Amamiya/Kayama (2008). 345 Vgl. Amamiya/Kayama (2008), S. 122 f. 346 Amamiya et al. (2016), S. 70. 341
342
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3. Vom eigenen Land verraten? Amamiya Karins Oszillation zwischen rechts und links Akagi und Amamiya wurden mit ihren Beiträgen zu Sprachrohren einer ausgebeuteten Armutsschicht und warfen dabei auch fundamentale Fragen von Identität und Zugehörigkeit auf, die der globale Profitkampf auf den Prüfstand stellt. Amamiya spricht von ihren eigenen Erfahrungen als Freeterin und einem Leben in ständiger Unsicherheit, bei dem eine Krankmeldung beim Arbeitgeber gleichbedeutend mit einer Kündigung war, da im Konkurrenzkampf wenig qualifizierter, nicht regulärer Arbeiter jeder jederzeit austauschbar wird347. Amamiya rückte auch den auf den ersten Blick befremdlich wirkenden Text Akagis mehrfach in ein differenzierteres Licht, wobei sie die Verbindung von Armut und Nationalismus aus ihrer eigenen Erfahrung als Freeterin näher zu erläutern sucht. Seit 2007 tritt sie verstärkt als Anwältin des japanischen Prekariats auf und besetzt nach der Katastrophe von Fukushima zudem auch das Thema der Anti-Atom-Bewegung. Bekannt wurde sie mit Büchern wie „Ikisaserô“ (Lasst uns leben!)348, für das sie 2007 den Preis des „Japan Congress of Journalists“ (JCJ) gewann. Sie gehörte selbst einige Zeit einer rechtsradikalen Vereinigung an349 und trat zudem als Leadsängerin einer nationalistischen Punkband in Erscheinung. Ihre rechte Gesinnung scheint sich jedoch mehr und mehr in eine linkslastige Einstellung gewandelt zu haben, wobei ihr zeitweiliger Weggefährte Suzuki Kunio bei ihr indessen einen erneuten Rechtsruck festgestellt haben will350. Wie stark jemals „echte“ Ideologie hinter den Ausflügen in beide Lager stand, ist bei der Lektüre ihrer zahlreichen Publikationen kaum auszumachen. Die im Zuge der Debatte über Jugendnationalismus angesprochenen, vagen Vorstellungen von politischen Ideologien scheinen auch bei Amamiya, wie bei den meisten ihrer bzw. der jüngeren Generationen zuzutreffen (vgl. Kap. F.). An einer Stelle gibt sie an, dass sie erst über das Interesse an Subkulturellem wie Manga-Magazinen mit der Linken und der Rechten in Berührung kam, wobei diese auch eher nur in parodierter Form dargestellt worden seien351. Amamiya/Kayano (2008), S. 84. Amamiya (2007a). 349 Die zwischenzeitlich auch „Minirock-Rechte“ (minisuka uyoku) titulierte Amamiya stand der bekannten neurechten Vereinigung Issuikai („Mittwochstreff“) bzw. ihrem Gründungsmitglied Suzuki Kunio nahe. Sie war zudem Mitglied der Vereinigung Chô-kokka shugi ‚minzoku no ishi‘ dômei („Ultranationalistische Allianz ‚Wille der Nation‘“). Auf ihrer Homepage ruft die Vereinigung zur Zerschlagung des „weißen Imperiums“ auf und fordert die Wiederherstellung des Etatismus (kokkashugi). http://www2u.biglobe.ne.jp/~isi/index. htm (Zugriff: 20. 06. 2016). 350 Sataka/Suzuki (2010). 351 Amamiya/Komori (2008), S. 63. In diesem Kontext erwähnt Amamiya gern, wie sie sich vor ihrem Beitritt zu einer rechten Gruppierung auch die Veranstaltung einer linken Bewegung angeschaut habe. Aufgrund der intellektuell herausfordernden Diskussionen dort sei sie jedoch den einfacher gestrickten Nationalisten gefolgt. Eine Aussage, die eine 347
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II. Der Diskurs der „Lost Generation“ – Zwischen Armut und Nationalismus
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Die Gründe für ihren persönlichen Rechtsruck liegen in einem Mechanismus verborgen, der dem Kriegswunsch Akagis erstaunlich ähnlich und Amamiya zufolge im Prekariatsmilieu von Freetern und Zeitarbeitern weit verbreitetet ist. Im Gespräch mit dem Philosophen Kayano Toshihito352 widmet sie sich dieser Thematik genauer. So kreiere die andauernde Unsicherheitssituation das Gefühl, dass man nirgendwo hingehöre und nicht gebraucht werde – für die Gesellschaft ist man im Grunde „wertlos“. Wenn dies noch kombiniert sei mit einer gleichzeitigen Konkurrenzsituation mit Ausländern am Arbeitsplatz, in der man um das ohnehin kleine Stück des Kuchens noch mit „Nicht-Japanern“ kämpfen müsse, habe dies einen zusätzlich verstärkenden Effekt. „Zu teure“ Japaner werden durch billigere Ausländer ersetzt, wobei die Vorstellung, dass Japaner daher zu „nichts taugen“ (Nihonjin wa dame da) dazu führe, sich nach Bereichen umzuschauen, in denen Japaner „besser“ seien353. In dieser Identitätsleere werde auf einmal das eigene „Japanischsein“ als (einzig verbleibende) Möglichkeit entdeckt, das entstandene Vakuum zu füllen. Amamiya beschreibt, dass sie das Bedürfnis hatte, irgendwo dazuzugehören und so beim Staat (kokka) als Identitätsbezug gelandet sei. Der Eintritt in die rechte Gruppierung hätte ihr schließlich auch eine Heimstatt geboten, in der sie so akzeptiert wurde, wie sie sei354. Amamiya sieht die Internet-Rechten als ein Beispiel für diesen Mechanismus, wie sich sozial Schwache (Freeter, Zeitarbeiter) noch Schwächere (Ausländer) zur Zielscheibe ihrer Frustration machten355. Kayano erkennt darin das Gefühl, im Grunde wie ein Ausländer nicht zur Gesellschaft zu gehören. Deswegen werde die eigene japanische Identität zum „Beweis“ herangezogen, dass man doch eigentlich Teil dieser Gesellschaft sein müsste356. Das „Japanischsein“ bleibt also in gewisser Weise das Einzige, was einem niemand „wegnehmen“ kann, so arm man auch ist. Amamiya spricht gleichzeitig auch eine der Schnittstellen von Armut und Nationalismus an, in der das individuelle Image „schlecht zu sein“, „nichts zu taugen“, sich mit der übergeordneten Nachkriegs-Erzählung des „bösen Japan“ zu überlagern beginnt. Doch entgegen dieser Vorstellung entdecke man seine japanische Identität und finde zudem heraus, dass Japan im Grunde im Krieg „nichts Schlimmes“ gemacht habe. Diesem Bild setze man wiederum „Japan ist ein gutes Land“ entgegen, was gleichzeitig auch der Schaltkreis für eine Selbstbestätigung sei357. An anderer Stelle bringt sie Kobayashi Yoshinoris Manga Sensô-ron mit den Probedenkenswerte Beliebigkeit und Naivität in Bezug auf Ideologie aufzeigt, die freilich die Frage aufwirft, inwieweit nicht eher als eine spezifische Ideologie eine bestimmte (radikale) Art der Beschäftigung mit einer beliebigen Idee an sich im Vordergrund steht. 352 Amamiya/Kayano (2008). 353 Vgl. Amamiya/Kayano (2008), S. 59 f.; Amamiya et al. (2016). 354 Amamiya/Kayano (2008), S. 87. 355 Amamiya/Kayama (2008), S. 16. 356 Amamiya/Kayano (2008), S. 61. 357 Amamiya/Kayano (2008), S. 165.
262
E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
blemen der „Lost Generation“ in Verbindung. Das Manga würde das „japanische Ich“ bejahen und „eine andere Geschichte“ (mou hitotsu no rekishi) anbieten358. Mit dieser totalen Japan-Bejahung wird zwangsläufig das Nachkriegssystem zum Feind, das laut Amamiya den Menschen Erfolg versprochen habe, wenn sie sich denn nur anstrengten. Stattdessen zeige es aber dem Individuum, dass es wertlos und austauschbar sei und stelle zudem noch die japanische Geschichte negativ dar. Das Kôbe-Beben, der Aum-Anschlag, der Niedergang des Beschäftigungssystems auf Lebenszeit, dies alles stand für das Ende bestimmter Wertvorstellungen und addierte sich zu ihrem Gefühl, dass ihr Leben ein schleichender Selbstmord sei. Ihr zufolge hätte die Enttäuschung über Politik und Gesellschaft damals viele junge Leute ihrer Generation zu den Rechten geführt359. Diese boten demnach eine Alternative zum „degenerierten Materialismus“ und sie führt aus360: „Die Leute von der rechten Gruppierung sagten bei ihren Reden, dass alles so gekommen sei, weil die USA und die Nachkriegsdemokratie Japan degenerieren ließen. Dass es für die Jugend in einem Japan, in dem es heute nur die Verehrung von Geld und Materialismus gibt, schwierig zu leben ist, sei nur selbstverständlich. Aber gerade diese Jugend wird die Gesellschaft verändern. Als ich das hörte, hatte ich das Gefühl, erwacht zu sein und trat sofort bei.“
Von der Gesellschaft habe man – so Amamiya – stets das Gefühl vermittelt bekommen, dass die ganze Schuld bei einem selbst liege. Die rechte Gruppierung hätte aber alles zur Schuld der USA und der Nachkriegsdemokratie gemacht, wodurch sie „geheilt“ worden sei361. Sie beschreibt aber auch, wie ihr schnell klar geworden sei, dass dieser Nationalismus eine Selbsttäuschung sei und sie sich von den wahren Problemen bloß abgewendet hätte362. Da sie dennoch für einen Moment an die Illusion der Veränderung glauben wollte, sei sie der Gruppe beigetreten: „Inmitten eines Zustandes, in dem es keine Werte, nichts gibt, an das man sich festhalten kann, ist alles recht. In gewisser Hinsicht gab es einen Punkt, an dem ich von etwas, woran man sich festhalten kann, gehirngewaschen werden wollte“363. Und sie ergänzt: „Egal ob Aum oder die Rechten, ich denke, damals spiegelte sich das in meinen Augen als ‚große Erzählung‘ wider, die die Welt verändert. Ich hatte das Gefühl dort den Sinn, warum ich lebe, finden zu können“364. Kayano folgert aus seinem Gespräch mit Amamiya, dass es für Leute, die von der Gesellschaft nicht akzeptiert würden, unvermeidbar sei (shikata nai), sich in ihr Japanischsein zu flüchten. Freetern und Tagelöhnern würde das Gefühl gegeben, Amamiya (2007b), S. 40. Amamiya/Komori (2008), S. 63, 65. 360 Amamiya/Komori (2008), S. 64. 361 Amamiya/Kayano (2008), S. 98. 362 Amamiya/Kayano (2008), S. 99. 363 Amamiya/Komori (2008), S. 65. 364 Ebd., S. 66. 358
359 Vgl.
II. Der Diskurs der „Lost Generation“ – Zwischen Armut und Nationalismus
263
sie seien zum „Wegwerfen“ (tsukaisute) und für jeden von ihnen warteten schon Unmengen an Ersatz365. Er bezweifelt aber einen umfassenden Rechtsruck der prekarisierten Schicht und vermutet, dass es statistisch nur wenige Menschen dieser Art gibt, allein auch deswegen, weil ihnen durch ihre gesellschaftliche Isolation der „Schaltkreis“ für eine Kommunikation mit der Gesellschaft bzw. einem damit verbundenen Nationalismus abhandengekommen sei366. Kayano sinniert darüber, wie das „free“ aus Freeter schon symbolisiere, dass man nirgendwo dazugehöre367. Bei Amamiya trifft er auf Zustimmung, als er ausführt, dass es keinen Sinn habe, solche Menschen davon zu überzeugen, dass Nationalismus schlecht sei oder gefährlich, was sogar einen gegenteiligen Effekt haben könne368. Amamiya entgegnet, dass sie das auf keinen Fall tun würde. Menschen, die erfolglos 100 Bewerbungen abschickten und dann am Yasukuni-Schrein die Seelen der Kamikaze-Kämpfer verehrten, um sich damit zu trösten, dass es den Menschen im Krieg noch schlimmer erging als ihnen selbst, hätten als einzigen Ausweg nur noch den Selbstmord, wenn man ihnen den sie „heilenden“ (iyasetari) Nationalismus nähme369. Außerdem kritisieren Kayano und Amamiya das Bashing der Jugend durch die älteren Generationen in Japan, die sie nicht ernst nähmen und stattdessen ihren eigenen Verdruss auf sie ablüden370. Auf Amamiyas Frage, was besser sei, neoliberale Selbstverantwortung oder Nationalismus, kommen beide zu dem gleichen Ergebnis: Nationalismus371. In einem Sammelband von 2016 beleuchten Amamiya, Akagi, Kayano und weitere Autoren den Themenbereich der Armut von Personen im mittleren Alter, der bisher zu wenig beachtet worden sei, wobei auch ein Blick zurück auf die Hochphase der Debatte um 2007/2008 geworfen wird372. Denn die jüngere Generation, deren prekäre Situation um diese Zeit erstmals stärkere Aufmerksamkeit erfuhr, ist mittlerweile um die vierzig Jahre oder älter, ohne dass sich viel an ihrer Lage verbessert hätte. In dem Band treffen auch Amamiya und Kayano erneut zusammen, wobei Amamiya angibt, dass sie aufgrund ihrer eigenen rechten Vergangenheit die Gefühle von Mitgliedern xenophober Gruppen wie der Zaitoku-kai verstünde, obwohl sie deren Hasstiraden an sich verurteile373. Denn diese Menschen hätten das Gefühl, das ihnen etwas geraubt worden sei (nani ka o ubawareta), wobei sie erneut ihre eigenen Erfahrungen des Konkurrenzkampfes mit Ausländern um Arbeit anspricht374. 365
Ebd., S. 151. Amamiya/Kayano (2008), S. 101, 152. 367 Ebd., S. 165 f. 368 Ebd., S. 154. 369 Vgl. ebd., S. 155. 370 Amamiya/Kayano (2008), S. 206. 371 Ebd., S. 97 f. 372 Amamiya et al. (2016). 373 Ebd., S. 35. 374 Ebd., S. 35 f. 366
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E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
Kayano erkennt beim Blick zurück auf die Debatte von damals jedoch einen Wandel. Vor acht Jahren noch hätten von der Gesellschaft Ausgestoßene versucht, Nationalismus als Ausdrucksmittel zu verwenden, um sich Gehör zu verschaffen. Heute jedoch manifestiere sich Nationalismus stärker dahingehend, dass im Zuge eines kleiner werdenden gesamtgesellschaftlichen Kuchens, die Frage gestellt werde, warum dieser noch mit Ausländern geteilt werden solle. In der Diskussion japanischer Rechter um angebliche Sonderrechte von Koreanern sieht er dabei Parallelen zur europäischen Ablehnungshaltung gegenüber Flüchtlingen375. Eine solche generelle Abstiegsangst wäre sicherlich auch eine mögliche Erklärung dafür, dass etwa bei Demonstrationen der Zaitoku-kai nicht nur Menschen aus prekären Verhältnissen, sondern aus allen Schichten anzutreffen sind376. In den vorgestellten Ausführungen von Akagi und Amamiya tritt das Spannungsfeld von nationaler Identität und neoliberaler Globalisierung deutlich zu Tage. Es zeigt sich wie durch die Globalisierung Vorrechte, die einst auf der bloßen Grundlage der „Nationalität“ basierten, ihre Bedeutung verlieren und das Individuum seinen Wert und Schutz nicht mehr aus der eigenen Herkunft, sondern nur noch aus seinem Output und seiner Konkurrenzfähigkeit, kurzum seiner „Nützlichkeit“ beziehen kann. Die Erzählung von den Ausländern, die Einheimischen die Arbeitsplätze „wegnehmen“, ist dabei freilich in anderen Ländern dieselbe, und führt eine weitere fragwürdige Facette des nationalen Denkens vor Augen. Auf deren Basis wird ein „Vorrecht“ gegenüber einem Nicht-Angehörigen dieses „Nationalstaats“ auf Arbeit oder ein anderes Gut konstruiert. Darüber hinaus zeigen die Beispiele Amamiya und Akagi anschaulich, wie Armut und Nationalismus zusammenhängen, und wie es zu der paradoxen Unterstützung desselben Staates kommen kann, dessen Politik die eigene, prekäre Situation herbeiführt. Nationalismus wird zu einem rettenden Strohhalm, einer vermeintlich „heilenden“ Medizin, wobei man sich, wie Amamiya auch deutlich macht, der Selbsttäuschung durchaus bewusst ist. In dieser Ausweglosigkeit wird, so wie Akagi es formuliert, der Krieg, der jederzeit den Tod bringen kann, als größere „Chance“ als das Leben in einer friedlichen Gesellschaft wahrgenommen, das einem „langsamen Selbstmord“ ähnelt. Im Falle von Akagi und anderen in seiner Situation, die auf die (finanzielle) Unterstützung ihrer Eltern angewiesen sind, bedeutet deren Tod auch den eigenen. Krieg jedoch bringe die Chance auf „Ruhm und eine Rente“377. Den so von der Gesellschaft „Weggeworfenen“ bescheinigt die Psychiaterin Kayama Rika die Hoffnung, dass man vielleicht im Falle eines Krieges endlich nützlich sein könnte. Dieser Mechanismus erinnere sie an Patientinnen, die ihr berichteten, dass sie, falls ein Krieg ausbrechen sollte, gern „Trostfrau“ werden wollen378. 375
Ebd., S. 37 – 39. Higuchi (2012); Amamiya et al. (2016). 377 Amamiya/Kayama (2008), S. 34. 378 Amamiya/Kayama (2008), S. 32. 376 Vgl.
II. Der Diskurs der „Lost Generation“ – Zwischen Armut und Nationalismus
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Die Diskussion um den Nationalismus des Prekariats veranschaulicht zudem, wie unter dem Einfluss der neoliberalen Globalisierung rechte und linke Positionen verschmelzen und Nationalismus für beide Seiten an Bedeutung gewinnt. Kayano zufolge, würden sich im Zuge der Globalisierung sogar Teile der Konservativen gegen eine Änderung der Verfassung stellen, um nicht zum Instrument der USA gemacht werden zu können. Dabei verweist er auch auf die nationalistische Geschichte der Kommunistischen Partei, um zu zeigen, dass Nationalismus kein rein rechtes Phänomen ist379. Der Rechtsruck bei Akagi, der eigentlich ein Linker ist, lässt sich jedoch eher als Enttäuschung über eine tatenlose Linke verstehen, wie Akagi es auch in seinem Artikel andeutet380. Amamiya sah in Akagis Kritik sogar die gegenteilige Möglichkeit einen Linksruck auslösen zu können. Denn Leute, die sich mit Patriotismus selbst getäuscht hätten, würden durch den Artikel erkennen, dass sie nur benutzt worden seien381. Wie die heutige politische Realität zeigt, ist dies freilich ein frommer Wunsch geblieben und Phänomene wie die rechtsradikale Zaitoku-kai können dem herrschenden, konservativ-neoliberalen Mainstream nur dienlich sein, da sie von den eigentlichen Ursachen ablenken. Die Aussagen Akagis und Amamiyas verdeutlichen gleich zwei Funktionen des Nationalismus, nämlich als psychologische „Heilung“ (iyashi)382 oder auch als Protestmittel. Gleichzeitig wird die von Kayama Rika kritisierte Sorglosigkeit im Umgang mit Nationalismus erkennbar383, der als Ventil für die eigene Unzufriedenheit dient. Aus diesem Gefühl des von der Gesellschaft Verlassenseins heraus werden Forderungen gestellt, die gewaltige Konsequenzen haben. Krieg für alle, weil man selbst keinen Erfolg hat. Alle sollen so leiden wie man selbst – ein narzisstischer Zynismus – der Parallelen zu Kitadas ironisch-zynischem „lachenden Nationalismus“ enthält, den er der Gegenwartsgesellschaft vorhält384. Bei Akagi und Amamiya, die sich selbst als eher links bezeichnen, bzw. als ehemals gar nicht politisch, wird Nationalismus zum Instrument – zur bloßen (zynischen) Parodie, die, wie Kayano es auch anspricht385, dazu dient, „Aufmerksamkeit“ zu erlangen und in der Beschäftigung mit einer radikalen Idee psychische Linderung der eigenen Lage verspricht. Dass die reale Möglichkeit eines Krieges 2007 noch so weit wegschien, dass Akagi mit seinem Text einen solchen Aufschrei Amamiya/Kayano (2008), S. 9. bei Akagi erkennbar werdende Aspekt deckt sich auch mit der Analyse von Suzuki Kensuke, der in dem Nationalismusphänomen der Jugend in ähnlicher Weise ein Enttäuschungsgefühl gegenüber der Linken erkennt, das sich in einer „vagen Erwartungshaltung gegenüber dem Nationalen“ zeige. Suzuki (2008), S. 39. 381 Amamiya/Kayano (2008), S. 142 f. 382 Vgl. hierzu Oguma/Ueno (2003). 383 Kayama (2002). 384 Kitada (2005). 385 Amamiya et al. (2016). 379
380 Dieser
E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
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erzielen konnte, erscheint zehn Jahre später jedoch fast schon surreal, denn wie auch Amamiya und Kayano anmerken, hat die Möglichkeit eines Krieges durch die politischen Entwicklungen der letzten Jahre einiges an Realität gewonnen und als bloße Metapher an Effektivität eingebüßt386. Die Gebrauchsweise von Nationalismus in der Debatte um wachsende soziale Differenzen offenbart auch ein großes Missverständnis zwischen den Generationen. Auf der einen Seite eine ältere Generation von Politikern und Intellektuellen, die den Japanern und insbesondere auch der Jugend eine „Erzählung“ zu bieten sucht, auf die man „stolz“ sein kann, und auf der anderen Seite eine jüngere Generation, die dem Anschein nach einen Rechtsruck vollzieht, der aber teilweise nach ganz anderen Kriterien abläuft, als denen, die vermutet werden.
III. Conclusio: Der alltägliche Konsum der Nation als Suche nach einer „großen Erzählung“? Der in diesem Kapitel untersuchte „Nationalismus von unten“ ist wie in anderen Industriestaaten in den vergangenen Jahren zu einer vergleichsweise wirkmächtigen Bewegung herangewachsen, die das herrschende System und seinen „etablierten Nationalismus“ hinterfragt und diesem stellenweise einen oppositionellen „Gegennationalismus“ gegenüberstellt. Beide Ausprägungen sind freilich nicht scharf voneinander zu trennen und weisen etliche Schnittmengen auf, in deren Interaktion sich die diskursive Verhandlung des Nationalen vollzieht. Subkulturen wie die Internet-Rechten (netto uyoku), die nicht nur Extremisten, sondern auch die Mitte der Gesellschaft erreichen, bestätigen anschaulich, dass Nationalismus keine bloße Bewegung „von oben“ ist, sondern auch die umgekehrte Richtung einschlägt, indem Nationalismen eben auch „von unten“ erzeugt, konsumiert und teilweise neu interpretiert werden. In diesem Kontext hat insbesondere die Untersuchung des Erfolges von nationalistischer Popkultur in Japan, allen voran Mangas, gezeigt, wie das Nationale durch fortwährenden Konsum reproduziert wird387 und auch alternative Deutungsmodelle des Nationalen hervorbringt. Die Rechtstrends im Internet spiegeln dabei neue Möglichkeiten wider, abseits eines passiven Konsums auch stärker als bisher die Konstruktion bzw. potentielle Rekonstruktion des Nationalen „von unten“ zu erleichtern. Wie die Untersuchung des netto uyoku-Phänomens gezeigt hat, befördert die fragmentierende Kraft des Internets dabei einen nationalistischen Revisionismus, der in Opposition zum etablierten, primär von Staat (vor allem in Form der abgelösten DPJ-Regierung) und Medien repräsentierten und von den Internet-Nationalisten als „antijapanisch“ empfundenen Nationalismus „von oben“ tritt. Während Politiker und Intellektuelle teils „bewährte“ Narrative und Stereotype des „Japanischseins“ weiterverwenden, teils auch neue Facetten davon entwerfen 386
Amamiya et al. (2016), S. 47 f. Billig (1995); Yoshino (1999a).
387 Vgl.
III. Conclusio: Der alltägliche Konsum der Nation
267
und sich somit an einem zeitgemäßen „Update“ des japanischen Nationalismus versuchen (vgl. Kap. C. und D.), um das Land inmitten sich wandelnder internationaler Rahmenbedingungen positionieren zu können, so rufen manche dieser Elitenvisionen massiven Protest in Teilen der Bevölkerung hervor. An den Internet-Rechten und ihrer scharfen Kritik an den Massenmedien zeigte sich vermehrt, dass ein zunehmender Teil der Öffentlichkeit eine andere Realität fordert, als die von Medien und Politik dargebotene. Ihre Werkzeuge sind dabei „Ironie“ und ein ins Übertriebene gesteigerter „Positivismus“, mit dem sie „Eliten“ und das System im Allgemeinen anprangern wollen. Wie gesehen hat sich das als kauzige Randbewegung gestartete netto uyoku-Phänomen zudem in den letzten Jahren verstärkt offline manifestiert, in Demonstrationen und Aktionen und dabei eine sich konstant steigernde Radikalisierung und Gewaltbereitschaft (s. die Zaitoku-kai) offenbart. Hier wird abzuwarten bleiben, inwieweit die potentiellen Gefahren, die aus der krassen Ablehnung der Massenmedien sowie der radikalisierten Offline-Entfaltung des Internet-Hasses herrühren, zu einer wirkmächtigen, sozialen Bewegung kumulieren können. Wie werden sich z. B. die steigenden Ausländerzahlen in Japan auf die Stellung solcher xenophoben Bewegungen auswirken? Der auch bei den netto uyoku erkennbare Wille das „Private“ zu überbrücken, um „Öffentlichkeit“ herzustellen ist eine wichtige Facette des Nationalismus388. Bei den aktuellen Gegenwartsnationalismen spielen hier insbesondere Popkultur und Internet eine zentrale Rolle bei der Dekonstruktion eines „masochistischen“ Japan und der Konstruktion eines „reinen Japan“. Dementsprechend waren Autoren wie Kobayashi Yoshinori Vordenker der neuen Bewegung, indem er dieser Frage schon in den 1990ern nachging und, wie sich nun deutlicher herauszustellen scheint, die Lebenswirklichkeit vieler Menschen ansprechen konnte. Auch die diskutierte Rolle des Nationalismus in Teilen des Prekariats dürfte bei weiter wachsenden sozialen Unterschieden diesen revisionistischen Bewegungen – und zugleich dem neoliberalen Mainstream – in die Hände spielen. Die einen hassen China und Südkorea, weil sie die „Geschichtskarte“ ausspielen und die anderen hassen diese Länder, weil sie ihnen die „Arbeitsplätze wegnehmen“. Insofern bestätigt sich ebenso, dass solche (nationalistische) Subkulturen sich dazu eignen, „von oben“ vereinnahmt, beeinflusst und als ein Mosaikstein des sich wandelnden Nationenbildes verwendet zu werden – solange sie hinreichend nützlich sind. Hierzu kann die Adelung der ehemals geächteten Otaku-Kultur zur „Nationalkultur“ angeführt werden, aber auch die Vereinnahmung der Internet-Rechten. Wie gesehen, stellen sich letztere als durchaus nutzbringend für den nationalistisch-neoliberalen Politik-Mainstream dar. Dass die Empfänglichkeit der netto uyoku und ähnlich strukturierter, nationalistischer Subkulturen für populistische Meinungsmache und Agitation gerade vom aktuell regierenden Führungs-
388 Vgl.
auch Hobsbawm (1990).
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kader um Abe Shinzô erkannt und ausgenutzt wird, missversteht ein Großteil der Betroffenen als vermeintliches Eintreten für „ihre“ patriotische Sache. So scheinen die netto uyoku mit ihrer Ironie und „Fakten“-Fixierung, „ironischerweise“ selbst ein Opfer der vermeintlich „patriotischen“ Politik Abes zu werden, unter dem jedoch stattdessen die neoliberale Ausrichtung Japans weiter vorangetrieben wurde. Die in konservativen Kreisen euphorisch aufgenommene Machtübernahme Abes konnte hier den Nationalismus „von unten“ zwar anfangs zufriedenstellen; wie sich jedoch abzeichnete, ist Abes populistische Verwendung von Nationalismus als reines Kalkül selbst einem Teil seiner Anhänger nicht völlig entgangen. Dabei haben die vorgeblich „patriotischen“ Vorhaben wie das Festalten an Atomkraft, die Lockerung von Waffenexportregeln oder die Ermöglichung von Auslandseinsätzen der SDF den günstigen Nebeneffekt, der japanischen Atomund Waffenindustrie bisher ungekannte Absatzmöglichkeiten auch im Ausland zu ermöglichen, während die gleichzeitig wachsende Steuerbelastung der Bürger, die weitere „Flexibilisierung“ des Arbeitsmarktes, inklusive forcierter Arbeitsmigration, soziale Spannungen verstärken dürften, die wiederum den Hass auf „das Andere“ begünstigt, das einem im Sinne der von Amamiya gezeigten Logik vom immer kleiner werdenden Kuchen noch ein Stück wegnehmen könnte. In den Debatten über den Nationalismus „von unten“ befand sich im untersuchten Zeitraum speziell die jüngere Generation im Fokus, der man eine zunehmende Rechtsdrift unterstellte. Wie aufgezeigt, sind Zweifel an dieser Sichtweise angebracht. Mit dem vorgestellten Datenmaterial kann der Schluss, dass Nationalismus bzw. Patriotismus unter der Jugend speziell bzw. in der Bevölkerung insgesamt signifikant gewachsen sei, so pauschal nicht gezogen werden. Im Gegenteil, es gilt vorläufig weiterhin die Formel: je jünger, desto unpatriotischer. Während also die Präsenz nationalistischer Inhalte in Medien, Werbung und dem Gesellschaftsdiskurs im Allgemeinen durchaus zugenommen hat und der Nationalismus in der Konsequenz seinen Tabucharakter in den letzten Jahren weitgehend verloren hat, so kann eine quantitative Zunahme von Nationalismus in der Bevölkerung tendenziell vernachlässigt werden. Dennoch hat sich insgesamt die Einstellung zum Patriotismus gewandelt und auch der Wille zur Betonung von Gemeinschaftsinteressen hat sich verstärkt, was als indirekte Indikatoren für einen sich verstärkenden Gemeinschaftssinn- und in der Verlängerung dazu – Patriotismus interpretiert werden könnte. Es spricht also einiges für einen Wandel in der Qualität, bzw. in den Manifestationsformen von Nationalismus im gegenwärtigen Japan, die sich auch aus den oben genannten Studien ableiten ließen. Miura Atsushi389 erkennt hier einen sich seit den 1990er Jahren verstärkenden Bedarf an einer „großen Erzählung“ (ôkina monogatari) – angelehnt an den fran-
389
Miura (2010).
