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German Pages [337] Year 2010
Caduff · Reulecke · Vedder (Hrsg.) PASSIONEN
Corina Caduff · Anne-Kathrin Reulecke · Ulrike Vedder (Hrsg.)
PASSIONEN Objekte – Schauplätze – Denkstile
Wilhelm Fink
Umschlagabbildung: Blaue Passionsblume („Passiflora caerulea‘‘), Blüte von oben Fotograf: Michael Gasperl (lizenziert unter Creative Commons SA 3.0) „Die Blätter schwefelgelb und violett, / Doch wilder Liebreiz in der Blume waltet. / Das Volk nennt sie die Blume der Passion.“ (Heinrich Heine)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2010 Wilhelm Fink Verlag, München Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5006-7
Für Sigrid Weigel
Inhaltsverzeichnis
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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AFFEKT UND GESCHICHTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 URSULA KRECHEL Pathosforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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CARLO GINZBURG The Bond of Shame. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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FRIEDRICH KITTLER Pathos und Ethos. Eine aristotelische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ANGELIKA NEUWIRTH Biblische Hymnik und spätantike Paränese. Von der Bändigung passionierter Bibelsprache im arabischen Koran . . . . . . .
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THOMAS MACHO Carmens Passion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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DIE KUNST ZU SEHEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 BIRGIT R. ERDLE Das Unfertige im Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ANNE DUDEN Vom Auge abgesehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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MONIKA WAGNER Das zerbrochene Glas. Opake Kommentare in einem transparenten Medium . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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RAIMAR ZONS The Storyteller. Bild – Erzählung – Passion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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INHALTSVERZEICHNIS
JÜRGEN HEINRICHS Passion als Denkstil: Die Lektüre von Bildern als kritische Praxis . . . . . . . . . .
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BICE CURIGER Mit der Leidenschaft des Anderen. Ein Kurzführer durch das Werk von Thomas Hirschhorn . . . . . . . . . . . . . . . 105
ENGAGEMENT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 KARLHEINZ BARCK Erfindung und Passion. Charles Fouriers imaginäre Schauplätze . . . . . . . . . . 123 DAN DINER Passionen der Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 ILMA RAKUSA M.Z. oder Reaching out for Marina Zwetajewa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 GEORGES DIDI-HUBERMAN „Den Pessimismus organisieren … den Bildraum entdecken“ . . . . . . . . . . . . 147 HERBERT LACHMAYER Staging Knowledge und Imaginative Rhetorics. Inszenierung von Wissensräumen und performative Kulturvermittlung . . . . 155
DICHTUNG, ERREGUNG, FORM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 MICHAEL BÖHLER Kleine Passion oder Grand ennui – Fliegentod und Krötenleben. Zu zwei Gedichten Gottfried Kellers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 HARALD HARTUNG Passion der Kürze, Kürze der Passion. Aufzeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 GUNHILD KÜBLER Passionierte Komplizenschaft. Zu zwei dunklen Gedichten von Emily Dickinson. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 MICHAEL W. JENNINGS Brinkmann’s Passio: Rom, Blicke and Conceptual Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
INHALTSVERZEICHNIS
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ERIK PORATH Drei Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 YVONNE BÖHLER Clayton Falls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
BILDMEDIEN, BILDOBSESSIONEN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 ANNE-KATHRIN REULECKE Kinoleidenschaft, geteilt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 DIETMAR SCHMIDT „Living in Oblivion“. Vergessen und Wiedererkennen im Film . . . . . . . . . . . 227 HEIDE SCHLÜPMANN „A fallen man“: Leidenschaftlicher Geschlechtertwist in Camille . . . . . . . . . . 235 SAMUEL WEBER Bild und Leidenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 WOLFGANG SCHÄFFNER Die telefonische Revolution des Bildes. Effekte einer Kommunikationsobsession des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . 255
BERÜHRTE OBJEKTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 ULRIKE VEDDER „vom Jagdruf des Vogels getroffen“ (Ingeborg Bachmann) . . . . . . . . . . . . . . . 267 ESTHER KILCHMANN Der Handschuh. Ein Accessoire der Leidenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 HANS BELTING Nachrufe auf das Gesicht: Rilke und Artaud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 GINKA STEINWACHS in meinen fenstern gereift 3 drei 3 passionsfrüchte für sigrid weigel . . . . . . . . 293
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INHALTSVERZEICHNIS
RENCONTRES . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 KLAUS BRIEGLEB An den Absender zurück – Aus Heinrich Heines letzter Korrespondenz . . . . . 301 STEPHAN BRAESE kenny clarke im club st-germain-des-prés. Zu einem Satz von Alfred Andersch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 CORINA CADUFF Passionsverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 KERSTIN WILHELMS Suchen – Finden – Erinnern. Erinnerungssplitter in sechzig Sätzen . . . . . . . . 323 YOKO TAWADA Sechzig Nazonazo (Rätsel) oder Ein Lobgesang auf die altisländische Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Vorwort
„PASSIONNER, heisset, demjenigen, was man redet oder singet, einen Nachdruck geben, oder es beseelen.“ Zedlers Universallexikon beschreibt eine Haltung gegenüber Gegenständen der Rede oder des Gesangs, die nicht gleichgültig oder objektiv ist, die vielmehr die Gegenstände mit Bedeutung und Leidenschaft auflädt – und sie so belebt und sich zu eigen macht. Die Arbeit, ja die Kunst der Kulturwissenschaften besteht darin, diese Prozesse rückwärts zu lesen. Wenn dies gelingt, werden Spuren jener Leidenschaften sichtbar, die in der Literatur, in den Künsten sowie in theoretisch ausgerichteten Prozessen Form gewinnen und bewahrt werden – seien sie auch verborgen, verschoben oder erstarrt. Dass auch diese Relektüren selbst passioniert sein können und ihrerseits Texte oder Kunstwerke neu beleben und zum Sprechen bringen, zeigen die Arbeiten von Sigrid Weigel. Ihr ist der vorliegende Band gewidmet. Passionen zählen zu Sigrid Weigels wiederkehrenden wissenschaftlichen Sujets, und auch ihr Denkstil kann als ein passionierter charakterisiert werden. Sind doch Begriffe wie Pathosformel, Erregung und passio zentrale Bezugspunkte ihres intellektuellen Koordinatensystems; gehören doch Genealogen des Affekts wie Heinrich von Kleist, Ingeborg Bachmann, Sigmund Freud, Walter Benjamin, Aby Warburg oder Heinrich Heine zu ihren bevorzugten Autoren. Von besonderem Interesse ist dabei die Ambivalenz der Passionen: Sie können sich einerseits – als Obsessionen – im ungerichteten Exzess versenden und verausgaben oder gar destruktiv werden; andererseits münden sie – wo sie zielgerichtet und produktiv sind – in valorisierte Kulturleistungen. Zu Sigrid Weigels wissenschaftlicher Biographie gehören in besonderem Maße intellektuelle
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VORWORT
Weggefährten, gehören Dialoge und Korrespondenzen, die dieser Band fortsetzen möchte. Deshalb sind hier Beiträge von Freund/innen und Kolleg/innen versammelt, die an vergangene Gespräche anknüpfen und gegenwärtige Debatten weiterführen, die an gegenseitige Inspirationen erinnern und gemeinsame Stationen ins Gedächtnis rufen. Aus ihnen ist eine Festschrift entstanden, deren vielfältige Genres und Formate auf Sigrid Weigels Interesse an Übergängen und Konstellationen zwischen Wissenschaft und Kunst antworten. Durch den Fokus der Passionen rekurrieren die Beiträge auf Sigrid Weigels wissenschaftliche Themen und Haltungen, welche allerdings nicht im Sinne einer Entwicklungslogik aufeinander folgen, sondern als Leitthemen in unterschiedlichen Zusammenhängen und stets unter anderen Vorzeichen wiederkehren. So prägen intellektuelle Kritik und Engagement sowohl die frühen Arbeiten zu Flugschriften und Gefängnisliteratur als auch die Entwicklung und Etablierung einer feministischen Literaturwissenschaft, wie Sigrid Weigel sie in den 1980er Jahren betrieben hat. Dabei stellt die Figur des „schielenden Blicks“ bis heute ein tragfähiges Analysekriterium für die intrikate Position weiblicher Autorschaft dar, so wie auch Die Stimme der Medusa mit ihrer diskurshistorischen Verortung zeitgenössischer Schriftstellerinnen die Diskussion nachhaltig bestimmt hat. Von kritischem Engagement ist auch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Nachgeschichte der Shoah getragen. Insbesondere die Arbeit am Begriff des Traumas und der transgenerationellen Traumatisierung hat sich in der Wissenschaft sowie in der breiten Öffentlichkeit als produktiv erwiesen, um eingefahrene Topoi der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ zu revidieren. Indem Sigrid Weigel für eine solche politische Intervention auch die Literatur in Anschlag bringt, unterstreicht sie deren Widerspruchsfähigkeit und analytisches Potential. Sigrid Weigels Blick für Konstellationen richtet sich immer wieder auch auf Bilder und Medi-
* Flugschriftenliteratur 1848 in Berlin. Geschichte und Öffentlichkeit einer volkstümlichen Gattung (1979) * „Und selbst im Kerker frei...!“ Zur Theorie und Gattungsgeschichte der Gefängnisliteratur 1750-1933 (1982) * Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft (zus. m. I. Stephan, 1983) * Die Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur von Frauen (1987) * Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur (1990) * „Téléscopage im Unbewußten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur“ (1999)
* „Die Vermessung der Engel – Bilder an Schnittpunkten von Kunst, Poesie und Na-
VORWORT
en. Sowohl die genaue Lektüre einzelner Gemälde als auch die Analyse von Bildstrategien und bildlichen Verfahren – wie der Allegorie – zeugen von der theoretischen Reichweite eines solchen dezidiert interdisziplinären Zugangs. Mit ihren Positionen in medientheoretischen Kontroversen beharrt Weigel auf den Kategnorien des Unbewussten und des Subjekts – eine Perspektive, wie sie die Literatur ermöglicht, die damit zugleich nicht bloß als ein Medium unter anderen, sondern als ein exponiertes Reflexionsmedium zur Geltung kommt. Die Erforschung der Liaison zwischen Literatur und Medien, wie Telefon, Tonfilm und Stimme, korrespondiert dabei stets mit einem Blick für die Geschichtlichkeit des Körpers und der Sinne. Ein solches Denken des Leib- und Bildraums sowie der Geschichtlichkeit des Gedächtnisses ist in intensiver Auseinandersetzung mit Benjamin, Freud und Warburg entstanden. Konzepte wie „Jetzt der Erkennbarkeit“, „Entstellung“, „Nachträglichkeit“, „Nachleben“ und „Pathosformel“ werden in neue Kontexte übertragen und für gegenwärtige Fragestellungen – drängende Probleme der Jetztzeit – weiterentwickelt. Im Anschluss an diese „erste Kulturwissenschaft“ knüpft Sigrid Weigel Verbindungen zwischen verschiedenen Wissenskulturen. Dabei widmet sie sich der Trennungsgeschichte der zwei und mehr Kulturen, wenn sie ihre Untersuchungen als Grenzverkehr zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, zwischen Kultur-, Religions- und Wissenschaftsgeschichte anlegt – mit dem Fluchtpunkt einer kulturwissenschaftlichen Epistemologie. Insbesondere ihre Arbeiten zu Genealogie und Erbe, zu Emotion und Ausdruck wie auch zu Figuren des Sakralen in der Säkularisierung erweisen das Potential eines solchermaßen erweiterten philologischen Ansatzes für brisante Fragen der Gegenwart. So wird die Problematik von Märtyrern und Selbstmordattentätern zum einen historisch und religionsvergleichend diskutiert und zum anderen in den Horizont der Frage nach dem Fortleben des Religiösen in der
13 turwissenschaften in der Dialektik der Säkularisierung“ (2007) * „Die Richtung des Bildes. Zum LinksRechts von Bilderzählung und Bildbeschreibung in kultur- und mediengeschichtlicher Perspektive“ (2001) * Allegorien und Geschlechterdifferenz (Hg. zus. m. S. Schade u. M. Wagner, 1994) * „Spuren der Abwesenheit. Zum Liebesdiskurs an der Schwelle zwischen ‚postalischer Epoche‘ und post-postalischen Medien“ (1999) * „Die ‚innere Spannung im alphanumerischen Code‘. Buchstabe und Zahl in grammatologischer und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive“ (2005) * Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme (Hg. zus. m. F. Kittler u. Th. Macho, 2002)
* Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise (1997) * Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder (2008) * „Aby Warburgs ‚Göttin im Exil‘. Das ‚Nymphenfragment‘ zwischen Brief und Taxonomie, gelesen mit Heinrich Heine“ (2000) * „Pathosformel und Oper. Die Bedeutung des Musiktheaters für Aby Warburgs Konzept der Pathosformel“ (2006) * „Kulturwissenschaft als Arbeit an Übergängen und als Detailforschung. Zu einigen Urszenen aus der Wissenschaftsgeschichte um 1900: Warburg, Freud, Benjamin“ (2001) * Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften (2006) * Genealogie und Genetik. Schnittstellen zwischen Biologie und Kulturgeschichte (Hg., 2002) * „Der liebe Gott steckt im Detail“. Mikrostrukturen des Wissens (Hg. zus. m. W. Schäffner u. Th. Macho, 2003) * „Unmasking the Facial Action Coding System. Medien- und Wissensformen facialer Ausdrucksgebärden zwischen Messung und Schauspiel“ (2008) * Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern (Hg., 2007) * „Hannah Arendt und Susan Taubes. Zwei jüdische Intellektuelle zwischen Europa und den USA, zwischen Philosophie und Literatur“ (2003)
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VORWORT
Gegenwart gerückt; so werden Biomedizin und Genetik sowohl auf die Vorgeschichte ihrer Disziplinen und Begriffe wie auch auf ihre impliziten kulturellen und medialen Voraussetzungen hin befragt. Realisiert werden solche Projekte nicht nur in Sigrid Weigels eigenem Denken und Schreiben, sondern auch in institutionalisierten Forschungszusammenhängen, wie sie sie am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin entwickelt hat. Um innovative Ideen in konkrete interdisziplinäre Forschung umsetzen zu können, bedarf es nicht zuletzt verschiedener Vermittlungs- und Übersetzungsfähigkeiten: zwischen Forscherpersönlichkeiten, zwischen akademischen und öffentlichen Debatten, zwischen universitären und außeruniversitären Zusammenhängen, zwischen Politik und Wissenschaft. Ein zentraler Ort des Forschens und Vermittelns ist für Sigrid Weigel die Universität: In Hamburg, Zürich und Berlin hat sie germanistische Curricula um kulturwissenschaftliche Perspektiven bereichert und institutionelle Selbstverständlichkeiten kritisch befragt; vor allem aber ist sie eine akademische Lehrerin, die die Studierenden und Nachwuchswissenschaftler/innen in großzügiger Weise inspiriert und fördert. Grundlage sowohl der Forschung als auch der Lehre Sigrid Weigels ist ein emphatischer Literaturbegriff. Ist doch mit der Literatur eine Erkenntnis- und Darstellungsweise gegeben, in der Wissen und Erfahrungen, Rationalität und Unbewusstes, Soziales und Subjektivität nicht gegeneinander ausgespielt werden. Exemplarisch dafür steht Sigrid Weigels anhaltende Auseinandersetzung mit einer intellektuellen Dichterin wie Ingeborg Bachmann und einem literarischen Theoretiker wie Walter Benjamin, in der die dialektische Bewegung zwischen Schreiben und Denken zum Bezugspunkt der eigenen Produktivität wird. Corina Caduff, Anne-Kathrin Reulecke, Ulrike Vedder
* „Souverän, Märtyrer und ‚gerechte Kriege‘ jenseits des Jus Publicum Europaeum. Zum Dilemma Politischer Theologie, diskutiert mit Carl Schmitt und Walter Benjamin“ (2006) * Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin (Hg., seit 2000)
* Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin (2004) * Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses (1999) * Bilder des kulturellen Gedächtnisses. Beiträge zur Gegenwartsliteratur (1994)
AFFEKT UND GESCHICHTE
URSULA KRECHEL
Pathosforschung
Für Sigrid Weigel Hier ist die Grenze über die zu gehen bewegt beliebt über die zu gehen jetzt nicht der richtige Augenblick nicht der je gebotene Augenblick gegangen zu sein über diese Grenze die doch für jedes Sensorium gebieterisch Pathos stellt sich selbst aus, imitiert das Denken auf einer imaginären Bühne stehend, Zwerghünen ihm zu Füßen grüßen ehrerbietig. Das Opfer: eine performative Form, zeichenhaft zu lesen in der Menge Bilder weinen, und der sie sieht, weint nicht, der Blick gestiefelt und gespornt: Überbietungen bewegen Bilder sodann niemals längere Beiträge als sechzig Sekunden je kürzer desto lauthalser unerwidert hineingeprustet im Viereck. Leere Befehlsformen wie gestern erst bezogene Häuser vier Geschosse, eben dem Erdboden gleichgemacht Büros, in denen der Teppichboden noch nicht klebte Wärmemesser Rauchmelder intakt, als Wachmann ein Russe vermutlich Schläft. Sprachlos wie nie eingegraben im Gebirge die Sprengung möglich in jedem trocknen Augenblick ein Fingern an Antennen Tasten Sprechfunkgeräten die der Nacht widersprachen und lachten. Dunkelheit erhellte sich jäh im Aufmarschgebiet der Superlative horchen Späher horchen nicht die geringste Berührungsangst, Berührung ist nur – aber hautnah. War selbst ein Vogel ohne Körperpanzerkleid war Leid gewohnt und nahezu unsichtbar in Bodennähe Frost
CARLO GINZBURG
The Bond of Shame
A long time ago I suddenly realized that the country one belongs to is not, as the usual rhetoric goes, the one you love but the one you are ashamed of. Shame can be a stronger bond than love. I repeatedly tested my discovery with friends from different countries: they all reacted the same way – with surprise immediately followed by full agreement, as if my suggestion was a self-evident truth. I am not claiming that the burden of shame is always the same; in fact, it varies immensely among countries. But the bond of shame – shame as a bond – invariably works, for a larger or smaller number of individuals. Aristotle listed „shame“ (aidos) among the passions, pointing out that „it is not a virtue“ (Nicomachaean Ethics 1108 a 30-31). This definition still makes sense. Shame is definitely not a matter of choice: it falls upon us, invading us – our bodies, our feelings, our thoughts – as a sudden illness. It is a passion placed at the intersection between biology and history: the domain which Sigrid Weigel made so distinctively her own.
I. But can a passion like shame be submitted to historical analysis? In his famous book The Greeks and the Irrational (1951) Eric R. Dodds argued, on the basis of literary sources – from the Iliad to tragedies – that in ancient Greece a guilt culture developed from an older shame culture.1 Dodds had taken this dichotomy from Ruth Benedict’s The Chrysanthemum and the Sword (1946): an influential, and much debated, anthropological analysis of Japan as a shame culture.2 The dichotomy has been described in the following terms: in shame cultures the individual is confronted with an external sanction, embodied by the community to which he or she belongs; in guilt cultures the sanction is introjected.3 1 Many thanks to Sam Gilbert for his linguistic advice and to Maria Luisa Catoni for her suggestions. Eric R. Dodds: The Greeks and the Irrational (1951), Italian translation, with an introduction by Arnaldo Momigliano: I Greci e l’irrazionale, Firenze 1959, p. 59 ff. 2 Ruth Benedict: The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture, New York 1946, Italian translation, with an introduction by Paolo Beonio Brocchieri, Milano 1991, ch. X. On page 244 Benedict writes that the dichotomy is often mentioned in cultural anthropological research. 3 A good discussion is provided by Douglas L. Cairns: AIDOS. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature, Oxford 1993, p. 27-47.
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CARLO GINZBURG
Both Dodds and, to some extent, Benedict refused to consider the two cultures as mutually incompatible, allowing for the existence of intermediate stages. Other studies, however, have reshaped the dichotomy in an evolutionist perspective, with potentially racist overtones. In an article which appeared in 1972 in The American Journal of Psychiatry, Harold W. Glidden posited an „Arab behaviour“ based on a shame culture focused on revenge.4 The implications were evident: the alternative to shame cultures, which are archaic and backward, was guilt cultures, whose distinctive features are interiority and a mature moral code – in a word, modernity. The possible misuse of the dichotomy is obvious, but its cognitive potential deserves a closer look. For my test I will start from two books, both published in 1993, whose contents overlap: Bernard Williams’s Sather lectures, entitled Shame and Necessity, and Douglas L. Cairns’s AIDOS: The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature. Their approaches are quite different from each other. Williams, the philosopher, offered a „philosophical description of an historical reality“, arguing that Greek ideas about action and responsibility were both close to and different from ours – but insisting that „the Greek past is the past of modernity.“5 Cairns, the classicist, carefully assembled and analyzed a massive dossier in a quasi-ethnographic perspective, emphasizing the distance between Greek culture and ours.6 „The basic experience connected to shame“, Williams wrote, „is that of being seen, inappropriately, by the wrong people, in the wrong condition.“7 This initial hypothesis, born from the introspective efforts of a late-twentieth-century British philosopher, is consistent with a method which consistently explains cultural phenomena by focusing on the individual. But to assume the very notion of individualism one sets out to demonstrate seems to imply a petitio principii: the danger of anachronism is evident. Williams claims to avoid it by relying on „bootstrapping“: a self-sustaining cognitive process that proceeds without external help (the metaphor is inspired by a famous story about Baron Münchhausen).8 The initial hypothesis is meant to serve as a starting point, which new data enrich and eventually reshape. To what extent did this research strategy work? A crucial test for Williams’s initial hypothesis is the frequent use of aidos in the Iliad to inspire courage on the battlefield. Aidos! („Shame!“) is a reproach addressed to warriors, sometimes followed by a compressed argument: „have shame each of the other in the fierce conflict. Of men that have shame more are saved than are slain.“ In other words, acting courageously is the best way to survive. This formula 4 Harold W. Glidden: „The Arab World“, in: The American Journal of Psychiatry 128, 1972, p. 984-988. This article was brought to my attention by Edward W. Said’s harsh criticism of it (see Edward W. Said: Orientalism, New York 1978, London 1980, p. 48 f.). 5 Bernard Williams: Shame and Necessity, Berkeley 1993, p. 16, p. 3. 6 See the conclusion: „These are the categories of our moral thinking, not those of the Greeks […]“, Cairns: AIDOS (note 3), p. 434. 7 Williams: Shame and Necessity (note 5), p. 78 f., p. 219-223. 8 Ibid., „Endnote 1“, p. 219-223: „Mechanisms of Shame and Guilt“, p. 219 ff.
THE BOND OF SHAME
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recurs twice in the poem (5, 529-532; 15, 561-564). But in a famous passage (15, 661-666) the face-to-face relation is expanded into something different: „Friends“, Nestor says, „be men, and set in your heart (thumos) shame (aidos) for other men, and remember, each of you, your children and wives and property and parents, both those of you whose parents are alive and those whose parents are dead: I beseech you here on their behalf, though they are absent, to stand bravely, and not to turn into flight.“9 Williams briefly quotes from this passage and then comments: „It is possible to see this kind of prospective shame as a form of fear.“10 But this suggestion leads to a further development, prompted by a word often paired with aidos in the Iliad: nemesis, evoking anger, indignation: Nemesis, and aidos itself, can appear on both sides of a social relation. People have at once a sense of their own honour and a respect for other people’s honour; they can feel indignation or other forms of anger when honour is violated, in their own case or someone else’s. These are shared sentiments with similar objects, and they serve to bind people together in a community of feeling.11
„People have at once a sense […] they can feel indignation or other forms of anger […]. These are shared sentiments with similar objects“ – on what grounds, we may ask, does Williams make assertions like these? Does he claim to have access to the inner feelings of „people“ on the basis of his own experience? Does the reference to „people“ imply that the connection between „shame“ and „anger“ is a transcultural phenomenon? In fact, the curious wording of the aforementioned passage is contradicted by Williams’s laconic reference to James M. Redfield’s, Nature and Culture in the „Iliad“: The Tragedy of Hector (1975). In that work, the evidence for passions and feelings experienced by ancient Greeks is provided not by our own passions and feelings (they can only work as questions) but by linguistic evidence. In fact, the connection between aidos and nemesis had already been pointed out by a great linguist (and a great philosopher), Emile Benveniste, in his Noms d’agent et noms d’action en indo-européen (1948): From this point the evolution of the meaning [of nemesis] can be illuminated by that of a term with which it is associated in Homeric usage, aidos (cf. N 122 aidos kai nemesis); both refer to collective representations. Aidos stands for the collective sense of honor and the obligations it implies for the group. But this feeling is strengthened and these obligations are felt most keenly when collective honor is wounded. At that moment the abused ‚honor‘ of all becomes the ‚shame‘ of each.12 9 10 11 12
I have used the translation by Cairns: AIDOS (note 3), p. 69. Williams: Shame and Necessity (note 5), p. 79. Ibid., p. 80. Emile Benveniste: Noms d’agent et noms d’action en indo-européen, Paris 1948, p. 79. See also E. Benveniste: Le vocabulaire des institutions indo-européennes. Economie, parenté, société, Paris 1969, vol. I, p. 340 f. (on philia and aidos) (tr. C. G.). The latter work is mentioned by Cairns. On nemesis and aidos see Cairns: AIDOS (note 3), p. 51-54. Neither Williams nor Cairns used Benveniste’s Noms d’agent.
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Benveniste translates the connection between aidos and nemesis into an argument accessible to us. We are far from the misleading transparency of psychological self-scrutiny. Let us listen once again to Williams: „These are shared sentiments with similar objects, and they serve to bind people together in a community of feeling.“ Does „they“ refer to the shared sentiments – or to words? To evade the question by answering „both“ would not help. The relationship between the continuous flow of sentiments and emotions and the discrete taxonomy created by words still baffles us. Will we ever be able to assess the impact of the word aidos, shouted on the battlefield, on the „bonding, interactive effect of shame“?13 What would have happened if that powerful performative word, aidos, had not existed? But aidos is, and is not, identical with „shame“.14 In Homeric language, as Cairns showed in his detailed inquiry, aidos and related words meant also „fear“, „respect“, „honour“, „veneration“, „modesty“, „sexual parts“. The Latin noun verecundia covers a similar ground: a range of meanings which include „religious fear“, „shame“, „veneration“, „sexual parts“ (verenda).15 When we look at other languages we immediately realize that nouns like fear, Furcht, crainte, timore overlap only partially with the range of meanings associated with aidos. Once again we are reminded of two simple truths: translations are always possible; translations are always inadequate. Simple, but also challenging truths. Nestor’s words addressed to soldiers confront us with the counterintuitive association between shame and honor.16 Aidos is a feeling (a passion) which involves a community, both visible and invisible, including the living and the dead: „Friends, be men, and set in your heart (thumos) shame (aidos) for other men, and remember, each of you, your children and wives and property and parents, both those of you whose parents are alive and those whose parents are dead.“ This passage from the Iliad explains why the bond elicited by shame may be extended not only to the act of being ashamed of oneself, but also to the act of being ashamed for the behavior of somebody else, dead or alive. In a footnote Cairns explicitly addresses this extension of aidos, citing the example of Aeschines, the orator, who recalled that „right-minded men […] covered their eyes, being ashamed for the city“, when they came upon the disgraceful aspect of Timarchus’s naked body.17 The Pathosand Logosformel which Homer had referred either to face-to-face relations or to family connections involving living and dead, was later expanded to include the city. Shame embodies the relationship between the individual body and the political body. Man, as a political animal, cannot be identified exclusively with his physical body: this is why the boundaries of the ego are an issue. Echoing Ernst Kantorowicz, we might speak of everybody’s two bodies.
13 Williams: Shame and Necessity (note 5), p. 83. 14 Cairns: AIDOS (note 3), p. 14 and passim. 15 Jean-François Thomas: Déshonneur et honte en latin: étude sémantique, Louvain 2007, p. 401439 (on verecundia). 16 Cairns: AIDOS (note 3), p. 12 f. 17 Cairns: AIDOS (note 3), p. 294 (note 100). See Aeschines: Against Timarchus, I, 26.
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II. Ancient Greeks had no specific word for guilt.18 It would be tempting to assume that this absence encapsulates the difference between a shame culture like that of ancient Greece and a guilt culture like our own, shaped by the Judaic and Christian emphasis on original sin and the Fall. But this sort of clearcut dichotomy would be deceptive. Ideas of original sin and primeval guilt were not unique to the Book of Genesis: they spread around the Mediterranean and were found in societies shaped by the „community of honor“.19 How did these very different sets of ideas interact? A case study may provide an answer. The obvious choice would be Augustine, the pagan professor of rhetoric who described in detail the long and painful trajectory which led him to Christianity. From its very title – Confessions – Augustine’s account is centered on guilt. But the language Augustine used in confessing to God is full of nuances. In speaking of his sins he insisted on distinguishing between facinora and flagitia. The same distinction is spelled out, more or less at the same time, in his De doctrina christiana (On Christian Education).20 Facinora are invariably a crime. In a famous page Augustine recounted that, when he was sixteen, he and his friends stole innumerable pears from a tree in his village: „not to eat ourselves, but to dump out to the hogs, after barely tasting some of them ourselves. Doing this pleased us all the more because it was forbidden [dum tamen fieret a nobis quod eo liberet, quo non liceret].“21 Looking back in dismay, Augustine tries to understand what he did and why: What was it in you, O theft of mine, that I, poor wretch, doted on – you evil deed [facinus] of darkness – in that sixteenth year of my age? Beautiful [pulchrum] you were not, for you were a theft […]. Those fruits that we stole were fair to the sight [pulchra] because they were thy creation, O Beauty beyond compare, O Creator of all, O thou good God […]. And now, O Lord my God, I ask what it was in that theft of mine that caused me such delight [quid me in furto delectaverit] […]. (II, VI, 12)
Some modern readers ridiculed this passage: to make such a fuss over a few stolen pears! They missed the point. Augustine was suggesting to his readers that his boyish theft of pears reenacted the scene of the original sin: „And when the woman saw that the tree was good for food, and that it was pleasant [pulchrum oculis aspectuque delectabile] to the eyes […] she took of the fruit thereof, and did eat, and gave also unto her husband with her; and he did eat.“ (Gen 3, 6) Man’s propensity to evil comes through, Augustine suggests, even in a boyish theft. After the Fall, nobody is innocent – not even babies: „But if ‚I was conceived 18 Williams: Shame and Necessity (note 5), p. 88 and passim. 19 Cairns: AIDOS (note 3), p. 70. 20 Augustine: On Christian Doctrine, transl. by J. E. Shaw, Chicago 1996, p. 744 f. (De doctrina christiana, III,10,16). I have analyzed the distinction, from a different point of view, in a forthcoming essay: „The Letter Kills. On Some Implications of 2 Cor. 3, 6“. 21 Conf., II, IV, 9 (Confessions and Enchiridion, transl. by Albert C. Outler, London 1955).
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in iniquity, and in sin my mother nourished me in her womb‘ (Ps 51, 5) where, I pray thee, O my God, where, O Lord, or when was I, thy servant, ever innocent?“ (Conf., I, VII, 12) But Augustine carefully traced a distinction between criminal facinus and shameful flagitium, the latter a sphere which, he insisted, had to be evaluated according to circumstances.22 In De doctrina christiana Augustine wrote: „Because it is shameful [flagitiose] to strip the body naked at a banquet among the drunken and licentious, it does not follow that it is shameful [flagitium] to be naked in the baths […]. We must, therefore, consider carefully what is suitable to times and places and persons, and not rashly charge men with sins [flagitia].“23 The former professor of rhetoric, used to the notion of decency or appropriateness (in Greek, to prepon), was implicitly rereading the Book of Genesis: „And they were both naked, the man and his wife, and were not ashamed [et non erubescebant].“ (2, 25) After the Fall, shame enters the world: „And the eyes of them both were opened, and they knew that they were naked [cumque cognovissent se esse nudos]; and they sewed fig-leaves together, and made themselves aprons.“ (Gen 3, 7) The meaning of nakedness had changed. Man and wife felt the need to cover their sexual parts, now turned into shameful parts (pudenda). Forever after, shame will be associated with the human condition, along with fear and guilt, inextricably intertwined in Adam’s answer to the call of God after the Fall: „I heard thy voice in the garden, and I was afraid, because I was naked; and I hid myself. And he [i.e., God] said, Who told thee that thou was naked? Hast thou eaten of the tree whereof I commanded thee, that thou shouldest not eat?“ (Gen 3, 10–11) But notwithstanding his use of the Book of Genesis as a subtext, Augustine was eager to stress the social dimension of nakedness – as well as, more generally, of flagitium. Another passage from De doctrina christiana refers to dresses instead of nakedness to point out that the perception of some behavior as shameful or disgraceful may change with the times: „For while it was disgraceful [flagitium] among the ancient Romans to wear tunics reaching to the heels and furnished with sleeves, now it is disgraceful [flagitium] for men of honorable birth not to wear tunics of that description: we must take heed in regard to other things also, ensuring that lust does not mix with our use of them […].“24 The context of the passage – a discussion of the polygamy of Biblical patriarchs – makes Augustine’s remark even more striking. Marriage customs change as dresses do; how they are perceived may vary from place to place and year to year; sometimes they may look shameful. Facinus is not subject to change; flagitium is. Shame is part of the history of mankind. Augustine’s Confessions presents itself as a soliloquy addressed to God. In his innermost being, through relentless self-scrutiny, Augustine discovered a God who was an eternal judge – but he was also aware of the approval and disapproval of 22 Thomas: Déshonneur (note 15), p. 179-213 (on flagitium). 23 Augustine: On Christian Doctrine (note 20), p. 745 f. (De doctrina christiana, III, XII, 18-19). 24 Ibid., p. 746 (De doctrina christiana, III, 13, 20).
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different communities. In his experience guilt culture and shame culture were closely intertwined.
III. We started from a widespread experience: the country one belongs to is the country one is ashamed of. We may try to test the argument, either narrowing the scale of reference (town, family) or enlarging it. Then a question arises: if shame implies closeness, what are the possible boundaries of a shame-based community? The beginning of Primo Levi’s La tregua (The Truce) may be recalled in this context. The war is over; Levi, with a group of survivors from Auschwitz, encounters the liberators, four Red Army soldiers on horseback: They did not greet us, or did they smile; they seemed oppressed not only by compassion but by a confused restraint, which sealed their lips and bound their eyes to the funereal scene. It was that shame we knew so well, the shame that drowned us after the selections, and every time we had to watch, or submit to, some outrage; the shame that Germans did not know, that the just man experiences at another man’s crime, the feeling of guilt that such crime should exist, that it should have been introduced irrevocably into the world of things that exist, and that his will for good should have proved too weak or null, and should not have availed in defence.25
The victims and the liberators, Levi argued, were ashamed and felt guilty of having been unable to prevent injustice; the perpetrators and their accomplices were not ashamed. Those words, written in 1947, were published in 1963. In his last book, I sommersi e i salvati (The Drowned and the Saved), published in 1986, Levi returned to the same subject in a chapter entitled „Shame“. Once again he mixed shame and guilt: „shame, which is a feeling of guilt“; „a feeling of shame or guilt“.26 In pages of intolerable lucidity he explored his feelings of guilt and spoke of those who had survived the death camps only to kill themselves. Then he mentioned a „vaster shame, the shame of the world“: shame for the evil committed by somebody else, shame born from the sense of belonging, as perpetrators and accomplices did, to humankind. „The sea of grief, past and present, surrounded us, and its level rose year after year nearly to the point of drowning us“.27 Levi committed suicide one year later.
25 Primo Levi: La tregua (1963), in: Id.: Opere, ed. by M. Belpoliti, introduction by D. Del Giudice, Torino 1997, vol. I, p. 206 (If This is a Man, and The Truce, transl. by S. Woolf, London 2001, p. 188). I am grateful to Pier Cesare Bori who brought this passage to my attention a long time ago. 26 Primo Levi: I sommersi e i salvati (1986), in: Id.: Opere (note 25), vol. II, p. 1047. 27 „Il mare di dolore, passato e presente, ci circondava, ed il suo livello è salito di anno in anno fino quasi a sommergerci.“ Primo Levi: I sommersi e i salvati, in: Id.: Opere (note 25), vol. II, p. 1057.
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Only in extreme cases does the world experience this sort of shame. But its very possibility throws some light on the general issue I have mentioned: the boundaries of the ego. To speak of every human being having two bodies (the physical and the social, the visible and the invisible) is insufficient. It is more helpful to consider the individual as the point of multiple sets. We simultaneously belong to a species (Homo sapiens), a sex, a linguistic community, a political community, a professional community, and so on and so forth. Ultimately we come across a set, defined by ten fingerprints, which has just one member: ourselves. To define an individual on the basis of his or her fingerprints certainly makes sense in some contexts. But an individual cannot be identified with his or her unique features. To achieve a fuller understanding of an individual’s deeds and thoughts, present or past, we have to explore the interaction among the sets, specific and generic, to which he or she belongs. The emotion I started from – being ashamed for somebody different from us, for something we are not involved in – is a clue that helps us to rethink our multiple identities, their interaction and their unity, from an unexpected angle.
FRIEDRICH KITTLER
Pathos und Ethos Eine aristotelische Betrachtung Im Wesen des Menschen liegen, vor allem Wissen, die Stimmungen.1 Sie schwingen uns, wenn wir vernehmen, immer schon in ein Gefühltes ein, Freude oder Trauer, Mut, Verzweiflung, Leidenschaft. Wir freuen uns zwar am meisten über das, was unsere Augen sehen, weil es an den Dingen so viele Unterschiede entbirgt. In Wahrheit aber können wir nur lernen und daher wissen, weil Menschen, anders als zum Beispiel Bienen, auch Ohren haben.2 Weil der Mensch das nachahmendste von allen Tieren ist und Kinder ihr erstes Wissen nur durch Nachahmung von Älteren erwerben3, sind Menschen die einzigen Tiere, die den Logos oder die Sprache haben.4 Singvögel mit ihren feinen Zungen können zwar auch die Stimme gliedern und daher nicht nur schreien oder brüllen, sondern wie wir singen. Sie haben diese Lieder nicht wie Säugetiere ihre Schreie von Natur, nämlich vor Lust und Schmerz; vielmehr muss jede junge Nachtigall ihre Mundart (διάλεκτος) von älteren Hähnen lernen.5 Aber (dürfen wir hier Aristoteles ergänzen) die Nachtigallen haben keine sichtbarlichen Zeichen für die Töne, mit denen sie den Weibchen ihre Liebeslust bekunden; sie schreiben die gegliederten Gesänge nicht noch einmal wie wir Menschen auf.6 So führt die Nachahmung, wie sie beim Kind ganz anfänglich beginnt, zu guter Letzt bis auf die Höhe einer Dichtung, die zugleich gesungen und geschrieben wird.7 Deshalb bleibt zwar, was die Seele von den Dingen dieser Welt erleidet, bei allen Menschen gleich, aber für die Dinge gibt es unter Völkern unterschiedliche Laute und für die Laute ihrerseits verschiedene Schriftsymbole.8 Deshalb heißt die Liebe auch bei allen Völkern anders; aber nur wer ans geliebte Wesen denkt und schreibt und dichtet, eben weil es (wie seit Sappho) in fremden Landen weilt statt auf dem einen Bett, hat erfahren, was die Liebe ist.9 Die Liebeslaute wesen also an, weil sie in Schriftzeichen gespeichert sind; die Liebesleute wesen voneinander ab, Martin Heidegger: Sein und Zeit, Erste Hälfte, 3. Aufl., Halle an der Saale 1931, § 29. Aristoteles: Metaphysik, A 1. Aristoteles: Poetik, 4. Aristoteles: Politik, I 1. Aristoteles: Historia animalium, IV 9; vgl. Plutarch: Gryllos 9. Aristoteles: De interpretatione, 1. Aus dem Lautalphabet der Griechen haben sich in zweifacher Rekursion zunächst ein Ziffernsystem und nachmals zwei Notensätze für Gesang und Instrumentalmusik entwickelt. 7 Aristoteles: Poetik, 4. 8 Aristoteles: De interpretatione, 1. 9 Aristoteles: Rhetorik, I 11.
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seitdem die Odyssee Sehnsucht, Leid und Heimkehr (νόστος) allererst erfunden hat. Durch Leiden lernen (παθείν μαθεῖν) heißt ein alter Griechenreim. Aber wie wird dieses Pathos (fast durch ein Wunder) Schrift? Wie kommen „die Erleidnisse in der Seele“ (τὰ ἐν τῇ ψυχῇ παθήματα) als sie selbst zu Zeichen, die das vergängliche Gezwitscher junger Nachtigallenhähne überdauern? Doch (dürfen wir den Denker wiederum ergänzen) nur eine unter diesen vielen Schriften, ob sie Sprache nun nach Silben, Konsonanten oder auch Begriffen gliedern, wurde erfunden oder adaptiert, um mündliche Gesänge in aller Treue aufzuzeichnen: Das griechische Vokalalphabet ist (mit Platon) die Geburt der Musen10, weil es noch zu Homers Lebzeiten die Ilias „auch für uns“11 Sterbliche anschreibt.12 Selbstredend hat Homer noch keine Worte für das Wunder, das seine angerufenen Musen seitdem unaufhörlich wirken. Wir lieben es als Wissenschaft und Dichtung. Homer dagegen kennt den Leib gar nicht als ganzes, sondern nur die vielen Glieder, die ihn bilden.13 Erst Sapphos Strophendichtung prägt aus dieser Mehrzahl vieler μέλεα das eine μέλος, unser aller „Melodie“. Genauso steht es um die vielen Lagerplätze oder Ställe, an denen Menschen wie auch Tiere sich versammeln: Homer kennt nur die Mehrzahl ἦθεα. Am Feldrain bauen Häsinnen sich und ihren Kindern eine Kuhle. Erst seit Hesiod gibt es die Einzahl ῆθος14, die sich als Brauch, als Sitte und Charakter zeigt15, um schließlich unterm denkerischen Zeichen namens Logos unentscheidbar Wesenszug und Schicksal zu verschränken: „ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων.“16 Eigene Art ist dem Menschen Daimon. Daimonen hießen anfangs, als die Griechen dichteten und noch nicht dachten, Göttinnen und Götter, wenn sie sich nicht mit ihrem Namen offenbarten, sondern unsichtbar wie Geister umso schicksalhafter walteten. Nun im Denken Heraklits haust der Daimon in der Seele selber, deren Sinn sich unaufhörlich mehrt, deren Grenzen wir bei allem Suchen doch nie finden und deren Eigenstes im Ethos liegt.17 Dies Ethos schreibt sich gleichermaßen ἔθος oder ἦθος, Gewohnheit oder Wesensart, weil beide Worte sehr wahrscheinlich auf eine indogermanische Wurzel zurückzugehen: *heth-, ich habe mich gesetzt, ich sitze, wohne, baue. Deshalb heißt ἔθνος, von ἔθος klarerweise abgeleitet, das Volk, die Schar, der Bienenschwarm – ein Inbegriff von Wesen also, die mit uns seit je zusammenleben. Denn 10 11 12 13 14 15
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Platon: Phaidros, 259b. Homer: Odyssee, I, 10. Barry B. Powell: Homer and the Origin of the Greek Alphabet, Cambridge 1991. Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, 2. Aufl., Hamburg 1948, S. 19. Hesiod: Werke und Tage, V 137. χαρακτήρ scheint im Griechischen übrigens ein akkadisches Lehnwort zu sein, das auf die Prägung (Ritzung) von Geld zurückgeht. So Walter Burkert: „Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur“, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1 (1984), S. 1-135, hier S. 39. Heraklit: B 119 DK. Heraklit: B 32, 45, 101 und 115 DK.
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τὰ ἔθνη als die Anderen oder ‚Heiden‘ auszugrenzen, ist erst Heidenchristen beigefallen. (Um von den Ethnien der UNO-Satzung, diesem postkolonialen Unbegriff, zu schweigen. Benannt war nämlich eine äußert vage Mehrzahl, gemeint jedoch nur eine seitdem prominente Einzahl. Niemand sollte mehr von Stämmen oder Völkern reden können.) Dem ἦθος gegenüber tritt das πάθος, das was uns überkommt und überfällt. Kurz gesagt, wir handeln oder leiden, wie unser Daimon will. Aus den nachahmendsten von allen Tieren, die wir schon als Kinder sind, geht daher zuhöchst die Dichtung oder Nachahmung hervor. Denn am nachahmendsten von allen Leibesgliedern nennt Aristoteles die Stimme.18 Kein Bild, wie es den Augen vorschwebt, kommt in seinem Pathos dem gleich, was aus der Stimme alles spricht. Sie ist es, die den λόγος erst zur λέξις steigert, bis zur Gewalt des Liedermachens (μελοποιία).19 Wenn Sapphos Liebesleid nach Aphrodite ruft, das verzweifelt letzte Chorlied in Sophokles’ Antigone nach Dionysos, dann ist das keine Literatur, wie wir sie schweigend lesen, sondern eine Stimme, die sich im Vollzug erfüllt. Die Götter kommen, weil sie rhythmisch und melodisch angerufen sind. So steht denn Aphrodite als Mitkämpfer zum dritten Mal schon Sapphos Liebe bei20; so kommt der vielbenannte Gott nach Theben, um mit dem Stampfen seiner Füße die Stadt von Kreons Mördertum zu reinigen.21 Was Aristoteles Katharsis nennen wird, die Reinigung von tragisch aufgeregtem Schreck und Jammer, ist dagegen schon Literatur, auch wenn der Denker klagt, dass Griechen dieses Wort noch gar nicht haben.22 Und doch weiß auch der Denker, was Archilochos in frühester Zeit gesungen hat: dass Stimmungen die Menschen prägen oder halten.23 Deshalb muss ein jeder Grieche die Musik erlernen und erleiden, heißt es in der Politik. Erwachsene Bürger, darin Zeus gleich, singen oder spielen zwar nicht selber, haben aber an Apollon und den Musen ihre Freude. Denn in den Rhythmen und Melodien sind Abbilder (ὁμοίωμα) enthalten, die der wahren Physis überaus nahekommen, Abbilder von Zorn und von Sanftmut, von Tapferkeit, Besonnenheit und ihrem Gegenteil und überhaupt von allen Stimmungen. Das erhellt aus ihren Wirkungen: denn wir werden umgestimmt, wenn die Seele Musik hört.24
Also muss ein jedes Kind selbst in Athen (um von Sparta ganz zu schweigen) im Singen und Spielen unterwiesen werden, damit es dichterisch durchlebt, was an
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Aristoteles: Rhetorik, III 3. Aristoteles: Poetik, 6. Sappho: Fragment 1 L-P. Sophokles: Antigone, V 1142. Aristoteles: Poetik, 1. Archilochos: Fragment 67d. Aristoteles: Politik, VIII 5 zu Il. I 601-604.
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Ethos oder Pathos seine grenzenlose Seele birgt. Denn „die Seele ist“ mit Aristoteles „gewissermaßen alles Seiende.“25 * Wir leben unter anderen Sternen. Die einen gehen auf Tim Learys Reisen, um sie für einen Abend zu erleben. Für andere zählt selbst der Rausch zur eigenen Art, zum eigenen Tun. Pathos und Ethos stehen also wiederum zur Wahl. Das hat nur Niklas Luhmann klar gesagt: Sinnhafte Reduktion von Komplexität kann nämlich in zweifacher Weise zugerechnet werden: auf die Welt selbst oder auf bestimmte Systeme in der Welt. Entweder wird die Reduktion als vorgegeben behandelt oder sie wird von einem bestimmten System geleistet. Im ersten Falle wollen wir von Erleben sprechen, im anderen von Handeln. Beides sind in Systemen ablaufende Prozesse, beide Prozesse setzen sich verhaltende, lebende Organismen voraus, die ihr Verhältnis zur Umwelt sinnhaft ordnen können. Der Unterschied von Erleben und Handeln kann daher weder mit Hilfe der Differenz von innen und außen, noch mit Hilfe der Differenz von passiv und aktiv konstruiert werden; auch Erleben ist Leben, ist unaufhörliche Bewegung des Körpers. Der Differenzpunkt ist auf der Ebene des organischen Substrates, an dem, was vom Menschen sichtbar ist, nicht zu fassen, sondern liegt in der Sinnbildung selbst, nämlich in der Frage, wie die Reduktion von Komplexität zugerechnet wird, wo der Sinn gleichsam ‚lokalisiert‘ wird. Erlebter Sinn wird als fremdreduziert erfaßt und verarbeitet, Handlungssinn dagegen als systemeigene Leistung.26
Danke.
25 Aristoteles: De anima, III 8. 26 Niklas Luhmann: „Sinn als Grundbegriff der Soziologie“, in: Jürgen Habermas/Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt am Main 1971, S. 25-100, hier S. 77.
ANGELIKA NEUWIRTH
Biblische Hymnik und spätantike Paränese Von der Bändigung passionierter Bibelsprache im arabischen Koran Der Koran – Dokument eines exegetischen Zeitalters Jedem Propheten wurde ein Zeichen gegeben, das die Wahrheit seiner Botschaft beweist: Gott sandte Mose zu einer Zeit, in welcher der Pharao an die Allmacht der Zauberei glaubte, sein Zeichen war daher die Verwandlung des Stabes in eine Schlange; er sandte Jesus in einer Epoche, in der die Heilkunst in hohem Ansehen stand, Jesus musste daher die Kunst der Ärzte übertreffen – mit der Auferweckung von Toten. Zu Muhammads Zeit konnte man mit solchen Wundern nicht mehr beeindrucken, er trat vor eine Hörerschaft, bei denen Redekunst den höchsten Rang behauptete, sein Zeichen war deshalb ein sprachliches: das rhetorische Wunder des Koran.
˘ ..1 Etwa so berichtet im 9. Jahrhundert der basrische Enzyklopädist al-GÁ½iz Diese Klassifikation der Propheten lässt sich leicht als islamische Fortschreibung des christlich-theologischen Topos von den sukzessiven Gottesbünden mit einzelnen Propheten erkennen, die in Jesu Auftreten kulminieren. Hier bildet Mu½ammad den Höhepunkt. Aber so wenig Empathie der Text auch für die Propheten vor Mu½ammad aufbringt, die für die Beglaubigung ihrer transzendenten Botschaft auf theologisch belanglose Mirakel angewiesen sind – er bringt für den Koran selbst doch einen zentralen Wesenszug auf den Punkt: seinen gleichzeitigen Anspruch auf theologisch-semantische und ästhetisch-hermeneutische Signifikanz. Da sich der Koran der hoch-rhetorischen altarabischen Dichtersprache bedient, diese sogar vielfach innovativ übertrifft, verfügt er über ein hermeneutisches Potenzial, das gegenüber einer arabischen Hörerschaft effektiver als irgendein sichtbares Wunder die Evidenz seiner übernatürlichen Herkunft manifestieren konnte. Die Erhebung der Sprachform zum Authentizitätsbeweis der Botschaft ist aber auch aus einem anderen Grund nicht abwegig: Der Koran ist in der Tat – anders als die hebräische Bibel und die Evangelien – trotz des hohen Anteils narrativer Passagen von Anfang bis Ende Rede, oft genug sogar Wechselrede. Dabei bewegt sich diese Rede nicht nur in der gelebten Wirklichkeit, sondern in mindestens gleichem Maße in der Textwelt. Mit leichter Übertreibung könnte man den Koran der Gattung „Kommentar“ zuordnen, denn er ist in der Sache Auslegung und Neuformulierung bereits bekannter biblischer und nachbiblischer Traditionen und in der Form auf weite Strecken apologetisch-polemische Debatte. Mit diesem Anspruch auf Affinität zur Rhetorik
˘ 1 Charles Pellat: Arabische Geisteswelt: Ausgewählte und übersetzte Texte von al-GÁ½iz, Zürich 1967, S. 80.
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trägt sich der Koran in eine Geschichtsepoche ein, die wir gewohnt sind, als Teil der europäischen Geschichte zu verbuchen: die Spätantike. Der Ausspruch versetzt uns nämlich zurück in eine auch uns aus der Literaturgeschichte für ihre rhetorische Produktivität bekannte Zeit, wenn wir dabei auch nicht an Werke in arabischer Sprache, sondern an solche in der Sprache der Rhetorik par excellence, Griechisch, denken. Albin Leskys griechische Literaturgeschichte führt für das 4. Jahrhundert eine Reihe von Rhetoren aus dem Nahen Osten auf, die, obwohl selbst pagan und vermutlich mit semitischen Sprachhintergrund, Lehrer griechisch schreibender Christen waren. Der bedeutendste unter ihnen, Libanios aus Antiochien in Nordsyrien (314-393)2, hatte unter seinen Schülern Chrysostomos, Basilios den Großen und Gregor von Nazianz3, eine Tradition, die noch Jahrhunderte weiterwirkte: Noch Sophronios, von 634 bis 638 Patriarch von Jerusalem, der fünf Jahre nach dem Tod des Propheten die Stadt an die Muslime übergeben sollte, trug den Ehrennamen Sophistes und ist als Dichter hochrhetorischer Hymnen in die Geschichte eingegangen.4 Rhetorische Praxis ist dabei einmal nicht auf die professionelle Disziplin angewiesen. Daniel Boyarin hat kürzlich den Satiriker Menippos als indirekten Formgeber für Argumentationsstrukturen der talmudischen Amoräer reklamiert.5 Exegese, zumal dialogisch ausgetragene, ist nicht zuletzt praktizierte Rhetorik. Der Koran entsteht etwa zeitgleich mit Teilen des Talmuds und wichtiger patristischer Literatur. Zusammen mit den – gemeinhin als europäisches Erbe reklamierten – Schriften der spätantiken Rhetoriker, Kirchenväter und Rabbiner gelesen, ist er eigentlich ein uns vertrauter Text – oder er wäre es, trennten ihn nicht mentale Grenzziehungen von unserer unvoreingenommenen Wahrnehmung.
„Außergefechtsetzende“ Rhetorik Geht man von der im Koran selbst bezeugten Vorstellung aus, dass mit seiner Verkündigung ein neuer Text entsteht, der mit seiner transzendenten Vorlage nicht gänzlich identisch, sondern an die Kommunikationssituation angepasst ist6, dann kann es in der Forschung nicht mehr sinnvoll um das Aufspüren von früheren, im Koran reflektierten Traditionen gehen. Vielmehr muss der Prozess der koranischen Neudeutung dieser Traditionen, der Zusammenprall des Alten mit dem entstehenden Neuen interessieren. Traditionen werden von der sich herausbildenden korani2 Vgl. zu ihm Peter Robert Lamont Brown: Macht und Rhetorik in der Spätantike. Der Weg zu einem „christlichen Imperium“, München 1995. 3 Albin Lesky: Geschichte der griechischen Literatur, 3., neu bearb. u. erw. Aufl., München 1999, S. 907 und S. 972. 4 Herbert Donner: Die anakreontischen Gedichte Nr. 19 und Nr. 20 des Patriarchen Sophronius von Jerusalem, Heidelberg 1981. 5 Unveröffentlichter Vortrag von Daniel Boyarin, gehalten im Februar 2008 an der Universität Toronto. 6 Vgl. Nicolai Sinai: „Qur’Ánic Self-Referentiality as a Strategy of Self-Authorization“, in: SelfReferentiality in the Qur’Án, hg. v. Stefan Wild, Wiesbaden 2006, S. 103-134.
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schen Gemeinde ja nicht einfach ‚übernommen‘, sondern als Herausforderung begriffen, auf die dialektisch mit neuen Lektüren geantwortet wird. Ein Textwettstreit lässt sich beobachten, eine Kollision von Begriffen und Ideen, heftig genug, um jene Energie zu erzeugen, die dann in der Genese nicht nur einer neuen Heiligen Schrift resultiert, sondern gleichzeitig auch einer neuen Gemeinde, einer religiösen Bewegung. Dieses koranische Übertreffen von alten Traditionen durch neue Lektüren wäre aber nicht denkbar ohne den besonderen linguistischen Faktor, auf den der Koran mehrfach verweist, etwa mit der Selbstbezeichnung als „arabische Rezitation“, qur’Ánun ‘arabiyyun (Q 12:2 u. ö.). Die in einer hochentwickelten Dichtung durchgeformte und dank ihrer lexikalischen Polysemie beispiellos evokationsreiche arabische Sprache verleiht dem Koran eine pathetische Gravität, die von Verkünder und Gemeinde bewusst registriert wird. Seiner Expressivität, die auf verschiedenen rhetorischen Figuren beruht, verdankt der Koran jene Aura, mit der er – der Tradition zufolge – bereits während des Kommunikationsprozesses Gegner entwaffnete. Dieses rhetorische „Außergefechtsetzen“, i‘˘gÁz, ist in jenem Slogan angesprochen, der später, im 9. Jahrhundert, dem islamischen Dogma des I‘˘gÁz den Namen geben sollte. Nicht zuletzt aufgrund einer geringen Einschätzung des literarischen Charakters des Korans selbst hat man dieses Dogma in der westlichen Forschung nie recht ernst nehmen können. Man behandelte es vor allem kulturhistorisch, als Indiz eines übersteigerten arabischen Kulturstolzes. Hinter diesem ‚aufgeklärten‘ Standpunkt mag oft auch eine von der christlichen Tradition suggerierte Erwartung gestanden haben. Nach dieser Auffassung wäre ein besonders glanzvolles sprachliches Gewand einer Heiligen Schrift gar nicht angemessen. Denn ebenso wie Christus – nach Phil. 2:5-8 – „nicht glaubte, seine Göttlichkeit wie einen Raub festhalten zu müssen, sondern sich selbst erniedrigt und Knechtsgestalt angenommen hat“, so müsse auch das Wort Gottes, die Heilige Schrift, in Knechtsgestalt ihren Weg durch die Geschichte nehmen. Die Heilige Schrift bediene sich also bewusst einer demütigen Redeweise, des so genannten genus humile. Gustav von Grunebaum, der seinerseits muslimische und christliche Positionen gegenübergestellt hat, kam zu dem Schluss, dass sich die frühe Kirche allein schon deshalb auf die Theorie des genus humile verlegt habe, weil der Vergleich der Evangelien mit der klassischen griechischen Literatur sie dazu gezwungen habe. Der Koran, dem kein bedeutendes Schrifttum vorausging, sei einem solchen Vergleich nicht ausgesetzt gewesen.7 Diese Behauptung trifft aber bereits für die christliche Seite wohl nur die Oberfläche. Wer gewollt hätte, hätte auch aus der christlichen Bibel genügend poetische und rhetorische ‚Perlen‘ erheben können, um sie den klassischen Autoren entgegenzusetzen. Immerhin hat ein heidnischer Ästhetiker der Spätantike, Longinus, in seiner Schrift Über das Erhabene als Beispiel besonderer Großartigkeit den Beginn des Buches Genesis zitiert. – Für die arabische Seite ist die Behauptung grotesk: Deutlicher als mit Gustav von Grunebaums Verdikt kann die literarische Geringschätzung der vorislamischen Dichtung, aber auch die als selbstverständlich vorausgesetzte Isolation des Korans 7 Gustav von Grunebaum: A Tenth-Century Document of Arabic Literary Theory and Criticism. The Sections on Poetry of al-Bâqillânî’s I‘jâz al-Qur’ân, Chicago 1950, S. XV.
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von der ihm vorausgehenden Kultur, nicht ausgedrückt werden. Das ist umso erstaunlicher, als die arabischen Theoretiker des I‘˘gÁz ihre koranspezifischen Beobachtungen kontinuierlich mit solchen zur Dichtung kontextualisieren. Im Koran selbst stellt sich die Auseinandersetzung mit anonymen Gegnern dreistufig dar. Zunächst wird in der mittelmekkanischen Sure 17:88 die Überlegenheit der koranischen Rezitation über alle denkbaren Rivalen bereits triumphal konstatiert: „Sprich: Selbst wenn sich Menschen und Dämonen zusammentäten, um etwas diesem Koran Ähnliches vorzubringen, würden sie es nicht vermögen, auch wenn sie einander beistünden.“ In den spätmekkanischen und medinischen Texten wird dann eine offene Auseinandersetzung inszeniert. Zuerst wird die Forderung von zehn „Suren“ erhoben, Q 11:13: „Oder sie sagen: ‚Er hat ihn [den Koran] erfunden‘ Sprich: Dann bringt doch zehn Suren bei, von euch erfundene, die ihm gleich sind, und dazu von denen, die ihr außer Gott verehrt, an wen ihr könnt, wenn ihr denn aufrichtig seid.“ Später ist immer von einer „Sure“ (Q 10:38) bzw. einer „Mitteilung“, ½adÍt (Q M 52:34), die Rede. Ihre Klimax erreicht die Debatte mit dem expliziten Hinweis auf die Beweiskraft des Vortrags von „Suren“ für die transzendente Beglaubigung der Botschaft Mu½ammads in dem medinischen Text 2:23: „Wenn ihr in Zweifel seid über das, was wir auf unseren Diener herabgesandt haben, dann bringt doch eine entsprechende ‚Sure‘ vor und ruft eure Zeugen an Gottes statt an, wenn ihr denn aufrichtig seid.“ Wichtig ist, dass es um einen Wettstreit um Sprachliches geht, ganz konkret um die Möglichkeit, bereits vorgetragene Rede durch eine von außen kommende Gegenrede zu ‚überholen‘. Dies geschieht, wie die zitierten Verse zeigen, nach einem festen rhetorischen Schema: Stets wird ein Textvortrag als Beweis für die Gültigkeit des gegnerischen Wahrheitsanspruchs eingefordert. Aber nicht nur von individuellen Gegner-Figuren ging eine Herausforderung aus, sondern mehr noch von wirkmächtigen älteren Traditionen. Darauf wurde seitens der koranischen Gemeinde mit der Replik eines neuen Textes geantwortet, ohne dass dabei als anwesend vorzustellende Vertreter dieser Traditionen involviert gewesen sein müssen. In diesen Fällen ist ‚Textwettstreit‘ in einem weiteren Sinne zu verstehen, denn die Antwort auf ältere Traditionen galt gewissermaßen einer fortlaufenden innergemeindlichen Reform, bei der das zur Bildung der Hörer gehörende Traditionsgut neu geprüft und im Sinne des sich herausbildenden neuen Konsens ‚geschärft‘ zu werden hatte. Das rhetorische Moment bei dieser Rezeption liegt nicht nur in der polemischen Anrede an Hörer, sondern auch in der Umformung von vorhandenen Textsorten zu dem neuen – für die mekkanischen Suren charakteristischen – paränetischen Idiom.
Ein Wettstreit noch vor der Polemik: Vom biblischen Hymnus zur koranischen Paränese Ein realer Wettstreit mit den älteren Traditionen war bereits in mekkanischer Zeit im Gang. Die Herausforderung ging dabei vor allem von im Raum stehenden wirkungsmächtigen, da viel zitierten Texten der herrschenden Glaubensgemeinschaf-
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ten aus. Obwohl noch keine polemische Atmosphäre zu spüren ist, spielt doch bereits das Moment der persuasio, der Überzeugungskraft, und damit die Kunst der Rhetorik eine zentrale Rolle. Denn ältere Traditionen werden im Koran nicht nur semantisch, sondern auch rhetorisch wirksam umformuliert und in paränetische Rede gegossen. Auffallend ist, dass etliche koranische Texte biblische Traditionen im Sinne der koranischen Weltsicht umformen, ohne dabei den Autorität tragenden älteren Text ganz unkenntlich zu machen. Dieser bleibt im Text erhalten, bildet also die noch nachvollziehbare Prämisse für die koranische Antithese. Mehrere Beispiele für solche ‚antithetischen Lektüren‘ betreffen die Neuinterpretation von Psalmen. Im Folgenden sei die spannungsreiche Relation zwischen Sure 78 und Psalm 1048 vorgestellt, der seine intensive koranische Rezeption seiner herausragenden Bedeutung in der jüdischen und christlichen Liturgie verdankt.9 Sure 78: Die Kunde ( g[]_`abcdf).10
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I Streitpunkt Eschatologie: Wonach fragen sie einander? Nach der gewaltigen Kunde, Über die sie uneins sind. Doch nein! Sie werden es erfahren! Nochmals: Nein! Sie werden es erfahren!
II ÀyÁt-Serie: 6 Haben wir nicht die Erde ausgebreitet 7 Und die Berge zu Zeltpflöcken gemacht? 8 Haben wir euch nicht zu Paaren geschaffen 9 Und euch den Schlaf zur Ruhe gegeben? 10 Haben wir euch nicht die Nacht zum Gewand gemacht 11 Und den Tag zum Lebensunterhalt? 12 Haben wir nicht über euch sieben Festen eingesetzt
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8 Heinrich Speyer: Die biblischen Erzählungen im Qoran, 2., unveränd. Aufl., Hildesheim 1961 (photomechan. Nachdr. der 1. Aufl. [1931]), nennt 13 koranische Verweise, ohne allerdings Q 78 zu erwähnen. 9 Siehe für die jüdische Tradition die Testimonien bei Angelika Neuwirth: „Psalmen – im Koran neu gelesen (Ps 104 und 136)“, in: Im vollen Licht der Geschichte. Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der kritischen Koranforschung, hg. v. Dirk Hartwig/Walter Homolka/Michael J. Marx/Angelika Neuwirth, Würzburg 2008, S. 157-190. 10 Übers. A.N.
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13 Und eine hell leuchtende Lampe? 14 Haben wir nicht von den Wolken reichlich Wasser herabfließen lassen, 15 Um Korn und Pflanzen sprießen zu lassen 16 Und dicht bewachsene Gärten?
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17 Wahrlich, der Tag der Entscheidung ist ein fester Termin. (Es folgt ein eschatologischer Schlussteil V. 17-40.)11
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Sure 78 gehört zu den ‚eschatologisch geprägten Suren‘, wie sie in der frühen Phase der koranischen Verkündigung massiert begegnen. Der kurze Einleitungsteil (V. 1-5) schlägt mit einer rhetorischen Frage ein bei den Hörern offenbar kontroverses Thema an, das selbst unausgesprochen bleibt. Die „gewaltige Kunde“ ist aufgrund der in dieser Phase im Zentrum der Verkündigung stehenden Eschatologie aber unschwer als der Tag des Gerichts erkennbar, zumal mit einer Drohung an die Zweifler fortgefahren wird (V. 4-5). Der folgende Teil II (V. 6-16) antwortet dialektisch auf den Anfang: Der Katalog göttlicher Schöpfungstaten (ÁyÁt-Serie) soll jene Zweifel an der Allmacht Gottes zerstreuen, die bei einigen den Glauben an das Jüngste Gericht noch blockieren. Der dritte Teil (V. 17-40), mit einer Evokation des Gerichtstags einsetzend, ist wieder eschatologisch orientiert. Eine Bekräftigung seiner Realität leitet über in eine eschatologische Szenerie und ein detailliertes Doppelbild, die Verdammten und die Seligen darstellend. Sure 78 bietet einen der seltenen Fälle, in denen ein nichtnarrativer biblischer Subtext klar zutage tritt: Die ÁyÁt-Serie, V. 6-16, ist unverkennbar an Psalm 104: 5 ff.12 angelehnt: 1
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Lobe meine Seele den Herrn! Herr, mein ²³´²µ¶·¸¹º ` ¶»¼¿µ ÀÁ ` ¶»ÂµÃ³Ä Gott, du bist sehr groß! Mit Pracht und . ³Çµ¼³È³É`óʳ²µ´`Ê˲`ÌʺµÍ`³ÇµÉÊÀ ³Ï`¶À²ÉѺ`²³´²µ¶ Hoheit bist du angetan Du hüllst dich wie in ein Kleid in Licht. .²³Ò¶»Ãµ¶ÀÓ`Ô»¶ÀÕ³¼`²¹ÖËÁ`̲³ÕµÉÀ×ÀÓ`Ã˺·²¹ÖÒ Der den Himmel spannt wie ein Zeltdach Der seines Söllers Balken in Wasser legt. ´¶³¸ËÚ»ÉÒÛ ` Ô»¶ÀÍÀÈ ` ²¹Ã³ÜµÕÀ² Der Wolken macht zu seinem Wagen, . ÝÀ Þ÷¶ß¿Áµ ÀÓ·ÉÀÒ`àßâÀ²µÕÀ²`ÌËÈÞµÃ`Ô¶»È³Ò·Ô³×À² auf Sturmesfittichen dahinfährt
11 Siehe zur Komposition der Sure Angelika Neuwirth: Studien zur Komposition der mekkanischen Suren. Die literarische Form des Koran – ein Zeugnis seiner Historizität?, 2., durch eine korangeschichtliche Einf. erw. Aufl., Berlin/New York 2007, S. 217. 12 Übersetzung Hermann Gunkel: Die Psalmen, Berlin 1897, leicht modifiziert. Der in Gunkels historischer Lektüre gebrauchte Gottesname YHWH ist in der in unserem Kontext interessierenden Psalmenrezeption bereits als durch Adonay/kyrios, „der Herr“, ersetzt vorauszusetzen.
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Der Winde als seine Boten braucht, als seine Diener Feuer und Lohe Fest gegründet auf Pfeiler hat er die Erde. In alle Zeiten wird sie nicht wanken
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ãÖßãÖß ²É`¼ß ²É`¼ß º`´¶³ º`´¶³ ¸µÃ¸³¼ µÃ³¼ µÕ`̸ËÝÞÃ`´¶³ µÕ`̸ËÝÞÃ`´¶³ ÂäµÂÉäµÀÕÉ`²¹ ÀÕ`²¹ åå ÒÒ .ʹҳ´`Ô³ÉËÒ`ÖËͻǷÉÀÄ`̳²¶¹Á˵շÉÀÒ`æ¹Ã¹º·ÊÀ糶
(V. 6-12: Mythos von der Trennung der Wasser) 13 Der die Berge von seinem Söller her tränkt, von der Frucht deines Tuns wird .æ¹Ãä³²`ÒÀĵå»Ç`趹åÛÒÀÕ`¶»Ãµé»Õ`Ì´¶³¸ËÚ»ÉÛÒßÕ`Ô¶»Ã³²`²¹Üµ¼ÀÕ die Erde satt […]. 14 Der Gras sprießen lässt für das Vieh und "Ô³Êä³² ` ¸ÀÊÈÛÒÀÉ ` ȹåßÒµ´ ` ²³Õ߲ĵ ÀÉ ` ö»ê³Ý `À Ý ¶»ÕµêÀÕ Kraut für die Tiere des Menschen, dass er .æ¹Ãä³²·ë»Õ`ԹݹÉ`º¶»ê˲µÉ Brot aus der Erde hervorbringe […] 19 Der den Mond geschaffen, die Zeiten kundzutun, der Sonne ihren Untergang wies 20 Bestellst Du Dunkel, so wird es Nacht; dann regen sich alle Tiere des Waldes 21 Die Löwen brüllen nach Raub, um von Gott ihre Nahrung zu fordern 22 Lässt Du die Sonne aufgehen, so schleichen sie hin und ruhen auf ihren Lagern 23 Da geht der Mensch hierfür an seine Arbeit, an sein Geschäft bis an den Abend
.˺ËȵÕ`ÒÀʳ¶`¼¹Õ¹¼`ÌÔ¶»ÊÛÒËÕµÉ`ÀÝßó¶`²³å³Ò
.ÃÀÒ³¶·Ë¸µ¶ÀݷɳÓ`åյû¸·ËÄ`··²³Éµ¶³É`¶»²¶»´`๼ݷ¸¹¼³Ç .ԳɵÂä`ÉߺßÕ`¼ßìÀȵÉÞ`Ìí¹Ã³îÀÉ`Ô¶»ïÛº¼`Ô¶»Ã¶»¿µÓÀ² .ëÞê³ÄµÃ»¶`Ô³¸ÁËҵշɹºµ´`ÌëÞ¿ßçä߶`¼¹Õ¹ðÀ²`ÝÀõñ»Ç .ȹóҷ¶ßÊÛÒ`˸³ÊÈÛÒÀɵ´`ÌËÉòÒ³¿µÉ`Ô³Êä`ºßê߶
Trotz unterschiedlicher Rahmengebung – im Psalm sind die aufgezählten Preisungen integrale Teile eines großen Hymnus, während sie in der Sure von eschatologischen Beschreibungen umrahmt sind – weisen beide Texte signifikante Gemeinsamkeiten auf. Am auffälligsten ist das im Koran sonst nicht begegnende Bild von der Erde als Zelt (Q 78:6-7), fest gegründet auf Pfeiler (Ps 104:2), den Himmel als Dach (Ps 104:2) über sich tragend, der mit Pflöcken festgehalten wird. In beiden Texten ist das Bild des Zeltes allerdings nicht exklusiv: Im Surentext lassen sich die bereits das ptolemäische Weltbild voraussetzenden „sieben Festen“ mit der Sonne als Leuchte (Q 78:12-13) nicht spannungslos mit der Zeltmetapher vereinen; im Psalm konkurriert die Zeltmetapher mit der Vorstellung des Kosmos als eines mehrstöckigen Gotteshauses, aus dessen ‘aliyõt, „Söller“ (Ps 104:3/13), heraus Gott die Schöpfung versorgt.13 In beiden Texten werden weiterhin – wiederum gemeinsam – Wolken (Ps 104:13, Q 78:14), Berge (Ps 104:13, Q 78:7), Sonne (Ps 104:19/22, Q 78:13) und Nacht (Ps 104:20, Q 78:10) sowie die Ernährung durch Pflanzenwuchs (Ps 104:14, Q 78:15-16) als göttliche Stiftungen dargestellt. Die 13 Ebd., S. 448.
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Zeit des Menschen ist jeweils der helle Tag für den Erwerb des Unterhalts (Ps 104:13, Q 78:11), ein Gedanke, der im Koran sonst nicht thematisiert wird. Doch bereits hinsichtlich der Gestaltung der Nachtzeit gehen die beiden Texte auseinander, denn über den Psalm hinausgehend nennt die Sure die Erschaffung der Menschen zu Paaren, denen die Nacht als Zeit ihrer sexuellen Erfüllung eingerichtet ist, ein markanter koranischer Nachtrag zu dem psalmistischen Bild des menschlichen Habitat, das die Sexualität nicht thematisiert. Dieser Gedanke wird mit einer im Koran einzigartigen Metapher ausgedrückt: Die beiden Geschlechter erscheinen in ein kosmisches Gewand gehüllt (Q 78:10: wa-˘ga’alnÁ l-layla libÁsan – „Haben wir euch nicht die Nacht zum Gewand gegeben?“). Eine solche kosmische Metapher wird im Psalm nur Gott zugestanden (Ps 104:1/2: hõd we-hÁdÁr lÁbhÁštÁ – „mit Pracht und Hoheit bist du angetan“; ‘õ.teh õr kas-sÁmlah – „du hüllst dich in Licht wie in ein Kleid“). Im Koran wird dieser Anthropomorphismus gewissermaßen ‚korrigiert‘, indem die Perspektive von Gott weg auf den Menschen gelenkt wird. Die kosmische Metapher braucht nicht geopfert zu werden, sie wird auf das Menschenpaar übertragen. Nicht nur mit der in der zeitgenössischen Bibelexegese geläufigen Strategie der Korrektur von Anthropomorphismen, sondern auch mit dem Verweis auf den Erkenntnisstand seiner Zeit – die auf sieben Planetensphären basierende kosmische Struktur – weist sich der Korantext als spätantik aus. Unverkennbar ist aber vor allem ein grundsätzlicher Unterschied: Der Psalm entwirft ein großes mythisches Tableau, in dem eine weitgehend anthropomorph dargestellte Gottheit – gewissermaßen vor den Augen des Psalmisten – herrschaftlich waltet, auf einem Himmelswagen dahinfährt, die Lebenswelt der Geschöpfe gestaltet und sie mit eigener Hand versorgt. Die Schöpfung selbst erscheint durch die von Gott gestiftete Bewegung dynamisch affiziert, wilde Tiere treten hervor und ziehen sich zurück, erbitten sich von Ihm ihre Nahrung (Ps 104:20-22). Man könnte hier von dem Topos des locus amoenus sprechen14: ein idealisierter Schauplatz menschlicher und überhaupt geschöpflicher Interaktion, der von der griechischen Antike bis in die Renaissance hinein ein beherrschendes Motiv in Naturbeschreibungen war, inklusive solchen der jenseitigen Welt. Gerade angesichts der Präsenz des in ihr waltenden Gottes ist die Welt im Psalm ein ‚lieblicher Ort‘, der wie die antiken Entsprechungen durch Naturfülle und rege Interaktion des Menschen mit seiner Umwelt gekennzeichnet ist. Dieses Urteil lässt sich auf die Naturbeschreibung in der Sure nicht ohne Weiteres übertragen. So harmonisch das menschliche Habitat auch beschrieben wird, es fügt sich doch nicht zu einem kohärenten Szenario zusammen, die einzelnen Elemente stehen für sich. Sie sind Verweise auf eine theologische Botschaft, wie die paränetische Form der das gesamte Tableau zusammenhaltenden rhetorischen Frage zeigt. Denn hier wird das Schöpfungswerk nicht wie im Psalm als creatio perpetua vergegenwärtigt, sondern erscheint längst abgeschlossen. Gott ist nicht mehr als Handelnder, sondern jetzt als Sprecher präsent, der in Wir-Rede Sein Tun zur Belehrung in Erinnerung ruft. Alle
14 Ernst Robert Curtius: European Literature and the Latin Middle Ages, New York 1963, S. 195.
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von Gott getroffenen Vorkehrungen für Seine Geschöpfe sind bereits zu zeitloser göttlicher Rede verfestigt. Aus dem bewegten Bild des Psalms ist im Koran ein statisches geworden. Denn das mit dem eschatologischen Kontext vorgegebene Spannungsfeld rekonfiguriert den Schöpfungsbericht neu, er wird von einem Bild zum Teil eines Diskurses: Er antwortet in rhetorisch expressiver Rede – unter Aufwendung der Redefiguren der Anapher (Q 78:9-13) und der (kosmischen) Metapher (Q 78:10) wie auch der durchgehenden persönlichen Anrede – auf die bei den Hörern noch bestehenden Zweifel an der Allmacht Gottes, die in dem eingangs durch eine provokante rhetorische Frage eingeführten Meinungsstreit zum Ausdruck kamen. Der Schöpfungsbericht ist ein diskursives Angebot an die Hörer, sich – angesichts des abschließend dargestellten Gerichts und des ‚Gegenortes‘ Hölle, eines locus terribilis – für die richtige Seite zu entscheiden. Der Passus ist nicht wie im Psalm Hymnus und damit Ausdruck spontaner Emotionalität, sondern mahnende Erinnerung, Argument. So unpathetisch sich der Korantext aber gemessen an dem in seiner mythischen Dynamik und kosmischen Metaphorik schwelgenden Psalmtext ausnimmt, so signifikant und theologisch bereichernd ist doch seine positive Umdeutung des großen Vorgängertextes für die neue Wahrnehmung der Welt. Das Zelt, das die koranische Versgruppe entwirft, ist nicht Teil der kosmischen Wohnung Gottes, sondern eine auf menschliche Maßstäbe zurückgeschnittene ‚Behausung‘. Der Mensch, der in der vorislamischen Weltsicht der Natur ausgeliefert ist15, wird im Koran als ‚behaust‘ definiert. Ihm sind, anders als dem vorislamischen Helden, weder Unterhalt noch sexuelle Erfüllung verwehrt oder unzugänglich gemacht. Der Korantext kehrt das altarabische Verhältnis Mensch-Natur um.16 Er tut das aber nicht mit Hilfe einer aus der Realität abgeleiteten Argumentation, sondern mittels Textreferenzialität: durch den psalmistischen Intertext, aus dem er den für die Menschen relevanten ‚Ausschnitt‘ gewissermaßen herausschneidet. Der Psalmist preist – den Blick nach oben gerichtet – die monumentale Herrlichkeit Gottes; der koranische Sprecher lässt Gott – von oben auf den Menschen blickend – ihm seine irdische Behausung als das erklären, was sie als Schöpfungswerk ist: ein fast-paradiesisches Szenario der Interaktion, in dem der Mensch im Zentrum steht. Dem in der Umwelt des entstehenden Korans offenbar prominenten Psalmtext wird eine koranische Gegenversion gegenübergestellt. In ihr haben der Sprecherwechsel von Mensch zu Gott und die damit gegebene Umkehrung der Perspektive des Blicks auf die Welt eine neue – gegenüber dem Psalm emotional zurückgenommene – kühl argumentierende Darstellung der Welt erzeugt. Psalmistische Hymnik hat koranischer Rhetorik Platz gemacht.
15 Gottfried Müller: Ich bin LabÍd und das ist mein Ziel. Zum Problem der Selbstbehauptung in der altarabischen Qaside, Wiesbaden 1981. 16 Angelika Neuwirth: „Geography“, in: Encyclopaedia of the Qur’Án, hg. v. Jane D. McAuliffe, Leiden 2002, Bd. 2, S. 293-313.
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Carmens Passion 1. Carmen stirbt in der Stierkampfarena von Sevilla; doch die Geschichte ihrer Passion beginnt früher. Was Prosper Mérimée und Georges Bizet – als Novelle und Oper – gestaltet haben, ist ein Thema des 19. Jahrhunderts, dessen Wurzeln bis auf die Wände paläolithischer Kulthöhlen zurückverfolgt werden können. Denn schon auf diesen Wänden erscheinen Stiere und Auerochsen. Sie wurden zwar nicht ganz so häufig gemalt wie Pferde oder Bisons; aber gerade in Spanien oder Italien zählten sie zu den beliebtesten und eindrucksvollsten Themen der steinzeitlichen Kunst. Die „Halle der Stiere“ in der Höhle von Lascaux wird gern als „Sixtinische Kapelle der Urgeschichte“ tituliert; in dieser Halle findet sich auch eine der wenigen szenischen Darstellungen der paläolithischen Kunst (Abb. 1). Sie zeigt einen Stier, der vielleicht von einem Speer tödlich getroffen wurde. Seine Eingeweide scheinen aus einer Bauchwunde zu quellen; schräg vor ihm liegt eine stilisierte Menschengestalt mit erigiertem Penis. Neben dem Stier steht eine Stange, auf deren Spitze ein Vogel thront; am unteren Bildrand liegen zwei Speere. Die Bedeutung dieser Szene ist bis heute unklar geblieben: Wurde der Stier getötet? Oder der Mann? Geht es um die Erinnerung an ein Ereignis? Oder um dessen magische Vorwegnahme? Wird ein Opfer gezeigt? Oder ein Jagderfolg? Erblicken wir eine Szene des Todes? Oder der Wiedergeburt (wie Max Raphael und Hans Peter Duerr spekulierten1)? Und was bedeutet die Stange mit dem Vogel, die später als Macht- und Herrschaftszeichen im alten Orient weit verbreitet war? Auch in vielen anderen Höhlen – von Altamira bis zu der erst 1994 entdeckten Grotte Chauvet (im Tal der Ardèche) – wurden Stierdarstellungen gefunden. Aus Knossos auf Kreta stammen Wand- und Vasenmalereien, die den Kampf mit einem Stier zeigen; in Gestalt eines verführerischen Stiers hatte schon Zeus die Nymphe Europa nach Kreta entführt, bevor sich Pasiphaë, Gattin des Königs Minos, in einen Stier verlieben sollte, um mit ihm den Minotaurus zu zeugen. Berichte von mehr oder weniger unblutigen Stierspielen wurden auch aus Ägypten und aus den altorientalischen Hochkulturen überliefert. Nach gegenwärtigem Stand der Forschung waren die Stiere – wegen ihrer sichelförmigen Hörner, die an die Mondsichel erinnern – einst die bevorzugten Opfertiere archaischer Muttergöttinnen. Der Berliner Wirtschaftshistoriker Eduard Hahn hat im Jahr 1896 sogar die kühne These entwickelt, die Rinder seien vorran1 Vgl. Max Raphael: Wiedergeburtsmagie in der Altsteinzeit. Zur Geschichte der Religion und religiöser Symbole, Frankfurt am Main 1979. Vgl. auch Hans Peter Duerr: Sedna oder Die Liebe zum Leben, Frankfurt am Main 1984.
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Abb. 1: Grand taureau cornu, Lascaux
gig aus kultischen Gründen domestiziert worden; da die Stiere zu bestimmten Zeiten geopfert werden sollten, mussten sie gleichsam ‚auf Lager‘ gehalten werden.2 Die Spekulationen Hahns, die von William Irwin Thompson übernommen wurden, lassen sich nicht verifizieren; so wenig wir aber einerseits über steinzeitliche Muttergöttinnen und Stierkulte wissen, so viel kann andererseits über antike Assoziationen zwischen der Magna Mater und dem Stieropfer gesagt werden. Ein berühmtes Beispiel bildet etwa die ‚vielbrüstige‘ Artemis aus Ephesos (Abb. 2). Die jungfräuliche Göttin galt als Herrin der Stiere: tauropolos, von Stieren umgeben. Bei ihren Kultfesten wurden Stiere – im Rahmen der Taurokathapsien – geopfert und verzehrt; für die Organisation der Feste waren eigene Stierorden, die taureastai, zuständig. Erst vor wenigen Jahrzehnten wurde das Rätsel der ‚vielbrüstigen‘ Göttin gelöst: Tatsächlich handelt es sich gar nicht um Brüste, sondern um Stierhoden, die – offenbar im Verlauf eines Opferrituals – der Artemis als eine Art Schmuck an den Oberkörper geheftet wurden. Diese Zeremonie kann auch als Überschreitung der Geschlechtergrenzen gelesen werden; als Metonymie von Brüsten und Hoden, Milch- und Samenfluss erin-
2 Vgl. Eduard Hahn: Die Haustiere und ihre Beziehungen zur Wirtschaft des Menschen. Eine geographische Studie, Leipzig 1896, S. 92. Vgl. auch William Irwin Thompson: Der Fall in die Zeit. Mythologie, Sexualität und der Ursprung der Kultur, übers. v. Knut Pflughaupt, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 161.
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Abb. 2: Archétype: l’Artémis d’Ephèse d’Endoios
nerte sie vielleicht an das Fruchtbarkeitsversprechen des hierós gamós, der „heiligen Hochzeit“. Der Artemis-Kult mit seinen Stieropfern glich in vielen Zügen den Ritualen, die zur Verehrung der – ursprünglich phrygischen – Magna Mater Kybéle oder der orientalischen Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin Astarte praktiziert wurden. Astarte – Ischtar in Babylonien, Aschera in Palästina – trug übrigens als Herrschaftszeichen einen Stierkopf. Auch in Spanien begann der Stierkampf vermutlich als Fruchtbarkeits- und Hochzeitsritual. Die Männer mussten sich vor der Hochzeit – im Rahmen von Stierläufen – einem Stier nähern und ihn berühren, um sich dessen Zeugungskraft anzueignen, während die Bräute aus den Fenstern kleine Speere auf die Tiere warfen, bis sie bluteten. Bis heute werden diese Stierläufe in zahlreichen Ortschaften der iberischen Halbinsel veranstaltet. Später erst fanden die Stierkämpfe als aristokratische Reiterspiele zu festlichen Anlässen statt: Auf Pferden kämpften die Adeligen mit Spießen, Lanzen, Schwertern und Dolchen, die ihnen von Reitknechten – den churros – gereicht wurden, gegen die Stiere. Im 18. Jahrhundert emanzipierten
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Abb. 3: Francisco de Goya: Portrait of the Matador Pedro Romero
sich die churros allmählich von ihren Herren; die bürgerliche Revolution wurde gleichsam in der Arena vollzogen. Die ehemaligen Knechte übernahmen die Hauptrolle; aus den Trachten der churros entwickelte sich die traje de luces, die Strahlenkleidung der Toreros, während die Reiter – die picadores – nur noch als Statisten der Inszenierung fungierten. Die Reform der Stierkämpfe wurde zuerst in der andalusischen Stadt Ronda vollzogen – einer Stadt, die auch in Mérimées Novelle erwähnt wird.3 In Ronda wurde 1785 die erste plaza de toros aus Holz errichtet; in Ronda etablierte sich auch die erste moderne Dynastie von Toreros: Francisco Romero (1698-1763), sein Sohn Juan (1722-1824) und sein Enkel Pedro (1754-1839). Pedro Romero soll in seiner Laufbahn mehr als fünftausend Bullen getötet haben; bei seinem letzten Kampf war er angeblich 84 Jahre alt. Zwischen 1795 und 1798 malte Goya übrigens ein Porträt Pedros, das heute im Kimbell Art Museum in Fort Worth/ Texas hängt (Abb. 3); rund 20 Jahre später befasste er sich, fast 70 Jahre alt, noch einmal – in einem Zyklus von 38 Radierungen – mit den Motiven der Tauromaquia (Abb. 4). Die Novelle Mérimées schenkt dem Torero Lucas keine besondere Aufmerksamkeit. Für Carmen ist er eine flüchtige Affäre; und kurz nachdem der Matador dem Stier die divisa – eine Schleife, an deren Farbe die Herkunft des Stiers erkannt werden kann – abgerissen hat, um sie Carmen zu überreichen, wird er vom Stier über3 Prosper Mérimée: Carmen, übers. v. Kristian Wachinger, München 1995, S. 89.
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Abb. 4: Francisco de Goya: La Tauromaquia: Wendigkeit und Waghalsigkeit des Juanito Apiñani in der Arena von Madrid
rannt. Don José bemerkt, halb verächtlich, der Stier habe ihn gerächt. Ganz anders die Oper. Escamillo tritt schon bald als umjubelter Held in Erscheinung; im späteren Zweikampf mit den Messern besiegt er Don José, um ihn – welche Demütigung – zu verschonen: „Sachte, dein Leben gehört mir, aber im Grunde ist mein Metier, den Stier zu töten, nicht das Menschenherz zu durchbohren.“4 Escamillo triumphiert danach in der Arena, und betritt im Schlussmoment die Bühne, als sich Don José über die getötete Carmen wirft. Bizets Oper verschränkt den Stierkampf und die Ermordung Carmens zu einem einzigen Geschehen. Kurz nachdem der Stier erstochen wurde, fällt auch Carmen. Während der Chor noch den Sieg Escamillos in der Arena feiert, verschmilzt sie selbst mit dem Tier – und insgeheim scheint sich der Stierkampf wieder in ein Opferritual zu verwandeln. Carmen provoziert ihre Tötung, indem sie den Ring wegwirft, den ihr Don José als Liebespfand gegeben hat; auf ähnliche Weise mussten die Stiere – bei den antiken Ritualen der Buphonien in Athen – ihren Opfertod besiegeln, indem sie vom heiligen Getreide am Altar fraßen. Carmens Passion und ihr Tod gewinnen also eine mythische Evidenz in der Synchronisation mit der Stiertötung, unterscheiden sich aber gerade darin von archaischen oder christlichen Vorbildern. Denn stets waren es junge Männer, die – wie Lucas – in der Arena starben; es waren junge Männer, die 4 Georges Bizet: Carmen. Französisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Henning Mehnert, Stuttgart 1997, S. 165.
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– wie Manuel Sánchez von Monleón (nach Karl Brauns Analyse5) – beim Stierlauf getötet wurden. Und es waren natürlich junge Männer, Söhne und Geliebte, die – symbolisch repräsentiert durch die Stiere – der Magna Mater, der Herrin der Tiere, zum Opfer gebracht wurden.
2. Carmen wird nicht geopfert, sie erlöst niemanden und wird nicht erlöst (auch wenn Bizets Musik „erlösen“ mag, wie Nietzsche behauptete6). In ihrer Geschichte manifestieren sich mythische Motive, im dunklen Einklang mit Antike und Christentum. Darauf verweist schon ihr Name. Carmen trägt – wie alle mythischen Persönlichkeiten – nur einen einzigen Namen; Don José wird bei Mérimée auch mit seinem Nachnamen Lizzerrabengoa vorgestellt. Was bedeutet ihr Name? In einer verbreiteten Einführung zu Mérimées Novelle schreibt Günter Metken: Carmen – lateinisch Lied und Zauber. So hat man es auch im Ohr: schmetternde Ouvertüre, Wachaufzug, Torerolied, lockende, dunkle Mezzotöne der Zigeunerin und die betörend schöne Blumenarie Don Josés, von Thomas Mann kunstvoll als Liebeswerben zwischen Hans Castorp und Madame Chauchat in der Glasglocke des Zauberbergs verwandt.7
Lied und Zauber? Mag sein, doch Carmen ist auch ein ganz üblicher Vorname in Spanien; etymologisch wird er abgeleitet von der „Virgen del Carmen“, der heiligen Jungfrau vom Berge Karmel. Der Berg Karmel liegt im Norden Israels, nahe der Hafenstadt Haifa. Er bildete einst – nach den Erzählungen im ersten Buch der Könige (17,20-30,41) – den Ort eines religionspolitischen Streits zwischen König Ahab und dem Propheten Elias, als den konkurrierenden Vertretern der Baals- und der Jahwe-Religion. Baal und seine Gemahlin Aschera wurden häufig in Stiergestalt verehrt; Stieropfer wurden ihnen dargebracht. Und eben ein Stieropfer sollte auch auf dem Berge Karmel zur Entscheidung zwischen den beiden Religionen führen: Elias schlug vor, jeweils einen Stier zu töten, zu zerteilen und auf einen Altar zu legen. Wessen Gottheit das Opferfeuer entfachen konnte, dessen Kult sollte in Israel praktiziert werden. Elias gewann das Opferduell auf dem Karmel und ließ anschließend sofort alle Baals- und Aschera-Priester hinrichten. Viele Jahrhunderte später erinnerten sich die Protagonisten eines anderen religionspolitischen Streits – die Kreuzfahrer – an die Elias-Legende und gründeten nach der Eroberung Jerusalems im Jahre 1099 auf dem Berg, dessen Name wörtlich übersetzt „Baumgarten“ 5 Vgl. Karl Braun: Der Tod des Stiers. Fest und Ritual in Spanien, München 1997, S. 67-75. 6 Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, in: Ders.: Sämtliche Werke/ Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980, Bd. 6, S. 9-53, hier S. 15. 7 Günter Metken: „Nachwort“ zu: Prosper Mérimée: Carmen, übers. v. Wilhelm Geist, Stuttgart 1963, S. 81 f.
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bedeutet, eine Gemeinschaft von Einsiedlern. Aus dieser Gemeinschaft entwickelte sich der marianisch orientierte Karmeliter-Orden, „Ordo Fratrum Beatae Virginae Mariae de Monte Carmelo“, der 1226 von Papst Honorius III. genehmigt und 1253 unter die Bettelorden eingereiht wurde. Nach der Rückeroberung Palästinas durch die Sarazenen mussten die Ordensbrüder freilich nach Europa zurückkehren. In Europa fand die Geschichte eine wundersame Fortsetzung. Wie die meisten Bettelorden wurden die Karmeliter heftig angegriffen; und bereits wenige Jahrzehnte nach der päpstlichen Anerkennung wurde ein Verbot des Ordens erwogen. In dieser prekären Situation soll die Gottesmutter selbst dem Papst erschienen sein, um ihn aufzufordern, den Orden zu schützen. Zur selben Zeit sei sie auch dem damaligen Ordensgeneral Simon Stock erschienen und habe ihm am 16. Juli 1251 ein Skapulier, ein Schultertuch, überreicht, das ihren Schutz – wie ein Stück des Marienmantels – verkörpern sollte. Am 3. März 1322 verkündete Papst Johannes XXII. in seiner „Bulle Sabbatina“, die Gottesmutter habe ihm versprochen, wer das Skapulier trage, die standesgemäße Keuschheit beachte, täglich mehrmals zu Maria bete und an jedem Mittwoch, Freitag und Samstag zu ihren Ehren faste, den werde sie am ersten Samstag nach seinem Tode aus dem Fegefeuer befreien. Die „Sabbatina“ ist bis heute gültig geblieben; noch in einer Generalaudienz am 12. September 2001 gedachte Papst Johannes Paul II. nicht nur der Opfer der Terroranschläge von New York, sondern auch (und kaum weniger ausführlich) des 750. Jahrestags der Übergabe des Skapuliers. Am 16. Juli, dem Tag der himmlischen Intervention beim Papst und der Überreichung des Skapuliers, wird bis heute das Fest der „Virgen del Carmen“ begangen, insbesondere in Spanien und Lateinamerika mit großem Aufwand (Abb. 5). Da die „Virgen del Carmen“ als Schutzpatronin der Fischer und Seeleute angesehen wird, finden in allen Küstenorten Meeresprozessionen statt, bei denen – zur Freude auch der Touristen – ein Bildnis der Virgen in reich geschmückten Booten gezeigt wird. An manchen Orten werden sogar die traditionellen Stierläufe mit dem Festtag der „Virgen del Carmen“ verbunden, so beispielsweise in Grazalema (nahe bei Ronda, im Bergland von Cádiz), wo die Karmeliter (schon im 18. Jahrhundert) ihrer Patronin das nötige Ansehen zu verschaffen wussten, indem sie schlicht den Stier bezahlten. Wie dieses Fest heute begangen wird, beschreibt Karl Braun: Am Samstag nach dem 16. Juli wird bei Einbruch der Dunkelheit ein Holzstoß angezündet und abgebrannt, der Tag heißt deshalb Feuersamstag. Am Sonntagmorgen findet ein Hochamt statt, dann zieht die Jungfrau Maria prächtig gekleidet und in vollem Blumenschmuck durch die geschmückten Straßen Grazalemas. […] Am Montag erreicht das Fest den Höhepunkt: Der Stier kommt in die Stadt! […] An seinen Hörnern wird ein langes Seil befestigt, an dem er nach einem Besuch im Vorraum der Kirche der Virgen del Carmen durch die Straßen gezogen wird, wobei vor allem die jungen Männer ihn zu berühren und zu necken versuchen. Ist der Stier völlig erschöpft, wird er getötet. Das Fest hat sein Ende gefunden und klingt aus.8 8 Braun: Der Tod des Stiers (Anm. 5), S. 33-35.
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Abb. 5: Virgen del Carmen de Chile, im Votivtempel von Maipú
In Grazalema kann man sich ein Fest der „Virgen del Carmen“ ohne Stier gar nicht vorstellen: Doña Carmen – die Frau, die sich jahraus jahrein um die Belange der Muttergottes kümmert, darum daß geputzt wird und Lämpchen vor ihr brennen, daß sie Blumen bekommt und daß die Wäsche der Virgen für die Prozession in Ordnung ist – antwortet auf die Frage: „Was bedeutet der Stier beim Fest der Virgen del Carmen?“ einfach mit der Feststellung: „Dieses Fest ohne den Stier ist Quatsch, wissen Sie?“9
Die „Virgen del Carmen“ – Stadtpatronin von Marbella – ist in der spanischsprachigen Welt bis heute so populär geblieben, dass Mädchen, die – aus Respekt vor der Gottesmutter – nicht Maria genannt werden, den Vornamen Carmen erhalten. Davon ist in der Oper nicht die Rede. Doch in der Novelle sagt Don José zu Carmen, kurz vor ihrer verabredeten Flucht: „Von mir aus, meine Liebe, versucht es, die Heilige Maria vom Berge (‚Notre Dame de la Montagne‘) mag Euch beistehen!“10 Die Anspielung auf den Namen Carmens ist offensichtlich, ebenso offensichtlich wie die Assoziationen Don Josés bei seiner Wiederbegegnung mit Carmen nach der Gefängnishaft: „Diesmal war sie geschmückt wie eine Reliquie, mit Troddeln, herausgeputzt, ganz und gar golden glitzernd. Ein Paillettenkleid,
9 Ebd., S. 35. 10 Mérimée: Carmen (Anm. 3), S. 63.
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blaue Schuhe, auch mit Pailletten, Blumen und Borten überall.“11 Carmen wird vorgestellt wie eine Statue der Virgen, die traditionsgemäß bei den Prozessionen und Umzügen mit Komplimenten der Männer bedacht wird, „geradeso als ob ihr Bild die hübscheste Frau des Ortes wäre“.12 Die Popularität der „Virgen del Carmen“ in Spanien verdankte sich auch den Reformen des Karmeliterordens, die gerade durch die spanische Mystik – durch Teresa de Ávila (1515-1582) und Juan de la Cruz (1542-1591) – vollzogen wurden. Gemeinsam erneuerten sie die strenge Ordensregel freiwilliger Armut, weshalb die Karmeliter in der Bevölkerung bald die ‚Beschaulichen‘, die ‚Barfüßer‘ oder die ‚Unbeschuhten‘ genannt wurden. In den Gedichten und Traktaten der beiden Heiligen – beispielsweise in der 1618 erstmals gedruckten „Subida al Monte Carmelo“ von Juan de la Cruz – kam eine poetisch-ekstatische Liebesmystik zum Ausdruck, die an ältere Traditionen anschloss; ein paar Jahrhunderte zuvor hatte ja die Geschichte der Mystik in Spanien begonnen. Unter muslimischer Herrschaft erlebte Spanien im Hoch- und Spätmittelalter eine bemerkenswerte kulturelle und wissenschaftliche Blütezeit, die von Toleranz und intellektuellem Austausch geprägte ‚convivencia‘ zwischen den Schriftreligionen des Judentums, des Christentums und des Islams. Spanien befand sich in einer kulturellen Sonderlage, die erst durch die Berberkriege, die Pestseuchen des späten 15. Jahrhunderts und schließlich durch das Edikt von Granada (1492) beendet wurde, das die Vertreibung der Juden und Moslems besiegelte. Das hoch- und spätmittelalterliche Spanien vermittelte der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte zahlreiche Impulse: die Übersetzungen der aristotelischen Philosophie, die indisch-arabische Zahlenschrift, sowie eine Vielzahl wissenschaftlich-technischer Neuerungen in der Optik, Astronomie oder Medizin. Als wesentliche Protagonisten dieses erfolgreichen Wissenstransfers können Gelehrte aus allen drei Hochreligionen genannt werden, die regelmäßig auch den Dialog zwischen den Religionen förderten: die Ärzte Ibn Ruschd, genannt Averroës (1126-1198), und Moses Maimonides (1135-1204) oder der ‚Doctor illuminatus‘ und Erfinder der ‚ars generalis‘, Raimundus Lullus (1232-1316). In Spanien entstanden die ersten Übersetzerschulen, und fast zur selben Zeit – in allen drei Hochreligionen – die Ausdrucksformen der Mystik. So entwickelte sich im 13. Jahrhundert die spanische Kabbala: als ekstatische Mystik bei Abraham Abulafia aus Saragossa (1240-1292), aber auch als philosophisch-spekulative Disziplin. Der Sufismus, die islamische Mystik, gewann – etwa durch das umfangreiche Werk von Ibn al-’Arabi aus Murcia (1165-1240) – einen wachsenden Einfluss; und selbst ein gelehrter Logiker wie Raimundus Lullus verfasste mystische Texte, die ihn gelegentlich als Ketzer erscheinen ließen. Erst die Reconquista, die christliche Rückeroberung Spaniens, und wenig später die Gegenreformation führten zu einem nachhaltigen Klimawandel. Juden und Moslems mussten künftig ihre Herkunft verschleiern oder getauft werden; Misstrauen und Vorsicht beherrschten die Beziehungen. Auch darum verweist Don José 11 Ebd., S. 69. 12 Braun: Der Tod des Stiers (Anm. 5), S. 34.
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gleich zu Beginn der Oper auf seine Herkunft: Er sei ein „vieux chrétien“13, ein wahrer Christ, der nicht von Juden oder Arabern abstamme. Auch seinen Lebensbericht in Mérimées Novelle eröffnet er mit dem Satz: „Ich heiße Don José Lizzarrabengoa, und Ihr wißt von Spanien genug, um sofort an meinem Namen zu erkennen, daß ich Baske und christlicher Abstammung bin.“14 Dagegen fragt der Erzähler Carmen selbst, ob sie vielleicht „Maurin“ sei – und fügt hinzu, er habe nicht zu fragen gewagt, ob sie Jüdin sei.15 Noch Carmens letztes Lied – in der Novelle, nicht in der Oper – beschwört eine Erinnerung an die Geschichte Spaniens; kurz vor dem Tod wendet sie sich nicht an die „Virgen del Carmen“, sondern an Maria Padilla, die „Bari Crallisa“, die „große Königin der Zigeuner“.16 Doch wer ist Maria Padilla? Mérimée selbst schreibt in einer Fußnote, der Name beziehe sich auf die Geliebte und spätere Gemahlin des kastilischen Königs Pedro I. mit dem Beinamen ‚der Grausame‘ (1334-1369). Ganz sicher ist diese Zuordnung aber nicht, zumal Mérimée durch Donizettis Oper Maria Padilla (von 1841) auf eine falsche Spur gelockt worden sein könnte. Denn jene Maria Padilla, die in spanischen Abwehr- und Zauberformeln angerufen wird, ist auch die Frau des Rebellenführers Juan Padilla (1490-1521), der mit seinen sozialrevolutionären „Comuneros“ gegen Karl V. kämpfte. Nach der Niederlage und Hinrichtung Juans verteidigte Maria allein – fast ein ganzes Jahr lang – die Festung von Toledo. Die heroische Geschichte der beiden Padillas und der „Comuneros“ wurde in zahlreichen Liedern und Gedichten besungen. Noch 1821 wurde – innerhalb der spanischen Freimaurer – eine politisch radikale Geheimgesellschaft gegründet, die sich nach den Padillas benannte; Ferdinand VII. verfolgte sie unnachgiebig.
3. Carmens Passion kulminiert freilich in der Unterwerfung, nicht im Kampf. Sie ist keine Rebellin wie Maria Padilla oder wie die schlecht bezahlten cigarreras von Sevilla, die – drei Jahre vor Erscheinen der Novelle Mérimées – eine der größten spontanen Straßendemonstrationen der Geschichte Spaniens veranstalteten, um gegen die sozialen und hygienischen Arbeitsbedingungen in der Tabakindustrie zu protestieren. Sie ist keine Maurin, Jüdin oder Christin, sondern Zigeunerin. Als Zigeunerin behauptet sie mit einer Strenge, die geradezu an die griechische Tragödie erinnert, das Fatum und das Gesetz ihrer Herkunft. Gegen alle Spuren einer bunten espagnolade, gegen exotische Folklore und romantische Klischees, provoziert sie die Unausweichlichkeit und Ausweglosigkeit einer Beziehung zwischen zwei Charakteren, die einander weder vermeiden noch überwinden können. So stoßen die beiden Personen buchstäblich aufeinander: Die Blüte, die Carmen dem Wachoffizier bei ihrer 13 14 15 16
Bizet: Carmen (Anm. 4), S. 28. Mérimée: Carmen (Anm. 3), S. 51. Ebd., S. 37. Ebd., S. 123.
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ersten Begegnung ins Gesicht wirft, trifft ihn – wie eine Kugel – zwischen den Augen. Aus dem Wechselspiel zwischen Zufällen und den unbedingten Imperativen des Begehrens bildet sich das Schicksal: vorhersehbar durch Orakelsprüche, aber nicht korrigierbar – kein heroisches Fatum der Liebe oder der Natur (wie Nietzsche behauptete17), sondern ein Fatum der Genealogie. Diesem Fatum beugen sich selbst die Götter; diesem Fatum unterwirft sich auch Carmen. Sie duldet keine Einschränkung ihrer Freiheit – der Freiheit zu gehen, wann sie will, und der Freiheit zu lieben, wen sie will –, doch sie akzeptiert das Stammesgesetz, das ihrem Mann, dem Rom, erlaubt, sie zu töten, wenn sie ihm untreu ist: „Als mein Rom hast du das Recht, deine Romi zu töten, aber Carmen wird immer frei sein. Als Calli wurde sie geboren, als Calli wird sie sterben.“18 Als Calli, als Zigeunerin, warnt sie ihren baskischen Liebhaber schon bald, er möge sich hüten vor ihrer Liebe. Und sie spricht nicht von jener Dynamik des Begehrens, die in Novelle wie Oper mit dem vulgärpsychologischen Bild von der Katze illustriert wird, die nur kommt, wenn sie nicht gerufen wird, sondern rekurriert neuerlich auf das Gesetz. Weißt du, mein Sohn, ich glaube, ich liebe dich ein bißchen. Aber das wird nicht halten. Hund und Wolf halten es nicht lange miteinander aus. Vielleicht, wenn du zum Zigeunerrecht (‚loi d’Egypte‘) wechselst – vielleicht würde ich dann gern deine Romi. Aber das sind Dummheiten, daraus wird nichts.19
Carmen bleibt ihrer Herkunft treu – nicht ihren Liebhabern und Ehemännern. Sie nimmt das Fatum ihrer Tötung an, so wie sie ihre Orakelsprüche annimmt, vergleichbar den antiken Helden der Mythologie, die den Tod akzeptierten, ohne ihn zu wünschen. Carmens Passion erinnert darum eher an das Sterben der Antigone im Felsengrab als an den Liebestod der Isolde: an einen Tod, der nicht – per amorem fati – gewünscht oder anerkannt, sondern einfach erreicht wird, wie das Ziel eines Weges. Carmen wird als Hexe, als Zauberin, porträtiert; aber ihre eigentliche Religion bleibt unbekannt. Während der Erzähler – gleich zu Beginn der Novelle Mérimées – ihren unglücklichen Liebhaber mit Miltons Satan vergleicht20, bezeichnet sich Carmen ihrerseits mehrfach als Teufel; in solchem Kontext fordert sie auch den Basken auf, er möge seiner majari eine Kerze anzünden.21 Die Wendung „ta majari“ – deine Maria – wirft die Frage auf, ob sie vielleicht eine andere Maria kennt und verehrt, und wer diese majari eigentlich ist. Eine erste Antwort könnte sich aus dem späteren Verweis auf Maria Padilla, die Bari Crallisa der Zigeuner, ergeben; doch vielleicht reicht diese Antwort nicht aus. Tatsächlich haben ja auch die Zigeuner den Marienkult gepflegt, beispielsweise in Saintes-Maries-de-la-Mer in der südfranzösischen Camargue. Die heutige Kirche Notre Dame de la Mer wurde ur17 18 19 20 21
Vgl. Nietzsche: Der Fall Wagner (Anm. 6), S. 15. Mérimee: Carmen (Anm. 3), S. 125. Ebd., S. 77. Vgl. ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 77.
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sprünglich im 12. Jahrhundert errichtet; der Sage nach strandete in der Nähe eine Barke von Maria Magdalena, Martha, Lazarus, Maria Kleophas und Maria Salome, den Schwestern der Muttergottes, auf der sie – nach der Kreuzigung Jesu – aus Palästina geflohen waren. Begleitet wurden die drei Marien von Sara, ihrer ägyptischen Dienerin – und der späteren Schutzpatronin der Zigeuner. Die Statue der Sara la Kali steht in der Krypta der Kirche. Einmal im Jahr, am 24. Mai, kommen Sinti und Roma aus vielen europäischen Ländern in die Stadt, um ihre Patronin mit einer Meeresprozession zu ehren; am 25. Mai findet dann das Hauptfest der Maria Kleophas statt, mit Umzügen der Marienfiguren und einer bischöflichen Segnung des Meeres. Das Fest der Maria Salome wird am 22. Oktober begangen; bei dieser Gelegenheit werden auch die berühmten Stiere der Camargue – für die Arena von Arles – gesegnet. Der Sara-Kult wurde von der Kirche zwar nie anerkannt, jedoch toleriert. Besonders bemerkenswert ist die Gesichtsfarbe der SaraStatue: Sie ist schwarz – und sieht einer schwarzen Madonna zum Verwechseln ähnlich. Die andere majari? Nach wie vor ist der Kult der schwarzen Madonnen in Europa ungeklärt. Mindestens ein Zehntel der seit dem Dreißigjährigen Krieg verwendeten Kultbilder Mariens zeigt eine schwarze Hautfarbe. Die gelegentlichen Hinweise auf eine chemische Färbung durch Kerzen- und Weihrauch lassen sich leicht widerlegen; die Farben der Mariengewänder sind ja bunt geblieben – ganz abgesehen davon, dass restauratorische Bemühungen seit dem Barock gewiss auch die Nachdunkelung prominenter Statuen erfasst hätten. Woher kommen also die schwarzen Madonnen? An dieser Stelle führt eine Spur zum Anfang unserer Überlegungen zurück: Auch die Statuen der Magna Mater, der Artemis in Ephesos, der ägyptischen Isis, der indischen Kali, der Kybéle, Astarte, Ischtar oder Aschera waren häufig schwarz. Und wurden nicht die meisten Marienkirchen – seit dem Konzil von Ephesos (im Jahre 431 n.Chr.) – auf ehemaligen Kultstätten dieser Muttergöttinnen errichtet?
DIE KUNST ZU SEHEN
BIRGIT R. ERDLE
Das Unfertige im Bild
Es war keine gezielte Suche, sondern Zufall, dass ich bei einem meiner Streifzüge durch die Londoner National Gallery auf ein Gemälde des englischen Malers Thomas Gainsborough traf. Was zuerst meine Aufmerksamkeit an diesem Bild erregte, war ein Detail: ein anscheinend leeres, leicht gebogenes Blatt Papier, in der Hand gehalten von einer männlichen, am linken Rand des Bildes positionierten Figur. Das Papierblatt hatte etwas merkwürdig Stoffliches, Durchscheinendes und Schwebendes. Eine kleine Tafel, die direkt neben dem Ölgemälde an der Wand angebracht war, vermerkte den Titel und das Entstehungsdatum des Bildes: Portrait of the Artist with his Wife and Daughter, about 1748. Gainsborough, 1727 geboren, hatte das Bild also als junger Künstler gemalt. Auf der kleinen Tafel fand sich zudem der folgende Text: „Gainsborough married Margaret Burr in 1746. The child is probably their first-born daughter, Mary, who died in March 1748. A second daughter was also named Mary. The hands of Mrs. Gainsborough are unfinished and the paper held by the artist is blank“ (Abb. 1). Der letzte Satz dieses Kommentartextes verknüpfte die anscheinende Leere des Papierblatts, benannt als blankness, mit einem anderen Detail, das mir bis dahin noch gar nicht aufgefallen war, mit der nur in Umrissen erkennbaren rechten Hand der weiblichen Figur nämlich, einer in schwungvollen Pinselstrichen ausgeführten Form, deren Linien sich nur wenig vom blauen Stoff des Kleides, auf dem die Hand ruhte, abhoben. Die Blume, die diese Hand hielt, war dagegen präzise zu erkennen. Wies der Kommentartext auf der kleinen, neben dem Bild montierten Tafel die Darstellung beider Hände der weiblichen Figur als unfinished aus, so schien mir die gleichsam natürliche Unsichtbarkeit der linken Hand, die durch die Gestalt des stehenden Kindes verdeckt war, von ganz anderer Art zu sein als jener durch das Unfertige der rechten Hand erzeugte Modus einer Un/Sichtbarkeit, in der ganz offensichtlich – gegen die Darstellungsregel der exakten Naturnachahmung – etwas fehlte. Ein Fehlen, dessen Begriff unterstellte, dass hier noch etwas hätte kommen müssen. Ich hatte den Eindruck, dass dieses Unfertige im Bild eine wolkige Stelle markierte, genau im Sinn von Walter Benjamin: „die Stelle, wo es aufhört, durchsichtig zu sein.“1 Im Katalog zu einer dem Werk von Thomas Gainsborough gewidmeten Ausstellung, die 2002/2003 in der Tate Britain in London stattfand, suchte ich später nach Erklärungen, technischen, kunsthistorischen oder biographischen, für das, was der Text in der National Gallery als unfinished und blank bezeichnet hatte. Der 1 Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, Frankfurt am Main 1981, S. 172.
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Abb. 1: Thomas Gainsborough: Portrait of the Artist with his Wife and Daughter
Begleittext zu der im Katalog abgedruckten Reproduktion des Gemäldes erwähnt die Hände der Ehefrau nicht; dort heißt es nur: „She holds a flower, a conventional motif in feminine portraiture.“2 Stattdessen wird eine Deutung vorgeschlagen, die zwischen den dargestellten Personen ein mangelndes affektives Band vermutet: „The physical separation between Gainsborough and his wife, and the way the child seems to shrink away and the dog ignores his master and drinks from the pool, create the impression of emotional disconnection.“3 Doch fand ich zu dem vom Künstler in der Hand gehaltenen Papierblatt, das mir wie durchsichtig erschienen war – durchlässig für das Licht und für die blaue Farbe des Kleides, das die Ehefrau trägt –, im Begleittext eine Kommentierung, die der blankness eine historische Tiefe zu geben versucht: „He holds a sheet of paper, which perhaps once
2 Michael Rosenthal/Martin Myrone (Hg.): Thomas Gainsborough 1727-1788, London 2002, S. 60. 3 Ebd.
DAS UNFERTIGE IM BILD
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Abb. 2: Thomas Gainsborough: Mr and Mrs Andrews
bore the indications of a drawing, which have since faded or worn away.“4 Weitere Vermutungen oder Deutungen zur Leere des Blattes bietet der Katalog nicht. An jenem Nachmittag in der National Gallery suchte ich nach weiteren Stellen in Gainsboroughs Bildern, die sich durch etwas auszeichneten, was den Kommentar left unfinished for unknown reasons provozierte. Wie identifiziert man auf einem Gemälde Unfertiges, wie unterscheidet man es von Fertigem? In unmittelbarer Nachbarschaft zum Portrait of the Artist with his Wife and Daughter hängt das berühmte Bild Mr and Mrs Andrews, das um 1748/1749 entstand. Mrs Andrews ist in sitzender Haltung dargestellt, in der linken Hand hält sie etwas, das man nicht genau sehen kann, man kann nur unterbrochene Linien und einen angedeuteten Umriss erkennen, und auch auf ihrem Schoß liegt etwas ausgebreitet, von dem nicht auszumachen ist, was es darstellt, es wirkt wie ein Fleck oder etwas Verwischtes. Ruft man wieder den erklärenden Text auf der kleinen Tafel zu Hilfe, die an der Seite des Ölgemäldes befestigt ist, liest man: „Robert Andrews married Frances Carter in 1748. The couple poses under an oak tree in a field where sheaves of ripe corn have been harvested. Mrs Andrews’ lap is unfinished; a space has been reserved for an unidentified object“ (Abb. 2). Dem Companion Guide der National Gallery lässt sich zu der unfertigen Stelle im Schoß von Mrs Andrews Folgendes entnehmen: „The nonchalant Mr Andrews, fortunate possessor of a game licence, has his gun under his arm; Mrs Andrews, ramrod straight and neatly composed, may have been meant to hold a book, or, it has been suggested, a bird which her husband has shot. In the event, a reserved 4 Ebd.
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space left in her lap has not been filled in with any identifiable object.“5 Wieder eine wolkige Stelle also, die hier als freigehaltener Platz gedeutet wird, bestimmt für ein Objekt, das noch kommen sollte, ein Buch oder einen vom Ehemann geschossenen Vogel. Die Auftragsarbeit Mr and Mrs Andrews wird häufig als Anschauungsbeispiel für den Zusammenhang genannt, in dem die Repräsentation von Besitz und die Geschichte der Malerei zueinander stehen. „Why did Mr und Mrs Andrews commission a portrait of themselves with a recognizable landscape of their own land as background?“6 Die Antwort auf diese Frage, die man bei John Berger findet, kommt ganz ohne Referenz auf die beschriebene unfertige Stelle in dem Gemälde aus: „The point being made is that, among the pleasures their portrait gave to Mr and Mrs Andrews, was the pleasure of seeing themselves depicted as landowners and this pleasure was enhanced by the ability of oil paint to render their land in all its substantiality.“7 Berger beobachtet eine Ähnlichkeit zwischen der Darstellung eines Gegenstandes und dem Akt des Kaufens: „Oil paintings often depict things. Things which in reality are buyable. To have a thing painted and put on a canvas is not unlike buying it and putting it in your house. If you buy a painting you buy also the look of the thing it represents.“8 Doch die Spur des Geldes zieht sich noch auf eine andere Weise durch dieses Bild, nämlich als Spur einer Spaltung zwischen Geld und Leidenschaft. Denn in der vertikalen Zweiteilung des Bildraums wird ein Konflikt lesbar, den Gainsborough sein Leben lang nicht loswurde: den Konflikt zwischen zwei Ökonomien, seiner Leidenschaft für die Landschaftsmalerei, die kaum Geld einbrachte, und seinem Widerwillen gegen die Portraitmalerei, welche die ökonomische Grundlage seiner Existenz bildete. Dass Mr and Mrs Andrews seit Bergers Ways of Seeing als „a potent emblem of wealth and privilege“9 diente, wird auch im Begleittext zur Reproduktion des Bildes im Ausstellungskatalog der Tate notiert. Den merkwürdigen hellen Fleck im Schoß der weiblichen Figur bezeichnet der Kommentator als „mysterious patch of unfinished painting on Mrs Andrews’s lap, which is usually understood as being intended to represent a game bird but has prompted various speculative explanations.“10 Der Text zählt diese verschiedenen Erklärungen nicht auf, sondern schließt das Thema mit den Worten: „It is possible that the artist simply never completed the picture, although the lack of finish seems so deliberate that it is tempting to interpret it as some sort of private joke.“11 Auch wenn dieser Kommentar als einer der wenigen 5 6 7 8 9 10 11
Erika Langmuir: The National Gallery Companion Guide, London 2006, S. 293. John Berger: Ways of Seeing (1972), London 2008, S. 101. Ebd., S. 102. Ebd., S. 77. Rosenthal/Myrone (Hg.): Thomas Gainsborough 1727-1788 (Anm. 2), S. 62. Ebd. Ebd.
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offen von der Versuchung zur Interpretation spricht, die von dem anscheinend absichtsvoll Unfertigen, dem Mangel an Vollendung, ausgeht, so lässt er doch eine Reihe von Fragen ungestellt: Wie lässt es sich erklären, dass Mr und Mrs Andrews das in ihrem Auftrag gemalte Portrait derart unfertig akzeptierten?12 Und um welche Art von private joke, um welche Anspielungsrede könnte es sich gehandelt haben? Deutet man die Stelle als freigehaltenen Platz für etwas, das noch fehlt, so könnte man sie als Anspielung auf Zeugung und Reproduktion, auf die zweifelhafte Fruchtbarkeit des weiblichen Schoßes, der hier abgebildet ist, verstehen. Man könnte die Stelle aber auch anders verstehen, nämlich als Fleck auf den Wunschsymbolen jener sozialen Schicht der landed gentry im England des 18. Jahrhunderts, die Mr und Mrs Andrews repräsentieren. Oder handelt es sich vielmehr um einen private joke des Künstlers mit sich selbst, insofern eine Leidenschaftsspur, die Spur der Lust beim Malen, die sich mit der Landschaftsmalerei verknüpft, genau im Schoß des Portraits wiederkehrt? Eine kleine lustvolle Rache des Künstlers, der sich für seinen Widerwillen am Portraitmalen entschädigt? Der geheimnisvolle Fleck, der im zitierten Kommentar als „mysterious patch of unfinished painting“ bezeichnet wird, bildet eine Stelle, an der Ähnlichkeit und Erkennbarkeit – als Wiedererkennbarkeit – auf dem Spiel stehen. Plötzlich sieht man sich vor die Frage gestellt, was man dort sieht. Doch scheint es sich an dieser Stelle nicht nur um ein zu wenig zu handeln, um eine entzogene Sichtbarkeit, sondern ebenso um ein zu viel, um eine sichtbare, nicht wiederzuerkennende Struktur, einen Materialfleck, eine reine Ansammlung von Farbe. Was in den erklärenden Texten als „unfinished painting“ benannt wird, ist dann eine Stelle, an der das Material sich selbst abbildet. Es ist, als ziehe sich der Maler als Akteur zurück und an seine Stelle träte die Selbsttätigkeit des Materials. Neben den beiden bisher erwähnten Gemälden Gainsboroughs hängen in der National Gallery zwei Portraits seiner beiden Töchter. Das eine, das 1760/1761 entstanden ist, trägt den Titel The Painter’s Daughters with a Cat. Auf der zugehörigen kleinen Texttafel an der Wand ist zu diesem Ölgemälde zu lesen: „The painting is unfinished and the outlines of a cat are just visible in the younger girl’s lap; her sister Mary is tweaking its tail. Mary is shown here aged about nine or ten; Margaret is eight or nine“ (Abb. 3). Der Versuch, das Unfertige in diesem Bild wiederzuerkennen, führt auf ein Gewirr von Linien in der unteren Bildmitte, in dem man den Umriss einer Katze entdeckt. Die Darstellung wirkt wie ein Schattenbild: Der Körper der Katze ist nur angedeutet, fast unsichtbar, doch die Form ihres Gesichts, ihres Kopfes mit den an den Spitzen dunkleren Ohren ist fast lückenlos, ebenso jene Stelle, wo die Hand des älteren Mädchens den Schwanz der Katze festhält. In zwei Faltblättern, die die National Gallery unter dem Titel Seeing Things. A Close Look at National Gallery Paintings herausgibt, um Kinder in das Sehen von Kunstwerken einzuüben, kommt dieses Portrait ebenfalls vor. Im „Trail for Juniors“, einem Rundgang für kleinere Kinder, heißt es zum Bild: „The artist did not
12 Bis zum Jahr 1960 blieb das Gemälde im Familienbesitz der Andrews. Vgl. ebd.
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Abb. 3: Thomas Gainsborough: The Painter’s Daughters with a Cat
finish this picture. Which part is most finished? (circle one). The background. The faces. The bodies.“13 Im „Trail for Seniors“, einem Rundgang für ältere Kinder, lautet der Kommentar zu dem Gemälde etwas anders: „Why do you think the artist did not finish this picture? (tick one). The girls would not sit still and he got fed up. He died before it was finished. They died before it was finished. He was dissatisfied with its progress. He was painting his own family and was therefore not being paid.“ In sehr viel kleinerer Schrift ist am Rand die Auflösung des Rätsels vermerkt: „The answer is … we don’t know. But we do know that no one died at the time it was painted.“14 Der Begleittext zur Abbildung des Gemäldes im Ausstellungskatalog der Tate dagegen vermerkt Folgendes: „‚The Painter’s Daughters with a Cat‘ is the most sketchy of these early double portraits, the presence of the snarling cat discernible only through a sketched outline.“15 Mag das Ausmalen der nur skizzenhaften Konturen der Katze mit dem Wort „snarling“ – fauchend – überraschen, so kommt mit 13 Seeing Things. A Close Look at National Gallery Paintings. The National Gallery, A Trail for Juniors. Written by Anthea Peppin. Illustrations Dominic Trevett. London o.J. 14 Seeing Things. A Close Look at National Gallery Paintings. The National Gallery, A Trail for Seniors. Written by Anthea Peppin. Illustrations Dominic Trevett. London o.J. 15 Rosenthal/Myrone (Hg.): Thomas Gainsborough 1727-1788 (Anm. 2), S. 184.
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Abb. 4: Thomas Gainsborough: The Painter’s Daughters Chasing a Butterfly
dem weiteren Kommentar des Katalogtextes ein neuer Aspekt ins Spiel. „The unfinished nature of the picture“, so heißt es nämlich, „reveals a good deal about Gainsborough’s technique at this time.“16 Das Unfertige im Bild wird nun interpretiert als Mangel, an dem aber doch etwas sichtbar wird, indem er über Arbeitsstufen und Arbeitstechniken Aufschluss gibt: „Having primed his canvas in brown, Gainsborough sketched the composition in white chalk or pastel, before working up the outlines of the figures in diluted brownish-black paint.“17 Auf dem anderen der beiden Portraits, The Painter’s Daughters Chasing a Butterfly, das ein paar Jahre früher, nämlich um 1756 entstanden war, konnte ich dagegen, an jenem Nachmittag in der National Gallery, auch nach langem Suchen nichts Unfertiges entdecken. Der erklärenden kleinen Tafel neben dem Bild war zu entnehmen, dass dieses Gemälde das früheste von sechs bekannten Doppelportraits sei, welche Gainsborough von seinen beiden Töchtern gemalt habe. „Mary, in yellow, is aged about six; Margaret is about four or five. The children’s attempts to grasp the butterfly suggest the impermanence of childhood. The painting is unfinished“ (Abb. 4). Ich suchte das Bild nach Anzeichen ab, die die Zuschreibung unfinished painting hervorgerufen haben könnten, konnte aber nichts Unfertiges erkennen. Ich überlegte, ob vielleicht eine bestimmte undeutliche Stelle an der Un16 Ebd. 17 Ebd.
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terseite des linken Fußes des jüngeren Mädchens, das Margaret genannt wurde, gemeint sein könnte. Der Ausstellungskatalog der Tate half nicht weiter, da das Portrait in ihm fehlte. Ist das Unfertige in den Bildern Gainsboroughs doch als eine codierte Stelle zu sehen? Gibt es eine historische Signifikanz, aufgrund welcher eine bestimmte Malweise, bestimmte Pinselstriche sich die Kategorisierung als „unfinished painting“ zuziehen? Deutet man das Unfertige als Stelle einer verfehlten Ähnlichkeit, einer unlikeness, gerät man unwillkürlich in das Gebiet jenes historischen Regelwerks, dem die zeitgenössischen Erwartungen, wie ein Bild auszusehen habe, entspringen. Gainsboroughs lebenslanger Rivale, der Maler Joshua Reynolds, Präsident der 1768 gegründeten Royal Academy, urteilte in seinen Discourses on Art über dessen Malweise in einer oft zitierten Äußerung, die ebenso von Ärger wie von Bewunderung geprägt scheint: all those odd scratches and marks, which, on close examination, are so observable in Gainsborough’s pictures, and which even to experienced painters appear rather the effect of accident than design; this chaos, this uncouth and shapeless appearance, by a kind of magick, at a certain distance assumes form, and all the parts seem to drop into their proper places.18
Wird die Zuschreibung „unfinished“ so als polemisches Argument im zeitgenössischen Kunstdiskurs kenntlich, so steckte in solcher Polemik doch zugleich die Anerkennung, „that the relationship between the physical mark and the resulting image was not simply natural, but a form of ‚magick‘ which could be disturbing.“19 Eine Form des Magischen also, die verstören konnte. Die jüngere Forschung zu Gainsborough sah darin gelegentlich ein Vorzeichen auf die Malerei der Moderne. Handelt es sich demnach bei jenen wolkigen Stellen in Gainsboroughs Gemälden um Einsprengsel einer noch ausstehenden Moderne? Bezeichnet das Unfertige in den Bildern solche Stellen, an denen Techniken ausprobiert werden, die mit verschiedenen Materialien und Medien experimentieren und gerade den Übergang von Zeichnung und Malerei erforschen?20 Gainsboroughs Lust am Experimentellen, seine Faszination für Stoffe, Texturen und fließende Oberflächen, ist jedenfalls unübersehbar. Seine Landschaftsbilder aus den 1770er und 1780er Jahren zeigen, so Michael Rosenthal und Martin Myrone, „a restless experimentation quite in de18 Sir Joshua Reynolds: Discourses on Art, hg. v. Robert R. Wark, New Haven/London 1975, S. 257 f. 19 Rosenthal/Myrone (Hg.): Thomas Gainsborough 1727-1788 (Anm. 2), S. 12. 20 Als Beispiele dafür könnten auch jene experimentellen Zeichnungen Gainsboroughs aus den Jahren 1771 und 1772 gelten, die Ölgemälde imitierten. Noch jüngst wurden manche dieser Werke katalogisiert als „unfinished ‚lay-in‘, that is, the initial sketch of a landscape composition that would be worked up into a finished state“. Rosenthal/Myrone (Hg.): Thomas Gainsborough 1727-1788 (Anm. 2), S. 240. Entsprechend der ästhetischen Hierarchisierung der Royal Academy waren Zeichnungen oder Aquarelle von minderem Wert; sie konnten nur Studien oder Skizzen sein, das heißt Vorarbeiten zum Zweck der Vorbereitung eines vollendeten Gemäldes.
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fiance of academic distinctions between drawing and painting, finish and unfinished, sketch and completed work, and, in the form of his transparencies, an acute sense of the importance of lighting and optics“.21 Zeugt also das Unfertige nicht von einem Misslingen, sondern vielmehr vom Experimentieren und der Lust daran? Die Verdikte, die in den zeitgenössischen Kommentaren zu Gainsboroughs Bildern begegnen – die Rede vom Übermaße, vom „excess“22, vom Ausschweifenden („licentious“23) seiner Malweise, vom Ungewissen, Schwankenden und Fluktuierenden („uncertain and fluctuating“24) seiner Pinselstriche –, lassen etwas von dieser reinen Lust noch durchschimmern. Das Unfertige erscheint demnach zwar als paradigmatische Stelle eines Ausbruchs – im Sinn Walter Benjamins: „das, was aus dem Kontinuum ausbrechen wollte, was etwas anderes wollte, es aber doch nicht erreicht hat“25 – und zugleich eines Wartens, insofern Unfertig-Lassen bedeutet, einen Platz leer zu lassen für etwas, das noch nicht gekommen ist, für ein unidentifiable object, für etwas Uneingelöstes.26 Doch könnte in ihm auch etwas anderes zum Vorschein kommen, nämlich die Spur einer reinen sinnlichen Lust, einer ungezügelten Freude am Experimentieren. Dennoch bleibt die damit hergestellte Transparenz um die Frage nach dem Unfertigen in Thomas Gainsboroughs Bildern, von der ich ausgegangen war, unvollkommen. In der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste, wie in der Theorie überhaupt, ist ja das Unfertige – sieht man vom Fragment ab – nicht zum Gegenstand geworden. So bleibt auch im Diskurs darüber vorläufig etwas Wolkiges und ein ungelöster Rest.
21 Rosenthal/Myrone (Hg.): Thomas Gainsborough 1727-1788 (Anm. 2), S. 23. Gainsborough experimentierte seit Mitte der 1770er Jahre auch mit verschiedenen Drucktechniken. Ebd., S. 236. Er stellte Drucke her, die Zeichnungen zum Verwechseln ähnlich sahen, und widersprach damit der Vorstellung, dass Drucktechniken vor allem als Reproduktionstechniken – zur Reproduktion von Zeichnungen und Gemälden – zu denken seien. Ebd., S. 258. Außerdem konstruierte er Anfang der 1780er Jahre für sich eine sogenannte showbox, eine technische Vorrichtung, die aus einigen von ihm selbst mit verschiedenen sujets, vor allem Landschaften, bemalten, beweglichen Glasplättchen bestand. Diese wurden von der Rückseite her mit Kerzenlicht beleuchtet und durch ein davor montiertes Vergrößerungsglas angeschaut. Vgl. ebd., S. 256. 22 Ebd., S. 120. 23 Ebd., S. 244. 24 Ebd., S. 128. 25 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, Bd. V.1, S. 59. 26 Dies würde vielleicht auch zugleich die Stelle bezeichnen, wo das Unfertige vor der Erkenntnis eines Versäumten schützt.
ANNE DUDEN
Vom Auge abgesehen
Eine grüngraue Gewitterluft Eine kinderlose Stille soll mich das Bild versehen mit Blicken ausersehen für Aufruhr und Ruhe TURMOIL AND TRANQUILLITY or THE WILDER (the milder) SHORES OF LOVE.
Nachts, abends die Flugaugen eingetunkt höre ich Herzen im Zusammenhang bis hin zur ausufernden Ohrhurerei während auf der Tiefe aus rußiger Dunkelheit Lichtpunkte und -fäden -bahnen, -flüsse, -ketten und ganze Bündel und Netze pulsieren und etwas weiter zurück schon als goldgelber Leuchtdunst und -nebel in Wölkchen und Schwaden dahingleitet immer auf die Vergangenheit zu den fernen Schmelz der Hermelingletscher in den zustaubenden Tälern der Familienwappen.
Gescheh-, Ereignisse und Gründe lasse ich weg. Genug, daß ich selbst ständig darüber hinwegsehen und -gehen muß. Und Taten gab es schon lange nicht mehr in dem Alter.
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Spukt doch im Garten spuckt doch das Kehlchen mich an oder schnippte, schnalzte zungengewandt ihn im hohen Bogen mir zu den kleinsten untrag-, unaustragbaren Kernrest eingedicktes Kügelchen bloß zusammengebackt und gebacken in größter Hast aus dem Innigsten der Innereien meines nun immer hinter mir liegenden Toten. Und nie hätte ich ihn vorm Steilabfall zurückhalten oder abfangen können.
Im Wellen-, im Sehgang der Blicke sträubt sich das Meer jetzt gegen die Küste oder scheut das Land vielleicht nur die anbrandenden Wassermassen die erst der Horizont wieder beruhigt der ja allem geneigt zu sein scheint.
Die Augen, aufgeklappt laufen mit aus sich verdünnender Schleim unter gleitenden Möwenschatten und zerstiebendem Perlmuttpulver fahren mit aus der Iris unterm Schutz der Nickhäute auf die Ruhe zu gehen ins Schleppnetz aus Silberstreifen in die Bildfalle erleichtert, geleert bis auf einige Schmachtfetzen in den alternden Höhlen die sich weiterhin kreuzen möchten sehnlichst durchaus mit Stürmen und Tönen vor allem und unzähligen Vegetationsgöttern.
VOM AUGE ABGESEHEN
Eine anhaltend windstille Fläche die See noch hauchlose Glätte tintigen Spiegels voll stehengebliebener, unauslotbarer Wolkenfluchten auf der Schiffsrümpfe und Fischerboote diese Schalenkörper, Fleuten und Pinken mühelos vom Abgrund getragen nun lagern. Und keinerlei Starre kann eintreten durch die endlos weitergehenden Erscheinungen: den Bäuchen zuunterst entwachsende Leucht- und Schattenlaken Tuch, das in die spielende Tiefe sich bläht ermattetes Segelwerk, das, tauchend zu Prismen sich strafft kopfüber rundet zu Gewölben durch Wasserlamellen und -falten gestützt zum Labyrinth aus Flügelwäsche fügt zum Irrgarten aus unhörbar flappenden Hautkammern und Augenwinkeln.
Hier könnte ich untergehen. Verlaufe, verliere mich! Aber ich will nur Land sehen an Land gehen mit im Laub mitten im Laub stehen im Tanzwachstum das mit bloßem Auge nicht zu verfolgen ist und doch den Kopf, den ganzen Rest mir verdreht auf immer englisch erregungs- und hingabebereit gesteht sich’s.
Versetzt auf den Nebenschauplatz dieses Mischlebens schlägt nur immer aufs Neue der Kern jenes Kügelchen durch und aus tritt, wieder und wieder, entzündet, geschwollen aus der Kapselung der Schutzhülle aus Speichel dem Spuckmantel
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erhitzt sich fiebert und glüht in einem Zug fliegt beim leisesten Hauch wie im Funkenflug auf und besetzt so die Gegend aus Herzleere das verlassene Körpernest das selbst bei der Winzigfüllung schon zu vibrieren anfängt, sich weitet Haut um sich legt und rundum Flämmchenzungen austreibt aus dem entfachten Innigsten das sich nun und in Zukunft einzig in Ton-, Luft- und Lustschrift fassen und abfassen läßt abrufbar – zutiefst – zwischen Wänden, Mauern und Decken zumal wo die Waberlohe der an- und absteigenden Stimmen den Taupunkt schützend umgibt.
TURMOIL AND TRANQUILLITY. The sea through the eyes of Dutch and Flemish masters, 1550-1700. Titel einer Ausstellung von Seebildern im National Maritime Museum, Queen’s House, Greenwich (Juni 2008 – Januar 2009) THE WILDER (the milder) SHORES OF LOVE leicht abgewandelter Titel eines Bildes von Cy Twombly Die in mehreren Strophen auf- und abtauchenden Seestücke: Jan van de Cappelle (1624/261679 Amsterdam). Färber, erfolgreicher Unternehmer, bedeutender Kunstsammler seiner Zeit. Als Maler Autodidakt. Malte ausschließlich See- und Winterbilder. Das Herztongewebe aus dem Hintergrund der letzten Strophe: Motette „La déploration de Jehan Okeghem“ von Josquin Des Pres (in der Aufnahme mit Alfred Deller).
MONIKA WAGNER
Das zerbrochene Glas Opake Kommentare in einem transparenten Medium Gegenüber der Repräsentation von Passionen, deren Beherrschung im Körperbild, insbesondere der Physiognomie, ebenso suggeriert wie trainiert wurde, lassen sich Darstellungen zerschlagener Glasscheiben als Kristallisationen vergangener Passionen verstehen. Zerstörte Scheiben schützender Vitrinen und gerahmter Bilder konnten ein Kunstwerk kommentieren und so die offensichtlich leidenschaftliche Auseinandersetzung des Betrachters mit dem Werk vermitteln. Olaf Metzels Eichenlaubstudie aus dem Jahr 1986 (Abb. 1) zeigt eine offenbar eingeschlagene Vitrine, in der weiße Gipsabgüsse als Porträtbüsten, als Totenmasken oder in ganzer Figur aufbewahrt sind. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass hier mehr zu Bruch ging als nur Glasscheiben. Auch die in der Vitrine aufbewahrten Gipsabgüsse von Heroen aus der deutschen Geschichte in unterschiedlichsten Formaten sind nicht unversehrt geblieben. Einzelne Figuren weisen tiefe Schnitte auf, die als Verletzungen der Porträtierten figurieren. Überdimensionierte Eichenlaubblätter aus Gips bringen die Größenverhältnisse der Figuren ins Wanken. Eine Plexiglasvitrine der zweiteiligen Installation wurde mit einer Stichsäge1 so suggestiv bearbeitet, dass der Eindruck entsteht, sie bestünde aus Glas, das durch gezielte Schläge zertrümmert wurde. Der vermeintliche Einschlag liegt im Schnittpunkt der Diagonalen und hat im mittleren Regalboden zum Sturz der auf Christian Daniel Rauch zurückgehenden Büste des Komponisten Gaspare Spontini geführt.2 Wir haben es also einerseits mit einem Trompe-l’œil-Effekt zu tun, denn das relativ flexible Plexiglas, das nicht splittert, wurde so zugeschnitten, dass es zerstörtes Glas simuliert. Gleichwohl zeugt die imitatorische Behandlung des Materials nicht von einem illusionierten, sondern einem physischen Gewaltakt, der sich auf die Figuren hinter der Scheibe beziehen lässt. Das zerbrochene Glas und die verletzten Figuren in der Vitrine stehen demnach in einem engen Verhältnis zueinander. Metzels Vitrinenstück lässt sich dem Trompe-l’œil eines mit Kostbarkeiten aller Art voll gepackten Kunstkammerschranks von Domenico Remps vergleichen (Abb. 2), dessen Scheiben zersprungen sind.3 Trompe-l’œil-Malereien4, in denen Gläser 1 Uwe Schneede: „Eichenlaubstudie von Olaf Metzel“, in: Kunst und Antiquitäten 12, 1990, S. 54-55. 2 Jutta v. Simson: Christian Daniel Rauch. Oeuvre-Katalog, Berlin 1996, Nr. 153. 3 Vgl. Sybille Ebert-Schifferer (Hg.): Deceptions and Illusions. Five Centuries of Trompe l’Oeil Painting, Ausstellungskatalog National Gallery of Art (u. a.), Washington D.C. 2002, Nr. 65. 4 Einen sehr guten Überblick bietet Ebert-Schifferer (Hg.): Deceptions and Illusions (Anm. 3).
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Abb. 1: Olaf Metzel: Eichenlaubstudie, 1986, Vitrine aus Acrylglas; Gips (Besitz des Künstlers)
oder Glasscheiben im Zentrum stehen, gehören zu den Höhepunkten des Genres. Sie spielen mit der Unsichtbarkeit des Materials, indem sie dessen Transparenz etwa durch Sprünge und die damit einhergehenden Lichtbrechungen in den Bereich der Sichtbarkeit überführen. Zu den als genuin betrachteten Eigenschaften seiner Materialität gelangt Glas erst, wenn es vollkommen transparent oder, wie es in den Fachbüchern der Glasmacherkunst, so in Johannes Kunckels Ars vitraria heißt, ‚vollkommen rein‘ sei. Darstellungen solchermaßen ‚reiner‘ Gläser steigern den Effekt der Augentäuschung gegenüber anderen Materialien und demonstrieren die Fähigkeiten des Malers, den Eindruck eines als immateriell gewürdigten Materials zu erzeugen. Zahlreiche Stillleben des 17. Jahrhunderts zeigen gläserne Trinkgefäße als nahezu materielose Lichtgebilde. Maler wie der Gläserspezialist Sebastian Stosskopff haben kostbarste Prunkgläser zerbrochen dargestellt und sie dadurch programmatisch der Vergänglichkeit unterworfen. Im Unterschied zu Metzels gewaltsamem Einschlag thematisiert Remps’ Kunstkammerschrank einen Stosskopffs Stillleben vergleichbaren Angriff der Zeit auf die begehrenswerten Schätze der Welt. Während die Uhr auf dem vorderen Bord die verrinnende Zeit exakt misst,
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Abb. 2: Domenico Andrea Remps: Kunstkammerschrank, Ende 17. Jahrhundert, Öl auf Leinwand (Museo dell’Opificio delle Pietre Dure, Florenz)
weisen die zersprungenen Glasscheiben und herausgefallenen Scherben auf deren zerstörerische Effekte, denen über kurz oder lang auch die Raritäten des Kunstkammerschranks nicht entgehen werden. Das Spiel mit der zerbrochenen Glasscheibe – nicht von Schränken und Vitrinen, sondern von Bildern – gewann im 18. Jahrhundert in Trompe-l’œil-Darstellungen von Kunstwerken an Bedeutung. Voraussetzung dafür war die Praxis des Verglasens von Bildern. Die unscheinbare, weil eigentlich auf Unsichtbarkeit angelegte Verglasung etwa von empfindlichen Pastellen, aber auch von Zeichnungen und von druckgraphischen Blättern, fand zunehmend Verbreitung. Gründe dafür sind in der Ausstellung graphischer Medien im öffentlichen Raum ebenso wie in der Verbilligung der Herstellung von Flachglas zu sehen. Es waren also graphische Arbeiten, die durch Glasrahmen5 geschützt wurden. In den Trompe-l’œil übersetzt, figurierte die gesprungene Glasscheibe nicht länger als Schutz, sondern eher als Gefahr für das Werk wie für dessen Betrachter. 5 Zur Glasrahmung von Graphik vgl. Stephan Brakensiek: Vom „theatrum mundi“ zum „Cabinet des Estampes“. Das Sammeln von Druckgraphik in Deutschland 1565-1821, Hildesheim/ Zürich 2003, S. 376-378.