III. Conclusio: Der alltägliche Konsum der Nation
269
zösischen Philosophen Jean-François Lyotard390 – die sich in einer Suche nach „Japan“ bzw. dem „typisch Japanischen“ (Nihon rashisa) ausdrücke. Miura zufolge ist Japans Entwicklung seit der Meiji-Zeit auf den wirtschaftlichen Aufstieg ausgerichtet gewesen, ein Ziel, das um die Zeit der Olympiade von Tôkyô 1964 den Status einer von der Mehrheit der Bevölkerung geteilten Vision („Japan as Number One“), eben einer „großen Erzählung“, erreicht habe391. Diese zugleich letzte große Erzählung Japans habe jedoch nach dem endgültigen Aufstieg zur Wirtschaftsmacht ihre Strahlkraft spätestens in den 1980er Jahren eingebüßt392. Laut Miura wurde diese große Erzählung in den 1980ern schließlich durch die „kleine Erzählung“ der (konsumistischen) Selbstsuche bzw. Selbsterfüllung abgelöst393. Diese habe sich ab den 1990ern in eine auch von den Medien beförderte, national codierte Selbstsuche des „Japanischen in mir“ transformiert394. Wie der Sozialwissenschaftler weiter ausführt, drücke sich in dieser Suche nach einer neuen „großen Erzählung“ (laut Miura erreicht sie aber nur den Status einer „mittelgroßen“ Erzählung) nicht nur der Wille aus, auf Japan und seine Kultur stolz sein zu können, sondern auch der Wunsch nach Gemeinschaft und Stabilität in der Unsicherheit einer sich pluralisierenden und globalisierenden Gesellschaft, die im vermeintlich zeitlosen Wert „japanischer Identität“ entdeckt werde395. Dies ist ein Aspekt, der durchaus auch in den im Anschlusskapitel vorgestellten Interviews mit jungen Erwachsenen deutlich wurde, die sich teilweise wünschten, eine größere Nähe zu Japan herstellen zu können, dazu aber bislang „nicht fähig“ waren. Bei Miuras Ausführungen wird zudem der Aspekt deutlich, dass „Japan“ nicht viel mehr als ein Label, ein Produkt ist, das man konsumieren kann. Er unterstützt hier einerseits die Beobachtungen von Kommentatoren wie Kayama oder Sakamoto, welche die „Soft-Komponente“ im gegenwärtigen Nationalismus betonen, andererseits decken sich seine Ausführungen mit den Bestrebungen der Regierung, eine „Japan Brand“ zu entwerfen. Während die klassische Version des „harten“ japanischen Nationalismus versuchte, den Westen wirtschaftlich einzuholen, basiere der aktuelle Nationalismus, so Miura, primär auf Kultur und Traditionen und
390 Laut Lyotard führt das Verschwinden der großen Narrative oder Metanarrative zu einer Auflösung sozialer Verbundenheit und einer Atomisierung der Gesellschaft. An die Stelle der großen Narrative treten laut Lyotard in der Postmoderne zunehmend „kleine Narrative“. Vgl. Lyotard (1984), S. 15, 60. 391 Miura (2010), S. 59 – 67. 392 Miura (2010), S. 57. Azuma greift in seiner Studie über die Otaku ebenfalls Lyotards Theorie auf, argumentiert in Anlehnung an Ôsawa Masachi aber, dass die Wirksamkeit der großen Erzählung in Japan nur bis 1970 gegeben war. Die Phase von 1970 bis zum Aum-Anschlag 1995 bezeichnet er als „fiktive Ära“ (kyokô jidai), in der die „große Erzählung“ vielmehr nur als „Fake“ existiert habe. Azuma (2001), S. 107. 393 Miura (2010), S. 41, 67 ff. 394 Miura (2010), S. 41 – 43, 70 ff. 395 Vgl. Miura (2010), S. 76 – 87.
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Abbildung 3: Plakat im Rahmen der japanischen Bewerbung für die Olympiade 2020: „Japan braucht jetzt die Kraft dieses Traumes“ (Foto R.R., 2013)
befasse sich mit der Frage nach dem „typisch Japanischen“ (Nihon rashisa)396. Hier wird indessen auch eine Schwäche in seiner Darstellung deutlich, indem er zwar ständig von etwas „typisch Japanischem“ spricht, aber diese Konzeption nicht näher erläutert, geschweige denn kritisch hinterfragt. Dennoch sind einige seiner Thesen im Kern nicht von der Hand zu weisen. Trends wie „Cool Japan“ sowie der von Takahara so bezeichnete, hobbyisierte Nationalismus in Internet und Popkultur demonstrieren, wie das Nationale ein alltäglich konsumiertes Produkt wird, das sich auch in den diversen „J-Booms“ immer mehr als ein Marketing-Label etabliert397. Dabei wird „japanische Identität“ im Zuge der Globalisierung als Möglichkeit eines eigenständigen japanischen Beitrags entdeckt, der gleichzeitig zu einer Art Konserve mutiert und sich z. B. in Form von „Cool Japan“-Produkten ganz einfach „kaufen“ und konsumieren lässt. Was „in“ oder zu konsumieren ist, wird dem Japanwissenschaftler und Soziologen John Clammer zufolge, in einem kapitalistischen System weitgehend von diesem selbst bestimmt und ändert sich erst mit dem Wandel des Systems selbst398. Mit dem gewachsenen Einfluss des „Marketing“ auf den Konsum und die Konstruktion des „Nationalen“, das stärker als bisher den Alltag und den „Lifestyle“ zu durchdringen beginnt, ist auch das Nationale selbst nun noch stärker dem konsumistischen Antrieb unterworfen. Hierbei lässt es sich wie ein gewöhnliches Miura (2010). Vgl. auch Sasaki (2009); Richter (2008c). 398 Clammer (2000), S. 213. 396 Vgl. 397
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Konsumgut auch über Verkaufszahlen „messen“, aus denen wie Sasaki anmerkt, wiederum seine „Berechtigung“ (tadashisa) unmittelbar abgeleitet werden kann399. Nationalistische (Pop)kultur und die Marke „Japan“ sind in den vergangenen Jahren zu einem Marketing-Zugpferd geworden, das von Medien und Werbung in Form einer „Nationalismus-Mode“ intensiv genutzt wird, ohne dass dies weiter kritisch hinterfragt würde400. Im Zuge der Globalisierung zeigt sich hier ein genereller Trend, innerhalb dessen japanische Massenmedien ihre Inhalte stärker in eine nationalistische Richtung zu lenken suchen401. Diese Tendenzen manifestieren sich gegenwärtig beispielsweise in der konsumistischen Verniedlichung des Nationalismus in Form von Mangas und Animes, „jugendgerechten“ Magazinen (z. B. Japonism), den kommerzialisierten Nihonjinron-Klischees des „japanischen Nationalcharakters“ im Fernsehen402, der inflationären (Fernseh)berichterstattung über japanische Sportmannschaften, deren Nutzung als Galionsfigur für die Werbung oder auch der generelle Boom japonesker Reklame, die den Alltag zunehmend national codieren und mittlerweile die Zurschaustellung eines derartigen Nationalismus zu einem fast schon zwanghaft anmutenden Ritual403 machen. Wenngleich der Rechtsruck der (jetzigen) jungen Generation in aktuellen Studien nicht eindeutig nachweisbar ist, so bleibt freilich die Frage, welche Wirkung solche Entwicklungen auf eine in diesem Klima gerade heranwachsende junge Generation haben wird. Das was „Japan“ in diesen Narrativen jedoch faktisch ausmacht, erscheint immer beliebiger, banaler und bedeutungsloser, womit Konzepte postmoderner Theorie wie Baudrillards „Simulacrum“404 eine gewisse Überzeugungskraft entwickeln können, indem die „große Erzählung“ Japans in ihrer konsumistischen „J“-Variante nur noch ein bloßes Ab- oder eher Trugbild des „Originals“ (das „Original“ ist freilich auch nur ein fiktiver Narrativ) zu sein scheint. Die popkulturelle und otakuisierte Konstruktion des „Japanischen“ und die Umschreibung japanischer Geschichte zu einer revisionistischen Fiktion erscheint dabei als Versuch, die Lücke der verlorengegangen „großen Erzählung“ zu füllen405. Sasaki (2009), S. 263. Vgl. auch Raddatz (2013a). 401 Vgl. hierzu Yoshimi (2003b), S. 461. 402 Vgl. Hambleton (2011). 403 Als Beispiel in dieser Richtung können Angestellte von Convenience-Stores oder anderen Geschäften angeführt werden, die nicht nur vor Spielen der Nationalmannschaft statt ihrer üblichen Uniform mit Japan-Trikots zu sehen sind. 404 Baudrillard (1994). 405 Hier sei auch auf Azuma verwiesen, der ähnlich wie Miura auf Postmoderne-Theoretikern wie Lyotard oder Baudrillard basierend argumentiert, dass die Otaku einen besonderen Hang zur „Fiktion“ (kyokô) in Bevorzugung „sozialer Realität“ hätten, wobei die fiktiven Narrative gar stellenweise die großen Narrative ersetzten. Die Otaku-Kultur sieht Azuma als ein Paradebeispiel für die Sozialstruktur der Postmoderne, in der große Narrative verloren gegangen und Simulacra omnipräsent seien. Mehr noch, die verlorengegangene soziale Komponente (wie gesehen ein Merkmal der Otaku) erlaube es dem postmodernen 399 Vgl. 400
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E. Nationalismus „von unten“ Teil 1
Freilich kann eine Rekonstruktion von Nationenbildern langfristig nur erfolgreich sein, wenn sie „von oben“ und „von unten“ mitgetragen wird. Auch in diesem Zusammenhang sind Miuras Ausführungen wichtig. Aus seinen Daten lässt sich eine Rekonstruktion des Nationalen hin zu einer „Umwelt-“ oder „Ökonation“ unter Konsumenten herausfiltern, bei der ökologisches Bewusstsein mit Aspekten japanischer Kultur und Tradition verknüpft wird406. Wie in Kapitel C. und D. erläutert, wird diese Entwicklung auf politischer Ebene und auch von einflussreichen Intellektuellen (Umehara Takeshi, Nakazawa Shin’ichi, Yasuda Yoshinori etc.) forciert, die mit verschiedenen Ansätzen die Erzählung der (schon immer) im Einklang mit der Natur lebenden Japaner als eine Art „Volkscharakter“ konstruieren. Miura arbeitet hier ein „ökologisches Bewusstsein“ als eine Manifestation von „Japanischem“ (Nihon rashisa) heraus und stellt dessen Eignung für die Verknüpfung mit einer Japan-Orientierung (Nihon shikô) besonders heraus407. So sei, wie er unkritisch betont, eine ökologische Orientierung für Japaner nicht eine rein naturwissenschaftliche, sondern auch eine kulturelle Angelegenheit, die sich mit einem spezifischen Stolz auf Japan verknüpfe408. Aus seinem Datenmaterial folgert er eine Korrelation zwischen Patriotismus und ökologischem Denken, wie sie auch in dem im Kapitel C. vorgestellten Regierungspapier zu Japan als „Environmental Nation“ konstruiert wird. Allerdings kann auch der Marktanalyst Miura in seinen Ausführungen nicht den Restzweifel ausräumen, inwieweit er potentielle „Konsumtrends“ nicht auch selbst mitkonstruieren bzw. steuern will. Wie erwähnt, könnte dennoch gerade auch die Atomkatastrophe von Fukushima diesem neuen „Öko-Patriotismus“ Vorschub leisten, bei dem die Regierung Bemühungen erkennbar werden lässt, Japan zu einer „umweltfreundlichen Marke“ zu machen409. Unter den verschiedenen Nation Branding-Strategien der Regierung ist Cool Japan sicher derzeit die einflussreichste, dennoch zeigt der Komplex „Japan als Umweltnation“, dass man mit parallel laufenden Bemühungen alternative und sich durchaus auch ergänzende „Erzählungen“ der japanischen Nation bereithält. Die „von oben“ angestoßene Rekonstruktion des „Japanischen“, die zur Ablösung des verblassenden Bildes der „Wirtschaftsnation“ erforderlich geworden ist (auch der Abenomics-Hype konnte daran wenig ändern), könnte in diesem Zusammenhang auch den notwendigen Rückhalt „von unten“ erfahren. Im Fall der geschichtsrevisionistischen Bewegungen à la Tsukuru-kai bleibt jedoch trotz ihres Einflusses auf Popkultur, Internet etc. weiterhin fraglich, ob diese Menschen im Gegensatz zum modernen Menschen nicht mehr, kleine und große Narrative zu verknüpfen, um so einen „Lebenssinn“ zu gewinnen. Am postmodernen Menschen ziehe die Welt jedoch nur noch „sachlich“ (sokubutsuteki) vorbei, ohne Sinn zu stiften. Vgl. Azuma (2001), S. 42, 45, 55, 140. 406 Vgl. Miura (2010). 407 Vgl. Miura (2010), S. 112 ff. 408 Miura (2010), S. 113. 409 Raddatz (2013b); Raddatz (2012).
III. Conclusio: Der alltägliche Konsum der Nation
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ihren zweifelsohne vorhandenen Rückhalt in Teilen der Bevölkerung (und auch Politik) in Zukunft in einen gesellschaftsübergreifenden Paradigmenwechsel überführen können, da gerade im Rahmen der Globalisierung die „Mitsprache“ von außen zu einem wichtigen Faktor geworden ist. Dennoch muss konstatiert werden, dass das ab Mitte der 1990er Jahre in prominenter Weise von der Tsukuru-kai und Intellektuellen wie Kobayashi Yoshinori entwickelte Gedankengut einen enormen und nachhaltigen Einfluss auf den Gesellschaftsdiskurs ausgeübt hat und einer generellen Enttabuisierung des Nationalismus im Untersuchungszeitraum Vorschub leistete, die Phänomene wie Kenkanryû oder die netto uyoku wohl erst möglich werden ließ.
F. Nationalismus „von unten“ Teil 2 – junge Erwachsene im Gespräch I. Daten und Methodik Wenn ich im Gespräch mit jüngeren JapanerInnen nach meinem Forschungsthema gefragt wurde und vage erwiderte, dass ich den Patriotismus in Japan untersuche, so geschah es gelegentlich, dass mir unvermittelt als Antwort entgegnet wurde: „Ich liebe Japan!“ (Nihon daisuki!). Doch auf die Frage, was man denn an Japan so liebte, kam selten eine präzise Antwort: „Irgendwie eben“. Auffällig war bei diesem Verhalten, dass es sich vor allem in der Altersgruppe um die zwanzig Jahre zeigte, während es bei Personen Ende zwanzig oder älter seltener vorkam. Bei Letzteren schien das Verhältnis zum eigenen Land etwas komplizierter zu sein. Denn von ihnen und vor allem auch bei Personen mittleren oder gehobenen Alters kam stattdessen mehrfach die Gegenfrage: „Gibt es in Japan überhaupt Patriotismus?“. Die vielen Fragen, die der Diskurs über den „Rechtsruck der jungen Generation“ aufgeworfen hat, sowie diese persönlichen und sicherlich auch teilweise subjektiven Eindrücke vor Ort gaben Anlass, das Phänomen eingehender zu untersuchen. Ein erprobtes Mittel, um das trotz der bisherigen Vorarbeiten recht bruchstückhaft gebliebene Verständnis der Charakteristika des Gegenwartsnationalismus in den Menschen selbst zu vertiefen, sind qualitative Interviews, die als Ergänzung zum in Kapitel E. vorgestellten, quantitativen Studienmaterial dienen sollen. Um mehr über die Einstellungen junger Japaner herauszufinden, ist es daher erforderlich, nicht einfach über sie zu reden, sondern mit ihnen. Bislang bilden jedoch quantitative Studien, selbst nur vergleichsweise spärlich vorhanden, das einzige empirische Material zum Nationalismus der jungen Generation. Allerdings sind solche Studien methodisch oft fragwürdig konzipiert (vgl. Kap. E.) und wenig aussagekräftig, um persönliche Einstellungen und mindsets zu ergründen, wenn sie bereits auf vagen Hypothesen basieren. Quantitative Studien operieren mit vorgegebenen, „geschlossenen“ Kategorien, die wenig Platz für individuelle Vorstellungen und Meinungen lassen. Dabei benötigt die Konstruktion der Nation indessen auch die Bereitschaft der Massen, die „von oben“ ausgegebenen „hegemonischen Mythen“ und Erzählungen zu akzeptieren und als integralen Bestandteil ihres Alltags zu praktizieren1. Die Vorstellungen, die sich damit verbinden, können daher am besten mit einem qualitativen Ansatz herausgearbeitet werden. Für diese Arbeit wurden Gespräche mit zwölf Personen durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Interviews, die in drei Phasen im Zeitraum von April bis Juni 2010, 1
Iida (2002), S. 262.
I. Daten und Methodik
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Februar bis Mai 2012 und November bis Dezember 2012 erfolgten, werden in diesem Kapitel vorgestellt. Bei der Auswahl der Befragten wurde auf ein Convenience Sample2 zugegriffen, bei dem ich mir von Bekannten, mir bis dahin unbekannte Interviewpartner vorstellen ließ. In vier Fällen wurden eigene Zufallsbekanntschaften befragt. Die Interviews wurden überwiegend in Cafés durchgeführt, bis auf ein Gespräch auf Tonband aufgenommen und im Anschluss transkribiert. Ein Gespräch fand in Yokohama statt, die übrigen in Tôkyô. Das Sample setzt sich aus fünf männlichen und sieben weiblichen Teilnehmern zusammen, deren Altersspanne (zum Zeitpunkt des Interviews) von 18 bis 29 Jahren reicht3. Der Diskurs um den „Jugendnationalismus“ (wakamono no ukeika) geht meist implizit oder explizit von der Altersgruppe der 20- bis 30-jährigen aus, so dass es sich also eher nicht um Jugendliche, sondern um junge Erwachsene handelt. Für die vorliegenden Interviews wurde daher ein ähnlicher Rahmen gewählt. Eigentliche „Jugendliche“ im Oberschulalter oder jünger konnten für die vorliegende Studie nicht befragt werden, was Raum für weiterführende Forschung lässt. Hinsichtlich des beruflichen bzw. bildungsmäßigen Hintergrunds wurde versucht, eine möglichst große Reichweite zu erzielen, wobei Befragte mit Hochschulbildung allerdings insgesamt überwogen. Sechs Informanten verfügten zudem über mehr als drei Monate Auslandserfahrung. Von den männlichen Interviewpartnern waren alle bereits mindestens einmal im Ausland, zwei der weiblichen noch nie bzw. zwei weitere je erst einmal. Die Interviews waren semi-strukturiert und schwankten in ihrer Länge zwischen 45 Minuten bis knapp über zwei Stunden, wobei eines mit einer halben Stunde sehr kurz ausfiel. Inhaltlich wurde mit entsprechenden Fragen versucht, Eindrücke zu folgenden Themenbereichen zu erhalten: a) Die Interpretation des von Kayama beschriebenen Sportnationalismus-Phänomens b) Die Haltung der Befragten zu nationalen Symbolen c) Konzeptionen des „Japanerseins“ bzw. japanischer Kultur, Geschichte und Identität d) Ansichten zu „gesundem“ oder „natürlichem“ Nationalismus/Patriotismus bzw. Konzeptionen von Staat und Nation e) Haltungen zu aktuellen, politischen Entwicklungen wie den Revisionsbemühungen von Artikel 9 oder Patriotismuserziehung in Schulen f) Ansichten zu Japans Rolle in Asien und der Welt
Vgl. hierzu Weiss (1994), S. 28. Insgesamt fällt auf, dass weibliche Personen eher bereit waren, über das Thema Patrio tismus zu sprechen und die Zusagequote hier bei nur einer Absage bei nahezu 90 % lag. Demgegenüber erschienen männliche Personen skeptischer, und in mehreren Fällen wurden Interviewanfragen abgelehnt. 2 3
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F. Nationalismus „von unten“ Teil 2 – junge Erwachsene im Gespräch
Während a) und b) als Indikatoren für vermeintlich „banalen“ Nationalismus fungieren sollen, dienen c) und d) dazu, mehr über die abstrakten Ideen der Interviewten zu Nation und Staat sowie Konstruktion und Ausdrucksformen nationaler Identität herauszufinden. Schließlich werden e) und f) als Indikatoren für die Akzeptanz bzw. Ablehnung „härterer“ Formen von (politischem) Nationalismus angesehen. f) beinhaltet dabei auch die Positionierung Japans gegenüber „dem Anderen“ und zielt u.a. auf Einstellungen hinsichtlich der Globalisierung ab.
II. Identitätsfacetten junger Japaner 1. Die junge Generation bewertet ihren „Rechtsruck“ In den Interviews wurden die Befragten mit Aussagen von Kayama Rika konfrontiert4, die die Kernthesen des Diskurses um den „Rechtsruck der Jugend“ zusammenfassen. Risa5 ist eine 29-Jährige Doktorandin an einer renommierten japanischen Universität. Sie hat in Europa und im asiatischen Ausland studiert und mehr als 50 Länder bereist. Angesprochen auf den „kleinen Nationalismus“ während großer Sportevents, bemängelt Risa, dass Kayamas Interpretation doch wohl zu simpel sei. Das Schwenken der Fahne hätte nichts mit einer rechten Einstellung zu tun, sondern sei bloß „gesunder Nationalismus“ (kenzen na nashonarizumu). Und an Kayama kritisiert sie ferner: „Zum Beispiel zu sagen, weil sie [die Jugendlichen] nicht die Geschichte der hi no maru [japanische Fahne] kennen: Wie die hi no maru zu interpretieren ist, dass ist die persönliche Freiheit des Einzelnen, oder etwa nicht? Das bedeutet also, Kayama Rika weiß, wie die Geschichte der hi no maru zu interpretieren sei. Wir schwenken nicht die hi no maru, weil es die hi no maru ist; diese Art der Unterstützung, das Singen der Hymne, das alles ist meiner Ansicht nach gesunder Nationalismus. Und weil es gesund ist, was ist falsch dabei die Hymne deines eigenen Landes zu singen?“ (Risa)
Im weiteren Gespräch erinnert sich Risa daran, wie sie selbst während der WM 2002 die japanische Fußballmannschaft frenetisch unterstützte, sich mit Freunden die Spiele ansah und das Trikot der japanischen Elf trug. Das Ganze sei eine große 4 In einigen Interviews fasste ich die Kernaussagen Kayamas knapp zusammen, in anderen legte ich den Befragten folgende Textstellen aus Kayamas Buch vor: „Sie tragen das blaue Trikot der japanischen Nationalmannschaft am Körper und springen auf und ab während sie ‚Japan, Japan!‘ brüllen – Jugendliche, halb in Trance, waren auch da. ‚Warum?‘, ‚Weil ich Japaner bin‘, ‚Weil ich in Japan geboren wurde‘, diese Art von über alle Maßen selbstverständlichen ‚Gründen, die keine Gründe sind‘, würden einem wohl entgegnet werden. Der Anblick dieser Jugendlichen, die sonst das Thema ‚Land‘ [kuni] wohl kaum wahrnehmen, und plötzlich, wenn es um Fußball geht, in den Stadien die japanische Fahne [hi no maru] schwenken und ihre Stimmen zu der lebhaft gesungenen Nationalhymne erheben, erscheint wahrlich viel zu unbesorgt“, Kayama (2002), S. 16 ff. 5 Die Namen aller Befragten wurden zum Schutz ihrer Anonymität geändert. Biographische Details (besuchte Hochschulen, Ziele von Auslandsaufenthalten, Herkunftsorte etc.) wurden aus demselben Grund leicht verändert und können dem Anhang entnommen werden.
II. Identitätsfacetten junger Japaner
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„Party“ gewesen. Als Japan ausschied, so erinnert sie sich, hätten viele Menschen geweint. Jun ist ein 27-jähriger Freeter, der seinen sicheren Vollzeitjob kündigte, weil er sich „gelangweilt“ fühlte. Er beschreibt die Stimmung bei solchen Sportevents ähnlich wie Risa als „Fest“ (matsuri), bei dem jeder Spaß habe und eine Menge Lärm mache. Im Gegensatz zu Risa sieht Jun allerdings die von Kayama beschriebenen Gefahren als real an. Diese „Hurra Japan“-Stimmung (Nihon banzai) könne seiner Meinung nach eine falsche Richtung einschlagen. Die Japaner hätten aufgrund ihrer Kriegsvergangenheit so etwas wie eine „schlechte DNA“ (warui DNA). Allerdings sei die Kriegsgefahr recht gering, vorausgesetzt, es entstünde keine Situation, in der das Leben der eigenen Familie bedroht sei. Als ich ihn frage, ob die jungen Japaner, die Japan als Mannschaft unterstützten, das Land auch gleichzeitig als Staat unterstützten, erwidert Jun, dass man normalerweise nicht sagen würde „Ich liebe Japan“, wenn es nicht im Rahmen eines großen Events wie der WM wäre, bei der verschiedene Länder miteinander wetteifern. Ako ist eine 24-jährige Freeterin, die in den USA studiert hat. Sie interessiert sich nicht für Fußball, interpretiert aber, dass japanische Fans, die die Fahne schwenken und die Hymne singen, dies nur zur Anfeuerung des Teams täten und dabei nicht in Kategorien wie Patriotismus dächten. Hätte die Mannschaft eine eigene Fahne, würde wohl diese und nicht die hi no maru verwendet werden. Im weiteren Gespräch verbindet Ako aber wie Jun Sport und Krieg. Ob nun beim Fußball oder bei einer anderen Gelegenheit, die Fahne zu schwenken, bedeute, dass man sein Land liebe. Sie fügt an, dass diese Empfindung wohl auch im Krieg stark gewesen sein muss: „Ich habe damals nicht gelebt, aber wenn Du die Flagge schwenken willst, dann heißt das, dass Du willst, dass Dein Land diesen Krieg gewinnt“ (Ako). Yûko ist eine 19-jährige Studentin aus der Mie-Präfektur, die zum Studium nach Tôkyô gekommen ist. Ähnlich wie Risa erkennt sie im von Kayama beschriebenen Phänomen keine Gefahr. Der japanische Patriotismus sei ihrer Ansicht nach sowieso schwach, da sei es „genau richtig“ (chôdo ii), wenn er sich zu solchen Sportevents zeige. Gleichzeitig weist sie aber darauf hin, dass sich durch den Sport die Beziehung zum Land des Gegners möglicherweise verschlechtere, was Gefahren bergen könne. Sie könne sich auch selbst vorstellen, die japanische Fahne zur Unterstützung zu schwenken. Hierbei stehe das Team zwar im Zentrum, die Unterstützung Japans als Land spiele allerdings auch eine gewisse Rolle. Wie Risa oder Jun betonen die meisten der zum japanischen Sportnationalismus Befragten den „Party-Aspekt“ (matsuri) solcher Events, der die Leute mitreiße (nori de) und Spaß mache. Dabei erscheint die Anfeuerung des Teams mehrheitlich abgekoppelt von einer Unterstützung Japans als Land. Der 28-Jährige Ryôsuke hebt in diesem Zusammenhang auch hervor, dass Japaner schon immer Feste gemocht hätten. Für ihn sei das der „Nationalcharakter“ der Japaner (kokuminsei). Im Falle der WM sei es nun zufällig Fußball, der zum Fest würde. Auch Ryôsuke argumentiert, dass eher als Japan als Land anzufeuern, dieser Festgedanke im Vordergrund stünde. Deutlich wurde zudem, dass sich auch jene
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F. Nationalismus „von unten“ Teil 2 – junge Erwachsene im Gespräch
Interviewpartner, die sich sonst eigentlich gar nicht für Fußball interessieren, von der Stimmung mitreißen lassen. In diese Kategorie fällt z. B. Haruka. Sie ist eine 23 Jahre alte Sängerin, die nebenbei als Gesangslehrerin arbeitet. Sie hat kein Interesse an Fußball, aber auf die Frage, ob sie bei der WM das japanische Team anfeuert, lacht sie, als sei dies eine Selbstverständlichkeit und erwidert: „ich bin nun mal Japanerin“. Als eine der wenigen Befragten sieht Haruka die Japan-Unterstützung beim Sport nicht auf diesen beschränkt. Gleichzeitig würden die Fans wohl eher aus Interesse am Sport an sich als aus Liebe zu Japan das japanische Team anfeuern. Sie ist gar besorgt, ob die meisten Leute überhaupt die Hymne richtig singen könnten. Die Fahne zu schwenken, käme ihr aber nicht in den Sinn, da sie kein Fan sei. Leute, die wie sie im Grunde wenig Interesse an Fußball hätten, seien bei Events wie der WM zahlreich vorhanden, weswegen sie keine Sorgen hat, dass dieses Phänomen zu einem gesteigerten Nationalismus führen oder zu einer allgemeinen Gefahr werden könnte. Die WM fände schließlich nur alle vier Jahre statt. Sie betont, ihr Patriotismus sei nicht besonders stark, Japan liebe sie aber (Nihon ga suki). Ähnlich verhält es sich auch mit Anna, 24-jährige Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft. Sie erzählt mir, wie sie in der Schule oftmals das Gefühl hatte anders zu sein, da ihre Mutter Christin sei und sie selbst auch mit ihrem biblischen Namen in Japan sehr auffalle. Sie berichtet auch, dass ihre Mutter es hasse, Japanerin zu sein und immer schon für die USA geschwärmt habe. Anna ist sowohl an der Fußballnationalmannschaft, als auch an Olympia interessiert und verfolgt auch Volleyball und Eiskunstlauf – allesamt Bereiche, in denen sich der japanische Sportnationalismus in den vergangenen Jahren besonders verfestigte. Sie erinnert sich noch an die WM 2002 und gibt an, wie sich damals alle in der Schule um den Fernseher versammelten, um Japans Spiele zu verfolgen. Wenn die Nationalmannschaft nicht spiele, interessiere sie sich aber nicht für Fußball und erst recht nicht für Japan. Auf meine Frage, warum sie beim Sport Japan unterstütze, ansonsten aber nicht, überlegt sie lange und antwortet schließlich: „weil ich Japanerin bin“. Sie finde zwar Cristiano Ronaldo „cool“ (kakkô ii), aber es sei doch komisch, deswegen Portugal anzufeuern und nicht Japan. Auch die 21-jährige Studentin Kaori verfolgt nur die wichtigsten Spiele, bei denen sie sich von der Atmosphäre mitreißen lässt und Japan lautstark unterstützt. Eher als der Sport sei die gemeinsame Erfahrung wichtig, denn normalerweise gebe es ihr zufolge kaum Gelegenheit, ausgelassen zu feiern (sawagu). Wenn es um wichtige Spiele ginge, fordert sie auch von den Spielern, dass diese sich für Japan anstrengten, wobei sie japanische Niederlagen „bedauerlich“ findet. Für das Phänomen der patriotischen Jugend während der WM macht sie vor allem auch die Medien verantwortlich, die erst dazu beitrügen, dass solche Events Bekanntheit (ninchi) erlangten. Erst durch die Berichterstattung im Fernsehen fange man an, sich dafür zu interessieren und die Medien würden diese Stimmung anfachen (aotte iru). Viele Leute ließen sich so einfach nur von der Stimmung mitreißen. Zu den wenigen Befragten, die sich gar nicht für Fußball interessierten, gehörte Madoka,
II. Identitätsfacetten junger Japaner
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eine 18-jährige Studentin, die es jedoch selbstverständlich (atarimae) findet, Japan zu unterstützen. Über Leute wie Anna, Kaori oder Haruka, die sich einfach von der Stimmung mitreißen lassen, hat der 21-jährige Taichi, ein aus Kyûshû stammender Student einer bekannten Universität, keine gute Meinung. Im neuartigen Sportnationalismus sieht Taichi im Grunde kein Problem, erkennt aber in der Tatsache, dass dieser plötzlich bei Leuten aufgetaucht sei, die sich vorher für Japan nicht in dieser Weise interessierten, eine gewisse Gefahr ( jakkan kiken). Diese Gefahr liege Taichi zufolge in der inhaltsleeren (nakami no nai) Anfeuerung, die nichts mit einem Bewusstsein des Japanerseins zu tun habe, sondern aus dem Sich-Mitreißen-Lassen (tada notte iru) entstünde, bloß, weil es auf Nationalmannschaftsebene abliefe (tada kuni tan’i dakara). Aus dieser Stimmung heraus riefe man „Japan, Japan!“. Dabei hätten diese Menschen weder vom Sport selbst noch den Spielern der japanischen Mannschaft eine Ahnung, und auch über Japan selbst wüssten sie manchmal weniger als ein Ausländer. Aus dem bloßen Grund, weil es Japan sei (Nihon dakara), das Team anzufeuern, sei allerdings „etwas gefährlich“, weil die Stimmung schnell umschlagen und in eine übertriebene Richtung gehen könnte (ikisugiru). Taichi selbst ist ein großer Sport-Fan, der nach eigener Aussage bei den besagten Events sowohl die Hymne singe als auch die Fahne „energisch“ (hageshiku) schwenke. Es schmerzt ihn, Japan verlieren zu sehen, denn die Nationalspieler seien wie er auch Japaner (onaji Nihonjin). Wie auch Taichi argumentiert Ryôsuke, dass es bei einer WM zu Konfrontationen (taiketsu) mit der gegnerischen Mannschaft käme, was die Stimmung noch leichter aufkochen lasse. Auf die Nachfrage, ob eine solche Stimmung von der Politik ausgenutzt werden könne, erwidert er, dass er sich das in Japan nicht vorstellen könne. Selbst wenn die Medien z. B. nach einem verlorenen Spiel gegen Südkorea versuchten, die Leute gegen den Nachbarn aufzustacheln, würden die meisten Leute mit Desinteresse (mukanshin) reagieren. Auch im Falle eines Krieges mit China würden jene, die Japan im Fußball anfeuern, wohl eher weglaufen und die Selbstverteidigungsstreitkräfte vorschicken (Jieitai, yoroshiku!). Bei Leuten, die auf Mangas von Kobayashi Yoshinori „hängengeblieben“ seien (hamatte iru), könne er sich aber vorstellen, dass diese tatsächlich in den Krieg zögen. Die Interviews bestätigen, dass es den erstmals von Kayama beschriebenen, „naiven“ Sport-Nationalismus unter jüngeren Japanern konkret gibt. Auch die von ihr angeführten „Erklärungen“ der Jugendlichen für ihr Verhalten sind in den vorgestellten Interviews mehrfach erkennbar geworden. Der 27-Jährige Naoto etwa betont, dass die Unterstützung Japans beim Sport nichts mit links oder rechts zu tun hätte, sondern, dass das „Party machen“ an sich im Vordergrund stünde. Mit einer besonderen Beziehung zu Japan hätte das alles nichts zu tun. Der Grund, warum insbesondere die Nationalmannschaft so viel Unterstützung erfahre, liege aber sicher daran, dass Japan als Land den größten Rahmen bilde, mit dem sich besonders viele Menschen identifizieren könnten. Mit dieser Erklärung zeigt Naoto, dass also zumindest unbewusst das eigene Land als Projektionsfläche gemein-
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F. Nationalismus „von unten“ Teil 2 – junge Erwachsene im Gespräch
samer Identifikation genutzt wird. Wie auch Kayama feststellte, können sich die Befragten ihr eigenes Verhalten nicht erklären, sondern sehen es eher als „selbstverständlich“ an. 2. Sich selbst ändern, sein Umfeld ändern, Japan ändern Bei vielen Befragten war der Ehrgeiz erkennbar, etwas zu verändern und sich nicht in vorgegebene gesellschaftliche Schubladen einordnen zu lassen. Jun etwa entspricht dem Stereotyp vom Freeter, der seine Träume verfolgt und dafür sogar auf seine sichere Beschäftigung verzichtet, um das machen zu können, was er will. Während auch Befragte wie Kaori oder Risa sich auf verschiedene Weise engagierten, entwickelten doch besonders die männlichen Interviewpartner den Ehrgeiz, durch eigene Anstrengung sich selbst und ihre Umgebung (am Ende gar Japan?) zu verändern. Dies unterstützt in gewisser Weise auch die Ergebnisse quantitativer Studien, die eine in den vergangenen Jahren gewachsene Bereitschaft aufzeigen, Beiträge zur Gemeinschaft zu leisten (vgl. Kap. E.). Ryôsuke war Firmenangestellter, bevor er sich selbstständig machte. Er organisiert mittlerweile Freiwilligen-Programme für die Tôhoku-Region und hat es damit zu einer gewissen Bekanntheit gebracht, so dass seine Arbeit bereits in den Medien portraitiert wurde. Er erzählt, dass er vor dem 11. März 2011 überhaupt keine Beziehung zu Freiwilligen-Aktivitäten hatte. Durch das Beben allerdings hätten sich viele Leute überlegt, was man tun könne. Sein Ansatz ist es dabei, mit einer Mischung aus Aufbauarbeit und Happening möglichst viele Freiwillige zu rekrutieren, indem er versucht zu zeigen, dass die Hilfsaktionen nicht unbedingt nur beschwerlich sein müssen, sondern auch „Spaß“ machen können. Auch der 27-jährige Naoto steht für diese (neue?) Generation junger Japaner, die sich mit einem herkömmlichen Lebenslauf nicht mehr zufriedengeben. Nach dem Studium an einer der besten Universitäten Japans arbeitete er zunächst bei einem bekannten internationalen Unternehmen erfolgreich im Vertrieb. Derzeit NEET6 kündigte er den mit einem hohen Gehalt dotierten Job jedoch ein Jahr zuvor, um sich seinen Jugendtraum von einer eigenen Firma zu erfüllen, die – noch im Aufbau – gemeinnützige Dienstleistungen anbieten soll. Selbst wenn seine Firma anfangs rote Zahlen schreiben würde, so will er seinen Traum weiterverfolgen – solange die Ersparnisse noch reichen. Für seinen Traum sei er mit der Bereitschaft aus dem sicheren Job ausgestiegen, auch schlimmstenfalls obdachlos zu werden. Naoto stammt aus Kyûshû und erzählt mir, dass der Patriotismus für die Menschen von dort schon immer eine bedeutende Rolle gespielt habe, nicht zuletzt auch weil zu wichtigen Perioden in der Geschichte Japans einflussreiche Persönlichkeiten von der südlichen Insel in die Geschicke des Landes eingriffen. Die Bewohner Kyûshûs hätten zum einen eine starke Beziehung zur ihrer Heimatregion (kokyô) und zum anderen auch eine starkes Verantwortungsgefühl Gesamtjapan gegen6
Abkürzung für „Not in Education, Employment or Training“.