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Es ist schon mehrfach geltend gemacht worden, dass es vor allem Maler aus der französischen Provinz waren, die im Trompe-l’œil ihre Kunstfertigkeit unter Beweis stellten.6 Sie waren es auch, die immer wieder Bilder anderer Künstler unter zerbrochenen Glasscheiben darstellten. In der täuschenden Imitation des Werks eines anderen berühmteren Künstlers konnten sie spielerisch die Ebenbürtigkeit ihrer Kunst behaupten, und zwar gerade dadurch, dass sie in einer medialen Verschiebung eine Reproduktionsgraphik augentäuschend in Malerei transferierten. Gegenüber der mit der Augentäuschung eines Kunstwerks einhergehenden Selbstverleugnung der eigenen Erfindungskraft und Meisterschaft bot der Einsatz einer zerbrochenen Glasscheibe neue Möglichkeiten. In den Trompe-l’œils graphischer Blätter bilden die scheinbar zerborstenen Scheiben, deren Sprünge und Scherben das Glas erst sichtbar werden lassen, formal betrachtet, ein vollkommen abstraktes Muster, das über der Oberfläche des Bildes liegt. Die stets bildparallel dargestellte Glasscheibe kann als Oberfläche eines Bildes im Bild erscheinen, oder sie kann selbst als Bildoberfläche auftreten. Die Sprünge in der Glasscheibe, die herausgebrochenen und sich übereinander schiebenden Glasscherben dienen als Mittel, um eine zweite Ebene über das dargestellte Bild zu legen. Als formales Muster der Zerstörung interagiert das zersplitterte Glas auf oftmals drastische Weise mit dem Sujet des darunter liegenden Bildes. So zeigt etwa ein anonymes Gemälde auf einem täuschend dargestellten Brett mit Holzmaserung und Astlöchern eine gerahmte Graphik unter einer zerbrochenen Glasscheibe nebst weiteren Utensilien. Die gemalte Graphik hat die burleske, vor allem im niederländischen Raum des 17. Jahrhunderts verbreitete Darstellung einer Operation zum Thema (Abb. 3) und ist mit Le Chirurgien betitelt.7 Die Szene geht auf ein Gemälde Adrian Brouwers zurück, welches auch als Das Gefühl in der Folge der fünf Sinne figurierte. In einer von mehreren Variationen des Trompe-l’œils, die − wie die auf dem Bild im Bild zu sehende Signatur angibt − von Gabriel-Gaspard Gresly stammt und um 1750 zu datieren ist, erscheint das gleiche graphische Blatt ohne Rahmen und Verglasung.8 Stattdessen wurde es anscheinend mit Nägeln und Siegellack krude auf der Holzplatte befestigt. In beiden Gemälden ist der Stich ganz wörtlich als Gebrauchsgraphik dargestellt. Aber dort, wo das Bild im Bild unter der in scharfen Kanten zersplitterten Glasscheibe erscheint, legt es auf suggestive Weise eine Verbindung von szenischer Darstellung und dem Glasbruch nahe. Der Schmerz der Operation, bei welcher der Chirurg den Oberarm eines jungen Man6 Vgl. Susan L. Siegfried: The Art of Louis-Léopold Boilly. Modern Life in Napoleonic France, New Haven/London 1995, S. 181. 7 Brouwers Gemälde datiert um 1635 und ist in mehreren Versionen bekannt. Eine davon befindet sich in der Alten Pinakothek München. Mehrere Radierungen waren in Umlauf. Vgl. auch Martin Battersby: Trompe-l’oeil. The eye deceived, London 1974, S. 140. Dasselbe graphische Blatt erscheint unter anderem auch in dem Trompe l’œil eines Bibliotheksschranks von Gaspard Gresly. (Vgl. Le Trompe-l’œil. Plus vrai que nature?, Ausstellungskatalog Musée de Brou, Bourg en Bresse 2005, Abb. S. 56.) 8 Le Trompe l’œil. Plus vrai que nature? (Anm. 7), S. 59.
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Abb. 3: Anonym: Le Chirurgien, 18. Jahrhundert, Öl auf Leinwand (Verbleib unbekannt)
nes mit einem Messer traktiert, so dass Blut fließt9, wird durch die scharfkantigen Glasscherben wirksam verstärkt. Die wechselseitige Übertragung steigert die Vorstellung von der Verletzlichkeit der sensiblen Oberflächen: Die Haut des Patienten ist so gefährdet wie der gläserne Schutz des Bildes und das fragile, in Fetzen herabhängende Material des Bildträgers. Doch nicht allein innerbildlich, sondern auch nach außen, in Relation zum Betrachter, signalisiert das zerbrochene Glas Verletzung. Vergleichbar, wenn auch weniger illustrativ, argumentiert auch der Trompe-l’œil eines männlichen Aktes unter zerbrochenem Glas. Die illusionierte Radierung10 stammt von dem Bildhauer und Mitglied der Académie Royale, Edmé Bouchardon. Der im Ölgemälde grisaillehaft dargestellte Akt liegt wiederum unter einer zerbro9 Claudia Benthien hat darauf hingewiesen, dass die Darstellung des Gefühls im 17. Jahrhundert als Schmerz vergegenwärtigt wurde. Vgl. Claudia Benthien: „Hand und Haut. Zur historischen Anthropologie von Tasten und Berührung“, in: Zeitschrift für Germanistik NF 8/2, 1998, S. 335-348, bes. S. 339 ff. 10 Vgl. Marie-Dominique Joubert (Hg.): Gaspard Gresly 1712-1756, un peintre franc-comtois au XVIIe siècle, Ausstellungskatalog Musée des Arts et d’Archéologie, Besançon 1994, Nr. 35. In der Katalognummer zum Bild wird argumentiert, es handele sich um eine Radierung, weil im Bild die Inskription „Bouchardo(n) fecit“ dem G. „Gresly pixit“ gegenüber gestellt ist. Es könnte jedoch auch ein Spiel sein, in dem der Maler des Trompe-l’œil sich gegenüber dem Entwerfer positioniert.
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Abb. 4: Laurent Dabos: Friedensvertrag zwischen Frankreich und Spanien, nach 1801, Öl auf Leinwand (Musée Marmottan, Paris)
chenen Glasscheibe, so dass die Scherben den nackten, antikisch dargestellten Männerkörper zu berühren und durch die unterschiedliche Färbung der herausgebrochenen Teile zu fragmentieren scheinen. Auf diese Weise interagiert das zerbrochene Glas mit der Darstellung der nackten Haut wie des Papiers, auf dem die nackte Haut dargestellt ist. Der Maler des Trompe-l’œil, Gabriel Gaspard Gresly, führt gewissermaßen eine Überbietung des Vorbilds vor. Solchermaßen werden im Trompe-l’œil von Arbeiten auf Papier mit unterschiedlichen Motiven, denen nackte Haut gemeinsam ist, Glasscherben zur drastischen Suggestion des Gefühls von Verletzung oder Gefährdung eingesetzt. Da die Zerstörung der gläsernen Membran zwischen Bild und Betrachter nach innen wie nach außen wirkt, erscheint der Betrachter nicht nur gefährdet, sondern auch als potentieller Aggressor. Anderer Art sind die Verletzungen, die Laurent Dabos, ein 1762 in Toulouse geborener Maler, in einem Gemälde aus der Zeit um 1800 durch die zerbrochene Glasscheibe insinuiert (Abb. 4). Zwischen der zerborstenen Glasscheibe und darunter liegenden Bildern und Schriftstücken entsteht insofern eine Beziehung, als es sich um einen Friedensvertrag, um den Traité definitive de Paix handelt. Dargestellt ist der Vertrag, der am 1. Oktober des Jahres 1800 zwischen Napoleon und Karl IV. in San Ildefonso auf Druck Frankreichs geschlossen wurde und schon zwei Vorgänger hatte. Das Gemälde macht klar, dass es sich um ungleiche Vertragspartner handelt, fallen doch die Porträts der Vertreter von Frankreich und Spanien nicht nur in ihrer Größe und innerbildlichen Positionierung, sondern auch durch die verschie-
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Abb. 5: François Jouvenet: Trompe-l’œil des Stichs nach Nicolas Lancrets „La Servante Justifiée“, Mitte 18. Jahrhundert, Öl auf Leinwand (Privatsammlung, Paris)
denen Medien der Repräsentation unterschiedlich aus. Man kann daraus schließen, dass der Maler, der auch die Bedeutung anderer Verträge, wie den der Menschenrechte von Thomas Paine, bildlich inszenierte, für ein französisches Publikum malte. Allerdings scheint auch der definitive Friedensvertrag nicht viel wert zu sein, wie das zerborstene Glas deutlich macht. Zudem zeigt die Darstellung, dass offenbar die Verhältnisse ins Rutschen geraten sind. Vermutlich entstand das Bild nach 1808, als Frankreich die im Vertrag übereigneten spanischen Kolonialgebiete von Louisiana schon längst an die Vereinigten Staaten verkauft und Napoleon Spanien besetzt und Karl IV. abgedankt hatte. Das zerbrochene Glas legt dem Betrachter nahe, die Validität des Vertrags ebenso zu reflektieren wie die Beziehung der staatlichen Repräsentanten als Vertragspartner – je nachdem, wann das Bild genau zu datieren ist und wann es von wem betrachtet wurde, mögen diese Reflexionen unterschiedlich ausfallen. Doch lässt sich festhalten, dass im Trompe-l’œil die zerbrochenen Glasscheiben der Bilderrahmen auf ebenso subversive wie ironische Art ein gewisses Potential von Gewalt oder Verletzung aktivieren können. Durch den erst in seiner Zerstörung sichtbar werdenden Schutz der Bilder und Dokumente wird eine Ebene gewonnen, die es erlaubt, sie als visuelle Kommentierung einzusetzen.
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Abb. 6: Nicolas de Larmessin nach François Jouvenet: La Servante Justifiée, Stich
Die zerbrochene Glasscheibe bot den Malern − und das ist entscheidend − ein Instrument, mit dem sie im Trompe-l’œil zum Werk eines anderen Künstlers direkt Stellung nehmen konnten. Der gezielte Einsatz derartiger Künstlerkommentare, der offenbar in Frankreich verbreitet war und sich nicht allein auf das niederländische Bauerngenre des 17. Jahrhunderts, sondern auch auf zeitgenössische französische Vor-Bilder bezog, soll an einem für die Mitte des 18. Jahrhunderts besonders interessanten Beispiel näher ausgeführt werden. Es war François Jouvenet, ein Porträtmaler aus Rouen, der in einem Trompe-l’œil durch eine zersprungene Glasscheibe ein typisches Thema der französischen Rokokomalerei aufspießte und kommentierte (Abb. 5).11 Genauer gesagt bezieht sich Jouvenet mit seinem monochromen Trompe-l’œil auf den Reproduktionsstich (Abb. 6) eines in Feinmalerei auf Kupfer ausgeführten Gemäldes12 seines ungleich bekannteren Pariser Kollegen, Nicolas Lancret. Dargestellt ist eine so genannte galante Szene, in der sich eine männliche Figur in der Garderobe des frühen 18. Jahrhunderts in einer Gartenszene zu einer am Boden hingelagerten oder gestürzten Frau hinab beugt. Offenbar hatte die weibliche Gestalt zuvor Rosen gepflückt, die aus ihrer Schürze herausgefallen sind und nun verstreut auf dem Boden liegen. Die Szene wird von einer zweiten weiblichen Figur aus einem weiter zurück liegenden Haus beobachtet. Auf
11 Vgl. Michel Faré/Fabrice Faré: La vie silencieuse en France. La nature morte au XVIIIe siècle, Fribourg 1976, S. 402 f. 12 Nicolas Lancret: „La Servante Justifiée“, 27 x 35 cm, 1735-40, Metropolitan Museum of Art, New York.
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der Höhe der Schulter des sich vornüber beugenden Mannes liegt der Punkt, von dem spinnwebartig nach allen Seiten ausgreifende Sprünge im illusionierten Glas ausgehen. Ein Schlag von außen scheint nicht allein die Glasplatte, sondern auch den Mann getroffen zu haben. Ein Segment des zersprungenen Glases ist offenbar herausgefallen. Der dadurch entstandene helle Keil führt zu der Frau am Fenster, so dass die Beobachtung der Szene im Garten hervorgehoben wird. Lancret war bekannt für seine Darstellungen galanter Szenen, wie sie bei Hofe hoch geschätzt wurden, die aber auch im öffentlichen Raum, etwa bei den jährlichen Ausstellungen auf der Pariser Place Dauphine, zu sehen waren. Die galanten Themen gerieten jedoch in der sich konstituierenden bürgerlichen Öffentlichkeit schon in vorrevolutionärer Zeit zunehmend in Verruf. Sie galten als moralisch verwerflich und daher der Kunst unwürdig.13 Sie als Augentäuschung darzustellen demonstrierte, dass man das Genre beherrschte und ihm mit Witz begegnen konnte. Das von Jouvenet aufgenommene Motiv gehört zu den wohl am häufigsten bildlich dargestellten literarischen Themen im Ancien Régime. Es bezieht sich auf La Servante Justifiée aus den Contes et Nouvelles von Jean de La Fontaine aus dem Jahr 1666. Ohne auf die literarische Erzählung näher eingehen zu wollen, ist für unseren Zusammenhang lediglich die poetisch-witzige Thematisierung der Verführungskunst und ihrer ebenso kunstvollen Verhüllung von Interesse. Schon Pieter de Hooch im ausgehenden 17. Jahrhundert, dann Nicolas Cochin um 1745, später Charles Eisen ebenso sowie Jean-Honoré Fragonard haben neben variierenden anderen Motiven immer wieder die von Lancret thematisierte Schlüsselszene dargestellt: Ein verheirateter Mann verführt die Kammerzofe seiner Gattin im Garten, während die Szene von einer Nachbarin beobachtet wird. Das „schmucke Zöfchen“, so heißt es in La Fontaines Text, war gerade beim Blumenpflücken für Madame, die Geburtstag hatte, als sich ihr eine andere Perspektive eröffnete und sie so zu ihrem eigenen Fest gekommen sei.14 Sowohl der seitenverkehrte Reproduktionsstich als auch der Trompe-l’œil sind gegenüber Lancrets Gemälde eindeutiger. In der Reproduktionsgraphik wird die Bildsituation durch ein vierzeiliges Zitat aus La Fontaines Novelle erläutert. Doch der Trompe-l’œil hat den Text nicht übernommen, obwohl er sich durch die Monochromie und die seitenverkehrte Darstellung auf den Reproduktionsstich, nicht auf das Gemälde bezieht. Doch finden sich auch einige Unterschiede zwischen dem innerbildlich eng am Gemälde orientierten Stich und dem Trompe-l’œil: So zeigt sich z.B. die weibliche Gestalt in ihrem physiognomischen Ausdruck gegenüber dem vermeintlichen Helfer weniger neckisch, und im Gebüsch des Gartens fehlt die großfigurige Herme, ursprünglich das Kultbild für den antiken Gott und Signum der Zeugungskraft. Statt derartig gelehrter Verweise, die ein gebildetes Publikum voraussetzen, kommentiert nun die zersprungene Glasscheibe den Fall des 13 Gerrit Walczak: Bürgerkünstler. Künstler, Staat und Öffentlichkeit im Paris der Aufklärung und der Revolution, Habilitationsschrift (MS), Hamburg 2008, Teil 3, bes. S. 279 ff. 14 Jean de La Fontaine: „Die gerechtfertigte Kammerzofe“, in: Ders.: Sämtliche Novellen in Versen. Zweisprachige Ausgabe, München 1981, S. 202-211.
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Abb. 7: Gaspard Gresly: Trompe-l’œil von Nicolas Lancrets „Der Winter“, Mitte 18. Jahrhundert, Öl auf Leinwand (Privatsammlung)
Mädchens und indiziert auch für literarische Ignoranten (die weder mit La Fontaines La Servante Justifiée vertraut waren, noch von der 1740 in Paris aufgeführten Komischen Oper von Charles-Simon Favart mit Fagan de Lugny gehört hatten) den Verlust der Unschuld. Man könnte auch sagen: Das Lustspiel wird moralischpopulär – ohne allerdings seinen Witz einzubüßen. (Im zerbrochenen Glas mag man im Übrigen eine Vorprägung von Heinrich von Kleists Zerbrochenem Krug sehen.15) Der Trompe-l’œil-Maler hat also die innerbildlichen Unterschlagungen ebenso wie den Textkommentar der Graphik durch den visuellen Kommentar der zerbrochenen Glasscheibe und damit durch eine formal vollkommen abstrakte Struktur ersetzt. Es ist schwer zu beurteilen, aus welcher Perspektive Lancrets Ge15 Heinrich von Kleists 1808 in Weimar uraufgeführtes Lustspiel war nach eigenen Aussagen durch einen Stich nach Jean-Baptiste Greuzes Gemälde „Der zerbrochene Krug“ angeregt worden.
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Abb. 8: Jean Duplessi-Bertaux: L’Innocence, spätes 18. Jahrhundert, Öl auf Leinwand (Privatsammlung, Paris)
mälde im Trompe-l’œil kommentiert wurde. Es bleibt offen, ob es sich um ein moralisches Lehrstück oder um die ironisch pointierte Thematisierung des moralischen Furors vorrevolutionärer Zeit handelte, welcher den Gott aus der Szene verbannte und in Gestalt des zersprungenen Glases über die losen Sitten lästerte. Jedenfalls thematisiert die zertrümmerte Scheibe einen leidenschaftlichen Dissens mit der Bilderzählung. Der Trompe-l’œil einer weiteren Graphik unter einer zerbrochenen Glasscheibe nach dem Gemälde Der Winter von Nicolas Lancret stammt von Gaspard Gresly (Abb. 7). Auch hier wird die genrehafte Szene durch die zersprungene Scheibe drastisch kommentiert. Diesmal ist, Duplessi-Bertaux’ vergleichbar, die Bildunterschrift der Graphik in den Trompe-l’œil aufgenommen worden. Dadurch wird die ursprüngliche Szene, in der eine Frau sich von dem neben ihr knienden Mann einen Schlittschuh anschnallen lässt, während ein zweiter schon aufs Eis lockt, auf zweifache Weise erläutert. Die Bildunterschrift warnt vor dem „dünnen Kristall“ und vor dem „Abgrund unter dem Eis“, der so ausfalle wie „bei euren Vergnügungen die dünne Oberfläche“. Im Trompe-l’œil vollzieht das zerbrochene Glas anschaulich den im Text warnend antizipierten Bruch der Eisschicht. Durch die Zuordnung der beiden Einschlaglöcher in der Glasscheibe zu den beiden männlichen Figuren werden sie gewissermaßen von außen attackiert; zugleich wird nahe gelegt, dass es um die bereits verlorene Unschuld des Mädchens geht.
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Die verlorene Unschuld jedenfalls ist häufig durch den Trompe-l’œil der zerstörten Glasscheibe eines Bildes formuliert worden, auch wenn es sich um andere Genres als galante Szenen handelte. Jean Duplessi-Bertaux hat den Trompe-l’œil des gerahmten Brustbilds eines jungen Mädchens mit dem demonstrativ inskribierten Titel L’Innocence mit einer zerbrochenen Glasscheibe kommentiert (Abb. 8). Das facettenartig gesprungene Glas nimmt die Formen des Kopfputzes auf, um das Gesicht mit dem naiv und ergeben nach oben gerichteten Blick zu durchschneiden und geradewegs zu brandmarken.16 Die Drastik und Komik dieser Arbeiten spricht dafür, dass derartige Trompe-l’œil-Malereien öffentlich ausgestellt wurden. Der dem Trompe-l’œil eigene Witz, der stets mit Verhüllen und Enthüllen operiert, gewinnt Dank der Transparenz des Glases und der Lichtbrechung in den Sprüngen die verblüffende Möglichkeit, den visuellen Kommentar genau über das Kommentierte zu legen, ohne es zu tilgen. Im zersprungenen Glas ließen sich transparente Übermalungen entwickeln, die das zugrunde gelegte, fremde Bild dekonstruierten und in der Art der Zerstörung die Passion des Kommentators deutlich machen. Das Außerordentliche daran ist der Befund, dass figurative Bilder durch ein abstraktes System von Linien überlagert und durchkreuzt wurden. Als visuelle Interpretationen von Bildern eingesetzt, entstanden damit bereits im 18. Jahrhundert Künstlerkommentare jenseits des Textes.
16 Vgl. Faré/Faré: La vie silencieuse (Anm. 11), S. 405.
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The Storyteller. Bild – Erzählung – Passion1 Erzählung In seinem 1985 erschienenen Buch Oral Tradition as History2 hat sich der Ethnologe Jan Vansina mit einem Bruch in der Geschichtserinnerung oraler Gesellschaften beschäftigt: Die jüngere Vergangenheit wird sehr detailliert, lebhaft und mit einer Fülle von Informationen erinnert, während entferntere Zeiträume nur ungenau und mit großen Lücken erzählt werden können. Diese ‚Unschärfe‘ verändert sich, wenn man noch weiter zurückgeht in durchaus kohärente, mythische Ursprungsgeschichten. Die Lücke zwischen der Ursprungszeit und der jüngsten Vergangenheit, die freilich den Mitgliedern der Gruppe selbst gar nicht bewusst ist und die sich mit der Generationenfolge fortbewegt, nennt Vansina „The floating Gap“. In ihr vermischen sich – darauf haben Sigrid Weigel und Jan Assmann hingewiesen – zwei eigentlich inkompatible Formen des Erinnerns und färben sich wechselseitig ein: das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis. Könnte es aber nicht sein, dass sich in diesem Bruch, dieser diegetischen Latenz, diesem buchstäblichen ‚Unsagbarkeits-Topos‘, der freilich seinerseits das ‚volle‘ Erzählen erst ermöglicht, etwas anderes ereignet als ‚Geschichte‘? Nämlich Bilder? Offenbar ist Jeff Wall dieser Meinung. Auf den ersten Blick, auf den allerersten Blick, könnte man The Storyteller von 1986, den Sie hier in einer kleinen, schlechten Schwarz/Weiß-Reproduktion vor sich sehen (Abb. 1), für einen uninteressanten, ästhetisch wenig befriedigenden Schnappschuss halten. Auch wenn man weiß, dass Walls Bild nicht nach den Konventionen künstlerischer Fotografie gerahmt und von außen beleuchtet, sondern im Leuchtkasten inszeniert ist, muss das diesen ersten Eindruck für eine Betrachtergeneration nicht verwischen, die längst ihre ‚Familienalben‘ mit Laptop und Picasa vertauscht hat. Erst die gigantischen Ausmaße des „silver dye black print in light box; 7 ft 6 1/4 inch x 14 ft 4 1/8 inch“ entziehen der Fotografie jeglichen alltäglichen Gebrauchswert und reihen sie in die großen stillen Kult- und Reklamebilder ein, die die ‚Bilderflut‘ unterbrechen und zum kontemplativen Verweilen auffordern. Im Inneren dieser Bilder aber gibt es „einen verborgenen Kontrollraum, eine Vorführkabine, woher das Licht kommt. Die Faszination des lumeszierenden Bil1 Dichter und Deuter, als Propheten, Kulturwissenschaftlerinnen, als Genealogen, erzählen Geschichten rückwärts. Das ist auch die Richtung dieses Beitrags zu Ehren und auf den Spuren von Sigrid Weigel, deren Passion Bilder und Erzählungen sind. 2 Jan Vasina: Oral Tradition as History, Madison 1985; vgl. auch Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, München 2007 und Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, München 2006.
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Abb. 1: Jeff Wall: The Storyteller
des liegt darin, dass die Beleuchtung aus einem anderen atmosphärischen Bereich“3 als dem des dargestellten Schauplatzes oder dem des Zuschauerraums herrührt. Mit diesem filmähnlichen technischen Arrangement entfaltet sich eine spezifische Aura, die der Benjaminschen „Echtheit im Hier und Jetzt“ genau entgegengesetzt ist, denn sie ist künstlich durch und durch. Die Lichtbilder von Jeff Wall spielen zwischen Malerei und Film; die eine „gibt ihre Freiheit des Bildermachens an die Fotografie ab, deren Nabelschnur von der Kontingenz angeschnitten wird“, der andere „leiht seine Erzählaufgabe“ aus, „die nicht mehr als Elemente einer Filmsequenz benutzt werden, sondern die ganze story in einem Bild repräsentieren“.4 Tatsächlich ist für Jeff Wall jede Einstellung, jede Pose, jedes Detail Befolgung eines Storyboards, seine „Welt“, so noch einmal Hans Belting, „muß erst inszeniert werden, damit sie die Bilder liefert“.5 Nämlich so: Flankiert von einer fluchtpunktartig in die Ferne verlaufenden Autobahnbrücke auf der rechten Seite und einem dichten Nadelwald am linken Bildrand erstreckt sich ein zum Betrachter geneigtes Gefälle, das aus locker aufgewühltem Erdboden, dichtem Grasbewuchs und einem aus Bruchsteinen verfugten Boden unterhalb der Betonbrücke besteht.6 Dem Verlauf der Straße folgend, welcher für den Betrachter ‚verschattet‘ ist, hebt sich vor dem helleren Horizont ein Hinweisschild nach der 3 www.marcusrecht.de/texte/wall.pdf/ [letzter Zugriff: 26.2.2009]. 4 Hans Belting: „Die Transparenz des Mediums“, in: Ders.: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 213-239, hier S. 233. (Vgl. besonders das Kapitel 8.7.: „Der inszenierte Blick: Jeff Wall“, S. 232-234.) 5 Ebd., S. 234. 6 Dank an David Haller für sein Referat in meinem Seminar „Kulturelles Gedächtnis“, im Sommersemester 2007.
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Art ab, wie sie Ausfahrten und Städte anzukündigen pflegen. Genau auf der Horizontlinie etwa auf der Höhe des goldenen Schnitts wird das Querformat des Bildes durch ein waagerecht verlaufendes Kabel geteilt. Eingefügt in diesen halb künstlichen, halb natürlichen Landschaftsraum finden sich insgesamt sechs menschliche Figuren in recht künstlichen Posen: Allein und offenbar in Gedanken vertieft, sitzt ein junger Mann auf dem steinigen Boden unter der Autobahnbrücke. Durch den dichtbewachsenen Grasstreifen von ihm getrennt lagern auf dem gelockerten Erdboden zwei Personengruppen: oben ein liegender Mann und eine sitzende Frau, deren Blicke nicht aufeinander gerichtet sind, sondern weit auseinander gehen; eine zweite Gruppe, dem Betrachter am nächsten, ist um eine kleine Feuerstelle in der unteren linken Ecke des Bildes versammelt. Mit ihren Händen theatralisch gestikulierend scheint eine Frau dem ihr gegenübersitzenden, sie entspannt, aber aufmerksam betrachtenden Paar etwas zu erzählen oder zu berichten, so dass sie prima vista als „The Storyteller“ zu identifizieren ist. Alle Figuren, die einsame am meisten, gleichen von ihrem Aussehen oder Habitus her den Ureinwohnern Kanadas, und tatsächlich ist das Bild am Rand von Vancouver inszeniert, an einem Ort mit verwilderter und teilweise von der Zivilisation zerstörter Natur, an dem normalerweise keine Menschen (mehr!) leben. Trotzdem erinnert das von einem etwas erhöhten Standpunkt und strikt zentralperspektivisch aufgenommene Großdia an die pastorale Malerei eines Tizian oder Giorgione: Landschaften, welche in ihrer heiteren Ruhe (der freilich Kampf, Gewalt und Tod nicht fremd sein müssen) die Generationen kommen und gehen gesehen haben. Deutlich zitiert werden von Wall aber nicht nur etwa Giorgiones La Tempesta von 1503, sondern – etwa in der Dreiergruppe – auch Manets Le Déjeuner sur L’Herbe von 1863 oder Seurats Un Dimanche à la Grande Jatte von 1884, immer aber bleibt das Zitat Zitat – und als solches, wie die Herkunft der Figuren, mit denen es solidarisch ist, hinter einer industriell zivilisierten Natur verborgen und verloren. Deren Geometrie triumphiert über die „Ortung“7, den kultisch gekerbten ‚Lebensraum‘, von dem Foucault spricht. Während in den von links nach rechts wie in der Folge einer Schrift gegliederten Flächen ‚Natur‘ immer mehr ab- und eine unansehnliche Zivilisation immer mehr zunimmt (Wald, Gras, Büsche, Steine, Beton), laufen vier dreieckige Flächen auf eine Mitte zu, die – zerschnitten durch das Kabel – das Autobahnschild einrahmt: Exit. Die Figurengruppen wiederum, die auch ihrerseits die Schenkel eines Dreiecks bilden, durchlaufen eine einfache Rechenoperation: 1, 2, 3, die sich einer alten Lehre verdankt: Die Drei ist in pythagoreischer Tradition nämlich nicht etwa „die dritte Zahl, sondern die erste Zahl, nicht etwa die Eins. [...] Erst vom Dritten her wird das vormalige Eine das Erste und das vormalige andere das Zweite, wird eins und zwei, wird aus dem ‚und‘ das ‚plus‘, wird die Möglichkeit von Stellen und Reihen.“ Das mit der Zwei verbundene Chaos entsteht aus ihrer Beziehung auf die Eins. Die Zwei 7 Michel Foucault: „Andere Räume“, aus dem Französischen v. Walter Seitter, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektive einer anderen Ästhetik, hg. v. Karlheinz Barck u. a., Berlin 1992, S. 34-48, hier S. 36.
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nämlich widerspricht der Einheit, vexiert sie und führt zu Verwechslungen und Täuschungen. Mit der Zwei lösen sich die Namen und Begriffe von den Dingen; sie meint eins und noch ein anderes, mit ihr erheben sich die Zweifel und auch jene Ver-zwei-flung des Selbst, das Opfer seines eigenen Urteils ist. Insofern birgt die mysteriöse Einheit der Zwei das Geheimnis der Zahl; die Enträtselung ihres Übergangs von der Eins erfindet ein Zählen. So ist die Drei Resultat einer wechselseitigen Hinzufügung von 1 und 2. Wenn die Eins und die Zwei gleichursprünglich sind, so ist die Drei Folge und Medium ihrer Konstellation. Die Drei also, die Stellen und Serien vorschreibt, verwandelt das Eine und das Andere in symbolische Orte und Netze, so dass Martin Heidegger diese Rechnung ins Zentrum seiner »Frage nach dem Ding« überhaupt rücken kann.8 Gehen wir zu weit, wenn wir genau dieses Zahlenverhältnis in Walls Bild vorgestellt finden? In der Geographie des Raums, in den Figuren, die vom einsamen Indianer unter der Autobahnbrücke, hart getrennt vom zweifelnden Paar bis zur konnektiven Struktur der Dreiergruppe hin aufsteigt? Aber deren Dreizahl ist nicht nur die Bedingung des Zählens und damit des Symbolischen überhaupt, die Bedingung der Ordnung der Dinge, wie sie nun nicht an sich selbst, sondern – denken Sie nur an das Schild in Walls Bildzentrum – ‚bezeichnet‘ sind, sondern auch Minimalbedingung eines Erzählens, das durch diese symbolische Ordnung abgelöst und suspendiert ist. Nur in der konnektiven Struktur seiner Gruppe, mit der er seine Erfahrung teilt, nur im Umkreis seiner Zuhörer ist der Storyteller ja im vollen Sinne Erzähler (Erzählerin!). Bereits seit Druckerpressen und Buchmärkte, spätestens aber seit Telegraphendrähte und Autobahnen, wie wir sie auf Walls Bild sehen, sich zwischen die Körper der Kommunikanten geschoben haben, ist „der Erzähler“, wie es in Benjamins gleichnamigem Essay heißt, „etwas bereits Entferntes und weiter noch sich Entfernendes“9. „The ‚figura‘ of the storyteller“, so Jeff Wall, is an archaism, a social type which has lost its function as a result of the technological transformations of literacy. It has been relegated to the margins of modernity, and survives there as a relict of the imagination, a nostalgical archetype, an anthropological specimen, apparently dead. […] The native peoples of Canada are a typical case of this dispossession. The traditions of oral history and mutual aid survive with them, although in weakened forms.10
Im technoimaginären Raum des Lichtbildes, jenes Luxussargs für die Relikte erzählender Einbildungskraft und vergehender Kulturen, verbinden sich Datenkanäle wie Autobahnen und Telegraphenkabel mit entwurzelten Rhapsoden und Storyteller, Zählen und Erzählen, Film und gemaltes Bild. Insofern arretiert dieser Raum für den Augenblick der melancholischen Kontemplation den „floating Gap“ und
8 Martin Heidegger: Die Frage nach dem Ding, 2. Aufl. Tübingen 1975, S. 57. 9 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1977, Bd. II.2, S. 438. 10 Jeff Wall: The Storyteller, hg. v. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main 1992, S. 7.
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hält ihn in beide Richtungen hin offen: in die der Erinnerung und die des Gedächtnisses.
Treue Können Bilder lügen? Jochen Hörisch hat das in seinem Aufsatz „Lügen wie gedruckt“11 bekanntlich bestritten, weil Bilder im Gegensatz zum titelgebenden Gedruckten ausschließlich auf sich selber referieren. Nun fragt sich der erstaunte Leser natürlich gleich, wie es sich mit einem gedruckten Gedicht, einem Roman oder dem Wallenstein verhält, dessen „ästhetischen Schein“ Schiller ja außerordentlich erfolgreich gegen jede Lügenhaftigkeit verteidigt, ja als höhere Wahrheit gefeiert hat. Zumindest dieser Teil des Gedruckten scheint also immun gegen die Lüge zu sein. Umgekehrt hat etwa Umberto Eco jedwede Theorie der Zeichenpraxis, jede Semiotik geradezu als „Theorie der Lüge“ bezeichnet, ist doch die Semiotik im Grunde die Disziplin, die all das untersucht, das man zum Lügen verwenden kann. Wenn etwas nicht zum Lügen verwendet werden kann, dann kann es auch nicht verwendet werden, um die Wahrheit zu sagen: tatsächlich kann es überhaupt nicht verwendet werden, um etwas zu sagen. Die Definition als ‚Theorie der Lüge‘ könnte ein genügendes Programm für eine allgemeine Semiotik darstellen.12
Was ja, mit Ecos eigenen Worten, besagt, dass die Semiotik für die Dinge der Kunst, ihr Sagen und Zeigen, nicht zuständig ist. Trotzdem gibt es eine starke und schwer wegzutheoretisierende Evidenz, dass etwa Fotografien, ganz gleichgültig ob sie in einem analogen oder digitalen Verfahren entstanden sind, uns zu belügen vermögen, ist es doch gerade die ihnen zugeschriebene Objektivität, die sie zu Lügnerinnen prädestiniert. Politisch oder kulturell hoch wirksame Bilder, zu Ikonen geratene inszenierte Kriegsbilder, wegretuschierte Revolutionshelden, schön gemorphte Models jenseits der Altersgrenze, erhaben montierte Industrielandschaften, geheimnisvolle Marskanäle, sie alle scheinen das auch dann noch zu bestätigen, wenn schon aus technischen Gründen von ‚Bildmanipulationen‘ mangels eines ‚Originals‘ gar nicht mehr die Rede sein kann. Für die Glaubwürdigkeit der Fotografie spricht zunächst die Unbestechlichkeit des Apparats, die die subjektive Optik und die sie umgebende soziale Praxis in den Hintergrund treten lässt. So hat etwa Roland Barthes in der Fotografie eine „message sans code“13 ausgemacht, ein rein analoges Zeichen, das sich einer kulturellen Codierung entziehe. Allenfalls „der materialistische Dialektiker“, der sich wie bei 11 Jochen Hörisch: „Lügen wie gedruckt: Papier ist geduldig“, in: Ders.: Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien, Frankfurt am Main 1999, S. 75-93. 12 Umberto Eco: „In Richtung einer Theorie der Kultur“, in: Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, hg. und übers. v. Michael Franz/Stefan Richter, 3. Aufl. Leipzig 1995, S. 15. 13 Roland Barthes: Die helle Kammer, aus dem Französischen v. Dietrich Laube, Frankfurt am Main 1989, S. 38.
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Walter Benjamin mit eristischer Dialektik der „Apparatur“ zu bedienen weiß, „‚drückt ab‘ und trägt die Platte, das Bild der Sache wie sie durch die gesellschaftliche Überlieferung in seine einging, davon. Dieses Bild ist auf seine Art ein negatives. Es entstammt einer Apparatur, die nicht anders kann, als [...] für Schatten Licht zu setzen“14. Der gegenwärtig wohl bedeutendste deutsche Fototheoretiker, Bernd Stiegler, nannte kürzlich ganze „Vierzehn Arten das Reale“15 fotografisch „zu beschreiben“, von denen die wirklichkeitssimulierende, indiziale, indexikalische und objektive für unseren Zusammenhang die wichtigsten sind. Für Talbots „Pencil of Nature“ sind es die Strohhalme selbst, die als Lichtfäden ins Bild wandern, für Conan Doyle liefern Fotografien Indizien, die allerdings erst noch „zum sprechen“ gebracht werden müssen; das indexikalische Zeichen ist dem ikonischen den „Apparatus“-Theoretikern zufolge dadurch überlegen, dass die chemische Übertragung und Aufzeichnung als „Spur des Realen“ gleichsam bildontologisch die fotografische Optik als soziale Praxis in den Hintergrund rücken kann – zugunsten eines Singulären und Kontingenten gegenüber jedwedem gesellschaftlichen Zwang. Schließlich kann seine „Objektivität“ – Lorraine Daston und Peter Galison16 zufolge – im 19. Jahrhundert eine Zeitlang wissenschaftlicher Erkenntnis geradezu als Muster dienen, insbesondere dann, wenn sie als Momentaufnahme, als Chronofotogafie, als blow up oder als Röntgenbild das vorher Unsichtbare oder, wie Benjamin es nennt, „das optisch Unbewußte“17 zur Erscheinung bringt. So wird sie, wie Hans Belting schreibt, „die vera Icon der Moderne“.18 Nun ist es ja zweifellos so, dass Fotografien – wie alle Bilder – selber Anteil am Realen haben, sich also nicht nur wie auch immer auf es beziehen. Sie schaffen Bedeutungen und sind selber bedeutend, sie bewirken Handlungen und handeln selbst, sie referieren und sind Referenzobjekte, sie vermitteln Werte und sind selber wertvoll, sie verlebendigen (Barthes’ tote Mutter) und ihnen ist selber augenblicklich (durch den „momentanen“ Blick ins „Familienalbum“) Leben eingehaucht. Darüber, was Bilder alles tun und bewirken, wie sie selber blicken und sich verschließen, wie sie werben und abschrecken, wie sie töten und beleben (und welche magischen Praktiken wir ihnen noch zuschreiben wollen) sind ja inzwischen so viele Artikel verfasst und so viele Bücher geschrieben, dass ein besorgter Rezensent
14 Benjamin: Gesammelte Schriften (Anm. 9), Bd. I.3, S. 1164 f. 15 Bernd Stiegler: Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik, München 2009, S. 41-68 (Kapitel I.2). 16 Lorraine Daston/Peter Galison: Objektivität, aus dem Amerikanischen v. Christa Krüger, Frankfurt am Main 2007. 17 Benjamin: Gesammelte Schriften (Anm. 9), Bd. II.1, S. 371; vgl. dazu Sigrid Weigel: Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder, Frankfurt am Main 2008, S. 297 ff. (10. Detail, Photographische und kinematographische Bilder). 18 Hans Belting: „Die Transparenz des Mediums. Das photographische Bild“, in: Ders.: BildAnthropologie, München 2001, S. 215.
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sich und seine Leser schon fragen musste, ob sie wenigstens unangeblickt in dunkler Museumsnacht Ruhe finden dürfen.19 Das alles (und noch viel mehr) tun Fotografien und andere Bilder; was aber tut die Fotografie? „Die Photographie“, so Hans Belting in seinem richtungsweisenden Beitrag „geometrisiert, nivelliert und klassifiziert. Die Orte werden zu photographischen Orten und sind als solche eingefangen in das Rechteck des Abzugs ohne Ausgang aus der Empirie, dafür eingeschlossen in die Zeit der Vergangenheit [...].“20 Referiert die Fotografie, während die Welt sich wandelt und sich ihr entzieht, also nur auf eine in Rechtecke eingesargte Medienwelt, auf ihr eigenes ästhetisches Regime21, auf ‚Fotografie‘? Können wir von ihr als dem realistischsten Medium auf die ‚lebendige‘, ‚fließende‘ Wirklichkeit, die sich diesem Regime entzieht, also am allerwenigsten schließen? Das freilich entspräche nicht der Evidenz ihrer ‚unbestechlichen‘ Objektivität. Worauf vertrauen wir also, wenn wir glauben, dass ein Bild uns nicht belügt? Doch offenbar auf etwas, was mit seiner Materialität oder seiner ontologischen Beschaffenheit nur in zweiter Linie zu tun hat: Wir verlassen uns auf seine Verlässlichkeit, wir trauen seiner Treue. Treue aber ist schon prima vista keine erkenntnistheoretische, sondern eine moralische oder soziale, also narrative Kategorie. Ihre Paradigmatik reicht von der Gefolgstreue, Geschlechtertreue, Fraktionstreue bis hin zur Treuhand und zum Kredit. So hat, um einen wichtigen Beitrag zum Thema zu zitieren, Eva-Maria Siegel22 etwa die ‚eheliche Treue‘ als Muster für die Repräsentationsleistung ‚realistischer‘ Texte im 19. Jahrhundert beschrieben. Und das ‚Authentische‘ in der fotografischen Zeichnung dürfte tiefer im Glaubwürdigkeits- und Zeugendiskurs einer neuen juristischen Semantik fundiert sein als etwa in der Chemie, die für die Bildproduktion zuständig ist. Niklas Luhmann, der dem „Vertrauen“ eines seiner schönsten und wichtigsten Bücher gewidmet hat, ordnet ihm zwei Zeitdimensionen zu: die in die Vergangenheit sichert ihr kognitive und emotionale Evidenz, begründet psychologisch ein „Urvertrauen“, eine „ursprüngliche Vertrautheit mit sich selbst“ als leibliche Einheit, familiär eine soziale Geborgenheit, politische Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. Zwar ist solchermaßen Vertrauen nur in einer vertrauten Welt möglich, es überzieht aber auch die Informationen, die es aus der Vergangenheit bezieht, und riskiert eine Bestimmung der Zukunft. „Im Akt des Vertrauens wird die Komplexität der zukünftigen Welt reduziert.“23
19 Was übrigens für alle Dinge gilt. So fragte Ernst Bloch schon 1930 – und also lange vor Bruno Latour – in „Der Rücken der Dinge“ (in: Ders.: Spuren, Frankfurt am Main 1983, S. 172): „Ganz einfach, ganz früh hingesehen: was ‚treiben‘ die Dinge ohne uns? Wie sieht das Zimmer aus, das man verläßt?“ Hinweis von Thomas Macho. 20 Belting: „Transparenz des Mediums“ (Anm. 4), S. 216 f. 21 Vgl. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt am Main 2002. 22 Eva-Maria Siegel: High Fidelity. Konfigurationen der Treue um 1900, München 2004. 23 Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 4. Aufl. Stuttgart 2000, S. 24.
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Umgekehrt reicht enttäuschtes Vertrauen als Misstrauen nicht nur in die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit. So wird ein einmal als Fälschung entlarvtes Bild auch nachträglich jedes Bildvertrauen kontaminieren. Um solchem Dauerverdacht zu entgehen, bedarf es eines besonders geschulten Bildbewusstseins, wäre doch ohne jeden Differenzbegriff die Gefahr groß, dass jedes Bild, statt das Weltvertrauen durch seine glaubwürdige Evidenz zu bestätigen, ‚nur ein Bild‘ wäre. Die Alternative zur technischen high fidelity des glaubwürdigen Bildes wäre also nicht das perfekt gefälschte, keine „Matrix“24, sondern das Bild, das mit seiner Evidenz nur spielt, das also Evidenz als Evidenz zeigt und so praktische Evidenz- oder Medienkritik übt: das Bild der Kunst.25 Von ihm heißt es, sich in freier, passionierter Betrachtung in seinem Weltvertrauen beobachtet und getäuscht und in seiner Bestimmung der Zukunft irritiert zu sehen – und leidenschaftlich zu sehen, dass es nicht nur, sondern sogar ein Bild ist.
Bilder Unsere Erfahrung mit vertrauten Bildern: Sie zeigen nur, was sie zeigen, und lassen das meiste unsichtbar. Was aber ist hinter der Personengruppe, auf die der Blick des Betrachters fällt, auf der anderen Seite der unbeleuchteten Gesichtshälfte, was ist verdeckt von Naturkulissen, Bäumen, Sträuchern, Bergen, was von Schleiern, Vorhängen, Tüchern und Wänden, was jenseits des Rahmens, vor dem Pinsel des Malers? Wieso, andrerseits, stürzt der in der Luft stehende Adler nicht ab, ist es überhaupt ein „Adler“, warum trägt der die nackte Badende Betrachtende bereits ein Geweih, was also geschieht ‚vor‘ dem Bild, was ‚nach‘ ihm, wen wird der Dolch töten, zu welcher neuen Genossenschaft führt der Eid, und was wird aus ihr folgen? Das alles und vieles mehr ist auf dem Bild nicht zu sehen und muss erst in es hinein erzählt werden, um es über seine Bildlichkeit zu einem Image zu beleben, das sich also fast gänzlich der historisch, kulturell, sozial und individuell geprägten Einbildungskraft der Betrachter verdankt, ohne die es Bild in seiner picturalen Materialität bliebe, reine Sichtbarkeit. Schon die „Aneignung der dritten Dimension durch die Malerei“, so Rancière, lässt sich nicht auf die Erfindung der Perspektive reduzieren. Sie verbindet vielmehr eine spezifisch neue Form der Sichtbarkeit mit einem „Prinzip der Geschichte“: Seit diesem Zeitpunkt beansprucht die Malerei, „einen lebendigen Sprechakt, den entscheidenden Augenblick einer Handlung und 24 Vgl. Raimar Zons: „Ethik der Matrix“, in: Ders: Die Zeit des Menschen, Frankfurt am Main 2001, S. 244-259. 25 Deshalb halte ich eine der gegenwärtigen Tendenzen in den Kulturwissenschaften gemeinsam mit der hier und deshalb Geehrten und zurecht Gefeierten für ruinös: den Verzicht auf die ästhetische Differenz. Nur ‚museale‘ Bilder zeigen uns, indem sie sich selbst zeigen, was ein Bild ist und wie es wirkt; nur Dichtung ist nicht lediglich Effekt eines Diskurses oder selber „ein Stück Diskurs mit einem Zaun drum herum“, sondern sie stellt ihn in seiner Funktionsweise aus und übt so, als einzige, praktische Diskurskritik. So ist das kluge Engagement einer Kulturwissenschaftlerin eine Passion für die Kunst.
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einer Bedeutung erfassen zu können“26. David Wellberys Begriff des „specular moment“ ließe sich genau auf ihn übertragen. Nun machen erst der eigentümliche Blick des Malers, sein kühner Entwurf, seine unverwechselbare Perspektive, seine einzigartige Technik bis ins Detail, seine Zeichnung, sein Strich und das sorgsam gehütete Geheimnis seiner Farben, schließlich seine ungewöhnliche Interpretation, seine interpicturale Position, seine Ironie, seine Einflussangst, seine Originalität das Bild zu einem dieser und anderer Besonderheiten wegen geschätzten Kunstwerk, das seinen Wert und seine ästhetische Evidenz dem Betrachter also nur im Vergleich eröffnet. Auch der Maler aber ist dem Blick des Betrachters entzogen, „verschattet“, um einen Ausdruck Edmund Husserls zu bemühen, den Gottfried Boehm kürzlich für die Bildwissenschaft wieder revitalisiert hat27, unsichtbar, aber erfüllt von einer historischen Semantik außerhalb des Bildes. Einige, wie Stoichita sie nennt, „selbstbewußte“28 Bilder behelfen sich mit freilich selber gemalten Spiegeln, um etwa abwesende Gruppen, Gegenstände, ja, warum nicht, Betrachter in den Bildraum hinein zu holen, verstricken sich dabei aber in Paradoxien, etwa wenn sie selbst den Akt des Malens seitenverkehrt hineinspiegeln als eine Abwesenheit zweiter Ordnung, denn das Bild, das der Maler eben malt, blickt uns ja abgeschlossen an, den Akt des Malens in seiner für den Betrachter evidenten Vollendung dementierend. Andere – insbesondere in der holländischen Malerei – geben semiotische Hinweise, die einem auch über den Bildraum hinaus gehenden sozialen Code entnommen sind: Kleider, Schmuck, Speisen und Getränke, Hierarchien, Praktiken u. v. a. m. voller – den Zeitgenossen evidenter, für uns aber oft verborgener – sozialer Semantik.29 Die Bilder verdanken also ihre Evidenz nicht sich selbst, sondern ihren ‚Schatten‘, etwas Bildfremdem, Abwesendem: diskursiven Matrizen, die nicht nur eine „Enzyklopädie“, wie Umberto Eco30 sie nennt, enthalten (und nur einem „Studium“ zugänglich sind, wie Roland Barthes31 in Bezug auf Fotografie zeigt), sondern auch unbewusste Bildregime und Kulturtechniken etwa der Rahmung, der Perspektive, der Behandlung von Licht und Farbe, des Strichs, des Verhältnisses von Grund und Figur bis hin zu Pathosformen und -formeln oder Detailklischees. Erst im vollendeten Umkreis dieser ‚Schatten‘ offenbaren Bilder ihre Einzigartigkeit, während 26 Vgl. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik und ihre Paradoxien, hg. und übers. v. Maria Merkle, Berlin 2006, S. 30. 27 Vgl. Gottfried Boehm: „Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz“, in: Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, hg. v. Gottfried Boehm/Birgit Mersmann/Christian Spies, München 2008, S. 15-43. 28 Victor I. Stoichita: Das selbstbewußte Bild, München 1998. 29 Vgl. Anthony Bailey: Vermeer, Berlin 2002. Wenn aber etwa auf den großen, repräsentativen Gemälden George Harcourts in der Villa Hügel die Familie Krupp Bildregime des Adels imitiert, verpatzt sie schon alles durch die zur Schau gestellte liebevolle Zuwendung zu den Kindern. 30 Umberto Eco: Semiotik und Philosophie der Sprache, aus dem Französischen v. Christiane Trabant/Jürgen Trabant, München 1985. 31 Barthes: Die helle Kammer (Anm. 13), S. 35 ff.
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ihre eigene Ikonizität eher durch Verfremdungen der Blickautomatik, durch Evidenzkritik32 als okkulte, irreguläre und kontextlose Singularität erkennbar wird: als „stummer Logos“ oder als ihr „Reales“. Kein kulturelles Wissen, keine Archäologie oder Genealogie, keine noch so ‚gebildete‘ kunstgeschichtliche Ikonographie reicht an die Ressource ihrer primären Bildlichkeit heran. Wie reine Bildlichkeit ohne Studium stumm bleibt, so Kunstgeschichte ohne die Eigentümlichkeit der Bilder blind. Man könnte nun den Prozess der Moderne – von der Aufklärung perspektivischer Verschattung im Kubismus, ihrer Defigurationen, Dekompositionen und Dekonstruktionen im Impressionismus bis zur Abstraktion – als eine sukzessive Steigerung der Sichtbarkeit bis hin zur eigentümlichen visuellen Evidenz des Bildes in sich selbst, in seiner farblichen und stofflichen Materialität begreifen. Der „specular moment“ wird so von der punktuellen und dramatischen Zuspitzung eines Studiums, in dem die Perspektive des Bildes sich mit dem Blick der Betrachter kreuzt, zum Schöpfungsakt, zum schockhaften Zusammentreffen der Bildkonzeption mit der Aufmerksamkeit eines unabschließbaren Auges. Erst in diesem Augenblick eröffnet sich jener „hundertprozentige Bildraum“, von dem Benjamin spricht und der Heinrich von Kleist als ersten im Anblick eines Bildes von Caspar David Friedrich gefangen nahm. Sein Bild „Mönch am Meer“, gemalt in den Jahren 1809 bis 1810, hatte Caspar David Friedrich zusammen mit „Die Abtei im Eichwald“ für die Berliner Akademieausstellung eingereicht und damit großes Aufsehen erregt. In die heftige Diskussion greift Kleist ganz aktuell ein, nämlich am 3. Oktober, nur elf Tage nach der Ausstellungseröffnung, in seinen „Berliner Abendblättern“ – der ersten Boulevardzeitung, die es in Deutschland gab und die Berichte über aufsehenerregende Kriminalfälle, spektakuläre Theaterskandale und, wo diese ausblieben, seine eigenen atemberaubenden Anekdoten enthielt, indem er einen unter der Mitwirkung Achim von Arnims entstandenen Artikel Clemens Brentanos veröffentlicht, den er aber an einem bestimmten Punkt der Argumentation abbricht, um ihn ganz auf seine Weise abzuschließen. Der erste Eindruck, den Friedrichs Bild seinem Betrachter vermittelt, ist der einer ungeheuren Weite und Leere. Alle Sujets, die dem Auge Halt geben könnten, fehlen dem Bild völlig, ja, die Tiefe, Leere und Leblosigkeit des Gemäldes werden durch die Bildaufteilung noch gesteigert. Die Horizontlinie liegt ungewöhnlich tief; etwa 4/5 des Bildes nehmen Wolken und Himmel ein. So wirkt die Mönchfigur als das einzig gegenständliche Element in dieser Leere wie ein Sog, durch ihre Perspektive in das Bild einzutreten. Während diese dunkle Perspektivgestalt aber denkbar klein ist, antwortet ihr im Bereich des Himmels eine rätselhafte Helligkeit hinter den Wolken, die von der schon viel tiefer stehenden Sonne kaum gespendet sein kann. Brentano, solange ihn Kleist gewähren lässt, beschreibt die im Bild dargestellte Erfahrung ganz im Sinne einer romantischen Transformation von Kants Theorie des (mathematisch) Erhabenen, etwa wenn er den angesichts der uner-
32 Vgl. dazu Hans Ulrich Reck: Eigensinn der Bilder, München 2008.
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messlichen Weite klein und töricht dastehenden Menschen verschwinden lässt. Die Erfahrung des Erhabenen komme freilich nur zustande, insofern der Betrachter sich über die Perspektivfigur des Mönchs völlig in die dargestellte Szene hineinversetze. „Dies aber ist vor dem Bilde unmöglich.“33 Im Museum, heißt das, ist die Erfahrung des Erhabenen, die sich der Naturbetrachtung verdankt, schon deshalb nicht zu haben, weil es ausstellt, wie sie gemacht ist. Damit aber, dass Kunst auf diese Weise die Erfahrung des Erhabenen einfach unmöglich macht, sind weder Brentano noch Kleist zufrieden. Der Anspruch des Erhabenen, so ihre Volte, bleibe nämlich im Anspruch an die Kunst gerade erhalten. Man muss so tun, als ob – das berühmte Kantsche, aber auch das Kleistsche „als ob“ – der Betrachter statt in das Museum in das Gemälde selbst eintrete, etwa so, wie man ein Panorama34 besucht. Als Kapuziner aber hätte er nicht mehr die Einheit der Anschauung, die das Bild mit seiner Rahmung noch bietet; vielmehr wäre der Blick ins Nichts von keinem Bilderrahmen und durch kein Spiel von hell und dunkel mehr gelenkt. Da ihm so jede Reflexion als Möglichkeitsbedingung des Erhabenen fehlt, wäre er nur noch leer und grauenvoll. „Der Gegenstand“, mit dem letzten Wort Brentanos, „wo hinaus ich mit Sehnsucht blicken sollte, fehlt ganz.“ Während der Romantiker in einer Art negativer Theologie des Erhabenen ersichtlich nicht mehr weiter kommt, dreht Kleist dem gesamten romantischen Diskurs den Ton ab – und zwar auf eine Weise, deren Unverschämtheit wahrhaft göttlich ist: Er lässt nämlich einige bildungsbürgerlich blasierte Besucher des solchermaßen bildkonstitutiven Museums auftreten, die das gerade Gehörte mit Platituden und Missverständnissen aller Art gründlich karikieren und verrauschen. Paradoxerweise verdanken Bilder ihre Freiheit und Autonomie ja dem Umstand, dass sie zur Beute der Museen geworden sind. Wie in der Dichtung seit der Achsenzeit, auf die Kleists Besucher referieren, Texte ihre laute Exemplarität durch leises Lesen ohne Lippenbewegungen und durch Goethes Handlungsanweisung zur zweiten Auflage seines Werther „Sei ein Mann und folge mir nicht nach“ vertauschen, so Bilder ihren Kult- und Repräsentationswert, ihre Didaktik und Ostentation durch einsames Erlebnis und stumme Betrachtung (begleitet allenfalls von geschwätzigem, kunstsinnigem Gemurmel). Während Literatur sich solchermaßen in Dichtung und Gebrauchstexte, und Bilder sich in (zumindest virtuelle) Museumswerke und Memorabilien ausdifferenzieren, kommt plötzlich und unerwartet Kleists eigener, bis dato 33 Heinrich von Kleist: dtv-Gesamtausgabe, hg. v. Helmut Sembdner, München 1964, Bd. 5, S. 61 ff. 34 Schon am 16.8.1800 schreibt Kleist an Wilhelmine von Zenge: „Gestern ging ich in das berühmte Panorama der Stadt Rom. […] Ich sage, es ist die erste Ahndung eines Panoramas, und selbst die bloße Idee ist einer weit größeren Vollkommenheit fähig. Denn da es doch einmal darauf ankommt, den Zuschauer ganz in den Wahn zu versetzen, er sei in der offenen Natur, so daß er durch nichts an den Betrug erinnert wird, so müßten ganz andere Anstalten getroffen werden. Keine Form des Gebäudes kann nach meiner Einsicht diesen Zweck erfüllen, als allein die kugelrunde. Man müßte auf dem Gemälde selbst stehen, und nach allen Seiten zu keinem Punkt finden, der nicht Gemälde wäre.“ Kleist: dtv-Gesamtausgabe (Anm. 33), Bd. 6, S. 55 ff.
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unerhörter Einsatz: „Und da es, in seiner Einförmigkeit nichts, als den Rahmen, zum Vordergrund hat“, so sein berühmter grausamer Cut, „so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.“ Die Utopie der Rahmenlosigkeit, die die Moderne programmatisch, aber in einem unabschließbaren Prozess vorantreiben wird, erfüllt sich grausam und „augenblicklich“ im Blick aus nächster Nähe. Blick und Bild verschmelzen freilich um den Preis von dessen Defiguration und Dissimulation. Angeschaut aus nächster Nähe zerfällt ja, wie wir in Adornos Ästhetischer Theorie 35 nachlesen können, jedes – und sei es noch das ‚realistischste‘ und vertrauteste – Bild ins Materiale und Disparate. Für Kleist ginge dieser Blick, weder durch eine Kantsche Philosophie noch durch Museen domestiziert, statt im Lichte Trost zu finden, ins Leere. Es gibt keine Erscheinung, noch nicht einmal eine Apparition des göttlichen Schöpfungsaktes selbst, sondern nur endlose weltliche Immanenz. Statt aber solchermaßen Naturphilosophie und ihr negativ „Erhabenes“ via Malerei lediglich in Medientheorie (wie etwa der des „Panoramas“ oder des Lichtkastens) zu überführen, geht er noch einen Schritt weiter und macht den umgekehrten, ungeheuerlichen Versuch: Was geschähe nämlich, wenn nicht das Imaginäre in die Natur, sondern das Reale ins Bild geriete? „Ja wenn man die Landschaft mit ihrer eigenen Kreide und ihrem eigenen Wasser malte: so glaube ich, man könnte die Füchse und die Wölfe damit zum Heulen bringen.“ Lesen wir recht: Nicht die gemalten Trauben des Zeuxis, nicht Myrons Kuh, nicht Mark Tenseys Test des unverdorbenen Auges, nicht also Illusion bringt da Füchse und Wölfe zum Heulen, sondern die Inkarnation des Bildes als Material. Zurückgeholt in die Immanenz bildlicher Materialität verwandelt sich so das von Friedrich allenfalls intendierte Erhabene ins Monströse: in die Aufkündigung des Bildvertrauens.36 Der pragmatische Kontext, in den Kleist Bilder stellt, ist, wie sein ironisches Zwischenspiel deutlich macht, noch nicht einmal im Museum suspendiert. Erregung, Verehrung, Kommunikation mit der Gottheit, Verkörperung, Bestrafung in effigie, Stimmung, Kriegsführung, Design oder Architektur, all das sind „Bildakte“
35 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. In: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Gretel Adorno/Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970, Bd. X, S. 163 f. 36 Auch dafür findet sich ein Vorbild in einem frühen Brief An Wilhelmine von Zenge aus Würzburg vom 11. (und 12.) September 1800. Er berichtet von einem „Professor bei der hiesigen Universität“ namens „Blank“, der eine „sehenswerte Galerie von Vögeln und Moosen in dem hiesigen Schlosse aufgestellt“ hat. „Das Gefieder der Vögel ist, ohne die Haut, auf Pergament geklebt, und so vor der Nachstellung der Insekten ganz gesichert, – Verzeihe mir die Umständlichkeit. Ich denke einst diese Papiere für mich zu nützen.“ Aus dem Tableau aber wird – „eine Spielerei“ – ein tableau vivant et mort: „Er hat mit all diesen Materialien, ohne weiter irgend eine Farbe zu gebrauchen, gemalt, Landschaften, Blumenbuketts, Menschen etc. etc., oft täuschend ähnlich […] und immer mit der genauesten Abwechselung des Lichtes und des Schattens.“ Kleist: Sämtliche Werke und Briefe (Anm. 33), S. 557. Dank für den Hinweis an Henning Siekmann.
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(Gadamer)37, die zu den ältesten Kulturtechniken gehören. Der Dichter geht aber noch einen entscheidenden Schritt über sie hinaus, wenn er die Bildwirkung auf keine Aura, keinen Kniefall und keinen Animismus reduziert, sondern – Füchse und Wölfe sind seine Zeugen – das Symbolische insgesamt verwirft. So treibt er die Kritik picturaler Rahmenvernunft noch über sich selbst hinaus, um das Imaginäre und das Reale vollends zu entdifferenzieren. Keine Frage: Kleist, der das „Studium“, die Enzyklopädie der Romantiker sarkastisch und gewalttätig abbricht, vollzieht den „pictural turn“. Wenig später wird ein Verfahren erfunden, von dem es heißt, es bringe tatsächlich das Reale (die ‚Natur‘) unmittelbar und ohne den Umweg über „Boten“38 oder über jegliche Form der Repräsentation ins Bild. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, so wird berichtet, „wurden Abzüge von Fotografien Verstorbener unter Verwendung ihrer eigenen Asche angefertigt, die ‚den Teilen angehörten, die dem Licht nicht ausgesetzt waren. So erhält man ein Portrait, das vollkommen aus der dargestellten Person zusammengesetzt ist.‘“ 39
37 Vgl. Sigrid Weigel: „Bilder als Hauptakteure auf dem Schauplatz der Erkenntnis. Zur poiesis und episteme sprachlicher und visueller Bilder“, in: Ästhetische Erfahrung, Interventionen 13, hg. v. Jörg Huber, Wien/New York 2004, S. 191-212. 38 Sybille Krämer: Medium. Bote. Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt am Main 2008. 39 Bernd Stiegler: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern, Frankfurt am Main 2006, S. 234. Stiegler zitiert Rosalind Krauss: Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998, S. 29.
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Passion als Denkstil: Die Lektüre von Bildern als kritische Praxis Zur notwendigen Erneuerung einer kritischen Perspektive Im März 2009 veranstaltete die Rutgers University in New Jersey (USA) eine Konferenz zum Thema „Black Women in the Academe: Research and Praxis“, die sich – wie schon ein Vorläufersymposium 1995 – um eine Standortbestimmung schwarzer Akademikerinnen bemühte. Insbesondere zielte das Symposium auf eine Erkundung institutioneller Errungenschaften und neuer Herausforderungen für schwarze Wissenschaftlerinnen in den US-amerikanischen sogenannten Eliteuniversitäten. Die Konferenz legte nicht nur wichtige Forschungsergebnisse und neue Fragestellungen vor, sondern machte auch deutlich, dass errungene Erfolge viele neue Fragen aufwerfen. Das Tagungsprogramm zeigte etwa eine Interessensverschiebung von politischen zu persönlichen Themen, insofern der Diskussion von ‚Überlebensstrategien‘ im Universitätsalltag oder Fragen nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf mehr Raum gegeben wurde.1 Es geht hier nicht um eine Infragestellung der These, dass das Private immer auch politisch sei, oder um eine Diskreditierung der Relevanz persönlicher Belange im akademischen Betrieb. Vielmehr erinnert die thematische Verschiebung an die Schwierigkeit, eine kritische Perspektive unter sich wandelnden historischen und politischen Umständen beizubehalten und weiterzuentwickeln. So verwiesen die Veranstalterinnen auf jüngste Statistiken, denen zufolge die Zahlen schwarzer Lehrender an amerikanischen Universitäten rückläufig sind. Tatsächlich ist zu beobachten, dass sich die Rahmenbedingungen für Black Studies-Departments verschlechtert haben. Auch wenn dafür keinesfalls der Erfolg schwarzer Wissenschaftlerinnen verantwortlich zu machen ist, erscheint es dennoch sinnvoll, die Erfolge schwarzer Frauen in den Universitäten in einem weiter gefassten diskursiven Feld von Geschlecht und Rasse zu betrachten, so dass auch Faktoren wie sozialer Status und damit verbundene Privilegien erörtert werden können. Der Mangel an einer systemischen Analyse ist kein isoliertes Phänomen, sondern lässt sich auch in anderen Bereichen gegenwärtiger US-amerikanischer Wissenschaftspraxis wie Gender Studies, Queer Studies und Ethnic Studies beobachten. Auch hier zeigt sich der Bedarf nach Erneuerung eines kritischen Blicks auf die vielschichtigen Zusammenhänge – eine Erneuerung, in der die Diskurse von Rasse, 1 Die Konferenz vom März 2009 an der Rutgers University folgte dem 1995 gehaltenen Treffen „Black Women in the Academe. Defending Our Name“. Vgl. Deborah Gray White (Hg.): Telling Histories: Black Women Historians in the Ivory Tower, Chapel Hill 2008. Vgl. auch http://www.blackwomenintheivorytower.com/ [letzter Zugriff: 22.7.2009].
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Geschlecht und Sexualität aufeinander Bezug nehmen. Während der schwarze Feminismus durch seine grundlegende Kritik einst die feministische Wissenschaft wesentlich herausgefordert und verändert hat2, so unterstreicht die Rutgers Konferenz nunmehr die Notwendigkeit der Erneuerung einer kritischen Perspektive. Inge Stephan und Sigrid Weigel haben bereits im Jahr 1983 jene Spannung beschrieben, die sich in der wissenschaftlichen Arbeit zwischen dem Potenzial einer kritischen Herangehensweise und den Trugschlüssen einer verkürzten Perspektive ergibt. Seinerzeit stellte sich diese Frage im Rahmen feministischer Praxis und Theoriebildung in der Literaturwissenschaft: Weder die Tatsache, daß Frauen selbst als Forschende und Lehrende in die Akademie eintreten, noch die sehr allmählich um sich greifende Erscheinung von Seminaren und Forschungsarbeiten über Frauenthemen bedeutet schon feministische Wissenschaft. Diese erfordert eine parteiliche Durchforstung sämtlicher Methoden und Strukturen herrschender Wissenschaft und den Entwurf neuer Forschungs- und Kommunikationswege.3
Stephan und Weigel zeigen, dass die Einnahme einer Geschlechterperspektive allein keine kritische Sichtweise mit sich bringt. Ohne hier wichtige Unterschiede zwischen den Diskursen von Geschlecht und Rasse zu übergehen, machte auch die Rutgers Konferenz deutlich, dass der Einzug schwarzer Wissenschaftlerinnen in den Universitätsbetrieb nicht unbedingt die unterschiedlich codierten Strukturen der Ungleichheit verändert. Als Bestandsaufnahme eines historischen Moments kommt der Konferenz weitere Bedeutung zu. Ebenso wie die Wahl Barack Obamas zum amerikanischen Präsidenten nicht notwendigerweise die amerikanische Außenpolitik neu definiert oder gar die fortwährenden Strukturen sozialer und wirtschaftlicher Machtlosigkeit des Gros der schwarzamerikanischen Bevölkerung verändert, so korrespondiert auch der Einzug schwarzer Wissenschaftlerinnen in die ehemals weiß und männlich geprägten Eliteuniversitäten nicht unbedingt mit bedeutungsvollen Veränderungen im akademischen Betrieb. Die Gründe hierfür sind vielschichtig und können nur in einer sorgfältigen Analyse verschiedener Faktoren entschlüsselt werden. Nur eine dialektische Betrachtungsweise, die es aushält, mit und in Widersprüchen zu arbeiten, kann hier neue Wege aufzeigen.
2 Vgl. Patricia Hill Collins: Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment, New York 2000. 3 Inge Stephan/Sigrid Weigel: Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft, Hamburg 1983, S. 11.
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Passion: Ikonographie oder Denkstil Die Festschrift zu Ehren Sigrid Weigels hat mich zur Reflektion über diesen historischen Moment veranlasst – unter Berücksichtigung meines eigenen wissenschaftlichen Weges als Kulturwissenschaftler in den sich überschneidenden Bereichen der Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Cultural Studies. Ich verdanke Sigrid Weigel nicht nur ein umfassendes Wissen zu Literatur und Kunst, sondern auch den Erwerb differenzierter Analyseverfahren. Mein Beitrag, weder persönlicher Bekenntnistext noch Huldigung an Weigels wissenschaftliches Werk, folgt daher den Schnittstellen, in denen sich das Einüben einer aufmerksamen Arbeit an Text und Bild in meiner eigenen Praxis fortsetzt. Die titelgebenden „Passionen“ mögen zunächst vertraute kunsthistorische Themen nahelegen, etwa bekannte Zyklen zur Passion Christi, wie sie seit Mittelalter, Renaissance und Neuzeit geläufig sind, oder auch die vielbeachteten Arbeiten Bill Violas zum Thema. Der amerikanische Videokünstler schuf zwischen 2000 und 2001 The Passions, eine Serie von Installationen, die unter Entlehnung von Motiven aus der italienischen Renaissancemalerei die Darstellung starker Gemütsbewegungen als archetypische menschliche Ausdrucksformen erforschen.4 Mit Hilfe von Schauspielern und zeitgenössischen Kulissen sowie unter Verwendung neuester Bildschirmtechnologie lässt Viola Bildformeln der Renaissance wiedererstehen. Waren die Bildzeugnisse des Mittelalters und der Renaissance noch statisch, so macht die zeitlupenartige Bewegungsdarstellung der Protagonisten Violas Bildschöpfungen zu ‚lebenden Bildern‘: In ihrer technischen Perfektion erzeugen die Bildoberflächen die Illusion lebendig werdender Figuren. Allerdings verbraucht sich die Anziehungskraft der Bilder schnell, ist doch die Halbwertzeit dieser Effekte kurz. Die rasante technologische Entwicklung lässt jeden augenblicklich eindrucksvollen Bann in kürzester Zeit gestrig erscheinen. Die Faszination an Violas Neuschöpfungen tradierter Bildformeln weicht so der ernüchternden Einsicht, dass der eigentliche Effekt vom Spektakel gegenwärtiger Bildtechnologien herrührt, nicht aber von einer kritischen Neuinterpretation der historischen Inhalte im gegenwärtigen Kontext. Präsentiert sich Violas Arbeit im Gewand eines immer verführerischeren Realismus, so zeigt die Lektüre von Walter Benjamins „Kunstwerk“-Aufsatz, dass auch die neuesten Bildtechnologien ein zentrales Thema der Moderne wiederaufsuchen, das heißt die durch Druckgraphik und insbesondere Fotografie ermöglichte technische Reproduzierbarkeit eines Kunstwerks und den damit einhergehenden Verlust seiner Aura.5 Bill Violas mediale Neubearbeitungen der Passion Christi mögen hier als ein produktiver Umweg fungieren, der die Abkehr von einer Ikonographie der Passion ermöglicht und eine neue Sicht auf die Passion als Denkstil eröffnet. Denn durch einen solchen leidenschaftlichen Denkstil, gemäß der Bedeutung von ‚Passion‘ als 4 Vgl. Bill Viola: The Passions, Los Angeles 2003. 5 Vgl. Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1980, Bd. I.2, S. 431-508.
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intensiver Hingabe an eine Person oder ein Objekt, zeichnet sich Sigrid Weigels wissenschaftliche Praxis aus, so etwa durch die Leidenschaft für dialektische Analyseverfahren von Bild und Schrift, verstanden als kritische Praxis. Solch ein Erkenntnisinteresse versucht unermüdlich, eine Neubestimmung kritischer Wissenschaft vorzunehmen, die sich sowohl im historischen Prozess bewährt als auch in gegenwärtigen Belangen verankert bleibt.
Lektüren von Bildern und Blicken Es folgt eine kritische Lektüre von Bildern, die jeweils in dichten Beschreibungen eingeführt werden. Drei Beispiele aus der Gegenwartskunst veranschaulichen die Konstituierung von Identitäten mit Blick auf die Diskurse von Geschlecht, Rasse und sexueller Orientierung und damit die Konstruktion einer Identität im Spannungsfeld von Subjektivität und Fremdbestimmung. Die Bilder verdeutlichen dabei die resultierenden Konflikte zwischen eigenem Erleben und vorherrschenden Strukturen. Eine Fotomontage der US-amerikanischen Künstlerin Barbara Kruger präsentiert den Blick auf die rechte Gesichtshälfte einer jungen Frau (Abb. 1). Aus einer unsichtbaren Lichtquelle direkt über dem Kopf fallen Lichtstrahlen nach unten, die das Gesicht geometrisch und kantig erscheinen lassen. Die strahlend weiße Oberfläche des Profils erinnert zudem an den Kopf einer Marmorskulptur. Das Wechselspiel zwischen dem bewusst ‚überbelichtet‘ wirkenden Gesicht und dem dunklen Hintergrund erzeugt starke Kontraste, die zusammen mit klar konturierten Schatten die Linearität der Komposition unterstreichen. Am linken Bildrand erstreckt sich von oben nach unten jeweils in wechselnden schwarzen und weißen Wortblöcken der Text „Your gaze hits the side of my face“. Eine mögliche Lesart von Krugers Arbeit thematisiert, wie ein wohl männlicher Blick auf ein weibliches Gesicht trifft, und wie folglich die junge Frau unter der Macht des männlichen Blickes ‚zu Stein erstarrt‘. Eine kolorierte Federzeichnung des US-amerikanischen Künstlers Hank Willis Thomas zeigt eine Gruppe von drei Jungen unter einem Baum (Abb. 2). Der Titel der 2009 entstandenen Arbeit erscheint in Großbuchstaben unten im Bild: „THE DAY I DISCOVERED I WAS COLORED“. Die einander zugewandten Haltungen der Jungen deuten auf ein zwischen ihnen stattfindendes Gespräch. Die beiden linken Figuren erscheinen in ungezwungener Haltung, während der rechte Junge erstaunt wirkt, und seine ans Kinn geführte Hand markiert überdies einen Moment der Nachdenklichkeit. Beschrieben ist der Augenblick, in dem sich der Junge zum ersten Mal als schwarz erlebt. Diese Erfahrung stammt nicht aus eigener Wahrnehmung, sondern ergibt sich in der Gegenüberstellung mit den anderen Jungen. Der perplexe Gesichtsausdruck des nunmehr sich selbst als schwarz und damit ‚anders‘ erlebenden Jungen deutet auf die Schmerzhaftigkeit dieser Erfahrung. Der allgemeine Stil der Arbeit, der sich auch in zeitgenössischer Kleidung und Haarschnitten offenbart, verweist bei dieser Zeichnung auf eine Aneignung von Bildquellen aus den
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Abb. 1: Barbara Kruger: Ohne Titel (Your Gaze Hits the Side of My Face)
1960er Jahren. Tatsächlich beschreibt Willis, das Motiv stamme aus einer Ausgabe des Negro Digest, einem literarischen Wochenmagazin für Afroamerikaner aus dem Jahre 1961. Er stieß auf dieses Bild während seiner Arbeit an einem Ausstellungsprojekt, das sich mit der Darstellung von Identitäten befasst: „That picture, [in the magazine] with this black boy being told that he is different by these two white kids, and having to try to understand – it really made the moment clear for most black people when we learn that we are ‚colored.‘ Recently, I remembered the day I discovered I was ‚colored‘, officially.“6 Eine Fotomontage des US-amerikanischen Künstlers David Wojnarowicz zeigt das Halbporträt eines Jungen, umgeben von Text (Abb. 3). In zwei Spalten unterteilt, zieht sich die Textsequenz von links oben nach rechts unten. Das Bild ist eine Aufnahme des Künstlers aus Kindheitstagen. Das lächelnde Gesicht des Jungen sowie das gemusterte Hemd und die Hosenträger unterstreichen seine Kindlich-
6 Petrushka Bazin: „Pitch Blackness: A Conversation with Hank Willis Thomas“, in: Art in America, 28. Februar 2009. Vgl. http://www.artinamericamagazine.com/news-opinion/ conversations/2009-02-28/pitch-blackness-hank-willis-thomas-in-conversation/ [letzter Zugriff: 22.7.2009].
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Abb. 2: Hank Willis Thomas: The Day I Discovered I Was Colored
keit, die im Kontrast zum ernüchternden Inhalt des Textes steht. Die Sätze in der linken Bildhälfte beginnen meist mit der Aussage „One day this kid…“, eine Formulierung, die an den Beginn von Märchen erinnert. Die rechte Bildhälfte wird dominiert von Satzanfängen wie „This kid will…“. Betont die bildliche Darstellung des Jungen seine jugendliche ‚Unschuld‘, so kündet der Text von der bevorstehenden Entzauberung der Kindheit im Prozess des Erwachsenwerdens. Wojnarowicz thematisiert die Erfahrung der eigenen Ausgrenzung aufgrund der Markierung als Anderer, hier das Bewusstwerden der gleichgeschlechtlichen Neigung, die wiederum mit Vorurteilen, Verfolgung oder Gewalt assoziiert wird. Die Arbeiten von Kruger, Willis und Wojnarowicz visualisieren Momente der Subjektformation, die mit dem Begreifen des Eingebundenseins in Machtkonstellationen einhergeht. Diese wiederum konstituieren sich in einer Ökonomie von Blicken. Neben der Dynamik des Erwachsenwerdens geht es hier um den Eintritt in eine symbolische Ordnung, in der die universelle Erfahrung menschlicher Identität und Gleichheit ersetzt wird durch die Realisierung des Unterworfenseins unter die Hierarchien verschiedener Identitätskonstruktionen. Alle drei Arbeiten verfolgen, wie sich diese Identitätsprozesse in visuellen Systemen manifestieren.7 7 Vgl. hierzu Literatur in der Nachfolge von Laura Mulvey: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, in: Screen 16/3, 1975, S. 6-18. Vgl. auch Richard Dyer: White. Essays on Race and Culture, London 1997.
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Abb. 3: David Wojnarowicz: Ohne Titel (One Day This Kid…)
Der Blick auf die Subjektformation als visuelles Regime lenkt die Aufmerksamkeit auf Sigrid Weigels These vom „schielenden Blick“. Weigel beschreibt den schielenden Blick als feministisches Vermögen einer differenzierten Perspektive auf die Position von Frauen als gleichzeitig Beschriebenen und Schreibenden: „Da die kulturelle Ordnung von Männern regiert wird, aber die Frauen ihr dennoch angehören, benutzen auch diese die Normen, deren Objekt sie selbst sind. D.h. die Frau in der männlichen Ordnung ist zugleich beteiligt und ausgegrenzt.“8 Ausgangspunkt für die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Verfahren ist für Sigrid Weigel eine Bewusstwerdung jener Spannung, die Frauen erleben in dem gleichzeitigen Blick auf den erworbenen Subjektstatus als Akteurinnen der Geschichte einerseits und auf das immer schon Beschriebensein im Sinne von Frauenbildern und den damit einhergehenden Objektstatus andererseits. Da beide Perspektiven einander gemeinhin ausschließen, beschreibt Weigel die Fähigkeit der Navigation zwischen beiden Sichtweisen auch als „schielend“. Ein solcher Blick markiert eine kritische Strategie, die es erlaubt, unter bestehenden Umständen des Eingeschriebenseins in eine symbolische Ordnung handeln zu können, ohne den Blick auf eine Utopie aufzu8 Vgl. Sigrid Weigel: „Der schielende Blick. Thesen zur Geschichte weiblicher Schreibpraxis“, in: Stephan/Weigel: Die verborgene Frau (Anm. 3), S. 83-137, hier S. 85.
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geben, die nicht mehr von Strukturen der Ungleichheit regiert werden würde: „Meine These vom schielenden Blick als feministisches Vermögen antwortet auf die Tatsachen, daß dieser Konflikt hier und heute nicht auflösbar ist.“9 Ein ähnliches Doppelbewusstsein als Akteure der Geschichte und als bereits immer schon Beschriebene findet sich in der 1903 veröffentlichten Schrift The Souls of Black Folk von W.E.B. Du Bois. Der in Harvard und Berlin ausgebildete schwarzamerikanische Soziologe legte seinerzeit erstmalig eine differenzierte Beschreibung der historischen Situation schwarzer Amerikaner vor: […] the Negro is a sort of seventh son, born with a veil, and gifted with second-sight in this American world, – a world which yields him no true self-consciousness, but only lets him see himself through the revelation of the other world. It is a peculiar sensation, this double-consciousness, this sense of always looking at one’s self through the eyes of others, of measuring one’s soul by the tape of a world that looks on in amused contempt and pity. One ever feels this two-ness, – an American, a Negro; two souls, two thoughts, two unreconciled strivings; two warring ideals in one dark body, whose dogged strength alone keeps it from being torn asunder.10
Du Bois beschreibt einsichtsvoll die scheinbar unauflösbaren Widersprüche, in denen schwarze Amerikaner ihre Identität erleben. Im Zuge der Emanzipation sehen sie sich einerseits als befreite Bürger, erfahren sich aufgrund ihrer schwarzen Hautfarbe aber andererseits als von der gesellschaftlichen Ordnung symbolisch Ausgeschlossene. Weigels Konzept des „schielenden Blicks“ und Du Bois’ Theorie eines Doppelbewusstseins zeigen trotz aller Unterschiede bezogen auf das Genre und den historischen Kontext vergleichbare Strukturmerkmale. Beide Texte verfahren mit der These einer doppelten Perspektive: Weigels „schielender Blick“ wirbt für den Erwerb einer Fähigkeit, die es ermöglicht, die Spannung zwischen Frauen als Akteuren der Geschichte und ihrem Status als immer schon Beschriebene gleichzeitig im Blick zu halten. Du Bois’ Rede vom Doppeltbewusstsein beschreibt die Erkenntnis von schwarzen Amerikanern, sich gleichzeitig als der amerikanischen Gesellschaft zugehörig und von ihr ausgeschlossen wahrzunehmen. Weigels „schielender Blick“ und Du Bois’ „doppeltes Bewusstsein“ bezeichnen daher Kompetenzen, die eine kritische Perspektive und somit Bewusstseinsänderung ermöglichen, denn das Erkennen historischer und gegenwärtiger Bedingungen ermöglicht ein Verstehen der Komplexität der eigenen Existenz. Die Einsicht in die Mechanismen dieses Subjektstatus geht mit der Fähigkeit einher, sich als in eine Situation eingebunden wahrzunehmen, aber auch als handelnd zu erleben. Dies wiederum erlaubt, die einander widerstrebenden Bewegungen im Blick zu halten und sie in dialektischer Weise schöpferisch zu nutzen. Beide Texte thematisieren das Bewusstsein, zwischen den widersprüchlichen Strukturen einer Subjektivität in den Diskursen von Geschlecht und Rasse gefan9 Ebd., S. 121. 10 W. E. B. Du Bois: The Souls of Black Folk, New York 2007, S. 8.
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gen zu sein. Dieser Vergleich zielt nicht auf ein Verwischen wichtiger Unterschiede, hat doch Sigrid Weigel selbst dieses Thema kritisch erörtert, indem sie die Anfänge feministischer und postkolonialer Wissenschaft als ein Verhältnis von ‚Frauenkulturen‘ und anderen ‚anderen Kulturen‘ zueinander in Beziehung gesetzt hat: Am meisten Bezüge scheinen zur Theorie der ‚fremden Kultur‘, genauer noch zur Beziehung zwischen Kolonisator und Kolonisiertem, zu bestehen. Auch diese ist das Produkt eines historischen Prozesses, der den Charakter eines Zwangszusammenhanges trägt. Ähnlich wie die ‚Kolonisierung der Köpfe‘ (F. Fanon) die andere Kultur verändert und zerstört, ist im Mechanismus einer Patriarchalisierung der Gedanken die Frau der Gefahr einer Assimilierung ausgesetzt, sobald sie in die (und innerhalb der) männlichen Ordnung aufsteigt.11
1983 rät Weigel berechtigterweise noch zur Vorsicht gegenüber voreiligen Brückenschlüssen im Studium von ‚Frauenkulturen‘ und den Kulturen der ‚Kolonialisierten‘, ist doch diese Geschichte auch immer aus der Sicht der Kolonisierenden geschrieben. Die kritische Auseinandersetzung mit diesen Themen und die Weiterentwicklung wissenschaftlicher Praxis gibt jedoch Grund zur Hoffnung für ein neues Projekt, das hier nur skizzenhaft umrissen werden kann: die Entwicklung neuer Arbeitsweisen, die es ermöglichen, Bild und Schrift so zu ergründen, dass die Dichte der in Kunst und Literatur anzutreffenden Bedeutungskonstellationen auf ebenso leistungsfähige analytische Verfahren trifft. Sigrid Weigels kritische Lektüre kultureller Produktion sowie ihre treffsicheren dialektischen Beschreibungsweisen weisen hier in eine produktive Richtung. Vermögen doch nur solche Beschreibungen der Komplexität individueller und sozialer Realität sowie ihren Funktionsweisen gerecht zu werden, die in der Lage sind, Texte und Bilder in systemischer Perspektive zu betrachten.
11 Weigel: „Der schielende Blick. Thesen zur Geschichte weiblicher Schreibpraxis“, in: Stephan/Weigel: Die verborgene Frau (Anm. 3), S. 83-137, hier S. 86.
BICE CURIGER
Mit der Leidenschaft des Anderen Ein Kurzführer durch das Werk von Thomas Hirschhorn Schon seit Ende der 1980er Jahre und bis heute setzt der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn Gesten in den öffentlichen Raum, aber auch in Museen und in Galerien, die das Wesen eines irrlichternden Mementos aufweisen, Zeichen einer kalkuliert in Szene gesetzten Hilflosigkeit. Dabei erfindet er sozusagen eine Kunstfigur, die seine Werke zu machen scheint. Seine wuchernden Objekte, Schrift- und Bildtafeln, entsprechen Handlungen, die ein Getriebener, ein Wahnsinniger gemacht haben könnte. Hirschhorn betätigt sich somit als Überbringer einer entfesselt leidenschaftlichen Emotionalität, die in krassem Kontrast steht zum kontrollierten, von der Vernunft gelenkten, von übertriebenen Affekten und Irrationalität geläuterten Idealbild des westlich aufgeklärten Kulturmenschen.
JEMAND KÜMMERT SICH UM MEINE ARBEIT (1992) 1992 stellt Hirschhorn Werke aus seiner Serie Fifty/Fifty, an denen er drei Monate gearbeitet hat, vor die Eingangstüre seiner Wohnung im zehnten Pariser Arrondissement, rue du Buisson St. Louis – Werke aus Karton, Holz oder Papier, die ihren Namen aus der Tatsache beziehen, dass sie jeweils zur einen Hälfte mit Zeitungsausschnitten oder Klebeband überzogen sind. Solche Arbeiten hat er in verkleinertem Format auch an U-Bahnstationen den Passanten wie Flugblätter verteilt. Ein paar bescheidene Fotos dokumentieren das darauf folgende beiläufige Geschehen am Straßenrand: Die Müllmänner erspähen sofort die ‚bereitgestellte Ware‘ − und entsorgen sie. Mit Hirschhorns halbprivater Aktion ist eine listige Metapher ins soziale Spielfeld gesetzt, der auch bereits eine Art künstlerisches Programm eingeschrieben ist. Das Besondere an Thomas Hirschhorns frühen Arbeiten ist, dass sie die Rolle des Künstlers ausloten, indem er seine fragilen, hinfälligen Objekte dem urban-funktionalen Ablauf und der höchst möglichen Reibung aussetzt: Die meisten enden durch ‚institutionalisierte‘ Zerstörung – eben durch die Müllabfuhr. Der Clou aber ist die überraschend positive Wendung im Titel der Aktion: Jemand kümmert sich um meine Arbeit. Statt Anklage wird hier Demut artikuliert: Ist es die kennzeichnende Haltung von Ausgestoßenen, Zuwendung ausgerechnet an den verzweifelt absurdesten Orten zu suchen? Dass der Vorgang des ‚Entsorgens‘ und damit das routinierte Greifen einer amtlichen Handlung zum Angelpunkt einer tiefer greifenden ‚Sinnwendung‘ auserkoren wird, die hinführt ins Wärmefeld menschlicher Fürsorge, ist typisch für Thomas Hirschhorns alchemistischen Humor, für seine listige soziale Sezierkunst. Hier wird jener besondere Blick vorge-
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Abb. 1: JEMAND KÜMMERT SICH UM MEINE ARBEIT, 1992. Paris
Abb. 2: LESS IS LESS, MORE IS MORE, 1995. „Africus: First Johannesburg Biennale“, Johannesburg
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führt, der sich dem großen funktionalen Fluss dieser Welt, der Abstumpfung und Verlust an Sensibilität bedeutet, von innen her mit Leidenschaft widersetzt.
LESS IS LESS, MORE IS MORE (1995) Ist es der ‚niedere Zauber‘ einer improvisierten Karnevalsdekoration in einer Landdisco, der hier beschworen wird? Oder sind es eher die frivolen Silberfolienwände von Andy Warhols Factory? Thomas Hirschhorns Raumarbeit Less is Less, More is More ist als Panorama angelegt, das sich nur von einer gewissen optischen Distanz aus als Ganzes erschließt, eine Art ‚Modell‘ mit betonter vertikaler und horizontaler Gliederung. Anklänge an Architektur, an die Formauffassung der Moderne, sind auch im Titel lesbar, im trotzig verballhornten Diktum Mies van der Rohes: „Less is More“ heißt bei Hirschhorn nun „Less is less, more is more“. Einmal mehr versteckt der Künstler eine allgemeine künstlerische Stellungnahme in diesem Werk. Die im Titel postulierte existenzielle, sozusagen sozial-menschliche Perspektive benennt einen klaren Kontrast. Welch Gegensatz stellt doch sein künstlerisches Tun dar im Vergleich zu den vielen nobel zurückhaltenden Formalismen unserer Zeit, in welchen das geschmackvoll routiniert zur Anwendung gebrachte „Less is More“ dazu dient, Unerhebliches mit Bedeutsamkeit aufzuladen. Bei Thomas Hirschhorn hingegen kommt Bedeutung von innen her, sie bricht aus dem Werk selber heraus wie eine Sturzflut. Das Werk Less is Less, More is More wirkt wie ein großer, aufgesperrter Rachen voller Spiegelungen, ein Schlund, der schluckt, in sich aufnimmt und einverleibt, was in der Umgebung ist. Immer wieder ist Thomas Hirschhorn der Vorwurf gemacht worden, er überfrachte seine Arbeiten. Im Überwinden formalökonomischer Kriterien zielt er nicht nur auf jene andere Auffassung von Ökonomie, nach der weniger Besitz noch immer weniger Besitz bedeutet, wie die überspitzte Übersetzung von „Less is less“ bedeuten könnte, sondern auch auf eine Handhabung der Form, die ebenso bewusst dem Exzess und der Idee der Verausgabung huldigt.
PRÉSENTOIR: LES PLAINTIFS, LES BÊTES, LES POLITIQUES (1995) Diese Arbeit Hirschhorns erinnert an die Menschen, die einen am Straßenrand mit selbstgebastelten Schildern und Pamphleten vor dem nahenden Weltuntergang, vor Krieg, Strahlen oder Besuchern aus dem Weltall warnen. S.V.P., s’il vous plaît, der Appell, das Buch zu kaufen, mit Pfeilen und Hinweisen auf das Promo-TV, groß in weißen Buchstaben auf grünem Stoff, geht im Buch selber über in die Litanei „Helfen Sie mir zu verstehen...“, „Aidez-moi comprendre...“. Gefolgt von untertänigem „Merci!“ oder „Merci beaucoup pour tout“. Sich dumm stellen, wie im Titel schon angekündigt, heißt, mit selbsternannter Lizenz ‚Verbotenes‘, ‚Ungedachtes‘ ausprobieren zu wollen. Eine bereit liegende, von Hirschhorn gestaltete Publikation mit ihrem Wechselbad aus Horror und zer-
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Abb. 3: PRÉSENTOIR: LES PLAINTIFS, LES BÊTES, LES POLITIQUES, 1995. Centre Genevois de Gravure Contemporaine, Genève
Abb. 4: TRÄNENTISCH, 1996. Kunstmuseum Luzern
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setzendem Humor unterminiert auch manches Klischee um das Buch als kultiviertes Objekt und seinen aufklärerischen Nimbus. Es ist, als ob Thomas Hirschhorn mit Goyas Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer fragen möchte: Wie kommt es, dass so viele Ungeheuer, ja das Ungeheuerliche, trotz all Eurer Vernunft noch immer in aller Krassheit existiert? „Aidez-moi à comprendre“.
TRÄNENTISCH (1996) Das Ich, das uns in Thomas Hirschhorns Arbeiten begegnet, ist eine Kunststimme. Sie gehört einer Projektionsfigur. In ihr bündelt sich die Kraft, die uns allen aus zivilisatorischen und vor allem sozialen Gründen ausgetrieben wurde. Diese Figur ist ein kollektives Alter Ego, unser aller anderes Wir. So könnte denn die hell erleuchtete Reihe der Übersetzerkabinen in Tränentisch ein Hinweis auf Hirschhorns Auffassung von der Kunst als ‚Übersetzerarbeit‘ sein, die kulturell Einschränkendes überwinden, Fernes zugänglich machen will. Nicht Politkunst oder politische Kunst mache er, sondern Kunst auf politische Art und Weise („faire de l’art politiquement“), sagt Hirschhorn. Tränentisch ist dem Thema des Fließen-Lassens, dem Wuchern und Quellen der Emotion gewidmet. Eine Auslegeordnung auf dem Tisch lässt an die von Forschern, vielleicht Archäologen oder Biologen, ausgebreiteten Elemente, Versatzstücke − etwa Teile einer unbekannten Riesenkrake − denken, die Zeugnis ablegen von der unzugänglichen Unterwelt im Meer. Phantasie und Kombinationsfähigkeit sind beim Betrachter gefordert, um die Riesenform der Qualle (als Metapher einer bedrohlichen Emotion), von der erst ein minimaler Ausschnitt zu sehen ist, zu erahnen.
SKULPTUR–SORTIER–STATION (1997) Zu dieser Ausstellung ist ein Katalog erschienen, in dessen erweiterter dritter Auflage die Schriften von Thomas Hirschhorn, zum Teil handgeschrieben oder mit Schreibmaschine, wie selber gemacht am Photokopier-Gerät, zusammengefasst sind. In ihnen lässt sich eindrücklich und paradox der Ausdruck seines rationalen, planerischen Vorgehens erkennen, der die Geschwindigkeit und den Druck, das Engagement und die Sorgfalt, die Reflexion und die selbstkritische Haltung auf sein Banner geschrieben hat. Für die Skulpturenausstellung im öffentlichen Raum „Skulptur, Projekte“ in Münster entsteht diese Arbeit, die aussieht wie ein langes Gefährt ohne Räder oder wie eine riesige Wohnwagenattrappe, leuchtend, eine Maschine aus Karton und Plastik, die als Skulptur in ihrer ausladenden Ärmlichkeit wie ein gelandetes UFO erscheint, ein schäbiges Wunderding, das von Innen her strahlt. Die Fenster geben den Blick frei in zehn kubische Abteile, sie enthalten je eine weitere Skulptur. Die Skulptur-Sortier-Station vermittelt ein Wunderkammer-Feeling: Stalaktiten und Stalagmiten aus Alufolie und aufgereihte Löffelchen, nachgebildete Pokale, gar eine White
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Abb. 5: SKULPTUR-SORTIER-STATION, MÜNSTER, 1997. Münster und Métro-Haltestelle Stalingrad, Paris, Sammlung des Musée d’art moderne, Paris 2001
Abb. 6: INGEBORG BACHMANN ALTAR, 1998. „Freie Sicht aufs Mittelmeer“, Kunsthaus Zürich
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Cube-Paraphrase eines Kunstraums mit schlanken Säulen und fingierten Hirschhorn-Bildern an der Wand, ein großes Chanel- und ein ebenso enormes MercedesZeichen. Die beschworenen Fetische unserer Warenkultur mischen sich mit den ‚materialisierten‘ Erinnerungen an die in ihrer Zeit unverstandenen oder verfemten Schriftsteller und Künstler Robert Walser, Emmanuel Bove und Otto Freundlich. Diese Skulptur-Sortier-Station imitiert auch die Container für Flaschen- und Altmetallentsorgung, die auf der materialistisch-praktischen Ebene an den Bürgersinn appellieren. Darin bezeugt Hirschhorn einmal mehr sein Interesse an der Warenzirkulation und vor allem an der sozialen Einfärbung, welche die Produkte, die Dinge, befällt und auflädt, nachdem sie Teil der Zirkulation geworden sind. Ein guter Ort auch, um ganz allgemein gesellschaftliche Wertschätzung zu thematisieren und das Sorgetragen für die Umwelt provokativ mit dem Respekt vor dem Menschen, vor Geist und Kunst zu vergleichen.
INGEBORG BACHMANN ALTAR (1998) Thomas Hirschhorn ist ein Formalist der umgekehrten Vorzeichen. Einer, welcher der Form die allerletzten Autonomiereste austreibt, um ihr dann wiederum neue Freiheiten einzuhauchen. Die Inhalte in seiner Kunst treffen einen gerade deshalb, weil die Werke mit höchster formaler Stringenz und philosophischer List vorgeben, von einem gemacht worden zu sein, der ungeschult, hilflos und unbeherrscht ist. Hirschhorn leitet seine Formvorstellungen aus der Erfahrung im ‚sozialen Ablauf‘ ab, um diese mit seinen Inhalten zusammenzuführen. Die Inhalte sind ‚vermittelte‘ Inhalte. Der Künstler definiert und lenkt, doch ist er eher Durchgangsstation. Die Werke bieten statt eines Blicks in eine sublime abstrakte Realität, wie es etwa die ungegenständlichen Bilder der Midcentury Moderne suggerierten, eine Sicht auf die Wirklichkeit in potenzierter Form. In ihnen überlagern sich seine eigenen Entscheidungen mit jenen, die er im Namen fiktiver Anwesender macht, sowie mit den Entscheidungen jener Mächte, die unsere Welt so gestaltet haben, wie sie ist. Wenn Hirschhorn nun in seinen Altaren, Kiosken und Denkmälern sich als ‚Fan‘ von Persönlichkeiten betätigt, bezieht er sich auf ein verbindliches Angebot. Ingeborg Bachmann, Piet Mondrian, Otto Freundlich und Raymond Carver werden von vielen geschätzt, doch ein Fan zu sein bedeutet, sich auf die ‚niedere‘ Ebene von Fußball- und Unterhaltungsverehrung zu begeben, zu lieben und sich mit Leidenschaft zu engagieren. Das Feuer des Amateurs, des Autodidakten, kontrastiert mit der kontrollierten und im Vergleich unterkühlt sachlichen Haltung des Akademikers. Die Altare sind Wunden im Asphalt. Eine anonyme, stumme, kollektive Gefühlsäußerung am Wegrand. Eine niedere visuelle Blüte, die den Schluss zulässt, ebenso fragil zu sein wie ein Künstlerleben in unserer Gesellschaft. Ingeborg Bachmann: arriviert, abgesegnet, integriert? Gehören Kulturgrößen allen, wirklich allen? Oder nur den Gezähmten, den Kultivierten, den nach Objektivität Strebenden? Gerade durch den ‚Kitsch und Tand‘, durch die als ‚unkultiviert‘ konnotierten
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Abb. 7: MERET OPPENHEIM KIOSK, KIOSK NR. 4, 2000. Universität Zürich, Irchel
Codes der subjektiven Wertschätzung stößt Hirschhorn paradoxerweise wieder zu einem Kern, zum Bild des existentiellen Ausgesetztseins, vor.
MERET OPPENHEIM KIOSK (2000) Thomas Hirschhorn gewinnt einen Wettbewerb für Kunst am Bau. Sein Projekt sieht vor, in die solide, funktionale Eingangshalle des Instituts für Gehirnforschung und Molekularbiologie der Universität in Zürich in einer Zeitspanne von vier Jahren acht Kioske hineinzubauen, die je ein halbes Jahr lang Informationen zu folgenden Persönlichkeiten der Kultur anbieten würden: Robert Walser, Ingeborg Bachmann, Emmanuel Bove, Meret Oppenheim, Fernand Léger, Emil Nolde, Ljobov Popova und Otto Freundlich. Natürlich hätte man, in der Sprache der Wissenschaft gesprochen, einfach einen Computerterminal hinstellen können, gespeist mit allerlei Wissenswertem, was über die Genannten zu finden ist. Stattdessen sieht sich der unvorbereitete Besucher des Instituts einer zerzausten, windigen Konstruktion gegenüber, die an der Decke mit braunen Klebern verankert ist. Verklebt mit Schriften, verstellt mit Möbeln, Fernsehgeräten und allerlei bizarren Objekten, welche starke ‚Lebensspuren‘ aufweisen, sind diese Kioske fremdartige, irgendwie warme Zellen in kühlem Environment.
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Abb. 8: DELEUZE MONUMENT, 2000. „La Beauté“, Avignon
Signalisiert wird, dass hier eine Überzeugungstat geschehen ist, und es nicht darum geht, in technokratischer Weise einen Wissenstransfer zu vollziehen. Die Kioske werden zu Orten des kurzen Aufflackerns, des Wiedererweckens einer geistigen Leistung, des Sich-Einfühlens in einen alles andere als stromlinienförmigen Lebenslauf. Sie sind auch Modelle für ein offenes System, das einlädt, sich auf weit entfernt liegende Bewusstseinsmöglichkeiten, ja -planeten einzulassen. Diese wilden krausen Gebilde verkörpern Keimzellen der Aufrüttelung, die mit Bedacht in eine elegant aufgeschlossene Bildungsstätte gesetzt werden. Und man hat es auch so verstanden: Erst gab’s einen Skandal mit harschem Protest (es wurde sofort aufgerechnet, was man mit dem Geld universitär auch hätte machen können), bis im Laufe der Zeit die Stimmung umschlug und die Professoren- und Assistentenschaft zur Einweihung eines der letzten Kioske in selbstgemachten Pappkostümen als lebende Hirschhorn-Paraphrasen erschienen.
DELEUZE MONUMENT (2000) In den Monumenten praktiziert Thomas Hirschhorn etwas, das man ‚Experimentelle Utopie‘ nennen könnte, was nicht zu verwechseln ist mit Sozialutopie, wie sie etwa in den Beispielen von Wohnmodellen im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts vorgelebt wurde. In Hirschhorns Monumenten vollziehen sich augenblickliche Berührungen zwischen Denken und Leben, Anschauung und Abstraktion, in
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Abb. 9: WIRTSCHAFTSLANDSCHAFT DAVOS, 2001. Kunsthaus Zürich
beispielloser Art und Weise. Diese Monumente sind gekoppelt an einen extrem freiheitlichen und phantastischen Anspruch. Im Gegensatz zu einem gängigen Monument sind diese kurzlebig im Sinne von ‚akut‘, deshalb leben sie in der Erinnerung der Menschen als komplexe ungewöhnliche Erfahrung fort. Eine ganze Gruppe von Monumenten sollte es sein. Thomas Hirschhorn setzt sein erstes, Spinoza gewidmetes Werk in Amsterdam ins Rotlichtmilieu. Das nachfolgende, dem Philosophen Gilles Deleuze gewidmet, kommt nach Avignon in ein quartier populaire, wo vorwiegend Menschen aus Nordafrika leben. Hirschhorns Monumente schüchtern niemanden ein. Als ‚Institutionen der Wertschätzung‘ stellen sie einen Aufmerksamkeits-Knotenpunkt dar, welche der Künstler mit der Idee des ‚Ambulanten‘ verknüpft, die er in seinen frühen Arbeiten, in der Autogalerie, im Merci-Bus, in der Kunsthalle prekär, ausprobiert hat. In Allerweltsmaterialien gefertigt, jedoch ausgestattet mit der größtmöglichen unkorrumpierbaren Energie, kommen sie ‚von unten‘, sie sind unangepasst und zugänglich. Auch diese Monumente sind wie die meisten Denkmäler auf eine Persönlichkeit ausgerichtet, doch machen sie zugleich klar, dass man ein Fan dieser Person sein kann. Sind nicht die meisten Menschen in unserer Gesellschaft Fan von irgend jemandem? Zum Deleuze Monument gehört ein enormer blauer Kopf mit Sockel zum Draufsitzen. Dieser ist die eigentliche ‚Statue‘ im ausgreifenden Ensemble und dient zugleich
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Abb. 10: BATAILLE MONUMENT, 2002. Documenta 11, Kassel 2002
auch als Informationspavillon, der mit Büchern und einigen Videos ausgestattet ist. Hier ist auch das ABCédaire zu sehen, ein postum veröffentlichtes Filminterview, in welchem Gilles Deleuze − unvorbereitet − auf Stichworte Claire Parnets antwortet, die von A = Animal über D = Désir, R = Résistance bis hin zu Z = Zigzag reichen.
WIRTSCHAFTSLAND DAVOS (2001) Eine wahre Okkupation eines Museumssaals findet hier statt, denn hinter den blauen Plastikbahnen mit den Neonlichtständern, den Stacheldrahtrollen und den Gängen mit den Schrifttafeln blitzen noch die großen Gemälde von Baselitz und Kiefer hervor, die sonst den Raum dominieren. Thomas Hirschhorn hat in Kartonage-Arbeit ein riesiges Landschaftspanorama in den Raum gebaut − mit Schneebergen, Häusern, Seen, Bergbahnen −, das zugleich ein Kriegsschauplatz geworden ist. Es ist der berühmte Bergort Davos, der hier ins Blickfeld gerückt wird, wo jährlich das World Economic Forum stattfindet und mit dem auch die Globalisierungsgegner, die Polizei und das Militär in den Ferienort einziehen. In Hirschhorns Anlage sind es Hunderte von überproportionierten männlichen Barbiepuppen in Tarnanzügen, auf Schlauchbooten, bewehrt mit Helikoptern und Panzern, die nun visuelle Misstöne erzeugen.
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Abb. 11: MUSÉE PRÉCAIRE ALBINET, unter Mitarbeit der Laboratoires d’Aubervilliers, 2004. Albinet, quartier du Landy
Die mythische Landschaft von Davos − Ernst Ludwig Kirchner hat sie mannigfach gemalt, Thomas Mann beschwor im Zauberberg ihre heilende Kraft −, dieses Symbol der Reinheit, scheint nun selber kontaminiert, von den Übeln der Welt erfasst, als sei das Übel wie von außen über den Rand der Bergkämme hinein geschwappt. Eine Vielstimmigkeit breitet sich überall auf Tischen, Wänden, Flugblättern aus, die in ausufernder Quantität ortsspezifische Informationen zur Kulturgeschichte, Politik, Ökonomie, Architektur und Klima vermitteln, um sich zu einer einzigen Stimme der Besorgnis zu bündeln. Es ist diese Stimme, die sich vom Ton der Kennerschaft und der Behauptung des Besserwisserischen abgrenzt und stattdessen diese Mahnmale gegen die Indifferenz erstellt, ohne Lösungen oder Programme anzubieten.
BATAILLE MONUMENT (2002) Das dritte der geplanten vier Monumente ist dem Schriftsteller und Philosophen Georges Bataille gewidmet. Thomas Hirschhorn hat es mit Jugendlichen und Bewohnern eines Quartiers, in dem vorwiegend türkische Migranten leben, dort im Zusammenhang mit der Documenta erstellt, wo es hundert Tage lang zu besuchen war.
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Abb. 12a und 12b: DIE UR-COLLAGE, 2008/09. Galerie Susanna Kulli, Zürich
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Wieder gilt es festzustellen: Die Arbeit ist nicht anbiedernd, das Monument für Georges Bataille hätte auch irgendwo anders auf der Welt stehen können. Die Wahl aber ist bezeichnend für das Denken von Hirschhorn, der Bataille verehrt, weil dieser jenseits der Disziplinen Kraftfelder öffne zwischen Ökonomie, Politik, Literatur, Kunst, Erotik und Archäologie, ganz im Geiste eines ‚Potlatch‘, einer Verausgabung, einer Verschwendung der Reichtümer, wie dies Batailles Aufsatz La notion de dépense (1933) und das Buch La part maudite (1949) zum Ausdruck bringen. In Kassel trugen sich täglich extravagante Begebenheiten zu. Als künstlerische Aktionen strahlen Hirschhorns Monumente in ihrer wilden Furchtlosigkeit eine Form von drängender, Fesseln sprengender Schönheit aus. Eine explosive Schönheit, die den Surrealisten, denen Bataille nahestand, gefallen hätte. Es sind Bilder gegen die soziologische Tautologie, Denkräume der Freundlichkeit und der Freiheit, die hier in die Welt gesetzt wurden. Das Monument als geistiges Angebot kommt auch einer enormen Anstrengung gleich, die kollektiv erschaffen worden ist. Auf dem Gelände gab es − zwischen die Wohnhäuser gebaut und mit einer farbigen Glühbirnen-Girlande verbunden − eine Bataille-Ausstellung, eine Imbissstube, eine Bibliothek, Workshops, ein TV-Studio, wo täglich Sendungen in den Lokalkanal eingespeist wurden, eine Website mit Webkameras und eine Skulptur in Form eines großen Baumstrunks in Holz, Karton, Klebeband und Plastik. In diesem Sinn hat der Künstler, der während hundert Tagen auf dem Gelände blieb, Anschauungsmaterial geschaffen für die Bataille’schen Begriffe der ‚Gabe‘ und der ‚Verausgabung‘.
MUSÉE PRÉCAIRE ALBINET (2004) Die Öffnung hin zu einem nicht-exklusiven Publikum hat sich in den vergangenen vierzig Jahren in der Praxis der Museen und Medien mit einiger Vehemenz etabliert, die leider auch viel Peinlichkeit und Anbiederung generiert hat − wie schnell verkehren sich dabei edle Motive in ihr Gegenteil, vermischen sich mit marktstrategischen Interessen, um Kunst und Künstler bis hin zur Unkenntlichkeit zu entstellen und als kulturindustrielles ‚Material‘ zu missbrauchen. Thomas Hirschhorn hat mit seinen Arbeiten im ‚sozialen Raum‘, aber ganz besonders nun mit seinem Musée Précaire (2004) ein Gegenfanal in die Welt gesetzt, das an ein ursprüngliches Feuer, ein unkorrumpierbares Engagement in diese Richtung appelliert. Und wie ein Wunder mutet das Resultat an, wenn man die Berichte in der anschließend erstellten Publikation liest und die entsprechenden Bilder anschaut. Wieder geht Hirschhorn in die Banlieue, diesmal in eine Pariser Banlieue, die zu den sozialen Spannungsherden Frankreichs gehört und in der er auch selbst wohnt. Hier baut er mit Hilfe von Jugendlichen des Orts ein ‚Museum‘, windschief mit Holzlatten und Plastikbahnen, auf einem Grundstück direkt vor einem HLM (Hébergement à loyer modéré), einer Siedlung mit Sozialbauwohnungen. Es ist ein prekäres Museum, in Windeseile erstellt, das jedoch erstklassige, kanonische Kunst-
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werke im Original zeigt: Marcel Duchamp, Kasimir Malewitch, Piet Mondrian, Salvador Dalí, Joseph Beuys, Andy Warhol, Le Corbusier und Fernand Léger. Die Leihgaben stammen ausnahmslos vom Centre Pompidou, das erstaunlicherweise alle routinierten Abwägungen bezüglich Klima und Sicherheit in ein vollkommen neues Dispositiv überführt hat, zu dem auch gehört, dass zwölf Jugendliche aus dem Quartier während acht Wochen im Centre Pompidou eine Schnellausbildung in Handhabung, Bewachung und Betreuung von Werken zu absolvieren haben.1 Sieht man die Fotos, reibt man sich die Augen über die Vielfalt an Begegnungen von Menschen mit Werken, die für einmal zu ihnen gekommen sind. Es ist eine besondere Wärme, die Hirschhorn ins Spiel bringt, angefacht durch das leidenschaftliche Feuer des ‚Autodidakten‘ mit seinem besonderen Glauben an die Kunst, das Feuer des ‚Fans‘, des offensichtlich ‚Wahnsinnigen‘, des buchstäblich den Sinn im Wahn Suchenden. Ein Feuer, das Berge − hier sind es die ‚Meisterwerke‘ − versetzt.
DIE UR-COLLAGE (2008/09) Diese Ausstellung erinnert an die frühen Fifty/Fifty der Anfänge. Hirschhorn hat kleine Kartonformate, alle gleich groß, mit Anzeigen aus sogenannt high-end Modejournalen beklebt. Dort, wo ein Schriftzug prangt (die ewige Litanei: Gucci, Dior, Prada, Chanel...), überklebt er die Stelle mit Horrorbildern von Kriegsschauplätzen, die er aus dem Internet gezogen hat, Bilder, die wir normalerweise nicht zu sehen bekommen, weil sie zu schockierend sind. Mit seiner an die Eleganz der konstruktiven und konzeptuellen Kunst erinnernden Handlung gibt Hirschhorn einen grundsätzlichen Hinweis auf sein künstlerisches Tun als „Collage“: Wenn diese die Zusammenführung von wesensfremden Elementen bedeutet, akzentuiert er sie als Metapher der Zusammenführung von Extremen, um in Räume der Freiheit vorzudringen, in denen Intensität, Bewegung und Wahrheit stattfinden sollen. In der Publikation, welche die Ausstellung begleitet, schreibt er: „Ich will mich dem Negativen zuwenden, ich will kein Zyniker sein und kein Schlauer. Ich will nicht wegschauen, ich will mich nicht wegdrehen und ich will nicht übersensibel sein. Ich will aufmerksam sein, und ich will eine neue Welt schaffen mit und in der bestehenden Welt. Das will ich mit ‚Ur-Collage‘.“2
1 Siehe dazu Thomas Hirschhorn: Musée précaire Albinet, quartier du Landy, Aubervilliers 2004, Paris 2005; sowie die Beschreibung des Museumsdirektors Alfred Pacquement: http:// www.tate.org.uk/tateetc/issue2/precariousmuseum.htm/ 2 Thomas Hirschhorn: Ur-Collage, Zürich 2008, S. 2.
ENGAGEMENT
KARLHEINZ BARCK
Erfindung und Passion Charles Fouriers imaginäre Schauplätze „The greatest invention of the nineteenth century was the invention of the method of invention.“ (Alfred North Whitehead: Science and the Modern World, 1926) „Das Spiel als Kanon der nicht mehr ausgebeuteten Arbeit aufgestellt zu haben, ist eines der großen Verdienste Fouriers.“ (Walter Benjamin: Das Passagen-Werk) „Toi qui ne parlais que de lier vois tout c’est délié Et dessous dessus on a redescendu la côte.“ (André Breton: Ode à Charles Fourier, 1947) „La Passion (le caractère, le goût, la manie) est l’unité irréductible de la combinatoire fouriériste, le graphème absolue du texte utopique.“ (Roland Barthes: Sade-Fourier-Loyola, 1971)
Don Quijote und der „Aether der Poesie“ Im zweiten Teil des Don Quijote (1615), zehn Jahre nach dem ersten erschienen (1604/05), begegnen die beiden Protagonisten bereits den Lesern des ersten Teils und mit Don Alvaro Tarfe sogar der Zentralfigur des gefälschten Don Quijote von Avellaneda. Mit der kritischen Musterung aller literarischen Gattungen auf dem Schauplatz des Siglo de oro, des goldenen Zeitalters der spanischen Nationalkultur, gibt Cervantes dem Don Quijote Gesicht und Profil eines „Literaturromans“.1 Diese Gespräche und kritischen Urteile über die zeitgenössische Literatur kann man eine Urszene dessen nennen, was Sigrid Weigel in ihrer Beschreibung von Schauplätzen von Shakespeare bis Benjamin als Programm einer Theorie von Literatur „als Voraussetzung der Kulturgeschichte“ skizziert hat.2 Im dritten und vierten Kapitel des zweiten Teils des Don Quijote, in dem denkwürdigen Literaturgespräch zwischen Don Quijote und dem Studenten Sansón Carrasco, der den ersten Teil des Romans gelesen hat und in die Debatte bringt, liefert Cervantes die ästhetische 1 Vgl. Werner Krauss: Miguel de Cervantes. Leben und Werk, Neuwied/Berlin 1966, S. 165-189 (Kap: XXIII: „Der Literaturroman"). 2 Sigrid Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin, München 2004.
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Rechtfertigung seines Romans im Rahmen der aristotelischen Poetik und ihrer Unterscheidung von Poesie und Historiographie. Was Sansón Carrasco dazu gegenüber Don Quijote vorbringt, ist auch die Meinung von Cervantes: „Der Dichter kann Dinge berichten oder besingen, nicht wie sie waren, sondern wie sie sein sollten; der Historiograph darf sie nicht beschreiben, wie sie sein sollten, sondern wie sie waren, ohne dass er der Wahrheit etwas beimischt oder fortnimmt.“3 Was Cervantes im Don Quijote als der „größten Satire gegen die menschliche Begeisterung“ (Heinrich Heine) auf dem Binnenschauplatz der Ritterromane inszeniert, bedurfte freilich der Abgrenzung gegen deren Realitätsverlust, die als ficción pura, als reine Fiktion, aus der neuen Ästhetik auszugrenzen war. Cervantes hat der Fiktion neuen real-utopischen Grund gegeben. Don Quijotes Verkörperung illusionären Rittertums – sein Wahn – verzaubert und entzaubert gleichermaßen. Die Utopie eines messianischen Versprechens, Erwartung und Hoffnung zugleich, prägt durch seinen Roman die Konstellation einer literarischen Moderne, und mit der in Don Quijotes Abenteuern verwobenen Frage nach dem Ort und Schauplatz der Bücher in der Welt hat Cervantes den emblematischen Roman der Moderne geschaffen. Seither sind die Verrückten und Narren in ihrem leidenschaftlichen Begehren in und nach einer anderen Welt, in der „les mots […] ne marquent plus les choses“4, die tragischen und komischen Helden auf den Schauplätzen der Geschichte. Zweihundert Jahre später, 1824, erscheint mit Heinrich Heines Einleitung zum ‚Don Quixote‘ (geschrieben im Februar 1837, Druck in Preußen verboten) bei Dennig Finck & Co in Pforzheim auf dem imaginären Schauplatz einer von Literatur bestimmten Kulturgeschichte die kritisch-romantische Umdeutung des Romans zum Exempel von Weltironie. Dafür setzt Heine die als Eponymie der Figur (und des Romans) entstandene Doppelbedeutung des wohl von ihm als Neologismus geprägten Begriffs „Donquixotismus“5 ein, der im Text seiner Einleitung eine moderne utopische Dimension bekommt. Er beschreibt sie als Ausdruck (oder als Signal) einer besonderen imaginären europäischen „Familienähnlichkeit“ der Literatur: Wie die spanischen Dichter unter den drei Philippen, so haben auch die englischen unter der Elisabeth eine gewisse Familienähnlichkeit, und weder Shakespeare noch Cervantes könnten auf Originalität in unserem Sinne Anspruch machen. Sie unterscheiden sich von ihren Zeitgenossen keineswegs durch besonderes Fühlen und Denken oder besondere Darstellungen, sondern nur durch bedeutendere Tiefe, Innigkeit, Zärte und Kraft; ihre Dichtungen sind mehr durchdrungen und umflossen vom Aether der Poesie. Aber beide Dichter sind nicht bloß die Blüthe ihrer Zeit, sondern sie waren auch die Wurzel der Zukunft. Wie Shakespeare durch den Einfluß seiner Wer-
3 Miguel de Cervantes Saavedra: Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha, übers. v. Susanne Lange, München 2008, Bd. 2, S. 36. 4 Michel Foucault: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966, S. 61. 5 Vgl. Heinrich Heine: „Einleitung zum ‚Don Quixote‘“, in: Ders.: Säkularausgabe. Werke – Briefe – Lebenszeugnisse, hg. v. der Stiftung Weimarer Klassik und dem Centre National de la Recherche Scientifique, Berlin/Paris 1979, Bd. 9, S. 139.
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ke, namentlich auf Deutschland und das heutige Frankreich, als der Dichter der späteren dramatischen Kunst zu betrachten ist, so müssen wir im Cervantes den Stifter des modernen Romans verehren. […] Den Spaniern gebührt der Ruhm, den besten Roman hervorgebracht zu haben, wie man den Engländern den Ruhm zusprechen muß, daß sie im Drama das Höchste geleistet.6
Die Akteure auf dem Schauplatz weltliterarischer Familienähnlichkeit werden von Heine ausdrücklich mit Namen genannt: „Cervantes, Shakespeare und Göthe bilden das Dichter-Triumvirat, das in den drei Gattungen poetischer Darstellung, im Epischen, Dramatischen und Lyrischen, das Höchste hervorgebracht.“7 Noch einmal hundert Jahre später wird Carl Schmitt in seinem Essay Hamlet oder Hekuba die Erhebung Hamlets zum Mythos – beginnend mit Ferdinand Freiligraths Gedicht „Hamlet ist Deutschland“, auf das sich Heiner Müller in seiner Shakespeare Factory immer wieder bezogen hat – in eine kulturgeschichtliche Konstellation eintragen, die ihm zufolge von der „Unveränderbarkeit von Tragik und freier Erfindung“ gekennzeichnet ist: Bekanntlich hat der europäische Geist sich seit der Renaissance entmythisiert und entmythologisiert. Trotzdem hat die europäische Dichtung drei große symbolhafte Figuren geschaffen: Don Quijote, Hamlet und Faust. Von ihnen ist jedenfalls einer, Hamlet, bereits zum Mythos geworden. Alle drei sind merkwürdigerweise Bücherleser und insofern Intellektuelle, wenn man so sagen will. Alle drei sind vom Geist aus der Bahn geworfen. Achten wir nur einmal auf ihren Ursprung und ihre Herkunft: Don Quijote ist Spanier und rein katholisch; Faust ist Deutscher und Protestant; Hamlet steht zwischen beiden mitten in der Spaltung, die das Schicksal Europas bestimmt hat.8
Fourier – Erfindung einer „machine passionnelle“ Auf dem Pariser Schauplatz der 1830er Jahre sind Heine und Fourier einander inkognito begegnet. In einem Text über die von der „Civilisation“ geprellten Gelehrten und Künstler, der später der 1822 erschienenen dreibändigen Théorie de l’Unité Universelle hinzugefügt wurde, erwähnt Fourier einen „M. Heyne, savant distingué d’Allemagne“, den wir wohl als Heinrich Heine identifizieren dürfen. Fourier hat von dessen deplorablem Schicksal in Armut aus einem Zeitungsbericht erfahren, „où l’on déplorait la pauvreté de M. Heyne, savant distingué d’Allemagne, qui pendant la majeure partie de sa vie eut à peine quelques pommes-de-terre à manger.“9 Von Heine wiederum, der in Paris die Aktivitäten der Saint-Simonisten und Fourieristen aus der Nähe mit Interesse beobachtete, haben wir die Beschreibung (s)einer Begegnung mit Fourier in den Pariser Berichten unter dem Datum des 15. Juni 6 7 8 9
Ebd., S. 144 und S. 146 (Hvh. K. B.). Ebd., S. 147. Carl Schmitt: Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Stuttgart 1985, S. 54. Charles Fourier: Œuvres Complètes, hg. v. Simone Debout, Paris 1966, Bd. 3, S. 396 f.
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1843. Heine porträtiert Fourier – ähnlich wie Marx und Engels zur selben Zeit in der Deutschen Ideologie (1845/46)10 – als Verkörperung eines französischen Gegensatzes zur lutherisch-deutschen „Vernichtung der Sinnlichkeit“11. Es ist ein Bild des Bohémien, der nicht auf dem Weg in den Elfenbeinturm flanierend durch die Pariser Straßen zieht, sondern in seiner Lage die Bedingungen für andere Existenzmöglichkeiten erkennt und erfindet: Ja, Pierre Leroux ist arm, wie Saint-Simon und Fourier es waren, und die providenzielle Armuth dieser großen Sozialisten war es, wodurch die Welt bereichert wurde, bereichert mit einem Schatz von Gedanken, die uns neue Welten des Genusses und des Glückes eröffnen. […] Saint-Simon […] fristete sein Dasein nur durch Betteln. Auch Fourier mußte zu den Almosen der Freunde seine Zuflucht nehmen und wie oft sah ich ihn, in seinem abgeschabten Rocke, längs den Pfeilern des Palaisroyals hastig dahinschreiten, die beiden Rocktaschen schwer belastet, so daß aus der einen der Hals einer Flasche und aus der anderen ein langes Brot hervorguckten.12
War die „Vernichtung der Sinnlichkeit“ durch die „Civilisation“ genannte dritte Stufe (nach „Wildheit“ und „Barbarei“) in der Kulturgeschichte der Menschheit der eine Impuls von Fouriers Sozialutopie, so stellte die Trennung von Körper und Geist, von sciences incertaines und sciences fixes den anderen, mathematisch und musikalisch imprägnierten Impuls dar. Demgegenüber bilden sowohl eine Theorie der Leidenschaften, der association passionnelle, als auch eine pädagogische Hausund Lebensordnung für die Phalanstères – die idealen Wohn- und Produktionsgenossenschaften – in Fouriers Utopie die pivots, so der von ihm erfundene Begriff, das heißt die Grundpfeiler und Leitlinien. Roland Barthes hat als erster in seinem Essay Sade-Fourier-Loyola (1971) an die entscheidende Bedeutung des Erfindungsbegriffs als eine Art Bewegungsfaktor des Fourierschen Systems erinnert. Fourier, „un intrus tel que moi“13, nennt sich Erfinder, „inventeur“ – „Je ne suis pas écrivain, mais inventeur“ –, und Entdecker, „découvreur“, wie Kolumbus, mit dessen Unternehmen er sein eigenes vergleicht: „Cette lutte de Colomb avec le XVe siècle, représente exactement la situation du XIXe siècle à mon égard.“14 Ein Erfinder, ein Neuerer war Fourier vor allem auch im Bereich der Schriftsprache, um sein System repräsentieren (darstellen und aufführen) zu können. Roland Barthes nennt Fouriers Sprachfanatismus ein „fait d’écriture, un déploiement du signifiant. […] celui qui amène au jour de nouvelles
10 Fouriers „kolossale Anschauung vom Menschen“ wird im Abschnitt „Fourierismus“ beschrieben, vgl. Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Berlin 1948, Bd. 3, S. 498 ff. 11 „Denn Luther hatte nicht begriffen, daß die Idee des Christentums, die Vernichtung der Sinnlichkeit, gar zu sehr im Widerspruch war mit der menschlichen Natur, als daß sie jemals im Leben ganz ausführbar gewesen sey.“ Heinrich Heine: „Religion und Philosophie in Deutschland“, in: Säkularausgabe (Anm. 5), Bd. 8, S. 144. 12 Heine: Säkularausgabe (Anm. 5), Bd. 10, S. 207. 13 Fourier: Œuvres Complètes (Anm. 9), Bd. 3, S. 125. 14 Ebd., Bd. 10, S. 127.
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Abb. 1: Pierre Faucheux: Quatrième portrait de Charles Fourier
formules et investit ainsi, à coups de fragments, immensément et en détail, l’espace du signifiant“15. Als Erfinder, der den Begriff des Ingenieurs für sein poïetisches utopisches Denken reklamiert, hat Fourier (s)einen Platz in der noch zu schreibenden Theoriegeschichte der Erfindungskunst. Sie hätte sich Whiteheads epistemologischer Markierung zu versichern: „the greatest invention of the nineteenth century was the invention of the method of invention.“16 Fourier, der sich immer wieder sowohl auf Newton, von dem er den Begriff der attraction in seine Passionstheorie übernimmt, als auch auf Leibniz beruft, könnte mit seiner Sozialutopie und der Erfindung der Leitmaxime, dass les attractions sont proportionnelles aux destinées, eine Vermittlung zwischen Aufklärung und Moderne schaffen. Dabei lässt er Carl Friedrich Flögels von Baumgartens Aesthetica (1735/1750) inspirierte Einleitung in die Erfindungskunst (1760) hinter sich, die ganz dem in der deutschen Tradition des Idealismus stehenden Gegensatz von Kunst und Technik verhaftet bleibt.17 Fourier hingegen steht mit seiner Utopie als Erfindungskunst, die die romantische Figur des 15 Roland Barthes: Œuvres complètes, hg. v. Eric Marty, Paris 1994, Bd. 2, S. 1105. 16 Alfred North Whitehead: Science and the Modern World, Cambridge 1953, S. 120. 17 „Damit die Künste von den Wissenschaften unterschieden werden, so nehme ich hier den Begriff der Kunst im genauesten Verstande, nämlich, dass sie eine nicht wissenschaftliche Fertigkeit ist, etwas herfürzubringen, was durch den Lauf der Natur nicht hervürkommen wäre.“ Carl Friedrich Flögel: Einleitung in die Erfindungskunst, Breßlau/Leipzig 1760, S. 286.
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savant fou verkörpert, Leibniz näher, der in den Nouveaux Essais eine „nouvelle espèce de Logique“ angeregt hatte, in der das Denken spielerisch die Kunst des Erfindens in allen Bereichen des Lebens befördern könnte: „Ce qui serait de grand usage pour perfectionner l’art d’inventer, l’esprit humain paroissant mieux dans les jeux que dans les matières les plus sérieuses.“18 Diese Vision prägt Fouriers Begriff des travail attrayant, der lustvollen Arbeit, als Inbegriff eines imaginären Schauplatzes, auf dem durchgespielt wird, was als Alternative zu jener Zerstörung der Arbeit, die durch den reinen Nutzen ihrer Verwertung erfolgt, möglich wäre. In der marxistischen Denktradition wurde diese Seite der Fourierschen Sozialutopie von dem Konzept der ‚entfremdeten Arbeit‘ regelrecht verschluckt, obwohl Marx noch im Kapital auf Fourier und auf das Konzept travail attrayant als einer ernstzunehmenden anderen Denkrichtung ausdrücklich verweist. Auch August Bebel hat in seiner im Gefängnis geschriebenen – von der deutschen Sozialdemokratie ebenso wie von den Kommunisten bald nach ihrer Veröffentlichung im Jahre 1888 vergessenen – Fourier-Biographie gerade darin den „eigentliche[n] Revolutionär“ gesehen.19 Walter Benjamin hat diese Spur in Fouriers System der Leidenschaften, der attraction passionnelle, als dessen eigentlichen utopischen Angelpunkt betont, der das Konzept der Arbeit als spielerisch und vergnüglich prägt und trägt: „Das Spiel als Kanon der nicht mehr ausgebeuteten Arbeit aufgestellt zu haben, ist eines der großen Verdienste Fouriers“, notiert Benjamin im Baudelaire-Abschnitt des Passagen-Werks.20 In dem umfangreichen, mehr als dreißig Seiten umfassenden Fourier-Abschnitt zieht er aus der Lektüre einer zeitgenössischen Arbeit über Sozialismus und Romantik ein Fazit über „Grundlinien von Fouriers Lehre“: „Das Utopische tritt zurück, die Angleichung an Newton wird deutlich. Die passion ist die im Subjekt verspürte attraction, die die ‚Arbeit‘ zu einem so natürlichen Vorgang macht wie es der Fall eines Apfels ist.“21 André Breton hat mit seiner „Ode an Charles Fourier“ (1947) die Debatte über das Utopische wieder angefacht, die dann in den 1960er Jahren in Frankreich virulent wird.22 Aus dem amerikanischen Exil und nach seinem Besuch bei den HopiIndianern im Juni 1945, wo er deren atlantische Paradiese entdeckt23, nach Hiro18 Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux Essais sur l’entendement humain, Frankfurt am Main 1996, Bd. 2.4, S. 514. 19 Vgl. August Bebel: Charles Fourier. Sein Leben und seine Theorien (1888), Leipzig 1978, S. 236. 20 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1989, Bd. V.1, S. 456. Vgl. auch Wolfgang Asholt: „Benjamin und Fourier“, in: global benjamin, hg. v. Klaus Garber/Ludger Rehm, München 1999, Bd. 2, S. 1032-1044. 21 Benjamin: Gesammelte Schriften (Anm. 20), Bd. V.2, S. 798. 22 Vgl. René Schérer: Utopies nomades, Paris 1996, sowie ders.: Charles Fourier ou la contestation globale, Paris 1996. Vgl. auch die von Simone Debout koordinierte Fourier-Sondernummer der Zeitschrift topique. Revue Freudienne, 4/5 Oct. 1970. 23 Vgl. André Breton: „Carnet de voyage chez les Indiens Hopi“, in: Ders.: Œuvres Complètes, hg. v. Marguerite Bonnet, Paris 1999, Bd. 3, S. 183-209.
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shima und Nagasaki und während der Potsdamer Konferenz der Anti-Hitler-Koalition, schreibt er sich und Fourier mit genauer Datierung in den imaginären Schauplatz seiner „Ode à Charles Fourier“ ein: Je te salue de la croisée des chemins en signe de preuve et de la trajectoire toujours en puissance de cette flèche précieusement recueillis à mes pieds: ‚Il n’y a pas de séparation, d’hétérogénéité entre le surnaturel et le naturel (le réel et le surnaturel). Aucun hiatus. C’est un ‚continuum‘, on croit entendre André Breton: c’est un ethnographe qui nous parle au nom des Indiens Soulteaux‘ Je te salue du bas de l’échelle qui plonge en grand mystère dans la Kiwa hopi la chambre souterraine et sacrée ce 22 août 1945 à Mishongnovi à l’heure où les serpents d’un nœud ultime marquent qu’ils sont prêts à opérer leur conjonction avec la bouche humaine Du fond du pacte millénaire qui dans l’angoisse a pour objet de maintenir l’intégrité du verbe Des plus lointains ondes de l’écho qu’éveille le pied frappant impérieusement le sol pour sceller l’alliance avec les puissances qui font lever la graine.24
Mit der Veröffentlichung von Bretons Fourier-Ode am 1. Februar 1947 in Form einer Broschüre beginnt in Frankreich Fouriers Nachleben im eigentlichen Sinne auf den Schauplätzen des Surrealismus und der Bewegung des Mai 6825, ein Nachleben, das durch die Nachlass-Entdeckung und -Veröffentlichung von Le nouveau monde amoureux26 wichtige Impulse bekam. Breton beschäftigte sich zum ersten Mal mit Fourier in New York. In dem zwischen August und Oktober 1944, d. h. nach dem D-Day vom 6. Juni 1944 und vor der Befreiung von Paris an der Küste der kanadischen Halbinsel Gaspésie entstandenen poetischen Manifest Arcane 17 notierte er zum ersten Mal zu seiner Fourier-Lektüre: Ihr teuren, lange von entgegengesetzten Seiten attackierten, gestern fast aus der Erinnerung verschwundenen Schatten, frenetischer Schatten Charles Fouriers, immer noch bedeutender Schatten des Père Enfantin, der Hohn, den man über euch ausgegossen hat, wird nicht für immer über euch obsiegen, und ich füge hinzu, daß allein dieser Spott euch die Sympathie der Dichter einträgt. Eine große Wiedergutmachung an euch ist fällig, die derzeitigen Ereignisse bereiten sie vor, sie könnten sie sogar in greifbare Nähe rücken und diese Wiedergutmachung wird um so feierlicher sein müssen, je länger sie auf sich warten lassen.27 24 André Breton: „Ode à Charles Fourier“, in: Œuvres Complètes (Anm. 23), S. 362; vgl. die deutsche Übersetzung von Heribert Becker, in: André Breton: Ode an Charles Fourier. Surrealismus und utopischer Sozialismus, Berlin 1982, S. 50 f., sowie in Karlheinz Barck: Surrealismus in Paris 1919-1939. Ein Lesebuch, Leipzig 1988, S. 286. 25 Vgl. René Schérer: Roland Barthes, Pierre Klossowski, Sade et Fourier, Marseille 1974. 26 Charles Fourier: Le nouveau monde amoureux, hg. v. Simone Debout-Oleszkiewicz, Paris 1967. Vgl. eine deutschsprachige Auswahl: Charles Fourier: Aus der neuen Liebeswelt, hg. v. Daniel Guerin, Berlin 1977. 27 André Breton: Arkanum 17. Ergänzt durch Erhellungen, übers. v. Heribert Becker, mit einem Essay v. Bernd Mattheus, München 1993, S. 45 f.
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Maschinerie der Leidenschaften Fourier klassifiziert die Leidenschaften in drei Gruppen: die passions matérielles der fünf Sinne; die vier passions affectives (Ambition/Ehrgeiz; Amitié/Freundschaft; Amour/Liebe; Paternité/Vaterschaft-Familie); die drei passions distributives (Cabale/ Streitsucht; Papillonne/Flattersucht; Composite/Übereinstimmungslust). Diese letztgenannten, von Fourier erfundenen distributiven Leidenschaften stimulieren als agents de liaison auf vermittelnde, ausgleichende, konfliktregulierende Weise das Gruppenleben in den Phalanstères. Italo Calvino hat sie in einem seiner drei Fourier-Essays Anfang der 70er Jahre charakterisiert: Die Cabaliste oder Streitlust (von cabale, dem Komplott, einem Schlüsselwort der Hofpolitik des Ancien Régime) ist die Leidenschaft der Intrigen und der Rivalitäten; die Composite oder Übereinstimmungslust ist das Bedürfnis nach Genüssen, die die Sinne und den Geist gleichzeitig befriedigen und zur Hingabe an eine blinde Begeisterung führen; die Papillonne oder Flatterlust ist die Leidenschaft der Veränderungen, der Neuigkeit, des Reisens. Die Serien und Gruppen, in denen sich das gesellschaftliche Leben der Harmonie artikuliert, stützen sich vor allem auf diese drei Leidenschaften (oder genauer auf die Streitlust und die Flatterlust; die Übereinstimmungslust ist in ihren Aspekten irrationalen Ungestüms sehr viel schwerer zu erfassen). Der Tag des Menschen in der Harmonie ist ein ständiger Übergang von einer Gruppe zur anderen.28
Die in Fouriers Spiel der Leidenschaften nach dem Lustprinzip mögliche Glückserwartung, die promesse de bonheur, erfüllt sich im Genuss auf dem Schauplatz der „Harmonie“, die die „Civilisation“ ablösen wird: „Le VRAI BONHEUR consiste dans la jouissance la plus étendue de ces divers degrés de plaisir où figurent combinément les douze passions, dont cinq sensitives et quatre affectives, ces neuf dirigées par les trois distributives.“29 Fouriers System der attraction passionnelle stellt den Begriff der Leidenschaft (passion) in seiner Doppelbedeutung von Leiden und Begeisterung auf historisch ganz neue Grundlagen.30 Zu Recht hat man gesagt, Fourier sei „peut-être le premier à penser les passions sous la catégorie moderne du désir“31. Das ist mit Hilfe eines Vergleichs jener unterschiedlichen Orte vorstellbar, die der Marquis de Sade und Sigmund Freud den von der jeweils gesetzten Norm bestimmten Formen der Ausnahme, der Abweichungen, der Perversionen zuweisen. In Fouriers ‚Klaviatur der Passionen‘ gibt es auf dem Schauplatz der attraction passionnelle keine Ausgrenzungen, seien sie pathologisch oder durch andere repressive Argumente begründet. 28 Italo Calvino: „Der Rechner der Wünsche“ (1971), in: Ders.: Kybernetik und Gespenster. Überlegungen zu Literatur und Gesellschaft, München/Wien 1984, S. 65. 29 Charles Fourier: „Théorie de l’Unité universelle“ (1822), in: Œuvres Complètes (Anm. 9), Bd. 3, S. 196. 30 Vgl. zum neuesten Stand der Forschung zur Begriffsgeschiche den Eintrag „Passion/Leidenschaft“ von Dieter Kliche in: Historisches Wörterbuch Ästhetischer Grundbegriffe, hg. v. Karlheinz Barck u. a., Stuttgart/Weimar 2002, Bd. 4, S. 684-724. 31 Urias Arantes: Charles Fourier ou l’art des passages, Paris 1992, S. 102.
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Für Sade sind die Leidenschaften Gelüste triebhafter Aggressionen, bei Freud stehen sie unter dem Druck von Repression und Sublimierung. Octavio Paz hat in einem Gedenkartikel zu Fouriers 200. Geburtstag beider Differenz zu Fourier gut markiert: Fourier [vertritt] die Meinung […], dass alle Leidenschaften, nicht ausgenommen jene, die er ‚Manien‘ nannte und die wir Perversionen und Abweichungen nennen, Teil der Klaviatur der universalen Anziehung sind. Sade macht aus der erotischen Ausnahme eine nihilistische Ästhetik und Freud eine pessimistische Therapeutik. Für beide läßt sich die Ausnahme auf nichts reduzieren. Bei Fourier erleben wir die Reintegration der Ausnahmen: einem mathematischen und musikalischen Prinzip gehorchend, entfalten sie sich wie ein Fächer. Die Körper sind ein Gewebe von Hieroglyphen. Obgleich jeder anders ist, sagen alle das gleiche, da sie nur Variationen des Paars Verlangen/Lust sind.32
Fourier setzt nicht nur den Primat der Leidenschaften absolut, sondern auch die Generation von imaginären Beziehungen zwischen den Leidenschaften nach Kriterien analoger Kopplungen als Handlungsanweisung. Der Denker als Erfinder wird zum Regisseur auf einer Bühne des Wissens in ganz elementarem Sinn. Denn das Modell für Analogiebeziehungen zwischen den Schauplätzen der vier Bewegungen – dem mouvement social, animal, organique und social – ist die Oper! Die Oper, so könnte man sagen, als eine WissensKunst par excellence. Auf dem nach dem Modell der Oper strukturierten Schauplatz inszeniert sich im Phalanstère eine körperbetonte pädagogische Bildung und Ausbildung, die aus sieben Zweigen (branches) besteht: Gesang, Instrumentenspiel, Tanz, Gestik, Gymnastik, Poesie, Malerei. Oper in Fouriers Verständnis ist soziales und ästhetisches Gesamtkunstwerk wie das Essen auf den Schauplätzen der Küche und der Salons als gastrosophische Inszenierung einer Symphonie des Genusses.33 L’opéra est, chez les harmoniens, la voie d’initiation à tous les arts et sciences d’agrément. […] Je le nomme ressort d’initiation aux sciences dites industrielles, chimie, physique, agriculture, manufacture. […] Si l’on veut l’unité composée et la justesse composée, ou justesse matérielle et spirituelle, il faut recourir à l’opéra, pour former les enfants à la justesse matérielle. – Eh! quel grand avantage l’Harmonie trouvera-t-elle à faire de tous les citoyens autant de chanteurs et danseurs et joueurs d’instruments?34
Dieses analogische Denken Fouriers – angeregt durch Schellings Naturphilosophie, die in Frankreich dank Pierre Leroux bekannt war –, das sich immer wieder mathematischer und musikalisch-kompositorischer Ordnungen versichert, ist epistemologisch von besonderem Interesse.
32 Octavio Paz: „Warum Fourier?“, in: Breton: Ode an Charles Fourier (Anm. 24), S. 116. 33 Vgl. Fourier: „L’Opéra et la Cuisine“ (1821), in: Œuvres Complètes (Anm. 9), Bd. 10, S. 141168. 34 Ebd., S. 183 und S. 142.
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Abb. 2: Pierre Faucheux: L’Opéra carnivore
Im Spiegel des Universums entwirft die Analogie – „la neuve et charmante science de l’analogie universelle“ – die Welt als emblematisches Verweisungssystem, worin sich der Geist des 19. Jahrhunderts exemplarisch und besonders zu erkennen gibt: „C’est surtout au sujet de l’analogie qu’on reconnaît l’esprit du XIXe siècle.“35 Fourier selbst ist darin einer der Stichwortgeber für die relativistische Kulturgeschichte von Edward B. Tylor bis Homi K. Bhabha36, die im Denken in Analogien ein Kriterium des Kulturvergleichs und eine Methode der Erfindungskunst in den Wissenschaften und Künsten erkannt hat.37 Der von Analogien umstellte Schauplatz zeigt deren Rolle als epistemologische Instrumente der Erfindung und der Erkundung von Nicht-Wissen (non-savoir).38 Analogien weisen einen Weg zum Nicht-Wissen als dem Utopos, den die Wissenschaftstheorie heute als das ‚Ende der 35 Fourier: „De l’Analogie“, in: Œuvres Complètes (Anm. 9), Bd. 12, S. 202. 36 Vgl. Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London/New York 1994. 37 Vgl. das dem Thema L’ANALOGIE gewidmete Sonderheft der Revue Internationale de Philosophie 23/87, 1969, Fasc. 1; sowie Ralph W. Gerard/Clyde Kluckhohn/Anatol Rapoport: „Biological and Cultural Evolution. Some Analogies and Explorations“, in: Behavioral Science 1/1, 1956, S. 6-18. 38 Vgl. Charles Perelman: „Analogie et Métaphore en science, poésie et philosophie“, in: Revue Internationale de Philosophie 23/87, 1969, S. 3-15.
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Abb. 3: Charles Fourier: Table et analogie des 7 passions de l’âme
Gewissheiten‘ und als Übergang zu einer ‚neuen Rationalität‘ beschreibt.39 „Aller du connu à l’inconnu par l’analogie“40 war Fouriers Richtschnur auf seinem dreißigjährigen Weg zur Erkundung der Leidenschaften und ihrer ‚Verzahnungen‘ mit den Universen der vier Bewegungen. Engrenage ist der für diese Zwecke von ihm erfundene Begriff, der ein technischer ist und dessen Reichweite Fourier in seinem Bestreben, den sozio-psychologischen Index der Leidenschaften neu und anders als in den Gefühlstheorien der Aufklärung zu bestimmen, (noch) nicht bewusst geworden ist. Der Zeitgenosse Goyas hätte eine Ahnung davon bekommen können, hätte er sich auf der Traumlandschaft von Goyas Capricho 43 umgesehen.41 Es ist das verborgene (nicht aber verdrängte) Ungesagte seiner Utopie, ihr non-dit.42 Walter Benjamin hat es als erster erkannt und als die Unruhe seiner eigenen intensiven Fourier-Lektüren, die wie eine Glaskuppel über dem Passagenwerk hängen, registriert und an Fouriers Begriff des engrenage, der Verzahnungen, festgemacht. Zwischen 1935 und 1939, dem ersten (deutschen) und dem zweiten (französischen) Exposé für das Hauptstadt-Paris-Baudelaire-Buch, entdeckt Benjamin in Fouriers Erfindungen die Maschinerie als deren Apriori: „Die Verzahnungen der passions, das verwickelte Zusammenwirken der passions mécanistes mit der passion cabaliste sind primitive Analogiebildungen zur Maschine im Material der Psychologie. Diese Maschinerie aus Menschen produziert das Schlaraffenland, das ur-
39 Vgl. Ilya Prigogine: La fin des certitudes Temps, chaos et les lois de la nature, Paris 1996. 40 Fourier: Œuvres Complètes (Anm. 9), Bd. 3, S. 131. Vgl. zu einem ähnlichen (analogen?) Begriff des non-savoir und der Analogie: Georges Bataille: L’Expérience Intérieure, darin den Abschnitt „Hegel“, der das poetische non-savoir als eine andere Form des Wissens diskutiert: „Que le non-savoir soit encore savoir“, in: Georges Bataille: Œuvres Complètes, Paris 1973, Bd. 5, S. 130. 41 Vgl. dazu Karlheinz Barck: Poesie und Imagination, Stuttgart 1993, S. 112 ff. 42 Fourier hat seine Theorie der Leidenschaften in einem Text zusammengefasst, den Simone Debout aus dem Nachlass herausgegeben hat: Charles Fourier: Citerlogue. Accord de la morale avec les droits naturels par absorption composée, hg. v. Simone Debout, Fontfroide-le-Haut 1994.