II. Identitätsfacetten junger Japaner
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über. Er selbst würde seinen Heimatort zwar nicht besonders mögen, sei aber in der beschriebenen Atmosphäre aufgewachsen. Aufschlussreich ist auch mein Gespräch mit Akira, ein auch außeruniversitär engagierter 24-jähriger Master-Student der Sozialwissenschaften, der mit dem Gedanken spielt, später einmal im Regierungsbereich zu arbeiten. Vorgestellt wurde mir Akira durch einen gemeinsamen Bekannten. Dieser erklärte mir vor dem Interview, dass Akira „etwas rechts“ (chotto migi) sei. Akira habe während seines Auslandsstudiums rassistische Anfeindungen erfahren und sei etwa als „yellow monkey“ beschimpft worden, was mein Bekannter auch als möglichen Auslöser für Akiras Gesinnung ausmacht. Als ich Akira schließlich treffe, ist dieser jedoch sehr aufgeschlossen und zeigt sich interessiert daran, wie er seine Umwelt mitgestalten kann. Zu Akiras Engagements gehört auch die Teilnahme an den Seminaren einer konservativen Vereinigung, die ein „gesundes Japan“ (genki na Nihon) zum Ziel habe und zuweilen auch prominente Gäste einlüde. Bei einem dieser Seminare traf er auf Hiranuma Takeo (*1939), LDP-Politiker und Nippon Kaigi-Mitglied sowie Premier Abe Shinzô. Akira schildert mir, wie er vor Abe eine Präsentation halten durfte, für die er von diesem gelobt worden sei. Ein Foto mit Abe hat Akira bei einem sozialen Netzwerk im Internet hochgeladen, wobei die Kommentare seiner Freunde Unterstützung für den Politiker dokumentieren. Über das Treffen mit dem Premier stellt Akira jedoch klar, dass er sich nicht für konservative Politiker engagiere, sondern darauf abziele, sich selbst und sein Umfeld zu ändern ( jibunjishin o kaete, jibunjishin no mawari o kaetai). 3. Per Verfassungsreform zum „bewaffneten Pazifismus“ Akira befürwortet die Verfassungsänderung. Dabei ginge es ihm gar nicht darum, ob diese von den USA entworfen worden sei oder nicht, sondern eher darum, dass wenn man Japan als souveränen Staat (shuken kokka) betrachte, das Recht auf eine Armee (gunjiken) und das Führen eines Krieges (shusenken) erforderlich sei, ansonsten es sich nicht um einen eigenständigen Staat handele. Erst wenn man dies in der Verfassung verankere, könne Japan zu einem Akteur der internationalen Gemeinschaft (kokusai shakai) werden. Akira betont, dass er die Verfassungsänderung nicht befürworte, um tatsächlich Krieg zu führen, sondern wegen der psychologischen Wirkung, die die Reform für die Japaner haben würde. Er persönlich wolle mit der Reform die Denkweise der Japaner an sich ändern (Nihonjin no maindosetto o kaetai). Diese neue Mentalität beinhalte nicht primär, dass man dann über Waffengewalt verfüge, sondern eher wie man verantwortungsvoll damit umgehe. Ein Rückschritt in das frühere Japan sei ihm zufolge unwahrscheinlich, und auch bei einer Verfassungsänderung werde es keinen unmittelbaren Krieg geben. Jedoch würden sich die weltweiten Probleme irgendwann sicherlich in einen Konflikt entladen, auf den sich Japan jetzt bereits durch die Reform vorbereiten müsse. Ohne die Verfassungsänderung hätte Japan nur wie bisher die Möglichkeit, alles über Geld zu regeln.
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Die Beziehungen zu den USA sieht Akira als wichtig an, er beanstandet aber, dass Japan durch seine Fixierung auf die USA seine Möglichkeiten begrenze, eine etwas weitere Perspektive einzunehmen. Eher als eine Schwächung der Beziehung zu den USA könnte deren weitere Verstärkung zum Weltfrieden beitragen – so Akira. In Krisenregionen wie dem Nahen Osten könne Japan eventuell aufgrund seiner eigenen Vergangenheit aus Krieg und Pazifismus eher als die USA für Frieden sorgen. Wenn man sich fragte, was der internationale Beitrag Japans sein könnte, sei dies sicher nicht der Krieg. Auch Taichi und Ryôsuke zeigen sich als Befürworter der Verfassungsänderung. Taichi gibt als Grund hierfür an, dass man das eigene Land beschützen und auf internationaler Ebene, wenn man etwa von Russland oder China provoziert werde, die Bereitschaft zur Landesverteidigung demonstrieren müsse. Ryôsuke spricht sich aus demselben Grund für eine Änderung des Artikels 9 aus, da die Fähigkeit zur Landesverteidigung für ein Land eine nötige Mindestanforderung sei. Japan könne mit dem status quo von anderen Ländern nach Belieben vorgeführt werden und darauf nicht angemessen reagieren7. Taichi hält den amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrag zwar für wichtig, plädiert aber für eine Abschaffung des Artikels 9, da Japan in der Diplomatie die größte Waffe von vornherein fehle – die Fähigkeit, militärische Macht auszuüben. Er sieht die derzeitige Verfassung als von den USA „aufgezwungen“ an und daher die Notwendigkeit eine Verfassung nur für Japaner (Nihonjin dake no kenpô) zu kreieren, um sich den Herausforderungen der Globalisierung stellen zu können. Er liebe zwar den Frieden (boku mo heiwa ga suki), die Revision sei für Japan aber wichtig, um anderen Ländern auf Augenhöhe begegnen zu können. Taichi ergänzt: „Artikel 9 soll nicht mit dem Ziel geändert werden, Krieg führen zu können, sondern um sich verteidigen zu können, wenn (von anderen) Krieg mit Japan begonnen wird“. Interessant an Taichis Formulierung ist hier, dass die Verfassung quasi für die „Selbstverteidigung“ Japans geändert werden müsse. Auch Ryôsuke nannte als Grund für die Revision, die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts ( jieiken) ohne das man am Ende noch erobert werde (shinryaku sarete shimattari). Es gibt aber durchaus auch Gegner der Verfassungsrevision, vor allem unter den weiblichen Befragten. Yûko etwa befürchtet eine Erleichterung der Kriegsausübung bzw. eine generell steigende Kriegsgefahr. Haruka erzählt mir, dass sie aus Hiroshima stamme und dort in der Schule stets über den Krieg diskutiert habe. Sie stehe einer Änderung der Verfassung skeptisch gegenüber und sei aufgrund ihrer Herkunft besonders pazifistisch. Wenn die Revision nur dazu diene, Friedensmissionen der SDF zu erleichtern, fände auch Kaori das nicht schlimm. Der 7 Er nennt das Beispiel China und den bereits erwähnten Vorfall von 2010 in den Gewässern um die Senkaku-Inseln, bei dem die japanische Küstenwache die Besatzung eines chinesischen Fischerboots nach einer Kollision mit diesem festnahm. Laut Ryôsuke sei es doch komisch, dass Japan von China so unter Druck gesetzt werde, obwohl jeder auf YouTube ein Video des Vorfalls sehen könne und in jedem anderen Land eine Festnahme der chinesischen Bootsbesatzung eine Selbstverständlichkeit gewesen wäre (atarimae).
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Grund, dass der Artikel nicht schon längst geändert wurde, liegt ihrer Ansicht nach am bürokratischen Aufwand und auch den Kosten, die eine Änderung mit sich brächte. Wenn sie selbst entscheiden könne, wisse sie aber nicht, ob sie den Artikel ändern würde oder nicht. Auch Risa ist in der Frage unentschlossen, da sie eine Verschlechterung der Beziehungen Japans zu seinen Nachbarn im Falle der Revision befürchtet. Sie führt aus: „Es ist ja nicht so, dass wir danach Krieg anfangen würden. Es könnte für sie [die Nachbarstaaten] so aussehen. (…) Es gibt viele Widersprüche und viele schwammige Stellen [in Bezug auf Artikel 9]. Ich verstehe, dass es da Probleme gibt, aber ich denke es ist sehr fraglich, ob es zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Notwendigkeit gibt, Artikel 9 zu ändern.“ (Risa)
Anna macht deutlich, dass sie Krieg verabscheue und spricht die Gefahren an, die etwa der derzeitige Streit um die Senkaku-Inseln mit sich bringe. Dabei hätten die Inseln doch ursprünglich gar niemandem gehört und seien im Laufe der Geschichte nur zufällig japanisches Territorium geworden, weswegen man sich auf einen Kompromiss einigen solle. Im Verlauf des Interviews betont sie mehrfach, dass das Gute an Japan der hohe Lebensstandard sei, den sie nicht durch einen Krieg verlieren wolle. Für eine Verfassungsrevision sei sie deswegen nur, wenn sie das Land besser mache und keine Risiken mit sich bringe. Sie gibt zu bedenken, wer denn die Verantwortung übernehmen solle, wenn es Krieg gebe oder es mit dem Land nach einer Verfassungsänderung bergab ginge. Während die weiblichen Befragten mehrheitlich gegen die Revision sind, zeigen sich bei den Männern nur Jun und Naoto als Verfechter der aktuellen Verfassung. Jun lehnt die Existenz regulärer Streitkräfte selbst im Falle einer Verfassungsrevision ab. Naoto, der einige Punkte in Abes Politik befürwortet, ist gegen die Reform, da dadurch die Gefahr eines Krieges steigen könne, und das Signal nach außen falsch sei, Waffengewalt nun auch gesetzlich anwenden zu können. Er führt weiter aus, dass es „typisch“ für Japaner sei (Nihon rashisa), einmal angefangene Dinge bis zum Ende durchzuführen. In diesem Sinne solle man den einmal eingeschlagenen Weg des Pazifismus auch konsequent fortführen. Einige Befragte wie Ako befürchten auch schlechte Absichten oder gar Täuschungsversuche hinter den Revisionswünschen und äußern ihre Angst, dass das Land zum früheren Imperialismus zurückkehren könnte. Auffallend war allerdings, dass sich alle Interviewpartner, selbst die Befürworter der Änderung, gegen das aktive Führen von Kriegen aussprachen und somit eine Art „bewaffneten Pazifismus“ propagierten. Die Verfassungsänderung soll vor allem „zur Verteidigung“ und als eine Art Abschreckung vor den „Provokationen“ von Ländern wie China oder Nord- und Südkorea dienen.
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4. Das Geschichtsbild der jungen Generation – Sehnsucht nach dem „guten Japan“ Im Gespräch mit Ryôsuke kommt der Patriotismus der Jugend und speziell Kobayashi Yoshinoris Rolle zur Sprache. Ihm zufolge treffe es sicherlich bis zu einem gewissen Grad zu, dass es einen Rechtsruck in der jungen Generation gebe. Viele in seinem Umfeld seien Kobayashi-Leser und auch er selbst habe seine Mangas schon gelesen, möge diese aber im Gegensatz zu seinen Bekannten kaum. Der Grund für diese Entwicklungen sei ohne Frage, dass das Erziehungssystem im Nachkriegsjapan Fehler gemacht habe. Ryôsuke erläutert: „Ein falsches Geschichtsbild, ein masochistisches Geschichtsbild ( jigyaku shikan) ist zur Grundlage geworden. Aber in Wirklichkeit war es so und so. Das hat bis jetzt nur keiner richtig gewusst. Das hat [Kobayashi] in der Form von Mangas leicht verständlich auf der Grundlage von Fakten [dargestellt] – auch wenn er sicherlich auch tendenziöse Seiten hat. Allein dadurch, dass man lernt, dass es auch solche [historische] Tatsachen gab, (…) dadurch, denke ich, fängt man an, [diese Mangas] zu mögen oder sich dafür zu interessieren.“ (Ryôsuke)
Ryôsuke führt aus, dass er an diese Fakten glaube, z. B. auch die Bücher des konservativen Kritikers und Leugners des Nanking-Massakers Watanabe Shôichi gelesen habe und aufgrund solcher Lektüre zu der Einsicht gekommen sei, dass es das „masochistische Geschichtsbild“ tatsächlich gebe. Auf meine Frage, ob man dem Nicht-Historiker Kobayashi bzw. dem von ihm benutzten Manga-Genre trauen könne, erwidert er: Ryôsuke: „Eher als vertrauen können oder nicht, geht es darum, dass man durch das Medium Manga erfährt, dass solche Sachen [damals] vorgefallen sind. Von da aus fängt man an, andere Bücher, normale Bücher, zu lesen und sieht, oh, das war ja wirklich so (…). Auf diese Weise kann man [den Mangas] trauen. Und Dinge, denen man nicht trauen kann, werden so auch erkennbar (…). Ein blindes Vertrauen birgt meiner Meinung nach ein Risiko. Deswegen muss man [auch] die Bücher anderer lesen. Wenn so eine Konsistenz (seigôsei) erkennbar wird, kann man davon ausgehen, dass es sich um Fakten handelt. Zum Beispiel das Problem mit den Kriegsverbrecherprozessen von Tôkyô (…), das kommt in Geschichtsschulbüchern nicht vor (…) oder McArthur und der Tennô (…). Man würde ja normalerweise annehmen, der Tennô war ein ziemlicher Diktator (dokusaisha), aber das war so nicht (…). Der Tennô hat McArthur gesagt, dass er die volle Verantwortung übernimmt. Eigentlich war die Stimmung in Amerika so, dass man den Tennô töten wollte, aber McArthur hat sich vor ihn gestellt. All diese Dinge sind Tatsachen. Ich glaube nicht, dass das gleichbedeutend mit Nationalismus ist, es sind einfach geschichtliche Fakten. Deswegen denkt man sich ganz simpel, der Tennô war großartig (Tennô sugoi).“ R.R.: „(…) Ist es möglich, dass es dabei vielleicht weniger um das ‚glauben können‘, als um das ‚glauben wollen‘ geht?“ Ryôsuke: „Du meinst, die Leute, die das lesen? Das ist sicher so. ‚Ich hätte das gerne so‘, das gibt es sicherlich.“
Ich frage, ob sich wirklich viele Menschen die Mühe machten, die in einem solchen Manga zu lesenden Dinge nachzuschlagen und zu verifizieren, worauf Ryôsuke Zweifel äußert und anfügt: „(…) Die Leute wollen sicherlich ihr eigenes
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Land als gutes Land sehen, wenn sie solche Mangas lesen. Das liegt sicher in der Psyche des Menschen“. Er führt aus, dass zumindest in seinem Umfeld das Lesen solcher Mangas erst der Beginn sei, weiter zu recherchieren – auch über das Internet. Den Grund für die Erfolge solcher Mangas sieht er im Niedergang der japanischen Wirtschaft. Zu deren Blütezeiten hätten sich alle auf ihre Arbeit konzentriert, aber mit beginnender Rezession hätten sich viele Menschen Sorgen um die Zukunft gemacht und versucht, in der japanischen Abwärtsentwicklung wenigstens eine positive Seite ausfindig zu machen. Genau in dieses Vakuum seien Leute wie Kobayashi gestoßen, die diese positive Seite anbieten konnten. Als ich frage, ob also zu Wirtschaftsblütezeiten Patriotismus nicht benötigt wird, verneint Ryôsuke dies und führt aus, dass gerade in solchen Zeiten alle ihr Land liebten, was derzeit auch in China zu beobachten sei. Dort würden aber die Verlierer dieser Entwicklung gleichzeitig nationalistisch werden und antijapanische Demonstrationen veranstalten. Das sei genauso in Japan. Wenn die Wirtschaft noch schlechter werde, könne er sich vorstellen, dass in Japan auch von Regierungsseite ein stärkerer Nationalismus verordnet würde. Taichi, der gern Geschichtsromane liest, hat sich durch Kurse an der Uni erstmals mit dem Thema Patriotismus auseinandergesetzt und erkannte dabei die Bedeutung der Landessprache für die Erziehung. Dass im Zuge der Erziehungsreformen nun Patriotismus auch in der Schule gelehrt werde, sieht er positiv. Er führt hierzu aus: „Was bis jetzt in den Schulen gelehrt wurde, wie ‚sing nicht die japanische Hymne!‘ oder ‚Japan hat in jeder Hinsicht Schlechtes getan‘ – das hat man von klein auf gelehrt bekommen. Das ist zwar nicht bedauernswert, aber doch bitter. Man lernt, dass Japan Schlechtes getan habe, aber Krieg ist nun mal so (…), auch der Opa eines Bekannten von mir wurde im Krieg getötet. Wenn man das bedenkt, ist diese Art der Erziehung einseitig. Hier macht aber die Nikkyôsô8 – nun ja, nicht Gehirnwäsche (sennô) – aber sie erzählt so Sachen wie ‚Japan ist schlecht‘. Wo man bis jetzt eine Erziehung an der Grenze zur Gehirnwäsche durchgeführt hat, ist es meiner Ansicht nach gut, dass es nun ein System gibt, bei dem es möglich ist, Patriotismus (aikokushin) zu lernen. Aber wenn man mich fragt, ob es gut ist, Patriotismus in der Schule zu lernen, würde ich eher sagen, dass die Unterrichtung in der Landessprache (kokugo kyôiku) wichtig ist.“ (Taichi)
Auf die Frage, ob er sich Gefahren einer Patriotismuserziehung vorstellen könne, antwortet Taichi, dass Patriotismus durch die japanische Geschichte einen „gefährlichen Geruch“ (kiken na nioi) habe und es sicher nicht gut sei, wenn diese Art des Unterrichts zu weit ginge (ikisugi). Unbedarft fügt er an, dass man dies ja bei der Bezeichnung des Fachs mit dem Label „gesunder Patriotismus“ (kenzen na aikokushin) verhindern könne.
8 Japanische Lehrergewerkschaft, die von den Konservativen als äußerst links gebrandmarkt wird und bei diesen häufig im Verdacht steht, die Jugend mit einem „masochistischen Geschichtsbild“ zu indoktrinieren.
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Taichi hält gleichzeitig die Beziehung Japans zu Asien für wichtig, geht aber nicht davon aus, dass sich der Geschichtsstreit zwischen Japan und seinen Nachbarn lösen lässt. Es sei nicht konstruktiv, nur die dunklen Seiten der japanischen Geschichte zu betonen, weshalb er ein Ende des „masochistischen Geschichtsbildes“ ( jigyaku shikan) fordert. Auf die Frage, ob es dann besser wäre, diese Geschichte gar nicht mehr in der Schule zu lehren, verneint Taichi dies mit dem Kommentar „dann würden wir ja wie Nordkorea werden“. Es sollten allerdings nur „Fakten“ in die Geschichtsbücher Eingang finden. Denn es sei doch komisch, wenn über das Nanking-Massaker geschrieben werde, dass 200.000 Menschen getötet worden seien, wo die Stadt selbst nur 60.000 Einwohner gehabt habe. Nur wenn dies wirklich auf Fakten basiere, solle es Eingang in die Lehrbücher finden. Wie Taichi fordert auch Anna, über die guten Seiten der japanischen Geschichte zu berichten. Sie steht Patriotismusunterricht nicht ablehnend gegenüber, da es für den Einzelnen die Möglichkeit biete, Japan auf verschiedene Weisen zu erleben. Geschichte solle generell objektiv (kyakkanteki) dargestellt werden und sowohl gute als auch schlechte Seiten beleuchten. Für die Patriotismuslehre kann sich auch Yûko erwärmen, solange damit nicht übertrieben werde (ikisugi). Als ich sie frage, ab wann es zu viel werde, sagt Yûko, dass in Südkorea den Kindern eingeimpft werde, Japan sei aufgrund des Kriegs schlecht. Das sei keine Erziehung mehr, sondern werde den Kindern „eingetrichtert“. Auf die Frage, ob diese Erziehung dazu dienen sollte, mehr Selbstvertrauen und Stolz auf Japan zu empfinden, erwidert sie, dass Japan im Krieg nicht viele Dinge getan hätte, auf die es stolz sein könne. Einige der Befragten, wie Ako, Haruka oder Risa, hegen jedoch Zweifel, ob Patriotismus überhaupt erlernt werden kann. Die Wirkung eines Patriotismusunterrichts sieht Haruka auch aufgrund des Testcharakters skeptisch, da dieser immer die Nuance des Zwanges habe und man das Gelernte danach sowieso wieder vergesse. Aber wenn in anderer Weise ein Ort des Austauschs über das Thema entstünde, könnte das die Japanliebe beflügeln. Risa merkt an, man solle lieber über Japan an sich lernen und wenn daraus Patriotismus erwachse, sei das gut. Wenn der Unterricht aber bereits Patriotismus als Ziel habe, sei das „Gehirnwäsche“ (sennô kyôiku). Auch Jun befürchtet, dass aus Patriotismusunterricht Menschen mit Vorurteilen hervorgehen, und er ergänzt: „Ich denke zwar, man kann Patriotismus lernen, aber ich sehe keine Notwendigkeit dafür“. Auch für Akira ist Patriotismus zwar erlernbar, es sei aber fraglich, ob es überhaupt Leute gäbe, die diesen vermitteln könnten, da eine der Hauptfragen zunächst sei, wie man Patriotismus definiere und ob der Unterricht sich nicht in bloßen Parolen vom „japanischen Geist“ (Yamato damashii) erschöpfe. Die Frage sei auch, ob Leute, die eine solche Erziehung erführen, sich abhängig von der Vorgabe des Lehrenden, was Patriotismus sei, den globalen Herausforderungen überhaupt anpassen könnten. Akira selbst sei durch die Lektüre „repräsentativer Japaner“ wie des christlichen Autors Uchimura Kanzô (1861 – 1930) oder des Literaturkritikers Kobayashi Hideo (1902 – 1983) „emotional berührt“ worden (kandô shimashita) und hätte so
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erfahren, wie Japan früher gewesen sei, gar wie Japaner an sich seien. Er sieht aber die konservative Überbetonung solcher Figuren kritisch, durch die japanische Geschichte verklärt werde (sanbi). Dies könne schließlich auch in Kriegsverherrlichung münden (sensô sanbi). Er ergänzt: „Wenn Japan in der Klemme ist, schaut man zurück in die Geschichte, Wenn es rund läuft, folgt man einfach den anderen (mane gêmu)“. Hier liege sein persönliches Problem mit der Vorgehensweise der Konservativen, da er zum einen die Selbstreflektion (hansei) über die eigene Geschichte für wichtig erachte und andererseits nicht glaube, dass wie die Konservativen es behaupteten, durch das verhaftet bleiben in der Geschichte Japan wieder so erstarkt wie früher. Besser wäre ihm zufolge eine Zukunftsorientierung. Laut Akira seien die „Heldenseelen“ zwar auf jeden Fall alle „wunderbare Menschen“ gewesen (eirei-tachi, mochiron mina rippa), Menschen wie Tôjô Hideki9 (1884 – 1948) seien auch „wunderbar“ (mina sorezore subarashii ningen) gewesen, aber Leute wie Mishima Yukio oder Kobayashi Yoshinori, die den Krieg verherrlichten, könnten nicht zugeben, dass diese Menschen Fehler gemacht hätten. Akira spricht über die defizitären Strategien der Machthaber im Krieg und die psychische Verfassung der Japaner, die sich nach den Siegen im Sino- und Russisch-Japanischen Krieg (1894 – 95 bzw. 1904 – 05) nicht mehr vorstellen konnten, verlieren zu können. So seien sie, ohne ihr Scheitern zu analysieren, von einer Niederlage zur nächsten geeilt, weil sie nicht genügend über die trügerischen Punkte des als „Antithese zum westlichen Wissenschaftsglauben aufgebauten Idealismus (seishinshugi)“ reflektiert hätten. Es fiel auf, wie oft die Befragten, ohne explizit auf das Thema angesprochen zu werden, den japanischen Geschichtsunterricht kritisierten. Wie beispielsweise von Yûko problematisiert, habe man einfach nur bestimmte Ereignisse gelernt, ohne genauer deren Hintergründe zu erörtern. Auch Naoto kommt von sich aus auf das Thema zu sprechen und führt aus, dass er den Geschichtsunterricht verändern möchte. Im bisherigen Unterricht wisse man nicht, was wirklich wahr sei, was „Fakten“ seien und was nicht. Man bekomme erzählt, dass Japan Schlechtes (Nihon ga warukatta) getan habe, aber erfahre nicht die Gründe für dieses Urteil. Auch im aktuellen Geschichtsstreit mit China sei dies klar geworden. Es sei aber nicht ersichtlich, ob die chinesische Lesart der Geschichte wirklich richtig sei und auch nicht, ob die japanische Lesart ein bestimmtes Ziel verfolge. Die Lösung der Geschichtsprobleme sei jedoch der zentrale Punkt in der Verbesserung der Beziehungen zu China und Südkorea. Naoto vergleicht die Beziehung von China und Japan mit der eines gehänselten (ijime) Grundschülers und dessen Peinigers. Der Peiniger habe seine Tat sofort wieder vergessen, nachdem er sich entschuldigt habe, das Opfer jedoch könne die Tat viel schlechter vergessen. In dieser Hinsicht sei es schwierig, den chinesisch-japanischen Konflikt zu lösen. Zu Abes Erziehungsreformen erklärt er, dass er es gut 9 General der japanischen Streitkräfte und 1941 – 1944 japanischer Premierminister. 1948 als Kriegsverbrecher verurteilt und hingerichtet.
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fände, mehr über Japan in der Schule zu erfahren. In Japan gebe es keinen starken Patriotismus, weil die Möglichkeit über Japan nachzudenken nicht vorhanden sei. Da Patriotismus und Nationalismus aber belastete Begriffe seien, sollte man diesen Unterricht anders bezeichnen, etwa ganz simpel „über Japan“ (Nihon ni tsuite). 5. Von „gesundem“ und „natürlichem“ Nationalismus Während Risa und Taichi bereits von sich aus den Ausdruck „gesunder Nationalismus“ anführten, wurde in anderen Interviews explizit versucht, von den Befragten zu erfahren, ob es aus ihrer Sicht so etwas wie „gesunden“ oder „natürlichen“ Nationalismus bzw. Patriotismus gibt. Ako kann damit wenig anfangen und bittet mich zu erklären, was Patriotismus (aikokushin) genau sei. Sie antwortet schließlich ausweichend, dass sie keine starken Gefühle ihrem Land gegenüber empfinde, und fügt an: „Ich denke, es ist nicht nötig, einen so starken, rechten Patriotismus zu haben“. Jun gibt an, Japaner zu sein, bedeute für ihn nicht mehr, als einen japanischen Pass zu besitzen. „Japaner“ sei für ihn nur ein Label, das man ihm anhefte (retteru o haru). Patriotismus ist aus seiner Sicht so lange gesund, wie damit niemand belästigt werde. Auch Risa sieht dies ähnlich: „Wenn es in Dir selbst ist, in deiner Gemeinschaft (komyuniti), dann ist es gesund. Wenn es sich gegen eine andere Person richtet, wenn es zu einem Vergleich wird, dann ist es nicht gesund“. Patriotismus sei eine Bestätigung (seitôka) der Gemeinschaft, zu der man gehöre. In diesem Sinne sei auch die Unterstützung des eigenen Teams oder der Gemeinschaft „natürlich“ (atarimae). Einigen Befragten legte ich eine Textstelle von Fujiwara Masahiko vor, in dem dieser eine natürliche und untrennbare Verbindung zwischen der Liebe zur Familie, der Heimat und dem Land herstellt10. Taichi stimmt Fujiwaras Aussage sofort energisch zu (sono tôri). Wenn man in Kategorien von Ländern denke (kuni tan’i), dann hätte man ohne die von Fujiwara beschriebenen drei Lieben zu Land, Herkunftsort und Familie keine Individualität (kosei). Die Textstelle bringt ihn lange zum Überlegen wobei er anmerkt, dass es schwierig sei, solche „selbstverständlichen“ Sachen (atarimae) in Worte zu fassen. Leute, die die Liebe zu Heimat, Familie und Land nicht empfänden, sieht er als Linke, die wenn sie auf internationaler Ebene gefragt würden, was ihr Standpunkt sei, sich nicht äußern könnten. Solchen Leuten empfiehlt er, gleich „auszuwandern“. Er fragt mich schließlich, ob ihn die Kritik der Linken (sayoku) zu einem Rechten werden lasse (uyoku). Auf der anderen Seite – so betont Taichi – sei aber ein „Trance-Zustand“ des „weil ich Japaner bin“ falsch, die von Kayama beschriebenen Jugendlichen seien in 10 „(…) Menschen, die ihre Familie von Herzen lieben, (…) ihre Heimat (kyôdo) mit Tränen in den Augen lieben, die Kultur und Traditionen ihres Vaterlandes (sokoku) über alles lieben, können auch gut die gleichen Gedanken von Menschen aus anderen Ländern verstehen. (…) Menschen, die diese drei Lieben [Familie, Heimat, Vaterland] nicht besitzen, können nirgendwo in der Welt, wohin sie auch gehen, mit Respekt, geschweige denn mit Vertrauen behandelt werden“, Fujiwara (2011), S. 94.