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alte Wunschsymbol, das Fouriers Utopie mit neuem Leben erfüllt hat.“43 Im französischen Exposé von 1939 erweitert er diese Beobachtung im Anschluss an einen Vergleich zwischen Hegels systematischer und Fouriers humoristischer Figur des Kleinbürgers, indem er aus Fouriers Nicht-Berücksichtigung der Ausbeutung der Natur durch den Menschen eine revolutionäre Schlussfolgerung zieht: La technique se présente bien plutôt pour Fourier comme l’étincelle qui met le feu aux poudres de la nature. Peut-être est-ce là la clé de sa représentation bizarre d’après laquelle le phalanstère se propagerait ‚par explosion‘. La conception postérieure de l’exploitation de la nature par l’homme est le reflet de l’exploitation de fait de l’homme par les propriétaires des moyens de production. Si l’intégration de la technique dans la vie sociale a échoué, la faute en est à cette exploitation.44
Benjamin hat, wie zehn Jahre später André Breton in seiner Ode auf Fourier, für die Fouriersche Utopie der Leidenschaften einen Handlungsraum ausgemacht, worin er sich selbst mit seiner „Politik“ einen bevorzugten Platz sichert: Zu Fouriers Vorstellung von der Verbreitung der phalanstères durch explosions sind zwei Vorstellungen meiner ‚Politik‘ zu vergleichen: die von der Revolution als einer Innervation der technischen Organe des Kollektivs (Vergleich mit dem Kind, das am Versuch, des Mondes habhaft zu werden, greifen lernt), und die vom ‚Aufknacken der Naturteleologie‘.45
Auf dem imaginären Schauplatz einer Erfindungskunst stehen Cervantes-HeineFourier-Benjamin-Breton als Ingenieure des Denkens in einer hier ‚erfundenen‘ Konstellation, unter deren Beleuchtung vielleicht Kulturwissenschaft denkbar wäre als leidenschaftliches „Denken und Arbeiten an Übergängen“46.
43 44 45 46
Benjamin: Gesammelte Schriften (Anm. 20), Bd. V.1, S. 47. Ebd., S. 64. Benjamin: Gesammelte Schriften (Anm. 20), Bd. V.2, S. 777. Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte (Anm. 2), S. 11.
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Passionen der Ordnung
In ihrer Schrift Über Revolution (1963) bekennt sich Hannah Arendt zu einer politischen Passion des Mitfühlens – einer passion for compassion. Die Wurzeln dieses Mitfühlens sind wesentlich dem semantischen wie begrifflichen Humus der schottischen Aufklärung entliehen. Der Text ergänzt jene von Arendt idealisierte Figur der griechischen polis als Fundament einer guten, erstrebenswerten Ordnung. Die Resultante aus der Passion des Mitfühlens und der Figur der polis – so will es scheinen – ist die Republik, wie sie sich idealerweise in den Institutionen der Amerikanischen Revolution niederschlägt; und dies in Kontrast zu der von Arendt wenig gelittenen Traditionslinie der Französischen Revolution, die ihrerseits von glühenden, indes wenig regulierten Passionen eines sich sozial begründenden Mitgefühls angefacht wird. Hannah Arendts so wohlwollende Übernahme der Traditionslinie der schottischen Aufklärung und die ihr eigene Passion des Mitfühlens als Grundvoraussetzung des solidarischen Zusammenhalts des Gemeinwesens ist im 18. Jahrhundert von den moralphilosophischen Lehrstühlen in Glasgow und Edinburgh ausgegangen. Dabei ist in erster Linie Adam Smith zu benennen, dem in Glasgow der nicht minder wirksame Francis Hutcheson vorausgegangen war. Auf Smith wiederum folgte Thomas Reid, so wie in Edinburgh Dugald Steward Adam Ferguson beerbte. Allen gemeinsam war die Suche nach einer anthropologisch begründeten sozialen Wissenschaft vom Menschen und der von Menschen begründeten guten sozialen Ordnung. Es ging um die Etablierung einer human knowledge, einer Art Philosophie des „guten Geschmacks“ menschlicher Tugenden, die auf den als vorausgesetzten Attributen von pity, compassion, benevolence und sympathy beruhte. Diesen moralischen Kompetenzen für gutes menschliches Handeln lag ein gemeinsamer common oder moral sense zugrunde, der letztlich als Voraussetzung galt, moralisch urteilen zu können. Bei allen die schottischen Moralphilosophen kennzeichnenden Unterschieden – vor allem jene in der Deutung dessen, was dem common sense wohl zugrunde liegen möge – mochten sie doch in dem übereinstimmen, was der in seiner Zeit nicht unumstrittene David Hume im Ersten moralischen Urteil mit der Kategorie des fellow feeling in Verbindung brachte. Es handelte sich dabei um das emotionale und als natürlich erachtete Vermögen des Menschen, mit anderen Menschen zu empfinden, genauer: am Leiden anderer zu leiden – eben jene Komponente, die Hannah Arendt in der Form der passion for compassion so beeindruckt hatte. In Arendts Schrift Über Revolution, aber auch in anderen und früheren Schriften wird eine nicht geringe Sympathie für den britischen Kritiker der Französischen Revolution, Edmund Burke, erkennbar. Im Unterschied zu der von Adam Smith vertretenen Annahme, Religion wie Vernunft seien in der Begründung von Moral
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und moralischem Urteilen gleichwertig, setzt sich Burke vom gängigen Utilitarismus der schottischen Schule dahingehend ab, als er darauf besteht, dass es letztendlich doch religiös gebundene zivilisierte manners seien, also Moral, Recht und Tradition, die einen auf Vertrauen beruhenden Umgang der Menschen miteinander ermöglichten. Werden indes die religiös gebundenen Tugenden gering geschätzt, werde auch dem auf Eigeninteresse beruhenden Utilitarismus der Boden eines auf Selbstverpflichtung beruhenden Verhaltens entzogen. Damit schließt Burke an die zeitlich weiter zurückliegende Begründung des Kontraktualismus durch John Locke an, der in der religiösen Bindung des Menschen die Grundlage seiner Vertragstreue erkannte. Die jeweilige religiöse Zugehörigkeit, die jeweils unterschiedliche konfessionelle Provenienz des Menschen ist dabei unerheblich. Wichtig ist der sichtbare Glaube an Gott. Dass Atheisten hingegen nicht wirklich kontrahierungsfähig seien, sei schon daran erkennbar, dass sie den Schwur auf die Existenz Gottes, der ihre Redlichkeit vor Gericht demonstrieren soll, nicht abzulegen in der Lage sind. Nicht eine launisch sich gebärdende Vernunft kann die letzte Quelle des Vertrauens sein, sondern allein die Transzendenz. Den schottischen Aufklärern ist die Erkenntnis einer human knowledge als Voraussetzung des common sense gemeinsam. Die Unterschiede werden in Nuancen deutlich. Francis Hutcheson als Lehrer von Adam Smith kommt das Verdienst zu, den letzten Grund menschlicher Existenz in der glücklichen Selbsterfüllung, der happiness auszumachen – ein Zustand seelischer wie geistiger Zufriedenheit. Voraussetzung hierfür war die Versöhnung des egoistischen Selbstinteresses mit dem Altruismus in einer höheren Form der Moral. Eine solche Versöhnung ursprünglich als widerstrebend erachteter Regungen, die auf die Erfüllung des eigenen wie des Glücks anderer zielt, wird zum obersten Gebot zivilisierten Verhaltens. So nimmt es nicht Wunder, wenn Hutcheson, der die Freiheit und die in ihr gründenden Voraussetzungen moralischen Urteilens zur Grundlage seines posthum erschienen Werkes A System of Moral Philosophy (1755) macht, damit den zu seiner Zeit wohl schärfsten Angriff auf die Sklaverei verbindet. Das Buch sollte von London bis Philadelphia zur Bibel der Abolitionisten werden. Thomas Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, stützte sich auf den schottischen Aufklärer, als er dessen Glücksversprechen in der Formulierung vom pursuit of happiness aufnahm, die diesem Dokument der Freiheit eingeschrieben ist. Dabei war mit der Glücksformel an erster Stelle keineswegs die private Wohlfahrt gemeint, sondern die Verfolgung des öffentlichen Glücks in Gestalt der Teilhabe und Teilnahme am Wohlbefinden der größtmöglichen Zahl der Bürger – der Passion mithin, sich an den öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen. Gestützt wurde das Begehren öffentlicher Selbstverwirklichung vom antiskeptischen und gegenrelativistischen Denken Thomas Reids. Seine Interpretation des common sense war im Übrigen in der Wendung von der self-evident truth in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mit aufgenommen worden. Thomas Paine, ein anderer Gründungsvater der Vereinigten Staaten von Amerika und ihr Namensgeber, adelte Reids Wort vom common sense, indem er das wohl populärste Pamphlet der Amerikanischen Revolution von 1776 danach betitelte: Common sense.
PASSIONEN DER ORDNUNG
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Zur Grundausstattung menschlicher Selbsterfüllung gehört nicht zuletzt ein Sinn für Eigentum. Diese Vorstellung war der Moralphilosophie des Juristen Henry Home Kames entsprungen. In seinem Werk entwickelt er den Gedanken, dass der Mensch von Natur aus dazu neige, sich Dinge anzueignen. Dabei sei der Drang nach Eigentum weit mehr denn eine bloße Sucht nach Verfügung über materielle Objekte, nämlich durchaus Ausdruck eines sense of self. So stehe das Ding in einem ganz besonderen Verhältnis zu der über das selbige verfügenden Person. Es sei ihr gegenüber proper, sprich: eigentümlich, eigen, passend. Eigentum (property) trage zudem im Sinne von propriety zu einem angemessenen Verhalten, zu Schicklichkeit und Anstand bei. Und mit der Pflege des Eigentums als einem der Person zustehenden Ding trage der Einzelne sein Scherflein zur Instandhaltung des Gemeinwohls bei. Die Eigentumstheorie des Juristen Kames war von den als materialistisch geziehenen Überlegungen David Humes nicht weit entfernt, als dieser dem Eigeninteresse, dem self-interest, eine dem zwischenmenschlichen Verhalten zugrunde liegende Bedeutung zuwies. Dieser Leidenschaft des self-interest hat indes die regulierende Wirkung vernünftigen Handelns Grenzen zu setzen, will sie nicht einer Zerstörung aller sozialen Bindungen Vorschub leisten. Auf die politische Ordnung des Gemeinwesens übertragen, wiederholt sich dieser Dualismus im Gegensatz von Freiheit und Autorität. Die ideale Ordnung sucht zwischen einer Freiheit, die die Individualität schützt, und einer Autorität, die das Gemeinwesen bewahrt, die Balance zu halten. Dass sich diese Tradition in Amerika niedergeschlagen und ihren unverwechselbaren Ausdruck in der amerikanischen Verfassung gefunden habe, hatte es Hannah Arendt angetan. Die Lockesche Formel von Amerika als politischem Urzustand ohne Herrscher und Beherrschte, allein beruhend auf dem gemeinsamen Bund der Selbstverpflichtung rechtlich Gleicher, wurde von ihr als ein gleichsam anthropologischer Ausdruck einer Fundamentalwahrheit verstanden, wie sie allem politischen Handeln inhärent sei. An diesem gerade in Amerika sich einstellenden Urzustand lasse sich die elementare Grammatik ebenso wie die komplexe Syntax von Politik erkennen, vor allem aber ermögliche sie die Einsicht, dass allein die Heilkraft von Institutionen zur Verbesserung der a priori nicht gerade als gut erachteten menschlichen Natur beitragen könne. Und es ist die Institution, die gute Verfassung, der es gelingt, die politische Passion in regulierte Bahnen zu lenken. Dies ist der Unterschied, der Arendt zur Bewunderin der Amerikanischen und zur Kritikerin der Französischen Revolution werden ließ. Obschon beide Revolutionen der Aufklärung entsprangen, waren Voraussetzung wie Verlauf jeweils ganz verschieden. Die Amerikanische Revolution richtete sich allein gegen den englischen König, mithin gegen eine als illegitim erachtete Oberhoheit, nicht aber gegen die zuvor schon etablierten Institutionen und Körperschaften. Auch nach der Trennung vom illegitim erachteten Souverän wurden die gesetzgebenden Versammlungen nicht in Frage gestellt. Und da sie dem Gemeinwesen ohnehin zugrunde lagen, trat mit dem Fall des monarchischen Kleids die darunter nur verborgen gewesene republikanische Ordnung vollends zutage. So gesehen erscheint die Amerikanische Revolution recht unrevolutionär, war sie doch
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der erkämpften Unabhängigkeit eigentlich vorausgegangen und im Akt des Aufstandes als Rebellion gegen den englischen König allenfalls mit sich selbst identisch geworden. Die Französische Revolution hingegen war eine Umwälzung ganz anderer Art. Schließlich hatte sie ein ancien régime abzuschütteln. Der Bruch war umfassend, gleichsam total, denn er richtete sich nicht nur gegen Aristokratie und Klerus, sondern auch gegen die Monarchie als Ausdruck einer bislang gültigen, transzendental gebundenen Legitimität. Die öffentliche Hinrichtung des Königs bedeutete eine zutiefst empfundene Wendung, die jede bestehende Ordnung annullierte. Damit war das Gemeinwesen in den Stand eines Naturzustands zurückgestoßen worden – freilich in eine ganz andere Art von Naturzustand, als dieser von Locke hinsichtlich der Begründung Amerikas, hervorgegangen aus der institutionellen Selbstbindung der Bürger ohne Herrscher und Beherrschte, etabliert worden war – und dies zudem in einem als geschichtslos empfundenen kolonialen Raum des Anbeginns. In dem aus der Französischen Revolution hervorbrechenden Naturzustand blieb die Macht indes institutionell wenig reguliert. Ihre Wucht brachte alle Ordnung zum Bersten, löste alle Bande und Bindungen auf, die vormals auf königlich verbrieften Privilegien beruhten. Die alte, die vertikal gefügte, sprich: die korporative Ordnung der Stände sollte sich unter gewaltigen Geburtswehen horizontalisieren, und zwar entlang dem Prinzip der Gleichheit. Ob es sich bei dieser Gleichheit indes allein um die Gleichheit in der Form, eine Gleichheit vor dem Gesetz handelte oder um eine darüber hinaus gehende soziale Gleichheit, blieb unentschieden. So war es nicht verwunderlich, dass die der Französischen Revolution inhärente Spannung zweier Arten der Gleichheit – der Gleichheit der Form als Rechtsgleichheit und der sozialen Gleichheit als substanzielle, als materielle Gleichheit – zu ihrem Schicksal wurde. Die Französische Revolution scheiterte mithin an der sozialen Frage, an der Frage des bonheur du peuple, des Wohlbefindens des Volkes – Volk im Sinne der niederen Klassen. Deren nacktes Elend schien die Anwendung nackter Gewalt zwecks ihrer Besserung zu rechtfertigen. Die aus Mitleiden mit den Armen und Schwachen erwachsene Legitimität der Gewalt schlug – direkt und unmittelbar, ganz ohne institutionelle Vermittlung – auf die Sphäre des Politischen durch und beschleunigte deren Verfall. In einer solchen Unmittelbarkeit und Direktheit entfaltete sie zerstörerische Wirkung, als sie den vorübergehend sich geöffneten Raum politischer Freiheit vernichtete. Die Vernichtung des Politischen durch die Glut des sozialen Mitfühlens machte vor seinen Trägern – den Revolutionären – nicht halt. Die Passion der Revolution trieb sie gleichsam vor sich her. Und indem sie sich gegenseitig in der Demonstration ihrer Passion des Mitfühlens zu überbieten trachteten, wurden sie von ihr einer nach dem anderen verschlungen. Ganz anders die Amerikanische Revolution. Schon von ihrem Charakter her war sie ausschließlich eine politische gewesen. Vom Übergreifen sozialer Fragen auf das Politische blieb Amerika verschont. Dies ist dem Phänomen der Neuen Welt gleichsam eingeschrieben. Das mag ungewöhnlich, im besten Falle paradox erscheinen, schließlich war Amerika ein Land des Asyls der Armen – jene als über-
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schüssig erachteten Menschen, die dem beißenden Hunger und dem chronischen Elend Europas zu entkommen suchten. Die anhaltende Legende vom Reichtum Amerikas war in ihrer Wirkung nicht gering zu schätzen. Die Kunde von leicht zu erwerbendem Wohlstand verbreitete sich in jeden Winkel des alten Kontinents, auch dann, wenn in der Neuen Welt Armut gelitten wurde. Dass dies die anziehende Wirkung Amerikas nicht zu beeinträchtigen mochte, war dem Umstand geschuldet, dass Armut in Amerika als etwas Vorübergehendes, Vorläufiges erachtet wurde. Jedenfalls unterschied sie sich vom erfahrenen, eingefressenen habituellen Elend Europas. Der Exodus in die Neue Welt war allenthalben von dem Willen getragen, sich dem andauernden Fluch der Armut in den alten Welten zu entziehen. Diese und andere von Hannah Arendt in ihrer Schrift Über Revolution gemachten Beobachtungen über die Unterschiede zwischen Amerikanischer und Französischer Revolution führen bei der politischen Philosophin zu einer durchaus beunruhigenden Konsequenz: jener nämlich, dass die Voraussetzung politischer Beteiligung auf der Grundlage politischer Freiheit als Gleiche, die Teilhabe an den so genannten charmes of liberty, recht eigentlich nur für diejenigen gelten, die nicht den drückenden Lasten der Notwendigkeit ausgeliefert sind. Dies will nichts anderes heißen, als dass die aktive Beteiligung an der Gesetzgebung eigentlich nur jenen möglich ist, die der Bürde der tagtäglichen Mühsal enthoben sind. Eine solche Konstellation bindet die Freiheit an die Befreiung von Armut und damit vom Joch der Notwendigkeit – eine Vorstellung von der Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten, die jenem Idealbilde von Politik entspricht, deren konstitutionellen Vorläufer Arendt in den Zuständen der griechischen Polis zu erkennen glaubte. Die genossene Freiheit, am öffentlichen Glück mitzuwirken und so zur public happiness beizutragen, war mithin eine Freiheit von Wenigen. In Amerika, dem ‚Schlaraffenland der Menschheit‘, sollte sie sich verallgemeinern. Zumindest in Gestalt eines allseits geglaubten, weil dort möglichen Versprechens. In diesem Sinne handelte es sich bei Amerika nach Arendt um eine „Gründung der Freiheit“ – die Neue Welt als ein „Empire of Liberty“. Nicht mehr von Freiheiten als Ausdruck traditioneller Privilegien war die Rede, nicht von Befreiung von unmittelbarem Zwang und Bedrückung – also nicht um Freiheit von etwas, sondern um Freiheit für etwas, mithin um Freiheit an und für sich und damit der Freiheit an der Mitwirkung an den Voraussetzungen der Freiheit. Das sich durch Selbstregierung konstituierende Moment von Freiheit als Kollektivsingular bedeutet Arendts Auffassung nach einen weltgeschichtlich neuen, zuvor unbekannt gewesenen Zustand – ein durch das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz sich verallgemeinerndes Privileg der Teilnahme und Teilhabe an der Pflege der öffentlichen Angelegenheiten. Die in Amerika realisierte constitutio libertatis indes war erst durch die „Legitimität der Neuzeit“ (Blumenberg) möglich geworden – und dies in doppelter Hinsicht: zum einen durch die politischen Ideen der Aufklärung vornehmlich in ihrer Montesquieuschen Variante, die sich auf eine mittels des Prinzips institutioneller Teilung der Gewalten regulierten Volkssouveränität und auf die Herrschaft des Gesetzes richteten, nicht aber auf die Herrschaft der Menschen;
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zum anderen durch die von der Moderne angestoßenen materiellen Möglichkeiten der Produktion von Reichtum über die physisch begrenzte menschliche Arbeitskraft hinaus. Für die Überwindung eines vorgeblich vom Schicksal verfügten Massenelends in der Alten Welt stand Amerika als konkrete Utopie und als Quelle schier unerschöpflichen Wohlstandes; und dies bevor die menschliche Arbeitskraft sich ihrer natürlichen Begrenzung durch beschleunigende maschinelle Repetition entledigte, um so ihre Möglichkeiten schier grenzenlos zu potenzieren. Freiheit als universelles Versprechen für alle bedurfte also einer grundlegenden Befriedigung materieller menschlicher Bedürfnisse – zumindest einer als greifbar erachteten Zusage. Freiheit vermag sich nicht unter den Umständen des Mangels zu etablieren. Vielmehr wird Freiheit erst durch den Springquell des Überflusses bzw. seiner als realisierbar geglaubten Möglichkeit vorausgesetzt. Dieser Quell schien in der besonderen amerikanischen Konstellation gleichsam naturhaft angelegt – ein Gründungsakt der Freiheit, dem die Befreiung von der Armut vorausgegangen war. Auf der Grundlage einer unter kolonialen Bedingungen sich einstellenden verbürgerlichten Gleichheit sowie dank einer naturgegebenen materiellen Fülle vermochte Amerika eine Freiheit zu versprechen, deren universelle Möglichkeit sich erst unter den Bedingungen eines von der Maschinenwelt erzeugten grenzenlosen Reichtums realisieren sollte. Dies mag der tiefere Sinn der Arendtschen Aussage von Amerika als Idee und Wirklichkeit einer „Gründung der Freiheit“ sein – eine Freiheit jenseits der sozialen Frage, der damals auf dem alten Kontinent schwärenden Frage der Armut. In „Amerika“ als dem „Weltasyl der Freiheit“ (Edmund Burke) im Sinne von Utopie, von Wirklichkeit, umspült von einem tosenden „Meer der Notwendigkeit“ (Hannah Arendt), harrt die Frage des Sozialen zwar ihrer Lösung, aber ihre ansonsten das Politische verschlingende Notwendigkeit findet sich allen Verwerfungen zum Trotz tendenziell neutralisiert.
ILMA RAKUSA
M.Z. oder Reaching out for Marina Zwetajewa
Schon immer alt, sagst du. Ich bin älter als Lilith, älter noch. Und warst Mutter mit zwanzig. Die Tasche geschultert, darin Papirossy, um den Bürgerkriegsalltag durchzustehen. Männlicher Haarschnitt, männliche Kleidung, schneller Schritt und schnelle Rede. An der rechten Hand Alja, das Wunderkind. So ging es durch Moskau, 1918. Die Möbel schon alle verheizt. Du sagst älter. Die andern: Marinotschka, woher diese rasende Energie. Und ja. Und der reinste Widerspruch hinter allen Hüllen. Weil Alja dich braucht. Weil die Worte drängen. Weil es die Liebe gibt, kämpferisch wie das Leben. Rüben kaufen, nicht vergessen, das Ofenrohr zu schließen, in die „Liga zur Rettung der Kinder“ um Kraftnahrung gehen. Welche Fron ist leichter: diese oder die der grande passion? Du fragst nicht, hadern wäre ein Luxus. Nur zu, aus dem Elendsquartier in die Ausweglosigkeit. Irina, die jüngere, verhungert. Niemand denkt daran, dass auch ich ein Mensch bin, sagst du. Und greifst klaglos zum Heft. „Die Stirne küssen − löscht das Gedächtnis. Ich küsse die Stirn.“ Du küsst. Sonjetschka, Lann, Sawadskij, Pawluscha, die ganze Boheme. Küsst zärtlich, prüd, verführerisch, im Traum, wenn du mit Alja frierend unterm Plaid liegst. Um das Warten auszuhalten. Auf Sergej, der im Krieg verschollen ist. Du bist Herr und Herrscher, schreibst du, ich − ein Blatt, / Schwarzland bin ich, das uns überdauert. Dein Glaube ist groß und unbeirrt. Denn du heißt M. Wie Mut, wie Meer, wie Märchen, wie Musik, wie Mutter, wie Meißel, wie Mensch. Und Z. wie Zähre und Zorn. Zum Zenit strebend, unzähmbar. Zäh. Kaum erfährst du, dass er lebt − Serjoscha, mein Lieber! − folgst du ihm nach Prag. So fraglos ins Exil. Dort schlägt die Armut doppelt zu. Die Wahrsagerin kam zu spät. Wasser holen, Suppe kochen, Brennholz schichten. Briefe schreiben. Briefe am Morgen und in der Nacht, um der böhmischen Einsamkeit von Mokropsy und Všenory zu entfliehen. Du klammerst dich an jeden Adressaten. Du reimst dich auf die Fernen, Entrückten, wie Spund auf Mund. Weil du sie nach deinem Wunsch formst. Du bist stark, du bist zupackend. Doch von einer jähen Leere befallen, wenn sie sich entziehen. Aus Wut? Aus Verzweiflung (der frühe Mutterverlust)? Ich bin nicht fürs Leben gemacht, schreibst du. Bei mir ist alles − Brand. Ich kann gleichzeitig zehn Beziehungen unterhalten und dabei jedem aus tiefster Seele versichern, er sei der einzige. Aber die geringste Drehung des Kopfes von mir weg − ertrage ich nicht. Das SCHMERZT… Ich bin ein ungeschützter Mensch, während Sie alle Panzerhemden tragen… Ich habe im Grunde NICHTS. Alles fällt ab wie eine Haut, und unter der Haut ist nur zuckendes Fleisch oder Feuer: ich: Psy-
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che. Ich passe in keine Form, nicht einmal in die weiträumigste meiner Gedichte! Ich kann nicht leben. Oder nur im Traum, sagst du. Und: Oh, die ganze Zeit: sterben, wegen allem! Aber du schreibst wie eine Beseßene. Arbeitest wie ein Pferd. Läßt nicht ab und nach. Pasternak ist von dir überwältigt. Auch wenn du von den Gänsen, der Brunnenpumpe und deinem Elendsleben berichtest, zornig: Bin selbst der Fraß, der unaufhörlich auf meinem Spirituskocher schmort. Die Niederungen ziehen hinunter, die Sehnsucht will hinauf. Bei diesem Spagat siehst du dir zu, bis er dich fast zerreißt. Boris ist weit, Bachrach abgeschrieben. Da kommt ein Freund Sergejs und erobert dich im Flug. Küsst deinen Körper wach, auf einem hellen Prager Hügel, verweist das Sehnen in die pralle Gegenwart. Liebe und Leben und Pierrot K. sind eins. „Herr, verzeih mir dieses Glück!“ Länger als ein paar Monate hältst du’s nicht aus. Aus schlechtem Gewissen? Weil Schöpfertum und Verliebtheit unvereinbar sind? Oder dein Hunger hienieden unstillbar? Wir gingen mit dem Berg zu Bruch, schreibst du. Leidenschaft ist weder Lug noch Trug − Keine Täuschung: Dauerschmerz! / Och, wir haben davon längst genug… / Liebe ohne Leid, das wär’s! Hunderte von Bergzeilen, von Schmerzzeilen, angetrieben vom Motor des Verlusts. Jetzt, wo alles vorbei ist, bist du zumindest Herrin des Worts, feierst das Ende im Staccatorausch. Saal, Qual, Paar, und Schluss und Strich, und kein Wunder, dass sich Leichnam auf zweisam reimt. Bis der Zorn verebbt: Das Wort. Was für Vögel! / Und Salomon kniet! / Wozu also träumen? / Das Leid − unser Lied! // Verschlungen von dunkler Flut − aufrecht und schief − / Kein Laut − keine Funken − / Gesunkenes Schiff. Du gibst auf. Du hast aufgegeben. So nah lässt du die Leidenschaft nie mehr an dich heran. Du wählst die Mutterschaft und die platonische Liebe epistolarischer Beziehungen. Du vergötterst deinen Sohn Georgij und träumst dich an Rilkes Schulter. M. wie Muse, Mama. (Die Mänade hat ausgedient.) Paris macht das Leben nicht leichter. In den Vororten Meudon, Clamart, Vanves musst du deinen Mann stehen. Sergej war schon immer schwächlich, ein NichtHeld, der sich kaum selbst über die Runden bringt. Du bemutterst ihn, wie du Nikolaj Gronskij und den tuberkulosekranken Anatolij Stejger bemuttern wirst, diese inspirierten, lebensuntauglichen Dichter-Jungs. Weil dich ihre Weichheit anzieht. Sie zieht dich an − und lässt dich aufbegehren. Als sträubtest du dich gegen deine Heldenrolle. Meine scheinbare Härte, schreibst du, war nur − Form, Wesenskontur, notwendiger Selbstschutz − vor eurer Weichheit, Rilke, Marcel Proust und Boris Pasternak… Ihr kauft euch − durch eure Weichheit − frei, verstopft mit dieser hygroskopischen Watte die Wunden, die ihr geschlagen habt, den brüllenden Schlund der Wunden. Der Vorwurf sitzt. Und du kannst nicht aus deiner Haut. Nicht aus der Rolle der wohlerzogenen, ritterlichen, pflichtbewussten Bürgerstochter, „Pelikan-Mutter“, Kümmererin, die − trotz und vor allem − Dichterin ist.
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Gib zu, du bist verbittert. Sollte diese Misere das Leben sein? Das Unverständnis der Emigrantenkreise, das ewige Darben, die aufmüpfige Tochter, der verzogene Sohn, das Fehlen von Freunden? Deine innere Maßlosigkeit prallt ab an der „Welt nach Maß“, einsam bist du wie ein „Kamtschatkabär ohne das Eis“. Weil etwas in dir erkaltet, träumst du vom flammenden Vogelbeerstrauch deiner Kindheit. Den Holunderbüschen in Tarussa. Von damals, als die Märchen noch halfen. Die Farben, die Fülle sind dort. Während das Jetzt zur leeren Kulisse erstarrt. Als Gronskij mit fünfundzwanzig aus dem Leben gerissen wird, bist du fassungslos wie ein Kind: Dein Gesicht und dein Wort, / Deine Schultern sind fort. / Wie schutzlos ich bin! / Wohin nur, wohin? Du bist dreiundvierzig und ringst mit dem Weiter. Am Küchentisch, der den Schreibtisch ersetzt. Auf der Flucht vor Intrigen und Fahrstühlen, die dein Freiheitsdrang verschmäht. Wer hören will, hört deine Not. Deine Briefe verschweigen sie nicht. Ich habe vierzig Jahre gelebt, und da war niemand, der mich über alles auf der Welt geliebt hätte… Mir ist weder in der Gegenwart noch in der Zukunft ein Platz beschieden. Mir, mit allem, was ich bin, kein Fussbreit Erdoberfläche… Schlafen möcht ich, schlafen, bis meine Zeit herum… Ist die Zeit ein Trichter? Du erschrickst, wie sie sich verengt. Die Tage laufen aus, im Heft stehen nur noch Bruchstücke. Du kriegst die Enden nicht mehr zusammen. Alja ist nach Moskau zurückgekehrt. Sergej arbeitet für den Verband der Heimkehrer in die UdSSR. Du wirst beargwöhnt. Und eines Tages von der Polizei verhört. Du weißt nichts. Du kannst nicht glauben, Sergej sei in den Mord an einem früheren Geheimdienstoffizier verwickelt. Du erfährst, dass er Frankreich verlassen musste. Du bist allein mit deinem Sohn. Und verloren wie noch nie. Gott? Es sind Frauen, denen du dich anvertraust. Als wolltest du an die Hand genommen werden. (Mamotschka, wie lange schon bist du tot…) Alles läuft auf die Frage hinaus: Bleiben oder Fahren. Wie im Märchen, als Iwan Zarewitsch an der Wegkreuzung steht: Gehst du nach links − richtest du dein Pferd zugrunde, gehst du nach rechts − kommst du selber um. Du spürst, dass dein Leben entzweibricht und dass dies seine letzte Etappe ist. (Gott hat mich nicht mit Blindheit begabt.) Wo ist Haus, Herd, Heimat, und die Liebe, wo? Nicht Türkenschwert noch Brand, nur: Ein Schmerz, vertraut, wie den Augen − die Hand, / Wie den Lippen − / Der Name des eigenen Kinds. Das Schiff fährt in Le Havre. Von der Überfahrt − kein Wort. Du bist ergraut. Georgij trägt eine Schirmmütze. Der Sommer in Bolschewo − mit Sergej und Alja − ist kurz wie ein Atemzug. Als sie verhaftet werden (der Mohr hat seine Pflicht getan), beginnt deine Flucht von Wohnung zu Wohnung. Moskau will dich nicht. Niemand will dich und das, was du tust. Weil du drüben warst, bei den andern. Verdächtig, gebrandmarkt. Die Frau eines Agenten. Angst treibt sie und dich. Du schreibst an den Vizesekretär des Schriftstellerverbandes: Ich sehe keinen Ausweg. Ich flehe Sie um Hilfe an. Und an Vera Merkurjewa: Wie wird das enden? Mit dem Wechsel der Orte verliere ich allmählich das Gefühl für die Wirklichkeit:
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Ich werde immer weniger und weniger, wie jene Herde, die an jedem Zaun ein Büschel Wolle ließ… Bleibt nur mein grundsätzliches Nein. Georgij möchte ein Sowjetjunge werden, in Sportparaden mitmarschieren. Dir dreht sich der Kopf. Die Worte stocken schon lange. Und wenn du weinst, gerät er in Wut. Er begreift nicht, dass nicht eine Frau weint, sondern ein Fels. Sagst du. Und schämst dich, dass dieser Fels zusammen mit dem Wasserfall auf den Menschen (sein Gewissen) fällt. Die alte bist du nicht mehr. Nur urplötzlich alt. Trägst die auf einem Pariser Trödelmarkt erstandene mohammedanische Bernsteinkette um den Hals („meine einzige Freude“), schickst Alja Lebensmittelpakete ins Lager (auf dem Radiator getrocknete Mohrrüben, Kakao, Zucker, Käse, Speck), aber aus somnambuler Disziplin. Mit gestreckten Waffen. Was soll das hehre „Herz und Schicksal“. Herz ist definitiv: Lot, Log, Senkblei, Kräftemesser, Reaumur − alles, nur nicht Chronometer der Liebe. Und doch streift dich, in diesem Hundeleben, eine letzte Anwandlung. Boris T. könnte, wollte, wenn du seine Zuneigung erwidern würdest. Du spürst die Aufwallung − und winkst ab. Es ist Zeit! für dieses Feuer − / Ich bin alt! / Älter als ich − die Liebe! / Fünfzig Januare übersteigt / sie, diesen Berg! / Älter − die Liebe: / Alt wie der Schachtelhalm, die Schlange, / Älter als Livlands Bernstein, / Als Geisterschiffe älter, / Steine − als die Meere… Doch in der Brust das Weh / ist älter als die Liebe, älter noch als sie. Das Weh also. Selbst das Brot tut weh, schreibst du. Und wenig später: Zeit, sich vom Bernstein zu trennen. Golizyno, Moskau. Im August 1941, nach dem Überfall der Hitler-Truppen, wirst du mit Georgij ins tatarische Jelabuga evakuiert. Warum nicht nach Tschistopol, wie Pasternak, Tschukowskaja, die meisten Schriftstellerkollegen? Der Ort ist Wüste, du bewirbst dich als Tellerwäscherin in einer Kantine. Eine Bitte, hoffst du, die man dir nicht abschlagen kann. Während du Anwerbungsversuche des KGB mannhaft zurückweist. Geben, ja, immer geben, aber nicht das. Nicht so. Erpressbar warst du nie. Verschenkt die kurze Jacke aus falschem Pelz, die Metalltasse, beendet die Übersetzung der „weißrussischen Juden“, es ist Hochsommer, es ist Krieg, und keiner braucht dich wie die Luft. Auch nicht der Sohn? Du zögerst. Zwischen der Bedingungslosigkeit der Mutterliebe und der Maßlosigkeit des Wunsches, nicht mehr zu sein, der jenen andern verdrängt hat: zu schenken ohne Maß. Zwei Seelen. Zusammen leben − weben − können sie nicht mehr. Du entscheidest dich für den Strick. Ziehst einen Strich unter Leben, Liebe, Leid, Lied, abgekürzt Passion. Die Erde sei dir leicht.
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Die Zitate entstammen folgenden Ausgaben: Marina Zwetajewa: Auf eigenen Wegen. Tagebuchprosa Moskau 1917-1920 (Paris 1934), Übersetzung und Nachwort v. Marie-Luise Bott, Frankfurt am Main 1987. Marina Zwetajewa: Im Feuer geschrieben. Ein Leben in Briefen, hg. und aus dem Russischen übers. v. Ilma Rakusa, Frankfurt am Main 1996. Marina Zwetajewa: Liebesgedichte. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen v. Ilma Rakusa, Frankfurt am Main 2008.
GEORGES DIDI-HUBERMAN
„Den Pessimismus organisieren … den Bildraum entdecken“
Man sieht keinesfalls das Gleiche, wenn man seinen Blick auf den Horizont ausdehnt, der sich unendlich weit und regungslos jenseits von uns ausbreitet, oder wenn man seinen Blick auf das Bild verengt, das winzig und beweglich ganz in unserer Nähe vorbeizieht. Das Bild ist wie ein Leuchtkäfer, ein kleiner Schimmer, die lucciola eines vorüberziehenden Flackerns; der Horizont hingegen badet in einem großen gleichförmigen Licht, dem luce des Endzustands: die angehaltenen Zeitläufte des Totalitarismus oder die vollendeten des Jüngsten Gerichts. Den Horizont zu sehen, das Jenseits, heißt, die Bilder, die an uns vorbeistreichen, nicht zu sehen. Die kleinen Leuchtkäfer geben unserer in Frage stehenden Immanenz Form und Schimmer, die grellen Projektoren des großen Lichts verschlingen jegliche Form und jeglichen Schimmer – jegliche Differenz – in der Transzendenz des Endzwecks. Wer seine Aufmerksamkeit ausschließlich dem Horizont widmet, erweist sich als unfähig, ein Bild zu betrachten. Vielleicht stellt sich bestenfalls in den Momenten einer messianischen Verherrlichung der Traum von einem Horizont ein, der alle Bilder versammeln und sichtbar machen würde. Ein solcher Traum scheint bei Walter Benjamin auf, wenn auch nur vereinzelt, nämlich dann, wenn ganz hypothetisch von einer an ihr Ende gekommenen Geschichte die Rede ist, bei der sich jeder Augenblick – jedes Bild – in absoluter paradoxaler Dauer vor das Jüngste Gericht gerufen sehen könnte: Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation à l’ordre du jour – welcher Tag eben der jüngste ist.1
Aber dieser „Tag“ ist uns nicht gegeben. Lediglich eine Nacht wird uns zuteil, durchdrungen vom sanften Schimmern der Leuchtkäfer oder vom grellen Strahl der Projektoren. Benjamins Thesen zum Begriff der Geschichte enden bekanntlich – seine letzten Worte an uns – mit dem Bild der „kleine[n] Pforte, durch die der Messias treten konnte“, verborgen durch „jede Sekunde“ einer Zeit, die vom „Eingedenken“ gespeist wird.2 Dieser enge Rahmen, diese winzige Zeitspanne bezeich1 Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, Bd. I.1, S. 691704, hier S. 694. 2 Ebd., S. 704.
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net meiner Meinung nach das Bild selbst: Dieses Bild „huscht vorbei. […] Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.“3 In der französischen Fassung seines Textes schreibt Benjamin, dass sich diese Definition des Bildes auf einen Vers von Dante stütze, den meines Wissens noch niemand hat identifizieren können.4 Aber diese Erinnerung, sei sie auch noch so undeutlich, ist wertvoll, macht sie doch aus dem Bild – irgendwo zwischen Dantes Beatrice und Baudelaires ‚flüchtiger Schönheit‘ – das Vorbeigehende par excellence. Das Bild wäre demnach der vorbeihuschende Schimmer, der kometengleich die Reglosigkeit eines Horizonts überwindet: „Das dialektische Bild ist ein Kugelblitz, der über den ganzen Horizont des Vergangenen läuft“, heißt es im Kontext von Benjamins handschriftlichen Überlegungen zu Geschichte und Politik.5 In unserer geschichtlichen Welt, weit entfernt also vom Jüngsten Gericht und von jeglichem Endzweck, in einer Welt, in der der „Feind […] zu siegen nicht aufgehört“6 hat und der Horizont sich über dessen Macht und Ruhm zu empören scheint, muss der primäre politische Akteur eines Protests, einer Krise, Kritik oder Emanzipation ‚Bild‘ genannt werden, im Sinne dessen, was sich als fähig erweist, den Horizont der totalitären Konstruktionen zu ‚überlaufen‘. Dies ist der Sinn jener – meines Erachtens grundlegenden – Überlegung, die Benjamin über die Rolle der Bilder entwirft: Bilder als Möglichkeiten, den Horizont unseres fundamentalen Pessimismus zu „organisieren“, und das heißt zugleich, ihn zu demontieren, zu analysieren, zu hinterfragen: „‚Den Pessimismus organisieren heißt […] im Raum des politischen Handelns den hundertprozentigen Bildraum entdecken. Dieser Bildraum aber ist kontemplativ überhaupt nicht mehr auszumessen […] Dieser gesuchte Bildraum …, die Welt allseitiger und integraler Aktualität.‘“7 Das Bild ist eine einmalige, wertvolle Erscheinung, auch wenn es sich dabei nur um ein Ding handelt, das verbrennt und fällt8 – so wie der von Benjamin erwähnte „Kugelblitz“, der „über den ganzen Horizont des Vergangenen läuft“, nur um auf uns niederzugehen, uns zuzufallen. Er erhebt sich nur höchst selten zum regungslosen Himmel der ewigen Ideen: In der Regel fährt er hinab, geht unter, stürzt hernieder und vergeht auf unserer Erde, irgendwo vor oder hinter dem Horizont. Wie ein Leuchtkäfer verschwindet er schließlich aus unserem Blickfeld, hin zu einem Ort, wo er vielleicht von jemand anderem gesehen wird, wo sich sein Nachleben 3 Ebd., S. 695. 4 Walter Benjamin: „‚Sur le concept d’histoire‘“, in: Ders.: Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. I.3, S. 1260-1266, hier S. 1261. 5 Anmerkungen zu „Über den Begriff der Geschichte“, in: Benjamin: Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. I.3, S. 1223-1266, hier S. 1233. 6 Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“ (Anm. 1), S. 695. 7 Anmerkungen zu „Über den Begriff der Geschichte“, in: Benjamin: Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. I.3, S. 1223-1266, hier S. 1234 f. Benjamin zitiert sich hier selbst aus „Der Sürrealismus“ (1929), in: Ders.: Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. II.1, S. 309. 8 Vgl. Georges Didi-Huberman: „L’image brûle“, in: Penser par les images. Autour des travaux de Georges Didi-Huberman, hg. v. Laurent Zimmermann, Nantes 2006, S. 11-52.
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noch beobachten lässt. Wenn wir im Anschluss an Warburg und Benjamin die These wagen, dass das Bild ein zeitlicher Akteur des Nachlebens ist – als Träger einer politischen Kraft, die sich sowohl auf unsere Vergangenheit als auch auf unsere „integrale[] Aktualität“ und somit unsere Zukunft bezieht –, dann gilt es die Bewegung des Uns-Zufallens besser zu verstehen: jenen Fall oder „Niedergang“9, ja jene Abweichung, die, was immer Pasolini in seinem berühmten Text über das Verschwinden der Glühwürmchen10 oder Agamben darüber denken mögen, kein Verschwinden ist. Wir müssen also zum ‚Horizont ohne Ressource‘ zurückkehren, den eine Glosse Giorgio Agambens in Kindheit und Geschichte nahelegt, und ihn jener ‚Ressource des Bildes‘ gegenüberstellen, die wir hier zu fassen versuchen.11 Agamben betrachtet die Gegenwart bekanntlich ganz aus dem Blickwinkel einer Zerstörung der Erfahrung und gründet seine These auf einer Benjamin-Lektüre: „die Erfahrung ist im Kurse gefallen“.12 Für Agamben handelt es sich dabei um eine bereits vollzogene, vollendete Zerstörung: „Es ist diese Unübersetzbarkeit in Erfahrung, die heute wie nie zuvor das Alltagsleben so unerträglich macht“, selbst in den Momenten des Krieges, von denen kurz zuvor die Rede war.13 In der gleichen Weise, wie Pasolini im Verschwinden der Glühwürmchen vor seinen Augen den Vollzug einer Zerstörung sieht, verwandelt Agamben den von Benjamin diagnostizierten ‚Kursverfall‘ in ein zurückliegendes Ergebnis, eine unumkehrbare ‚Zerstörung‘. „[D]ie Erfahrung ist im Kurse gefallen“: Das Partizip ‚gefallen‘ verweist auf eine Bewegung voller Schrecken – die nichtsdestotrotz noch Bewegung ist. Zudem klingt es in unseren Ohren merkwürdig, kann doch das Verb ‚gefallen‘ auch die Freude an etwas bezeichnen. Vor allem aber betrifft diese Bewegung nicht die Erfahrung selbst, sondern deren „Kurs“ an der Börse moderner Werte (und Benjamins Diagnose wird einmal mehr bestätigt, wenn man an die Wertebörse der Post9 Walter Benjamin: „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in: Ders.: Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. II.2, S. 438-465, hier S. 442. 10 Pier Paolo Pasolini: „Von den Glühwürmchen“ (1975), in: Ders.: Freibeuterschriften. Aufsätze und Polemiken über die Zerstörung des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, übers. v. Thomas Eisenhardt, Berlin 1988, S. 67-73. 11 Ich benutze den Begriff der ‚Ressource‘ im Anschluss an eine Diskussion mit Ludger Schwarte, der Heideggers Begriff der ‚Möglichkeit‘ in diesem Sinne deutet, um damit Agambens Gebrauch im (doppelten) Sinne als „Macht“ (potere) zu kritisieren. Vgl. Ludger Schwarte: Philosophie der Architektur, München 2009, S. 352. Sigrid Weigel hat ihrerseits Agambens Lektüre von Benjamins Texten zur Gewalt, zum Ausnahmezustand, zum Begriff der Säkularisierung, zum Verhältnis von Märtyrer und Souverän sowie den Gebrauch von juridischtheologischen Konzepten der jüdisch-christlichen Tradition ausführlich kritisiert, vgl. Sigrid Weigel: Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder, Frankfurt am Main 2008, S. 57-109. 12 Benjamin: „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in: Ders.: Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. II.2, S. 438-465, hier S. 439. 13 Giorgio Agamben: Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte, übers. v. Davide Giuriato, Frankfurt am Main 2001, S. 24.
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moderne denkt). Zweifelsohne beschreibt Benjamin eine gründliche und wirksame Zerstörung, aber es ist eine Zerstörung, die niemals vollendet wird, deren Horizont auf immer unabgeschlossen bleibt. Es würde sich mit der Erfahrung also wie mit der Aura verhalten. Denn was man im Allgemeinen aus dem Blickwinkel einer vollendeten Zerstörung der Aura der Bilder im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit betrachtet, verlangt nach einer Korrektur aus dem Blickwinkel dessen, was ich eine ‚Supposition‘ nenne: Was ‚fällt‘, muss nicht zwangsläufig ‚verschwinden‘, die Bilder dienen gerade dazu, ein Bruchstück, eine Spur oder ein Nachleben durchscheinen oder wiedererscheinen zu lassen.14 Der Wortschatz, den Walter Benjamin in seinem „Erzähler“-Aufsatz verwendet, entstammt zweifellos dem des Niedergangs. Aber dieser „Niedergang“15 ist mit all seinen Schwingungen, mit all seinen Ressourcen zu verstehen, die von der Abweichung, der Ablenkung, der Fortdauer alles Gefallenen supponiert werden. Von Beginn an spricht Benjamin vom Niedergang der Erfahrung im Sinne einer „Erscheinung“16, einer ‚Erscheinung trotz allem‘, wenn ich so sagen darf. Es handele sich um einen „Vorgang […], der seither nicht zum Stillstand gekommen ist“17 – mithin um einen Prozess, ein Ereignis, eine Reaktion (wie man in der Chemie sagen würde) oder einen Zwischenfall: ein Wort, das genauestens beschreibt, was Benjamin mit seiner Bezugnahme auf die Bewegung des Fallens und den Umstand, dass diese nicht ohne Folgen bleibt, ausdrücken will. Ein Wortschatz des Prozessualen also. Wenn Benjamin schreibt: „Die Kunst des Erzählens neigt ihrem Ende zu“18, dann kommt darin ein Horizont der Endlichkeit ebenso zum Ausdruck wie eine unabgeschlossene Bewegung, die etwas nicht als Verschwundenes, sondern als im Verschwinden Begriffenes heraufbeschwört – was sodann durch das Verb ‚aussterben‘ zum Ausdruck gebracht wird.19 Es ist also in der Tat die Rede von einem Niedergang und nicht von einem vollendeten Verschwinden: Benjamins „Niedergang“ steht für einen progressiven Abstieg, für Untergang, für den Okzident (das heißt für den Moment, da die Sonne aus unserem Blick verschwindet, aber deshalb nicht aufhört, an anderer Stelle weiter zu existieren, unterhalb unserer Schritte, an den Antipoden, mit der Möglichkeit – der Ressource –, auf der anderen Seite, im Orient, aufs Neue zu erscheinen). Nur wenig später – ich versuche, nichts im Schatten zu belassen – schreibt Benjamin, dass „die Kunst des Erzählens selten geworden ist“.20 Das setzt ein Werden 14 Georges Didi-Huberman: „L’image-aura. Du maintenant, de l’autrefois et de la modernité“ (1996), in: Ders.: Devant le temps. Histoire de l’art et anachronisme des images, Paris 2000, S. 233-260. 15 Benjamin: „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in: Ders.: Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. II.2, S. 438-465, hier S. 442. 16 Ebd., S. 439. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 442. 19 Vgl. ebd.: „Die Kunst des Erzählens neigt ihrem Ende zu, weil die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt.“ 20 Ebd., S. 444.
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und nicht tödliche Stasis voraus, ebenso wie den Fortbestand dessen, was demzufolge nicht zerstört worden ist, sei es auch noch so unterbewertet oder „selten“. Die „Mitteilbarkeit der Erfahrung“ hat sich „in dem Grade vermindert […], als es mit der Kunst des Erzählens zu Ende ging“, doch Benjamins Verbalkonstruktion des ‚zu Ende Gehens‘ setzt voraus, dass das Ende des Wegs – der Horizont – noch nicht à l’ordre du jour ist.21 Es ist das Gehen selbst, dem wir unsere Aufmerksamkeit widmen sollten. Der letzte Satz des Textes – „Der Erzähler ist die Gestalt, in welcher der Gerechte sich selbst begegnet.“22 – ist im Präsens gehalten: Damit ist nicht die Zeitlosigkeit einer Definition gemeint, die sich an der Ewigkeit oder dem Absoluten ausrichtet, sondern die Zeitlichkeit dessen, was heute, unter uns, in extremer Ungewissheit nachlebt und noch in seinem Niedergang in neue Formen zerfällt. Die politische und ästhetische Dringlichkeit in einer Zeit der „Katastrophe“ – ein Leitmotiv, das Benjamins gesamte Schriften durchzieht – bestünde also nicht darin, die logischen Konsequenzen des Niedergangs bis zu seinem Horizont des Todes zu ziehen, sondern die unerwarteten Ressourcen dieses Niedergangs im Hohlraum der Bilder zu finden, die sich dort wie Leuchtkäfer oder vereinzelte Sterne bewegen. Lukrez hat in De rerum natura ein wunderbares kosmologisches Modell entworfen: Die Atome fallen endlos, aber in diesem unendlichen clinamen erlaubt ihr Fall Ausnahmen von unerhörter Konsequenz. So reicht es schon aus, dass ein Atom leicht aus seiner parallelen Laufbahn ausschert und mit anderen kollidiert: Daraus wird eine Welt entstehen.23 Dies wäre die wesentliche Ressource des Niedergangs: die Abweichung, die Kollision, der „Kugelblitz“, der über den Horizont läuft, die Erfindung einer neuen Form. Es sollte nicht erstaunen, dass Walter Benjamin eines seiner großen historiographischen Modelle an Alois Riegl angelehnt hat, dessen Kunstgeschichte ja darauf abzielte, die besondere Vitalität jener Epochen zu zeigen, die sich angeblich im Niedergang befanden, die Spätantike oder – mit Bezug auf Benjamins Arbeit zum Trauerspiel – der Manierismus und die Kunst des Barock.24 Wenn wir aus dieser Perspektive auf den „Erzähler“-Aufsatz zurückkommen, erkennen wir darin sofort alle Elemente dieser Vitalität: die unzerstörbare Spur, die der Erzähler an der Erzählung „wie die Spur der Töpferhand an der Tonschale“25 hinterlässt; das epische Gedächtnis, dessen Transformation im modernen Roman – von Proust bis zum Surrealismus – mannigfache Prozesse des „Eingedenkens“ hervorbringt26, das Flackernde dieses Gedächtnisses, das den heutigen Leser trotz seines Mangels an Erfahrung „nur bisweilen, nämlich im Glück“ erreicht.27 Dieses „nur
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Ebd., S. 449. Ebd., S. 465. Lukrez: Von der Natur der Dinge, übers. v. Hermann Diels, Berlin 1957, Bd. 2, S. 216-250. Vgl. Walter Benjamin: „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, in: Ders.: Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. I.1, S. 203-430, hier S. 235. 25 Benjamin: „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in: Ders.: Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. II.2, S. 438-465, hier S. 447. 26 Ebd., S. 456. 27 Ebd., S. 458.
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bisweilen“ gibt uns einen wertvollen Hinweis auf die zeitliche Verfasstheit des Nachlebens: „Darum“ – so Benjamin mit Bezug auf eine Geschichte, die Herodot im Altertum erzählt und die wir heute lesen – „ist diese Geschichte aus dem alten Ägypten nach Jahrtausenden noch imstande, Staunen und Nachdenken zu erregen. Sie ähnelt den Samenkörnern, die jahrtausendelang luftdicht verschlossen in den Kammern der Pyramiden gelegen und ihre Keimkraft bis auf den heutigen Tag bewahrt haben.“28 Der Kurs der Erfahrung ist gefallen, wohl wahr. Aber es ist an uns, nicht an dieser Börse mitzuspielen. Es ist an uns zu verstehen, wo und wie dieser „Vorgang […] zugleich eine neue Schönheit in dem Entschwindenden fühlbar macht“.29 Agamben zeigt uns scharfsichtig und mit großem Ernst den letztmöglichen Horizont dieser Abwertung. Wenn man aber zu weit in diese Richtung geht, ist man paradoxerweise dazu verdammt, nur die Hälfte des notwendigen Weges zu bewältigen. Das „dialektische Bild“, zu dem uns Benjamin auffordert, besteht vielmehr darin, die unschätzbaren Momente hervorzukehren, die einer solchen Organisation der Werte widerstehen, sie überleben, indem sie sie in einem Moment der Überraschung zum Bersten bringen. Wir sollten also die Erfahrungen aufsuchen, die jenseits all jener ‚Spektakel‘ übertragen werden, die um uns herum ge- und verkauft werden, jenseits von Machtausübung und Ruhmesglanz. Wir sind „arm an Erfahrung“? Machen wir aus dieser Armut – aus diesem Halbdunkel – eine Erfahrung. Adornos Leidenschaft für Samuel Becketts Werk30 enthält zweifellos einen impliziten Rekurs auf jene Grundsätze, die Benjamin bereits in seinem „Erzähler“-Aufsatz von 1936 geäußert hat. Der Kurs der Erfahrung ist gefallen, aber es ist an uns, diesem Fall in der je spezifischen Situation Würde zu verleihen, ihn zur „neue[n] Schönheit“ einer Choreographie oder einer Erfindung von Formen zu erheben. Erhält das Bild in seiner ganzen Unsicherheit, im Flackern des Leuchtkäfers, nicht jedes Mal seine ganze Kraft, wenn es uns seine Fähigkeit zeigt, aufs Neue zu erscheinen, zu überleben? Agamben radikalisiert in seinem Aufsatz „Das unvordenkliche Bild“ den Begriff des Bildes, indem er ihm zwei Schicksale zuweist, zwei Horizonte: Der eine ist reine Zerstörung („das Bild stirbt“), der andere das Überleben im Hades (heidnische Version) oder in der Apokatastasis, der endgültigen Wiederherstellung der Welt nach Origenes (christliche Version). Kurzum, Nachleben wird von ihm als Überleben nach dem Tod verstanden, als Überleben der Apokalypse, des Endes aller Zeiten, der reinen Erlösung. Agamben fügt hinzu, dass dieses Paradox – radikale Leidenschaft und radikale Macht – „dem Ursprung der abendländischen Metaphysik einbeschrieben“ ist.31 Auf diese Art und Weise setzt er das Bild auf der Ebene der 28 Ebd., S. 446. 29 Ebd., S. 442. 30 Vgl. Theodor W. Adorno: „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, in: Ders.: Noten zur Literatur, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1974, S. 281-321. 31 Giorgio Agamben: „Das unvordenkliche Bild“, übers. v. Alexander García Düttmann, in: Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, hg. v. Volker Bohn, Frankfurt am Main 1990, S. 543-554, hier S. 550.
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Metaphysik selbst an, sei es auch mit Nietzsche und Heidegger als denjenigen, die die Metaphysik ins Taumeln gebracht haben. Walter Benjamin hatte demgegenüber eine ganz andere Vorstellung, an die ich hier anknüpfen möchte: Er schlug vor, den Pessimismus in der geschichtlichen Welt zu organisieren, indem man im Hohlraum unseres „politischen Handelns“ selbst einen „Bildraum“ entdeckt.32 Diese Vorstellung betrifft die unreine Zeitlichkeit unseres geschichtlichen Lebens, die weder vollendete Zerstörung noch beginnende Erlösung umfasst. In diesem Sinne ist auch das Nachleben der Bilder zu verstehen, seine fundamentale Immanenz: weder als Nichtigkeit noch als Fülle, weder als jedem Gedächtnis vorausgehende Quelle noch als jeder Katastrophe nachfolgender Horizont, sondern als ihnen eignende Ressource, Ressource des Begehrens und der Erfahrung im Hohlraum selbst unserer unmittelbarsten Entscheidungen, unseres alltäglichsten Lebens. Zur gleichen Zeit, zwischen 1929 und 1940, in der Walter Benjamin diese Möglichkeit in Betracht zog, den Pessimismus durch die Ressource gewisser Bilder oder alternativer Denkkonfigurationen zu organisieren, bot ihm das alltägliche Leben gewiss keine Erholung. Kann man sich das Leben dieses deutschen Juden ‚ohne Ressourcen‘ vorstellen, auf der ständigen Flucht vor dem Würgegriff, der sich um ihn legte? Agambens Eindruck von der Zerstörung der Erfahrung, „die heute wie nie zuvor das Alltagsleben so unerträglich macht“33, muss angesichts dieses Kontrasts korrigiert werden. Denn der Kontrast ist umso stärker, als Benjamin es verstand, seinen Pessimismus mit der Anmut von Leuchtkäfern zu organisieren, wenn er beispielsweise zwischen dem epischen Theater Bertolt Brechts und den urbanen Ausschweifungen der surrealistischen Dichter, zwischen der Bibliothèque Nationale und der Passage des Panoramas jenen „Bildraum“ suchte, der in der Lage wäre, der Polizei – den fürchterlichen Zwängen – seines Lebens zu widersprechen. Der Kurs der Erfahrung war gefallen, aber Benjamin antwortete darauf mit Denkbildern und durch Bilderfahrungen, von denen etwa die Texte über Haschisch noch immer einige schlagende Beispiele für die Ressourcen einer „echte[n] Aura“ oder einer ‚Kindheit des Blicks‘ auf andere Dinge liefern.34 Wie Pasolini dem Verschwinden der Glühwürmchen Ausdruck verliehen hat, so hat auch Agamben die Zerstörung der Erfahrung und die Trauer um die Kindheit artikuliert, indem er das, was er insbesondere aus Benjamins Beschreibungen verschiedener Weltkriegssituationen wusste, auf die Gegenwart projizierte. Nun, die Erfahrung des Kriegs selbst lehrt uns – indem sie die Bedingungen seiner Erzählung und seiner Überlieferung auffindet, seien diese auch noch so unsicher –, dass der Pessimismus manchmal so organisiert war, dass gerade seine Ausübung den Schimmer und die flackernde Hoffnung der Leuchtkäfer hervorbrachte. Ein 32 Anmerkungen zu „Über den Begriff der Geschichte“, in: Benjamin: Gesammelte Schriften (Anm. 1), S. 1234. 33 Agamben: Kindheit und Geschichte (Anm. 13), S. 24. 34 Vgl. Walter Benjamin: Denkbilder, Frankfurt am Main 2001; Ders: Über Haschisch, Frankfurt am Main 2000.
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Schimmer, der Wörter frei erscheinen ließ, als man glaubte, sie seien in einer ausweglosen Situation gefangen. Denken wir nur an die Sammlung von Texten, die Henri Michaux zwischen 1940 und 1944 unter dem Titel Zerreißproben, Exorzismen zusammengestellt hat und in deren Vorwort er schrieb: „Der Grund ihres Daseins: die Mächte der feindlichen Welt ringsum in Schach zu halten“.35 Denken wir an René Chars bewundernswerte Aufzeichnungen aus dem Maquis, die er während seiner täglichen Kämpfe im Untergrund schrieb und in denen der politische Widerstand – aktiv, militärisch, jeden Moment lebensbedrohlich – eins wurde mit dem, was wir hier als „Widerstand“ des Denkens betrachten.36 Denken wir an LTI von Victor Klemperer, ein Buch, das Klemperer gleich eingangs „als eine Notwehr“, als einen „an mich selbst gerichtete[n] SOS-Ruf“ aus dem Raum der täglichen Unterdrückung beschreibt:37 ein Vorhaben, bei dem die Erhellung der Sprache im notwendigen Dunkel der Verborgenheit zu einem Gegenschlag der ‚Leuchtkäferworte‘ gegen die grellen ‚Scheinwerferworte‘ der Nazipropaganda wurde. Es ist sogar vorgekommen, dass die dunkelsten Wörter nicht jene des absoluten Verschwindens waren, sondern die eines Nachlebens ‚trotz allem‘, geschrieben vom Grund der Hölle. ‚Leuchtkäferworte‘ sind die Tagebücher des Warschauer Ghettos und die Chroniken seines Aufstands; ‚Leuchtkäferworte‘ sind die unter der Asche von Auschwitz verborgenen Manuskripte der Angehörigen des Sonderkommandos, deren Schimmer von dem souveränen Begehren des Erzählers abhing, über den eigenen Tod hinaus Zeugnis abzulegen, erzählen zu wollen.38 Zwischen der ausweglosen Finsternis der Gaskammern und jenem gleißenden Tag im Sommer 1944 gelang es eben diesen Widerstandskämpfern des Sonderkommandos sogar, einige Bilder zum Erscheinen zu bringen, als die Vorstellungskraft von einer Realität erdrückt schien, die zu gewaltig war, als dass sie hätte gedacht werden können.39 Geheime Bilder, gewiss, Bilder, die lange Zeit verheimlicht wurden, lange Zeit nutzlos waren. Aber doch Bilder, anonym überliefert, mit dem, was Benjamin als die letztgültige „Sanktion“ einer jeden Erzählung, eines jeden Erfahrungszeugnisses erkannte: die „Autorität“ des Sterbenden.40 Aus dem Französischen von Dirk Naguschewski
35 Henri Michaux: „Zerreißproben, Exorzismen“, in: Ders.: Exorzismen und andere Texte, übers. v. Dieter Hornig, Graz 2008, S. 147-220, hier S. 148. 36 René Char: Hypnos. Aufzeichnungen aus dem Maquis (1943–1944), übers. v. Paul Celan, Frankfurt am Main 1990. 37 Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig 1975, S. 17. 38 Vgl. Emanuel Ringelblum: Ghetto Warschau: Tagebücher aus dem Chaos, Stuttgart 1967; Hillel Seidman: Du fond de l’abîme. Journal du ghetto de Varsovie (1942-1943), übers. v. N. Weinstock, Paris 1998; Jadwiga Bezwi´nska (Hg.): Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos, Oświęcim 1972. 39 Vgl. Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, übers. v. Peter Geimer, München 2006. 40 Benjamin: „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in: Ders.: Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. II.2, S. 438-465, hier S. 450.
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Staging Knowledge und Imaginative Rhetorics Inszenierung von Wissensräumen und performative Kulturvermittlung In seinem Theaterstück Die Humanisten (1976) verleiht Ernst Jandl der mentalitätsgeschichtlich gewachsenen Diskrepanz zwischen Kunst und Wissenschaft beredten Ausdruck, indem er den „groß-kunstler“ und den „witzelnschaftler“, der auch „sein ein nobel preisen“, in Imponiergehabe kreischend einander begegnen lässt – haben diese doch einiges an Konfliktpotenzial gegeneinander auszutragen, wenn sie sich in Mann-Männchen-Plusterung aneinander reiben. „Witzelnschaffen“ kräht der eine, der andere protzt mit „kunstln“. Mit „geisten-produktion“ wird zurücktrompetet und mit „kaudern welschen“ gespottet – dagegen kontert der andere mit „ignorante!“ Solch eine leidenschaftlich-theatralische Kontroverse lag um einiges vor der Coolness jener intellektuellen Postmoderne, die mit Diskurs-Elan dem ‚semantisierbaren‘ Individuum die Subjektivitäts-Emphase der 1960er und 70er Jahre gehörig ausgetrieben hat. Der auch marktbezogen explosiven Kunstszene der 1980er Jahre wiederum war eben dadurch postmodernistischer Esprit und die Reflexionsbrillanz eines Subjekt-abwesenden Individualismus beschieden. Dabei versuchte sich manche Kunst bisweilen recht naiv zu intellektualisieren und nahm das Theorie-aufKunst-Beziehen ziemlich wörtlich. Da hat man schon mal ein Objekt mit DerridaTexten ornamentiert – so wurde dem Kunstwerk das Diskurs-Grübeln buchstäblich aufgeklebt. So einfach lässt sich allerdings der Anspruch einer Darstellbarkeit der Wechselwirkung von Theorie und Kunst nicht einlösen – obgleich die Beobachtung solcher Hilflosigkeit, die Intellektualität gleichsam der Kunst einverleiben zu wollen, die Wichtigkeit solchen Anspruchs mehr vermittelt, als so mancher TheorieVersuch es zu erklären vermag. Im Gegensatz dazu hatten Konzeptkunst, Pop-Art und Fluxus in besagten 1960er und 70er Jahren schon Intellektualität und Theorietreiben mit großer Selbstverständlichkeit zu künstlerischer Intuition verwendet – mit ironischer Leichtigkeit und treffsicher in den Pointen. Dadurch mochten die künstlerischen Interventionen dieser Zeit den Horizont der Hypothesenbildung von Theorie um einiges erweitert haben. Nicht im Gestus des Meta-Diskurses setzten KünstlerInnen ihren Arbeiten das philosophische Reflektieren gleichsam drauf, sondern das Theorierelevante ihrer Kunst war der ästhetischen Materialität, dem performativen Gestus und dem Konzept sozusagen inhärent. So konnte sich beispielsweise die Entdeckung des Körpers und seiner Säfte durch die aktionistische Kunst indirekt (über viele Rezeptionsspiegelungen gebrochen) auch auf die intellektuellen Diskurse durchaus anregend auswirken. Diese wiederum lebten – inzwischen zur Postmoderne mutiert – noch in einer dem Diskursanspruch sehr verbundenen Kunstszene der 80er Jahre als werkbegleitende Konversation weiter, wenn man etwa an den Kreis um Franz West
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Abb. 1: Herbert Lachmayer/Margit Nobis: Pornosophic Wallpaper „Début de Siècle“
denkt. Charakteristisch mag für die erwähnten KünstlerInnen sein, dass ihr kritischanalytischer Blick auf die gesellschaftliche Realität sich der befreienden Korrosion von Moral (Abb. 1) und der Auflösung konservativer Werthaltungen versichert hat – darauf mit künstlerischer Intuition produktiv zu antworten, verrät eine Haltung, die sich mit ‚aktiv dekadent‘ zuverlässig beschreiben lässt. Bedauerlicherweise hat umgekehrt diese ‚aktive Dekadenz‘ den Wissenschaftsbetrieb damals kaum erreicht und noch weniger geprägt, als dieser es nötig gehabt hätte.
„Domestizierte Phänomene“ als „Haustiere der Subjektivität“ Der Aufklärung des 18. Jahrhunderts war es eigen, die Epiphanien und Offenbarungen in ihrem Katastrophencharakter und ihrer beängstigenden Fremdheit nicht mehr vom göttlichen Ursprung, sondern vom aufgeklärten Subjekt und damit vom Regelwerk der Vernunft abhängig zu machen. Zwischen bloßem Schein (l’apparition, Illusionierung durch Zaubertricks) und Verklärung der Wirklichkeit durch Kunst (Glanz des höfischen Festalltags, sakraler Prunk oder Glamour der Unterhaltungsindustrie heute) lagert die Erscheinung rational-wissenschaftlich erfasster Wirklichkeit – als Phänomene claire et distincte ausgewiesen und definiert. Darin mag ein
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sensualistisches wie phantasievoll-assoziatives Begreifen von Wirklichkeit seiner magisch-dämonischen Erlebbarkeit entwöhnt sein – und damit auch seiner imaginativen Einbildbarkeit. Die Phänomene, unter den Erkenntnis-Kategorien des Verstandes „domestiziert“1, werden so zu „Haustieren der Subjektivität“2, wie es Klaus Heinrich in seinen Dahlemer Vorlesungen mehrmals bezeichnet hat. Indem nun die WissenschaftlerInnen virtuell immer mit allen Erscheinungsweisen von Wirklichkeit zu tun haben, muss die ExpertInnenseele beim Erforschen derselben bedenken, dass diesseits der begrifflich erfassbaren Phänomene auch noch andere, mehr experimentelle Subjektivitäts-Formate des Begreifens von Wirklichkeit relevanten Erkenntniswert haben können. Vorurteile treten umso wirkungsvoller auf, je beiläufiger sie einfließen, etwa: ‚Bloßer Schein‘ gehöre ins Überraschungs-Feld der Tricks & Trucks von Illusionisten und Zauberern, Zirkus-Welt eben. Erstmal auf besagten Domestizierungsvorgang systemisch verpflichtet, vermag eine das sinnlich-imaginative Begreifen verkürzende Verstandestätigkeit der Wissenschaftszunft sowohl die Sehnsucht nach Subjektivitäts-Verschmelzung mit dem Forschungsgegenstand (als einem auch psychoanalytisch relevanten Objekt) als auch jenes hermeneutisch naheliegende, poetische Geist-Treiben gehörig auszutreiben. So bleiben das Dämonische, Halluzinatorische, Phantastische, die Verführungsqualität der Dinge als erkenntnisrelevante Geschmacksverfeinerung des forschenden Subjekts eben tendenziell auf der Strecke – und die Entwicklung einer intuitiven, wie interaktiv erlernbaren Geschmacksintelligenz auch.
Die fürstliche Sehnsucht nach Individualismus wird vom Hofkünstler bedient So sehr im 19. Jahrhundert das romantische Künstlergenie der Publikumsforderung nach dem ästhetischen Erlebnis von Wirklichkeit nachkommen musste, so sehr galt es im 18. Jahrhundert, die Wirklichkeit gerade in ihren ästhetischen Facettierungen als Erfahrung erleben zu müssen – diesem Anspruch mussten die Hofkünstler im aufgeklärten Absolutismus mit nuanciertem Einfallsreichtum genügen. Für diese, auf ihren Zerfall hin sehr wohl aktiv dekadent reagierende Rokoko-Gesellschaft (die sich auch in klassizistischer Architekturumgebung wohlfühlte) (Abb. 2) ging es um die Balance zwischen der luxurierenden Verfeinerung des ästhetischen Urteilsvermögens und dem Erkenntnisbegehren einer leidenschaftsfähigen Vernunft, um ihrem absolutistischen Festalltag mit unverwüstlicher Galanterie einen durch Kunstgenuss und Wissenschaftsergötzung stimulierten Mittelpunkt zu geben.
1 Klaus Heinrich: Aufklärung in den Religionen, Frankfurt am Main 2007. 2 Klaus Heinrich: Rede über ein neuerdings erwecktes Interesse am Habsburger Bildertausch von 1792, Wien 2004 (Veröffentlichung in Vorbereitung, Akademieverlag Berlin).
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Abb. 2: Herbert Lachmayer/Margit Nobis: Hermeneutic Wallpaper „Oper“ (Ausstellung „Haydn Explosiv“)
Die Geschmacksintelligenz des aufgeklärten Absolutismus war gerade für die nicht-aristokratischen Künstler ein taugliches Vermittlungsmedium, sich die fürstliche Sehnsucht nach Individualismus, für deren Befriedigung sie ihre Werke auch produzierten, als durchaus persönliche Freiheitsobsession und als utopischen Selbstverwirklichungsanspruch einer ‚neuen Klasse‘ zu eigen zu machen – obgleich sie bei Hofe dazu angehalten waren, besagten fürstlichen Festalltag scheinbar selbstvergessen bedienen zu müssen. Der subtile Umgang mit den absolutistischen Allmachtsphantasien der Fürsten war für Librettisten wie Compositeure selbstverständlich – wäre es ihnen ansonsten doch unmöglich gewesen, eine Oper zu schreiben, bei der sich Herrscher und Hof hätten amüsieren können. Die andere Seite der Aufklärung im ausgehenden 18. Jahrhundert war eine rebellisch-pornosophische – allein, wenn man an Da Pontes Così fan tutte (1790) denkt, an de Sades Justine (1797) oder etwa an Jean Baptiste de Boyers Thérèse Philosophe (1748). Es war die Zeit einer prä-disziplinären Wissensgesellschaft. Theorie war nicht, Goethe folgend, „grau und da“ und Leben „grün und dort“3 – überdies war der Verstand intuitiv, als künstlerisch-wissenschaftliches Ingenium einbildungskräftig und gerade als Passion leidenschaftsfähig. Geistproduktion war libidinös besetzbar, der Sturm & 3 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, Stuttgart 1986, S. 57 (Studierzimmer, Mephisto: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, Und grün des Lebens goldner Baum.“).