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dieser Hinsicht „Rechte“ (uyoku). Sowohl solche „Linke“ als auch „Rechte“ könnten keine Unterhaltung mit jemandem aus dem Ausland führen, da sie nichts über Japan wüssten. Wer aber über Japan nachdenke, könne die guten Seiten Japans und die des Auslands miteinander verbinden und auch das Gegenüber besser verstehen, da man sich gegenseitig vergleichen könne. In diesem Falle könne man auch vom Anderen respektiert werden, da man einen eigenen Standpunkt vertrete. Auch Akira denkt über Fujiwaras Textstelle lange nach und betont schließlich, dass alle Lieben, ob zur Familie, dem Land etc. nur ein Hirngespinst (kûsô) blieben, solange sie von irgendjemandem vorgegeben würden, ohne dabei auf eigenen tatsächlichen Erfahrungen zu beruhen. In diesem Sinne sei es besser, wenn es solche Texte nicht gäbe. Nur mit bloßen Worten setze man nichts in Bewegung, wenn man den Patriotismus fördern wolle. Anna hat mit der Aussage Fujiwaras ein Problem, da sie, die im Kindesalter oft umzog, nicht genau wisse, wo ihr Heimatort (kyôdo) eigentlich sei und wie man seine Darstellung wohl bewerten müsse, wenn man sich z. B. durch Heirat an einem anderen Ort niederlasse, der dann zur neuen Heimat werde. Auch Madoka ist skeptisch, da sie selbst ihren Heimatort in der Toyama-Präfektur nicht möge und viele in ihrer Umgebung ähnlich dächten. Über ihre Beziehung zu Japan sagt sie, dass sie dort nun einmal geboren worden sei – das sei aber auch gut so (yokatta). Man könne nichts daran ändern (shô ga nai). Sie sei an Japan gewöhnt (narete iru) und kenne nichts anderes (Nihon shika shiranai), hätte gar Angst irgendwo anders hinzugehen (hoka no tokoro wa kowai). Kaori empfindet die Verknüpfung von Respekt einem Individuum gegenüber und dessen Patriotismus als problematisch. Dies seien doch zwei verschiedene Dinge. Sie hätte diese Art der Einstellung nicht, aber ihr über 80-Jähriger Großvater würde manchmal weinen, wenn der Tennô im Fernsehen auftrete. Haruka vertraut mir an, dass das Verhältnis zu ihrer Familie nicht das Beste sei, weswegen sie Fujiwaras Aussage schwierig finde. Außerdem wisse sie nicht, wie man diese Liebe zum eigenen Land bemerken könne, wenn es keine Gelegenheit (kikkake) dazu gebe. Aber danach direkt gefragt, würde man auf jeden Fall antworten, „ja, ich mag Japan“. Ihr zufolge könnte sich ein stärkerer Patriotismus in Japan herausbilden, wenn diverse Grenzen, etwa jene zwischen den Generationen abgebaut, und die Gelegenheiten, mit verschiedenen Leuten in Verbindung zu treten (sessuru kikai), zunehmen würden. Denn bisher bestünde kaum die Möglichkeit, sich über Patriotismus nähere Gedanken zu machen. 6. Dumpfe Gefühle der Bedrohung Während die Mehrheit der Befragten eine positive Grundeinstellung auch zu ihrer eigenen Zukunft teilte, wurde in Bezug auf Japans Perspektiven in einigen Gesprächen ein mehr oder weniger starkes Krisengefühl deutlich. Taichi sieht diese Empfindung auch als Grund dafür, dass die japanische Jugend in den letzten Jahren unter dem Verdacht stehe, besonders patriotisch zu sein. Es sei genau seine
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Generation, die ein gewisses Krisengefühl (kikikan) verspüre, was mit der Globalisierung und den zunehmenden Gelegenheiten, mit Ausländern in Berührung zu kommen, zu tun habe. Daher müsse sich diese Generation zwangsläufig auch über Japan stärkere Gedanken machen. In einem Klima sich global angleichender Werte, in der immer mehr Japaner Englisch verstünden und Informationen und Waren aus dem Ausland nach Japan kämen, würde man sich überlegen, was Japan eigentlich ausmache (Nihon tte nan na no?) und wie es sich unterscheide. Ohne sich solche Gedanken zu machen, würde man bloß ein Mensch sein, der Englisch spreche, aber kein Japaner sei. In etwa der Hälfte der Interviews äußerte sich dieses Krisengefühl auch in unterschiedlich ausgeprägten Ressentiments gegen China und Südkorea. Dabei erscheint meist das Bild von Südkorea besser, in einigen Ausnahmen aber auch schlechter als das Image von China. Als ich Madoka auf die Senkaku-Inseln anspreche, bezeichnet sie China als „nervig“ (mendôkusai) und äußert ihr Unverständnis über die Haltung des Nachbarn: „Ich weiß wirklich nicht, was China da will. warum bedroht China uns so? Und Taiwan macht da auch noch mit, was soll das?“. Wenn Japan wirklich glaube, dass die Inseln sein Territorium seien, solle es sich auch dafür einsetzen. Ein Krieg sei allerdings auch „nervig“, da Japan aufgrund fehlender Stärke verlieren würde, was besonders schlimm wäre (Saiaku! Chûgoku wa iya desu yo). Von China sei man diese Art schon von früher gewöhnt, Südkorea sei aber erst seit kurzem stärker in die Wahrnehmung Japans gerückt, weswegen Madoka Südkoreas Haltung noch schlimmer vorkomme. Nach Südkorea könne man aber billig verreisen und das Essen sei gut, weswegen es auch den Korea-Boom gebe. Nach den Gründen für ihre China-Furcht befragt, berichtet sie von einer antijapanischen Stimmung in China, von der sie in den Nachrichten gehört habe. Sie glaube zwar, dass dies nur ein Teil der Chinesen sei, aber dennoch würde es ihr Angst machen. Von Chinesen wisse man generell nicht so genau, was sie vorhätten. Als ich der vom Land stammenden Madoka beiläufig erzähle, dass es in Tôkyô viele Chinesen gebe, äußert sie erneut ihre Ängste (kowai!). Kaori zeigt ähnliche China-Furcht und sagt über Südkorea: „Ich persönlich habe nichts gegen Südkorea. Südkoreanische Politiker hasse ich allerdings. Aber Südkorea als Land hasse ich nicht“, Auch Taichi hat Angst vor China, dessen Absichten unklar seien ( futômei). Er betont aber, dass er viele chinesische Freunde habe und gerne selbst einmal nach China reisen würde. Wenn er jedoch die chinesischen Politiker sehe, hielte er das Land für gefährlich (kiken). Naoto, den ich direkt auf sein China- und Südkorea-Bild anspreche, antwortet ohne lange zu überlegen, dass er beide Länder „als Land“ hasse (kirai), aber „nichts gegen die Leute“ habe. Während sein Koreabild noch schlechter ist, hält er den Chinesen immerhin zugute, dass man mit ihnen „vernünftig Geschäfte“ machen könne.
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7. Japans Rolle in der Welt – Nur eine „Tulpe“ unter vielen? In den meisten Interviews wurde deutlich, dass junge Japaner ein auf internationaler Ebene eigenständiges Japan propagieren, wobei sie sich vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht eine Vorbildrolle wünschen. Eher als anderen zu folgen, soll Japan führen. Hierbei wird bei einigen Teilnehmern die Furcht deutlich, Japan könne seine Identität durch eine wachsende Globalisierung und Öffnung nach außen verlieren. Taichi etwa findet, dass sein Land sich nicht einem globalen Standard anpassen, sondern selbst die globalen Richtlinien setzten solle. Wenn dies nicht passiere – so seine Metapher – würde die Welt bloß nur noch aus Tulpen bestehen, die alle dieselbe Farbe hätten (tada isshoku no churippu). Die Welt würde zu einem Land werden und Kriege gäbe es auch nicht mehr. Als ich anmerke, dass es doch gar nicht so schlecht wäre, wenn es keine Kriege mehr gäbe, korrigiert sich Taichi und sagt, die Individualität (kosei) und die japanische Identität gingen dann verloren. Wenngleich auch andere Formen von Identität denkbar wären, so erkennt er im Rahmen der Globalisierung das eigene Land als den am stärksten hervortretenden Identitätsbezug. Einen Grund hierfür sieht er in der von ihm betonten Bedeutung der Muttersprache, da man auf Japanisch denke und artikuliere. Er impliziert so eine „nationale“ Codierung durch die eigene Sprache, der man nicht entkommen kann und die auf die Kategorie „Japaner“ normiert. Japaner, die Englisch beherrschten und sich einfach globalen Entwicklungen „anpassen“, ohne diese „japanisch“ zu beeinflussen, verlieren so ihr „Japanischsein“. Für Japan wünscht Taichi sich eine ähnliche Rolle wie die Schweiz (neutral aber bewaffnet) und hofft zudem auf eine stärkere Verbreitung des japanischen Wirtschaftsstils. Als Beispiel führt er an, dass Italiener z. B. von der japanischen Pünktlichkeit lernen könnten. Solche Dinge, die Japan gut beherrsche, sollten globaler Standard werden. Auch Yûko sieht eine Notwendigkeit, sich den Herausforderungen der Globalisierung zu stellen. Im Klartext sieht sie Japans Rolle in Asien als die des „Versöhners“ (wakai saseru) und hält eine Führungsrolle in Asien für nötig, bei der Japan die anderen Länder „mitreißen“ müsse (hippatte iku). Auf nähere Nachfrage korrigiert sich Yûko jedoch und ergänzt, dass es vielleicht nicht so gut sei, sich nur auf Asien zu fokussieren, sondern dass man gerade aufgrund der wachsenden Stärke Chinas eine globalere Sicht einnehmen solle. Akira kritisiert an der jetzigen Denkweise der Japaner das mangelnde und nur oberflächliche Verständnis globaler Prozesse, bei der die Globalisierung nur einen rhetorischen (shûjiteki) Charakter habe und sich zum Beispiel in der Betonung der Wichtigkeit des Englischen erschöpfe, ohne zu verstehen, was eigentlich in den zwischenstaatlichen Beziehungen passiere. Aus diesem Grund sieht er die Notwendigkeit, zunächst das „Mindset“ (maindosetto) der Japaner zu ändern. Hierzu sei die Verfassungsreform bloß ein nötiges Mittel (shudan). Da andere Länder die gleichen Rechte besäßen, sieht er an dem Vorgang auch nichts Besonderes. Eher aber als einen eigenen Nationalismus zu finden, sei es nötig, innerhalb der
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derzeitigen Globalisierung Japans Position zu bestimmen. Er kritisiert in diesem Zusammenhang Politiker, die einfach nur sagten „Japan ist toll“ (Nihon saikô). Es fehle jemand, der die verschiedenen Positionen zusammenfassen und die Richtung anzeigen könne. Akira sieht in Japan zudem Defizite des Meinungsaustauschs, was bereits in der Schule beginne. Dieser sei jedoch wichtig, um den Anderen und dessen Handeln zu verstehen. Eher als über Japan nachzudenken, soll dieses sich gegenseitig Kennenlernen auf globaler Ebene stattfinden. Ihn stört es, dass es oft heiße, lerne lieber erst einmal anständig Japanisch und lies das Man’yôshû11 anstatt Englisch zu lernen. Durch das Lernen von Fremdsprachen würde aber im Gegenteil der Wortschatz in der eigenen Sprache ebenfalls bereichert. Kaori will Japan zu einer Wirtschaftsmacht werden lassen (keizai taikoku). Momentan würde man aber gegen China „verlieren“. Als ich sie frage, mit welchem „Label“ sie das gegenwärtige Japan beschreiben würde, antwortet sie: „Pazifistisch verblendeter Staat“ (heiwa boke kokka). Um wieder eine Wirtschaftsmacht zu werden, müsse sich Japan stärker globalisieren. In Japan gebe es fast nur japanische Unternehmen, es müssten aber auch mehr Ausländer aufgenommen werden: „Meine Vorstellung von einem globalen Land ist irgendwie, dass verschiedene Ethnien (minzoku) in einem Land zusammenkommen“. Dabei will sie Chinesen aber lieber außen vor lassen (Chûgokujin kitara, kowai desu). Ähnlich fordert auch Madoka eine wirtschaftliche Führungsrolle und eine generell bedeutsamere Position Japans in der Welt, wobei man sich nicht zu sehr auf Asien konzentrieren solle. Ihre Hoffnung ist dabei ein positives Japanbild im Ausland. Anna beschreibt Japan als ein „Fortschrittsland“ (hatten kokka), das sich immer weiterentwickle, wobei sie mir das amerikanische „iPhone“ als Beispiel für japanischen Fortschritt nennt. Dennoch wünscht sie sich Japan nicht als Nummer eins in der Welt und spricht sich gegen einen zu engen Fokus des Landes auf Asien oder den Westen aus. Es sei vor allem auch wichtig, sich nicht auf seine eigenen Traditionen zu versteifen und auch die Kulturen anderer Länder und deren positive Seiten zu sehen. Ryôsuke hingegen sieht Japans Zukunft weniger rosig und vermutet durch den möglichen Niedergang des Landes als Wirtschaftsmacht einen potentiellen Wandel der Wertesicht Japans, bei der Materielles keine wichtige Rolle mehr spiele und das Land einen neuen Bereich finden müsse, in dem es Vorbild sein könne. 8. Konzeptionen von Staat und Nation Die meisten Befragten offenbarten ein sehr vages Verhältnis zur Politik, was mit Verständnisdefiziten zusammenhängt. So bemängelt Madoka, dass die japanische Politik schwer verständlich und intransparent sei. Zudem wird wiederholt das häufige Wechseln der Premierminister angeführt, wobei sich Yûko für die Zukunft 11
Japanische Gedichtsammlung, die im 8. Jh. zusammengestellt wurde.
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mehr Stabilität wünscht. Auch Anna betont, dass es in Japan komisch sei, wenn der „Präsident“ (daitôryô), sie verbessert sich – „Premierminister“ (sôri daijin) so oft wechsele. Ähnlich unklar fällt konsequenterweise das Verhältnis zum Staat aus. Taichi sieht die Rolle des Staates (kokka) bzw. der Politik darin, das Land (kuni) so zu bewahren, dass die Bevölkerung (kokumin) ein gutes Leben führen kann. Ähnlich soll laut Yûko der Staat gute Lebensbedingungen für das Volk schaffen. Die ideale Beziehung von Staat und Bevölkerung wurde meist auf das Zahlen von Steuern reduziert, was als wichtigste Pflicht des Bürgers gegenüber dem Staat etwa von Yûko, Risa und Ako angegeben wurde. Der Staat wiederum solle dieses Geld auf Bildung und Soziales verteilen. Ako und Risa bemängelten zudem, dass in Japan Menschen und Politik zu stark voneinander getrennt seien. Laut Risa sei Japan einerseits zwar „gesegnet“, weil es keine Wehrpflicht habe, andererseits würde es dadurch auch an Chancen mangeln, eine Beziehung zum eigenen Land zu spüren. Dies ist aus ihrer Sicht ein Grund, warum in Japan die Loyalität zum Staat schwächer sei als anderswo. Die meisten Gesprächspartner waren zwar der Auffassung, dass das Anfeuern Japans bei Sportevents nichts mit der Unterstützung Japans als Land oder Staat zu tun habe. Ihre persönliche Beziehung zu Symbolen Japans wie der Hymne oder der Fahne war dennoch gespalten. Nur Yûko und Taichi gaben an, die Fahne zu schwenken bzw. die Hymne zu singen, Ryôsuke etwa malte sich die Fahne bei der Fußball-WM auf die Wangen. Die Mehrheit der Befragten jedoch respektiert zwar, wenn andere die Fahne schwenken, für sie selbst kämen solche offenkundigen Patriotismusbekundungen nicht in Frage. Kaori etwa betont: „Ich denke nicht, dass es unbedingt nötig ist, die Fahne zu schwenken (…). Wenn man das Beispiel Fußball nimmt, tragen die Leute das blaue Trikot weil die Spieler es tragen und man auf diese Weise ein Teil des Teams werden will. In meinem Fall denke ich, dass das Anfeuern des japanischen Teams, das Japan repräsentiert und [zum anderen] Japan als Land, dass das doch zwei verschiedene Dinge sind. (…) Das Team repräsentiert zwar Japan, aber einen dahinter stehenden Patriotismus auf Japan als Land bezogen, spüre ich dabei nicht. Ich glaube nicht, dass die Fahne geschwenkt wird, weil es sich um Japan handelt, sondern eher, weil es um dieses Team geht.“ (Kaori)
Auch Kaori würde wie Ako oder Yûko, wenn das Team eine eigene Fahne hätte, diese und nicht die japanische schwenken. Im Weiteren erscheint interessant, dass außer Akira, Risa oder Taichi, die sich mit dem Thema offenbar intensiver beschäftigt haben, die Mehrheit der Befragten angibt, sie hätten sich mit Patriotismus noch nie näher befasst. Ryôsuke, Naoto, Madoka, Anna, Ako oder Haruka seien durch das Interview angeregt worden, sich zum ersten Mal über das Thema Gedanken zu machen. Dazu wurde z. B. von Kaori angemerkt, dass es normalerweise im Alltag kaum Gelegenheit dazu gebe, sein eigenes Land wahrzunehmen (ishiki). Ihr zufolge liegt dies auch an Japans Insellage, wegen der es an Möglichkeiten fehle, sich (mit dem Anderen) zu vergleichen (hikaku), was auch ein Grund für das Desinteresse an Japan und japanischer Politik sei. Auf dem Kontinent wären dadurch, dass Staaten näher beieinander lägen, die
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Vergleichsmöglichkeiten größer. In letzter Zeit häuften sich aber auch in Japan durch die Bedrohung durch Nordkorea oder die verstärkte Präsenz Chinas diese Gelegenheiten, aus denen sich wohl als Folge auch so etwas wie Patriotismus (aikokushin) bilde. Ein weiterer Grund für das Desinteresse sei die „pazifistische Verkalkung“ (heiwa boke): „Zum Beispiel im Fall von Südkorea, Südkorea weiß nicht wann und ob es von Nordkorea angegriffen wird. Dadurch spürt man die Notwendigkeit, sein eigenes Land zu verteidigen und nimmt sein eigenes Land stärker wahr (ishiki suru). Aber Japan hat bereits entschieden, dass es keinen Krieg führt und ist in einem Zustand, wo es beschützt wird (mamorarete iru jôtai), dadurch gibt es keine Möglichkeit zur Wahrnehmung des eigenen Landes (ishiki suru ba ga nai).“ (Kaori)
Taichi versucht sich an einer Unterscheidung zwischen Patriotismus (aikokushin) und Vaterlandsliebe (sokokuai). Letztere empfindet er als „gesunde“ Identitätsform, während Patriotismus (aikokushin), den er in direkten Bezug zum Land (kuni) sieht, Rivalitäten zwischen Staaten impliziere. Im Gegensatz zu dieser Liebe dem Staat gegenüber sei auf individueller Ebene die Vaterlandsliebe (sokokuai) notwendig, die man seiner Meinung nach auf Englisch als „nationalism“ bezeichne. Taichi koppelt hier den Staat Japan von einer nichtstaatlichen Einheit Japan (im Sinne einer japanischen Nation) ab. In zwischenstaatlichen Beziehungen dürfe man aber als Land keine Schwächen zeigen, weswegen ein starker Patriotismus (aikokushin) für Staatsbedienstete nötig sei. Yûko hält ihren Patriotismus für schwach und zieht zum Vergleich den von Nordkoreanern heran. Trotzdem liebe sie Japan aber, weil es dort leicht zu leben sei. Und wenn Ausländer Japan kritisierten, würde sie das als traurig und unangenehm empfinden und versuchen, die guten Seiten von Japan zu betonen. Als ich frage, was das Gute an Japan sei, erwidert Yûko, die noch nie im Ausland war, dass Japan sicher sei, während man über das Ausland sage, dass einem dort auf offener Straße die Brieftasche gestohlen werde. Neben der ersten Priorität des Steuerzahlens für Bürger sieht sie auch die Möglichkeit z. B. nach dem Tôhoku-Beben freiwillige Beiträge zu leisten. Auf die weitere Nachfrage, ob sie denn schon geholfen habe, verneint sie dies und erwidert sofort, „ich müsste das eigentlich machen, nicht wahr?“. Sie räumt ein, dass sie in dieser Frage Druck verspüre und verweist auf die Fernsehberichterstattung, die einen denken lasse, „ich muss auch etwas tun“. Alle hätten den Strom aus Fukushima benutzt, aber nun blieben die Folgen des Unfalls an den Menschen vor Ort hängen, was sie als „ungerecht“ empfindet. Im Gespräch mit Ryôsuke spreche ich diesen „gefühlten Druck“ zur Mithilfe an und er bejaht, dass es solche Tendenzen gebe, die „Verbindung“ (kizuna) zwischen den Japanern zu stärken, doch für ihn überwiegen bei den Durchhalteparolen von Politik und Medien die positiven Seiten. Auch Haruka berichtet, dass durch das Erdbeben der Patriotismus in Form einer „Verbindung“ (kizuna) zwischen den Menschen stärker geworden sei, obwohl sie selbst diese Denkweise nicht teilen würde. Laut Anna habe die Naturkatastrophe gezeigt, dass die sonst egoistischen Japaner in Krisen zusammenhielten. Auch Kaori kommt auf das Beben zu spre-
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chen und sagt, man müsse Verzicht üben, um Tôhoku zu helfen. Gleichzeitig kritisiert sie die Politik, die das Geld nicht für die Krisenregion, sondern für die Renovierung des Bahnhofs von Tôkyô verwendet habe. Die patriotischen Parolen seien also nur leere Worte gewesen. Kaori und Ryôsuke, die im Krisengebiet waren, weisen zudem auf Diskrepanzen zwischen der Medienberichterstattung und der tatsächlichen Situation hin. Laut Kaori seien die Reportagen unrealistisch und erschienen gar wie ein „Manga oder Anime“. Andere wie Madoka jedoch vertrauen der Regierung, z. B. in Bezug auf die Lebensmittelsicherheit. 9. Manifestationen des Nihonjinron: „Wir sind eine überlegene Nation“ Bei allen Befragten offenbarten die Interviews die Existenz weithin verbreiteter Stereotype über Japan – meist jedoch auf eher „harmlosem“ Niveau. Dabei werden Japaner gern als „ernsthaft“ (majime, kinben) (Kaori, Naoto), „gewissenhaft“ (komakai) (Kaori, Anna) oder „duldsam“ (gamanzuyoi) bezeichnet, was man als positive Eigenschaften anführt. Negativ wurde angemerkt, dass Japaner nicht offen ihre Meinung sagten (Naoto), was teilweise allerdings auch positiv bewertet wird. Yûko etwa sieht ihre Landsleute im Vergleich zu Ausländern als eher introvertiert an (uchiki) und fügt mit leicht negativem Unterton hinzu, dass Japaner, die lange im Ausland gelebt hätten, auf einmal anfingen, ihre Meinung „übermäßig“ zu äußern. Auch, dass Japaner zu viel arbeiteten, wurde als Negativum betont. So ist Anna der klischeehafte japanische Firmenangestellte (sararîman) zuwider, der sie Japaner gar mit „Ameisen“ vergleichen lässt, die psychisch schwach seien. Neben solch holzschnitthaften Stereotypen über den „Nationalcharakter“ werden „die Japaner“ von einigen Gesprächspartnern auch als besonders „eigentümlich“ bezeichnet, was quasi als „Tatsache“ erscheint, die nicht weiter hinterfragt wird. Ein Beispiel ist folgender Dialog mit Madoka, bei dem „das Ausland“ (in dem sie noch nie war) als „Beweis“ dient: R.R.: „Glaubst Du denn, dass Japaner im Vergleich zu anderen Ländern etwas ‚Besonderes‘ an sich haben?“ Madoka: „Hm, aber denkst Du nicht [auch], dass Japaner etwas eigentümlich (dokutoku) sind?“ R.R. „In welcher Hinsicht?“ Madoka: „Ästhetik (kansei) und so [lacht]. Japaner sind empfindsam (kankakuteki)“. R.R.: „Hast Du ein Beispiel dafür?“ Madoka: „Ein Beispiel? Hm, was denn bloß, ich weiß es nicht [denkt lange nach]“. R.R: „Wie kommt es denn, dass Du so denkst?“ Madoka: „Hm, ob das stimmt oder nicht, weiß ich nicht, aber die Welt sieht Japan im Allgemeinen so irgendwie (…), dass Japaner ihre Meinung nicht deutlich sagen und so (…). In Japan gibt es wohl viele Eigentümlichkeiten (dokutoku na mono ga ôi).“ R.R: „Kannst Du ein Beispiel nennen?“ Madoka: „Ich weiß nicht [lange Pause]“.
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R.R. „Hast Du diese Dinge von jemandem gehört, oder ist Dir das selbst mal aufgefallen?“ Madoka: „Nein, das habe ich selbst…, hm, aber das ist auf jeden Fall so…denkst Du nicht auch so? Dass Japan irgendwie anders (chigau) ist?“ R.R. „Meinst Du im positiven Sinne ‚anders‘?“ Madoka: „Hm, eher auf unangenehme Weise (amari yoroshiku nai).“
Interessanterweise ist diese Art der Selbstorientalisierung vorliegend negativ konnotiert, und im gleichen Atemzug zeigen sich auch Widersprüche und Zweifel an der „japanischen Besonderheit“. Gelegentlich kommt es auch zu beachtlichen Brüchen verbreiteter Stereotype. Anna überrascht entgegen gängiger Klischees mit ihrer Aussage, dass in Japan die Gruppenmentalität (shûdanshugi) schwach ausgeprägt sei, und Japaner somit eine starke Individualität hätten. Aufgrund dieses „Nationalcharakters“ (kokuminsei) sei Japan auch so schwach im Fußball, weil man kein richtiges Team sei, sondern jeder nur für sich spiele. Abseits dieser verhältnismäßig „harmlosen“ Klischees, zeigten sich aber auch härtere Ausprägungen. Ako etwa, die von ihrer Liebe zur traditionellen japanischen Kultur und „Kirschblüten“ sprach, offenbarte einige Denkmuster in „rassischen“ und biologistischen Kategorien, während sie sich auf der anderen Seite sehr unpatriotisch gab. So sprach sie von der Vielfalt der „Rassen“ in den USA und der Internationalität, die in die „Körper der Amerikaner eingesogen“ sei. Während andere Befragte, wie Jun, es für möglich hielten, dass jeder Ausländer ein Japaner werden könne, war es für Ako nur möglich, das „Japanischsein“ zu verstehen, wenn man in Japan geboren und aufgewachsen sei, da dies mit der „Rasse“ ( jinshu) der Person zu tun habe. Im Gegensatz zu den Amerikanern stellt sie Japaner als ein homogenes Volk dar, das im Allgemeinen in Kategorien der Gruppe denke. Auf Nachfrage relativiert sie diese Aussage jedoch und ergänzt, dass sie dieses Gruppendenken nicht möge und viele andere Japaner wohl auch nicht. Gibt sie hier also etwa Stereotype wieder, die von ihr „erwartet“ werden? Auch Ryôsuke hat eine klar definierte Meinung zur „Besonderheit“ der Japaner. Ihm sei sofort der Gedanke des Inselstaats in Bezug auf die Frage eingefallen, was japanischer Patriotismus sei. Inselstaaten hätten nun mal ihre speziellen Eigenschaften, gerade Japan sei besonders eigenartig (sugoku tokuchôteki). Und er führt aus: „Japaner sind sehr stolz (puraido ga takai) auf ihr Japanersein (…), die meisten Japaner denken: ‚wir sind eine überlegene Nation/Ethnie (orera wa yûshû na minzoku)‘. Das glauben alle – vermutlich“. Eine „Erklärung“ für diese Mentalität sieht er in der Tatsache, dass es noch nie gelungen sei, Japan zu kolonisieren. Im kulturellen Bereich sei Japan zwar stark vom Ausland beeinflusst worden, hätte diese Einflüsse aber weiterentwickelt. Das (Wirtschafts-)Wachstum nach Meiji bzw. nach dem verlorenen Weltkrieg – wo gäbe es das sonst schon: „Wenn Du einhundert Japaner fragst: ‚Japan oder Südkorea, welche Nation (minzoku) ist überlegen (sugurete iru)‘, so antworten Dir sicherlich etwa 98 % ‚Japan‘!“. Ryôsuke findet aber, dass Koreaner und Japaner viel gemeinsam hätten. Bei Leuten wie ihm, die einige Zeit im Ausland gelebt hätten, würde sich Patriotismus auch derart äußern,
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dass man den hohen Lebensstandard (sumiyasusa) und das „leckere Essen“ (meshi ga umai) in Japan zu schätzen lerne. Gerade bei Befragten mit Auslandserfahrungen stehen solch triviale Aspekte im Vordergrund, wenn sie die „guten Seiten“ Japans beschreiben. Haruka bemerkt an Japan positiv, dass die Züge pünktlicher und auch die Gastfreundschaft besser als etwa in den USA seien. Solche „praktischen“ Erfahrungen werden auch von Risa oder Jun genannt, die beide den „guten Service“ in Japan betonen. Nach eigener Aussage führt die Auslandserfahrung durch die gewonnene Vergleichsmöglichkeit mit „dem Anderen“ bei den Befragten auch meist zu einem nach der Rückkehr nach Japan eher stärker gewordenen Patriotismus. Ryôsuke z. B. habe so zum ersten Mal festgestellt, dass Japan in vielen Belangen ein „hervorragendes Land“ sei. Ferner berichtet mir Haruka über das Japanbild im Ausland, dem zufolge die japanische Kultur besonders „verrückt“ sei. Auch sie selbst würde diese „verrückte Seite“ an sich bemerken, was wohl auf ihr Japanischsein hindeute. Allerdings finde sie die Betonung der Subkultur in Japan auch „peinlich“. Ihr wäre es lieber, wenn Japan im Ausland wegen seiner Mode oder seiner Cuisine beliebt wäre. Auch Kaori, die kurze Zeit im westlichen Ausland verbracht hat, spricht über das dortige Japanbild, das dem des „High-Tech-Landes“ entspreche. Zudem gelten ihr zufolge Japanerinnen dort als hübsch und reich, weswegen sie froh sei, Japanerin zu sein (Nihonjin de yokatta). Auf Asiaten werde zwar herabgesehen, aber als Japaner habe man noch einen Sonderstatus und stünde innerhalb der Asiaten noch ganz oben (hakujin miman, ajiajin ijô). Eher als über diese Diskriminierung an sich nachzudenken, empfand sie also Genugtuung, Japanerin zu sein. Für das positive Japanbild im Ausland hat sie keine Erklärung, vermutet aber, dass dies mit dem Renommee japanischer Elektronikprodukte z. B. im Vergleich zu chinesischen Produkten zu tun habe. In einigen Interviews konfrontierte ich die Teilnehmer auch mit Slogans zur „besonderen Empfindsamkeit“ der Japaner12. Interessant ist Naotos Reaktion darauf, der beim Lesen der Aussagen zunächst lachen muss und dann angibt, dass sie zwar wahr seien, aber für Japaner eine solche Selbstverständlichkeit (atarimae) darstellten, dass es im Gegenteil komisch sei, das so offen zu sagen (iu made mo nai). Um sein Argument zu „stützen“, führt er unvermittelt Ruth Benedicts Nihonjinron-Klassiker „Chrysantheme und Schwert“ von 1946 an, um die japanischen Besonderheiten zu „erklären“. Auch Taichi elaboriert über die „besondere“ Empfindsamkeit der Japaner, die für ihn mit der japanischen Sprache anfängt. Durch die über die mit Texten verbundenen Stimmungen ( jôchô) lerne man auch etwas über die Emotionen früherer Zeitalter, was als Japaner und als Mensch wichtig sei. Auf meine Nachfrage hin kommt er auf mono no aware (vgl. Kap. D.) zu sprechen. In Japan gebe es vier 12 Die verwendeten Slogans stammen aus Fujiwaras Büchern und waren: „Der überlegene Schönheitssinn der Japaner“, „Die Empfindsamkeit [der Japaner] gegenüber der Natur“, „[Japaner] leben mit der Natur in Harmonie“. Vgl. Fujiwara (2005), Fujiwara (2011).