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Abb. 3: Franz West/Rudolf Polanszky: Tapete/Roy Lichtenstein: Teppich (Ausstellung „Wozu braucht Carl August einen Goethe?“)
Abb. 4: Heinrich Gentz: Stiegenhaus/Roy Lichtenstein: Teppich (Ausstellung „Wozu braucht Carl August einen Goethe?“)
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Drang in Weimar überzeugte mit „Wollust im Genietreiben“.4 Eines allerdings wurde dem Autor als Kurator der Weimarer Ausstellung Wozu braucht Carl August einen Goethe? (2008) (Abb. 3 und 4) einsichtig: Um das 18. Jahrhundert für uns heute aktualisieren zu können, muss man es über die Vorurteile und mentalitätsgeschichtlichen Missverständnisse reflektieren, die im 19. über das 18. Jahrhundert weit verbreitet bestanden. So wurde die Weimarer Ausstellung aus dem Gesichtswinkel des schon 80-jährigen Enkels von Carl August, Großfürst Carl Alexander, konzipiert, der sich Zeit seines Lebens gefragt haben mochte: Wozu brauchte denn mein Großvater einen wie den Goethe? Carl Alexander, zu Unrecht in Weimar zum Zeitpunkt der Ausstellung noch ziemlich vergessen, hat die Klassik-Rezeption und die Art und Weise, wie sich Weimar auch heute noch präsentiert, weitgehend wie nachhaltig geprägt.
„Aufklärer der Aufklärung“ Als „Aufklärer der Aufklärung“5 hat Sigmund Freud den wohl entscheidenden Schritt getan, mit dem Allmachtsanspruch der Rationalität, als allmächtiger Vernunft – Ordnung des 19. Jahrhunderts – zu brechen, hatte er doch den Träumen und ihrer Logik gleichermaßen Wirklichkeitsstatus eingeräumt, wie selbiger als Realitätsprinzip von Wissenschaft und Technik exklusiv beansprucht wurde. Seiner Wahrheitsfindung sicher, mag dem Kulturphilosophen Freud – beim visionären Denken seiner exzeptionellen Theorie – ein intuitiver wie experimenteller Verstand unterstellbar sein: mochte doch gerade er, mit seinem untrüglichen Blick auf die Gattungsgeschichte, die kognitiv-imaginative Balance von Bewusstem und Unbewusstem für sich produktiv wie erkenntnisleitend-exemplarisch genutzt haben. Solche Denkperspektive mit treffsicherer wie bildkräftiger Sprache aufzutun lässt ahnen, wie sehr Freud mit den großen Epiphanien und ihrem Allmachtsanspruch gleichsam kollegial auf gutem Fuß gestanden haben mag. Mit der Kraft des Profanisierens mochte für Freud die analytische Sicht auf göttliche Allmacht ihm zugleich einen kritischen Blick auf das zivilisatorische Weltgeschehen seiner Zeit möglich gemacht haben. Dem kulturanhängigen Bildungsbürgertum attestierte Freud schon kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, dass Kultur eben nicht dazu tauge, die menschliche Gattung von der Ausübung ihrer Selbstzerstörung abzuhalten – veröffentlicht hat er diese Einsicht allerdings erst später.6 Damit erteilt er dem Glauben an die Utopie-Kraft einer affirmativen Kultur eine definitive Absage, die als Kulturkritik auch einen gesellschaftspolitisch har4 Herbert Lachmayer: Headline in der Ausstellung „Wozu braucht Carl August einen Goethe?“, Weimar 2008. 5 Klaus Heinrich: „Festhalten an Freud. Eine Heine-Freud-Miniatur zur noch immer aktuellen Rolle des Aufklärers Freud“, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis 3, 2007, S. 365-388. 6 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1930, S. 134 ff.
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ten Kern hat. Die subkutane Utopie des fin de siècle um 1900 erschließt sich in der produktiven Dekadenz eines Karl Kraus oder Musil in Wien, sowie bei Baudelaire und Proust in Paris – haben diese doch in literarisch-künstlerischer Produktion Erkenntnisse psychologischer wie gesellschaftlicher Vorgänge zustande gebracht, welche den obligaten Wissenschaftsbetreibern ihrer Zeit nicht einmal zugänglich waren. Auch Georg Simmel und später Walter Benjamin gehen die „Nebenwege“7 zwischen poetischem Begreifen und intellektueller Analyse in der Bildhaftigkeit ihres Denkens; letzterem mochte die messianische Intensität seines Denkens die Kraft zur Fokussierung der Geschichte im „Detail“8 gegeben haben.
Ein vielsprechender Zwischenzustand Beim Schlaf der Vernunft mag das Träumen besonders wichtig sein, um den hypnagogischen Zwischenzustand beim phantasieproduktiv retardierenden Aufwachen nicht zu verpassen. Solch utopischer Insight, sich noch im Traum verweilend zu wähnen, obgleich das Realitätsprinzip schon in sukzessiver Wach-Werdung sich zu behaupten beginnt, wurde von Freud und insbesondere von Herbert Silberer in der Frühzeit der Psychoanalyse sehr geschätzt – von Hofmannsthal, Rilke und Schnitzler als veritabler Zustand poetischer Inspiration auch. Sollte man doch dem passageren Aufenthalt im deliriösen Between von Traum-Wirklichkeit und jener aufdämmernden Außen-Realität nicht allzu schnell enteilen, sondern diesen vielmehr dazu nutzen, gleichsam mit den Flügeln des Unbewussten variantenreich in der Gegenwart (der Ausgeschlafenen) anzukommen. Dies haben die professionellen Symbolisten als Eintänzer der bürgerlichen Psyche sehr wohl poesietechnisch zum Teil literarisch brillant genutzt – unter ihnen der Lyriker und Schriftsteller Wilhelm Jensen, dessen Erzählung Gradiva (1903) Freud sozusagen die Tapetentür zu einem tiefen Blick ins Unbewusste geöffnet haben mochte. So großzügig sich Freud der Kunst bediente, um an das Unbewusste heranzukommen, so distanziert und herablassend zeigte er sich gegenüber dem Künstler André Breton, der sich mit den anderen Surrealisten sehr wohl als mentaler Avantgardist und poetischer Akteur im Medium des Unbewussten verstanden hat. Als dieser in der Berggasse 19 anklopfte, um sich dem ‚großen Meister‘ gleichsam als ‚Artgenosse‘ im Umgang mit dem Unbewussten vorzustellen, wies ihn Freud mit den Worten „Lieber Herr, da ich nur sehr wenig freie Zeit in diesen Tagen habe […]“9 in die Schranken, und stellte stante pede jene Distanz her, welche zu überbrücken Breton gekommen war.
7 Vgl. Paul Klee: „Haupt- und Nebenwege“, 1929, 83 x 67 cm, Öl auf Leinwand. 8 Vgl. Wolfgang Schäffner/Sigrid Weigel/Thomas Macho (Hg.): Der liebe Gott steckt im Detail. Mikrostrukturen des Wissens, München 2003. 9 André Breton, in: Littérature, Nouvelle Série 1, 1922, S. 19.
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Abb. 5: Klaus Pinter: Mongolfière „La conquête de l’air“ (Ausstellung „Mozart. Experiment Aufklärung“)
Balance im „Denk-Raum“ Um Balance geht es auch bei Aby Warburg und bei dessen auch existenziell waghalsigem Versuch, sich erkenntnisbesessen auf die künstlerische Produktivität einzulassen, mit der Absicht, dabei von der Symbol-Materialität der Kunst weitgehend vereinnahmt zu werden – sagt er doch zum Bild gewandt: „Du lebst, und thust mir nichts“.10 Sein Bilderatlas11 mag das Dokument eines psycho-nautischen Log-Buchs sein, welches ihm half, den Rhythmus des Oszillierens zwischen Verkörperung und Ent-körperung zu finden – beim gleichsam schamanistischen Vollzug seiner erkenntnismagischen Forschungspraxis. (Abb. 5) Aby Warburg war eben kein konventioneller Wissenschaftler, der nebenbei noch verrückt war – vielmehr versuchte er, seine durch psychotische Energien überaus verdichtete Einbildungskraft für den kunst- und kulturwissenschaftlichen Forschungsprozess gewissermaßen zu operationalisieren und so nutzbar zu machen. Die Erzeugung des „Denkraums“, aus „vorbehaltender Distanz“ angesichts des magisch-mächtigen wie polarisierungsstarken Symbols, evozierte den Balance-Akt des Sublimierens zwischen „magisch-ver-
10 Dorothée Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene. Ein Kommentar zu Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 24. 11 Aby Warburg: Der Bilderatlas MNEMOSYNE, hg. v. Manfred Warnke/Claudia Brink, Berlin 2000.
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Abb. 6: Franz West: Teppich (Ausstellung „Mozart. Experiment Aufklärung“)
schmelzendem“ Sog des Unbewussten und der „logisch-diskursiven“12 Verstandesdistinktion. Darin oszillierend nahm Warburg jene Balance wahr, dem symbolisch repräsentierten Forschungsgegenstand zugleich verstehend und begreifend begegnen zu können – erst dann erschloss sich ihm Kunst in ihrem kulturgeschichtlichen Kontext. In den je von ihm individuell aktualisierten Pathosformeln verwirklichte er die Präsenz des ‚Heidnischen im Heute‘ – als obsessives Verhältnis auch zur alltagskulturellen Umgebung seiner Zeit. Dies illustriert beispielsweise die berühmte Postkarte einer Golfspielerin in St. Moritz als image im Bilderatlas. (Abb. 6)
Staging Knowledge als inszenierter Wissensraum Mit Staging Knowledge, Ausstellungsmachen als transdisziplinäre/transmediäre Forschungspraxis für die Humanities, versucht der Autor als Kurator (und Gestalter) kulturgeschichtlicher Ausstellungen, kulturgeschichtlichen Content als Inszenierung von Wissensräumen umzusetzen und für heute zu aktualisieren. Dabei soll die Vermittlungsstrategie der Inhalte, als ästhetische Darstellungstechnik, immer auch For12 Bauerle: Gespenstergeschichten (Anm. 10), Kap. „Denkraum und Orientierung“, S. 9-15.
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schungsstrategie sein, und umgekehrt. Sollten doch das kuratorische Team, ExpertInnen, KünstlerInnen und das begeisterungsbereite Publikum eines derartig vermittlungsintensiven Ausstellungsformats tendenziell an Aby Warburgs Befähigung herangeführt werden: selbst möge man sich in einem solch mehrdimensionalen Bilderatlas das Gruppieren und Umgruppieren, das Ordnen und Re-Kombinieren von Bildern und Raum zutrauen. Darüber hinaus kann diese kognitiv-ästhetische Inszenierung eines möglichen „Denkraums“ für interdisziplinäre Humanities-Researcher als ein experimentelles Diskursmedium zur Verfügung gestellt werden, um darin des Abends Forschungskonversation zu betreiben. Damit wird ein transitorisches Between angeboten, um Forschungspraxis, künstlerische Produktivitätsstrategie und ästhetisch-reflektierte Geschmacksintelligenz zueinander in Wechselwirkung zu bringen – darin mag ein leidenschaftsfähiger Verstand mitunter auch die Gestalt von wissenschaftlicher Intuition annehmen.
Imaginative Rhetorics – das ‚Herbeireden‘ einer Ausstellung Wesentliches Element des Modells Staging Knowledge, das als Prototyp in der Ausstellung Haydn Explosiv – eine europäische Karriere am Fürstenhof der Esterházy im Schloss Esterházy (Eisenstadt 2009) (Abb. 7, 8 und 9) verwirklicht werden konnte, ist die performative Kulturvermittlung als Imaginative Rhetorics: Die Ausstellung wurde mit WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen gleichsam ‚herbeigeredet‘, damit in ihr nach der Eröffnung für die Ausstellungsdauer weitergeredet werde. In Ansehung der Objekte muss täglich neu sozusagen die Pathosformel des Kontextualisierens von Inhalten aktualisiert werden – Übung vor Originalen. Die Zeit des aufgeklärten Absolutismus als Nukleus für die Entstehung des modernen Individualismus zu begreifen, ist für Staging Knowledge Angelpunkt der Aktualisierung des Projekts „Aufklärung der Aufklärung“ für uns heute. Nicht von ungefähr wurden im Rahmen der Herausarbeitung dieses Prototyps von Staging Knowledge bis zu Haydn Explosiv schon 5 weitere Themenausstellungen vom Autor zum 18. Jahrhundert konzipiert und ausgerichtet: Wozu braucht Carl August einen Goethe? (Stadtschloss, Weimar 2008), Mozart. Experiment Aufklärung (Albertina, Wien 2006), Wolfgang Amadé – ein ganz normales Wunderkind (Zoom Kindermuseum, Wien 2006), Lorenzo da Ponte – il poeta di Mozart (Jüdisches Museum, Wien 2006), und Salieri sulle trace di Mozart (Palazzo Reale, Mailand 2004). Beim Inszenieren der Wissensräume war es wichtig, in der Darstellungstechnik des Sujets die bereits oben erwähnten Übergänge von bloßem Schein zu Erscheinung (Phänomen als Gegenstand der Wissenschaft) und Verklärung (profaner Festalltag des Absolutismus) als Perspektivwechsel beim Publikum überhaupt möglich zu machen – eine Herausforderung für die multimediale Szenographie. Stets war es ein Teppich von Gegenwartskünstlern (Franz West, Roy Lichtenstein), welcher der jeweiligen Schlossarchitektur gleichsam den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Bei den beiden jüngsten Ausstellungen kamen Hermeneutic Wallpapers (Margit Nobis, Rudolf Polanszky, Franz West) dazu: großflächige Tapeten, in wel-
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Abb. 7: Margit Nobis/Rudolf Polanszky/Franz West: Tapete (Ausstellung „Haydn Explosiv“)
chen Flachbildschirme als Kontextualisierungsmedium plan und völlig rahmenlos eingelassen wurden, allein vom stoßfreien Tapetenrand linienscharf umgrenzt. So ist es möglich, alle 50 Sekunden das Tapetenmuster auf den Flatscreens wieder erscheinen zu lassen, als gäbe es keinen Ausschnitt. Die Bildfolge, welche den erklärenden Kontext zur Ausstellung erzählt, hält inne – der Ausschnitt findet zur Tapete zurück. Um der Deutungsmacht des akademischen Olymps Reverenz zu erweisen, lässt sich von Staging Knowledge als einer neuen Forschungspraxis für die Humanities immerhin sagen, dass dadurch besagter Horizont der Hypothesenbildung erweitert werden kann. Angeregt wurde der Autor, der als Professor an der Kunstuniversität Linz tätig ist, auch durch die normative Festschreibung im österreichischen Kunstuniversitätsgesetz, wo es heißt, dass an solchen Institutionen eine „künstlerisch-wissenschaftliche Fähigkeit“13 bei den Studierenden zu entwickeln sei. Solches wird vom Gesetzgeber nicht als Frage zur Lösung eines theoretischen Problems gestellt, sondern normativ als Leistungsziel der „Lehre an Kunstuniversitäten“14 eingefordert. 13 Manfred Novak: Kunstuniversitäts-Organisationsgesetz (KUOG), Wien 1999. 14 Ebd.
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Abb. 8: Roy Lichtenstein: Teppich (Ausstellung „Haydn Explosiv“)
Abb. 9: Daniel Dobler/Clemens Kogler: Deckenprojektion (Ausstellung „Haydn Explosiv“)
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Abb. 10: Herbert Lachmayer/Margit Nobis: Hermeneutic Wallpaper „Boy’s Day“ (Ausstellung „ich, boy, 19, suche“)
Diese prima vista recht abstrakt erscheinende Aufforderung des Gesetzgebers stellt sich, in Konsequenz weitergedacht, als einigermaßen radikal und folgenreich konkret heraus. So mag der utopische Kern von Staging Knowledge im Bildungskonzept einer Kulturvermittlung bestehen, welche wissenschaftliche Kreativität und Erkenntnisformen künstlerischer Produktivität im intermediären Wissensraum einer Ausstellung ‚einbildungskräftig‘ zusammenwirken lässt. In dieser multimedialen Szenographie mag sich Imaginative Rhetorics als ein neues Konversationsformat etablieren – auch das ‚Bürsten der Diskurse‘ geht in einem derartigen Imaginative Space erfahrungsgemäß lebendiger vonstatten (Abb. 10).
DICHTUNG, ERREGUNG, FORM
MICHAEL BÖHLER
Kleine Passion oder Grand ennui – Fliegentod und Krötenleben Zu zwei Gedichten Gottfried Kellers
Abb. 1: Albrecht Dürer: Christus in der Rast, Titelbild von Die Kleine Holzschnittpassion, 1511
Passionen sind groß. Das Maßlose wie das Grenzenlose und das Unbedingte ist ihnen eingezeichnet. Erst recht gilt dieses Große für die christliche Passion, nach Ludwig Feuerbach die „Wesensbestimmung des menschgewordnen oder, was eins ist, des menschlichen Gottes“1. Neben dem weiten Bogen von Mensch zu Gott vollzieht Feuerbach an derselben Stelle von Das Wesen des Christentums im Kapitel „Das Geheimnis des leidenden Gottes“ zugleich den nicht minder kühnen Brückenschlag zwischen Liebespassion und Leidenspassion: „Aber eben deswegen, weil die Leidensgeschichte der Liebe die ergreifendste Geschichte für das menschliche Herz oder überhaupt für das Herz ist […], so folgt daraus aufs unwidersprechlichste, daß in ihr nichts ausgedrückt, nichts vergegenständlicht ist als das Wesen des Herzens, daß sie zwar nicht eine Erfindung des menschlichen Verstandes oder Dichtungsvermögens, aber doch des menschlichen Herzens ist.“ Und dieses Herz „bewältigt, bemeistert den Menschen; wer einmal von ihm ergriffen, ist von ihm als seinem Dämon, seinem Gotte ergriffen“2. 1 Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 3., umgearb. u. verm. Aufl., in: Ders.: Sämtliche Werke, Leipzig 1849, Bd. 1, S. 116. 2 Ebd., S. 117.
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Wer also ein Gedicht mit „Die kleine Passion“3 betitelt, der schreibt ein Gegenprogramm zur Pathosrhetorik der Passionsgeschichte. Und wer, wie Gottfried Keller in seiner Heidelberger Zeit von 1848 bis 1850, dem Philosophen erst zu Füßen saß und seinen Vorlesungen Über das Wesen der Religion lauschte, später auch mit ihm fast allabendlich becherte, der schreibt vielleicht auch ein Gegenprogramm zur Affektgeschichte der Passionen des Herzens im Feuerbachschen Sinn:
Die kleine Passion Der sonnige Duft, Septemberluft, Sie wehten ein Mücklein mir aufs Buch, Das suchte sich die Ruhegruft Und fern vom Wald sein Leichentuch. Vier Flügelein von Seiden fein Trug’s auf dem Rücken zart, Drin man im Regenbogenschein Spielendes Licht gewahrt’. Hellgrün das schlanke Leibchen war, Hellgrün der Füßchen dreifach Paar, Und auf dem Köpfchen wundersam Saß ein Federbüschchen stramm; Die Äuglein wie ein gold’nes Erz Glänzten mir in das tiefste Herz. Dies zierliche und manierliche Wesen Hatt’ sich zu Gruft und Leichentuch Das glänzende Papier erlesen, Darin ich las, ein dichterliches Buch;
So ließ den Band ich aufgeschlagen Und sah erstaunt dem Sterben zu, Wie langsam, langsam ohne Klagen Das Tierlein kam zu seiner Ruh. Drei Tage ging es müd’ und matt Umher auf dem Papiere; Die Flügelein von Seide fein, Sie glänzten alle viere. Am vierten Tage stand es still Gerade auf dem Wörtlein „will!“ Gar tapfer stand’s auf selbem Raum, Hob je ein Füßchen wie im Traum; Am fünften Tage legt’ es sich, Doch noch am sechsten regt’ es sich; Am siebten endlich siegt’ der Tod, Da war zu Ende seine Not. Nun ruht im Buch sein leicht Gebein. Mög uns sein Frieden eigen sein!
Die Kommentare zu Kellers Gedichten verweisen für den Titel „Die kleine Passion“ gemeinhin auf Albrecht Dürers gleichnamigen Zyklus aus sechsunddreißig Holzschnitten (1509-1511), ohne freilich Genaueres dazu mitzuteilen. Das Attribut ‚klein‘ bezieht sich indessen bei Dürers „Kleiner Holzschnittpassion“ ausschließlich auf die Größenmaße von rund 13 x 10 cm gegenüber 39 x 28 cm der Holzschnitte der „Großen Passion“.4 Ein inhaltlicher Bezug zwischen Gedicht und Holzschnitten ist schwerlich auszumachen. Allenfalls einen stimmungsmäßigen Anklang zum meditativ anmutenden Betrachterblick in Kellers Gedicht könnte 3 Gottfried Keller: Gesammelte Gedichte, in: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Walter Morgenthaler, Basel/Frankfurt am Main/Zürich 2009, Bd. 10, S. 101 f. – Für die Überlassung der Druckvorlage wie für weitere editorische Hinweise danke ich dem Herausgeber Walter Morgenthaler. 4 Fedja Anzelewsky: Dürer – Werk und Wirkung, Erlangen 1988, S. 238; digitale Reproduktion in: Albrecht Dürer: Das Gesamtwerk. Sämtliche Gemälde, Handzeichnungen, Kupferstiche und Holzschnitte, Berlin 2000 (= Digitale Bibliothek, Bd. 28).
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man darin wahrnehmen, dass Dürer den Zyklus nicht nur dem eigentlichen Passionsgeschehen widmet, sondern dieses in einen großen Bogen vom Sündenfall bis zum jüngsten Gericht heilsgeschichtlich und das heißt reflexiv einbettet und am Ende die Gestalt des auferstandenen Christus in einer sinnierend reflektierenden Denkhaltung aufscheinen lässt. Verführt durch die paar ersten Verse mit ihren selbst für schweizerische Verhältnisse auffälligen Diminutivhäufungen „Mücklein“, „Flügelein“, „Leibchen“, „Füßchen“ usw. und dem mikroskopischem Blick aufs Winzige möchte man zunächst versucht sein, verspätete Biedermeierlichkeit – das Gedicht entstand 1872, mitten in der pathetisch großmäuligen Gründerzeit – mit einem fernen Echo gar zur Weltseligkeit von B. H. Brockes Irdischem Vergnügen wahrzunehmen. Oder darin wie auch im dreimal wiederholten ‚glänzen‘ sowie dem ‚spielenden Licht‘ im „Regenbogenschein“ Adalbert Stifters Maxime aus der „Vorrede“ zu den Bunten Steinen hören, wonach „jeder Mensch ein Kleinod für alle andern Menschen“5 sei, hier ausgedehnt auf das glänzende Kleinod einer kleinsten Mückenkreatur. In Beobachtung der ausgeprägten Inversstruktur als Bauprinzip des Gedichts ließe sich indessen auch eine andere poetologisch programmatische Fährte verfolgen. Neben der Inversion von Groß und Klein findet sich ja eine weitere: Sieben Tage beobachtet das lyrische Ich das Sterben des Mückleins Tag für Tag. Diese sieben Passionstage konterkarieren die sieben Tage der Erschaffung der Welt. Das Mückleinsterben ist die Kehre zur Weltwerdung. Damit nähert sich das Bauprinzip des Gedichts jener Bewegungsfiguration an, die Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik die „lex inversa“ des Humors als eines „umgekehrten Erhabnen“ bezeichnete: „Wie Luther im schlimmen Sinn unsern Willen eine lex inversa nennt: so ist es der Humor im guten; und seine Höllenfahrt bahnet ihm die Himmelfahrt. Er gleicht dem Vogel Merops, welcher zwar dem Himmel den Schwanz zukehrt, aber doch in dieser Richtung in den Himmel auffliegt.“6 Auch die Inversion von Groß und Klein gehört nach Jean Paul zur figurativen Technik des Humors: „Wenn der Mensch, wie die alte Theologie tat, aus der überirdischen Welt auf die irdische herunterschauet: so zieht diese klein und eitel dahin; wenn er mit der kleinen, wie der Humor tut, die unendliche ausmisset und verknüpft: so entsteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist.“7 Humor also als Gegenprogramm zur Passionspathetik – gewiss! Indessen ist die Bewegung wie ihre Richtung bei Kellers Mücklein nicht mehr so eindeutig zwischen Himmel und Erde festzumachen wie bei Jean Pauls Vogel Merops. Die Beschreibung der sieben Passionstage ist streng symmetrisch angelegt: Die ersten drei Tage bewegt sich das Mücklein auf dem Papier, die drei letzten legt es sich hin, ruht und stirbt, zuvor aber, am vierten Tage, steht es still „gerade auf 5 Adalbert Stifter: Bunte Steine, in: Ders.: Gesammelte Werke in sechs Bänden, hg. v. Max Stefl, Wiesbaden 1959, Bd. 3, S. 11. 6 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, in: Ders.: Werke, hg. v. Norbert Miller, München 1973, Bd. 5, S. 129. 7 Ebd.
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dem Wörtlein ‚will!‘“ Das Narrativ des Gedichts markiert also einen Bewegungszenit mit Wendepunkt im ‚will‘. Ein letzter Widerstand, Aufschub, Retardation? Beobachten wir weiter: Das Wörtlein ‚will!‘ steht isoliert für sich allein, ein um das ,Ich‘ oder das ‚Er‘ – morphologisch kommt beides in Frage – amputiertes ‚will‘, ein entkörperter Wille oder ein subjektloses Wollen. Überdies: Nicht vom Willen oder Wollen selbst ist die Rede, sondern vom Raum, den das Zeichen ‚will‘ auf dem Papier einnimmt und auf dem das Mücklein stille steht, ein von ihm abgelöster Willensraum bzw. ein semantisch geladenes Kraftfeld, welches das Kreatürchen bedeutend besetzt und die Übertragungsmagie des Orts noch einmal erprobt: „Gar tapfer stand’s auf selbem Raum, / Hob je ein Füßchen wie im Traum“ – ein miniatürliches Vorspiel zu jenem Rilkeschen „Tanz von Kraft um eine Mitte, / in der betäubt ein großer Wille steht“.8 Und schließlich: Es ist ein „dichterliches Buch“, auf dessen Seiten sich unter dem beobachtenden Blick des Zuschauers dieses Schauspiel eines kleinen Passionsdramas und großen Willenskampfes abspielt. Schopenhauersche Verneinung des Willens zum Leben oder Vorschein eines Bergsonschen élan vital? Hebbelsche Selbstbehauptung in der Individuation oder willentliche Rückkehr ins Ganze? – Oder gar ein Echo auf jene Worte Jesu in Gethsemane: „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!“9 Der Text lässt es offen. Nicht aber der Kontext. Unmittelbar auf das fast friedensselig gestimmte Sterbegedicht der „Kleinen Passion“ folgt ein seltsam derbkomisches, balladesk trotziges Klagelied einer Kröte, welche partout nicht sterben kann, ein offenkundiger Kontrapunkt oder satirischer Πάρωδος zum elegischen Passionsspiel über den Mückentod:
Krötensage 1. Des Berges alte Wangen sind Von Maiensonne beschienen; Sie lächeln unter Quellenglanz, Die Schilfe, die Farren ergrünen.
2. Die Kröte springt aus dem Kieselstein, Ein Hirt hat ihn zerschlagen; Sie schaut verdrossen die Scherben an Und sie beginnt zu sagen:
3. Viel tausend Jahre bin ich alt Samt diesem Futterale! Es schob vom hohen Felsgebirg Allmählich mit mir zu Thale.
4. Doch manchmal in der Wasser Sturz Sind wir gewaltig gesprungen; Dann hat’s um meine dunkle Klausur Gesungen und geklungen.
8 Rainer Maria Rilke: „Der Panther“, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Ernst Zinn, Frankfurt am Main 1955, S. 505. 9 „Matthäusevangelium“, 26, 39, in: Die Luther-Bibel. Revidierte Fassung der deutschen Übersetzung Martin Luthers, 1912 (= Digitale Bibliothek, Bd. 29), S. 8562.
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5. Und wie mir ist – ich weiß es nicht, 6. Ein warmer Regen, ein grünes Kraut Noch was ich getrieben indessen; Nur konnten mir behagen; Ich hab’ im mindesten nichts gelernt Sie liegen mir fort und fort im Sinn Und hatte nicht viel zu vergessen. Aus fernen Jugendtagen. 7. So hab’ ich ein langweilig Stück Unsterblichkeit erworben; Hätt’ ich getrunken lebendige Luft, Längst wär’ ich vernünftig gestorben.10 Die beiden Gedichte stehen in Gottfried Kellers Gesammelten Gedichten von 1888 in der zweitletzten Abteilung unter „Vermischte Gedichte“ einander zugeordnet. Wie der Titel andeutet, findet sich hier ein recht buntes Allerlei von Texten unterschiedlichster Art und verschiedenster Entstehungszeit – die „Krötensage“ wurde zwanzig Jahre vor „Kleine Passion“ erstmals publiziert, nämlich 1852. Gleichwohl ist die gruppierende Hand Kellers unübersehbar, und dieser Ordnungswille wurde in der Keller-Forschung etwa von Emil Ermatinger oder Jonas Fränkel denn auch früh festgehalten. Konkret zu den beiden Gedichten sagt letzterer indessen lediglich: „Das Schicksal der Kreatur wird in zwei gegensätzlichen Gedichten abgewandelt.“11 Der Bezüge sind freilich weit vielfältigere: Neben den jahreszeitlichen Kontrastparallelen – die „Kleine Passion“ spielt im herbstlichen September, die „Krötensage“ im Maienfrühling – und dem bedeutungsgeladenen Verhältnis von Leben, Körper und Hülle, dem „Futterale“ – in der „Krötensage“ der Stein, in der „Kleinen Passion“ das dichterliche Buch – ist den beiden auch dasselbe Thema eingeschrieben: Letztlich geht es um die altehrwürdige ars moriendi in ihrer dialektischen Verflochtenheit mit der ars vivendi. Auch der satirische Grundklang erweist sich bei genauerem Hinschauen als gemeinsam. Denn hinter der elegischen Gestimmtheit der „Kleinen Passion“ taucht in der Erstfassung eine höchst satirische Schlusspointe und konfessionspolemisch antikatholische Spitze auf, lauteten da doch die Schlussverse: „Da war zu Ende seine Not, / Wenns kein katholisch Mückelein – / Sonst wirds im Fegefeuer sein!“ Auf Bitte des Redaktors Eduard Hallberger der Familienzeitschrift Über Land und Meere, wo das Gedicht erstmals erschien, und unter Verweis auf die „zahlreichen kath. Abonnenten, die stets sehr empfindlich in confessionellen Dingen sind“ und „so etwas stets übel vermerken“ (Hallberger an Keller, 17.9.1872), entfernte Keller ohne große Widerrede die antikatholische Spitze und gab dem Gedicht die ökumenisch versöhnliche Schlusswendung: „Nun ruht im Buch sein leicht Gebein. / Mög uns sein Frieden eigen sein!“ Hinter diesem zeitgenössischen satirischen Schlenker Kellers im Umkreis des Vatikanischen Konzils 1869/70 taucht indessen noch eine weitere satirische Tiefenspur auf, jene zum antiken Spötter und Satiriker Lukian und seiner berühmten Lobrede 10 Keller: Gesammelte Gedichte (Anm. 3), S. 103. 11 Jonas Fränkel: „Anhang“, in: Gottfried Kellers Sämtliche Werke, hg. v. Jonas Fränkel, Bern/ Leipzig 1938, Bd. 2.2, S. 179.
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auf die Mücke, dem Μύιας Έγκόμιον.12 In diesem „paradoxen Enkomion“13 wird – unter Rückgriff auf Platos Unsterblichkeitslehre – die antike naturhistorische These von der Unsterblichkeit und Auferstehungskraft der Mücke parodierend erörtert. Eine tote Fliege werde nämlich erneut zum Leben erweckt, streue man nur Asche über sie. Ihre unsterbliche Seele komme zurück, erkenne den früheren Körper, bringe ihn wieder zum Leben und bewirke, dass die Fliege wegfliege. Damit würden sich auch jene andern Berichte über einen legendären Wundermann namens Hermotimos von Klazomenai bewahrheiten, dessen Seele den Körper ebenfalls in gewissermaßen extrakorporealen Expeditionen zu verlassen im Stande gewesen sei. Eines Tages aber sei die Körperhülle durch Verrat seiner Gattin, als Hermotimos mit seiner Seele gerade außerhäuslich war, von seinen Feinden verbrannt und eine Reinkarnation ins eigene Gehäuse somit auf immer verunmöglicht worden.14 Alles in Allem oszilliert denn also Kellers „Kleine Passion“ zwischen einer diesseitsgewandten Lebensund Schönheitsfeier, einer elegisch verhaltenen Vergänglichkeitsklage und einer enkomiastisch verbrämten Auferstehungsparodie, lässt sich doch die Grablegung des Mückleins im „dichterlichen“ Buch als dessen gleichzeitige Auferstehung im poetischen Text bzw. in der Lektüre verstehen. Wie verhält es sich aber mit der „Krötensage“? Es handle sich um eine „Antediluvianische Phantasie aus der frühen berliner Zeit“, lautet Jonas Fränkels lapidarer Kommentar15 zu dem Gedicht, das in der Keller-Forschung bisher kaum je Beachtung fand. Mit der Charakterisierung des Gedichts als einer bloßen „Phantasie“ – was bisher in der Forschung ebenfalls nicht korrigiert wurde – entgeht Fränkel freilich ein für dessen Verständnis wesentlicher Zusammenhang im Schnittbereich des zeitgenössischen Naturwissenschaftsdiskurses mit der Volkssage bzw. im Übergang von Wissenschaft und Mythos. Durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch ziehen sich nämlich noch regelmäßig Berichte von in Steinen eingeschlossen gefundenen lebenden Kröten. So listet Gehlers Physikalisches Wörterbuch von 1828 unter ‚Geologie‘ reihenweise solche Fälle auf und hält fest, es seien „so viele unverdächtige Zeugnisse vorhanden, daß [die Thatsache] unmöglich in Zweifel zu ziehen“ sei.16 1833 berichtet das Neue Jahrbuch für Mineralogie, Geognosie, Geologie und Petrefakten-Kunde über Experimente eines W. Buckland in Schottland von 1832 mit 24 lebendig in Kalkstein eingeschlossenen Kröten, deren weniger gewichtige indessen kein Jahr überlebten, während die fetten zwischen 924 und 1186 Gramm schweren Kröten
12 Dass Keller Lukians Lobrede auf die Mücke kannte, ist zu vermuten, hat er doch – laut Auskunft Walter Morgenthalers (23.04.2009) – im Jahre 1857 dessen Sämtliche Werke erstanden. 13 Margarethe Billerbeck: „Fliegentod und Auferstehung. Zu Lukian, Musc. 7“, in: Ψυχή – Seele – Anima. Festschrift für Karin Alt zum 7. Mai 1998, hg. v. Jens Holzhausen, Stuttgart/ Leipzig 1998 (= Beiträge zur Altertumskunde, Bd. 109), S. 194-199. 14 Ebd., S. 194 und S. 198. 15 Fränkel: „Anhang“ (Anm. 11), S. 208. 16 Johann Samuel Traugott Gehler (Hg.): Physikalisches Wörterbuch, neu bearb. v. Brandes/Gmelin/Hornung/Munkes/Pfaff, Abtheilung, G. Geologie, Leipzig 1828, Bd. 4.2, S. 1300 ff.
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nach erneuter Einkerkerung im zweiten Jahr ebenfalls kläglich verendet seien.17 1835 rapportiert das Archiv für die gesammte Naturlehre wieder über einen Fund in Pommern.18 Ein Jahr zuvor hatte dagegen das Morgenblatt für gebildete Stände über die kritische These des Franzosen Vallot berichtet, wonach das Ganze die Folge eines sprachlichen Missverständnisses sei, indem nämlich die französischen Bauleute seit alters Blasenräume (géodes) in Bausteinen sondersprachlich als ‚crapauds‘ bezeichnet hätten.19 In offenkundiger Unkenntnis des ebenso sach- wie wortkundigen Nachweises Vallots, dass das Phänomen der Kröte im Stein eine semantisch bedingte Mystifikation sei und es sie folglich gar nicht gäbe, entkriecht 18 Jahre darauf, am 23. Juni 1851, in Blois, Loire-et-Cher, erneut eine große Kröte einem schweren Silex (Feuerstein), der beim Brunnengraben gehoben und entzweigeschlagen worden war. Der Fall wird von lokalen Honoratioren protokolliert und geht an die Pariser Akademie, die eine Untersuchungskommission bestellt. Berichtet wird darüber 1852 im Neuen Jahrbuch für Mineralogie, Geognosie, Geologie und Petrefaktenkunde20 – wohl auch in andern Zeitungen, denn im selben Jahr erscheint Gottfried Kellers Krötengedicht in der Zeitschrift Album. Zum Besten Nothleidender im sächsischen Erzgebirge, hier noch unter dem Titel „Zeugen der Vorwelt“. Bei der zeitlichen Koinzidenz ist die Vermutung unabweislich, dass Kellers Gedicht keineswegs, wie Fränkel meint, einer „Phantasie“ entstammt, sondern unmittelbar vom Krötenfund in Blois an der Loire inspiriert wurde. Bekräftigt wird der Zusammenhang durch einen weiteren Befund, der zugleich das naturphilosophische Stichwort liefert: In den Blättern für literarische Unterhaltung – für die Keller von 1847 bis 1855 selber insgesamt zehn Beiträge u.a. zu Gotthelf, Börne, Ruge, etc. geschrieben hatte – erscheint 1858 die Rezension eines naturkundlichen Buches des Holländers Pieter Harting, wobei speziell auf das Kapitel „Das schlummernde Leben“ eingegangen wird.21 Darin taucht erneut die Kröte von Blois auf und wird zusammen mit andern Funden unter der Frage erörtert, was eigentlich Leben sei – „Leben ist Thätigkeit“ – und wieweit „durch verminderte Thätigkeit […] der Abstand vom Tode auf ein wunderbares Minimum zurückgebracht“ werden könne. Mit „wissenschaftlicher Ruhe und Unparteilichkeit“ wäge 17 W. Buckland: „Versuche von in Stein und Holz eingeschlossenen Kröten. James. Edinb. n. phil. Journ. 1832. July. nro. XXV. 26-32“, in: Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geognosie, Geologie und Petrefakten-Kunde, hg. v. K. C. von Leonhard und H. G. Bronn, Stuttgart 1833, S. 628 f. 18 Karl Wilhelm Gottlob Kastner (Hg.): Archiv für die gesammte Naturlehre, Nürnberg 1835, Bd. XXVII, S. 396. 19 Anonymus: „Etwas über die vermeintlich in Steinblöcken gefundenen Kröten“, in: Morgenblatt für gebildete Stände, 28/131, 1834, S. 522 f. 20 K. C. von Leonhard und H. G. Bronn: „Auszüge. C. Petrefakten-Kunde: Lebende Kröte im festen Gestein zu Blois (Compt. rend. 1851, XXXIII, 105-116)“, in: Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geognosie, Geologie und Petrefakten-Kunde, hg. v. K. C. von Leonhard und H. G. Bronn, Stuttgart 1852, S. 243-245. 21 Heinrich Birnbaum: „Rezension von P. Harting’s Skizzen aus der Natur II“, in: Blätter für literarische Unterhaltung, 1. Heft, 1-26, Januar-Juni 1858, S. 314 f.
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der Verfasser auch die Gründe ab, welche „für oder gegen diese Volkssage“22 sprächen, wonach Kröten in einer Extremform „schlummernden Lebens“ in Jahrtausende alten Steinen gefunden worden seien. Für Kellers Kenntnis dieses Artikels spricht der Tatbestand, dass er für den nächsten Abdruck des Gedichts in Das Schweizerhaus von 1874 den „harten Stein“ in Vers 5 in „Kieselstein“ umschreibt – auch in den Blättern für literarische Unterhaltung ist von einem ‚Kieselstein‘ die Rede – und den Titel von „Zeugen der Vorwelt“ in „Krötensage“ abändert, dies in Anlehnung an die dortige Erörterung des Falls im Spannungsfeld von Wissenschaft und Volkssage. Eine wunderliche Sage ist es freilich, gleichsam eine Mystifikation der Gattung ‚Sage‘, ist sie doch in Kellers Gedicht das Sagen der Kröte selbst: „Und sie beginnt zu sagen: […]“ – ein verdrossen unwirsches Lamento über ein ewiges, ödes, reiz- und erlebnisloses Einerlei, mit eingesprengten Erinnerungsfetzen an frühe Zeiten, die zugleich romantische Klangreminiszenzen an Brentano und Heine sind: „Doch manchmal in der Wasser Sturz / Sind wir gewaltig gesprungen; / Dann hat’s um meine dunkle Klausur / Gesungen und geklungen“ und „Ein warmer Regen, ein grünes Kraut […] / Sie liegen mir fort und fort im Sinn / Aus fernen Jugendtagen.“ Als Quintessenz des ewigen Krötenlebens aber die nüchterne Einsicht: „So hab’ ich ein langweilig Stück / Unsterblichkeit erworben / Hätt’ ich getrunken lebendige Luft, / Längst wär’ ich vernünftig gestorben.“ Das altbekannte taedium vitae wird in geradezu blasphemischer Umkehrung zum taedium aeterni, der Lebensekel zum Ekel vor der Unsterblichkeit. Stimmungsmäßig wie motivlich berührt sich Kellers „Krötensage“ erstaunlich nahe mit den fast zeitgleich, nämlich im Juni 1855 erstmals publizierten Widmungsversen aus Charles Baudelaires Fleurs du Mal und dem großgeschriebenen „Ennui“ in der Menagerie an Psycho-Monstern: Mais parmi les chacals, les panthères, les lices, Les singes, les scorpions, les vautours, les serpents, Les monstres glapissants, hurlants, grognants, rampants, Dans la ménagerie infâme de nos vices, II en est un plus laid, plus méchant, plus immonde! Quoiqu’il ne pousse ni grands gestes ni grands cris, Il ferait volontiers de la terre un débris Et dans un bâillement avalerait le monde; C’est l’ENNUI! […].23
Und im Gedicht Nr. 79 unter dem Titel „Spleen. J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans“ wird eine unmittelbare Verbindung zwischen „ennui“, „immortalité“ und „morne incuriosité“ – bei Keller: „Ich hab’ im mindesten nichts gelernt / Und hatte nicht viel zu vergessen“ – hergestellt und dies als Versteinerung der lebendigen Materie umschrieben: 22 Ebd., S. 314. 23 Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal, édition intégrale revue sur les textes originaux, préfacée et annotée par M. Ernest Raynaud, Paris o.J. (ca. 1923), S. 6.
KLEINE PASSION ODER GRAND ENNUI
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Rien n’égale en longueur les boiteuses journées, Quand sous les lourds flocons des neigeuses années L’ennui, fruit de la morne incuriosité Prend les proportions de l’immortalité. – Désormais tu n’es plus, ô matière vivante! Qu’un granit entouré d’une vague épouvante, […].24
Mit Blick auf den vermuteten Zusammenhang zwischen der „Krötensage“ und dem Beitrag über „Das schlummernde Leben“ in den Blättern für literarische Unterhaltung schließen sich die beiden Gedichte „Die kleine Passion“ und „Krötensage“ in ihrer kontrastiven Gegenüberstellung durch Keller in den Gesammelten Gedichten jenem Fragenkreis an, der ihn seit den Heidelberger Jahren umtreibt: Was ist Leben, gedacht entweder unter der Voraussetzung der Endlichkeit dieses Lebens, oder jener seiner Unendlichkeit, sprich der Unsterblichkeit der Seele? Und was ist – brauchen wir für einmal bewusst den Modeausdruck – „Lebensqualität“ unter der einen oder der andern Bedingung? Fliegentod oder Krötenleben? Auf zwei Verse verknappt findet sich die Antwort im Gedichtzyklus Sonnwende und Entsagen: „Ein Tag kann eine Perle sein / Und hundert Jahre – Nichts!“ Ausführlicher legt es Keller seinem Freund Wilhelm Baumgartner im berühmten Brief vom 28. Januar 1849 dar, worin er über die Begegnung mit Feuerbach und seine Absage an einen Jenseitsglauben berichtet: Mein Gott war längst nur eine Art von Präsident od. erstem Consul, welcher nicht viel Ansehen genoß, ich mußte ihn absetzen. Allein ich kann nicht schwören, daß meine Welt sich nicht wieder an einem schönen Morgen ein Reichsoberhaupt wähle. Die Unsterblichkeit geht in den Kauf. So schön und empfindungsreich der Gedanke ist – kehre die Hand auf die rechte Weise um, und das Gegentheil ist ebenso ergreifend und tief. […] Für mich ist die Hauptfrage die: Wird die Welt, wird das Leben prosaischer und gemeiner nach Feuerbach? Bis jetzt muß ich des bestimmtesten antworten: Nein! im Gegentheil, es wird alles klarer, strenger, aber auch glühender und sinnlicher.25
Und noch einmal in einem Brief, wiederum an Wilhelm Baumgartner vom 27. März 1851: „Nur für die Kunst und Poesie ist von nun an kein Heil mehr ohne vollkommene geistige Freiheit und ganzes glühendes Erfassen der Natur ohne alle Nebenund Hintergedanken, und ich bin fest überzeugt, daß kein Künstler mehr eine Zukunft hat, der nicht ganz und ausschließlich sterblicher Mensch sein will.“26 Könnte das „will“ dieses Satzes nicht dasselbe sein, auf dem das Mücklein in der „Kleinen Passion“ am vierten Tage stehen bleibt? – Lebenspassion, doch im Bewusstsein der Sterblichkeit. Und der Tod des Künstlers – seine Auferstehung im poetischen Text?
24 Ebd., S. 118 f. 25 Emil Ermatinger: Gottfried Kellers Leben, Briefe und Tagebücher. Auf Grund der Biographie Jakob Baechtolds dargestellt und herausgegeben, Stuttgart/Berlin 1916, Bd. 2, S. 184 f. 26 Ebd., S. 275.
HARALD HARTUNG
Passion der Kürze, Kürze der Passion Aufzeichnungen Ein Autor, der noch eine winzige Korrektur vornimmt, ehe er den ganzen Satz löscht – sollte man den nicht auch fromm nennen? Canetti: „Eine Aufzeichnung muß wenig genug sein, sonst ist sie keine.“ Eine fast perfide Untertreibung. Zu lange Zeitung gelesen. Jetzt, eine Stunde später, kann ich mich an nichts mehr erinnern. Unsensibel gefragt. Sage mir, wie du deine Sensibilität finanzierst, und ich sage dir, wohin sie reicht. Auch wahr. „Ich glaube, bin ausgeschrieben.“ – „Nein, du bist vollgeschrieben.“ Wer langsam ist, möchte lange leben. Dein Verriss geht in Ordnung, wenn du es schaffst, ihn abzuschicken, nachdem er schon drei Tage gelegen hat. „Ich schreibe meine Bücher, um zu erfahren, was in ihnen steht“ – Julien Green am 15. April 1985. Nostalgie: Nachgenuss dessen, was man nicht erlebte. Im Mondlicht auf dem Nachttisch Schreibblock und Stift. So schlafe ich beruhigt weiter. Lange vor den äußeren fallen die inneren Bastionen. „Dinge machen aus Angst“ (Rilke) – ja, aber aus überwundener. Der Reiche verströmt sich bis in den Nachlass. Der Arme muss, was er hat, bei Lebzeiten publizieren. Es gibt einen Schmerz, an dem der andere nicht teilnehmen darf.
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HARALD HARTUNG
Nachdem er den gewünschten Effekt erzielt hat, legt der Maler das begonnene Blatt beiseite. Etwas fertigmachen, meint er, habe einen aggressiven Nebensinn. Der Todeswunsch, der kleine Bruder der Angst vor dem Tod. Wehe, wenn er erwachsen wird. Der Ruhm von Dichtern hat etwas mit Verborgensein zu tun. Man beugt die Kniee nicht auf dem Markt. Was man durch Routine gewinnt, büßt man durch Selbstzweifel wieder ein. Die Wasseruhr auf dem Pincio ist seit Jahrzehnten nicht mehr in Betrieb, doch geht von ihrem Anblick immer noch Kühle aus. Die Ideologie der Genmanipulation verspricht nicht gerade die Auferstehung des Fleisches, aber doch seine weitere Konservierung; was den meisten Leuten auch genügen dürfte. Traum. Zwei ältere Paare, die heiter eine Treppe herunterkommen. Besonders elegant das zweite Paar, wobei mir die üppige rothaarige Frau auffällt. Sie sind aneinandergefesselt, und zwar mit goldenen Riemen, die an den Handgelenken befestigt sind. Das sind die Passionen, sagt man mir. Vieles entfällt, wenn man es präzisiert. Wir sagen wohl, dieser oder jener Autor schreibe zuviel. Doch weiß ich keinen, von dem seine Freunde sagen, er schreibe zu wenig. Mit dem Rücken zur Wand, das ist schnell gesagt. Erstaunlich nur, wieviel Platz da noch bleibt. Man wäre zwar ungern hingegangen, aber doch gern eingeladen worden. So immer öfter. Könnte man sich doch freuen über all die Fehler, die man nicht begeht. Man muss auch jene Gedichte fertig machen, die man aufgibt. Dann erst begreift man, warum es nicht lohnt, ihnen nachzutrauern. „Was hilft aller Sonnenaufgang, wenn wir nicht aufstehen.“ So illusionslos sieht Lichtenberg die Dialektik der Aufklärung (Sudelbücher, II, 554, undatiert).
PASSION DER KÜRZE, KÜRZE DER PASSION
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Im Gespräch mit dem Theologen und seiner Frau, der Analytikerin, misslingt mir das Wort „Fallbeispiel“; es kommt so etwas wie Fallbeilspiel heraus. Erlösung durch Gelächter. Man kann immer noch kürzen – bis man merkt: auch der Rest ist entbehrlich. In der Schule der Trauer wundert sich der Schüler, wenn einmal eine Stunde ausfällt. Die nächste holt das Versäumte nach, und mehr als das. Der Freund, der sich selbst verrät, enttäuscht uns mehr, als wenn er uns verriete. Zitate – Flugsamen von Buch zu Buch. Das Bild ist farbig, wenn ihm zumindest eine Farbe fehlt. Nach der ersten Enttäuschung werden aus den neuen Freunden gute alte. Wir haben genügend Gesprächsstoff, wir kennen ihre Fehler. Nimm alle Sätze als Sätze, mit denen man ein Buch beginnen oder schließen könnte – müssten das nicht gute Sätze sein? Auch das Vergangene ist nur so tief wie du selbst. Wie angenehm ist dieser ruhige, einsame Abend – man war immerhin eingeladen. Du beschleunigst deine Schritte, und das Ziel entfernt sich. Wo die Scheinwerfer in Aktion sind, ist für das lebendige Licht nur noch Platz unterm Scheffel. Als er all seine ungelebten Lebensmöglichkeiten ausgeträumt hatte, starb er. Der kleine Schauder nach dem Mittagsschlaf, der Anhauch einer größeren Kälte. Understatement – eine verfeinerte Form von Eitelkeit. Für Rezensenten. Besprechen – das heißt eine kurzfristige Magie ausüben. Gegen Schluss. Zieht man sich zurück? Oder wird man zurückgezogen? Und wenn es der Schnee ist, der den Tag erhellt! 2. Januar. Die Menschheit arbeitet wieder. Also bitte.
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HARALD HARTUNG
Und wenn du aus dem Schatten hinaustrittst – in welches Licht trittst du dann? Licht stellt die Malerei pastos dar, Schatten in Lasuren. Der Schatten ist das Reich der Verfeinerung, der Vertiefung. Matadore. Sie brauchen den Schwächeren, um ihm endlich und unter vier Augen zu sagen, was sie voneinander halten. Wer sich sucht, darf sich auch gemeint fühlen. Nimm es als Trost. Der starke Schmerz, der langsam von minderen Schmerzen erstickt wird. Die Ärzte rieten dem krebskranken Nicolas Born, in der ihm verbleibenden Zeit nur noch Gedichte zu schreiben. Er aber zog es vor, an einem neuen Roman zu arbeiten. Ganz ohne Aussicht ihn zu vollenden. Wie tief der Neid noch in die feineren Regungen der Sympathie eindringt. Not lehrt beten, Leidensdruck offenbar nicht. Wenn du dich klein machst, sei das dein eigenes Vergnügen. Erwarte nicht, dass dich deshalb jemand erhebt. Das Alter plaudert Geheimnisse aus, die es nicht mehr besitzt. Ist die Musik erschöpft, beginnt die Stille zu dröhnen. Man sagt vom Tag, man habe ihn vertan. Doch warum eigentlich nicht von der Nacht? Unter Solipsisten. Wir fragen nicht mehr nach dem Jenseits. Vielleicht aus Angst vor der Gegenfrage: „Und wen möchtest du dort wiedersehen?“ „Es ist mir lieber, mehrere Male von einem gelesen zu werden, als einmal von mehreren“ – Valéry 1921 (Cahiers I, 322). Wer das von sich sagen dürfte. Eine Zeitung, die ihr Layout wechselt, senkt ihr Niveau. Nein: sie wechselt das Layout, um ihr Niveau senken zu können. Unter den Einäugigen gilt der Blinde als Seher.
PASSION DER KÜRZE, KÜRZE DER PASSION
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Nicht die Haare müssen es sein, es genügt durchaus der Zopf, um sich aus dem Sumpf zu ziehen. Die wahre Artistik. Gott würfelt nicht, aber wenn er den Würfel erfunden hat? Der schale Geschmack nach einer abendlichen Gesellschaft. Niemand hat mit Enthusiasmus von irgend etwas gesprochen. Schlimmer: ich auch nicht. Auch im Traum … selbst im Traum kann man lügen. Wer nichts von sich preisgeben möchte, hat schon zuviel preisgegeben. Der Autor, der einzig auf seine Sensibilität setzt, wird zum Routinier seiner Fähigkeiten. Ein Önologe, der ohne Wein auskommen möchte. Nach den Feiertagen: Was war schlimmer? Nicht arbeiten können oder nicht arbeiten dürfen? Geld – zur Zeit das einzige Fourletterword in der Konversation. Es gibt im Moralischen kein do ut des. Auch wenn manche es von einem erwarten. Wie lange dauert das Jetzt? Heute fand ich: die Länge einer Rolltreppe. Mit dem Schlimmsten – nein, mit ihm kann man nicht rechnen. Es rechnet ja auch nicht mit uns. Es schlägt nur zu. Wie weit bist du gekommen? – Weiter, als ich dachte. – Das heißt: nicht wirklich weit. Wo die Aphorismen sich häufen, sinkt die Kraft der Beobachtung. Ich wäre längst vergessen, wäre ich je bekannt gewesen. Der Neid wählt aus, das allein lässt ihn scharfsichtig erscheinen. Vielleicht ist Dichten ja tatsächlich Gerichtstaghalten über das eigene Ich. Doch man sitzt nicht die Strafe, man sitzt nur das Schreiben ab. Du willst die Poesie verlassen, ehe sie dich verlässt. Da bist du schon von ihr verlassen. Je weniger du notierst, um so schneller stürzt die Zeit.
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Damoklesschwert. Man vertraut auf die Stärke des Pferdehaars, an dem es hängt. Oder man verlässt gleich die gedeckte Tafel, in der Hoffnung, dass es einem nicht folgt. Man ist immer schon woanders als man denkt; man darf sich nur nicht aus den Augen verlieren. Vergebliche Bitte. Von Aphorismen bitten wir abzusehen.
GUNHILD KÜBLER
Passionierte Komplizenschaft Zu zwei dunklen Gedichten von Emily Dickinson Wie kann man Gedichte verstehen, in denen die Rolle von Lesern nicht vorgesehen ist? Was erlebt man mit derartig abweisenden Texten, und wie findet man sich hinein – zumindest ein Stück weit? Von der großen amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson (1830-1886) sind zu ihren Lebzeiten nur zehn Gedichte gedruckt worden, noch dazu anonym und ohne ihre Zustimmung. Dabei hätte die Autorin durchaus Publikationsmöglichkeiten gehabt. Aber sie wollte die formalen und inhaltlichen Anpassungen an den Publikumsgeschmack, die ihr Mentor, der Essayist Thomas Higginson, empfohlen hatte, nicht vornehmen. Grundsätzlich wollte sie sich nicht auf den Marktplatz des Literaturbetriebs zerren lassen. In ihrer Schlafzimmerkommode hinterließ sie bei ihrem Tod ca. 1.800 Gedichte. Ein Drittel davon hatte sie zu Lebzeiten an Freunde und Bekannte weitergeschickt, aus denen sie sich selbst das Lesepublikum für ihre Lyrik schuf. Aber zwei Drittel ihrer Gedichte hatte sie an niemanden verschickt, niemandem gezeigt und vermutlich einzig für sich selbst geschrieben. Kein Wunder, dass diese Gedichte dunkel sind. Wenn die Dichterin selbst die einzige Leserin ihres Textes ist, braucht sie nichts zu erklären. Deshalb, und nicht weil die Gedichte – wie schon behauptet wurde – „von einer sehr fernen Glossolalie gestreift“1 sind, wirken viele ihrer Texte so rätselhaft. Dickinson schreibt „this and this“ oder einfach „it“, und nirgends vorher oder nachher findet sich ein Hinweis, was damit gemeint sein könnte. Ein Beispiel: Through what transports of Patience I reached the stolid Bliss To breathe my Blank without thee Attest me this and this – By that bleak exultation I won as near as this Thy privilege of dying Abbreviate me this
Durch welchen Raptus von Geduld Ich fand zum stumpfen Glück Mein Weiß zu atmen ohne dich Bezeug mir dies und dies – Aus Jubel kahl wie jenem Sich dieses fast ergab Dein Vorrecht auf das Grab Kürze mir dies ab2
1 Bruno Steiger lobte in der Messebeilage der Basler Zeitung vom 9.10.2001 in seiner Besprechung von Wolfgang Schlenkers Dickinson-Band Biene und Klee. 51 Shorter Poems, Basel 2001, als Verdienst des Übersetzers, „die betörende Fremdartigkeit dieser von einer sehr fernen Glossolalie gestreiften, zwischen Ekstase und Abwinken erschriebenen ‚Intervalle körperlichen Einklangs‘ in wohlerwogener oft luzider Diskretion weitergeleitet zu haben.“ 2 Die deutschen Übersetzungen der Gedichte von Emily Dickinson wurden folgendem Band entnommen: Emily Dickinson: Gedichte, englisch-deutsch, hg. und übers. v. Gunhild Kübler, München 2006.
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Viermal erscheint ein rätselhaftes „this“ in diesem Text, wobei nicht sicher ist, dass damit immer dasselbe gemeint ist. Womöglich ist in der letzten Verszeile vom eigenen Leben die Rede. Vielleicht möchte die Sprecherin unter dem Eindruck des Sterbens der Person, die hier angeredet wird, ihr Leben abkürzen. Und zuvor? Deutet „this and this“ auf den Körper der Sprecherin? Bezeichnet es Narben? Krankheiten? Oder hält sie dem angeredeten Du ihre Texte hin? Sie, die Dichterin, weiß, wovon die Rede ist und worum es geht (und der Tote mag es auch gewusst haben). Wir aber müssen uns darum bemühen, müssen uns zu ihren Komplizen machen, um sie zu verstehen. Darin besteht der unendliche quälerische Reiz jeder Dickinsonlektüre. Das ist es, was einem die Beschäftigung mit Dickinson zur Obsession, ja zur Passion machen kann. Erst recht beim Übersetzen kann man zugleich verrückt und süchtig werden: verrückt vor Verstehenseifer und süchtig danach, dem Geheimnis dieser Verszeilen mit detektivischem Spürsinn auf die Sprünge zu kommen, ihm endlos nachzujagen, bis es einem am Ende zumindest teilweise ‚aufgeht‘. Was eine Glückserfahrung ist. Unter den in dieser Weise rätselhaften Gedichten Emily Dickinson ist eines, das, wie ich meine, zu unserem Anlass, die Sorgfalt und die inspirierte Findigkeit einer großen Leserin schwieriger Texte zu feiern, hervorragend passt. Nur acht kurze Zeilen, äußerst nachlässig gereimt: Lift it – with the Feathers Not alone we fly – Launch it – the aquatic Not the only sea – Advocate the Azure To the lower Eyes – He has obligation Who has Paradise –
Vom Fliegen, vom Wasser, vom Himmelsblau und vom Paradies ist hier die Rede, und man weiß beim ersten Hören nicht recht, worauf das Ganze hinaus will. Entstanden ist der kleine Text vermutlich im Jahr 1875. Emily Dickinson hat ihn mit Bleistift auf ein Stück Briefpapier notiert. Es gibt keine Varianten und keine weiteren Abschriften. Und wie es scheint, hat die Autorin diesen Text auch nicht an einen ihrer handverlesenen Adressaten weitergeschickt. Das, worum es ihr geht, nennt Emily Dickinson in diesem Gedicht einfach „it“. Verbunden wird dieses „it“ zweimal mit einem Imperativ: „Lift it […], Launch it […]“ („Heb es auf… Lass es vom Stapel laufen, schick es los, lanciere es“). Der dritte und letzte Imperativ heißt „Advocate“ („Setz dich dafür ein, verteidige es“). Doch: Wofür soll sich dieses Du einsetzen? Und: Wer wird hier überhaupt angeredet? „Advocate the Azur to the lower Eyes“, heißt es weiter. Damit kommt man dem Geheimnis des Gedichts schon näher. Dem Himmelsblau soll Achtung verschafft werden bei den Menschen hier unten auf Erden. Und die beiden letzten Zeilen deuten an, wen die hier aufgereihten Imperative ansprechen wollen: „He has obligation / Who has Paradise“ („Der, dem das Paradies gehört, der hat eine entspre-
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chende Verpflichtung“). Schon wieder ein Rätsel: Wem gehört das Paradies? Redet dieses Gedicht mit Gott? Ich denke, dass wir hier eines der vielen lyrischen Selbstgespräche der Dichterin vor uns haben. Emily Dickinson spricht sich selbst an, und doch werde ich den Verdacht nicht los, dass dieses Gedicht auch an alle adressiert sein könnte, die sich als Literaturwissenschaftler, Verleger, Übersetzer etc. um die Vermittlung von Literatur bemühen. Auch ihnen könnten diese drei Imperative gelten: Lift it, launch it, advocate the Azure. Das lässt ahnen, was das bisher so dunkle „it“ umschreibt: Es geht um Bücher, um Texte, um Gedichte. Und: Es geht um eine nie genau fassbare Qualität von Literatur – um ihren unvergänglichen Anteil. Keine Frage, dass das auf dem Markt, auch auf einem Büchermarkt („to the lower eyes“, sagt das Gedicht) unendlich schwer zu vermitteln ist. Ökonomisch lohnt es sich mit Sicherheit nicht. Doch trotzdem verdiene es unsern ganzen Einsatz, sagt Dickinson. Warum? Auch davon ist die Rede, und zwar gleich zu Beginn: „With the Feathers not alone we fly“, heißt es da: „Man fliegt nicht allein mit Federn“. Die Anlehnung an das berühmte Bibelwort ist deutlich: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“ Oder übertragen auf unseren Fall: Nicht nur mit Federn kann man vom Boden abheben und sich aufschwingen. Nun verzieht sich langsam der Eindruck des Nebulösen von diesem Gedicht. Wie es scheint, bezieht sich das dunkle „it“ auf Texte, auf Gedichte, es geht ums strahlend Paradieshafte des gelungenen Gedichts, ums Ewige der Literatur. Und es geht – wie so oft bei Emily Dickinson – um eine der wichtigsten Voraussetzungen ihres Dichtens: um das schöpferische Sich-Aufschwingen, oder – um einen ihrer Lieblingsbegriffe zu brauchen – um Ekstase („ecstasy“). Abschließend noch der Versuch, das alles auch auf Deutsch zu sagen – semantisch und formal möglichst dicht am Original, also mit möglichst knappen Worten, möglichst in Trochäen und in möglichst nachlässigen Reimen: Heb es hoch – nicht einzig Mit Federn fliegen wir – Schick es los – Gewässer Sind nicht allein das Meer – Du verfechte Himmelsblau Vor dem Aug hienieden Wem es zugeeignet ist Den verpflichtet Eden –
MICHAEL W. JENNINGS
Brinkmann’s Passio: Rom, Blicke and Conceptual Art
The three Materialienbände − Schnitte; Rom, Blicke; and Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand1 − that Rolf Dieter Brinkmann produced in the early 1970s have, in the last decade, gradually come to be recognized as central statements of a radically new cultural formation.2 A peculiar feature of this recognition, though, is the relative puzzlement that lingers over the question as to the form of these volumes. That the three objects resist generic classification is by now a truism of the Brinkmann literature; yet even the construction of a cultural field within which the volumes might be compared to other works has remained elusive. The essay that follows, based largely on a reading of Rom, Blicke, is an attempt to construct precisely that cultural field. For German artists, the years after the upheavals of 1968 constituted a moment in many ways similar to the one that had confronted their colleagues earlier in the decade. Beginning in the early 1960s, artists’ collectives such as Fluxus had addressed the void of German postwar culture by systematically excavating the practices of the historical avant-garde movements from the period 1916-1960 − that is, the practices of constructivism, dadaism, surrealism, and finally situationism − and developing a neo-avant-gardist practice. At the same time, late modernist artists and writers as different as Gerhard Richter, Alexander Kluge, Sigmar Polke, and Peter Weiss drew, if less systematically, on the practices of the historical avant-garde movements and placed themselves in dialogue with the emerging neoavant-gardes.3 In the years after 1968, which saw the rapid dissolution of the complex intertwining of political and aesthetic practices that characterized the mid1960s, German artists and writers were again confronted with a relative lack of pa1 All three volumes were published posthumously by Rowohlt: Rom, Blicke in 1979; Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Träume, Aufstände, Gewalt, Morde. REISE ZEIT MAGAZIN Die Story ist schnell erzählt (Tagebuch) in 1987; and Schnitte in 1988. 2 The composition history of the three volumes (note 1) is complicated. We are largely dependent upon the recollections of Brinkmann’s widow, Marleen Brinkmann, for our knowledge not just of the development of the volumes but of Brinkmann’s changing conception of their nature and purpose. Brinkmann at times thought of them as a kind of quarry for his nevercompleted second novel; at other times they seemed to serve largely autobiographical purposes; and, increasingly, he thought of them as a new form of art. See Marleen Brinkmann: „Editorische Notiz“, in: Brinkmann: Erkundungen (note 1), p. 411-413. 3 See especially Klaus Briegleb/Sigrid Weigel (ed.): Gegenwartsliteratur seit 1968, München 1992 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, vol. 12).
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radigms by which to orient themselves. In retrospect, it is clear that 1968 had meant, among many other things, the death knell of modernism in Germany. Brinkmann must now be seen as one of the artists who felt most deeply the cultural void after 1968. His initial reaction was the production of a virtual torrent of work. The texts that appeared in rapid succession in these years − his novel Keiner weiß mehr (1968); the poetry collections Die Piloten, Godzilla (both 1968), Standphotos (1969), and Gras (1970); and the anthologies of American poetry and popular culture Acid and Silverscreen (both 1969) with important introductions − established Brinkmann as one of the leading poets of his generation and the most important bridge figure between contemporary German and American culture. Even though the relays between Brinkmann’s art and American Pop were recognized early, it has only recently become clear that, taken together, these works constitute a project, built on American models, for the constitution of a new poetics of the everyday, a project that sought to overturn not just the instrumental reason of capitalism but the burden of German history itself.4 By the end of the decade, however, Brinkmann clearly found himself at a kind of dead end. Even as the outpouring of new literary work had brought him increasing acclaim, Brinkmann had issued a number of violent and widely publicized challenges to a series of writers and critics − Hans Magnus Enzensberger, Marcel ReichRanicki, and Rudolf Hartung among others − whom he held to be representative of the dominant culture.5 Much of Brinkmann’s reaction to the regnant cultural norms has of course been dismissed as the pure posturing of a systematically dyspeptic writer. Yet the very violence of Brinkmann’s statements, and the sensational character of the attacks, has too often obscured the seriousness with which Brinkmann pursued the quest for a new aesthetics; these were less an attempt to position himself vis-à-vis the literary establishment than a rejection of all forms of establishment itself: not merely of aesthetic norms or of the notion of a fixed work of art but of all possible institutions. These attacks prefigured a radical break. By 1970, Brinkmann had broken with his publisher and with most of his friends, and made the decision to stop publishing altogether − a resolution to which he held firm until 1975. The aggressive, adversarial cultural politics that had accompanied his literary production at the end of the 1960s seemed to have given way, then, not to new cultural forms, but to an apparent inability to produce anything at all. In admitting that his project for the revitalization of German literature had failed − at least by his own standards − he attested that „der Sinn meines Tuns (schreibens) [war mir total] abhanden gekommen, für wen schrieb ich und was schrieb ich und warum?“6 The Brinkmann litera4 The best account of this project remains Thomas Gross: Alltagserkundungen. Empirisches Schreiben in der Ästhetik und in den späten Materialbänden Rolf Dieter Brinkmanns, Stuttgart 1993. 5 For a concise account of Brinkmann’s public appearances and of the critical reaction to his work in this period, see Sibylle Späth: Rolf Dieter Brinkmann, Stuttgart 1989, p. 38-43. 6 Brinkmann: Erkundungen (note 1), p. 190.
BRINKMANN’S PASSIO: ROM, BLICKE
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ture has tended to view the „great lacuna“ in Brinkmann’s production between Gras in 1970 and Westwärts 1 & 2 in 1975 as an existential crisis. For the majority of Brinkmann scholars, the three posthumously published Materialienbände are thus highly personalized documents, Brinkmann’s attempt, „die Orientierungs- und Perspektivlosigkeit […] in den Materialienbänden mit schonungslosen ‚Erkundungen‘ der eigenen Situation anzuschreiben.“7 The circumstances of Brinkmann’s „own situation“ are particular. While living in Köln he began to collect a wide variety of cultural material in September 1971: − not just shorter and longer texts of his own devising − letters, diary entries, seemingly random observations − but excerpts from the writings of other authors, clippings from American and German magazines, the sort of capitalist flotsam and jetsam that had already made its appearance in cubism and Merz (tickets, maps, flyers, etc.), and over 1000 Instamatic images. The recipient of a fellowship from the Deutsche Akademie at the Villa Massimo, Brinkmann moved to Rome in 1972 and remained until early 1973. The text we know as Rom, Blicke is in a sense nothing more than the collaged notation of that stay. It comprises typescripts of letters to Brinkmann’s wife and a few friends, typescripts of diary entries, Brinkmann’s own Instamatic snapshots, as well as the kind of cultural detritus he had begun collecting in Köln.8 As a form, the Materialienbände have no precedents in German culture. Their use of collage techniques have led some commentators to draw comparisons with the montage practices of the Dadaists, but there is finally very little that these objects share with Dada phototexts such as the early journals or the late Heartfield/Tucholsky Deutschland, Deutschland über alles. Repeated attempts, in fact, to characterize Brinkmann as an „avant-garde“ artist on the basis of his use of collage fail to take into account the particularity of the German cultural situation in the early 1970s − Brinkmann’s volumes in fact share few common features with any previous or contemporaneous European cultural object; they look, instead, to American sources for their formal properties. Rom, Blicke and the other volumes of materials look to a very particular contemporary moment in American art. In New York, modernism had died an early death; its demise was coterminous with the exhaustion of the strategies open to the action painters, that is, with the death of abstract expressionism.9 The dominant moments in the New York art world in the 1960s were not just pop and minimalism, but, by 7 Jörgen Schäfer: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre, Stuttgart 1998, p. 243. See also Rainer Kramer: Auf der Suche nach dem verlorenen Augenblick. Rolf Dieter Brinkmanns innerer Krieg in Italien, Bremen 1999, and Karsten Herrmann: Bewußtseinserkundungen im „Angst- und Todesuniversum“. Rolf Dieter Brinkmanns Collagebücher, Bielefeld 1999. 8 The published version of Rom, Blicke does the text a disservice: it typesets Brinkmann’s typewritten pages and thus suggests a polish and fixity that runs against the form of the text. Rowohlt corrected this error in Schnitte and Erkundungen, which reproduce Brinkmann’s pages precisely as he collaged them. 9 For the best account of this period in American art, see Hal Foster/Rosalind Krauss/YvesAlain Bois/Benjamin Buchloh: Art since 1900, London 2004, p. 492-508 and p. 527-539.
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the end of the decade, conceptual art. The appeal of conceptual art for Brinkmann should be immediately apparent.10 If minimalism had sought to break with the figurative and indeed representational dimension of modernist practice, the conceptual artists sought to break with the very use of the forms, genres, materials, and institutions of art. It is difficult to offer a conceptual definition of a practice that offers concepts and definitions of art that were themselves presented as art. Very broadly, though, the conceptual artists were concerned with the ideas, meanings, and, concepts that produce and are produced by artistic practice. One common element is thus the interrogation of what art is − Duchamp is the great nobodaddy of the movement. Joseph Kosuth, for example, could write in 1969 that „The ‚purest‘ definition of conceptual art would be that it is an inquiry into the foundations of the concept ‚art‘, as it has come to mean.“11 For many conceptual artists, artistic practice does not so much merely call into question the auratic status of the art object as actually „dematerialize“ the object itself − for some artists like Sol LeWitt, toward the idea that generates the art, but for others toward an original „site“ of material or experience.12 This last notion is perhaps clearest in the work of Robert Smithson, who distinguishes a „site“ from a „non-site.“13 The non-site might be a pile of rocks in a gallery, while the site is the physical location that is the source of the rocks. The „work“ in the gallery is thus primarily evidence of a research project. In art like this, photography, and not merely text, begins to assume an increasing importance. As Dennis Oppenheim puts it: „Let’s assume that art has moved away from its manual phase and that now it’s more concerned with the location of material and speculation. So the work of art has now to be visited or abstracted from a photograph, rather than made.“14 As a general cultural field within which to rethink the status of art and of works of art, the advantages to Brinkmann are immediately clear. As Buchloh has put it, What begins to be put in play here, then, is a critique that operates at the level of the aesthetic ‚institution.‘ It is a recognition that materials and procedures, surfaces and textures, locations and placement are not only sculptural or painterly matter to be dealt with in terms of a phenomenology of visual and cognitive experience […] but that they are always already inscribed within the conventions of language and thereby within institutional power and ideological and economic investment.15 10 The best short introduction to conceptual art remains Benjamin Buchloh’s „Conceptual Art 1962-1969: From the Aesthetic of Administration to the Critique of Institutions“, in: October 55, Winter 1990, p. 105-143. 11 Joseph Kosuth: „Art after Philosophy“, in: Studio International 1969; reprinted in: Alexander Alberro/Stimson (ed.): Conceptual Art: a Critical Anthology, Cambridge 1999, p. 158-177, here p. 171. 12 See Lucy Lippard/John Chandler: „The Dematerialization of Art“, in: Alberro/Stimson (ed.): Conceptual Art (note 11), p. 46-50. 13 See Ann Reynolds: Robert Smithson: Learning from New Jersey and Elsewhere, Cambridge 2003, p. 5 f. 14 Oppenheim, quoted in: Tony Godfrey: Conceptual Art, London 1998, p. 303. 15 Buchloh: „Conceptual Art 1962-1969“ (note 10), p. 136.