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Jahreszeiten, und mit deren Wechsel würde sich auch die Stimmung der Menschen ändern. Die den Jahreszeiten entsprechenden vier Stimmungslagen seien mono no aware. Laut Taichi gibt es „nur ganz wenige“ dieser Länder: „Ich will nicht sagen, dass es in anderen Ländern keine vier Jahreszeiten gibt, aber in Japan gibt es spezielle vier Jahreszeiten“. Taichi macht somit eine spezifisch japanische Empfindsamkeit gegenüber der Natur aus, die ganz einfach in den Japanern schlummere. Im Ausland würde man der Natur wissenschaftlich begegnen, diese analysieren und davon ausgehen, dass man sie kontrollieren könne. In Japan jedoch würde man die Koexistenz (kyôzon) mit der Natur anstreben, die sich z. B. in der Architektur von Dächern traditioneller Häuser zeige, bei denen sich der Schnee im Winter nicht ansammeln könne. Ähnliche Bauweisen kann er sich außerhalb Japans nur schwer vorstellen: „Ich glaube nicht, dass es das in anderen Ländern gibt. Ich habe das aber nicht nachrecherchiert, deswegen kann ich es nicht hundertprozentig sagen. Jedenfalls sind die Japaner eine Nation, die sich [über die Natur] ihre Gedanken gemacht hat (kufû shite kita minzoku). Ich glaube, das liegt daran, dass Japan ein Inselstaat ist.“ (Taichi)
Auch hier also erneut die Narration von Japan als Inselstaat, die in den Interviews bevorzugt angeführt wird, wann immer „Eigenheiten“ der Japaner besonders „überzeugend“ dargestellt werden sollen. Laut Taichi seien Japaner zudem gut im Übernehmen von Ideen anderer, um diese weiterzuentwickeln, wobei sie dabei auch stets die Beziehung zur Natur bedächten. Außerdem erscheint ihm Japan als eine „Kultur der Farben“. Für dieselbe Farbe gebe es viele verschiedene Ausdrücke im Japanischen, was wohl mit dem japanischen Sinn für Ästhetik und mono no aware zu tun habe. Mono no aware und die Vielfalt der Sprache, in der sie sich ausdrücke, sieht er gleichzeitig als das Beste an Japan überhaupt, wobei er im Gegensatz dazu einen Hang der Japaner zum „Opportunismus“ (geigôsei) als schlechte Seite ausmacht. Dies zeige sich etwa auch im Verhältnis zu China, bei dem sich Japan ständig entschuldige, obwohl es keinen Grund dazu gebe. Auch diese „schlechte Seite“ sei wohl als ein Produkt des mono no aware zu sehen, weil Japaner sich stets Gedanken um ihr Gegenüber machten. Bemerkenswert bei den Aussagen der Befragten über die japanischen Eigenheiten war das Spannungsverhältnis von der vermeintlich selbsterklärenden „Wahrheit“ solcher Ansichten, der Naivität, mit der diese Besonderheiten nur in Japan möglich erschienen, sowie der gleichzeitigen Verunsicherung, wenn man darauf hinwies, dass es die geschilderten Dinge wie Kirschblüten oder Jahreszeiten doch auch im Ausland gebe. Zudem fiel auf, wie verbreitete Stereotype über die Einzigartigkeit „der Japaner“ zur Anwendung kamen, die im Laufe des Gespräches bisweilen von den Befragten dann (unbewusst?) wieder dekonstruiert wurden. Madoka etwa verwendet das Klischee der Kirschblüten als Beispiel für die japanische Empfindsamkeit gegenüber der Natur, nur um später anzumerken, dass es dies aber in anderen Ländern wohl auch gebe und sie selbst eigentlich keine Kirschblüten möge. Aufschlussreich erschien ebenso, dass Madoka, Yûko oder Haruka angaben,
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auch ein Ausländer könne japanische Kultur und das „typisch“ Japanische (Nihon rashisa) ohne Probleme verstehen (teilweise gar besser als Japaner selbst), wobei ihnen die Widersprüche zu der vermeintlichen japanischen „Einzigartigkeit“ nicht auffielen. Yûko monierte gar, dass im Gegenteil viele Japaner die eigene Kultur nicht verstünden. Anna wiederum kann mit „traditioneller“ japanischer Kultur wie „Ikebana“ und „Kabuki“ wenig anfangen. Die ausländischen Einflüsse in Japan seien viel stärker und ausländische Mode und Musik seien „cooler“ als japanische. Japanische Kultur könnte demgemäß unter Jugendlichen erfolgreicher sein, wenn sie „cooler“ wäre. Kaori sieht die Erzählung vom Einklang mit der Natur kritisch, wobei sie das naheliegende Argument anführt, dass es dafür in Japan aufgrund der städtischen Betonwüsten zu wenig Natur gebe. Eher als in Harmonie (chôwa) mit der Natur lebe man getrennt (bunretsu) von ihr, im Gegensatz zu den Leuten auf dem Land. Für sie sei jedoch beides typisch japanisch (Nihon rashii). Aus Kaoris Sicht symbolisiert das Land (inaka) Entspannung (ofu), während Städte wie Tôkyô für Aktivität stünden (on). So erklärt sie auch den Tourismus-Boom in Kyôto in den vergangenen Jahren, da es in der jetzigen Zeit das starke Bedürfnis gebe, in ein altes – entspanntes – Japan zurückzukehren (mukashinagara no Nihon). Das sei vergleichbar mit dem Gefühl, wenn man zu seiner Mutter zurückkehre und von dieser bekocht würde – ein Gefühl der Nostalgie (natsuka shii). Kaoris interessante Aussage beschreibt, wie das durch Kyôto symbolisierte, „verlorenen gegangene“ und vermeintlich „traditionelle Japan“ hier als Folie von Sehnsüchten bzw. Fluchtort dient, als Gegensatz zu einem „modernen“ Japan. Kyôto wird auch in anderen Interviews immer wieder als Symbol für das „traditionelle Japan“ angeführt. Laut Yûko seien (buddhistische) Tempel für Japan besonders repräsentativ. Als ich anmerke, dass es Tempel doch auch andernorts gebe, gerät Yûko kurz ins Grübeln und erwidert, dass es den Kinkakuji-Tempel in Kyôto aber nur in Japan gebe. Wie Kaori sieht auch Madoka eine Antithese in der Beziehung von Kyôto und Tôkyô, die jeweils für das alte bzw. neue Japan stehen, wobei indessen beide gleichermaßen aufzeigten, was Japan ausmache. In Kyôto, so Madoka, versuche man, das alte Japan im ursprünglichen Zustand (mukashi nagara) zu erhalten13. Allerdings betont sie, dass dieses „traditionelle Japan“ auch in anderen Städten wie Nara präsent sei. Tôkyô hingegen sei durch seine vielen Menschen und seine Betriebsamkeit furchteinflößend. Eher als ein Bild von Japan als Ganzem hat Madoka dabei eine Vorstellung von verschiedenen Regionen innerhalb Japans, wobei sie insbesondere die Otaku- und Subkultur als repräsentativ für das Land sieht. 13 Madoka, die nach eigener Aussage wie viele junge Frauen bei den alljährlich im Sommer stattfindenden großen Feuerwerksveranstaltungen (hanabi taikai) einen traditionellen Yukata trägt, ist erstaunt, als ich ihr von einer japanischen Dozentin meiner japanischen Gastuniversität erzähle, die sich einmal darüber wunderte, warum seit einiger Zeit junge Frauen wieder Yukata tragen, der in ihrer Jugend in den 80ern als völlig „uncool“ galt. Die 18-jährige Madoka ist mit dieser Renaissance des Yukata bereits aufgewachsen.
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Auch in Bezug auf das Tôhoku-Beben werden japanische Besonderheiten entdeckt. Ryôsuke erzählt mir, dass die Japaner eine gute Moral bewiesen hätten, weil es trotz der schwierigen Situation nicht zu Krawallen gekommen sei. In Amerika oder anderswo sei dies nicht so selbstverständlich. Die Japaner hätten durch das Beben auch mehr über ihren eigenen „Volkscharakter“ (kokuminsei) erfahren. Er spekuliert hier auf das Vorhandensein einer japanischen Moral (dôtoku) und erklärt, dass schon immer, besonders vor dem Krieg, Wert auf diese Moral gelegt worden sei. Dies veranlasst ihn zu dem Schluss, dass sie wohl in der DNA der Japaner angelegt sein müsse (DNA toshite tabun aru to omou), wobei er zur Unterstützung seines Arguments erneut Japans Lage als Inselstaat anführt. Durch diese DNA hätten sich schon seit Ewigkeiten in Japan zu findende Sitten herausgebildet. Auch Taichi kommt auf die Katastrophengebiete zu sprechen, die er als Freiwilliger besucht hat. Dabei habe ihn die Situation vor Ort emotional sehr bewegt. Ob diese Emotion etwas mit „Japanischsein“ zu tun habe, wisse er nicht, aber es gebe sicher Leute, die das so sähen. Dieses „Wiederaufleben der Seele“ (kokoro no fukkô), das man den Menschen vor Ort durch die Aufbauhilfe zuteilwerden ließe, hätte auch mit Ästhetik (bikan) zu tun.
III. Conclusio: Der Nationalismus der jungen Generation als vage Sehnsucht nach dem „Wir“ Die hier vorgestellten Auszüge aus zwölf Interviews haben Einblicke in die Denkweise junger Japaner über die Beziehung zu ihrem „eigenen“ Land gewährt. Speziell durch den offenen Charakter qualitativer Interviews konnten individuelle Vorstellungen herausgearbeitet werden, die in den vorgegebenen Antwortkategorien quantitativer Studien kaum zur Geltung kommen. Wie in Kapitel E. gesehen, hat das vorhandene statistische Material etliche Fragen hinsichtlich des Nationalismus der jungen Generation sowie deren Motivationen und Einstellungen offen gelassen. Mit den qualitativen Interviews konnte das Verständnis dafür vertieft werden. Man sollte indessen vorsichtig sein, diese Einblicke zu stark zu verallgemeinern. Dennoch haben sich bereits bei dieser begrenzten Samplezahl einige wiederkehrende Muster gezeigt. Die Aussage, dass es heutzutage schwer sei, „Japan“ im Alltag wahrzunehmen, zog sich wie ein roter Faden durch die Mehrzahl der Interviews. Dabei wurde vielfach der Wunsch deutlich, die Möglichkeiten dazu auszuweiten. Selbst Ako oder Jun, die von allen Befragten zu den unpatriotisch sten gehörten, gaben an, dass man glücklich sein könne, wenn man in der Lage sei, patriotisch zu sein. Hier wurde ein gespaltenes Verhältnis zu Japan erkennbar, dass einerseits Patriotismus als unnötig darstellt, andererseits sich in einer solchen latenten „Bereitschaft zum Patriotismus“ äußert, aber die fehlenden Gelegenheiten dazu bemängelt. In diesem Zusammenhang wurde von einigen Befragten speziell das japanische Erziehungssystem und der Geschichtsunterricht in den Schulen kritisiert, die ein positives Verhältnis zu Japan verhinderten. Patriotismusunterricht in Schulen oder
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die Verfassungsreform wurden von über der Hälfte der Befragten eher positiv bewertet, da sie Wege böten, sich näher mit Japan zu beschäftigen. Überraschend war dabei, dass die meisten gängigen Kernelemente bis hin zu den Schlagwörtern konservativer Diskurse, wie sie in den Kapiteln C. und D. behandelt werden, auch bei den Befragten eine Rolle spielten und so deren gesellschaftliche Durchschlagskraft erkennbar werden ließen. In diesem Sinne muss wohl auch der von Kayama beschriebene Sport-Nationalismus eingeordnet werden, der bei fast allen Befragten beobachtet werden konnte, wobei diese selbst dafür oftmals keine Erklärung hatten. Die Interviewpartner sahen darin jedoch weniger einen Nationalismus, sondern beschrieben die Stimmung bei Spielen der japanischen Mannschaft als „Fest“. Aus den Gesprächen wurde dabei deutlich, dass es sich weniger um ein Gefühl der engen Bindung zu Japan als „Land“ oder „Staat“, als politische Einheit im Sinne eines Patriotismus handelt, sondern eher um ein Gefühl der Sehnsucht nach einer gemeinsamen Erfahrung (vgl. auch Kap. G.). Der Hinweis, solch ein Verhalten sei nur beim Fußball möglich, unterstreicht diesen Sehnsuchtscharakter, der dem Ganzen Merkmale einer psychologischen Zufluchtssphäre verleiht. Als das „eigene Land“ bietet Japan die vermeintlich „selbstverständlichste“ und einfachste Projektionsfläche hierzu14. Während auf individueller Ebene ausländische Spieler als „cool“ beschrieben werden, ist die Wahl auf Teamebene klar auf Japan beschränkt, weil man nun mal Japaner sei. In einigen Interviews (z. B. Ako, Yûko) wurde aber angemerkt, dass das Team noch vor dem Land stehe und wenn ersteres eine eigene Fahne besäße, diese und nicht die japanische Fahne geschwenkt werden würde. In anderen Interviews (z. B. mit Taichi) wurde jedoch deutlich, dass das Team als Repräsentant und pars pro toto für die „japanische Nation“ imaginiert wird. Es schien dabei allerdings so, dass sobald die großen Sportveranstaltungen vorbei sind, das (bewusste) Interesse an Japan wieder nachlässt. Auch wenn ein Unterschied zwischen dem Japan repräsentierenden Team und dem Land Japan gemacht wird, zeigt sich dennoch stellenweise sehr wohl das verbindende Element des Sports, das eine gemeinsame, „nationale“ Erfahrung ermöglicht. Gleichzeitig geschieht dies freilich auf eine Weise, welche die unbewusste Akzeptanz dieser vermeintlichen, nationalistischen Selbstverständlichkeit deutlich macht. Zum Beispiel führt Kaori aus, dass Fußball nun mal ein „Volkssport“ sei, den ein großer Teil der Bevölkerung auch selbst betreibe. In diesem Sinne gebe es eine flächendeckende Identifikation mit dem Sport, die bei Weltmeisterschaften eben zum Vorschein komme. Das sei auch ein Grund, warum abseits solcher Events sich keiner mehr für Japan interessiere. Japan als Land werde jedenfalls nicht angefeuert. Sollte es – wie bei Kaori – der Fall sein, dass Japan nicht als Staat un14 Hier sollte auch bedacht werden, dass Olympiaden und Fußballweltmeisterschaften an sich bereits nationalistisch angelegt sind, da sie durch „Nationalmannschaften“ einen „Wettstreit der Nationen“ und damit die Abgrenzung zwischen „in-group“ und „out-group“ befördern.
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terstützt wird, so dient bereits die Installation des Fußballs als „Volkssport“ dazu, zumindest eine gemeinschaftsstiftende „nationale“ Erfahrung zu ermöglichen15. Bei fast allen Befragten wurde ein vages Verhältnis zum Staat deutlich, das sich eher in überaus „praktischen“ Kategorien wie Steuern offenbarte, als in „theoretischen“ oder „ideologischen“ Begriffen. Es zeigte sich auch eine Skepsis gegenüber der Politik in Bezug auf deren Absichten, was etwa Artikel 9 betrifft. Die Interviews machten ebenso deutlich, dass junge Japaner durchaus sehr differenziert mit dem Thema Nationalismus umgehen können und die Bestrebungen „von oben“ durch Medien und Staat, den Patriotismus der Japaner zu stärken, zumindest teilweise durchschauen. Auch die patriotischeren Informanten wie Ryôsuke, Risa, Akira oder Taichi wiesen auf mögliche Gefahren des Patriotismus hin. Akira, der sich als einziger der Befragten selbst offensiv als „Konservativen“ bezeichnete, muss lachen, als ich ihn frage, was für ihn Patriotismus (aikokushin) bedeutet. Er antwortet, dass dieser nicht natürlich, sondern nichts weiter als „bloße Ideologie“ (tada ideorogî) sei. In den Interviews wurde zudem deutlich, dass die Wahrnehmung „des Anderen“ wächst, was wiederum Auswirkungen auf die Sichtweise Japans selbst hat. Insbesondere China und mit Abstrichen Nord- und Südkorea werden als latente Bedrohung empfunden. Generell sehen die Befragten die Notwendigkeit, sich mit dem Ausland stärker als bisher auseinanderzusetzen. Globalisierung wird nicht als Gefahr, sondern eher als unabwendbare Tatsache angesehen. Dabei ist sie auch gleichzeitig Anlass einer stärkeren Beschäftigung mit Japan selbst, die dazu dient, herauszufinden, was Japan eigentlich ausmacht. Dabei wünschen sich die meisten eine positive Rolle ihres Landes, bei der dieses als Vorbild für die Welt wirken soll. Für Akira beispielsweise beinhalten nationale Interessen (kokueki) nicht nur die Interessen Japans, sondern auch die Überlegung, wie Japan andere Länder „glücklich“ machen könne. Die generell vage Vorstellung vom Staat bzw. die ihm entgegengebrachte Skepsis bestätigt auf den ersten Blick Aussagen von Forschern wie Sakamoto Rumi, die Gefahren des von Kayama beschriebenen, „neuen“ Nationalismus der Jugend ausschließen, da letzterer nicht an eine Unterstützung des Staates gekoppelt sei16. Es zeigt sich dennoch ein Widerspruch in dem einerseits erkennbaren Wunsch, Japan mehr „lieben“ zu können und der gleichzeitig verbreiteten Kritik an staatlichen Initiativen, die das gleiche Ziel haben. Der Wunsch, Japan stärker wahrnehmen zu wollen, unterstützt einerseits die von Miura entwickelten Thesen einer neuen Japan-Orientiertheit17 und erscheint andererseits als wesentlicher Grund dafür, dass sich gegenwärtiger Nationalismus in so zwiespältiger Art und Weise äußert. Wenngleich gesamtgesellschaftlich eine Skepsis gegenüber dem Staat deutlich wird, so sollte, wie auch McVeigh betont, daraus nicht vorschnell abgeleitet werden, dass Hobsbawm (1990). Sakamoto (2008). 17 Miura (2010). 15 Vgl. 16 Vgl.
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sich japanische Identität nur in Nationalismus und nicht ebenso in Etatismus äußert, denn wie anderswo, so befolgen auch Japaner die geltenden Gesetze, zahlen Steuern und durchlaufen das staatliche Erziehungssystem18. Dass sich der Eindruck einer schwach ausgeprägten Staatsunterstützung aufdrängt, zeigt laut McVeigh viel eher, dass der japanische Staat seine Einflussbereiche sehr erfolgreich kaschiert19. Die bei einigen Befragten erkennbaren Tendenzen, Japans Vergangenheit als Aggressor zu bezweifeln, bestätigen, dass der seit den 1990er Jahren erstarkende Geschichtsrevisionismus die Gesellschaft bis in die jüngeren Generationen durchdringt und beeinflusst. Da die Rolle der Geschichte von der Mehrheit der Befragten betont wird, scheinen hier entsprechende Bemühungen „von oben“ auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Wiederholt zeigte sich unter den Interviewten eine generelle Skepsis gegenüber der japanischen Nachkriegsordnung, die sich in einer teilweisen Kritik am Pazifismus-Artikel 9 und dem in den Schulen gelehrten, vermeintlich „masochistischen Geschichtsbild“ niederschlug. Allerdings wird Krieg als Mittel zur Konfliktlösung generell abgelehnt und Pazifismus als Wert weiterhin akzeptiert. Auch im Falle eines Krieges zogen es die meisten Interviewten vor, Japan zu verlassen, anstatt für das Land zu kämpfen. Gleichzeitig zeigte sich aber der Anspruch an die Politik, bei den aktuellen Spannungen um die Senkaku- oder Takeshima-Inseln standhaft zu bleiben und den Forderungen Chinas bzw. Südkoreas nicht nachzugeben. Während Kultur und Traditionen Japans teilweise eine Quelle für Stolz bei der Jugend sind, so gilt dies umso mehr für das aktuelle Japan, dessen gesellschaftliche Stabilität und Wohlstand hoch bewertet werden. Anna etwa gab an, dass ihre Generation nur das derzeitige Japan kennt, das sie aber gut fände. Sie könne die Klagen der älteren Generationen nicht verstehen, die sagten, dass in Japan alles bergab ginge und deswegen das Land ändern wollten. Anna möchte Japan nur ändern, wenn dies erkennbare Verbesserungen mit sich brächte. In diesem Sinne sei sie konservativ (hoshu). Dadurch, dass sie kaum im Ausland war und nicht den Wunsch hege, in einem anderen Land zu leben, bedeute dies wohl, dass sie in bestimmter Weise patriotisch sei, denn ohne Vergleich sehe man leicht nur die guten Seiten. Annas Aussage erklärt plastisch, warum es in Umfragen eine hohe Zustimmung gibt für Aussagen wie „ich bin froh, in Japan geboren worden zu sein“, die ebenso für alle Befragten der vorliegenden Interviews gilt. Dies sollte aber nicht unbedingt mit patriotischer Folgsamkeit gleichgesetzt werden, sondern verbindet sich eher mit der Tatsache, in Japan ein Leben in Wohlstand führen zu können. Auf Seiten der Befragten wurde folglich auch der starke Wunsch erkennbar, dass „Japans Charakter“ auch in Zukunft der einer Wirtschaftsmacht bleiben möge, wobei aber ebenso Japans Kultur gewisse Möglichkeiten zugesprochen werden. Identifikation mit Japan äußert sich in der jungen Generation weniger als ein staatsbezogener Patriotismus, sondern als ein Nationalismus, der ein vages, kulturell und vermeint18
McVeigh (2004), S. 84.
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lich eher unpolitisch konnotiertes „Japanischsein“ als Bezugsbasis hat. Darin zeigt sich jedoch eine unterbewusste, habituelle Akzeptanz nationaler Narrationen und Symbole, die letztlich auch immer dem Staat nützt. Während alle Befragten mit Stereotypen über „die Japaner“ aufwarteten, waren diese zumeist relativ „harmloser“ Natur. Auffallend war dennoch, dass in solchen Fällen eher minzoku, die ethnisch konnotierte Bezeichnung für Nation gewählt wurde und nicht kokumin, das „bürgerliche Nation“ oder auch allgemein „Volk“ bedeuten kann. Während letzterer Terminus allgemein bevorzugt wurde, diente also minzoku vielfach dazu, das Besondere an Japan „ethnisch“ zu deuten. Als Erklärung der japanischen „Besonderheiten“ musste dabei oft die japanische Geographie als „Inselstaat“ herhalten. Auch der Glaube an die Existenz einer Art „japanischer Seele“ wurde speziell bei den männlichen Befragten deutlich. Akira, der einerseits Patriotismus als bloße Ideologie bezeichnet, glaubt andererseits an einen „japanischen Geist“ (Yamato damashii) und eine japanische Kontinuität (renzokusei), die bis heute fortlebe. Wenn die Befragten über die vermeintlichen „Besonderheiten“ der Japaner Auskunft gaben, wurde in ihrer Interpretation japanischer Identität wiederholt ein Spannungsverhältnis zwischen Minderwertigkeitskomplexen und Überheblichkeit erkennbar. Wenngleich es aufgrund der Samplezahl nicht einfach ist, geschlechtsspezifische Unterschiede zu verallgemeinern, so erschien die japanische Identität der männlichen Befragten insgesamt stärker ausgeprägt, sowohl was Einstellungen zu politischem als auch kulturellem Nationalismus betrifft. Generell bewerteten die Befragten den japanischen Patriotismus als schwach, wobei einige wie Ryôsuke oder Naoto aber den Stolz auf Japan als unausgesprochene Selbstverständlichkeit bezeichneten, der für die meisten Japaner „ganz natürlich“ sei. Gleichzeitig wurde in einigen Interviews ebenso deutlich, dass manche Phänomene wie die Bestseller von Kobayashi Yoshinori nicht unbedingt als Zeichen eines wachsenden Nationalismus allgemein und in der jüngeren Generation im Besonderen gesehen werden können. Nur drei der Befragten kannten Kobayashi überhaupt und nur Risa und Ryôsuke haben ihn auch tatsächlich gelesen. Zu bemerken ist dabei, dass beide sich eher negativ zu seinen Mangas äußerten. Risa gab an, sie lese diese, weil sie wissen wolle, was in Japan passiere. Sie kritisierte ihn aber dafür, Fakten und Emotionen zu vermischen und lehnte auch seine Botschaft insgesamt ab. Sie betonte zudem die geschichtliche Verantwortung Japans für die Nachbarn Südkorea und China. Und während Risa einen südkoreanischen Nationalismus glorifizierte und Verständnis für antijapanische Proteste zeigte, verurteilte sie entsprechendes Verhalten auf japanischer Seite. Der anhand von Studien aufgezeigte, stärker werdende „Gemeinschaftssinn“ (vgl. Kap. E.) konnte auch in den qualitativen Interviews festgestellt werden. Akira fasste seine Eindrücke so zusammen, dass man im gegenwärtigen Japan ein neues „Wir-Gefühl“ suche, dass sich auch im Fußball zeige, aber nichts mit einem „Japan, Japan!“ zu tun habe, sondern sich auch an der steigenden Zahl von Venture-Unternehmen zeige. Wenn einer etwas vormache, machten alle mit, was
III. Conclusio: Der Nationalismus der jungen Generation
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aber kein Gruppendruck im negativen Sinne sei. Die Interviews ließen erkennen, dass sich unter vielen jungen Menschen eine solche Umbruchstimmung anbahnt, eine stärkere Teilhabe am öffentlichen Raum zu ermöglichen. Wenn momentan das Verständnis von Politik und Staat eher vage erscheint, so zeigte sich stellenweise der Wille, auch hier aktiver teilzunehmen. So berichtet mir z. B. Naoto in Bezug auf die jüngsten politischen Entwicklungen auf der Rechten, dass er die Notwendigkeit erkannt habe, zu den Wahlen zu gehen. Seiner Meinung nach sei es dieses politische Interesse, das wohl viele jüngere Menschen derzeit verspürten. Viele der hier vorgestellten Haltungen lassen sich als anschauliches Beispiel nehmen, wie Nationalismus weitgehend unbewusst reproduziert und konsumiert wird. Die dabei erkennbar gewordene Bereitschaft, Beiträge für die Gemeinschaft zu leisten und die Umgebung ändern zu wollen, könnte oberflächlich auch als vermeintlich „wachsender“ Nationalismus oder Patriotismus der jungen Generation (fehl)interpretiert werden. Es ist bei den vorliegenden Interviews klar geworden, dass sich jüngere Japaner eine aktivere Rolle Japans wünschen. Es kann aber bezweifelt werden, dass die derzeitige jüngere Generation wie Kayama und andere sie beschreiben, zu naiv ist, um nicht zumindest teilweise zu erkennen, wenn sie für einen Nationalismus „von oben“ instrumentalisiert werden soll. Dabei ist die jüngere Generation nicht nicht-nationalistisch. Nationalismus ist in den beschriebenen Formen zwar verbreitet, unmittelbare „Gefahren“, wie sie von einigen Kommentatoren beschrieben wurden, werden aber von den hier erarbeiteten Aspekten nicht bestätigt. Die Interviews haben einerseits aufgezeigt, wie Diskurse von Eliten auch auf der Massenebene konsumiert und reproduziert werden und wie andererseits neben solchen „offiziellen Nationalismen“ auch ganz eigene Vorstellungen von Identität koexistieren können. In diesem Sinne erscheinen weiterführende qualitative Befragungen vielversprechend, die neben einer Vergrößerung der Samplezahl u.a. auch mit einer Ausweitung des Altersrahmens verbunden werden könnten, um das Verständnis des Themenkreises noch weiter zu vertiefen.
G. Japanischer Gegenwartsnationalismus im Globalisierungsparadigma I. Der Nationalismus der Krise in der Krise des Nationalismus 1. Die Auflösung der Links-Rechts-Opposition in der Globalisierung? Wie bei der Untersuchung des Gegenwartsnationalismus deutlich geworden ist, drängt sich die Frage auf, inwieweit das Phänomen vor der Folie einer „klassischen“ Links-Rechts-Opposition angemessen verortbar ist. Denn beide Lager weisen zunehmende Schnittmengen auf, die sich unmittelbar mit der Intensivierung von Globalisierungsströmungen nach dem Ende des Kalten Krieges in Verbindung bringen lassen und bei beiden vorliegend in Form von Nationalismus manifestieren. Nicht nur in Japan wurde seit dem Ende des Kalten Krieges wiederholt deutlich, dass die ideologischen Grenzen zwischen links und rechts leicht verschwimmen können, obwohl Nationalismus und sozialistischer Internationalismus zunächst als unvereinbares Gegensatzpaar erscheinen mögen. Doch wie der Politologe John T. Ishiyama anmerkt, könne die Vereinigung von Kommunismus und Nationalismus, wie sie auch in osteuropäischen Ländern nach dem Kalten Krieg stattgefunden hat, nicht gänzlich überraschen, wenn man bedenke, welch bedeutende Rolle die Nation im Marxismus einnahm1. Einflussreiche Marxisten stellten sich in diesem Punkt gegen die klassische marxistische Theorie, die die „Nation“ als Produkt des Kapitalismus ansieht, welches mit dem Ende des Kapitalismus ebenso verschwinden würde2. Eine große Gemeinsamkeit zwischen Kommunismus und Nationalismus bestehe, wie Ishiyama betont, oftmals in der Betonung des Staates und einem damit einhergehenden Etatismus, der soziale, politische und ökonomische Probleme durch staatliche Eingriffe zu lösen versucht3. Marxistisch beeinflusste Theorien sahen Kategorien wie Nation, Ethnie etc. zudem als eher vorübergehende Phänomene und hätten es aus ihrer Betonung des Universalismus und Rationalismus heraus laut der Politologin Sheila Croucher nicht verstanden, mit solch vermeintlich irrationalen Partikularismen wie Ethnizität oder Nation umzugehen4. Ishiyamas Ausführungen beziehen sich vor allem auf den osteuropäischen Kontext, aber wie erläutert, hat sich in Japan der Nationalismus der Kriegszeit ebenfalls 1
Ishiyama (1998), S. 63.
2 Ebd. 3 Ebd. 4 Vgl.
Croucher (2004), S. 116 f.
I. Der Nationalismus der Krise in der Krise des Nationalismus
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stark etatistisch präsentiert, wohingegen der oppositionelle, antistaatliche Sozialismus der frühen Nachkriegszeit insbesondere ethnonationalistisch konnotiert war. In jedem Falle bildete sowohl für links als auch rechts der Nationalismus nach 1945 eine wichtige ideologische Grundlage und bei genauerem Hinschauen ließen sich in Japan immer auch schon entsprechende Schnittflächen zwischen beiden Lagern entdecken. Wie erläutert (Kap. B.), wurde Nationalismus mit unterschiedlichen Ausprägungen im Nachkriegsjapan sowohl von rechts als auch von links propagiert. Vor dem Hintergrund von Globalisierung und damit einhergehenden, wachsenden sozialen Unterschieden hat der Nationalismus die Ideologiegrenzen spürbar durchlässig werden lassen und wird zu einer verbindenden Kraft der globalisierungskritischen Lager von links und rechts, wie auch die vorangegangene Beschreibung des „Prekariatsnationalismus“ illustriert hat. Die Linke kritisiert die neoliberalistische Globalisierung aufgrund der wachsenden sozialen Unsicherheiten und Ungleichheiten und strebt dabei teilweise auch nach „nationalen“ Lösungen, um gegen den Globalismus und damit sogar auch den eigenen (manchmal auch nur theoretischen) Internationalismus anzugehen. Und auch die antiliberale Rechte gebärdet sich globalisierungsfeindlich, weil sie den Verlust „nationaler Identität“ und „traditioneller Kultur“ befürchtet, wobei auch sie zuweilen die Sozialdefizite anprangert. Da oftmals Globalisierung und „Amerikanisierung“ gleichgesetzt werden, erlangt der linke und rechte Nationalismus zudem eine deutliche, antiamerikanische Konnotation, wobei dies gerade im japanischen Fall freilich auch seine geschichtlichen Hintergründe hat. Während diese Beschreibung eher für den antiliberalen und globalisierungskritischen Teil der Linken und Rechten gilt (also eher für das Anti-Establishment), hat ein ähnlich auflösender Prozess der Ideologiegrenzen in vielen Industriestaaten auch zur Schaffung von proglobalistischen Fraktionen in beiden Lagern geführt, die den Neoliberalismus für sich akzeptieren. Neben dem Nationalismus zeigt sich auch in Japan der Neoliberalismus somit als weiterer Pol, der zur Anziehung bzw. Abstoßung bestimmter Denkrichtungen im linken bzw. rechten Lager führt. Die aktuelle, tagespolitische Arena des japanischen Parteiensystems bestätigt dies, indem die ideologischen Grenzen zwischen der konservativen LDP und der – auf dem Papier – eher sozialdemokratischen DJP (seit 2016 DP) verschwimmen können (vgl. Kap. C.), wofür in diesem Fall jedoch insbesondere die Akzeptanz des Neoliberalismus in beiden Parteien maßgeblich ist5. Wie jedoch herausgearbeitet, zeigt sich, dass das proglobale Lager alles andere als frei von Nationalismus ist, dieser vielmehr zentral für die Durchsetzung der neoliberalen Agenda ist. Folgt man Moderne- bzw. Globalisierungstheoretikern wie Anthony Giddens oder Ulrich Beck, so können diese Vermischungen von links und rechts als eine Folge des Modernisierungsprozesses in seiner globalistischen Spätphase gesehen 5 Nicht zuletzt zeigt auch die Fusion der DPJ mit der latent rechtslastigen Ishin no tô zur DP offensichtlich vorhandene Gemeinsamkeiten.