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The question arises, of course, as to Brinkmann’s possible knowledge of conceptualism. There is no direct evidence − no anthologies such as Acid and Silverscreen that make the connection manifest. But a number of factors make that knowledge highly likely. The first is of course Brinkmann’s demonstrated interest in the development of art in America. The essay „Die Lyrik Frank O’Haras“ is in many ways a virtual self-portrait of Brinkmann, and he praises there O’Hara’s „Interesse für Malerei, mehr oder weniger direkte Kontakte mit der Kunstszene. Es wurde auf Perspektivenänderungen, neue Tendenzen und Impulse in außerliterarischen Bereichen geachtet.“16 The second is his residence in Köln, the center of the West German art world and the portal through which American art entered the German scene.17 But the strongest evidence is finally the form of the Materialienbände themselves. As early as 1966, Mel Bochner had opened an exhibition made up not of ‚original‘ works of art, but of folders containing Xeroxes of original texts. The most important precedent for Brinkmann’s volumes, though, is to be found in the work of Dan Graham and Robert Smithson. In the December 1966 issue of Art in America, Graham published a work called „Homes for America.“ The „essay“ is a constellation of found material presented through photographs − Instamatic images, found images, etc. − and text (Abb. 1). Graham’s piece erases the boundary between an artwork and an essay about an artwork, between an original and its photographic reproduction, and between the site of the work and the site of its exhibition or reproduction. In the words of the photographer Jeff Wall, Graham sought to breach the dominance of the established art forms and to articulate a critique of them. But unlike the more academic types of conceptual art […] which could arrive only at a paradoxical state of establishing themselves as works of art negatively, by enunciating conditions for art which they had no interest in actually fulfilling, Graham’s photo-journalistic format demands that his work have a separable distinguishable subject matter. Instead of making artistic gestures which were little more than rehearsals of first principles, … Graham brings his analysis of the institutional status of art into being through the dynamics of a journalistic subject.18
Graham’s work bears comparison to Brinkmann’s volumes in a number of respects, and in particular in its articulation through the form of the object of a critique of the institutions of art. Much of the thrust of Brinkmann’s key essays from the late 1960’s is directed not just at the formulation of an aesthetics, but at a rigorous and scathing critique of literature − a critique that aimed to destroy the concept of literature itself. The poem recedes before the „Grad indirekten physischen und psychi16 Rolf Dieter Brinkmann: „Die Lyrik Frank O’Haras“, in: Id.: Der Film in Worten, Reinbek 1969, p. 207-222, here p. 207 f. 17 There is an interesting example of the flow of American art practices between New York and the Rhineland: Robert Smithson, visiting Düsseldorf on the occasion of an exhibition at Konrad Fischer’s gallery, undertook a „field trip“ with the photographers Bernd and Hilla Becher in 1968. See James Lingwood (ed.): Field Trips, Porto 2002. 18 Wall, quoted in: Godfrey: Conceptual Art (note 14), p. 316.
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Abb. 1: Dan Graham: Homes for America
schen Beteiligtseins,“ while the sense of „Ratlosigkeit,“ the „Gefühl von etwas enorm Bodenlosem“ opens the text to all sides and to such an extent that its existence as literature can no longer be differentiated from „dem Trivialen, Banalen.“19 By the early 1970s Brinkmann had become increasingly aware of the necessity of a form that could at once establish itself as a work of art positively while still offering full resistance to the institutional status of art and of the object itself: „Der ‚Tod‘ der Literatur kann bloß durch die Literatur selber erfolgen, indem Geschriebenes sich nicht mehr dem zuordnet.“20 Graham’s, however, is not the most compelling precedent. Robert Smithson published a piece titled „A Tour of the Monuments of Passaic, New Jersey“ in Artforum in December 1967 (Abb. 2). It is the documentation of a bus ride to and walk through Passaic, New Jersey. The „monuments“ in question are isolated artifacts of the built environment: a bridge, a pumping derrick, a pipe, a fountain, a sandbox. The text recounts Smithson’s moment-by-moment sensory encounter with these monuments. The published version of Smithson’s tour is in an important sense not 19 Brinkmann: „Die Lyrik Frank O’Haras“ (note 16), p. 208 f., 212, 208. 20 Rolf Dieter Brinkmann: „Der Film in Worten“, in: Id.: Der Film in Worten, Reinbek 1969, p. 223-247, here p. 236 f.
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Abb. 2: Robert Smithson: A Tour of the Monuments of Passaic, New Jersey
the art itself: it is merely its notation, its documentation. As Ann Reynolds has shown, the debates within conceptual art as to the location or site of culture led to a reexamination of its conditions of construction, presentation, and dissemination. Smithson was intensely aware of the disparity between his own experience and the conventions of representation that mediate them.21 The art was the motion through a particular space that enabled a series of sensory reactions. In one sense Brinkmann’s practice in Rom, Blicke is, similarly, an attempt to ground a radically materialist realism, the serial encounter of the human sensorium with its environment. Brinkmann’s withdrawal from the traditional art object leads, though, to a very particular investigation of bodily experience and its documentation. We get a good sense of the serial nature of isolated experiences early in the text: „genaugenommen stolpert man durch nichts als Ruinen, und zwischen diesen Ruinen scharrt das alltägliche Leben zwischen den Abfällen nach einigen lebenswerten Brocken − sobald man dieses alltägliche Leben auch nur etwas wichtig nimmt − ein Leben in staubigen Resten der abendländischen Geschichte.“22 As if to accentuate the isolated and serial nature of experience, Rom, Blicke is ordered ac21 Reynolds: Robert Smithson (note 13), p. 5 f. 22 Brinkmann: Rom, Blicke (note 1), p. 30.
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cording to a strict chronology; its dating is comprehensively „documented“ through the inclusion of other materials. This is the importance of the collaged material: photos, pages recently read, postcards, maps, all are purely notational and indeed notational of an automatized perception. They emphasize the materiality of the experience to which he subjects himself, and its omnipresence. Rom, Blicke as object is thus nothing more than a protocol of the stimuli to which the senses are exposed. In a very real sense, the only subject of Rom, Blicke is the direct relation of Brinkmann’s body to the world as it is mediated by the senses and represented through a variety of media. Rom, Blicke evinces in its structure, in other words, important parallels to conceptualist practices, and especially those of Smithson. Like Smithson or Bruce Naumann − „In a way I was using my body as a piece of material and manipulating it.… Sometimes it works out that the activity involves making something, and sometimes the activity itself is the piece“23 − the body and its experience are a laboratory; the work is the documentation of that laboratory practice. As Brinkmann puts it in Erkundungen: „Ja, was betreibe ich eigentlich? Feldstudien!“24 The critic Bernice Rose sees the „heart“ of conceptual art in its „ambition to return to the roots of experience, to recreate the primary experience of symbolization uncontaminated by the attitudes attached to traditional visual modes, whether representational or abstract.“25 What sets Brinkmann and Smithson apart in this regard is the extraordinary importance attributed to media in their theory and their objects. Brinkmann is not delivered up just to an accumulation of detail, and not just to the details of the detritus of capitalist society („Überall Autos, nix Amore, umgekippter Müll plus Pizzas / Und noch ein Sonnenuntergang“26); he is delivered up to urban experience as it is presented in mediated form, to „irgendeine sinnlose Werbung, die sinnlos die Aufmerksamkeit erregt.“27 Brinkmann’s „durchgehender Non-Stop Horror-Film der Sinne und Empfindungen“28 is Rome itself: it is already cinematized. This is not merely banal, however: if Brinkmann himself is unable to discover an original vision, he is likewise unable to discover ‚original‘ material: he finds neither Roman ruins, nor Italian culture that has not always already been cinematized. Smithson had in 1968 already defined a new kind of monument of the everyday. In „A Tour of the Monuments of Passaic, New Jersey,“ the monuments evince a „cinema-ized“ existence − they are „an enormous movie film that showed nothing but a continuous blank.“29 The monuments’ status as fragmented and dissociative renders 23 24 25 26 27 28 29
Naumann, quoted in: Godfrey: Conceptual Art (note 14), p. 128. Brinkmann: Erkundungen (note 1), p. 227. Rose, quoted in: Godfrey: Conceptual Art (note 14), p. 153 f. Brinkmann: Rom, Blicke (note 1), p. 30. Ibid., p. 6. Ibid., p. 34. Robert Smithson: „A Tour of the Monuments of Passaic, New Jersey“, in: Id.: The Collected Writings, ed. by Jack Flam, Berkeley 1996, p. 68-77, here p. 70.
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them available only to a mediated experience. In „Entropy and the New Monuments“ Smithson theorizes the movie house as a place where „time is compressed or stopped and this in turn provides the viewer with an entropic condition. To spend time in a movie house is to make a ‚hole’ in one’s life […] these holes in a sense are monumental vacancies that define a memory-trace without any durational space or movement − there is the apprehension of memory of memory.“30 Although Brinkmann’s historical vision is closer to a Verfallsgeschichte than to entropy, which is the generative principle of Smithson’s art, the notion of the frozen hole in time is precisely the effect of the ruin in Rom, Blicke. „Treten, Schritte, Sehen: klack, ein Foto!: Gegenwart, eingefroren.“31 Ruins are experienced in a cinematic time that mutilates, debases, and makes abject human sensation and self-awareness. Despite the many filiations between Brinkmann’s Materialienbände and conceptualist art, conceptual art as a cultural field can hardly account for every feature of Brinkmann’s practice. One aspect sets that practice decisively apart, in fact. We should never lose sight of the raw, assaultive nature of Brinkmann’s work − Rom, Blicke is, after more than thirty-five years, still an open wound. Even if Brinkmann’s passage through Rome is marked by many of the structural features of conceptual art, it nonetheless sets itself apart from objects by Graham or Smithson primarily through its relentless subjectivity, especially as that subjectivity is established and conveyed through tone. Rom, Blicke is not merely a violent outcry against the only world available to us; it is itself a passio, a Leidensweg through that world. As such, it clings to the notion of a subject position and thus an author position in a way wholly alien to conceptualism. If conceptual art is characterized by a certain neutral deadpan, and by the neutral accumulation of material (Sol LeWitt characterized the conceptual artist as a kind of clerk),32 Brinkmann effects an utterly unique blending of conceptualist practices and a relentless subjectivity. The collective Art & Language once defined conceptual art as „modernism’s nervous breakdown.“ If any artist ever epitomized the nervous breakdown of modernism, it is certainly Rolf Dieter Brinkmann.
30 Smithson: „Entropy and the New Monuments“, in: Id.: The Collected Writings (note 29), p. 10-23, here p. 17. 31 Brinkmann: Rom, Blicke (note 1), p. 139. 32 LeWitt: „Serial Project #1, 1966“, in: Aspen Magazine nos. 5-6, 1967, unpaged.
ERIK PORATH
Drei Figuren
Abb. 1: Gesang. Nach dem Gehör
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ERIK PORATH
Abb. 2: Ausschauen
Abb. 3: o. T. (verhüllt)
YVONNE BÖHLER
Clayton Falls
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YVONNE BÖHLER
Lieb’ und Leid im leichten Leben Sich erheben, abwärts schweben, Alles will das Herz umfangen Nur verlangen, nie erlangen, In den Spiegel all ihr Bilder Blicket milder, blicket wilder Jugend kann doch nichts versäumen Fortzuträumen, fortzuschäumen. Frühling muß mit süßen Blicken Sie beglücken, sie berücken, Sommer sie mit Frucht und Myrten, Froh bewirten, froh umgürten. Herbst muß ihr den Haushalt lehren, Zu begehren, zu entbehren, Winter, Winter lehr mich sterben Mich verderben, Frühling erben. Wasser fallen um zu springen. Um zu klingen, um zu singen, Muß ich schweigen. Wie und wo? Trüb und froh? nur so, so. Clemens Brentano: „Frühes Liedchen“, 2. Fassung, 1802
CLAYTON FALLS
Clayton Falls, Bella Coola / BC, 7.6.2006
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Yvonne Böhler
FARBTAFELN
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FARBTAFELN
Grand taureau cornu, Lascaux (zu S. 42)
Francisco de Goya: Portrait of the Matador Pedro Romero (zu S. 44)
Virgen del Carmen de Chile (zu S. 48)
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FARBTAFELN
Thomas Gainsborough: Portrait of the Artist with his Wife and Daughter (zu S. 56)
Thomas Gainsborough: Mr and Mrs Andrews (zu S. 57)
210 Thomas Gainsborough: The Painter’s Daughters with a Cat (zu S. 60)
Thomas Gainsborough: The Painter’s Daughters Chasing a Butterfly (zu S. 61)
FARBTAFELN
FARBTAFELN
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Laurent Dabos: Friedensvertrag zwischen Frankreich und Spanien (zu S. 74) Olaf Metzel: Eichenlaubstudie (zu S. 70)
Domenico Andrea Remps: Kunstkammerschrank (zu S. 71)
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Barbara Krüger: Ohne Titel (Your Gaze Hits the Side of My Face) (zu S. 99)
Hank Willis Thomas: The Day I Discovered I was Coloured (zu S. 100)
David Wojnarowicz: Ohne Titel (One Day This Kid …) (zu S. 101)
FARBTAFELN
Thomas Hirschhorn: Skulptur-Sortier-Station (zu S. 110)
Thomas Hirschhorn: Ingeborg Bachmann Altar (zu S. 110)
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FARBTAFELN
Screenshots aus: Stephen Daldry: The Hours (zu S. 219)
Screenshots aus: Michael Haneke: Caché (zu S. 220)
FARBTAFELN
Screenshots aus: Ang Lee: Lust, Caution (zu S. 221)
Screenshots aus: Ari Folman: Waltz with Bashir (zu S. 222)
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FARBTAFELN
Rolands Tod, in: Rudolf von Ems: Weltchronik (zu S. 276)
Max Klinger: Ruhe (aus dem Zyklus Paraphrase über den Fund eines Handschuhs) (zu S. 281)
BILDMEDIEN, BILDOBSESSIONEN
ANNE-KATHRIN REULECKE
Kinoleidenschaft, geteilt
Im Kino geht es um Sehnsüchte und Leidenschaften − das ist ein Allgemeinplatz. Weitaus seltener bemerkt worden ist, dass es einem echten Vertrauensbeweis gleichkommt, gemeinsam ins Kino zu gehen. Der Kinogänger offenbart dabei die eigenen Passionen – allein schon durch den Vorschlag, diesen oder jenen Film anzuschauen. Und er lässt die anderen an recht persönlichen Erschütterungen teilhaben: dem Erschrecken, Seufzen, Kichern oder auch Schluchzen. Gemildert wird diese Offenherzigkeit jedoch dadurch, dass auch die Begleiter im Halbdunkel aus dem Seitenwinkel wahrnehmbar sind. Nicht selten gleichen sich auf diese Weise die Reaktionen miteinander ab. Ein ostentatives Aufstöhnen wird durch ein beherrschtes Nicht-Reagieren beantwortet, ein lautes Lachen durch erleichtertes Mitlachen. Die Kino-Gemeinschaft ist durch ein System kommunizierender Blickwechsel miteinander verbunden. Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass ich bei fast jedem Film, den ich gesehen habe, noch ganz genau weiß, in welchem Kino er lief, mit wem ich dort war und ob meine Begleitung rechts oder links von mir saß. Es ist, als hätten sich die Umstände des Sehens dem Film angeheftet − als immerwährende Signatur im privaten Bildgedächtnis. So ist jede Erinnerung an Filme verankert in einem ganz bestimmten Datum. Sie ist überformt von den Blicken, die andere auf den Film geworfen haben. Ihre Erwartungen, Begriffe und Idiosynkrasien haben sich unter meine Kinoträume gemischt. Das Sehen und mehr noch das Sprechen über filmische Szenen ist daher – auf glücklichste Weise – persönlich und fremdbestimmt.
Wunschfluten – Im Text baden gehen Mrs Brown liegt auf dem Bett. Sie hat eine Geburtstagstorte für ihren freundlich ungeliebten Mann gebacken, ihren Sohn bei einer Nachbarin untergebracht und sich ein Zimmer im Hotel Normandy, L.A., genommen. Sie will den Roman Mrs Dalloway zu Ende lesen und dann die Tabletten nehmen. „Sie fühlte sich sehr jung; gleichzeitig unaussprechlich betagt. Sie schnitt wie ein Messer durch alles; war gleichzeitig außerhalb und sah zu. Sie hatte eine nicht endende Empfindung, wäh-
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rend sie die Droschken beobachtete, draußen zu sein, draußen, weit draußen auf See, und allein; sie hatte immer das Gefühl, es sei sehr, sehr gefährlich, auch nur einen Tag zu leben.“ Der Film The Hours (2002) bewegt sich auf einen riskanten Moment zu. Zuvor hat er auf kluge Weise die Gegenwarten seiner drei Protagonistinnen in Parallelmontagen miteinander verbunden und auf Abstand gehalten. Die New Yorker Intellektuelle Clarissa Vaughan, genannt Mrs D., hat die Blumen selbst gekauft, eine Party absagen müssen und ihren Freund, einen kranken Dichter, überlebt. Die Virginia Woolf im Film hat sich entschieden, ihre Heldin Mrs Dalloway doch weiterleben zu lassen, um dann selbst, einige Szenen später, mit Steinen in den Manteltaschen in den Fluss Ouse zu gehen. Alles hängt jetzt davon ab, ob Regisseur Stephen Daldry die Figur der lebensmüden amerikanischen Hausfrau – der Leserin – mit der historischen Figur Woolf – der Autorin – überblendet. Doch die Klippe der falschen Identifikation wird umschifft. Nur für einen kurzen Moment wird das Bett im Hotelzimmer im Jahr 1953 von den Wasserfluten 1941 umspült. Aus der Zimmerdecken-Perspektive sehen wir, wie Mrs Brown zu versinken droht. Dann zieht sich das Wasser so schnell, wie es gekommen ist, wieder zurück. In einer überraschenden anachronistischen Wende ist sie nun, die Nachlebende, zu einer Figur Woolfs geworden. Laura Brown erwacht. Sie weint, nimmt das Buch und die Handtasche, steigt in ihre Limousine und fährt nach Hause: „Happy Birthday, Dan“.
Dahinterliegend, verborgen – die Schuld Wer sich beobachtet glaubt, verhält sich anders. Georges Laurent, der erfolgreiche Moderator einer Literatursendung, und seine Frau Anne finden auf der Türschwelle ihres Pariser Wohnhauses eine Videokassette. Der Film ist von der gegenüberliegenden Straßenseite aufgenommen worden und zeigt über zwei Stunden lang die Ansicht ihres Hauses. Immer weitere Videokassetten und rätselhafte Kinderzeichnungen tauchen auf und verunsichern das bis dahin geregelt verlaufende Leben der beiden. Auch die Zuschauer des Films Caché (2005) werden beunruhigt. Denn nie können sie sicher sein, ob die gezeigten Szenen zum Filmgeschehen gehören oder zu einem neuen Videoband, das sich die Protagonisten gerade ansehen, um es dann zurückzuspulen oder anzuhalten. Und bis zum Schluss wird nicht klar, wer die Filme gedreht hat, wer die Instanz ist, die alles sieht. Nach und nach setzt die Erinnerung ein; Georges träumt: Er ist sechs Jahre alt und befindet sich auf dem Bauernhof seiner Eltern. Mit ihnen lebt ein algerischer Junge. Im dunklen Stall
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nimmt Majid das Beil und schlägt dem Hahn den Kopf ab. Dann wendet er sich Georges zu. Michael Hanekes Film hebt die Ereignisse, die sich hinter den Deckerinnerungen, den screenmemories, seines Hauptdarstellers verbergen, ins Bildbewusstsein. Majids Eltern, so stellt sich heraus, arbeiteten als Gastarbeiter auf dem Bauernhof von Georges’ Eltern. Sie wurden auf einer Demonstration algerischer Immigranten am 17. Oktober 1961 in Paris, gemeinsam mit 200 anderen Demonstranten, von der Pariser Polizei brutal zusammengetrieben und getötet. Besteht die gesellschaftliche Schuld darin, dass das real stattgefundene historische Ereignis in Frankreich bis in die Filmgegenwart tabuisiert worden ist, so besteht die persönliche Schuld der Filmfigur in einem Verrat aus Eifersucht. Als seine Eltern den verwaisten Jungen adoptieren wollten, stiftete Georges diesen an, einen Hahn zu schlachten, und behauptete, Majid habe ihn damit erschrecken wollen. Der Fremde wurde in ein Heim gegeben. Der Film nutzt die Möglichkeit, anders als moralisch zu argumentieren. Er zeigt, dass der inzwischen erwachsene Protagonist die kindlich-schuldhafte Verwicklung anerkennen muss, will er nicht immerfort der Empfänger von weiteren Bildbotschaften bleiben, deren Absender – bis auf Weiteres – unbekannt ist.
Aufmerksamkeit, Begehren – Revolutionäres Spiel Shanghai 1941, Japan hat Teile Chinas besetzt. Die junge Studentin Wang Jiazhi hat sich einer patriotischen Theatergruppe angeschlossen, die aus ihrem Spiel Ernst machen will. Wang Jiazhi ist in die Rolle der mondänen Frau Mai geschlüpft, um mit einem Kollaborateur, dem chinesischen Geheimdienstchef und Folterknecht Herrn Ji, ein Verhältnis einzugehen. Der Film Lust, Caution (2007) zeigt ein westlich imprägniertes China: Die Frauen der Gewinnler, in Seiden-Qipaos mit hochgeschlossenem Stehkragen, sitzen in englischen Möbeln und rauchen amerikanische Zigaretten; ihre rotlackierten Finger schieben gebieterisch Mahjong-Steine hin und her. In dieser Kulisse spielt sich ein Drama ab, das sein Rollenspiel nicht mehr einhält. Wang Jiazhi, die Jis Vertrauen gewonnen und ihn verletzbar gemacht hat, kann im Verlaufe ihrer obsessionellen Affäre die nötige Distanz selbst nicht mehr einhalten. „Das Vorgefühl des Versagens kroch kalt von der Ferse über die Wade hoch wie eine Laufmasche.“ Kurz vor dem geplanten Attentat warnt sie ihren Geliebten.
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Hat Ang Lees Film einen starken Zug, das politische Geschehen in ästhetischen Abbreviaturen anzudeuten, so gibt es eine Szene, in der genau das Gegenteil geschieht. Die revolutionär gesinnte, aber vollkommen unerfahrene Studentengruppe wird in ihrer konspirativen Wohnung von einem politischen Gegner überrascht und droht aufzufliegen. Es kommt zu einem Handgemenge, Schüsse fallen. Einer der jungen Männer rammt dem Eindringling ein stumpfes Messer in den Bauch, Blut fließt. Doch der Verletzte will und will nicht sterben. Aus der Gruppe wird eine Horde. Jeder sticht zu – von vorne, von hinten. Als der Mann die Treppe hinunterstürzt und noch immer nicht tot ist, bricht ihm der Anführer das Genick. Fünf Minuten lang, fünf lange Filmminuten lang betrachtet die Protagonistin Wang Jiazhi vom Balkon aus, und durch eine Fensterscheibe getrennt, das Geschehen. Mit ihr gemeinsam sehen die Zuschauer: Das Theaterstück von der gerechten Sache gerät aus den Fugen, während der Realitätseffekt des Kinos triumphiert.
Flashback – das Bildprogramm des Unbewussten „Ich hab’s nicht im System“. Der israelische Regisseur Ari Folman hat an seinen Einsatz im ersten Libanonkrieg vor zwanzig Jahren, im Jahr 1982, keinerlei Erinnerungen mehr. Er interviewt ehemalige Kameraden und produziert aus deren Berichten und Träumen Animationsbilder; aus dem fremden Stoff gewinnt er schließlich eigene Bilder des damaligen Geschehens. Sein Freund Frenkel erinnert sich: Zur Musik der Goldberg-Variationen bewegt sich eine Truppe − einem gespenstischen Ballett in Zeitlupe gleich − durch eine halbschattige Obstplantage. Ein palästinensischer Junge mit Panzerfaust zielt auf die Einheit, die aus vierzig Gewehrmündungen zurückfeuert und den Jungen zur Strecke bringt. Der Ari Folman in der Filmgegenwart fragt: „Sag mal, Frenkel, war ich auch mit dabei? Da war ich auch mit dabei? Natürlich. Gut zu wissen.“ Anstelle des Wissens aber stellt sich ein wiederkehrender Alptraum ein: Von phosphoreszierendem Orange beleuchtet, treiben junge israelische Soldaten nackt und mit Gewehren bewaffnet an den Strand von Beirut. Als sie in die Stadt hineingehen, kommen ihnen Hunderte verzweifelt wehklagender Frauen entgegen. Ganz am Ende von Waltz with Bashir (2008) erschließt sich das Material der Träume. Als der gewählte Präsident Libanons, Bashir Gemayel, am 14. September 1982 einem Attentat zum Opfer gefallen war, drangen christlich-phalangistische Milizionäre in die palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Schatila im südli-
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chen Beirut ein und massakrierten aus Rache 3000 Menschen. Die israelischen Truppen, darunter der neunzehnjährige Ari Folman, feuerten von ihren Posten aus Leuchtraketen ab und ermöglichten so die Tat. Doch der Film überführt die gewonnenen persönlichen Bilder nicht in eine offizielle Geschichtsschreibung, sondern thematisiert unablässig die Dynamik des individuellen Gedächtnisses. Dem andauernden Umbau der Erinnerungen entspricht die extrem aufwendige Produktionsweise des Animationsfilms. In der mehrphasigen Herstellung sind Tausende gezeichneter Trickbilder und fotografierter Dokumentarbilder synthetisiert, sind zahllose Figuren dekomponiert und neu zusammengesetzt worden. Da ist es gar nicht erstaunlich, dass das Computerprogramm, das die Flashbacks, die kurzen Erinnerungsblitze der Protagonisten, in Szene gesetzt hat, den Namen Flash trägt.
Abspann Passionierte Kinogänger wissen, dass man nach Ende des Films erst einmal schweigen möchte. Wenn überhaupt, dann kann zunächst über etwas anderes gesprochen werden. Keinesfalls darf der Film gleich eingeordnet oder gar bewertet werden. Besser aber ist das Nicht-Sprechen. Wie gut, dass es den Abspann gibt. Er bietet den Rahmen für das Schweigen, das so nicht peinlich wird. Wir dürfen, ohne zu kommunizieren, einfach weiter nach vorne auf die Leinwand blicken. Die Musik des Abspanns erinnert an Szenen und Motive, die nun, nach dem Ende, eine andere Bedeutung erhalten und gleich noch einmal gesehen werden wollen. Die langen Buchstabenkolonnen erzeugen, bevor sie nach oben aus dem Bild schweben, immer wieder aufs Neue ein Erstaunen darüber, wie aus einer so klein- und arbeitsteiligen Mühe diese magische Oberfläche hat entstehen können. Vor allem lieben wir die Schwärze. Sie hilft dabei, dass die Bilder niedersinken und ihren Ort finden können, um Sprache zu werden – irgendwann einmal, später.
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The Hours USA 2002 Regie: Stephen Daldry Darsteller: Nicole Kidman Julianne Moore Meryl Streep Virginia Woolf: Mrs Dalloway (1925), Frankfurt am Main 1997.
Caché F, A, I 2005 Regie: Michael Haneke Darsteller: Daniel Auteuil Juliette Binoche Maurice Bénichou
Lust, Caution VCR, TW 2007 Regie: Ang Lee Darsteller: Tang Wei Tony Leung Chiu Wai Lee-Hom Wang Eileen Chang: Gefahr und Begierde (1950), Berlin 2009.
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Waltz with Bashir ISR, F, D 2008 Regie: Ari Folman Künstlerische Leitung: David Polonsky Animationsregie: Yoni Goodman The Making of ‚Waltz with Bashir‘ ISR 2008
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„Living in Oblivion“ Vergessen und Wiedererkennen im Film Anagnorisis und Amnesie Aristoteles hat dem Wiedererkennen, der Anagnorisis, in seiner Poetik eine bedeutsame Funktion zugewiesen. Er beschreibt ein Umschlagen von Unkenntnis in Kenntnis, das sich im Rahmen einer komplexen Handlung vollzieht und das in der Tragödie mit der Peripetie, der Wendung ins Gegenteil, und mit den Affekten des Jammers oder des Schauderns verbunden ist. Wenn Ödipus erkennt, wer er ist, das heißt, wer sein Vater und seine Mutter sind, dann bildet dies den bewegenden Höhepunkt des dramatischen Geschehens. Aber nicht nur in der Tragödie sind Szenen des Wiedererkennens prominent. Sie finden sich auch in der Komödie mit ihrem Spiel des Verkennens und Verwechselns oder im homerischen Epos, wenn etwa Odysseus am Ende seiner Reise Penelope gegenübertritt. Solche Szenen des Wiedererkennens, wie sie aus der griechischen Antike literarisch überliefert sind, sind für die europäische Literatur bis in die Moderne modellbildend gewesen. Als strukturelles Moment von Narrationen, das sich mit bestimmten Formen des Pathos verbindet, begegnet das Wiedererkennen auch im Film. Es bildet einen festen Bestandteil filmischer Dramaturgie. So wird in den einschlägigen Handbüchern des Drehbuchschreibens regelmäßig auf Aristoteles’ Poetik verwiesen.1 Doch es scheint, dass die Anagnorisis unter den Bedingungen des Films einen anderen, neuartigen Status gewinnt: Anders als in allen literarischen und theatralen Darstellungen betrifft jene Unkenntnis des Protagonisten, die jäh in Kenntnis verwandelt wird, das Sichtbare selbst, die ‚Foto-Genese‘ des Films. Denn die Einschreibung von Realem in die filmischen Bilder ist mit im Spiel und wird von der Anagnorisis tangiert. Inmitten der bewegten Bilder des Films wird das Sehen als solches in Bewegung versetzt, als ob sich ein Umschlag vom Nichtsehen ins Sehen vollziehe. In seinen Szenenentwürfen zu dem 1942 in Hollywood realisierten Film Random Harvest lässt Alfred Döblin den Protagonisten – einen unter Gedächtnisverlust leidenden Kriegsheimkehrer – „unsicher, ratlos“ umhergehen, „seine Schritte [waren] wie die eines eben operierten Blinden, der sich noch nicht zurechtfindet“2. Die Filmfigur bewegt sich an der Schwelle zum Sichtbaren, kann schon sehen, aber noch nicht erkennen. Wenn der Protagonist am Ende des Films – der Kinofassung 1 Michaela Krützen: Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt, Frankfurt am Main 2004, S. 104. 2 Alfred Döblin: „Random Harvest (Szenenentwürfe)“, in: Ders.: Drama Hörspiel Film, hg. v. Erich Kleinschmidt, Olten/Freiburg i. Br. 1983, S. 451-491, hier S. 461.
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eines „sentimental[en]“3 Romans von James Hilton – die Frau seines Herzens endlich wiedererkennt und sein Glück zurückgewinnt, dann ist dies nur der hollywoodgemäße Abschluss einer Geschichte, deren filmische Umsetzung ihre eigentümliche Faszination doch gerade aus dem Aufschub des Erkennens bezieht. Ein visuelles Wahrnehmen, das demjenigen „eines eben operierten Blinden“ vergleichbar ist, wird seinerseits zum Gegenstand der Beobachtung und lässt das ‚bloße‘ Sehen und Wahrnehmen selbst zum eigentlichen Geschehen des Films, zum Objekt von Besetzungen und Bewegungen werden. Im Kino tritt die Anagnorisis in ihrer Bedeutung hinter den filmspezifischen Zustand der Unkenntnis zurück, den sie voraussetzt; und dieser Zustand heißt, wie es scheint, Amnesie. Es ist bemerkenswert, mit welcher Hartnäckigkeit Filme der Amnesie zugewandt sind. Wie kaum eine andere Kunstform zuvor hat die Kinematografie von Beginn an das Vergessen adressiert und den Zustand der Vergessenheit in Szene zu setzen gesucht. Living in Oblivion4: Es geht nicht um ein Vergessen, das Filme bewirken, und auch nicht um Erinnerungen, die durch filmische Bilder vielleicht herbeigeführt werden; sondern es handelt sich um eine enorme filmische Produktivität von Amnesien, wie sie sich auf der Leinwand immer wieder artikuliert. In dem Maße, wie das Erkennen ausbleibt, kann eine Leidenschaft des Sehen-Wollens zur Geltung gelangen, die anstatt auf das Wiedererkennen auf die Möglichkeit des Wahrnehmens zielt. Dies ist die Passion des moviegoer, von der etwa Walker Percy erzählt: „Die[] Dinge schauten unvertraut aus, und waren zugleich voll von Hinweisen. […] Unvertraut an ihnen war, daß ich sie wahrnehmen konnte.“5
Name und filmisches Bild Die Amnesien, auf die das Kino in vielen Filmen zurückkommt, bilden eine Art Ursprungsmythos des filmischen Bildes: Sie figurieren als literarische Vorgeschichte der Kinematografie, die sie mit der Poetik der Anagnorisis verbinden. Literarisch ist die Amnesie zunächst, weil sie als ein Ereignis, das stattgefunden hat, ausgesagt werden muss. Jemand muss sagen: „Ich habe mein Gedächtnis verloren.“ Deshalb gibt es im Stummfilm keine Amnesie, außer mit Hilfe von Zwischentiteln. Es lässt sich zwar zeigen, dass eine Person orientierungslos ist; aber dies wird erst im Tonfilm als Zustand der Vergessenheit evident, wenn nämlich jemand seinen Namen nicht zu sagen vermag. Bei David Lynch etwa ist jene dunkelhaarige Frau, die vom Mullholland Drive den Abhang Richtung Stadt hinuntertaumelt, zwar erkennbar desorientiert; dass sie aber ihr Gedächtnis verloren hat, begreift 3 Alfred Döblin: [Brief an Elvira und Arthur Rosin vom 11.7.1941], in: Ders.: Briefe, hg. v. Heinz Graber, München 1988, S. 253-255, hier S. 253. 4 So der Titel eines Films von Tom DiCillo (1995), der die Entstehung einer Low-BudgetProduktion erzählt und mit der Vergesslichkeit einer Darstellerin, die sich ihren Text nicht merken kann, beginnt, aber wohl einer weitergehenden Vergessenheit gilt. 5 Walker Percy: Der Kinogeher, übers. v. Peter Handke, Frankfurt am Main 1986, S. 18.
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man erst in der vierzigsten Minute des Films, wenn sie in Verzweiflung bekennt: „I don’t know who I am!“ Der Vorname, den sie zunächst genannt hatte, Rita, war nur von einem Filmplakat abgelesen, auf dem ‚Rita Hayworth‘ geschrieben stand. Vom Literarischen herkommend, vom Lesen und Aussprechen des Namens, verwandelt sich jemand zum Illiteraten, der nicht einmal weiß, wie er heißt. Erst wenn dies gesagt ist, wenn der Name ungesagt bleibt, gerät das Sichtbare in eine eigentümliche Bewegung und generiert filmische Bilder: Bilder, die eigentlich vertraut sein müssten und die doch völlig unbekannt sind. Dies ist der illiterate Ursprung des Films, wie er sich in vielen Filmen darstellt, die den Zuständen der Vergessenheit gewidmet sind. Die Amnesie erscheint hier als der literarische Nabel des Films: als die Stelle, an welcher der Film sich ursprünglich vom Literarischen abtrennt. Es gibt eine Polarität zwischen der Gewissheit des Namens und der Kinematografie. Die Schwelle, die zwischen beiden Polen besteht und die sie trennt, findet sich in der Fotografie. Die Fotografie, schreibt Vilém Flusser, ist ein „Werkzeug zum Erzeugen von Eigennamen“6. Von jemandem, dessen Foto ich in Händen halte, will ich wissen, wie er heißt. Das Konservieren der Erscheinung eines Individuums in einem bestimmten singulären Moment, welches die Fotografie leistet, führt die Sprache gewissermaßen an ihren paradiesischen Ursprung zurück, vor aller Abstraktion und allem Urteil: zur adamitischen Namenssprache. In dieser Rückführung der Sprache auf ihren Anfang, den sie im bloßen Namen genommen hat7, markiert die Fotografie zugleich die Schwelle zum Vergessen und zur Illiteralität, jene Schwelle, jenseits derer das fotografische Bild nichts mehr festhält, sondern sich bewegt und sich in ein filmisches Bild transformiert. Wenn die Fotografie ein „Werkzeug zum Erzeugen von Eigennamen“ ist, dann ist der Film ein Werk der Vergessenheit, eine Fabrik der Amnesie, aus der die filmischen Bilder hervorgehen. Die Amnesie-Geschichten, die in zahlreichen Filmen erzählt werden, exponieren den Namen als eine Art Interface zwischen Sprache und Bild. In den Namen wird ein Gedächtnis konstituiert, sofern sie das Sagen und das Sehen zusammenführen. Wo ein Name fehlt, da bewegt sich das Bild, und die Erinnerung schwindet. Der Film The Forgotten etwa (2004 von Joseph Ruben realisiert) scheint im Wesentlichen von dieser Funktion des Namens zu handeln. Julianne Moore spielt darin die Rolle einer Mutter, die nicht nur unter dem Verlust ihres Sohnes leidet, sondern auch darunter, dass niemand mehr etwas von dem Kind weiß. Die Nennung seines Namens weckt bei niemandem mehr eine Erinnerung, nicht bei den Nachbarn und nicht einmal bei seinem Vater. Fotografien, die seine Existenz belegen könnten, verschwinden auf rätselhafte Weise. Der Grund für all dies wird im Laufe des Filmes klar: Außerirdische sind am Werk, die im Rahmen eines Experiments Kinder verschwinden lassen und alle Erinnerung an sie löschen. Doch die Protago6 Vilém Flusser: „Fotografieren als Definieren“, in: Ders.: Standpunkte. Texte zur Fotografie, Göttingen 1998, S. 110-112. 7 Vgl. Walter Benjamin: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1977, Bd. II.1, S. 140-157.
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nistin hält unerschütterlich am Namen ihres Sohnes fest, sie kämpft gegen das Vergessen als Vorbedingung des Films. Und so muss der Film zwangsläufig enden, wenn Julianne Moore schließlich auf einem Spielplatz den Namen des Sohnes ruft und er ihr in die Arme läuft. Die Tilgung des Namens und seine Restitution bilden das Spannungsverhältnis, in dem sich filmische Amnesie-Geschichten bewegen, wobei sie – jedes Mal auf neue und andere Weise – Urgeschichten des filmischen Bildes erzählen. Diese handeln von dessen gründlicher Abnabelung sowohl von der Literatur als auch von der Fotografie. Der Film Memento aus dem Jahr 2000 von Christopher Nolan macht diese Konstellation wohl am deutlichsten sichtbar. Der unter Verlust seines Kurzzeitgedächtnisses leidende Protagonist orientiert sich in diesem Film unter anderem anhand von Polaroidfotografien, die er mit dem Namen der abgelichteten Personen beschriftet. Name und Fotografie – und zwar beide gemeinsam – dienen dem Protagonisten, der in die Vergessenheit, das heißt in einen Film geraten ist, als Nabelschnur in ein Universum der Dauer und der Kontinuität. Am Ende aber wird unter Beweis gestellt, dass Namen und Fotografien in die Irre führen, dass sie nichts mehr wert sind, weil sie immer schon zum Film gehören. Sie bilden nur noch den Nabel, der die Abtrennung von einer Welt der Erinnerung markiert, einer unvordenklichen Vorgeschichte von filmischen Bildern, die sich in der Vergessenheit konstituieren.
„Room for thought“ Die Filmgeschichten von Amnesien verweisen auf die Geschichten von Doppelgängern, von denen sie zugleich durch eine besondere ästhetische Differenz getrennt sind. Doppelgänger sind räumlich organisiert, Amnesien hingegen zeitlich, so als würde eine wiederkehrende Struktur in verschiedenen Dimensionen durchdekliniert. Das Auftauchen des Doppelgängers bedingt die Aufspaltung eines Protagonisten als ein Nebeneinander im Raum, während die Amnesie eine Aufspaltung des Protagonisten in der Zeit bewirkt. Genau darin liegt ihre jeweilige ästhetische Besonderheit. Weil die Doppelgänger sich im Raum bewegen, sich voneinander entfernen oder sich einander nähern und schließlich sogar begegnen müssen (da nur diese Begegnung sie als Doppelgänger verifiziert), sind sie in hohem Maße für handlungsbetonte filmische Darstellungen und für filmische Spezialeffekte prädestiniert. Für das Vergessen gilt dies sicherlich nicht; es wird in der Regel eher Rahmungen von Geschichten und nicht unmittelbare Ereignisfolgen bewirken. Aufgrund der anderen visuellen Beziehung zur Narration kann die Aufspaltung, die die Amnesie bewirkt, viel stärker das filmische Bild selbst betreffen. Während das Doppelgängermotiv dahin strebt, zweierlei Manifestationen einer Figur in gemeinsamen frames einander begegnen zu lassen, also das Sichtbare zu komprimieren, um auf diese Weise ein spezifisches Moment der Anagnorisis herbeizuführen, erhält das filmische Bild im Gefälle von Erinnern und Vergessen eine gestreute, mehrfache und verschiedenartige Aktualität, die nicht in eine solche räumliche Selbstbegegnung über-
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führt und die nicht buchstäblich wahrgenommen werden kann, sondern die – als eine Überlagerung – nur zu denken ist. Im Unterschied zu den special effects, die die filmischen doubles hervorbringen, macht die Amnesie den Film intelligibel. Sie führt in die Dimension des Sichtbaren die Dimension des Denkbaren ein. Zwischen Doppelgängern und Amnesien besteht ein medienästhetischer Unterschied. Die Doppelgänger streben zum Fotografischen, sie wollen auf ein- und dasselbe Bild, während dies für die Amnesie unmöglich ist; sie verlangt weniger ein fotografisches Nebeneinander als vielmehr das Nacheinander des Films. Im Lichte des Vergessens wird jede Einstellung, jedes einzelne Bild von dieser zeitlichen Auseinandersetzung bedingt. In diesem Sinne gibt das zeitliche Medium des Films, nach einer Formulierung Stanley Cavells, nicht etwa Raum für Doppelgänger, sondern „room for thought“8, Raum zum Denken. Der Film ist die vom Vergessen betroffene Fotografie, die Tilgung des Namens im Angesicht des Bildes, die das Denken und also das, was nicht sichtbar ist, mobilisiert. Charles Chaplins The Great Dictator (1940) gibt dafür ein gutes Exempel. Der Film verbindet auf ungewöhnliche Weise das Thema des Doppelgängers mit dem der Amnesie und versucht, die ästhetische Differenz beider Komplexe auszuspielen. Ein aus dem Krieg heimgekehrter namenloser jüdischer Barbier (Chaplin), seit vielen Jahren Insasse einer psychiatrischen Anstalt, leidet an einer seltsamen Form des Vergessens: Er weiß durchaus, wer er ist, aber er glaubt, dass er eben erst seinen Friseursalon verlassen hat; seitdem ist für ihn nichts mehr geschehen. Als er nach Hause zurückkehrt, hat sich die Welt ohne sein Wissen verändert: Der Diktator Hynkel (ebenfalls Chaplin) hat die Macht ergriffen. Der Barbier repräsentiert den Blick einer ehrwürdigen Vergangenheit auf eine Gegenwart, mit der er aus Unwissenheit immer wieder in Konflikt gerät und der er in einer Serie von Slapstick-Situationen gerade dadurch immer wieder entgeht. Er negiert die Gegenwart zugunsten einer vergangenen Zeit, die sich immer weniger sehen, immer mehr nur noch denken lässt. Als er am Ende des Films mit Hynkel verwechselt wird und Gelegenheit hat, an dessen Stelle anlässlich einer Militärparade zu den Massen zu sprechen, steigert er sich in eine flammende Lobrede auf die alten Ideale von Gleichheit, Gerechtigkeit und Demokratie. Der Jubel der Massen, den der Barbier mit seinen Worten auslöst, gehört zu den verstörendsten Momenten des Films. Hat man ihn wirklich gehört? Oder ist seine Rede mit der Rede Hynkels, die nur aus unverständlich hervorgestoßenen Lauten besteht, identisch geworden? Dies bleibt in der Schwebe. Es gibt in diesem Film keine Anagnorisis. Die Doppelgänger, der namenlose Barbier und der Diktator Hynkel, begegnen sich nicht. Die Fraktur der Zeit, die im Zeichen der Amnesie entstanden ist, bleibt durch die räumliche Trennung der Doppelgänger bestehen. Ihre Begegnung müsste ein Wiedererkennen bewirken, in dem die Evidenz der Gegenwart unbezwinglich wäre. Ist die alte Zeit in einzelnen häuslichen Szenen, in der Liebe zur jüdischen Wäscherin und in idylli-
8 Stanley Cavell: The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film, Cambridge/Mass./London 1979, S. 24.
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schen Ansichten eines ländlichen Exils noch bezeugt, so müssten diese Bilder gänzlich unsicher werden und verschwinden: Das Ghetto wäre zerstört, die Liebe durch Trennung unmöglich gemacht und die blühenden Landschaften des Exils durch feindliche Truppen erobert.
Die Spaltung der Bilder Ganz anders als Chaplins The Great Dictator verfährt der zwei Jahre später unter der Regie von Mervyn LeRoy entstandene Film Random Harvest. Der Film spielt in England und beginnt 1918, kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges. Erzählt wird wiederum die Geschichte eines von der Front zurückgekehrten Offiziers, der sein Gedächtnis verloren hat und der in einer Anstalt für Nervenkranke vegetiert. Seinen Namen weiß man nicht, daher nennt man ihn ‚Smith‘. Von diesem anderen Namen her, diesem Alias, entfaltet sich die Problematik des Films. Der Ersatzname führt, aus Anlass des Vergessens, eine Verdoppelung ein, deren möglichen Folgen der Film bis zum glücklichen Ende, einer sentimentalen Szene des Wiedererkennens, nachgeht. Alfred Döblin, 1941 in Hollywood bei MGM als Drehbuchautor unter Vertrag, hat die literarische Vorlage des Films in einem Brief mit folgenden Worten skizziert: [Ich] gehoere […] zu einem team, welches James Hiltons ,Random Harvest‘9 umfilmt. […] Es ist ein ‚bestseller‘, ein tief unwahres Buch, jedoch spannend und sentimental, – ein Mann, der erst im Krieg durch einen shell-shok sein Gedaechtnis verliert, darauf zuhause, in England, als ein anderer ein neues Leben fuehrt unter einem anderen Namen, durch einen zweiten Unfall sein Gedaechtnis wiederfindet, jedoch nun wieder kein Gedaechtnis hat für die Zwischenperiode, in der er sich gluecklich verheiratet hatte! Und was tut Gott, bezw. James Hilton? Er laesst diese Frau als Sekretaerin zu dem Helden gelangen, der sie natuerlich nicht wiedererkennt, ja so weit nicht wiedererkennt, daß er sie zum zweitenmale – heiratet und sich dann von ihr trennt, weil er eigentlich eine andere (im Unterbewußtsein) liebt, naemlich – die Frau aus der Zwischenzeit! Die Pointe, dass es dieselbe Frau ist, jetzt und in der Zwischenzeit, entdeckt er und auch der Leser erst auf der allerletzten Seite, mit dem allerletzten Wort. […] Und ich habe hier die Psychiatrie zu ueberwachen, o jeh.10
Für das Kino wurde diese Geschichte tatsächlich, wie Döblin sagt, „um[ge]filmt“. Der Film funktioniert anders als die literarische Vorlage.11 Was die Entdeckung im allerletzten Moment betrifft, so ist der Zuschauer nicht wie der Held erst zum Schluss, sondern von vornherein über die Identität der Frau im Bilde. Anders als der Roman dies vermag, nutzt der Film die Möglichkeit, die Spannung zwischen dem deutlich Sichtbaren und der ausbleibenden Erkenntnis des Protagonisten zur 9 James Hilton: Random Harvest, New York 1941. 10 Döblin: [Brief an Elvira und Arthur Rosin] (Anm. 3), S. 253 f. 11 Zur filmischen Umsetzung von Random Harvest vgl. Brian McFarlane: Novel to Film. An Introduction to the Theory of Adaptation, Oxford 1996.
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Geltung zu bringen. Durch die Amnesie des Helden, die für ihn den Aufschub des Wiedererkennens bewirkt, werden die filmischen Bilder auf seltsame Weise überdeterminiert, weil sich Insignifikanz und höchste Bedeutsamkeit in ihnen verbinden. Die Szene, in der die Frau (sie heißt Paula) unerwartet als Sekretärin des Helden (er heißt Charles, sein Zeit als ‚Smith‘ hat er vergessen) auf der Leinwand erscheint, gibt dafür ein gutes Beispiel. Ihr Auftritt kündigt sich zunächst als eine verzerrte und gesichtslose Stimme durch die Bürosprechanlage an. Charles nennt sie „Mrs. Hanson“ und ruft sie herein. Langsam schwenkt die Kamera von Charles in Richtung Tür. Man sieht die verschlossene Tür, viel zu lange; man weiß nicht wozu. Für einen Moment scheinen sich die Bilder von der Handlung des Films zu lösen, sie verlieren ihre Bedeutung und bringen eine undefinierbare Erwartung hervor. Dann öffnet sich die Tür, eine Frau tritt ein, mit unbewegtem, beinahe versteinertem Gesicht. Das ist Paula. Ist sie es wirklich? Man kann den Blick kaum von ihr lösen. Aber wie entwickelt sich nun die Szene? Ein geschäftsmäßiges Gespräch entsteht, in dem Charles jeden Blick auf Paula vermeidet; er schaut immer nur in seine Unterlagen. Der Blick des Zuschauers und der Blick von Charles gehen in völlig verschiedene Richtungen. Dadurch beginnt sich das Sichtbare zu teilen. Fortan muss man nicht nur sehen, was sich zeigt, sondern auch das, was Charles nicht aufhört nicht zu erkennen. Im Grunde werden alle Phänomene des Films von dieser Differenz von Wahrnehmen und Erkennen betroffen. So gibt es eine Fülle von Ansichten, Schauplätzen, Objekten, die nicht nur wahrgenommen, sondern auch erkannt werden wollen, und bei denen doch das Erkennen durch Charles ausbleibt. Geräusche, Stimmen bleiben ohne Erkennen. An einigen Stellen des Films wird diese Aufspaltung und Verdopplung des filmischen Bildes manifest – so etwa in dem Moment, als Charles nach einem Autounfall bewusstlos auf der Straße liegt und die Einstellung mit Bildern des Schützengrabens überblendet wird. Hier wird dem Zuschauer ermöglicht, mit dem Protagonisten ein Erkennen, das ihn plötzlich überkommt, zu teilen: In diesem Flashback, in dem sich zweierlei Bilder überlagern, tritt das filmische Bild als solches hervor, wie es aus einer Auftrennung von Wahrnehmung und Kognition entsteht. Es erscheint als mentales Bild. Wenn dann kurz darauf eine weitere Überblendung vollzogen wird, um einen sanften Übergang zur nächsten Einstellung zu vollziehen, dann wird plötzlich klar, dass der gesamte Film im Grunde von solchen Überlagerungen, solchen mentalen Bildern bestimmt wird. Es gibt in diesem Film keine harten Schnitte von einem Ort der Handlung zu einem anderen, sondern jeder Übergang zu einer anderen Szene vollzieht sich in einer sanften Überblendung, in der sich für einen Moment die Bilder überlagern, bevor sich das eine aus dem anderen allmählich herauslöst. So konventionell dieses Verfahren auch sein mag, hat es in diesem Film doch eine besondere Funktion. Denn auf diese Weise wird die Syntax des Films, die Folge der einzelnen Erzählabschnitte, von mentalen Bildern bestimmt. Sie bringen den gesamten Film in einen Schwebezustand, der zwischen Wahrnehmen und Erkennen entsteht. Durch ihn wird während des ganzen Films der Realismus der Kamera von einer durch die Kamera voll-
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zogenen Reflexion begleitet und in Frage gestellt.12 In Random Harvest wird auf diese Weise ein grundsätzlicher Zusammenhang zwischen der Genese des filmischen Bildes und einem Vergessen hergestellt, das die Dissoziation von Wahrnehmen und Erkennen bewirkt. Döblin hat die Figur des Charles alias Smith mit einem Blinden verglichen, der gerade erst operiert worden ist.13 Der seltsame Zustand der Spaltung von Wahrnehmen und Erkennen, die über diese Figur in Random Harvest eingeführt wird, erinnert aber zugleich an einen anderen Befund. Seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts wird in der Psychiatrie und in der experimentellen Psychologie eine Krankheit beschrieben, die man Seelenblindheit nennt. Diese Erkrankung besteht in der Unfähigkeit, das, was man sieht, auch wiederzuerkennen. Während zum Beispiel jemand, der erblindet, sehr schnell wieder seinen Weg zu finden lernt, werden „seelenblind Gewordene auch nach monatelanger Übung sich nicht in ihrem eigenen Zimmer zurechtfinden können“.14 Vor diesem Hintergrund scheint der Film Random Harvest, dessen Protagonist ebenfalls zu sehen, aber nicht wiederzuerkennen vermag, eine ganz bestimmte Funktion zu erfüllen: Er scheint Seelenblindheit zu kommunizieren. Aber Random Harvest hält diesem Anspruch einer heiklen, schwierigen, gleichsam pathologischen Kommunikation, mit der die genuine Beschaffenheit der filmischen Bilder gegenüber der literarischen Vorlage zur Geltung gelangt, nicht bis zum Ende stand. Das Happy End des Films führt in ein ländliches Idyll, in dem Charles die geliebte Frau schließlich doch noch wiedererkennt. Anders als bei Chaplin, der die sentimentalen Bilder blühender Landschaften einer bedrohlichen Ungewissheit aussetzt, bleibt der Held in Random Harvest des Krieges nicht eingedenk. Zu Beginn war Charles traumatisiert von seinem Einsatz an der Front. Deshalb seine Amnesie. Aber in einem bestimmten Moment des Films hat sich die Lage grundsätzlich verändert. Der Held leidet immer noch an Gedächtnisstörungen, aber nicht mehr als Kriegsneurotiker. Es ist die Erinnerung an die schönsten Jahre seines Lebens, an die Zeit mit Paula, die unzugänglich geworden ist. Die Problematik hat sich ganz ins Private verlagert, als ob es den Großen Krieg niemals gegeben habe. Dass der Film den Krieg anno 14 bis 18 so gründlich aus den Augen verliert, ergab zur Zeit der Uraufführung des Films durchaus Sinn, weil nämlich in diesem Moment der nächste große Krieg längst im Gange und dieses Wiedererkennen nicht erwünscht war. Random Harvest hatte Premiere in New York im Dezember 1942, genau ein Jahr nach Pearl Harbour und dem Eintritt der USA in den 2. Weltkrieg. 12 Zur Differenz von Kamera-Realität und Kamera-Reflexion vgl. Helga Lutz/Dietmar Schmidt: „Blood Simple. Poetik des Restes und filmisches Bild“, in: Was übrig bleibt. Von Resten, Residuen und Relikten, hg. v. Barbara Thums/Annette Werberger, Berlin 2009, S. 51-78. 13 Döblin: „Random Harvest (Szenenentwürfe)“ (Anm. 2), S. 461. 14 So die Darstellung bei Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist (1896), übers. v. Julius Frankenberger, Hamburg 1991, S. 88.
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„A fallen man“: Leidenschaftlicher Geschlechtertwist in Camille1 Fallen 1996 gab es auf dem jährlich in Bologna stattfindenden Festival Il Cinema Ritrovato eine Retrospektive zu Rudolph Valentino. In meinen Aufzeichnungen finde ich den Eindruck von Valentino in Camille notiert. Ich erinnere mich, wie ich hingerissen, ergriffen war von einer Geste des Sich-fallen-Lassens vor der Geliebten, an der Geliebten. Eine Geste, von der ich versuchsweise sagen könnte, dass sich in ihr absolute Verehrung und vollständige physische Hingabe mischen. Doch ist jede Deutung unzureichend, denn die Geste ergreift mich schließlich ganz physisch, wird in der Ergriffenheit unbegreiflich. Ich suchte das damals notierte Phänomen auf einer kümmerlichen DVD-Reproduktion des Films wieder auf. Es ist der Moment, da sich der Held des Films, Armand/Valentino, aus seiner Befangenheit in noch unerwiderter Liebe auf einmal löst – jedoch eben nicht, um zu handeln, vielmehr um sich erschütternd in seiner Ohnmacht zu offenbaren. Wenn er Marguerites/Nazimovas Knie unter dem kostbaren Stoff des Kleides umfasst, den Kopf an diesen Schleier über der Haut lehnt oder schmiegt, dann hat er in der Bewegung zuvor schon auf unerhörte Weise unbedingtes erotisches Verlangen mitgeteilt. Derart ist dieser Körper, diese männliche Person, die wir sehen, dem Begehren ausgeliefert, dass jeder Akt unmöglich wird. Wohin sollte er sich auch richten? Nach außen, auf die Frau, oder auf dies Ungeheure im Innern? Was bleibt, ist das Sich-fallen-Lassen in die Passivität, in ein Niedergleiten an der Oberfläche von Marguerite, das zugleich ein Hineingleiten in das eigene Innerste ist. A fallen man – der Film verweilt bei dem hingegebenen Valentino. Das löst eine Fülle von Assoziationen aus: Ein Geschlechterwechsel scheint auf − nicht die Frau, der Mann gibt sich hin, wird ein Gefallener, prostituiert sich als Schauspieler (etwas, was Fans wie Kritiker an Valentino bemerkt haben) –, ebenso erscheint eine Empathie des Mannes mit der Prostituierten. Im Kino, anders als in Alexandre Dumas’ Roman, teilt sich die Anteilnahme nicht durch viele Worte mit, sondern durch Mimesis. Sage ich „a fallen man“, so schwingt zudem die Erinnerung an einen berührenden Film von Marjorie Keller aus den 70er Jahren mit: A Fallen World.
1 Camille, USA 1921, Produktion: Nazimova Productions, Verleih: Metro Pictures Corp., Verleihstart 26.9.1921, Regie: Ray Smallwood, Kamera: Rudolph Bergquist, Ausstattung, Kostüme: Natacha Rambova, Drehbuch: June Mathis nach Alexandre Dumas d.J.: La Dame aux Camelias (1848), Darsteller/innen: Alla Nazimova (Camille, Marguerite Gautier), Rudolph Valentino, Zeffi Tillbury (Prudence), Rex Cherryman (Gaston) u. a.
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In ihm kommt eine Geschichte der Italiensehnsucht zum Ausdruck wie zur Reflexion, die sich an den Fragmenten, den Überresten der antiken Bildungswelt entzündet. Im Angesicht von Valentino kann es sich um die Pasolinische Sehnsucht nach einem verlorenen Italien des ländlichen Lebens, dem Süden, handeln und um eine Verheißung von (italienischer) Männlichkeit, die einzig aus deren Gebrochenheit strahlt.
Ein Star des Kinos Valentino als Filmstar hat Ähnlichkeit mit Elvis Presley: Beider Filmkarrieren unterlagen einer gründlichen Missachtung der Kritik, während das Publikum, insbesondere das weibliche, ihnen einen immensen Erfolg bescherte. Abgesehen davon, dass ihre Filme als trivial gescholten wurden, glaubte man, bei beiden eine Zerstörung durch diese Filmarbeit beobachten zu können: bei Elvis den Niedergang eines Rock’n’Roll-Sängers, bei Valentino die Verhinderung einer männlichen Schauspielkarriere unter weiblichem Einfluss. Soviel mag richtig sein, Elvis wie Valentino entsprechen nicht dem ‚klassischen‘ Filmstar. Sie sind etwas von den Regeln Hollywoods und der Filmkritik Ungezähmtes: nämlich „Star des Kinos“.2 Dieser ist zunächst eine Formation des Frühen Kinos: 1990 vermerkte Richard Kosarski in seinem Beitrag zur Geschichte des amerikanischen Films die Diskrepanz zwischen Valentinos festem Platz in der amerikanischen Kultur und seinem Ansehen unter Stummfilm-Spezialisten.3 Die Präsenz im kulturellen Gedächtnis verdankt sich den Fans, dem Publikum; der Mangel an wissenschaftlicher Aufmerksamkeit steht hingegen in der Tradition der abwehrend tendenziösen zeitgenössischen Kritik. Die Filmwissenschaftler verhielten sich allgemein in ihrem Denken eher auf Seiten der Filmkritik als auf der des Publikums; noch die Entdeckung des Frühen Kinos geschah im Zeichen von Vertov und Eisenstein, den kritisch gesicherten Helden, und nicht im Licht einer derart ambivalenten Erscheinung, wie Valentino es war. Erst die feministische Filmgeschichtsschreibung mit ihrem Interesse am weiblichen Publikum, an der Zuschauerin, sprengte den Ausschluss. 1991 erschien Miriam Hansens Buch Babel & Babylon.4 Es mündet am Ende in drei Kapiteln, die Rudolph Valentino gewidmet sind. Hansen entdeckte die Ursprünge des glanzvollen Kino-Phänomens Valentino in seinem weiblichen Publikum. Und sie machte ein subversives Moment in diesem Phänomen sichtbar: Der − in Mulvey’scher Tradition festzustellenden − Einschreibung von Geschlechterdif2 Björn Eckerl trifft diese Unterscheidung zwischen Filmstar und Star des Kinos für Elvis in: Elvis im Kino. Was wir von Elvis-Filmen über Elvis und das Kino lernen können, Magisterarbeit, Frankfurt am Main 2008. 3 Richard Kosarski: An Evening’s Entertainment. The Age of the Silent Feature Picture, 19151928, Berkeley/Los Angeles/London 1990 (= History of the American Cinema, Bd. 3). 4 Miriam Hansen: Babel & Babylon. Spectatorship in American Silent Film, Cambridge/London 1991.
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ferenz und -hierarchie in den Filmen opponiert Valentino, er spielt mit ihr. Das vermag er im Einvernehmen mit seinem Publikum, aus einem Elan, der „pre-hollywood“, dem Frühen Kino eigen ist. Wenn wir heute Valentinos Queerness avant la lettre wahrnehmen, dann teilen wir den Genuss der zeitgenössischen Zuschauerinnen. Wir nehmen aber auch die Arbeit von Frauen wieder auf, die einmal Valentino im Film, im Kino Raum gaben: June Mathis, die Drehbuchautorin, die Valentino für The Four Horsemen aussuchte, den Film, der ihn berühmt machte; Alla Nazimova, die Schauspielerin, die ihn als ihren Partner in Camille haben wollte, ein Film, den sie selber produzierte; und schließlich Natacha Rambova, die Setdesignerin von Camille und Salome, einem Film, der erst spät zu einem subkulturellen Ruhm gelangte. Rambovas Einfluss auf die Karriere ihres zeitweiligen Ehemanns wurde sattsam bekannt gemacht und sein Verhalten als unmännliche Hörigkeit inkriminiert. Amy Lawrence stellt demgegenüber Valentino entschieden als politisches Subjekt und Kritiker des Produktionssystems heraus.5
„A momentary aurora“ 6 Valentino ist ein passageres Phänomen in mehrerlei Hinsicht: Er kam aus Europa nach Amerika, versuchte aus einem unwillkommenen Immigranten zu einem USBürger zu werden; Starruhm erwarb er in der kurzen Zeitspanne des Übergangs vom Frühen Erzählkino zum „Classical Hollywood“; schließlich und nicht zuletzt ist Valentino eine Erscheinung des Übergangs von der Moderne des europäischen Frühen Kinos zu einer des amerikanischen, die sich im Laufe der 20er Jahre auf dem Weltmarkt durchsetzte. Die Entstehung des Kinos hängt bekanntlich mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen im Zeichen von technischem und ökonomischem Fortschritt zusammen. Alle Versuche, den Film aus diesen Zusammenhängen zu lösen, ihn als reine Kunst – was auch immer das ist − zu kultivieren, gehen an der revolutionären Bedeutung dieses ersten massenmedialen Phänomens vorbei. Die Industrialisierung zog im 19. Jahrhundert die Massen in den Kapitalprozess hinein. Die Landbevölkerung etwa, die bis dahin in einem ihrer Arbeit entsprechenden sozialen Alltag und in einer damit zusammenhängenden Kultur lebte, oder Frauen, die im Privaten, der Hausarbeit verpflichtet, eine Kultur des Hauses pflegten − sie alle wurden mehr und mehr im industriellen Arbeitsprozess gebraucht und aus ihren Lebenswelten entfernt. Der Film und das Kino reagierten auf ein Vakuum an Sozialem und Kulturellem, das dadurch für die Industriearbeiter/innen und Angestellten entstand.
5 Amy Lawrence: Rudolph Valentino. Italian American 1919-1926, Unveröffentlichtes Manuskript. 6 Diese und die folgenden beiden Überschriften sind Zitate aus den Zwischentiteln des Films Camille.
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Der enge Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Films und der Arbeitsökonomie ist bei Etienne Jules Marey zu beobachten.7 Regeneration der Arbeitskraft wird im Zeichen ihrer möglichst effizienten Nutzung den Unternehmern zum Thema; zum Problem wird sie jedoch auch den Arbeitenden selber, wenn ihnen nämlich die traditionellen Rhythmen von Arbeit und Freizeit genommen sind. Film und Kino bilden Räume der Erholung. Zugleich aber dringen in diese neuen Räume kulturelle Momente von unten ein, Momente sich bewusst werdender unterdrückter, von der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossener, missachteter Kulturen. Sie finden im Film, im Kino ihre Emanzipation vom Nischendasein, tauchen in der modernen Öffentlichkeit auf und treten in Austausch miteinander. Eine Kultur der Massen, die von Differenzen lebt, die nicht ausschließt – auch nicht die Kultur des Bürgertums −, wird in der Frühzeit denkbar. Das Kino der Anfangsjahre mit seinen gemischten Programmen, seinen Burlesken und Zauberstücken, seinen Naturaufnahmen und Liebesgeschichten präsentierte diese blühende Vielfalt. Das Potenzial in diesem Sinne, das Valentino in die USA einwandernd mitbrachte, lässt sich vielleicht ein wenig an Hand von Filmen Elvira Notaris vorstellen – dieser wunderbaren Regisseurin des frühen italienischen Kinos.8 Sie nahm den neapolitanischen Alltag der armen Leute auf, ihre Melodramatik der Emotionen und Leidenschaften, die im Lied kultiviert wurden. Der Möglichkeit, Ähnliches in die Produktionen Hollywoods zu tragen, stand jedoch die Politik, die antiitalienische Stimmungsmache (wie Amy Lawrence ausführt), entgegen. Das ‚Italienische‘ Valentinos wurde in Narration und Rolle verdrängt, in vage exotische Reize zerstreut (worauf schon Miriam Hansen hinwies). Doch in seiner leiblichen Erscheinung entging Valentino der Zensur dadurch, dass er sie dem Publikum überaus erfolgreich zum Konsum anbot. Auf diesen Erfolg konnte die Filmwirtschaft nicht verzichten. In den USA, früher und durchgreifender als in Europa, wurde ein zweites Interesse des Kapitals an der Masse bildend: das Interesse an ihr nicht so sehr als Arbeitern, sondern als Konsumenten und insbesondere Konsumentinnen. Das US-amerikanische Kino der späten 10er und frühen 20er Jahre, in das Valentino eintrat, ist das einer expandierenden Konsumkultur. Was ist darunter − ohne denunzierenden Beigeschmack – zu verstehen? Ich denke, die oft übersehene Bedeutung von Konsumkultur liegt darin, dass sich eine Fähigkeit bildet, in den zur Ware gewordenen Dingen und Menschen etwas Wirkliches zu entdecken und es sich zur Erhaltung und zum Glück des Lebens einzuverleiben. Es ist mit anderen Worten die Fähigkeit, die massenkulturell gebildet werden kann. Im Kino und angesichts der Filme 7 Vgl. dazu Anson Rabinbach: Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, Berkeley/Los Angeles 1992. 8 Von Elvira Notari sind nur drei Filme erhalten, darunter ’A Santa Notte, 1922; Giuliana Bruno hat aus den Spuren dieser Regisseurin Umrisse ihrer Arbeit rekonstruiert und uns eine Ahnung vom Phänomen des frühen italienischen Kinos vermittelt. Vgl. Giuliana Bruno: Streetwalking on a Ruined Map. Cultural Theory and the City Films of Elvira Notari, Princeton 1993.
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– die sich weder essen noch mit nach Hause nehmen lassen − handelt es sich um die Entdeckung von wahrgenommenen Wirklichkeiten, Wahrnehmungswirklichkeiten, an die sich Phantasien anlehnen und ein Spiel entfalten können. Während die kulturkonservative Gesellschaft der Subsumtion der Waren unter die Mehrung des Kapitals Raum gibt, entsteht im Kino ein „Möglichkeitsraum“, der die bürgerlich-demokratische Öffentlichkeit in den Schatten stellt.9 Dumas’ La Dame aux Camélias entwickelte sich im 19. Jahrhundert auf der Theater- wie der Opernbühne zu einem Publikumsliebling. Der Film Camille jedoch nahm dem Roman von Alexandre Dumas die Möglichkeit, eine neue Vergesellschaftung durch den Konsum hindurch zu thematisieren. Darin ist er 1921 aktuell und selbstreflexiv. Armand, der gerade frisch vom Lande kommt, entdeckt in der Kokotte, der zur Ware gewordenen Frau, eine Wirklichkeit, die ihn zur Liebe, inmitten des Amüsierbetriebs zur Sehnsucht nach wirklichem Miteinanderleben bewegt. Valentino ist der Vermittler, der diese Fähigkeit zur Entdeckung und zum Spiel der Phantasie im Publikum weckt.
„A plaything“ Ein großer Star des europäischen Kinos war Asta Nielsen. Ihr gelang es, die Emanzipationsbewegung der Frauen, eines weiblichen Lebens in Differenz zu dem des Mannes, in den Film zu tragen. Das war nicht auf die Geschichten aus dem Alltag beschränkt, sondern schlug sich in der Form, in der Ästhetik der Filme nieder, deren Bildung von der Schauspielerin ausging. Weder für den Italiener Valentino noch für die Russin Nazimova war in Hollywood etwas Vergleichbares möglich. Nazimovas Spiel legt einerseits eine betonte Künstlichkeit an den Tag, die weit entfernt von Nielsens Anlehnung an Körper und Alltagsdinge ist, andererseits orientiert es sich an der Hysterie. Die lange Schluss-Sequenz von Camille ist eine einzige Offenbarung des Leidens, eine Entblößung der unterdrückten Seele, des unterdrückten Körpers. Und das, obwohl die Schauspielerin zugleich Produzentin und geheime Regisseurin des Films ist und ihn mit zwei anderen Frauen gemeinsam realisiert. Aber etwas gelingt auf diese Weise: Die durch die Dumas’sche Heldin vorgezeichnete Gestalt der Frau als Ware wird im Zusammenspiel von Drehbuchautorin, Setdesignerin und Schauspielerin ausgestellt. Über die kinematographische Ausstellung lässt sie sich einer möglichen Aufhebung entgegentreiben – einer, die im (weiblichen) Publikum stattfindet. Auf diesem Weg zur Aufhebung der Warengestalt der Frau spielt Valentino offenbar eine zentrale Rolle. Gerade im Verhältnis zur Hyperaktivität Nazimovas frage ich mich, was tut eigentlich Valentino in diesem Film? Er steht herum, er schaut, er lässt sich fallen… In den seltenen Momenten von Aktion bleiben seine Handlungen unvollendet, enden im Leeren, gerinnen zu Posen, erreichen nichts. Spielt er überhaupt? „Das 9 Zum „Möglichkeitsraum“ vgl. auch Ute Holl: Feld, Riss, Raum: Zur Topologie des Kinos, Habilitationsschrift, eingereicht an der Humboldt-Universität Berlin, Herbst 2008.
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einzig Positive des Films“, schrieb Siegfried Kracauer kurz nach Valentinos Tod über The Eagle, „ist die Schönheit seines Helden“. Am Ende des Textes heißt es nochmals: „die bloße Schönheit eines Darstellers, der sonst nichts darstellen kann“.10 Béla Balázs sah mehr, er sah den Blick Valentinos: „Es war eigentlich nur ein seltsamer Blick und immer derselbe. Aber er vermochte den Kitsch von sieben Akten zu überstrahlen. Wie wenig doch genügt, um Leben in einen Film zu bringen. Ein Blick. Wieviel das ist.“11 Schönheit und Blick. Er verführt mit seiner bloßen Erscheinung die Frauen vor der Leinwand. Aber indem er sie anzieht, indem er sich zum Objekt macht, an das sie ihre Phantasien lehnen können, verführt er sie auch zu seinem eigenen entdeckenden Blick, einem Blick, in dem äußerste Passivität und − die Warenoberfläche durchdringende − Aktivität sich mischen. Mit Valentinos Blick entdecken die Zuschauerinnen die Wirklichkeit in der Darstellung der Nazimova und wenden gleich ihm ihr die Liebe zu. Nazimova im Hollywood der 20er Jahre, anders als die Nielsen in den 10er Jahren, brauchte ein männliches Gegenüber im Film, um das Publikum die (Selbst-)Wahrnehmung, die ihr Spiel inkorporiert, wahrnehmen zu lassen.