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G. Japanischer Gegenwartsnationalismus im Globalisierungsparadigma
werden. Laut Giddens werden die Konservativen radikaler und die Sozialisten konservativer, wobei die Globalisierung bei dieser Entwicklung die zentrale Rolle spielt6. Solche ideologischen Unterteilungen verlieren ihm zufolge an Bedeutung, auch wenn sie weiterhin fortwirken werden7. Beck erkannte in etwas abweichender Weise eher eine Pluralisierung von links und rechts8 und betonte, dass bipolare „und/oder“ Kategorien wie links/rechts, die für die erste Phase der Moderne Bestand hatten, für eine Erklärung der globalistischen Spätmoderne zu kurz greifen, in der eher hybride Kategorien des „sowohl als auch“ an Bedeutung gewinnen9. Auf beiden Theoretikern basierend, kann die schwindende Bedeutung bzw. der Wandel der bipolaren Links-Rechts-Opposition, die ihre Wurzeln in der Frühphase der Moderne hat10, also auch als eine Rückführung zu einem „natürlichen“ Ursprungszustand gewertet werden. Die Auflösung bzw. Pluralisierung der Dichotomie führt so zu der vermeintlich merkwürdigen Konsequenz, dass sich ein Teil der Konservativen als eigentliche Hüter von „Traditionen“ und Skeptiker eines Fortschrittsglaubens in Spielarten wie Neokonservatismus und Neoliberalismus als zunehmend radikale und globale Fortschrittsgläubige zeigen, während die Linke im Gegensatz dazu die von Globalisierung und Neoliberalismus ausgehöhlten Reste des Wohlfahrtsstaats zu „konservieren“ versucht11. Kategorien wie links und rechts verlieren so an Bedeutung und die Beantwortung der Frage, was eigentlich „links“ und was „rechts“ ist, erscheint nach bisherigen Maßstäben immer schwieriger zu sein12. Entsprechend wurde die Frage, inwieweit z. B. der „Rechtsruck der jungen Generation“ mit traditionellen „Links-Rechts“-Kriterien angemessen eingeordnet werden kann, von einigen Kommentatoren wie z. B. Takahara zu Recht aufgeworfen13. Festzuhalten bleibt dabei jedoch, dass in dieser Auflösung der klassischen Links-Rechts-Opposition der Nationalismus nicht etwa verschwindet, sondern vermehrt an Bedeutung gewinnt. 2. Globalisierung und Spätmoderne Wie angedeutet, wird die Moderne in den Sozialwissenschaften von einigen Wissenschaftlern – wie z. B. den Soziologen Ulrich Beck, Anthony Giddens oder auch Zygmunt Bauman – in zwei Phasen unterteilt, wobei sich ihre Ansätze jeGiddens (1994), S. 2. Giddens (1994), S. 251. 8 Beck unterteilt in jeweils vier Lager unter Linken und Rechten entlang der Achsen national/transnational und protektionistisch/weltoffen. Vgl. Beck (2005), S. 270 ff. 9 Beck (2005), S. 268 ff. 10 Vgl. hierzu z. B. Beck/Giddens/Lash (1994), S. 42, 45. 11 Giddens (1994), S. 17, 2. 12 Vgl. hierzu z. B. Beck/Giddens/Lash (1994), S. 42. 13 Takahara (2011). 6 7
I. Der Nationalismus der Krise in der Krise des Nationalismus
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weils leicht unterscheiden14. Bei Beck ist von einer „ersten“ und einer „zweiten“ Moderne die Rede. Während der Nationalismus die „erste Moderne“ bestimmte, erkannte Beck Möglichkeiten eines kosmopolitischen Paradigmenwechsels im Zuge der „zweiten Moderne“15. Giddens nennt diese zweite Phase „späte Moderne“ (late modernity) oder „reflexive Moderne“ (reflexive modernity)16. Bauman spricht von der aktuellen, globalistischen Phase der Moderne als „liquid modernity“, welche die „solid modernity“ abgelöst habe17. In allen Fällen kann die erste Phase der Moderne etwa im 18. bzw. 19. Jahrhundert mit Beginn der Industrialisierung angesetzt werden und die zweite Phase ab der Mitte bzw. ab dem Ende des 20. Jahrhunderts18. Die zweite, späte oder liquide Moderne weist im Übrigen inhaltlich zwar einige Schnittmengen mit Ansätzen postmoderner Theoretiker auf, sie unterscheidet sich von der Idee einer „Postmoderne“ aber tendenziell insofern, als sie die Annahme, die Moderne sei beendet (daher Postmoderne) ablehnt und stattdessen wie der Soziologe Brian Heaphy anmerkt, von einer Kontinuität der Moderne unter sich wandelnden sozialen, kulturellen und politischen Wirklichkeiten ausgeht, wobei hierfür Prozesse wie Globalisierung, Enttraditionalisierung und Individualisierung verantwortlich gemacht werden19. Theoretiker wie Beck oder Giddens sprechen auch von einer „Radikalisierung“ oder „Modernisierung“ der Moderne, um die
14 Auch außerhalb der Sozialwissenschaften werden solche Unterscheidungen gelegentlich vorgenommen. Der französische Philosoph Gilles Deleuze (1993), beispielsweise, erweitert Foucaults Konzept der „Disziplinargesellschaft“ zum Konzept der „Kontrollgesellschaft“, um die Aspekte von gesellschaftlicher Kontrolle und Strukturierung in der Moderne zu betonen. Die „Disziplinargesellschaft“, die zwischen dem 18. Jh. und der ersten Hälfte des 20. Jh. zu verorten ist, hielt Individuen in geschlossenen Milieus (Familie, Schule, Fabrik, Gefängnis etc.). In der von Deleuze beschriebenen „Kontrollgesellschaft“, die mit der Spätmoderne in Verbindung gebracht werden kann, werden diese geschlossenen Milieus im Zuge neoliberaler Deregulierung aufgelöst und Macht und Kontrolle subtiler und virtualisierter ausgeübt (Videoüberwachung, elektronische Fußfessel, ambulante Pflege etc.). Vgl. Deleuze (1993). 15 Beck (2005). 16 Giddens (1995). 17 Bauman (2000). 18 Für eine kritische Auseinandersetzung mit Beck, Giddens und Bauman vgl. z. B. Dawson (2010) sowie Hoogenboom/Ossewaarde (2005) für eine Analyse der Theorien von Beck und Giddens. 19 Heaphy (2007), S. 69 f. Auch hier finden sich freilich verschiedene Ansätze in der (post)modernen Theorie, die der Soziologe Brian Heaphy wie folgt einteilt: „The first, radical postmodernism, considers modernity to be exhausted, and sometimes characterizes the present as hyper-real. The second, strategic postmodernism, is defined by openness to seeing the world as transformed. The third, radical modernism, acknowledges change but refuses to see this as the end of modernity“. Zur ersten Kategorie zählt Heaphy Theoretiker wie Lyotard und Baudrillard, zur zweiten etwa Bauman und zur dritten Giddens, Habermas, Beck oder auch Bourdieu. Heaphy (2007), S. 59 f.
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G. Japanischer Gegenwartsnationalismus im Globalisierungsparadigma
Veränderungen der Spätmoderne im Sinne einer kontinuierlichen Dynamisierung des modernen Projekts hervorzuheben 20. Charakteristisch für die erste Phase der Modernisierung war eine Rationalisierung, die sich zum einen institutionell in Form von z. B. Bürokratie und Kapitalismus (Nationalstaaten, Konzerne etc.) manifestierte und zum anderen von einer Rationalisierung auf individueller Ebene begleitet wurde, was es den Menschen zunehmend erschwerte, nicht „rational“ oder zielorientiert zu denken21. Daraus entwickelte sich ein Prozess der umfassenden Kontrolle, Strukturierung und Rationalisierung, der graduell alle Bereiche und Institutionen durchdrang. In diesem Ablauf wurde der Nationalismus zu einem Instrument, das die gesamte Rationalisierung angeblich legitimierte. Indem der Nationalismus solchermaßen homogenisierte, gemeinsame „nationale“ Standards schuf 22, konnte er auch zu einer gesteigerten Effizienz der Herrschaft beitragen. Die homogenisierende Ordnung der Moderne zeichnete sich hier wie Bauman betont durch eine „Zerstörung von Unterschieden“ aus23. Laut Beck und Giddens ist jedoch die „zweite Moderne“ ein völlig anderer Prozess, der sowohl auf institutioneller Ebene (von Beck betont) als auch auf individueller Ebene (von Giddens betont) von einer gesteigerten „Reflexivität“ gekennzeichnet ist24. In dieser Phase der „modernisierten“ Moderne öffnen sich die Schranken „der zielorientierten Rationalität“ wobei „moderne Bürokratien“ verschwinden oder gezwungen sind, sich an diesen Wandel anzupassen 25. Beck hob bei dieser neuen Reflexivität den schwindenden Einfluss „traditioneller Kategorien“ wie „Klasse“, „Familie“, „Nation“ etc. hervor und erkannte darin wachsende Tendenzen bzw. Möglichkeiten einer Pluralisierung26. Bei Giddens und Beck zeigt sich eine Betonung der Möglichkeiten neuer Individualität in diesem Prozess, wobei Kritiker ihnen nicht zu Unrecht vorwerfen, die Handlungsmöglichkeiten des Individuums zu überschätzen und die fortdauernde Bedeutung traditioneller Kategorien zu vernachlässigen 27. 20 Vgl. z. B. Beck/Giddens/Lash (1994), S. 3 f. Für Giddens steht das Konzept der Spätmoderne für eine Fragmentierung von Wissen und Identitäten, während die Idee einer Postmoderne eher von der Auflösung moderner Wissensproduktion und Identitätsbildung ausgehe. Vgl. hierzu Hoogenboom/Ossenwarde (2005), S. 610. Bauman benutzt in früheren Werken zwar primär den Begriff der „Postmoderne“, dieser geht aber wie auch sein späteres Konzept der „liquiden“ Moderne zeigt, ebenfalls von einer Fortdauer der Moderne aus. Er benutzt beide Begriffe mehr oder weniger synonym. Vgl. z. B. Bauman (2000), S. 23; Bauman (1997), S. 19; vgl. zu diesem Aspekt auch Heaphy (2007), S. 63 ff. 21 Vgl. Hoogeboom/Ossewaarde (2005), S. 601. 22 Vgl. Gellner (1983). 23 Bauman (1997), S. 122. 24 Hoogeboom/Ossewaarde (2005), S. 603. 25 Hoogeboom/Ossewaarde (2005), S. 603. 26 Beck (2008). 27 Vgl. Dawson (2010), S. 191 f.
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Während auch Bauman die steigende Individualisierung in der globalistischen Spätmoderne betont, sieht er diese ungleich kritischer als Beck oder Giddens, wobei er die Fragmentierungstendenzen herausarbeitet, die sich durch die Entwurzelung des Individuums sowie die Privatisierung des Sozialen ergeben. Das Individuum wird immer mehr von der Rolle des aktiven Produzenten auf die eines passiven Konsumenten reduziert28. Zudem werden gesamtgesellschaftliche Probleme mehr und mehr dem Privaten und dem Individuum selbst überlassen 29. In diesem Sinne wird „Individualisierung“ bei Bauman zu einem Mechanismus, der sich eher in eine Beherrschung des Individuums wendet30. Während der Zugang zu Wissen und die Deutung von Wahrheit in traditionellen Gesellschaften in monopolisierter Weise einzelnen Personen wie Priestern oblag, die daraus eine unantastbare Interpretation für die Gemeinschaft bereitstellten, verloren diese Hüter des Wissens, wie die Soziologen Hoogenboom und Ossenwarde ausführen, in der ersten Moderne an Bedeutung und Wissen wurde durch die nationalstaatlich forcierten Bildungsinstitutionen allgemein zugänglich. Die Interpretation dieses Wissens blieb aber weiterhin nur privilegierten Institutionen wie der Staatsbürokratie oder der Wissenschaft überlassen31. Die Spätmoderne bringt hier die weitere Auflösung solcher Wissensmonopole mit sich, bei der, wie Giddens ausführt, Wissen nicht mehr auf gewisse Gruppen beschränkt ist, sondern von Laien in alltäglicher Weise interpretiert wird32. Die dermaßen über vorgegebenes Wissen Reflektierenden werden von Giddens mit dem Begriff „clever people“33 belegt und zeigen Parallelen zu den in Kap. E. beschriebenen Internet-Rechten (netto uyoku) und ihrem Verhältnis zu elitärer Wissensproduktion. Der von Giddens oder Beck beschriebene Verlust institutioneller Deutungshoheit führt, wie Hoogenboom und Ossenwarde weiter ausführen, zu einer Zersetzung zielorientierter Rationalität, die einen „erbitterten Wettstreit verschiedener Rationalitäten“ mit sich bringt34. Dieser Umstand mache sich in einer andauernden Legitimationskrise bemerkbar, die die spätmoderne Gesellschaft charakterisiere, wobei auch (politische) Entscheidungen immer weniger auf objektivem Wissen basierten, sondern eher das Ergebnis „willkürlicher und vorübergehender (…) politischer Kämpfe – daher bloßer Machtausübung“ seien35.
Baumann (2000), S. 76, 155. Vgl. auch Bauman (1997), S. 3, 14. Baumann (2000), S. 32 f. 30 Dawson (2010), S. 201. 31 Hoogenboom/Ossewaarde (2005), S. 609. 32 Giddens (1994), S. 7. 33 Ebd. Giddens betont an dieser Stelle, dass „clever“ nicht bedeute, dass die Menschen intelligenter würden, sondern, dass sie sich stärker mit ihrer Umwelt befassen müssten, um darin zu überleben. 34 Hoogenboom/Ossewaarde (2005), S. 612. 35 Ebd. 28 Vgl. 29
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G. Japanischer Gegenwartsnationalismus im Globalisierungsparadigma
Diese Entwicklungen spiegeln sich z. B. im beschriebenen Monopolverlust medieninterpretierter Realität wider und werden auch in einem sinkenden Vertrauen in die bzw. Desinteresse an der Politik („Politikverdrossenheit“) erkennbar, das sich – wie in Europa – seit den 1990er Jahren auch in Japan immer stärker bemerkbar macht und teilweise auch dem Konturverlust politischer Parteien und ihrer Vertreter zugeschrieben werden kann. Insofern ist politischer Populismus ein Mittel der spätmodernen Gesellschaft, mit dem die fortdauernde Existenz der eigentlich verlorengegangenen Zielorientiertheit „simuliert“ werden soll, um die Politikverdrossenen „zu erreichen“. In einer sich fragmentierenden Gesellschaft, die die individuelle Unsicherheit befördert, erlebt dabei der Nationalismus als eine „altbewährte“, Stabilität versprechende Erzählung eine Renaissance, deren Potential auch von der Politik erkannt wird. Abe Shinzô oder Koizumi Jun’ichirô sind wie ausgeführt gute Beispiele für einen Populismus, der in fast schon ironisch wirkender Art und Weise „Nation“ oder „Tradition“ als Tarnerzählungen nutzt, um eine angeblich im „Nationalinteresse“ liegende, vermeintlich klare Linie vorzugeben, während in Wahrheit meist gegenteilige Ziele verfolgt werden sollen. 3. Nationalismus im Globalisierungskontext Die Globalisierung hat durch neue Kommunikationstechnologien und die gesteigerte Bedeutung global vernetzter Märkte einen Trend wachsender Konkurrenz von Staaten, Internationalisierung von Märkten und weltweiter Interdependenzen geschaffen, der die Staaten vor neue Herausforderungen stellt36. Die sich verstärkenden Fragmentierungs- und kulturellen Hybridisierungsprozesse des mit der Globalisierung einhergehenden transnationalen Austauschs stellen dabei traditionelle Konzepte von nationaler oder kultureller Homogenität zunehmend infrage37. Wie Giddens anmerkt, impliziere die Globalisierung zwar die Idee einer „Weltgemeinschaft“, produziere diese aber nicht. Globalisierung sei sowohl vereinend als auch fragmentierend, führe gar zu gegensätzlichen Konsequenzen in unterschiedlichen Regionen38. „Nation“, „Nationalstaat“ und „Nationalismus“ erscheinen vor diesem Hintergrund zunächst als „Auslaufmodelle“. In der Praxis haben Globalisierungsströmungen jedoch in vielen Staaten seit den 1990er Jahren zu gesteigerten, nationalistischen Gegenreaktionen geführt, die sich gerade auch in den letzten Jahren wieder verstärkt Bahn gebrochen haben (z. B. Eurokrise, europäische Flüchtlingskrise etc.). Wie Giddens ausführt, sind diese – wenn auch zunächst paradox anmutenden Abläufe – mehr oder weniger als „natürliche“ Konsequenz von Globalisierungseinflüssen zu betrachten, die darauf abzielen, lokale kulturelle Identitäten zu bewahren und Traditionen wiederzubeleben39. Traditionen verschwinden laut Giddens Vgl. auch Buchholz et al. (2008), S. 54. Croucher (2004), S. 99. 38 Giddens (1994), S. 81. 39 Vgl. Giddens (1994), S. 5, 81. 36 37
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auch in der Spätmoderne nicht komplett, im Gegenteil, sie können bisweilen gar aufblühen, wobei sie jedoch auch das Potential zu Gewalt und Fundamentalismus in sich bergen40. Dieses Paradoxon lässt Zweifel an den Prämissen des „postnationalistischen“ Diskurses aufkommen, dessen Akteure im Zuge der Globalisierung seit den 1990ern verstärkt das Ende des Nationalstaats und des Nationalismus proklamiert haben41. Als grundsätzliches Problem führt Sheila Croucher an, dass bei solchen Behauptungen nicht immer geklärt werde, ob die „postnationalistischen“ Autoren von der Destabilisierung von Staat oder Nation sprechen. Außerdem könnten sie – genauso wenig wie die Modernisten, die bereits das Ende der Nation ausriefen – erklären, warum Nationalitäten („nationhood“) sich so hartnäckig halten oder sogar neu erstarken. Dies sei nicht nur in etablierten Nationalstaaten, sondern auch bei neu entstehenden Staaten der Fall 42. Auch der Soziologe Craig Calhoun kritisiert solcherart undifferenzierte Ausführungen, die es unterlassen, zwischen verschiedenen Staaten zu unterscheiden43. Es bliebe zum Beispiel unklar, ob die EU ein „postnationales Projekt“ sei, oder einen nationalistischen Trend („Nation Europa“) fortsetze, so wie einst auch Schotten, Waliser, Iren und Engländer zu Briten vereint worden seien44. Gleichzeitig demonstriert also das Erstarken bzw. die Renaissance des Nationalen, welchen Druck die Globalisierung auf Identifikationskategorien wie „Nation“ oder „Staat“ ausübt. Die Staaten sind davon unmittelbar betroffen, weil sie vor dem Hintergrund wachsender Migration eine gleichermaßen verstärkte, kulturelle Fragmentierung bewältigen müssen. Nation und Staat können in diesem Prozess kaum getrennt werden, da der moderne Staat die Nation immer noch als sozialintegrative Kategorie verwendet. Wie Croucher ausführt, wurden die Staaten durch die Globalisierung in vielen Bereichen geschwächt, in anderen jedoch gestärkt45. Sie hätten lange auf dem Nationenbegriff als „raison d’être“, als „ideologisches Alibi“ vertraut, gerade in Zeiten, als ihre Souveränität in Frage gestellt wurde46. Da die Globalisierung die Grenzen durchlässiger macht und die Begegnung mit „dem Anderen“ befördert, wird dieses Alibi auch vermehrt wieder aufgegriffen – im Zuge einer nationalen wie auch staatlichen „Selbstbehauptungsstrategie“. Mit der gesteigerten Mobilität von Menschen, Kapital, Information und Kultur geraten auch die etablierten Nationenbilder unter Druck. Doch entgegen den Beck/Giddens/Lash (1994), S. 100. Vgl. z. B. Ômae (1995); Hobsbawm (1990), S. 192. 42 Croucher (2004), S. 99. Croucher merkt an, dass sich durch dieses Paradox Primordialisten und Perennialisten gar darin bestätigt sehen, dass Nationen „echte“ historische Entitäten seien, da sie sich so hartnäckig hielten. Croucher (2004), S. 100. 43 Calhoun (2007), S. 16. 44 Ebd., S. 25. 45 Croucher (2004), S. 104. 46 Croucher (2004), S. 104. 40 41
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G. Japanischer Gegenwartsnationalismus im Globalisierungsparadigma
Vermutungen der „postnationalen“ Autoren ist Nationalismus mit der Globalisierung nicht verschwunden, sondern entwickelt stattdessen neue Anpassungsformen. Croucher etwa beschreibt, wie das Konzept des Nationalen („nationness“) durch Maßnahmen wie die doppelte Staatsbürgerschaft, die EU oder transnationale Ströme einen Wandel erfährt47. So wird das Nationale in Baumans Sinne immer „liquider“ und entwickelt sich zu einer Art „liquid nationalism“, indem „traditionelle“ Bilder nationaler Identität in Fluss geraten, sich auflösen und neu verbinden. Dies geht, wie am Beispiel der netto uyoku gesehen, mit einer gewissen (vermeintlichen) Individualisierung des Nationalismus selbst einher. Die fragmentierende Wirkung der Spätmoderne wirkt sich hier auf Identitäten in einer Weise aus, dass diese nicht mehr „tradiert oder selbstverständlich“ sind, sondern „angenommen und konsumiert“ werden48. Die individuelle Fragmentierung ist dabei jedoch wie sich zeigt auch von dem starken Wunsch nach (nationaler) Gemeinschaft begleitet. Durch transnationale (Kultur-)Strömungen sehen sich aber vor allem auch die Nationalstaaten zunächst selbst gezwungen, die Kategorien der „Nation“ neu zu erfinden bzw. diese an die sich wandelnden Rahmenbedingungen anzupassen. Croucher kommentiert diesen Adaptionsprozess49: „As a result of contemporary globalization processes, the centrality of citizenship as a form of belonging is being both diminished and invigorated. Despite predictions to the contrary, globalization has not meant the end of nations or nationalism, but it has altered in significant ways the form and content of national imaginings. Advanced communications technology has, for instance, expanded opportunities and capacities for shaping or maintaining nations. Meanwhile, the ethnic identities and ethnic politics (…) cannot be fully understood outside of the context of globalization, but the relationship between these two phenomena is not static or determinant. The processes of globalization do not simply impinge upon already existing ethnic groups and patterns of ethnic relations, but also contribute to the construction and reconstruction of ethnic identities and the nature of ethnic interactions.“
Gerade die Tatsache, dass Nationalismus nicht statisch, sondern offen für „Updates und Änderungen ist“, spricht für seine Ausdauer50. In diesem Zusammenhang wird deutlich, wie die zweite Phase der Moderne den Nationalismus auf eines seiner Grundprinzipien zurückkrümmt – der Fabrikation und Inkorporation von Mythen und Symbolen zu einem nationalen Narrativ. Ein solches ideologisches Mosaik, das die vermeintlich „starre“ Grundlage der als „natürlich“ dargestellten Nationen bildete, wurde vor dem Hintergrund eines speziellen historischen Zusammenhangs aktiviert und konnte für etliche Jahrzehnte oder länger Bestand haben. Diese Erzählungen, auf denen Nationalismen basieren, können dabei auf zum Teil längere historische Vergangenheiten zurückreichen, werden aber auf einen neuen 47
Ebd., S. 102 f. Hoogenboom/Ossewaarde (2005), S. 610. 49 Croucher (2004), S. 186. 50 Pryke (2009), S. 100. 48
I. Der Nationalismus der Krise in der Krise des Nationalismus
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Kontext und eine Bevölkerung angewandt, die sich von dieser Geschichte wesentlich unterscheiden51. Jetzige Globalisierungsprozesse, welche die Gültigkeit und Legitimation dieser etablierten Nationenbilder infrage stellen, zwingen den Nationalismus jedoch, wie auch in dieser Untersuchung herausgearbeitet, zu einer Re-Imaginierung des Nationalen, um sich anzupassen und zugleich neue Gültigkeit zu erlangen. In dieser Hinsicht ähneln die Anpassungsprozesse der Entstehungsphase des Nationalismus ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Im härter werdenden globalen Wettbewerb müssen sich gerade auch etablierte Wirtschaftsmächte nachdrücklich positionieren, wobei Stichworte wie „Nation Branding“ an Bedeutung gewinnen, das als ein Symbol für die angesprochene, konsumistische Konnotierung von Identität in der Spätmoderne gesehen werden kann. Mehr noch als die Sicherung von Ressourcen gewinnen hier Ideen und Images zunehmend an Bedeutung. Wie an den japanischen Bemühungen in dieser Hinsicht erkennbar geworden ist, wird der (National)Staat selbst zu einer Art Produkt, das Nationale und „nationale Kultur“ verstärkt zu einem Konsumgut. Während das Konstrukt der Nation in der ersten Moderne den Anspruch einer übergeordneten, nicht hinterfragbaren und beinahe sakralen „Wahrheit“ zu vermitteln versuchte, erfindet sich die spätmoderne Nation als eine Ausprägung entlang konsumistischer Richtlinien neu, indem sie gemäß der wachsenden Individualisierung zum banalen und austauschbaren Konsumangebot für den Einzelnen wird. Diesem Prozess förderlich sind freilich auch Medien und Werbung, die zwar schon bei der Entstehung des Nationalismus eine bedeutende Rolle spielten, deren Funktion aber gerade in der Globalisierung, mit ihren entscheidend erweiterten Kommunikationstechnologien noch wichtiger wird52. Traditioneller, „harter“ Nationalismus ist zwar längst noch nicht verschwunden, und es zeigte sich im Post-Fukushima-Japan dessen abrupte Renaissance, doch wurde auch im Falle Japans deutlich, dass generell ein vermeintlich „weicher“, kultureller und konsumorientierter Nationalismus an Bedeutung gewinnt, wie die Debatten um Cool Japan oder die „J-Booms“ gezeigt haben. Cool Japan und der Erfolg japanischer Popkultur sind zudem gute Beispiele dafür, wie in transnationalen Kulturströmungen externe und lokale Einflüsse verschmelzen und als „originär japanisch“ rekonstruiert werden können. Appadurai bemerkt zum generellen Einfluss der Globalisierung auf die Kultur53: „The globalization of culture is not the same as its homogenization, but globalization involves the use of a variety of instruments of homogenization (armaments, advertising techniques, language hegemonies, clothing styles and the like), which are absorbed into local political and cultural economies, only to be repatriated as heterogeneous dialogues of national sovereignty, free enterprise, fundamentalism etc.“
Croucher (2004), S. 101. Vgl. hierzu auch Croucher (2004), S. 108 – 110. 53 Appadurai (1990), S. 307. 51
52
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Es zeigt sich also, dass eigentlich ausländische Einflüsse „nationalisiert“ werden54 bzw. wie im Fall Manga beschrieben, vermeintlich „typisch“ japanische Dinge ausländische Wurzeln haben können. Auch diese dem Nationalismus schon immer inhärenten Mechanismen lassen sein gänzliches Verschwinden im Zuge der Globalisierung fraglich erscheinen. Wenngleich Nationalisten einerseits versuchen, in klar abgegrenzte „in-groups“ und „out-groups“ zu trennen, so verstärkt sich andererseits die Pluralisierung von Identitäten, die der Nationalismus teilweise selbst fördert. Craig Calhoun präzisiert diesen Zusammenhang55: „Nationalist discourse involves an attempt to constitute identities in sharp, categorical terms, to render boundaries clear and identities integral even while the processes of capitalist expansion, slave trade, colonization, war and the globalization of culture all have ensured the production of ever more multiplicities and overlaps of identities.“
Insofern tragen solche Prozesse eher als zu einer Homogenisierung zu einer kulturellen Hybridisierung bei, die einen weiteren Faktor der Globalisierung ausmacht56. Vor dem Hintergrund aktueller Nationalismen, die sich in Japan, aber auch anderswo zeigen, wird verstärkt auf die Frage zu achten sein, inwieweit wir diese mit bekannten Nationalismen vergleichen können. Inwiefern sind diese also neu oder modifiziert und inwieweit haben wir es überhaupt (noch) mit Nationalismus im herkömmlichen Sinne zu tun57? Stehen wir tatsächlich an der Schwelle zu einem postnationalen System, oder bleibt doch eher alles beim Alten? Croucher macht ebenfalls auf das Potential eines signifikanten Wandels von Nationalismus aufmerksam und stellt den Gedanken zur Diskussion, ob sich Nationalismus in der jetzigen Spätmoderne zu einem „Hypernationalismus“ wandeln könnte58. Also analog zu den besprochenen Prinzipien der zweiten Moderne eine „Modernisierung“ des Nationalismus? Dabei verschwinden die traditionellen Nationalismen freilich nicht einfach, denn gerade sie bieten in einer komplexer werdenden Welt ein Repertoire „altbekannter“ Deutungsmuster, die scheinbar unkomplizierte Lösungen anzubieten scheinen. Neben diesen Herausforderungen, die die Globalisierung allgemein an (nationale) Identität stellt, hat auch das generelle Unbehagen an den von der neoliberal codierten „ökonomischen Globalisierung“ hervorgerufenen, wachsenden sozialen Ungleichheiten, nationalistische Reaktionen begünstigt59. So schreibt der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz über die Globalisierungseffekte: „Globali Vgl. auch Pryke (2009), S. 126. Calhoun (2007), S. 111. 56 Pryke (2009), S. 144 f.; Calhoun (2007), S. 111; Iwabuchi (2002a). 57 Beck etwa plädiert für eine Unterscheidung zwischen (ethnischem) Nationalismus in der ersten und der zweiten Phase der Moderne. Ethnischen Nationalismus in der zweiten Phase betrachtet er dabei als eine „postmoderne Rückkehr zu den Wurzeln“, was er als illusorisch und politisch gefährlich kritisiert. Beck (2005), S. 258. 58 Croucher (2004), S. 103. 59 Holton (2005), S. 159 ff.; Suzuki (2007b); Suzuki (2008). 54 55
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zation has meant different things in different places (…). In many countries, globalization has brought huge benefits to a few with few benefits to the many. But in the case of a few countries, it has brought enormous benefit to the many“60. Entgegen der landläufigen Meinung, dass Globalisierung generell soziale Differenzen verschärfe, argumentiert der Soziologe Glenn Firebaugh jedoch überzeugend, dass die weltweite Einkommensungleichheit nicht zugenommen habe. Stattdessen habe sich die Ungleichheit von der internationalen auf die nationale Ebene verschoben, so dass die Differenzen zwischen Staaten sogar abgenommen haben, während sie sich innerhalb von Staaten verschärften61. Vor diesem Hintergrund könnten die auch in der vorliegenden Arbeit beschriebenen Verknüpfungen von Armut und Nationalismus (Kap. E.) dem Nationalismus eine weitere weltweite Stärkung verschaffen, der so erneut zum vermeintlichen „Heilmittel“ für gesellschaftliche Krisen wird. Anstatt Nationalismus zu schwächen, unterstützt die Globalisierung also eher dessen Fortbestand.
II. Trends japanischer Gegenwartsnationalismen Die vorliegende Diskursanalyse hat mannigfaltige Ausprägungen des Nationalen vor Augen geführt und dabei vor allem gezeigt, dass sich das Konstrukt „Nation“ nicht monolithisch und starr präsentiert, sondern stetiger Neuinterpretation unterworfen ist. Die Darlegung der Beziehung von Globalisierung und Nationalismus in diesem Kapitel sollte dabei zusätzlich verdeutlichen, dass die vermehrte Beschäftigung mit Nationalismus im Gegenwartsjapan auch eine unausweichliche Konsequenz der Globalisierung ist, in deren Folge die Legitimation etablierter Nationenbilder durch den verstärkten Kontakt mit „dem Anderen“ zunehmend in Frage gestellt wird. Die zahlreichen Ausprägungen von Interpretation und Rekonstruktion des Nationalen in Japan werden in diesem Abschnitt abschließend unter vier dominanten Aspekten zusammengefasst und diskutiert, die jeweils auch untereinander Verknüpfungen aufweisen können. 1. Die „Banalisierung“ des Nationalen Als Hauptaspekt der in dieser Arbeit untersuchten Diskurse sollte die generelle „Entkriminalisierung“ des Nationalismus im Gegenwartsjapan festgehalten werden, die Mitte der 1990er ihre Anfänge hatte und etwa bis zur Mitte der 2000er Jahre bereits weitestgehend in einen Status der „Normalisierung“ oder – in Anlehnung an Michael Billig62 – auch „Banalisierung“ übergegangen war. Hierbei fällt nicht nur die generell verstärkte Beschäftigung mit dem Nationalismus ab Ende der
Stiglitz (2006), S. 576. Firebaugh (2006), S. 585 ff. 62 Billig (1995). 60 61
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G. Japanischer Gegenwartsnationalismus im Globalisierungsparadigma
1990er Jahre auf, sondern auch die inhaltliche Bandbreite, mit der man sich dem Thema nähert. Insbesondere der konservative Diskurs sieht die „Abkehr vom Nachkriegsregime“ und die Wiederherstellung des „Nationalstolzes“ als einzige Möglichkeit, Japans gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen. Hierbei sind Verfassungsreform und Geschichtsrevisionismus Kernelemente, mit denen Japan ein Neustart mit „weißer Weste“ ermöglicht werden soll. Wie gesehen, gewinnt das Nationale aber auch unter Teilen der Linken wieder an Bedeutung. Diese Banalisierung hat sich insbesondere nach dem Tôhoku-Erdbeben von 2011 weiter intensiviert, als „nationale Einheit“ zunehmend von Medien, Politik und Werbung verordnet und zum festen Bestandteil des öffentlichen Lebens wurde. In ähnlicher Weise wird der Sport dafür genutzt, den Stolz auf das eigene Land als völlig „natürlich“ und harmlos zu präsentieren, wobei Werbung und Wirtschaft das Potential des „Japan-Konsums“ erkannt und forciert haben. In diesem Zusammenhang treten häufig rhetorische Kunstgriffe zu Tage, die wie am Beispiel von Abe Shinzô oder Fujiwara Masahiko aufgezeigt, das Nationale als „natürlich“ und „unausweichlich“ darstellen. Zu diesem Zweck wurden insbesondere in der Enttabuisierungs- und Normalisierungsphase historisch belastete Wörter wie „Nationalismus“ häufig auch durch „Patriotismus“ oder auch Derivate hiervon, wie „Heimatliebe“ (kyôdoai), oder „Vaterlandsliebe“ (sokokuai) ersetzt, wobei sie sich inhaltlich jedoch weiterhin in den gewohnten Bahnen von Nationalismus bewegen (vgl. auch Kap. A.). Dadurch sollte die historisch begründete Ablehnungshaltung gegen diesen abgebaut werden. Im Post-Fukushima-Japan, das in Bezug auf den Nationalismus Tendenzen zur Radikalisierung gezeigt hat, ist allerdings vermehrt zu beobachten, dass auch der Begriff „Nationalismus“ selbst an Schrecken eingebüßt hat und immer öfter auch in offensiver und „positiver“ Konnotation verwendet wird (vgl. Kap. D.), was auch als ein zwangsläufiges Ergebnis des fortdauernden Banalisierungsprozesses gewertet werden kann. Die Verharmlosungstendenzen des Gegenwartsnationalismus zeigen sich auch an den Vorstellungen von Politikern und Intellektuellen, die lange Zeit ungern allzu offen auf „harten“ Nationalismus militärischer oder wirtschaftlicher Natur pochten. Erst im Post-Fukushima-Japan und insbesondere im Zuge von „Abenomics“ machten auch härtere „Großmachtphantasien“ wieder die Runde, die an ähnliche Ansätze in den späten 1980er Jahren erinnern. Dennoch ist insgesamt über den hier untersuchten Zeitraum und aus der Mehrheit der Diskursbeiträge die Tendenz ablesbar, dass „unverfänglichere“, speziell kulturelle Nationalismen zum Ausgangspunkt für die Stärkung des Nationalstolzes genommen werden. Narrative von der „schönen“ japanischen Natur und Kultur werden hierbei auch gelegentlich an ethno-biologischen Faktoren wie der „besonderen Empfindsamkeit“ der Japaner oder anderen, vermeintlich in ihrer DNA „eingeschriebenen“ Besonderheiten, festgemacht (z. B. Fujiwara Masahiko, Tamogami Toshio, Mitsuhashi Takaaki). Diese Erzählungen zeigen zudem die Kontinuität bzw. Renaissance des Nihonjinron-Genres, das auf der Verbindung von westlichen Orientalismen und japani-
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schen Selbstorientalismen aufbaut. Insofern überrascht es nicht, dass in den Diskursbeiträgen sehr häufig die Außensicht „des Anderen“ verwendet wird, um die vermeintliche japanische „Überlegenheit“ oder auch einfach nur die Notwendigkeit und „Entkriminalisierung“ des japanischen Nationalismus als banale Selbstverständlichkeit herzuleiten und das angebliche Fehlen des Stolzes auf Japan als „unnatürlichen Zustand“ abzulehnen. Wie auch der Japanologe Kevin Doak festgestellt hat, ist zudem auffällig, dass der Begriff der „ethnischen“ Nation (minzoku) gegenüber der „bürgerlich“ geprägten Nation (kokumin) an Bedeutung eingebüßt hat63, zumindest was den Prä-Fuku shima-Diskurs betrifft. Selbst die meisten Radikalkonservativen wie Nishibe Susumu oder Kobayashi Yoshinori sprechen für gewöhnlich von kokumin und nicht von minzoku. Während sich letztere Bezeichnung vergleichsweise selten findet (z. B. bei Fujiwara Masahiko), ist jedoch bei näherer Betrachtung der Begriff kokumin in diversen Beiträgen oftmals auch weiterhin ethnisch konnotiert. Dies deutet darauf hin, dass das ideologisch neutralere kokumin dem stärker belasteten minzoku vorgezogen wird, wobei sich allerdings dessen Bedeutungsinhalt kaum verändert. Allerdings hat sich nach Fukushima eine erneute Häufung des minzoku-Begriffes in konservativen Diskursen gezeigt, der mit der generell verschärften Enttabuisierung des Nationalismus nach 2011 einhergeht. Doak kritisiert Versuche von Kommentatoren, Zweifel an der Trennbarkeit von ethnischer und bürgerlicher Nation anzumelden, als „übliche Ablehnung durch ethnische Nationalisten“64. Dabei demonstriert er selbst jedoch erhebliche Gutgläubigkeit, denn er hält fest, dass kokumin (civic nation) im gegenwärtigen Japan an Bedeutung gewinnt, und zeigt sich euphorisch über deren pluralistische und demokratische Möglichkeiten. Doch hebt er ausgerechnet Abe Shinzôs Buch65 lobend hervor und sieht dessen Gebrauch von kokumin (anstatt minzoku) als Beweis für seine Ablehnung eines ethnischen Nationalismus und eine daraus zu schließende, vermeintlich weltoffene Agenda66. Wenngleich Abe vordergründig auch bürgerlich-liberale Werte wie Demokratie und Menschenrechte betonen mag, so ist er nicht frei von ethno- und kulturnationalistischen Tendenzen, die der Abe zugeneigte Doak zusammen mit dessen revisionistischer Neigung anscheinend wohlwollend überlesen hat. Gerade Abe steht als gutes Beispiel dafür, wie in der Praxis ethnische und bürgerliche Anteile des Nationalismus verschwimmen67. Doaks Buchstabenglauben zufolge müssten Akteure wie Kobayashi Yoshinori und Nishibe Susumu auch Verfechter von Demokratie und Pluralismus sein, da sie bevorzugt kokumin verwenden.
Doak (2007). Doak (2007), S. 267. 65 Abe (2006). 66 Doak (2007), S. 271 f. 67 Vgl. Kap. A.; Calhoun (2007), S. 117 – 146; Smutny (2004). 63 Vgl. 64
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2. Hybride, liquide und fragmentiert – Das nationalistische „Identitätsmosaik“ Die Diskussion des Zusammenhangs von Globalisierung und Nationalismus hat gezeigt, wie Letzterer gezwungen ist, sich dem Strukturwandel anzupassen bzw. gar neu zu erfinden. Die Globalisierung führt zum Aufbrechen etablierter Nationenbilder, die unter dem Fragmentierungsdruck in Fluss geraten und sich in neuer Form restrukturieren. Wie an Cool Japan und den „J-Booms“ abzulesen, formieren sich dabei Hybridisierungstrends, die „ausländische“ und „japanische“ Einflüsse kombinieren und Identitätsbausteine wie in einem Mosaik neu arrangieren. Während im Zuge solcher Japonisierungen auch ausländische (Pop)kultur weiterhin eine Rolle spielt68, ergibt sich eine vermeintlich paradoxe Verschmelzung von „banalem Nationalismus“ und mit dem von Ulrich Beck so bezeichneten „banalen Kosmopolitismus“69. Laut Appadurai wird der Staat in der Globalisierung zu einer Entscheidungsinstanz darüber, welche fremden Einflüsse „eingebürgert werden“ („repatriation of difference“), die sich wiederum in Waren, Zeichen, Slogans etc. niederschlagen70. Als anschauliches Beispiel in dieser Richtung kann die erfolgreiche Marketingstrategie der Schnellrestaurantkette McDonald’s in Japan gewertet werden, die mit japonisierten Burgern und japonesken Werbespots die Hybridisierung von kosmopolitischen und nationalen Einflüssen verdeutlicht und mit dieser „glokalen“ Verfahrensweise dennoch – oder gerade deswegen – fast schon als „japanisch“ gilt71. Diese Vermischung von Kulturfragmenten zu etwas neuem, vermeintlich „Japanischem“ spiegelt sich auch in dem von Kayama und Fukuda beschriebenen Verhalten wider, im Ausland eine Filiale von McDonald’s aufzusuchen, wenn man „Heimweh nach Japan“ verspüre72. Wie ferner an Cool Japan oder der Erzählung von der „im Frieden mit der Natur“ lebenden „Umweltnation“ erkennbar, werden ausländische Einflüsse inkorporiert und ex post als „typisch japanisch“ re-imaginiert. Dass solche hybriden Identitätsgebilde nicht nur elitär konstruiert werden, sondern auch auf der Massenebene zu finden sind, zeigte sich etwa in den in Kapitel F. vorgestellten Interviews, als z. B. das amerikanische „iPhone“ als Symbol für „japanischen Fortschritt“ herhalten musste. Dieser anpassungsfähige, in Anlehnung an Bauman fast schon „liquide Nationalismus“ reagiert flexibel auf die an ihn gestellten Herausforderungen und Miura (2010). Beck/Sznaider (2006). 70 Appadurai (1990), S. 307. 71 In einem Werbespot aus dem Jahr 2010 wird diese Verschmelzung von Japoneskem und Westlichem besonders deutlich. Darin fahren die Kunden zunächst mit der Rikscha vor, um schließlich in prunkvollen Kimonos unter den staunenden Blicken eines westlichen Kindes die letzten Meter bis zur Bestelltheke des Fast-Food-Restaurants abzuschreiten. https:// www.youtube.com/watch?v=yIgCJHVNtRo (Zugriff: 20. 03. 2016). 72 Kayama/Fukuda (2003), S. 131. 68 Vgl. 69
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verdeutlicht einen primär „weichen“ und kulturell codierten Charakter gegenwärtiger Nationalismen in Japan. An vielen Beiträgen, die sich mit dem japanischen Gegenwartsnationalismus beschäftigen, ist abzulesen, wie die Kommentatoren versuchen, diese „Soft“-Nationalismen zu erfassen, bei denen es auf den ersten Blick so erscheint, als hätten sie nichts mit traditionellen Nationalismen zu tun. Der liquide Charakter des Nationalismus und Revisionismus lässt sich im Weiteren besonders anschaulich auch an den Internet-Rechten (Kap. E.) festmachen, die sich teils unter dem Einfluss nationalistischer Intellektueller, teils eigenständig die Bestandteile für ihr Bild eines „reinen“ Japan ohne historische Schuld in einer fragmentierten Realität zusammensuchen. 3. Das Nationale als „Fetisch“ Ebenso haben die hier vorgelegten Analysen gezeigt, dass sich das Nationale mehr und mehr zu einem bloßen „Produkt“ wandelt, das zum Konsum auffordert. Die konsumistische und massenmediale Aufbereitung des Nationalismus ist zwar nicht neu73, dennoch machen sich hier Verstärkungen bemerkbar, die ebenfalls im Kontext der Globalisierung und der gewachsenen Möglichkeiten der Informationstechnologie zu sehen sind. Medien, Marketing, Popkultur und Internet stehen im Zentrum von „Nationalismus-Moden“ (vgl. Kap. E.), die das Nationale zu einem so konsumierbaren wie verehrungswürdigen „Fetisch“ werden lassen. Dieser Trend kann im Sinne einer generellen konsumistischen Prägung spätmoderner Gesellschaften gesehen werden, in denen das „Unbehagen“, wie von Bauman beschrieben, erst aus der gestiegenen Freiheit und Pluralität erwächst, die im Gegenzug auch eine Sehnsucht nach der verlorenen Ordnung und Sicherheit nach sich zieht74. Der daraus gewachsene, nostalgisch anmutende Wunsch nach Gemeinschaft, hier in Form vermeintlich „traditioneller“, nationaler Gemeinschaft, wird so „ironischerweise“ selbst durch das Konsumangebot einer nationalistischen „Attrappe“ bedient. Auch die beschriebenen Versuche, Japan als eine „Umweltnation“ zu rekonstruieren, tragen von ihren Anfängen an nicht nur ideologische, sondern vor allem auch konsumistische Züge. Die Re-Imaginierung des Landes als im Einklang mit der Natur lebender Nation zieht als unmittelbare und banale Konsequenz bzw. Voraussetzung die Einführung neuer und „umweltfreundlicher“ Technologien und Produktgenerationen auf allen Ebenen nach sich. Deren Notwendigkeit wird durch das Marketing von Regierungs- und Produzentenseite geschaffen, wobei Nationalismus zum Instrument gerät. Auch vor dem Hintergrund von Stromverknappung unmittelbar nach der Fukushima-Katastrophe reflektiert sich im Kauf stromspaHobsbawm (1990); Billig (1995). scheinbar grenzenlose Freiheit ist dabei primär eine Freiheit konsumistischer Wahlmöglichkeiten, die mit mangelnder individueller Sicherheit einhergeht. Konträr dazu lag das „Unbehagen“ in der (ersten) Moderne in einer übertriebenen Sicherheit und fehlender Freiheit. Vgl. Bauman (1997), S. 3, 14, 79 f., 124. 73
74 Die
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G. Japanischer Gegenwartsnationalismus im Globalisierungsparadigma
render Geräte die Bereitschaft zur „nationalen Einheit“. Die nationalistisch verbrämte Verwirklichung der „nachhaltigen Gesellschaft“ führt also immer wieder über ihren Konsum. Auch hier wird der vermeintlich japanische, „ökologische Lifestyle“ zu einem fetischisierten Objekt eines „banalen Nationalismus“. Die „Umweltnation“, Cool Japan und andere Nation Branding-Strategien zielen jedoch nicht primär auf „wahren Patriotismus“ ab, sondern versuchen in letzter Konsequenz aus Fragmenten „nationaler Identität“ die Basis für neues wirtschaftliches Wachstum und globalen Einfluss zu generieren. Zugleich zeigt sich am Beispiel des „Hobby-Nationalismus“ der Nippon-Nerds, die das Internet und die Popkultur als Gestaltungsraum ihres Nationalismus nutzen, wie das Nationale ins Private und Subkulturelle abdriftet und – selbst Fragmentierungstendenzen unterworfen – unter der Kritik an Autoritäten in Medien und Wissenschaft scheinbar nur spärliche Verknüpfungen zum „offiziellen“ Nationalismus aufweist75. Allerdings lässt die akribische Beschäftigung der Hobby-Nationalisten mit dem Nationalen Japan auch hier zum Fetisch werden. Wie ausgeführt, bietet ihnen das Internet nicht nur die Möglichkeit zum „Konsumieren“, sondern auch zum „Senden“. Es bleibt jedoch abzuwarten, inwiefern diese Hobby-Nationalisten wirklich, wie teilweise von ihnen angenommen, eine „Gegenbewegung“ bilden können, oder ob sie nur bloße Teilnehmer dieses konsumistischen Nationalismustrends bleiben, die ihre eigene Rolle überschätzen und, wie an den Bemühungen der LPD aufgezeigt, letztlich nur Spielmasse populistischer Politik bleiben. Appadurai spricht hier von einem „fetishism of the consumer“, der dem Konsumenten suggeriert, Agent des Konsums zu sein, während diese Agentenschaft eigentlich beim Produzenten liege. Anstatt selbst der Akteur zu sein, ist der Konsument jedoch bestenfalls jemand, der „auswählt“76. Die von Beck, Giddens, Bauman und anderen angesprochene, wachsende Individualisierung im Zuge der globalen Spätphase der Moderne weicht auch die Bezüge von Individuum und nationaler Gemeinschaft auf. Allerdings wird der Bedarf des Individuums nach nationaler Identifikation weiterhin, z. B. durch den scheinbar individualisierten Konsum des Nationalen in Popkultur und Internet auf subtilere Weise gedeckt. Das Nationale wird zu einer individuellen Projektionsfläche von vermeintlich personalisierten Wünschen, Hoffnungen und Vorstellungen, die jedoch nur bestimmte Wahlmöglichkeiten lassen, welche weiterhin primär „von oben“ vorgegeben werden. Auch im individualisierten Konsum der Nation spiegelt sich letztlich der Wille zur „Gemeinschaft“ wider, die allerdings im Sinne Baumans auch als „cloakroom“ oder „carnival community“ gesehen werden kann77. Der Soziologe bezeichnet damit eine flüchtige Gemeinschaft, die sich für einen Theaterbesuch zurechtmacht, für kurze Zeit eine gemeinsame Erfahrung teilt, nur um nach der Darbietung wieder die Mäntel zu nehmen und auseinanderzugehen. Diese Gemeinschaften brauRaddatz (2013a). Appadurai (1990), S. 307. 77 Bauman (2000), S. 200 f. 75 Vgl. 76
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chen laut Bauman ein „Spektakel“, das sie bei ansonsten unterschiedlichen Interessen für eine gewisse Zeit zusammenführt78. Dieses Phänomen zeigt sich nicht nur im Internet79 oder bei Demos der Zaitoku-kai. Auf ähnliche Weise lässt sich auch der von Kayama beschriebene, infantil-karnevaleske Nationalismus in Fußballstadien auffassen, bei dem Japan zum „Spektakel“ wird, für das man sich in den Nationalfarben kleidet und im Sinne Baumans einer „illusion of sharing“ hingibt, die eine Atempause vom individuellen Alltagskampf vorgaukelt80. Insbesondere der Sport zeigt sich so in den letzten Jahren als ein Ort, bei dem versucht wird, den individualisierten und fragmentierten „Japan-Konsum“ in ein gemeinsames Erlebnis zu übertragen. Dieser Aspekt wurde auch in den in Kapitel F. vorgestellten Interviews deutlich, in dem die Befragten die Japan-Unterstützung beim Sport als „Fest“ (matsuri) bezeichneten, nach dessen Ende man sich meist aber nicht weiter mit Japan beschäftige. 4. Das Nationale als „Fluchtort“ Speziell die Untersuchung des japanischen Geschichtsrevisionismus, der nationalistischen Post-Fukushima-Debatten sowie der Beziehung von Armut und Nationalismus haben gezeigt, wie die Nation zum (virtuellen) „Fluchtort“ wird, der Sicherheit und Trost zu versprechen scheint. Globalisierung und der damit verbundene, soziökonomische Wandel sowie die sich intensivierende gesellschaftliche Fragmentierung liegen auch diesem Nationalismustrend zugrunde, mit dem schon der ab den 1990er Jahren verstärkt zu beobachtende Revisionismus in Japan einhergeht. Unsicherheit und Zukunftsangst sind dabei die Ingredienzien, die zur (nostalgischen) Rückbesinnung auf „das Eigene“ führen und den Blick in die Geschichte zurücklenken. Nicht wie bei Utopien sonst üblich dient hier die Zukunft als Projektionsfläche, sondern in retrospektiver Weise eine idealisierte Vergangenheit. Wie im Fall von Amamiya und Akagi aufgezeigt, erscheint die eigene „japanische Identität“ als der einzige noch verbliebene Referenzpunkt, der einem „nicht genommen werden kann“. Die fehlenden Visionen für die Zukunft führen also zu einem Blick in die Vergangenheit81, der auch und besonders von der politischen Ebene (Kap. C.) genutzt wird, um die neoliberale Politik „von oben“ durchzusetzen und wachsende Sozialdefizite zu kaschieren. Der Rückgriff auf die Geschichte ist durch die landeseigene Vergangenheit jedoch nicht ohne weiteres möglich, so dass der Revisionismus zum Mittel der Wahl wird, um die Vergangenheit in der von Sakamoto beschriebenen Weise zu einer „lost utopia“ umzuschreiben82. Steffi Richter merkt dazu an, dass der Geschichtsrevisionismus der Versuch sei, eine schmerzhafte Gegenwart er78 Ebd.
Vgl. hierzu auch Suzuki (2005b). Bauman (2000), S. 200 f. 81 Vgl. hierzu auch Saaler (2005), S. 14 f. 82 Sakamoto (2008). 79
80 Vgl.
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G. Japanischer Gegenwartsnationalismus im Globalisierungsparadigma
träglicher und darüber hinaus die Zukunft des Landes zum Teil eines generellen Diskurses zu machen83. Während Kang Sang-Jung den Nationalismus als „Krankheit“ bezeichnet, sieht Asaba Michiaki darin eher eine „Medizin“84. Und auch Oguma Eiji betont den vermeintlich „heilenden“ Aspekt (iyashi) des Nationalismus, indem man von der „imaginären Gemeinschaft“ (sôzô no kyôdôtai) nicht enttäuscht werden könne, gerade weil sie nicht greifbar sei. So werden die eigenen Sehnsüchte diesem Gebilde imaginär übertragbar85. Auch der Post-Fukushima-Nationalismus, der sich teilweise wirtschaftsnationalistisch äußert und mit seiner phasenweise isolationistischen Agenda gewisse Parallelen zum „sonnô jôi“-Denken („Verehrt den Kaiser und vertreibt die Barbaren“) der Meiji-Zeit aufweist (vgl. Kap. A.), verdeutlicht ein reflexartiges Zurückfallen auf vertraute Kategorien des Nationalen, die den Eindruck des Natürlichen suggerieren, weil sie den Umgang mit einer unklaren Zukunft zu erleichtern scheinen. Diese ungewisse Zukunft und die durch die Globalisierung aufgeworfenen Unklarheiten und Unsicherheiten gegenüber der eigenen Identität kanalisieren sich in dem dumpfen Wunsch nach mehr Gemeinschaft, der sich anhand der vorgestellten Studien und auch den Interviews mit jungen Erwachsenen bestätigen ließ. So wurde deutlich, dass sich zwar die Identifikation mit Japan nicht unbedingt verstärkt hat, sich aber dennoch ein Wunsch nach Gemeinschaft im Allgemeinen und japanischer Gemeinschaft (als der Wunsch Japan bewusst zu erleben) im Besonderen etabliert zu haben scheint. Es muss sich noch zeigen, ob und wie dieses Vakuum gerade auch „von oben“ erkannt und (politisch) behandelt wird. Die stellenweise zu beobachtende Art und Weise, mit Abenomics oder auch mit der Olympiade 2020 neue Großmachtphantasien zu befeuern, zeigte jedoch nach zwei Dekaden der Rezession auch Tendenzen zu exaltierter Selbstüberschätzung, die an gesellschaftlichen und globalen Realitäten vorbei utopische Zukunftspläne entwirft. Der vermeintliche Verlust „japanischer Identität“ durch Globalisierung und der Kontakt mit dem als Spiegel dienenden „Anderen“ (Nichtjapanischen) setzt einen Kreislauf in Gang, dem ein von McVeigh so bezeichneter „renovationist nationalism“ zugrunde liegt. Dem Anthropologen zufolge hat Japans Kontakt mit der Moderne die Notwendigkeit unermüdlicher, nationaler Regeneration erzeugt, bei der Japan nie „japanisch genug“ oder „modern genug“ sein kann, da „japanische Identität“ bereits Moderne bzw. „die Handhabung von Identität“ impliziere86. Nationalismus gehe aber davon aus, dass eine japanische Identität außerhalb der Moderne existiere87. Je „japanischer“ Japan also gemacht werde, desto „moderner“ werde es – und umgekehrt88. Richter (2004), S. 213 f. Tahara/Nishibe/Kang (2003); Asaba (2004), S. 291. 85 Oguma/Ueno (2003), S. 23. 86 McVeigh (2004), S. 57. 87 Ebd. 88 Ebd.
83 Vgl. 84
III. Abschließende Betrachtung – Japans Identitätssuche als „Meiji 2.0“?
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Die Vorstellung, dass Japan durch seine Modernisierung verwestlicht werde, was den vermeintlichen Verlust seiner originären japanischen Identität bedeute, setzt laut McVeigh eine Spirale von Verlust und Wiederherstellung japanischer Identität in Bewegung. Das Moderne hat dabei immer die Elemente „des Fremden“, das das vermeintlich „Eigene“, das Japanische bedroht89. Insofern ist daher zur Wiederherstellung dieser Identität gerade noch mehr Moderne in Form von Imperialismus, Kapitalismus, Etatismus etc. erforderlich90. Der Versuch der „Überwindung“ der (westlichen) Moderne, um zur vermeintlich verlorenen eigentlichen japanischen Identität zurückzukehren, erzeugt also nur eine neue modernisierte und radikalisierte Variante der modernen „japanischen Identität“.
III. Abschließende Betrachtung – Japans Identitätssuche als „Meiji 2.0“? Mit dem Augenmerk auf dem Zeitraum ab 1998 hat sich die vorliegende Arbeit zum Ziel gesetzt, Diskurse von Nation und Nationalismus, Staat und Patriotismus sowie allgemein japanischer Identität im gegenwärtigen Japan zu untersuchen. Dabei wurde ein Ansatz gewählt, der verschiedene Ebenen des Gesellschaftsdiskurses (u.a. Politik, Wissenschaft, Kultur, Medien) in einer Gesamtschau erfasst. Zu diesem Zweck wurde der japanische Gegenwartsnationalismus als Phänomen einer Eliten-, Massen- und Globalebene präzisiert und das Untersuchungsdesign durch quantitative und qualitative Daten ergänzt. Auf diese Weise sollten die Schwächen vorangegangener Arbeiten zum Thema aufgezeigt und Forschungslücken geschlossen werden, um ein umfassenderes Bild japanischer Gegenwartsnationalismen zeichnen zu können. Wie anhand der hier untersuchten Diskurse deutlich wurde, dient Nationalismus immer auch zur Solidarisierung einer „in-group“ bei gleichzeitiger Ausgrenzung einer „out-group“. Dabei ließen sich insbesondere hinsichtlich des Intellektuellen-Diskurses einige wiederkehrende, diskursive Mechanismen herausarbeiten, mit denen japanische Geschichte „reingewaschen“, eine Vormachtstellung Japans angestrebt oder allgemein eine „japanische Identität“ konstruiert werden soll: 1. „Banalisierung“ bzw. „Rechtfertigung“ („Überall außer in Japan ist Patriotismus normal“, „die anderen haben auch Schuld“ etc.), 2. „Trübung“ (willkürliches Neuordnen von Fakten und Schwerpunkten, um den eigentlichen Vorwurf zu verschleiern oder zu entkräften), 3. „Umkehrung“ („Japan als Opfer“) 4. „Polarisierung“ bzw. „Essentialisierung“ („die vs. wir“), 5. „Vollendete Tatsachen“ („Japan ist schön“, „Japaner leben in Harmonie mit der Natur“, „Internationale Beiträge für den Frieden“ etc.). 89
Ebd., S. 69.
90 Ebd.
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Wie bei der Untersuchung der politischen Ebene (Kap. C.) aufgezeigt, versucht Japan, sich seit den 1990er Jahren abseits wirtschaftlicher Machtausübung international stärker zu positionieren. Zu diesem Zweck hat das Land die Restriktionen der pazifistischen Verfassung zunächst mit einer liberalen Auslegung umschifft und ab den 1990ern zum ersten Mal seit 1945 Truppen für Peacekeeping-Operationen oder logistische Unterstützungsmissionen ins Ausland entsandt. Unter Premier Abe wurden 2015 jedoch mit der Verabschiedung weitreichender Sicherheitsgesetze die Weichen für eine weitere Verstärkung der Interpretationsstrategie gestellt. Diese Maßnahmen, obwohl von etlichen Experten als verfassungswidrig eingestuft, erlauben es, Abes Strategie des „proaktiven Pazifismus“ zu verfolgen, die Japan in Zukunft erstmals nach Kriegsende effektiv in Kampfhandlungen einbeziehen könnte. 2015 wurde somit die letzte Zündstufe vor der tatsächlichen Revision der Verfassung, die weiterhin zur Debatte steht, erreicht. Allerdings bleibt selbst bei den nötigen Mehrheiten im Parlament der Ausgang im alles entscheidenden Volksreferendum aufgrund des anhaltend starken Widerstands in der Bevölkerung ungewiss. Folglich fährt die japanische Regierung auch weiterhin die altbewährte zweigleisige Strategie, die aus der Ausreizung der Interpretationsmöglichkeiten der Verfassung einerseits und dem Ausloten ihrer tatsächlichen Revision andererseits besteht. Dieses Vorgehen wird durch selektive Alternativen zur Steigerung des internationalen Einflusses ergänzt, wobei in dieser Arbeit u.a. Bereiche wie Human Security und insbesondere die Kulturdiplomatie als Beispiele herangezogen wurden. Der beschriebene Prozess dient Japan einerseits dazu, seine Handlungskapazitäten zu erweitern und sich andererseits vor dem Hintergrund der schwindenden, wirtschaftlichen Macht auch als ideologischer und technologischer „Thought Leader“ zu positionieren, um so zugleich wiederum Möglichkeiten für neues wirtschaftliches Wachstum zu sondieren. Nation Branding-Strategien wie „Cool Japan“ bzw. die Anstrengungen von Regierungsseite, Japan gerade auch nach Fukushima ein neues ökologisches Profil als „Umweltnation“ zu verleihen, sind in diesem Sinn zu verstehen. Neben Chancen zu stärkerem internationalem Einfluss und der Schaffung bestimmter Japanbilder im Ausland bieten solche Strategien zudem Möglichkeiten, den Patriotismus der Japaner selbst zu aktivieren, was ein weiteres Anliegen der konservativen Politik ist. Die Erziehungsreformen unter Abe, die Patriotismus zum Unterrichtsgegenstand werden ließen, können dabei als eine der deutlichsten Institutionalisierungsbestrebungen nationaler Identität ab der 2000er Dekade gelten. Während auf geopolitischer Ebene die Sicherheitsallianz mit den USA weiterhin die zentrale Rolle spielt, wurde bei der Betrachtung des Intellektuellen-Diskurses (Kap. D.) deutlich, dass sowohl unter Konservativen als auch unter Linken ein starker Antiamerikanismus vorherrscht. Dessen konservative Fraktion strebt nach einer totalen Loslösung vom als von den USA oktroyiert empfundenen Nachkriegssystem – bei gleichzeitiger „Rückkehr zum Japanischen“. Dies ist auch das Ziel der proamerikanischen Intellektuellen, wenngleich sie zur Fortsetzung der Sicherheits-
III. Abschließende Betrachtung – Japans Identitätssuche als „Meiji 2.0“?
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allianz mit den Vereinigten Staaten keine Alternative sehen. Das widersprüchliche Festhalten an den USA im proamerikanischen Konservatismus ist jedoch weniger echter Überzeugung geschuldet, sondern eher geopolitischem Pragmatismus. Beide konservative Lager eint bei ihrer Rückbesinnung auf das „Japanische“ oft ein ausgeprägter Revisionismus, der versucht, japanische Geschichte „reinzuwaschen“, denn das erklärte Ziel besteht in der Wiederbelebung des „Stolzes auf Japan“. Auch unter den Linken lässt sich ein Nationalismus ausmachen, der sich primär antiglobalistisch und antizentralistisch ausdrückt. Die Globalisierungsskepsis unter Linken wie Rechten hatte speziell im Zuge der Fukushima-Katastrophe und der Frage, ob Japan dem TPP-Abkommen beitreten sollte, auch zu isolationistischen Zwischentönen geführt, die eine stärkere internationale Rolle Japans infrage stellten. Die Analyse des Nationalismus „von unten“ (Kap. E., F.) konnte verdeutlichen, dass seit der 2000er Dekade primär der Patriotismus der jungen Generation in den Fokus geraten ist, der paradoxerweise von Politikern und Intellektuellen vorgeworfen wird, zu wenig patriotisch zu sein. In diesem Kontext waren der Nationalismus in Internet und Popkultur sowie die damit oftmals in Verbindung gebrachten Rechtstendenzen des japanischen Prekariats zu untersuchen. Dabei wurden insbesondere die Fragmentierungswirkungen des Internets deutlich, die zu einer „Verflüssigung der Geschichte“ beitragen und mit dem Erfolg nationalistischer Popkultur auch die Gesellschaft mit einer „negativen Soft Power“ durchdringen könnte91. Mit der hier angewandten Analyseform, welche die Ebenen „von unten“ und „von oben“ zunächst getrennt betrachtet, ließ sich anschaulich aufzeigen, wie das Nationale nicht nur im Diskurs, sondern auch zwischen der „Eliten-“ und „Massenebene“ verhandelt wird und sich in diesem Prozess zwangsläufig zahlreiche Schnittstellen herausbilden. Gerade aufgrund des in der Globalisierung dominanten, sozioökonomischen Wandels wurde deutlich, wie einerseits Nationalismus als Herrschaftsinstrument „von oben“ verwendet und andererseits „von unten“ aufgenommen, konsumiert und reproduziert wird. Dabei wurde „von oben“ auch verstärkt versucht, die diffamierte Funktion des Staates zu „entkriminalisieren“ und wachsende Loyalität einzufordern, wobei jedoch nach wie vor eine starke Skepsis gegenüber diesem Vorgehen spürbar ist. In vielerlei Hinsicht ist Nationalismus im gegenwärtigen Japan einerseits subtiler und zugleich banaler geworden. Dass dieser vermeintlich „softe“ Nationalismus jedoch auch schnell härtere Formen annehmen kann, zeigte sich im Post-Fukushima-Japan anhand der vorgestellten Debatten um Japans TPP-Beitritt, am Abenomics-Hype und dem Auftauchen radikaler Bürgerbewegungen wie der Zaitoku-kai. Dass die vorgeblich fehlende Unterstützung des Staates gleichwohl begleitet ist von einer habituellen Akzeptanz im Sinne Bourdieus (vgl. Kap. A.), die dessen Symbole und Erzählungen (unbewusst) konsumiert und reproduziert, wurde auch anhand der Interviews mit jungen Erwachsenen deutlich. Das qualitative sowie das 91 Vgl.
Raddatz (2013a).
328
G. Japanischer Gegenwartsnationalismus im Globalisierungsparadigma
hier verwendete, quantitative Material haben dazu beigetragen, die Ergebnisse der Diskursanalyse auch empirisch besser einordnen zu können. Die lebhafte Auseinandersetzung mit dem Nationalismus im untersuchten Zeitraum hat vielfach die Frage aufgeworfen, ob die japanische Gesellschaft nach rechts driftet. Wie sich in Studien zeigte (Kap. E.), lässt sich der behauptete Rechtsruck weder in der jüngeren Generation, noch in der Gesamtgesellschaft empirisch eindeutig nachweisen. Solche Debatten bleiben problematisch, solange es an eindeutigen Kriterien mangelt. Einige Kommentatoren weisen in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass auch die traditionelle Links-Rechts-Opposition bei der Bewertung der Situation nicht weiterhilft92. Wenngleich in Japan generell schon seit den 1980er Jahren eine Schwächung der Linken feststellbar ist, so lässt sich dennoch kein Rechtsruck feststellen, der etwa die ernsthafte Rückkehr zum imperialistischen Vorkriegssystem zum Ziel hätte93. Während ein stärker werdender Nationalismus empirisch schwer nachweisbar erscheint, zeichnet sich jedoch ein Wandel im Bild Japans ab, der das Land zunehmend als „Kulturnation“ und nicht mehr primär als „Wirtschaftsmacht“ sieht. Hierbei wurden beispielsweise Trends zu einem ökologischeren Bewusstsein erkennbar, das als traditioneller Bestandteil japanischer Kultur imaginiert wird. Dass diese Transformation zur „Kulturnation“ mit „Soft Power“ dabei vor allem auch den Folgen einer zwei Dekaden dauernden Rezession geschuldet ist, die aus der Not eine Tugend macht, wurde an jüngsten Ausprägungen des japanischen Nationalismus nach Fukushima und im Zuge von „Abenomics“ deutlich. Denn sie beschworen mit harten Nationalismen die japanische „Wirtschaftssupermacht“ herauf und ließen auch über die Territorialkonflikte mit China Rufe nach stärkerer militärischer Macht hörbar werden. Wie somit deutlich wird, manifestiert sich Nationalismus immer auch entsprechend den sich öffnenden Möglichkeiten und Spielräumen. Aufgrund ihrer prominenten Rolle im Diskurs des Untersuchungszeitraums wurde in dieser Arbeit mit qualitativen Interviews mit jungen Erwachsenen unter dreißig Jahren dieser Generation besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht (Kap. F.). Anhand der Studien und Interviews ließ sich zeigen, dass eine aktivere außenpolitische Rolle Japans durchaus auch von der jüngeren Generation unterstützt wird, wobei allerdings der Pazifismus als etablierter Gesellschaftswert weiter stark verwurzelt bleibt. Zudem sprach ein Großteil der Befragten – teilweise bedauernd – die „fehlenden Möglichkeiten“ an, Japan im Alltag „bewusst zu erleben“. Eine Konsequenz daraus scheint die bei fast allen Interviewten vorhandene Unterstützung Japans beim Sport zu sein, die aber – wie auch von Kayama94 beschrieben – angeblich „nichts mit Japan zu tun habe“. Der Gebrauch gängiger Stereotype über das „Japanersein“ sowie revisionistischer Klischees und ArguTakahara (2011); Ôsawa (2011). Takahara (2009), S. 143. 94 Kayama (2002). 92 93
III. Abschließende Betrachtung – Japans Identitätssuche als „Meiji 2.0“?
329
mentationsmuster seitens der Befragten konnte demonstrieren, wie konservative Interpretationen „japanischer Identität“ in der Gesellschaft aufgesogen und reproduziert werden und so den Nährboden für die Installation neuer revisionistischer und potentiell problematischer Nationenbilder bereitstellen können. Die wachsende Beschäftigung mit dem Nationalismus sowie die schwindende Trennschärfe zwischen rechts und links95 machen ebenso deutlich, dass sich Japan im Kontext der Globalisierung einer komparativen Analyse nicht entziehen kann. Der in großen Teilen der Globalisierungsforschung vorherrschenden Meinung, dass Globalisierung unausweichlich sei96, steht auch in Japan eine reaktionäre Renationalisierungsbewegung gegenüber, wobei Globalisierung üblicherweise mit „Amerikanisierung“ gleichgesetzt wird. Um eine weltweite „Beherrschung“ durch die USA und einen damit befürchteten Identitätsverlust zu verhindern, wird die Abkehr vom Globalismus mit einer damit einhergehenden „Rückkehr zum Japanischen“ verbunden, die aus unterschiedlichen Beweggründen zudem eine Annäherung weiter Teile oppositionell gestimmter Lager von links und rechts befördert. Die hier untersuchten Diskurse erlangen ihre Bedeutung durch die Verbindung des Verlusts der „großen Erzählung“ von Japan als „Wirtschaftsnation“97 mit der fast zeitgleich einsetzenden Intensivierung der Globalisierung ab den 1990er Jahren, die sich in einer wachsenden Identitätskrise niederschlägt und das Bestreben der Diskurseliten verstärkt, alternative Identitätsvorschläge zu entwickeln. Entsprechend ist bei dieser Identitätssuche – eher als ein quantitativer Wandel – auf einen qualitativen Wandel des Nationalismus hinzuweisen, der sich über weite Strecken des Untersuchungszeitraumes weniger in klassischen „harten“, sondern eher in „weichen“, soziokulturellen Ausprägungen offenbart hat. Dabei erschien der Nationalismus in den Diskursen zunehmend als Allheilmittel oder universaler Lösungsvorschlag, mit dem die Herausforderungen Japans zu bewältigen seien. Als dominante und parallel zu beobachtende Facetten des japanischen Gegenwartsnationalismus wurden seine allgemeine „Banalisierung“, seine Hybridisierung in Form eines „Identitätsmosaiks“, sowie seine Rolle als konsumierbarer „Fetisch“ und als „tröstender Zufluchtsort“ hervorgehoben. Dabei wurden drei grobe Phasen in Art und Umgang mit Nationalismus erkennbar. Eine erste Phase der „Entkriminalisierung“ und Banalisierung des ehemaligen Tabu-Themas Nationalismus, die ihre Anfänge in den 1990er Jahren hatte und mit der fortwährenden Beschäftigung schließlich in eine zweite Phase der „Normalisierung“ und Etablierung mündete, die bis Mitte der 2000er Jahre zu einer gesteigerten Akzeptanz bestimmter Nationalismus-Phänomene, wie des Sport- oder Popkultur-Nationalismus führte. Im Post-Fukushima-Japan nach 2011 zeigte sich in einer dritten Zündstufe schließlich ein zunehmender Trend der Intensivierung bzw. Radikalisierung, der Suzuki (2007b), S. 218, 219. Vgl. auch Suzuki (2007b), S. 22. 97 Vgl. Miura (2010). 95 Vgl. 96
330
G. Japanischer Gegenwartsnationalismus im Globalisierungsparadigma
vermehrt Positionen im Diskurs salonfähig machte, die zehn bis 15 Jahre zuvor noch kaum konsensfähig schienen. In dieser Phase hatte sich das öffentliche Klima beim Thema Nationalismus soweit “normalisiert“, dass zuvor weitgehend unsichtbar operierende Gruppierungen wie Nippon Kaigi oder Zaitoku-kai nun immer offensiver auftreten konnten. Die weitere Aushöhlung der pazifistischen Verfassung durch die Abe-Administration und die offensive Installation von Mitgliedern revisionistischer und religiös-nationalistischer Netzwerke in Medien und Regierung können dabei als vorläufiger Höhepunkt dieser Radikalisierungsphase verstanden werden. Bei der Frage, ob der Nationalismus in den vergangenen zwei Dekaden in Japan graduell an Intensität zugenommen haben könnte, ist jedoch Vorsicht geboten. Denn Nationalismus ist – wie etwa auch von Brubaker beschrieben – kein Phänomen, das einfach aus dem Nichts „aufflammt“98, sondern ein latent laufender Prozess, der sich mit zeitabhängigen Herausforderungen wandelt. Mithin existiert auch kein bestimmtes, exklusives Nationenbild, sondern ein Deutungspotential, um das konkurrierende Nationalismen kämpfen. In diesem Sinne verschwand Japans Nationalismus nach dem Krieg nicht einfach und auch nach 1945 war das Land niemals nicht nationalistisch. Die Analyse der japanischen Zeitgeschichte ab 1998 hat jedoch ergeben, dass Nation und Nationalismus, speziell im Rahmen zunehmend dominanter Globalisierungseffekte, mit fundamentalen Existenzfragen konfrontiert sind, die zu einer besonders prominenten und akuten Beschäftigung mit dem Thema geführt haben. Die Globalisierung führt dabei keineswegs zum Ende des Nationalismus, sondern zwingt ihn im Gegenteil zur Anpassung, wobei er sich auf seine Grundprinzipien „zurückbesinnt“, d.h. aus verschiedenen Symbolen und Narrationen ein bestimmtes Bild von „Nation“ kreiert, das sich an den jeweiligen Herausforderungen orientieren muss, um seinen nachhaltigen Geltungsanspruch zu sichern. Dies spiegelt sich in den hier vorgestellten Diskursen zuverlässig wider. Hier hat sich zudem gezeigt, dass Nationalismus und neoliberale Globalisierung keineswegs einen Widerspruch bilden müssen. Im Gegenteil gehen beide eine sich wechselseitig aufschaukelnde, fast schon symbiotische Beziehung ein. Zunächst hat die Globalisierung durch die wachsende Präsenz und Verbindlichkeit „des Anderen“ sowie auch ihre sozioökonomischen Auswirkungen Japan vor neue sozial- und identitätspolitische Herausforderungen gestellt. Im Zuge dieses Prozesses, der mit einer gestiegenen Unsicherheit des Einzelnen einhergeht, bietet das eigene Land die vermeintlich einfachste Identifikationsmöglichkeit um Halt, ein Gefühl von Stabilität und Trost zu finden. Auch das neoliberal-konservative Politik-Establishment befördert diesen Trend bereitwillig, um neoliberale Politik unter der Tarnkappe nationalistischer Erzählungen zu forcieren. Nationalismus ist also weniger der Gegenpol zur Globalisierung, sondern fungiert eher als Medium der Durchsetzung neoliberaler Politik „von oben“. 98
Brubaker (1996).
III. Abschließende Betrachtung – Japans Identitätssuche als „Meiji 2.0“?
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Dabei werden auch gezielt Feindbilder (China, Südkorea etc.) erzeugt, die Ängste schüren, um sich in populistischer Manier die Zustimmung zu weitreichenden sicherheits- und sozialpolitischen, angeblich „alternativlosen“ Reformen zu sichern, wobei im Zweifel die öffentliche Meinung auch einfach ignoriert wird. Der „von oben“ ausgegebene Nationalismus wird „von unten“ nicht selten als vermeintliches Eintreten für nationale Interessen fehlinterpretiert. Die geteilten Feindbilder haben zudem einen „befreienden“ Charakter, die auch von elitärer Verantwortung entlasten und zur Projektionsfläche für alles Schlechte werden. Da derselbe Prozess jedoch auch auf Seiten des „Gegners“ abläuft, kann – wie am Beispiel des Streits um die Senkaku-Inseln gesehen – rasch eine gefährliche Eskalationsstufe erreicht werden, die vor 15 Jahren ebenfalls noch ausgesprochen unrealistisch erschien. In der derzeitigen Globalisierungsphase, die nicht nur die Präsenz „des Anderen“ verstärkt hat, sondern sich auch mit einer Neuinterpretation japanischer Identität verbindet, lassen sich gewisse Parallelen zur erzwungenen Landesöffnung in der Bakumatsu-Zeit in einer Art „Meiji 2.0“ erkennen. In diesem Sinne erinnern sowohl die im Untersuchungszeitraum ermittelten, isolationistischen sowie auch die neoliberal-globalistischen Tendenzen an die zwiespältige Situation im 19. Jahrhundert, womit sich die jetzige Globalisierung als eine „zweite Globalisierung“ Japans interpretieren lässt. Die in konservativen und teilweise auch linken Kreisen als Bedrohung japanischer Werte und Traditionen empfundene, aktuelle Globalisierung trifft dabei auf die Bestrebungen des dominant gewordenen, reaktionären Konservatismus, Japan aus einem als „unnatürlich“ bezeichneten „Besatzungszustand“ zu befreien, der das Ergebnis von Japans missglückter, imperialistischer Reaktion auf seine erste Globalisierung ist. Die „ideologische Besetzung“ Japans, deren Symbol die Nachkriegsverfassung ist, soll durch deren Revision und das Reinwaschen japanischer Gewaltgeschichte einen dritten Versuch Japans ermöglichen, eine dominante Groß- wenn nicht gar Weltmacht zu werden und die aktuelle Globalisierung „japanisch“ zu beeinflussen. Der stark militaristisch beeinflusste Versuch, in der „ersten Globalisierung“ Japans ab der Meiji-Zeit zunächst auf Augenhöhe mit westlichen Mächten zu gelangen und deren Imperialismus eine japanische Version entgegenzusetzen, scheiterte bekanntlich katastrophal. Nach dem verlorenen Krieg arrangierte sich Japan mit den Fesseln der pazifistischen Verfassung und versuchte in einem zweiten Anlauf – diesmal wirtschaftlich – zu den westlichen Mächten aufzuschließen. Allerdings zeitigte auch dieses Projekt der wirtschaftlichen Weltdominanz („Japan as No. 1“) keinen nachhaltigen Erfolg und musste mit der Rezession der 1990er Jahre aufgegeben werden. Die Orientierungslosigkeit der zwei „lost decades“ mündete während der hier analysierten Periode schließlich in das Projekt eines dritten Anlaufs auf eine Führungsrolle Japans in der Welt. Dessen endgültiges Design ist immer noch im Werden begriffen, zeichnet sich aber bereits als kulturell-ideologisches Vormachtstreben ab, das – ein Fortdauern der durch Abe angestoßenen Politik vorausgesetzt – mittel- bis langfristig auch durch erweiterte militärische Kapazitäten abgesichert werden soll.
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G. Japanischer Gegenwartsnationalismus im Globalisierungsparadigma
Die starken Trends hin zu einer Neuinterpretation japanischer Identität im Zuge der Globalisierung erhielten durch das Tôhoku-Erdeben von 2011 zusätzliche Dynamik. Das Beben und die Katastrophe von Fukushima belegen, wie große Krisen das Selbstbild einer Nation insgesamt erschüttern können. Dabei wurde Fuku shima stellenweise der Status der größten Zäsur (bzw. auch Niederlage) seit 1945 eingeräumt. Vor dem Hintergrund von Japans Geschichte ist die wichtigste Frage allerdings nicht, ob der Nationalismus des Landes stärker wird, sondern wie er sich kanalisieren lässt. Eine Intensivierung globaler und regionaler Integrations- und Kooperationsleistungen Japans erscheint hierbei als zielführend. Insofern sind Japans eigene Versuche, im Rahmen von UNO und anderen internationalen Organisationen größere Beiträge zu leisten, zu begrüßen. Im Kontrast dazu erscheinen die im Post-Fukushima-Japan zwischenzeitlich zu beobachtenden, isolationistischen Tendenzen, die mit der Schaffung von Feindbildern wie China oder Südkorea und einer narzisstisch-nationalistischen Selbstbeschäftigung einhergehen, als die weitaus gefährlichere Variante.
Anhang Demographische Daten der Interviewpartner Pseudonym
Geschlecht
Alter (beim Interview)
Beruf
Bildung (letzter Abschluss)
Datum des Interviews
Ako
W
24
Freeter
BachelorÄquivalent
30. 04. 2010
Risa
W
29
Doktorandin
Master
17. 05. 2010
Jun
M
27
Freeter
BachelorÄquivalent
12. 06. 2010
Yûko
W
19
Studentin
OberschulAbschluss
02. 02. 2012
Taichi
M
21
Student
OberschulAbschluss
15. 03. 2012
Ryôsuke
M
28
Selbstständig
BerufsschulAbschluss
29. 03. 2012
Haruka
W
23
Angestellte
BerufsschulAbschluss
22. 04. 2012
Akira
M
24
Student
BachelorÄquivalent
04. 05. 2012
Anna
W
24
Angestellte
BerufsschulAbschluss
4. 11. 2012
Madoka
W
18
Studentin
OberschulAbschluss
10. 11. 2012
Kaori
W
21
Studentin
OberschulAbschluss
11. 11. 2012
Naoto
M
27
NEET
BachelorÄquivalent
05. 12. 2012
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Stichwortverzeichnis Stichwortverzeichnis
Abe danwa 78, 104 Abenomics 12, 189, 202, 204, 216, 272, 318, 324, 327 Antiamerikanismus 41, 129, 158, 201, 326 Artikel 9 siehe Pazifismus Atombombenabwurf 42, 46, 140, 183 Atomkraft 182, 188, 202, 238, 241, 268 Atomwaffen 48, 68, 110, 155, 242 banal nationalism 26 Bushidô 51, 166, 168, 170 Cool Japan 83, 92, 121, 157, 170, 193, 270, 315, 320, 326 Edo-Zeit 29, 150 Etatismus 27, 43, 44, 45, 59, 103, 133, 134, 147, 150, 151, 163, 221, 303, 306, 325 Freeter 14, 252, 257, 258, 263 furusato 52, 53, 161, 162 Fußball-WM 62, 205, 208, 213, 223, 293 Habitus 35, 38, 222, 304, 327 hi no maru 62, 205, 276, 279, 293 imagined communities 24, 37 Imperialismus 49, 97, 109, 132, 141, 142, 144, 146, 156, 157, 170, 188, 197, 200, 223, 283, 325, 331 iyashi 265, 324 Japanisch-amerikanischer Sicherheitsvertrag 48, 49, 70 Japanische Fahne siehe hi no maru Japanische Hymne siehe kimi ga yo Jieitai siehe Selbstverteidigungsstreit kräfte (SDF) jigyaku shikan 58, 137, 284, 286 Jinja Honchô 93, 95, 96
kami no kuni 93 kanryû siehe Korean Wave Kapitalismus 24, 32, 169, 173, 187, 188, 306, 310, 325 Kenkanryû 222, 228, 230, 231, 232, 233, 249, 273 kimi ga yo 62, 205, 241, 277, 279, 285, 293 Koizumi danwa 95, 104 kokugaku 16, 29, 149 kokutai 30, 114, 147, 152, 197 kollektives Selbstverteidigungsrecht siehe shûdanteki jiei-ken Kolonialisierung siehe Kolonialismus Kolonialismus 29, 91, 140, 156, 162, 239 Kommunismus 44, 64, 98, 169, 306 Kôno danwa 104, 106, 225 Korean Wave 213, 223 Lost Generation 253, 254, 262 Manga Kenkanryû siehe Kenkanryû Meiji-Restauration 28, 29, 43, 200 Meiji-Zeit 29, 49, 108, 149, 151, 152, 157, 162, 269, 324, 331 Militarismus 31, 42, 49, 64, 73, 75, 123 Mitogaku 29 Mittelstandsgesellschaft 14, 250 mono no aware 167, 168, 297, 298 Murayama danwa 57, 104 Nanking-Massaker 113, 139, 140, 144, 284, 286 Nation Branding 32, 84, 87, 88, 91, 92, 122, 171, 173, 174, 272, 315, 322, 326 Neoliberalismus 15, 17, 32, 103, 115, 123, 130, 160, 162, 163, 194, 196, 201, 258, 307, 308
Stichwortverzeichnis netto uyoku 19, 129, 130, 181, 186, 223, 232, 233, 234, 242, 250, 254, 259, 266, 267, 311, 314 Nichibunken 54, 82, 146, 147, 177 Nihon Izoku-kai 97 Nihonjinron 15, 51, 147, 150, 164, 170, 178, 201, 271, 295, 318 Nippon Kaigi 85, 96, 98, 100, 178, 196, 247, 281, 330 Olympiade (Tôkyô) 49, 177, 198, 269, 324 Otaku 170, 171, 233, 236, 241, 255, 267, 271 Pazifismus 42, 49, 51, 74, 122, 129, 149, 185, 188, 206, 216, 217, 258, 283, 328 – proaktiver Pazifismus 79 Pop-Nationalismus 130, 221 Postmoderne 170, 203, 271, 309 Prekariat 18, 254, 260, 261, 265, 267, 307, 327 puchi nashonarizumu 205, 207, 220 puchinasho siehe puchi nashonarizumu Rassismus 55, 128, 141, 143, 156, 223, 227, 281 Regionalismus 15, 154, 161, 164 Russisch-Japanischer Krieg 49, 151, 152, 287 Schulbuchaffäre 11, 18, 104 SDF siehe Selbstverteidigungsstreitkräfte (SDF) Selbstverteidigungsstreitkräfte (SDF) 50, 63, 64, 66, 72, 74, 76, 184, 259, 279 Senkaku-Inseln 12, 74, 79, 124, 199, 228, 283, 290, 331 Shinseiren 93, 95, 96, 98 shûdanteki jiei-ken 12, 70, 76
359
Sino-Japanischer Krieg 49, 151, 287 Soft Power 75, 82, 87, 91, 92, 121, 170, 173 – negative Soft Power 236, 327 sonnô jôi 29, 324 soziale Differenzen 14, 162, 250, 266, 317 Spätmoderne 308, 316, 321 spirituelle Intellektuelle 16, 147, 187 Staats-Shintô 30, 93, 95, 97, 149 symbolische Macht 35, 36 tenka 29 Tennô 15, 30, 96, 114, 116, 128, 135, 151, 155, 190, 284 tokutei himitsu hogo-hô 75 TPP 102, 103, 176, 177, 185, 194, 196, 199, 202, 204, 327 Trans-Pacific Partnership siehe TPP Trostfrauen 76, 104, 106, 137, 138, 224, 225, 228, 243, 247 Tsukuru-kai 50, 58, 127, 136, 141, 158, 176, 203, 207, 225, 235, 272 Verfassungsreform 49, 59, 63, 67, 102, 112, 126, 178, 192, 195, 201, 202, 283, 291, 301, 318 Xenophobie 206, 245, 263, 267 Yasukuni-Schrein 11, 18, 53, 94, 96, 97, 100, 101, 104, 109, 116, 119, 149, 159, 175, 182, 263 Yoshida-Doktrin 49, 59, 65, 120 Zaitoku-kai 178, 242, 248, 263, 267, 323, 327 Zweiter Weltkrieg 11, 26, 30, 42, 50, 81, 94, 113, 128, 141, 183, 184, 199, 296
Personenregister Personenregister
Abe Shinzô 11, 12, 60, 66, 67, 70, 74, 80, 95, 101, 108, 110, 118, 120, 132, 133, 149, 169, 173, 176, 184, 186, 194, 195, 198, 214, 240, 245, 248, 268, 281, 312, 318 Agawa Naoyuki 81 Akagi Tomohiro 254, 257, 258 Akaha Tsuneo 125 Amamiya Karin 254, 259 Anderson, Benedict 24, 37, 209 Antoni, Klaus 16, 28, 94, 169 Appadurai, Arjun 33, 322 Arendt, Hannah 26 Asaba Michiaki 19, 207, 324 Asô Tarô 116, 176 Azuma Hiroki 152, 157, 171, 188 Baudrillard, Jean 174, 271 Bauman, Zygmunt 28, 308, 322 Beck, Ulrich 26, 307, 308, 320 Befu Harumi 51, 147 Billig, Michael 22, 25, 26, 34, 180, 221, 317 Bourdieu, Pierre 25, 34, 35, 36, 37, 38, 327 Brubaker, Rogers 21, 23, 34 Chang, Iris 139, 140 Connor, Walker 22, 352 Doak, Kevin 13, 15, 27, 28, 44, 111, 195, 319 Durkheim, Emile 22 Foucault, Michel 34, 39 Fujii Satoshi 197 Fujioka Nobukatsu 50, 85, 141 Fujiwara Masahiko 126, 127, 132, 139, 148, 149, 150, 166, 288, 318, 319
Fukuda Kazuya 127, 131, 144, 155, 234 Fukuzawa Yukichi 30 Furuya Tsunehira 241 Gebhardt, Lisette 94, 147, 170 Gellner, Ernest 209 Genda Yûji 253 Giddens, Anthony 31, 307, 308 Habermas, Jürgen 26 Hasebe Yasuo 77 Hasegawa Michiko 75, 96 Hashimoto Ryûtarô 60, 97 Hashimoto Tôru 242 Hata Ikuhiko 106, 137 Hata Tsutomu 57 Higuchi Naoto 244, 246 Himaruya Hidekazu 236 Hiranuma Takeo 281 Hobsbawm, Eric 39 Hosokawa Morihiro 57, 59 Huntington, Samuel 169 Hyakuta Naoki 75, 112, 120, 178, 237, 248 Ikeda Hayato 48 Inada Tomomi 85, 119, 247 Inose Naoki 198 Iokibe Makoto 147 Isayama Hajime 237 Ishihara Shintarô 56, 64, 132, 133, 178, 180 Iwabuchi Kôichi 56, 171, 172, 200 Kamisaka Fuyuko 130 Kang Sang-Jung 60, 154, 158, 161, 204, 222, 324
Personenregister Katô Norihiro 182, 183, 185, 195 Katô Shûichi 70, 150 Kawaguchi Kaiji 236 Kawai Hayao 54 Kayama Rika 13, 18, 144, 180, 205, 222, 264, 265, 276 Kayano Toshihito 100, 152, 154, 155, 261 Keene, Donald 165 Kishi Nobusuke 48 Kitada Akihiro 11, 18, 152, 206, 230 Kobayashi Yoshinori 18, 60, 64, 126, 127, 137, 139, 154, 155, 163, 173, 185, 199, 203, 222, 224, 226, 235, 244, 267, 273, 279, 287, 304, 319 Koga Shigeaki 92 Koizumi Jun’ichirô 11, 60, 98, 169, 312 Kôno Yôhei 64, 104, 225 Lyotard, Jean-Francois 173, 269 Maruyama Masao 42, 43, 258 Masuki Shigeo 247 Matsumoto Ken’ichi 151 Matsushita Kônosuke 177 McArthur, Douglas 46, 83 McGray, Douglas 84 McVeigh, Brian 19 Mishima Yukio 50, 131, 151, 287 Mitsuhashi Takaaki 189 Miura Atsushi 208, 215, 250, 254, 268 Miyadai Shinji 154, 155 Miyazawa Kiichi 64 Mizushima Satoru 240 Momii Katsuto 75 Mori Yoshirô 93 Morita Akio 55 Murakami Haruki 185 Murayama Tomiichi 57 Nakagawa Yatsuhiro 186 Nakajima Takeshi 97 Nakajima Yoshimichi 132 Nakanishi Terumasa 133
361
Nakano Kôichi 17, 55, 67, 79, 101, 103, 106, 123, 179 Nakano Takeshi 185, 189, 204 Nakasone Yasuhiro 53, 60, 67, 110 Nakazawa Shin’ichi 187, 272 Nishibe Susumu 60, 64, 126, 127, 130, 131, 143, 154, 185, 190, 203, 235, 319 Nishio Kanji 126, 141, 226 Noda Yoshihiko 70, 102 Obuchi Keizô 81 Ôe Kenzaburô 52, 70, 185 Oguma Eiji 15, 43, 324 Ômae Ken’ichi 33 Ôsawa Masachi 208, 219, 269 Ôsawa Nobuaki 83 Ôtake Hideo 98 Ôtsuka Eiji 83, 171, 207, 234 Ozawa Ichirô 57, 59, 65, 70, 73, 78, 107, 120 Perry, Matthew C. 28, 29 Prohl, Inken 16, 54, 146, 147, 150, 177 Richter, Steffi 18, 58, 127, 135, 181, 234, 323 Saaler, Sven 12, 18, 46, 49 Saeki Keishi 127, 131, 145, 235 Sakurai Makoto 242, 244 Sakurai Yoshiko 178, 195 Sasada Hironori 19 Sasaki Atsushi 128 Sataka Makoto 154, 157, 161, 259 Satô Eisaku 48, 110 Satô Kenji 183 Satô Masaru 181 Seki Hirono 183 Shiba Ryôtarô 49, 109, 151 Shimazono Susumu 16, 97 Sunstein, Cass 230, 232, 234 Suzuki Kensuke 18, 207, 219, 220, 228, 231, 232, 237, 265 Suzuki Kunio 154, 157, 186, 244, 260
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Personenregister
Suzuki Mosaburô 42 Suzuki Sadami 44 Takaichi Sanae 85 Takahara Motoaki 18, 207, 208, 219, 223, 233 Takahashi Tetsuya 182, 183 Takeda Tsuneyasu 178, 198 Takeuchi Yoshimi 42 Tamogami Toshio 113, 181, 197, 241, 318 Tanaka Kakuei 53 Tezuka Osamu 51 Tôyama Shigeki 45 Tsuji Takayuki 196 Ueda Masaaki 147, 161 Umehara Takeshi 54, 70, 90, 146, 149, 161, 168, 188, 272 Viroli, Maurizio 26 Watanabe Osamu 17, 31, 60, 73 Watanabe Shôichi 177, 195, 284
Weber, Max 22, 160 Winkler, Christian 17, 47, 126 Wodak, Ruth 34, 37 Yagi Hidetsugu 126 Yamada Kazunari 85 Yamada Masahiro 250, 253 Yamano Sharin 222 Yamatani Eriko 247 Yanagita Kunio 51 Yasuda Kôichi 243 Yasuda Yoshinori 90, 149, 177, 272 Yayama Tarô 177 Yoshida Shigeru 47, 55, 60, 116 Yoshida Yutaka 46, 50, 57 Yoshimoto Takaaki 48 Yoshino Kôsaku 40, 51, 62, 164, 208, 220