„You are different“ In der ersten Szene im Opernfoyer sehen wir zuerst Valentino/Armand und einen Freund, Gaston, auf der Freitreppe stehen. Mit ihm nehmen wir wenig später oben vor dem Saalausgang Nazimova/Marguerite wahr. Fast die ganze Szene über verharrt Valentino auf den Stufen, nahe dem ausladenden Geländer, während Nazimova hinuntersteigt, Marguerite sich Armand vorstellen lässt, sich über ihn mokiert. Er rührt sich nicht, er schaut sie an und schaut unter sich, nachdem sie ihn hat stehen lassen. Im Weitergehen blickt Nazimova/Marguerite mehrfach über die Schulter zurück. Doch er − in sämtlichen Gegenschnitten − verharrt, immer noch auf demselben Fleck, in derselben Pose, in sich gekehrt, ihr nachschauend, nachschmeckend fast. Ihr Appartement bildet den zweiten und anderen Raum, in dem sie sich begegnen. Nach dem Eintreten ist er wieder stehen geblieben, schlingt die Hände ungeschickt vor seinem Körper ineinander. Nazimova/Marguerite zieht ihn in dieser Schlinge am Zeigefinger nach sich zu der lauten Gesellschaft am Fensterbogen hin. Unwillkürlich lässt er sich neben ihr auf dem Polster nieder. Und schaut sie sogleich von der Seite an. Wenn sie sich erhebt, folgt ihr sein Blick, oft in einer Wendung des ganzen Körpers; wenn sie tanzt, wenn sie singt, schaut er sie immer noch unverwandt an. Bis er schließlich aufsteht, aber nur um sich an den Rand der Ge10 Siegfried Kracauer: „Rudolf Valentino“, Frankfurter Zeitung vom 17.11.1926, wiederabgedruckt in: Ders.: Werke. Kleine Schriften zum Film 1921-1927, Frankfurt am Main 2004, Bd. 6.1, S. 271 f. 11 Béla Balázs: „Der junge Maharadscha“, in: Der Tag, 29.2.1924, wiederabgedruckt in: Ders.: Schriften zum Film, München 1982, Bd. 1, S. 278 f.
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sellschaft zu bewegen, ein deutliches Zeichen der Distanzierung. Die Entfernung ist jedoch zugleich Näherung an das, was er in Marguerite wahrnimmt und was die Gesellschaft nicht sieht. Für einen Augenblick erfasst die Kamera ihn aufrecht am rechten Bildrand und sie am linken, gegenüber. Er schaut sie weiter an, und als sie den Raum verlässt, ist er wieder aufs Polster gesunken, gesunken in die Schau nach Innen – die Stirn gekraust, den Mund leise bewegt von einem aufsteigenden Seufzer. Zurückgekommen fordert sie ihn nicht ein zweites Mal auf sich zu bewegen. Im Gegenteil, als sie tanzen will, ergreift sie die Hand des Freundes, zu dem er sich gerade gesellt hat, und stößt ihn zurück. Er steht dumm rum. Ihre Geste unterstreicht das. In Bewegung setzt er sich bei den ersten Anzeichen ihres Leidens. Sie hustet, er schaut, das Gesicht in einer Spur von Schmerz verzogen, auf sie. Nazimova verlässt den Raum, Armand eilt zu Prudence, sie zu befragen: Was ist? Dann stürzt er, stürzt Valentino in einer plötzlichen Wendung des ganzen Körpers zu Marguerites Schlafgemach hin, öffnet die Tür, tritt ein. Über Momente des Sadomasochistischen in den Geschlechterbeziehungen der Valentino-Filme ist geschrieben worden.12 Doch die Filme auf den Spiegel psychoanalytischer Erkenntnisse über die Verbindung von Schmerz und Lust, über das Erwachen männlicher Potenz beim Anblick leidender Frauen zu fixieren, überlässt sie der Verdinglichung, der Warenform. Ich möchte auf etwas anderes aufmerksam machen: Während Nazimova in der Künstlichkeit der hoch stilisierten Kleidung – die der Stilisierung des Dekors korrespondiert –, aber auch in der Künstlichkeit der Gesten den lebendigen Körper verdrängt, um den kostbaren Gegenstand darzustellen, ist das Husten eine buchstäblich erschütternde Körperregung. Armand, den Valentino so offensichtlich in seiner Versunkenheit in eine Wahrnehmung spielt, die ein Verborgenes der Marguerite birgt oder zu bergen sucht, vermag seine Liebe in Bewegung im äußeren Raum umzusetzen, sobald dort ein Moment dieses Verborgenen vernehmbar wird, wie entstellt auch immer.
Strategien der Frauen – Utopie eines Mannes June Mathis, Natascha Rambova, Alla Nazimova − sie haben zu dritt filmische Strategien entwickelt, um die Wirklichkeit von Frauen und von Frauenliebe in den Film zu bringen (anhand von Salome, der Zusammenarbeit von Nazimova und Rambova, hat Patricia White das subtil herausgearbeitet13). Es sind Strategien der
12 Unter anderem von Miriam Hansen (vgl. Hansen: Babel & Babylon [Anm. 4]) und Gaylyn Studlar: „Discourses of Gender and Ethnicity. The Construction and De(con)struction of Rudolph Valentino as Other“, in: Film Criticism 13/2, 1989, S. 18-35, und dies.: This Mad Masquerade: Stardom and Masculinity in the Jazz Age, New York 1996. 13 Patricia White: „Nazimova’s Veils. Salome at the Intersection of Film History“, in: A Feminist Reader in Early Cinema, hg. v. Jennifer M. Bean/Diane Negra, Durham 2002, S. 60-87.
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Vergegenwärtigung14, die die Drehbuchautorin ins Spiel bringt – Greta Garbo als Camille wird gut ein Jahrzehnt später im nostalgischen Setting einer 19. Jahrhundert-Paris-Seligkeit auftreten müssen –; Strategien der Verräumlichung, die die Setdesignerin entwickelt und damit nicht nur die Geschichte der Teleologie enthebt, sondern auch eine Reflexion auf die patriarchale Theatralität der Bühne und die weibliche Imaginationskraft des Kinos zur Darstellung bringt. Es ist die Strategie der Verkehrung, insbesondere der Verkehrung des festgeschriebenen Geschlechterverhältnisses. Auf diese List will ich zum Schluss zu sprechen kommen. Die bürgerliche Kultur legte den Mann auf den Geist, das Entscheidungs- und Handlungssubjekt fest – und die Frau auf Natur, Passivität, Unmündigkeit. Männer sind die Wissenden und Realitätstüchtigen, Frauen die Unwissenden, Naiven, Unerfahrenen. In Camille findet eine radikale Verkehrung dieser Zuschreibungen statt. Ganz deutlich wird das im Mittelteil, der Armand und Marguerite in bescheidenen Verhältnissen auf dem Lande lebend zeigt. Schon in ihrer imaginativen Reaktion auf Manon Lescaut, während Armand vorliest, äußert sich bei Marguerite ein Eingedenken der realen Machtverhältnisse, ein Schatten der Realität fällt in ihr Gesicht. Wenig später nimmt dieser Schatten leibhaftige Gestalt an: Armands Vater dringt in die Häuslichkeit der Liebenden ein. Trotz des Schocks kann sie sich mit ihm auf Kosten ihres Liebesglücks einigen, weil sie, die Kurtisane, die sich das Amüsement der Männer zum Beruf gemacht hat, ein Wissen von den repressiven, frauenfeindlichen gesellschaftlichen Verhältnissen hat. Dieses Wissen von Marguerite im Film ist auch das von Nazimova im Filmgeschäft. Armand wird – anders als im Roman – von Anfang bis Ende als der unwissende, realitätsuntüchtige, in seiner liebenden Wahrnehmung aufgehende Mann gezeigt. Das manifestiert sich nicht nur in den Momenten der Hingabe, sondern auch dann, wenn er mit der Realität konfrontiert wird – er versteht sie nicht, sieht nicht einmal ihre Zeichen. In Augenblicken der Zurückweisung durch Marguerite mantelt er sich zu bloßer Form wütender Männlichkeit auf, die keinen Inhalt hat – seine hocherhobenen Fäuste bleiben in der Luft stehen, er sinkt in sich zurück, und die Liebesgeste, der Versuch, sie erneut zu umfassen, erstarrt ebenso im Leeren. Der Roman endet mit der Rückkehr, der Einkehr des verlorenen Sohnes in die patriarchale Ordnung, einem ‚Erwachsenwerden‘ – nicht so der Film. Valentinos Darstellung des Armand kennt nur einen Wirklichkeitssinn: den Sinn für ein Mögliches, eine mögliche Wirklichkeit der Frauen, in der die Geschlechter in einem menschlichen, gesellschaftlichen Verhältnis miteinander leben. Valentino verführt durch eine Schönheit des Mannes, die ohne die Kälte klassischer Statuen ist, vielmehr in der Körperaura etwas Weibliches transportiert. Er nimmt uns mit in seinen Blick, der die Warenverhältnisse durchdringt und in ihnen eine Wirklichkeit aufnimmt. Er verharrt auf der Schwelle zwischen dem Aufbruch aus der alten Welt und der Assimilation an die neue. Dadurch wird er zu
14 Im Vorspann des Films heißt es bei Dumas’ La Dame aux camélias: „comes to mind basque and crinoline. But why not a Camille of today?“
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dem utopischen Mann für die Frauen, die ihn in den Film holen, und für die Zuschauerinnen, die er ins Kino holt: Er entdeckt ihr Leben. Wirklichkeit, die der Film in unserer Wahrnehmung entstehen lässt, und von der in diesem Text die Rede war, ist die mögliche, das Mögliche. So erweckte Valentino einmal leidenschaftliche Hoffnung und Hoffnung in der Leidenschaft – wie noch ex negativo der Massenaufruhr der Frauen bei Valentinos Tod bezeugte. Das Wunderbare des Films ist jedoch, dass mit jeder Kinoaufführung die entbehrte Erscheinung des Geliebten wieder da ist und womöglich klarer da ist als zu Zeiten, als der Star noch lebte. Kinos, aus denen die Filmgeschichte verschwindet (und das ist − bis auf ganz wenige Ausnahmeorte – heute der Fall), betrügen uns um Hoffnungserfahrungen. Der Schwund liegt weniger an den Kinos und deren Betreibern als an dem herrschenden Kulturmissverständnis mit den entsprechenden finanziellen Folgen. Leidenschaft, die Valentino entdecken lässt − solange wir sie nicht leben können, gilt sie dem Kino, gilt sie einem Möglichen.
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Bild und Leidenschaft
I would like to begin with a reminiscence. I was born and raised in New York City, at a time when television had not yet appeared on the everyday scene − i.e. in the 40s and early 50s. In some respects I don’t care to think much about that time, since it dates me more than I would like. But I am also grateful to have experienced that period and only with the passing of time have I come to realize how important it was to have been grown up in a world before the advent of television as the dominant domestic medium. In short, my childhood was spent during those Radio Days that Woody Allen has immortalized in his film, and like his film, I experienced those days in a domestic setting. But for me they were not so much Radio Days as Radio Nights, since they tended to begin in the evening and last late into the night. They brought me my first experience of what at the time were called „serials“, where I encountered for the first time in the broadcast media the relationship between narrative, repetition and seriality, usually in the form of recurring figures such as „The Lone Ranger“ and his faithful ‚sidekick‘ „Tonto“. These after-dinner „serials“ − often sponsored by breakfast „cereals“ − were not quite the same as the „soap operas“ broadcast in the afternoon. The latter dealt with the domestic problems of everyday life: marriage, love, heartache etc. These were directed to a primarily feminine audience, women who worked at home and who at the time were called „housewives“ as though they were married to their „houses“ rather than to their husbands, which may after all have been a more accurate description of their situation. But many of these „housewives“ had known a different fate during the Second World War, when they worked in factories and offices to replace the men who were fighting and dying abroad. After the war, however, with the return of their husbands, many of them were sent back home where they reassumed their traditional role of caring for the household, surely not without a certain melancholy. It was to this Emma-Bovary-type melancholy that the afternoon radio „soaps“ appealed with figures such as „Stella Dallas“, a radio adaptation of the 1937 film of King Vidor, starring Barbara Stanwick, about a workingclass „girl from the midwest“ who married out of her social class, was subsequently divorced and then sought to fulfill her dreams through her daughter, Laurel. But the world of the heroes that populated the after-dinner radio „serials“, as opposed to the „soaps“, was quite different. It was anything but everyday and domestic, and already anticipated what Hollywood, by virtue of the anti-Communist witch-hunts of the late 40s and early 50s was at the same time in the process of becoming: a factory for the production of a manichean worldview via films recounting the struggle and triumph of what today is known as the ‚good guys‘ over the ‚bad guys‘. This struggle between the forces of Good and Evil − significantly always
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personified in individuals (hence the designation ‚guys‘) − took place in various settings: the Wild West of the „Lone Ranger“, the modern City of „Superman“ and „Batman and Robin“ (but also of „Wonder Woman“ just to give girls something to identify with) − all of whom in turn personified the self-consciousness of a country, the United States, that had recently led the triumph over the forces of Evil, again personified in the Axis powers, and that above all considered itself invulnerable, for never having lost a war. (It was only many years later that I learned that the Japanese shared exactly the same attitude prior to 1945.) But the experience of growing up with such radio serials was premonitory not just in terms of the content − that of heroic individuals saving the world through their acts − but also through certain formal tensions that were specific to the medium itself. One of the most memorable serials was entitled „The Shadow“, a figure who fought criminals and invariably brought them to justice. Each program in this series began with the following announcement: „Who knows what evil lurks in the hearts of men? The Shadow knows!“ Two points are interesting about this mantra. First, the notion that deep down, in the „hearts of men“ there lurks an evil so well hidden that it is difficult to discern, much less to combat. Second, the power that allowed „The Shadow“ to successfully triumph over such lurking evil: the power, namely, to become invisible and thereby to see without being seen. The situation of „The Shadow“ in retrospect seems to me to sum up the situation of the radio image as I experienced it in those years: it allowed one to see not just without being seen, but also without seeing. On the one hand, since these radio plays revolved around individual figures, they conformed to a sense of reality as consisting above all of a world of individuals. On the other hand, as „The Shadow“ knew, the hearts of those individuals concealed more than their figures revealed. And it was radio that allowed its listeners the sense of being able to see into those hearts, together with „The Shadow“, and thus possibly to overcome the threats they might contain. Like „The Shadow“, the radio listener had the power of seeing what never appeared but was only conveyed by sounds, while at the same time experiencing the power that such sound-images could produce and which often exceeded in its emotional intensity the visual images that appeared in the light of day. Although most of the radio serials I listened to as a child were organized around the adventures of heroes acting as individuals, there was a second type of radio serial that was not organized in that way, but rather around a genre, such as the then very popular one of „science fiction“. These programs tended to be aired once a week, instead of two or three times, as with the individual-hero-based serials. And precisely because of the absence of a single organizing figure, such programs often could reveal structures that were taken for granted or obscured by the more individualistic serials. One such radio program was called „Dimension X“, which adapted well-known „science fiction“ stories so that they could be told within the space of 30 minutes. Some of my most vivid memories from this period come from this program, which I listened to regularly at night, with only the small glimmer of light shining from a wooden radio into the darkness of the room. The story I recall most clearly was a dramatization of Robert Heinlein’s The Green Hills of Earth. In this story, Heinlein, who
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was a well-known science fiction writer of this period, recounts the space travels of „Noisy Rhysling“, a song-writing engineer who had been blinded by radiation, a kind of American cross between the blind Greek oracle, Tiresias, and Odysseus dreaming of his return home, as the following refrain from probably his most famous song suggests: „We pray for one last landing / On the globe that gave us birth; / Let us rest our eyes on the fleecy skies / And the cool, green hills of Earth“.1 The story recounts a landing on a distant planet that resembles exactly the childhood world of the space travelers: it is vaguely reminiscent of the „Sirens“ episode in the Odyssey. The travelers are delighted to meet again the long-gone figures of their childhood, except that these figures turn out to be evil aliens intent on preventing those travelers from ever returning home to those „cool green hills of Earth“. What I remember most, however − and this is the reason I am telling this story here at all − is a small but significant detail in this story: the only indication that anything might not be quite right with these familiar figures, who resemble exactly the friends and relatives of childhood, is a greenish hue that they give off; it is this greenish color that will prevent many of the travelers from ever returning to „the green hills of earth“, thus suggesting that the reversal of time in space can only have a lethal outcome. Why do I go into such detail here? Because this experience, listening to the radio version of „The Green Hills of Earth“ was the first form in which I encountered a problem that in the following years continued to haunt much of the work I have done ever since. This problem has a double aspect, since it involves both ‚the visibility of the invisible‘ and, inseparably linked to it, that of the ‚invisibility of the visible‘. Far from excluding each other, as opposites are commonly expected to do, ‚visibility‘ and ‚invisibility‘ seem here to be inextricably linked, although not simply the same. The prominence, in the story, of repetition and recurrence, indeed of doubling, suggests that another term should be introduced to describe this curious relationship of non-exclusive opposition, that of ‚divisibility‘. Visibility divides itself into what is visible and what is invisible. And given the fact that this is also a question of life and death, of living and dying, the process of divisibility can be said to produce not just appearances, but apparitions (which in English, unlike its ‚false friend‘ in French, signifies ‚ghosts‘ and not just appearances). Listening to the radio in that darkened bedroom, I think what I experienced was something like the apparition of such divisibility, by which the invisible seemed to become visible, but only by making the visible invisible. Much later I learned that this was a phenomenon − if one can call it that − quite familiar to philosophers and aestheticians who generally tried to interpret it with the use of words such as „fantasy“ and „imagination“: what Kant, for example, in Kritik der reinen Vernunft calls „productive“ as distinct from „reproductive imagination“, which does not merely reproduce what one sees but which produces representations of things that were never seen (and perhaps could never be seen). But I 1 Robert A. Heinlein: „The Green Hills of Earth”, in: Id.: The Green Hills of Earth, New York 1951, p. 125-134, here p. 134.
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never felt that such concepts were capable of accounting for the strange capacity of those invisible ‚images‘ to produce feelings whose intensity seemed in direct proportion to their indistinct and relatively indeterminate − non-objective − quality. When several years later television began to appear in the homes of a few friends, and groups congregated around miniscule screens to view many of the same „serials“ that I had listened to on the radio, the shock of the TV image was strong enough to make me give up listening, much less viewing, such programs altogether. Upon seeing the TV image of the „masked rider“, aka „The Lone Ranger“, truly visible with his mask, his white horse and his „Tonto“, I remember being seized by a sensation of disgust at the heaviness of the images, whose movements were now visible on the tiny TV screen.2 The bodies and movements of these figures seemed weighted down by their very visibility, in contrast with the ethereal quality of those invisible figures that had emanated for so many years from that tiny yellow radiolight-bulb shining in the dark. Given that the invisible visibility of those radio images was conveyed by sounds that were not exclusively linguistic − they included music and non-linguistic soundeffects − but that nevertheless relied heavily on language, it is not entirely surprising that the question of the invisible image reemerged many years later when I began to read and reflect on texts of literature. In reading literary texts, I found something similar, although not identical, to my radio experience. The vividness of the descriptions those texts contained seemed often to be in direct proportion to the indeterminacy of the images involved. As a college student, I will never forget the passionate indignation of a much respected professor of American literature as he inveighed against the way in which Poe described the main gallery in The Fall of the House of Usher: The room in which I found myself was very large and lofty. The windows were long, narrow, and pointed, and at so vast a distance from the black oaken floor as to be altogether inaccessible from within. Feeble gleams of encrimsoned light made their way through the trellised panes, and served to render sufficiently distinct the more prominent objects around; the eye, however, struggled in vain to reach the remoter angles of the chamber, or the recesses of the vaulted and fretted ceiling. Dark draperies hung upon the walls. The general furniture was profuse, comfortless, antique, and tattered. Many books and musical instruments lay scattered about, but failed to give any vitality to the scene. I felt that I breathed an atmosphere of sorrow. An air of stern, deep, and irredeemable gloom hung over and pervaded all.3 2 The fact that the television image included not just figures but movements is of course decisive, even if I cannot dwell on it here. Many of the radio programs I listened to originated either in comic books, films or other illustrated publications. But the comic book image, for instance, never pretended to the level of ‚reality‘ that the television image could claim by virtue of its inclusion of movement. As to film, which developed concurrently with radio, it lacked the intimacy of media that could be consumed in the home, and in this sense also lacked the claim on ‚reality‘ that was associated with television and with its images. 3 Edgar Allan Poe: „The Fall of the House of Usher”, in: Id.: The Complete Works of Edgar Allan Poe, ed. by James A. Harrison, New York 1965, vol. III, p. 273-297, here p. 277 f.
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In response to this passage, the professor seemed extremely irate: „It won’t diagram“, I remember him saying, although today I can’t remember just how or why he should have wanted this particular description to „diagram“. Poe’s point, expressed explicitly in his Philosophy of Composition and clearly put into practice in such passages, was that the affective value of such ostensibly descriptive passages has nothing to do with their exactitude. Moreover, in the passage quoted one of the points explicitly made by the narrator is that the space of the room being described precisely exceeds the eye’s ability to see: despite the „encrimsoned light“ making its way through the stained glass windows into the room, „the eye, […] struggled in vain to reach the remoter angles of the chamber, or the recesses of the vaulted and fretted ceiling“. The ceiling is not just „vaulted“ but „fretted“ − like a human forehead wrinkles when its intention is frustrated or threatened. And if the upper reaches of the room are not just invisible, but are described as „fretting“, what they are fretting about is suggested by the phrase that follows, which emphasizes that the room is lacking not just in unity, coherence and transparency, but also in „vitality“; it is therefore not a scene to be seen, but an „atmosphere of sorrow“ to be „breathed“ in: „I felt that I breathed an atmosphere of sorrow“.4 In such an „atmosphere“, however, it is not the breath of life that is suggested, but rather the expiration of death. This „atmosphere“ recalls the narrator’s initial description of the House of Usher, as he approaches it from the outside: […] about the whole mansion and domain there hung an atmosphere peculiar to themselves and their immediate vicinity − an atmosphere which had no affinity with the air of heaven, but which had reeked up from the decayed trees, and the gray wall, and the silent tarn − a pestilent and mystic vapor, dull, sluggish, faintly discernible, and leaden-hued. Shaking off from my spirit what must have been a dream, I scanned more narrowly the real aspect of the building. Its principal feature seemed to be that of an excessive antiquity. The discoloration of ages had been great. Minute fungi overspread the whole exterior, hanging in a fine tangled web-work from the eaves. Yet all this was apart from any extraordinary dilapidation. No portion of the masonry had fallen; and there appeared to be a wild inconsistency between its still perfect adaptation of parts, and the crumbling condition of the individual stones. In this there was much that reminded me of the specious totality of old wood-work which has rotted for long years in some neglected vault, with no disturbance from the breath of the external air. Beyond this indication of extensive decay, however, the fabric gave little token of instability. Perhaps the eye of a scrutinising observer might have discovered a barely perceptible fissure, which, extending from the roof of the building in front, made its way down the wall in a zigzag direction, until it became lost in the sullen waters of the tarn.5
4 Walter Benjamin’s famous description of the „aura“ in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit also speaks of „breathing“ in the aura of something that remains distant, however closely one approaches it. The aura thus arises when the original can no longer be separated from the atmosphere (a word Benjamin does not use). 5 Poe: „The Fall of the House of Usher“ (note 3), p. 276 f.
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The use of the word „atmosphere“ throughout this text redefines the nature of the description and the quality of its images; these are no longer simply the representation of defined and discernible objects, as one might expect from a traditional visual image, but rather entail something more like a relational network that encompasses not just objects but also the spectator-observer-narrator no less than the house itself and its inhabitants. The atmosphere is resolutely local, „peculiar“ to the „mansion […] and its immediate vicinity“. Its walls, instead of clearly demarcating it from the vicinity, seem to have taken on a life of their own, although it is a parasitic life: „Minute fungi overspread the whole exterior, hanging in a fine tangled web-work from the eaves.“ This „web-work“ suggests that the building may be dissolving into its environs, and it is this process that marks the „atmosphere“ as something both radically local and radically different from the „air of heaven“. It is this dissociation that explains why the „antiquity“ of the House should also be qualified as „excessive“.What is „excessive“ about this antiquity is that the atmosphere it takes place in is „unredeemable“. The whole seems intact, but underneath lurks the suspicion of „the specious totality of old wood-work which has rotted for long years“. Despite the absence of manifest „instability“ the description closes with a fatal „perhaps“: „Perhaps [Hvh. S.W.] the eye of a scrutinising observer might have discovered a barely perceptible fissure, which, extending from the roof of the building in front, made its way down the wall in a zigzag direction, until it became lost in the sullen waters of the tarn.“ This „dangerous perhaps“ (Nietzsche) will of course portend the fatal and final fall of the House of Usher. But what it presents as an image turns out to be rather a kind of counter − or negative image: for what it represents is not an object, but „a barely perceptible fissure“, which although it is the absence of anything positive is not at all static; the fissure moves, making „its way down the wall in a zigzag direction“ until it disappears, becomes „lost in the sullen waters of the tarn“. It is hardly necessary to emphasize how very different this literary image is from the radio images that populated my youth: how different, and yet how related! Poe’s nature is profoundly similar to that described by Walter Benjamin in his study of Ursprung des deutschen Trauerspiels: that of a fallen nature that lacks any hope of salvation and that is therefore fully exposed to the destructive effects of time. It is the nature that first emerges in Europe massively in post-Reformation Germany (which is perhaps one of the reasons why so much of Poe’s writing is situated in a „Gothic“ tradition, at home above all in Protestant countries and cultures). But it is also the nature that called forth the myth of the American Hero, struggling in magnificent individualistic isolation against the forces of Evil: Superman, to be sure, but one who is always haunted a congenital vulnerability, by an Achilles’ heel in the form of „Kryptonite“, a greenish, extra-terrestrial element that, like Samson’s Delilah, can at any time appear and rob him of his strength, rendering him vulnerable to destruction.6 6 Does the existence of „Kryptonite“ cryptically conceal the slowly developing concern with those „elements“ that made radioactivity − itself invisible − possible and lethally dangerous?
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This broader, religious-historical perspective allows us to interpret how a certain use of images could have come to assume a decisive but ambivalent role in American − and perhaps also more generally in ‚Western‘ − culture. On the one hand the image is called upon to protect that which it represents from the ravages of a temporal process that wears out and uses up all living beings qua individuals. But on the other hand, the image confirms the vulnerability of all individuals precisely to the ravages of time. Ever since the Reformation, and in particular for American culture, Luther’s doctrine of sola fides – of ‚faith alone‘ as the only path to salvation − has rendered the Christian promise of resurrection dependent not upon external institutions and their practices, nor even upon ‚good works‘ per se, but rather upon the less visible, more interior experience of ‚faith‘ as the medium through which the individual mortal has access to God. Hence, there emerges a tendency, very visible in Poe’s story, but also in many other American writers, such as Nathaniel Hawthorne (Young Goodman Brown), for external nature to appear as fallen, without hope for survival: the House of Usher, as well as its inhabitants, is one example of this. The atmosphere it exudes, and that the narrator „breathes“, consists of an „air of stern, deep, and irredeemable gloom“, whereby the emphasis, as already suggested, should fall on the word „irredeemable“. It is this impossibility of redemption that condemns mortals to decay and destruction, a fate already embodied in the external appearance of the House of Usher itself. The image that Poe’s story gives us of this house thus both preserves and confirms this fatal destiny: it resists the wear and tear of time while at the same time implementing it. It implements it not just by representing it, as in the final scene of Poe’s story, in which the „fall“ of the House of Usher anticipates the incessantly played images of the collapsing Twin Towers: Suddenly there shot along the path a wild light, and I turned to see whence a gleam so unusual could have issued; for the vast house and its shadows were alone behind me. The radiance was that of the full, setting, and blood-red moon which now shone vividly through that once barely-discernible fissure of which I have before spoken as extending from the roof of the building, in a zigzag direction, to the base. While I gazed, this fissure rapidly widened − there came a fierce breath of the whirlwind − the entire orb of the satellite burst at once upon my sight − my brain reeled as I saw the mighty walls rushing asunder − there was a long tumultuous shouting sound like the voice of a thousand waters − and the deep and dank tarn at my feet closed sullenly and silently over the fragments of the ‚House of Usher‘.7
The fall of the House of Usher is not just the fall of individual living beings, but also of the „house“ that was constructed to protect them against the ravages of time and space − of an unredeemed nature. All that this fall leaves behind, however, is that „long tumultuous shouting sound like the voice of a thousand waters“ as the And does its color, green, suggest the concern that this extraterrestrial element may not be entirely alien to the „green hills of earth“? Or more generally, that the „greening“ of „nature“ may not bring eternal life and rebirth, but rather death and destruction. 7 Poe: „The Fall of the House of Usher“ (note 3), p. 297.
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SAMUEL WEBER
building that houses them − that protects them from the outside − itself collapses and disappears. No call for help − no official or semi-official „9-1-1“ − will bring them back. The cries of individual voices merge with „the voice of a thousand waters“, which is to say, with the very nature that carries them away. All that is ‚left‘ is for the reader, who implicitly follows the trajectory of the narrator to try, like the narrator, to escape, at least temporarily, the consequences of the disaster. The reader, like the narrator, does this by fleeing − as did the spectators of the fall of the Twin Towers, which, however, caught up with many of the survivors, especially those trying to help, years later in the form of respiratory illnesses, having breathed in too much of the atmosphere left by the collapse of the towers − an atmosphere certified by powers that be at the time to be harmless. In view of such official policies, the suspicion of institutions deriving at least from the Reformation leaves individuals only one alternative: to seek safety in isolation. Much of this can be read in the narrator’s final description of the scene, or rather of his terrified response to it: „From that chamber, and from that mansion, I fled aghast“.8 Flight here however is not just motoric movement: it involves placing an image between one’s own threatened position and the danger from which one is fleeing. Only such an image renders survival thinkable − which is to say, imaginable. But as already suggested, the price for such a survival strategy is high, for the image that protects also binds the spectator to the threat, so that protection through images is never reliable. „Homeland Security“ − watchword of the United States in the aftermath of „9-11“− can never be definitively „secured“ as the intrinsically endless notion of a „War Against Terror“ only confirms. Such a war is by nature never-ending, because its object is not simply external but also and above all internal. „Terror“ in English at least, is not essentially an external phenomenon, but an internal ‚feeling‘ or ‚affect‘. To be sure, one of the functions of the image is to define that enemy in such a way that it can be objectified, located and above all, left behind through flight, as Poe’s narrator tries to do in fleeing the Fall of the House of Usher. But „terror“ − the „War Against Terror“ − cannot be reduced to the object of an image: a person, for instance, a ‚terrorist‘. President Bush was very clear about this in his famous National Security Statement of 2001, when he declared that „shadowy networks of terrorists“ endangered the safety of the United States and that precisely because of their shadowy appearance, required new measures, such as preemptive strikes and preventive wars. Terror, like anxiety, and unlike fear, cannot be tied to an object: it is precisely defined as the result of the absence of object, and therefore the absence of a certain type of image: that which represents objects, for instance, persons or things, clearly individuated and defined. Such objectification and subjectification, and the world-view associated with them, have however been largely promoted by the American commercial media, including the Hollywood film industry, long before the destruction of the Twin
8 Ibid.
BILD UND LEIDENSCHAFT
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Towers in 2001, and increasingly since then. The image as used by these media functions largely − there are of course always exceptions − to encapsulate, to isolate, to concentrate and focus one’s attention, and thereby to promote a sense of reality as deriving from individual self-contained objects and subjects. The result is that time and space, as media of alteration and change, can be regarded as merely the condition of possibility for individuals to take action and individual, isolated events to ‚take place‘. This use of the image, which is neither exclusive nor prescribed by the technical character of the audiovisual media, serves largely to position persons, things and events, and thereby to exclude everything that might cause one to look elsewhere − to read and to think „outside the box“ as a current and particularly apt American expression goes. But such thinking outside the box is subordinated by two other expressions, which are even more widely used, and which I believe could only have emerged in the United States: first, the expression „that’s history!“ which has come to mean that something is history when it is past, and when it is past it is „over and done with“. Second, „thinking outside the box“ is subordinated to the injunction to „move forward“. This has been the most widespread ethical imperative in the discourse of business and of politics, with the implication, of course, that to „move forward“ it is helpful not to spend too much time „looking back“. In terms of the medial practice of isolated, self-contained imagery, however, to „move forward“ is really an injunction not to dwell on alternatives, which might have been excluded or neglected in the past, but which remain as thinkable options for the future. The „move forward“ implies a clear-cut break between past, present and future, but also a privileging of the present as self-contained and meaningful. Hence the fascination with „breaking news“ or the „news break“ − which breaks with the routine of the same in order to produce more of the same. That however no ‚image‘ can in this sense be ‚self-contained‘ or self-sufficient is one of the lessons I learned from those early radio plays, whose images were powerful precisely in proportion to a certain indeterminacy − which is to say in their relationship to what could not be seen or even imagined. Such indeterminacy is not just a negative, however, any more than the „that fine tangled web-work (hanging) from the eves“ of the House of Usher. It can be the source of a „passion“ that exceeds anything that visible images can evoke.
WOLFGANG SCHÄFFNER
Die telefonische Revolution des Bildes Effekte einer Kommunikationsobsession des 21. Jahrhunderts Es mutet wie eine Ironie der Geschichte an, dass das akustische Medium des Telefons – eine der großen Obsessionen des frühen 21. Jahrhunderts – das digitale Bild grundlegend revolutionieren sollte. Denn trotz der Rhetorik einer ‚digitalen Bilderflut‘ war die Beziehung des Bildes zur Digitaltechnik seit den Anfängen eher problematisch, prozessiert doch der Computer als symbolische Maschine logisch binäre Symbole und verbindet damit Rechnen und logische Operationen in denselben Algorithmen. Diese Algorithmen können als Operationen mit Buchstaben oder Zahlen interpretiert werden. Bilder bestehen jedoch nicht aus diskreten Symbolen des alphanumerischen Codes. Sie können nur durch eine Umwandlung in sequentielle Symbole in das digitale System inkorporiert und darin prozessiert werden. Die Verbindung von Bild und Computer, die allgemein für das Digitale als so ‚natürlich‘ und essentiell erscheint, ist daher eher schwierig und komplex, denn der Computer ist keine Bild-Technologie im engeren Sinne. Bei der Entwicklung des digitalen Bildes stellt der Bildschirm ein entscheidendes Element dar. Gerade in dieser Hinsicht ist es erstaunlich, dass die letzte große Revolution des Bildes sich nicht mehr im Computer im engeren Sinne ereignet hat, sondern eigenartiger Weise im Telefon, dem Medium akustischer Fernkommunikation. Im Rahmen der großen Geschichte des Digitalen, die sich meistens auf den Computer als das entscheidende Medium aller Entwicklungen konzentrierte, tauchte das Telefon nur am Rande auf; es erschien weniger folgenreich und wurde scheinbar allmählich durch die Kommunikationsmöglichkeiten des Computers ersetzt. Während in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts der Computer zum entscheidenden Szenario der Digitaltechniken geworden zu sein schien, geschah jedoch gleichzeitig die unscheinbare, aber umso folgenreichere Entwicklung einer neuen Ära der Telefontechnik. Von der Erfindung der ersten logischen Schaltkreise durch Claude Shannon in seiner Master Thesis A Symbolic Analysis of Relay and Switching Circuits (1936), die die Optimierung von Telefonschaltkreisen behandelte, und den Bell Labs als einem der wichtigsten Labors zur Entwicklung der frühen Computertechnologie bis hin zur neuen Medienrevolution des Mobiltelefons um 2000 spielte das Telefon immer eine wichtige Rolle im Bereich der Digitaltechniken. Die Entwicklung des Mobiltelefons begann in den 1950er Jahren in den Bell Labs und bei Motorola, doch erst 1983 erschien das erste Gerät auf dem Markt, d.h. ein Jahr vor der Präsentation des Personal Computer 1984. Während der ersten zehn Jahre weitete sich der Gebrauch des Mobiltelefons kaum aus. Doch gegen Ende des Jahrhunderts entwickelte das Mobiltelefon im Vergleich zum Computer eine er-
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WOLFGANG SCHÄFFNER
staunliche Dynamik: Der massenhafte Gebrauch des Mobiltelefons inkorporiert – und das ist das eigentliche Ereignis – den Computer und nicht umgekehrt: Zugleich wird es zum Schauplatz der radikalsten Umgestaltung der digitalen MenschMaschinen-Interfaces. Doch um was für ein Objekt handelt es sich eigentlich beim gegenwärtigen Mobiltelefon? Im Folgenden sollen kurz drei Elemente skizziert werden, die für die historische Entwicklung und das gegenwärtige Design des Mobiltelefons von zentraler Bedeutung sind: Das Mobiltelefon ist (1) ein höchst hybrides Medium, das eine ganze Reihe von Medientechniken verbindet und dabei auch diese eigentümliche Verbindung von Telefon und digitalem Bild herstellt; es ist (2) eine mobile Operationseinheit, die sich von einem physischen oder architektonischen Ort löst und dessen Mobilisierung (3) die Minimierung der Interfaces forciert. All dies erzeugt die neuen Bedingungen für eine Revolution des digitalen Bildes im Zeichen des Telefons.
1. Das Telefon als hybrides Medium Seit der ersten Marktversion von 1983 wandelte sich das Mobiltelefon in ein immer leichteres Gerät und verleibte sich andere Elemente ein. Das gegenwärtige Telefon enthält eine ganze Reihe von Kommunikationstechniken als Komponenten eines neuen digitalen Dispositivs. Dem Telefon wurden Tasten für Buchstaben und ein Display für die gewählte Nummer hinzugefügt, das zu einem Display für kurze telegrafische Texte erweitert wurde. Dieses Display wurde zudem durch einen Bildschirm ersetzt, der zusammen mit einer eingebauten Fotokamera die Erzeugung, Übertragung und Speicherung von digitalen Bildern ermöglicht. Im Laufe der letzten Jahre kamen noch alle Komponenten des PC wie auch der Anschluss ans Internet hinzu. In diesem Sinne besteht das Mobiltelefon zwar aus einem Telefon mit Mikrofon und Lautsprecher sowie einer Tastatur für Zahlen und Buchstaben, doch zudem aus einem telegrafischen System zur Übertragung von Bildern und Texten, einer Foto- und Videokamera, einem MP3-Gerät, einem Computer mit Bildschirm, Speicher und drahtloser Verbindung ins Internet wie auch der Fernsteuerung für andere Geräte. Die Reihe von Elementen, die das Mobiltelefon integrieren kann, ist eine offene Serie, wie der Werbeslogan von Nokia sagt: „Phones should be open to anything.“ All diese Komponenten verbinden sich in einem neuen Objekt, einem Gerät zur multiplen drahtlosen Kommunikation. Doch obwohl dieses Objekt immer noch Telefon heißt, wie etwa im Falle der aktuellsten Version, dem iPhone, ist nicht klar, ob dessen wichtigste Funktion tatsächlich noch die Übertragung von akustischen Nachrichten ist. Seit Beginn der 1990er Jahre wird durch das enorme Anwachsen der Benutzerzahlen und die damit verbundenen veränderten Verhaltensformen die immense soziale Auswirkung des Mobiltelefons deutlich. Das führt weit über das Telefon hinaus und betrifft insbesondere einen fundamentalen Wandel der Interfaces für das digitale Bild.
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2. Von der Kabine zur (Antennen-)Zelle Die Mobiltelefone bilden eine eigentümliche Mischung von Telegrafie und Telefonie. Historisch gesehen ersetzte des Telefon relativ schnell die Kommunikation durch den Telegrafen: Schon 1915 inkorporierte das Telefonsystem die Telegrafie. Möglich wurde das durch die Teilung der Übertragungsleitung in zwei verschiedene Frequenzen, wodurch auch telegrafische Nachrichten durch die Telefonkabel übertragen werden konnten.1 Die Telegrafie wurde so zu einer spezifischen Frequenz der Telefonie. Telegrafie und Telefonie jedoch verbanden sich direkt mit einem physischen Ort, dem Telegrafen- und Postbüro. Vor allem die Entwicklung der Telefonkabine zeigt die Entstehung eines spezifischen architektonischen Raums des Telefonierens: Der Benutzer betrat das Telefon, das nicht nur ein Apparat war, sondern auch der akustisch isolierte Raum einer Kabine. Vergleicht man diesen geschlossenen Raum mit öffentlichen Toiletten, fällt das ähnliche Design auf. Die Intimität und Diskretion der Kabine, die auch den Beichtstuhl oder die Wahlkabine auszeichnet2, transformierte das Postgeheimnis als konstitutiven Faktor der Kommunikation in ein architektonisches Objekt. Während die Telefonkabine eine akustische Isolierung mit transparenten Glaswänden herstellt, organisiert die Toilette die visuelle Isolation des Innenraums durch opake Wände. In beiden Fällen jedoch wurden diese Räume als Serienelemente produziert, die im öffentlichen Raum nebeneinander für den Massengebrauch aufgestellt wurden. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts breiteten sich diese Kabinen überall aus und wurden zu einem omnipräsenten Objekt des urbanen Raums. 1924 gewann der englische Architekt Giles Gilbert Scout den Wettbewerb für die Gestaltung der Telefonkabinen des British Post Office mit dem berühmten roten Telefon, dem Modell K2 (1924), dem K3 (1930) und schließlich dem K6 (1935), das sich in alle Winkel von Großbritannien ausbreitete.3 Gilberts Design war von einem anderen Minimalraum inspiriert, dem Grabmal des Architekten John Soan auf dem Friedhof von St. Pancras Old Church in London.4 Die Telefonkabine kann als wichtigste Architektur der Telekommunikation des 20. Jahrhunderts gelten. Betrachtet man das Design der ersten Kabinen und deren Entwicklung, so wird deutlich, um was für ein wichtiges architektonisches Objekt es sich dabei handelt: ein Minimalraum der Kommunikation, der die ganze Person in unbequemer aufrechter Haltung in einer Art vertikalen Röhre aufnimmt. Kein Sitz lädt ein, zu bleiben oder länger zu sprechen. Telekommunikation war, zumin1 Vgl. Friedrich Wilhelm Hagemeyer: Die Entstehung von Informationskonzepten in der Nachrichtentechnik. Eine Fallstudie zur Theoriebildung in der Technik in Industrie- und Kriegsforschung, Ms. Berlin 1979, S. 112 ff. 2 Vgl. Benjamin Barber: Strong Democracy. Participatory Politics for a New Age, Berkeley 1984, S. 190: Barber vergleicht die Intimität der Wahlkabine mit der einer öffentlichen Toilette. 3 Giles Gilbert Scott entwarf in dieser Zeit wichtige Gebäude wie die Battersea Power Station oder die New University Library der University of Cambridge (1931-34). 4 Vgl. Gillian Darley: John Soane: An Accidental Romantic, Yale 1999.
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dest in der Frühzeit, kein lang dauernder Akt. Die Ökonomie der telegrafischen Kürze wird auch für die telefonische Kommunikation relevant. Das Telefon errichtete zugleich eine Synchronie von Übertragen und Empfangen von Nachrichten, da die Signale der akustischen Nachrichten nicht beim Empfänger gespeichert werden, wie das bei der Telegrafie der Fall ist. Das Klingeln wurde zum Signal für die Kommunikation und verwandelte damit den akustischen Raum, in dem das Klingeln hörbar ist, in einen wesentlichen Bestandteil des Telefonapparats. Das bedeutet, dass nicht nur der konkrete Ort, an dem das Telefon an der Wand befestigt war, sondern der ganze umgebende Raum (die Wohnung, das Büro etc.) einen essentiellen architektonischen Teil des Telefons bildet. Während die Kabine des öffentlichen Telefons den Kommunikationsraum isolierte und auf ein Minimum reduzierte, bestimmt die Klingel des privaten Telefons einen akustischen Raum von erweiterter Zugänglichkeit. Es ist wie bei der Turmglocke, die seit dem Mittelalter den Rhythmus der Stadt organisierte; doch nun handelt es sich um einen arbiträren und kaum vorhersagbaren Moment, der eine dauernde Aufmerksamkeit verlangt und eine völlig neue Disziplinierung der Telekommunikation erzeugt. Am Ende des 20. Jahrhunderts erlebte das Telefon jedoch einen fundamentalen Wandel durch den massiven Einsatz von Mobiltelefonen und die entsprechende Reduktion von öffentlichen Telefonen, in vielen Ländern begleitet durch den Wandel von analogen zu digitalen Telefonnetzen.5 Obwohl das Mobiltelefon immer noch ein Telefon zu sein scheint, repräsentiert es zudem wichtige Veränderungen der Raum-Zeit der Telekommunikation: Die drahtlosen Telefone verkörpern vor allem eine Mobilität, die das Telefon von seinem architektonischen Raum und seiner festen Adresse entkoppelt. Die eigene Position des Telefons wurde damit immer weniger wichtig für dessen Gebrauch: Die architektonische Fixierung wurde durch die personelle Fixierung ersetzt. Seit das Mobiltelefon den Bewegungen seines Benutzers folgt, hat sich sein Aktionsradius enorm ausgeweitet. Es gibt kein räumliches und zeitliches Limit für den Gebrauch, man ist (fast) an jedem Ort verbunden, und der Benutzer gehorcht dem Befehl der Klingel noch schneller. Das Mobiltelefon bedeutet somit permanente Kommunikation und Kontrolle. Obwohl es völlig von einem architektonischen Raum entkoppelt zu sein scheint, ist das Mobiltelefon dennoch in eine neue Architektur eingebunden. Die Zelle des cellphone, wie das Mobiltelefon im Land ihrer Erfinder heißt, ist nicht länger die Telefonzelle. Vielmehr ist die neue Zelle eine riesige virtuelle Architektur von Antennen: Diese Antennen bilden die Ecken hexagonaler Zellen, die zugleich mit ihrer spezifischen Frequenz die Reichweite der mobilen Kommunikation markieren – als würden virtuelle hexagonale Kuppeln einen dreidimensionalen Raum mit den Signalen unterschiedlicher Frequenzen aufspannen.6
5 So wurde das analoge C-Net der Deutschen Telekom am 31. Dezember 2000 beendet. 6 Vgl. John Daniel Kraus/Ronald J. Marhefka: Antennas for All Applications, Michigan 2002.
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Abb. 1: Hexagonale Zellenblöcke der Antennen
Diese Architektur ist der neue Telekommunikationsraum, in dem das bewegliche Telefon fortwährend die Grenzen zwischen den virtuellen Zellen unterschiedlicher Frequenzen durchkreuzt, wobei die Signale der einen Zelle sich abschwächen und die der anderen stärker werden: „Handoff occurs when the cellular system’s central controller determines that a mobile unit is experiencing low signal strength on its assigned channel and sends a signal to the mobile unit to change its transmit and receive frequencies into the channel set of the new cell.“7 Bei der Entwicklung dieser Technik war es zunächst unklar, wie man das Problem der Lokalisierung des Mobiltelefons innerhalb des Zellenrasters lösen sollte: It was assumed that it would be necessary to monitor the physical location of each mobile unit and assign it to the geographically nearest cell base station to prevent mobile units from interfering with other units in nearby cells. However, after the early trials, it became evident that signal strength alone, not physical location, was the best criterion for making handoff decisions.8
7 David Roessner u. a.: The Role of NSF’s Support of Engineering in Enabling Technological Innovation – Phase II, Stanford Research Institute, Arlington 1998, Kap. 4, „The Cellular Telephone“, S. 12, www.sri.com/policy/csted/reports/sandt/techin2/chp4.html/ [letzter Zugriff 20.7.2009]. 8 Ebd.
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Das bedeutet, dass der Wechsel zu einer anderen Zelle, der handoff, das Mobiltelefon normalerweise nicht in einem topographischen Sinne lokalisiert. Die gegenwärtige Entwicklung der Mobiltelefone jedoch scheint diesen fundamentalen Aspekt zu verändern: Firmen wie Nokia haben Dienste eingeführt, mit denen man die Position eines Telefons identifizieren (location based services) und damit die Kontrollmöglichkeit erheblich ausweiten kann.9 Diese scheinbar freundlichen Versionen der Lokalisierung von Personen repräsentieren nämlich eine wichtige Seite der wachsenden sozialen Kontrolle, die durch die Lokalisierung der Mobiltelefone möglich wird.
3. Minimierung der Interfaces Wenn man die räumliche Implosion der Hardware seit den ersten monströsen Computern verfolgt, scheint die einzige Konstante in der stabilen Größe der Mensch-Maschinen-Interfaces zu liegen, d.h. in der Größe von Bildschirm und Tastatur, die eine Art physiologischer Grenze zu bestimmen schienen und sich nicht weiter im Rhythmus der Minimierung der Chips reduzieren ließen. Daher behielten diese beiden Interfaces ihre ursprüngliche Größe, in der sie in den Computer als Schreibmaschine sowie als Radar-Bildschirm und Kathodenstrahlröhre von Fernsehbildschirmen eingeführt wurden. Doch mit den Mobiltelefonen wurde alles anders: Durch das Design eines mobilen und leichten Apparates wurde eine radikale Implosion der Größe der Tastatur und des Bildschirms eingeleitet. Das Design der Mobiltelefon-Tastatur basiert auf der Tastatur von Rechenmaschinen und stellt damit eine wichtige Änderung gegenüber der Schreibmaschinentastatur dar, insbesondere von dem Zeitpunkt an, da in diese Zahlentastatur auch noch Buchstaben (neun Tasten für alle Buchstaben) eingeführt wurden, um Text-Nachrichten eingeben zu können. Gegenwärtig scheint der enorme Erfolg des Short Message Systems in den Mobiltelefonen das Telefonieren selbst zu reduzieren. Die Kürze bestimmt auch diese Texte, die mit einem ganzen Vokabular von Kürzeln selbst auf 160 Zeichen limitiert sind. In diesem Sinne scheinen die Diskussionen über den besten telegrafischen Code vom Ende des 18. Jahrhunderts10 wiederzukehren. Die gegenwärtige Suche nach pasigrafischen Sprachen, die Wörter durch einzelne Zeichen zu repräsentieren versuchen, um die Anzahl der Signale zu reduzieren und die Übertragung zu beschleunigen, erinnert an den Beginn des Zeitalters der Telegrafie. Damals je9 Vgl. Nicolas Lerch: Seminar „Location Based Services“, Universität Paderborn 2004, S. 14 f., http://wwwcs.uni-paderborn.de/cs/ag-kao/en/teaching/ws04/pg_lbs/Seminarausarbeitungen/Lerch.pdf/ [letzter Zugriff 20.7.2009]. 10 Vgl. Wolfgang Schäffner: „Medialität der Zeichen. Butet de la Sarthe und der Concours ‚Déterminer l’influence de signes sur la formation des idées‘“, in: Inge Baxmann/Michael Franz/Wolfgang Schäffner: Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 274-290.
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doch scheiterten diese kurzen Codes und wurden nicht in das telegrafische System implementiert. Das Auftauchen der Telegrafie verband sich mit der umgekehrten Strategie: Anstatt die Anzahl der Signale pro Nachricht zu reduzieren, bedeutete der Morse-Code eine entscheidende Erhöhung der Anzahl an Signalen in Verbindung mit einem völlig neuen Interface.11 Der Morse-Code verwendete bis zu drei Signale pro Buchstabe. Diese Entscheidung hatte jedoch einen zentralen Grund: Sie verkörpert den Wandel von einer Sprache für Menschen zu einer Sprache für Maschinen. Um die Stabilität und Exaktheit der Signalübertragung zu garantieren, war es weniger wichtig, die Bedürfnisse der menschlichen Akteure zu befriedigen, als vielmehr die des technischen Systems – mit nur zwei Signaltypen: dot und dash. Diese schlichte, aber fundamentale Differenz erlaubte die schnellste und korrekteste Informationsübertragung. Das Interface, mit dem man diese intermittierenden Signale erzeugen konnte, war noch schlichter: Eine einzige Taste erlaubte es, jeden möglichen Text zu senden. Der bloße Akt zweier differenter Tastendrucke konnte die ganze menschliche Kommunikation erzeugen und übertragen. Wenn wir dieses radikal reduzierte Interface mit den Tastaturen der nur wenig später entwickelten Schreibmaschinen vergleichen, wird das revolutionäre Design dieser Schnittstelle zur Übertragung der Sprache deutlich. Blieb die Mechanik der Schreibmaschinentastatur noch eng mit der Geschichte des Buchdrucks verbunden – jeder Buchstabe hatte seine eigene Type –, so implementierte der elektromechanische Standard der Telegrafie die Übertragung der Sprache in ein neues elektrisches Medium mit zwei unterschiedlichen Signalen. Diesen Weg einer radikalen Minimierung führen die Tastaturen der Mobiltelefone im Allgemeinen nicht fort. Der Übergang vom Festnetz-Telefon zum Mobiltelefon bedeutete nur den Wechsel von der Wählscheibe zur Rechner-Tastatur.12 Doch seit der Einführung der Tasten für Buchstaben gibt es in den Mobiltelefonen sogar die Tendenz, die Zahl der Tasten auf die Anzahl und Anordnung der Computertastatur zu erweitern. Die radikale Reduktion auf eine einzige Taste auch als ergonomisches Ziel scheint jedoch nicht die zentrale Strategie zu sein. Selbst die jüngsten Entwicklungen wie das iPhone zeigen dies auf ambivalente Weise: Dieses enthält zwar nur eine einzige physische Taste, den so genannten home-button; alle weiteren Tasten sind verborgen und verwandelt in eine offene Anzahl virtueller Tasten auf dem touch screen. Damit verwandelt sich jedoch das zweite, zentrale Interface des Telefons, der Bildschirm, in fundamentaler Weise. Denn dasjenige, was als digitales Display für Zahlen begann und um Buchstaben erweitert wurde, ist nun durch eine vollständige grafische Oberfläche ersetzt, auf der Zahlen, Buchstaben, Bilder und Filme sichtbar werden können. Auf diese Weise inkorporierte das Mobiltelefon auch die Übertragung von Bildern und Filmen; es wurde zu einem Apparat für die Übertragung von Tönen, diskreten Zeichen und Bildern. 11 Vgl. Samuel F.B. Morse: His Letters and Journals. Edited and Supplemented by His Son Edward Lind Morse, 2 Bde., Boston 1914. 12 Vgl. R. L. Deininger: „Human Factors Engineering Studies of the Design and Use of Pushbuttons Telephone Sets“, in: The Bell System Technical Journal 39/4, 1960, S. 995-1012.
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Während aber die Plasmabildschirme der Heimkinos immer größer zu werden scheinen, ereignet sich die entscheidende Revolution der digitalen Bilder auf dem immer kleiner werdenden Maßstab der Telefon-Bildschirme. Die Ökonomie der Reduktion der Texte hat eine neue Ökonomie der kleinen Bilder initiiert, die sich an den Minimalraum des Telefonbildschirms anpassen. Schon der Schritt vom cinemascope-Bildschirm zum Fernseh- und Computerbildschirm von Kathodenstrahlröhren bedeutete eine entscheidende Reduzierung des Bildformats, doch der letzte Schritt des Mobiltelefons ist viel entscheidender: Die Implementierung von digitalem Bild und Film ins Mobiltelefon geht mit einer fundamentalen Reduktion des Bildformats einher. Der Bildschirm von 5 bis 7,5 cm und dessen massive Ausbreitung (ca. 4 Milliarden Geräte weltweit) kann als bedeutendes Ereignis in der Geschichte des Bildes gelten. Während der erste Schritt zur Minimierung der Computer wie ENIAC oder MARC I durch das Interesse der U.S. Air Force an der Entwicklung leichterer Computer für Flugzeuge erfolgte, ist es die Mobilität des Telefons, die nun diese enorme Reduktion des Bildformats hervorgebracht hat. Es ist also von neuem der Effekt der Mobilisierung, den schon die Hardware in den 1960er Jahren mit der Entwicklung der integrierten Schaltkreise erfuhr.13 Dieser Weg scheint endlich beim Bildschirm, diesem so wichtigen Interface der Digitaltechnologien, angelangt. Seit der Applikation des Bildschirms in den Computer im Whirlwind System (1950) hatte dieses Interface seine Größe beibehalten, selbst im Falle der tragbaren Notebooks. Zudem wird schon beim Notebook die Größenbeziehung von Bildschirm und Tastatur deutlich, wenn sie im geschlossenen Zustand aufeinander liegen. Diese eigentümliche Verbindung des Tasten- und Bildschirm-Interfaces wird in der jüngsten Verschmelzung noch weiter getrieben, wenn der Bildschirm die Tasten ersetzt und als touch screen zudem eine Operativität des digitalen Bildes vorantreibt. Während beim PC der Bildschirm nicht in unmittelbarer Reichweite der Hand liegt, sondern eine völlig getrennte Schnittstelle darstellt, drängte das Design der Minimierung im Mobiltelefon auf eine unmittelbare Nähe, die nun in der Verschmelzung endet. Hier liegt alles auf der Hand, Tastatur wie Bildschirm; die Kabine wird Handy. Parallel zu dieser Entwicklung erfolgte eine andere Reduktion des Bildformats, die diesen neuen Standard selbst in den klassischen Computer hineintreibt: die 2005 gegründete Web-Plattform YouTube. Geschichte und Gegenwart von Kino, Video und Fernsehen werden in dieses neue Format eingefügt: Der Schritt von der Cathode Ray Tube (CRT) zu YouTube ist der Schritt vom Fernsehbildformat zum Standardformat von 320 x 240 Pixel. Diese Reformatierung des Kinos ins niedrig aufgelöste, reduzierte Web-Format entspricht der Reduktion des Bildschirmformats, die vom Mobiltelefon als dem meistbenutzten digitalen Bildmedium durchgesetzt wird.
13 Zur Entwicklung der integrierten Schaltkreise durch Kilby (1958) und Fairchild (1961) vgl. Michael Riordan/Lillian Hoddeson: Cristal Fire. The Invention of the Transistor and the Birth of the Information Age, London 1998, S. 254-275.
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Nach 70 Jahren CRT-formatierter Bilder, die das Zeitalter des Fernsehens und Computers definierten, ereignet sich eine neue Revolution im Reich der elektronischen Bilder. Im Schatten des Computers, dieses zentralen Mediums des 20. Jahrhunderts, wurde das Telefon lange kaum beachtet. Trotz dieser Vernachlässigung verkörpert der Schritt vom PC zum Mobiltelefon die radikalste Entwicklung einer Minimierung der Interfaces Bildschirm und Tastatur, vergleichbar nur mit der Implosion der Hardware von ENIAC zu PC. Deshalb kann die Ankunft des digitalen Bildes im Telefon als eines der bedeutendsten Ereignisse in der Geschichte des Bildes gelten. Unsere Obsession, permanent und überall zu telefonieren, hat ironischerweise das Bild in ein neues Jahrtausend katapultiert.
BERÜHRTE OBJEKTE
ULRIKE VEDDER
„vom Jagdruf des Vogels getroffen“ (Ingeborg Bachmann) 1. „Nebelland“ Amseln, Krähen, Zinnvögel, Eulen, Schwalben, Tauben, Raben, Hühner, Nachtigallen, Pfauen, Käuzchen, Albatrosse, Enten, Geier, Schneehühner, Kraniche, Möwen – all diese Vögel durchflattern und durchfliegen Ingeborg Bachmanns Lyrik. Ihre Schönheit, Fremdheit und vielfältige Symbolik, ihr Flug, ihr Gesang und ihr luftiges Element erzeugen in den Gedichten eine poetische Fülle, die auf die Möglichkeit eines ‚Anderen‘ verweist. Die Vögel in Bachmanns Gedichten sind Objekte: Objekte von Begehren, Liebe und Angst. Sie mögen auch Chiffren, Metaphern, Symptome darstellen, doch als Objekte gewinnen sie eine spezifische Souveränität. Denn sie fungieren keineswegs nur als literarische Gegenstände; vielmehr treten sie als eigenwillige Gegenspieler, als mächtige Fetische oder sich entziehende Wesen auf. Der Blick und die Sprache, deren Objekte die Vögel in den Gedichten sind, zeigen sich fasziniert vom Nicht-Menschlichen und von jener Souveränität. Daraus erwachsen nicht nur die Konflikte, die die lyrischen Begegnungen zwischen Vögeln und Menschen prägen, sondern auch eine leidenschaftliche Sehnsucht, von der die Gedichte sprechen: die Sehnsucht nach einem ‚Jenseits‘ der gängigen Sprech- und Lebensweisen – und damit nicht zuletzt die Sehnsucht nach der Möglichkeit einer Sprache der Liebe, die das geliebte Gegenüber zu adressieren und zu treffen vermag. Ingeborg Bachmanns großartiges Gedicht „Nebelland“ aus der Sammlung Die Anrufung des großen Bären (1956)1 spricht auf nicht auszudeutende Weise von dieser Sehnsucht und ihren Objekten. „Im Winter ist meine Geliebte / unter den Tieren des Waldes“, eine „Füchsin“; dann wieder ist sie „ein Baum unter Bäumen“, dann „unter den Fischen und stumm“. Dem Zauber der Geliebten und ihrer Metamorphosen unterliegt das lyrische Ich, und dieser Zauber bedingt nicht nur die Liebe, sondern auch die Unterbrechung der Liebe, vielleicht sogar ihr Ende – ein Zauber im Märchenton: „Daß ich vor Morgen zurückmuß, / weiß die Füchsin und lacht.“ „Sie weiß, / daß der Wind, wenn es dämmert, / [...] mich heimjagt.“ Der Rhythmus des Begegnens und Fortmüssens ist einer Ordnung aus Tages- und Jahreszeiten, aus Orten und Elementen unterstellt: einer Ordnung aus „Winter“, „Wald“, „Wolken“, „Wind“ und „Wassern“, die sich im regelmäßigen Takt der ersten drei Gedichtstrophen ausbreitet. In dieser geradezu schulmäßig alliterierenden
1 Das Gedicht erschien zuerst 1954. Im Folgenden alle Gedichtzitate nach: Ingeborg Bachmann: „Nebelland“, in: Dies.: Werke, hg. v. Christine Koschel/Inge von Weidenbaum/Clemens Münster, München/Zürich 1984, Bd. 1, S. 105 f.
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ULRIKE VEDDER
„W“-Ordnung der Natur ist das Geschehen einer Liebe angesiedelt, deren Protagonisten – das „Ich“ und seine „Geliebte“ – zunächst klar positioniert erscheinen: die Geliebte lachend, wissend und schön, das Ich „glückverlassen“ und „hörig“ inmitten von „Schnee“, „Eis“ und „Reif“. Doch mit der vierten Strophe ändern sich Duktus und Verhältnis, auch wenn die Bildlichkeit von Tierwelt und Märchenemblemen fortbesteht: Und wieder vom Jagdruf des Vogels getroffen, der seine Schwingen über mir steift, stürz ich auf offenem Feld: sie entfiedert die Hühner und wirft mir ein weißes Schlüsselbein zu. Ich nehm’s um den Hals und geh fort durch den bitteren Flaum.
Das Schlüsselbein ist keineswegs nur ein karger Rest der reichen Beute des Vogels/ der Geliebten. Vielmehr tritt das weiße Knöchelchen, das in so vielen Märchen als Schlüssel zum Geheimnis und zur Erlösung vom bösen Zauber fungiert, hier als eine Liebesgabe auf: eine Gabe, die „sie“ – die Geliebte als Jagdvogel, dessen Ruf das Ich getroffen hat – dem Ich zuwirft. Mit der Annahme dieser Gabe durch das Ich geht im Gedicht ein Ortswechsel einher, ein Wechsel der Perspektive auf die Geliebte, auf ihre Sprache, auf das Wissen um sie. Denn die fünfte Strophe findet die Geliebte in der Stadt, „in den Bars“, wo sie, „treulos“, „Worte für alle“ findet.2 Indem das liebende Ich sich von dieser Welt distanziert – „diese Sprache verstehe ich nicht“ –, beharrt es auf einer Liebessprache, die das Lachen der Füchsin und den Jagdruf des Vogels kennt. Eine solche Sprache, sinnlos, fremd, leidenschaftlich, hat das Ich „getroffen“ und zu Boden stürzen lassen. Mit diesem Festhalten an einer ‚anderen Sprache‘ wird keinem einfachen Gegensatz zwischen Natur und Stadt, zwischen Zeitlosigkeit und Moderne, zwischen Liebe und Treulosigkeit das Wort geredet. Denn dass das Liebesgeschehen kein Naturgeschehen ist, obwohl in der Natur verortet, ist ja durch den seit Gedichtanfang sich durchziehenden Märchenton ebenso markiert wie durch das dreimalige Wort vom ‚Wissen‘, das jedesmal ein Wissen um das Fortmüssen meint. Vielmehr ist es das Gemeintsein und damit das Auszeichnen des Ich durch die Geliebte, das in einen Gegensatz zu den Worten „für alle“ gestellt ist. Dieses Gemeintsein heißt hier beispielsweise: „vom Jagdruf des Vogels getroffen“. Das Dilemma des discours amoureux, das geliebte Gegenüber in einer unzulänglichen Sprache „für alle“ adressieren und auszeichnen zu müssen, benennt das Gedicht „Nebelland“ aber nicht nur in der Strophe um die treulose Geliebte, die in der Stadt Worte für alle findet, 2 Dass die Bar als Ort der Treulosigkeit zugleich ein Ort der Rettung vor dem Liebestod ist, schildert Ingeborg Bachmanns wenige Jahre später verfasstes Hörspiel Der gute Gott von Manhattan (Erstsendung 1958), wo Jans Aufenthalt in der Bar für eine Rückkehr in die Welt der herrschenden Ordnung steht, während Jennifers hingebungsvolles Warten auf den Geliebten im Hotelzimmer tödlich endet. Die Geschlechtercodierung dieser beiden Positionen ist hier also umgekehrt.
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sondern auch im wortlosen Fuchs-, Baum- und Fisch-Sein der Geliebten sowie im stummen Liebesrhythmus des Da-Seins und Fort-Müssens, den Bachmanns Gedicht in traditionsreichen Sprachbildern besingt. So endet das Gedicht mit den beiden Versen „Nebelland hab ich gesehen, / Nebelherz hab ich gegessen.“ Mit ihrem Tempuswechsel vom Präsens zum Perfekt scheinen diese Verse zunächst einen Rückblick auf die vergangene – im Präsens nur vergegenwärtigte – Liebesgeschichte zusammenzufassen. Doch zugleich erzählen die beiden Schlussverse in ihrer losungsartigen Rätselsprache von der Voraussetzung dieser Liebe: vom Sehen und vom Einverleiben, und dies in einem „Nebelland“, das möglicherweise das Land der Dichtung ist. Denn Sehen und Einverleiben bedingen nicht nur die Treue zur Geliebten, sondern gelten auch einer poetischen Sprache der Liebe, die voll magischer, nicht eindeutig denotierbarer Bilder ist. So verweist die Zeile „Nebelherz hab ich gegessen“ auf einen Mythos von unbedingter Liebe, von Liebesopfer und Liebestod, insofern der Vers auf das Einverleiben des geliebten Gegenübers anspielt – „Und er ißt ihr Herz, und sie das seine“3 – und damit auf den Topos der unio mystica. Wendet man „Nebel“ in sein Palindrom „Leben“, so scheint die Tradition der verlebendigenden Hingabe auf. Und schließlich spricht der Bildreichtum von Nebelland und Nebelherz auch die Liebesmelancholie und damit gerade die fehlende, immerfort nur ersehnte Erfüllung an.
2. Falken „vom Jagdruf des Vogels getroffen“: In Bachmanns Überblendung von Greifvogel und Geliebter, von Jagdruf und Liebesruf, von Sturz und Hingabe ist eine Fülle von hochcodierten literarischen Liebes- und Bildtraditionen angespielt, von denen hier nur einige wenige herausgegriffen seien. So wird in Giovanni Boccaccios „Falken“-Novelle (aus dem Decamerone, 1349-1353) das zentrale Objekt einverleibt, ja buchstäblich verzehrt: Der liebende Edelmann serviert seinen Lieblingsfalken – der sein einzig verbliebener Besitz ist, nachdem eine nicht erhörte Liebeswerbung ihn ruiniert hat – der umworbenen Dame zum Frühstück, ohne dass diese überhaupt bemerkt, was sie da verspeist. Nach dem Essen äußert sie das Anliegen ihres Besuchs, nämlich die Bitte um eben diesen Jagdfalken, der von ihrem todkranken Sohn so sehr begehrt wird, dass er durch ihn „augenblicklich gesund zu werden“ hofft4 – eine Bitte, die der treu liebende Edelmann nun nicht mehr erfüllen kann. Weil der Sohn vor Kummer stirbt, wird die Dame zur Erbin eines reichen Vermögens, hatte doch ihr verstorbener Gatte in seinem Testament verfügt, dass sie 3 Diese Zeile ist der letzte Vers in Robert Musils Gedicht „Isis und Osiris“, auf den Bachmann in ihrem Roman Fall Franza anspielt und den sie in ihrem Radio-Essay Der Mann ohne Eigenschaften zitiert (Ingeborg Bachmann: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Dies.: Werke (Anm. 1), Bd. 4, S. 80-102, hier S. 99). 4 Giovanni Boccaccio: Das Decameron, übers. v. A. G. Meißner [zuerst 1782], Wiesbaden 1980, S. 158.
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alles erhalte, sollte der alleinerbende Sohn kinderlos sterben. Da angesichts dieses Reichtums nun ihre Brüder eine neue Eheschließung von ihr fordern, heiratet sie den verarmten Edelmann eingedenk seines Großmuts, wie es heißt, „da er ihr seinen letzten Falken aufgeopfert hatte“5. Der Falke fungiert bei Boccaccio also als vielfach bedeutsames Objekt. So ist er zunächst ein Jagdvogel und damit ein ganz besonderes Tier, das sich in der Tradition der Falknerei durch seine Nähe zum Menschen und dabei insbesondere durch den ihm zugeschriebenen „Adel“ auszeichnet. In diesem Sinne betont etwa Alfred Brehms eindrückliche Schilderung der „Edelfalken“, dass „ihr ganzes Leben und Wirken zur Bewunderung hinreißt. Stärke und Gewandtheit, Muth und Jagdlust, edler Anstand, ja, fast möchte man sagen, Adel der Gesinnung, sind Eigenschaften, welche niemals verkannt werden können.“6 Zudem ist Boccaccios Falke ein Liebesvogel und nimmt damit die Sinnbildlichkeit des Falken als Geliebte oder Geliebter auf, wie sie sich in zahlreichen Dichtungen tradiert findet: etwa zu Beginn des Nibelungenlieds in Kriemhilds Falkentraum oder im berühmten Falkenlied des Kürenbergers „Ich zôch mir einen valken“ (zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts). Darin gilt das Liebessehnen des – wohl weiblichen – Ich jenem davongeflogenen rotgoldenen Falken, der, „dô ich in gezamete, als ich in wolte hân, / [...] huop sich ûf vil hôhe und floug in anderiu lant“. Bei Boccaccio zeugt der Falke als einzig verbliebener Besitz von der ebenso standhaften wie hingebungsvollen Liebe des Edelmannes und ermöglicht dann die Begegnung des Paares sowie die letztliche Erfüllung des Liebesbegehrens. Denn er stellt eine wirkliche Liebesgabe dar, die keinem Tauschkalkül unterworfen ist: Weil die Dame nicht weiß, was sie isst, kann sie die Gabe nicht beantworten; und weil der Edelmann nicht weiß, dass die Dame den Falken erbitten wird, kann er ihn nicht für die Rettung ihres Sohnes einsetzen. Im Unterschied zu dem für die Liebeswerbung eingesetzten verschleuderten Vermögen kann der Falke nicht verschwendet, sondern nur gegeben werden: zur Speise. Damit gibt sich zugleich der Edelmann selbst hin, erscheint doch der Falke als Insignie des Adels und der Jagdkunst mit seinem Besitzer metonymisch verbunden. Aber die Begegnung des Paares liegt im Schatten einer Todesdrohung – der Sohn liegt im Sterben – und ist am Abgrund des Scheiterns situiert: Die Begegnung erfolgt allein aufgrund jenes Wunsches, dessen Erfüllung eben durch die Begegnung unmöglich geworden ist. Insofern ist der Falke hier auch ein Todesvogel, weil er als begehrtes Objekt zwar Leben zu geben bzw. zu retten verspricht, aber auch zu nehmen droht. Und tatsächlich hat ja der Tod des Falken den Tod des Sohnes zur unmittelbaren Folge. Dass dieser doppelte Tod des geliebten Falken und des geliebten Sohnes – sowie die daraus resultierende Gewalt der Brüder über die Zukunft ihrer Schwester – erst zur Liebeserfüllung des Paares führt, stellt den tragischen Grund dieser oft so leichthin nacherzählten Novelle dar.
5 Ebd., S. 162. 6 Alfred Edmund Brehm: Brehms Tierleben. Die schönsten Tiergeschichten, ausgew. v. Roger Willemsen, Frankfurt am Main 2006, S. 542.
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Boccaccios überaus anspielungsreiches literarisches Objekt des Falken hat Paul Heyse in seiner sog. Falkentheorie (in der Einleitung zum Deutschen Novellenschatz, 1871) zu einem „Dingsymbol“ degradiert, das jede Novelle organisieren müsse. Dem hat beispielsweise Theodor Storm freundlich widersprochen: Er wolle, wie er 1883 in einem Brief an Gottfried Keller schrieb, den Falken lieber „unbekümmert fliegen“ lassen.7 Doch Boccaccios Novelle legt eine dritte Position nahe, jenseits von Heyses technischer Funktionalisierung und Storms erzähltheoretischer Sorglosigkeit. Bei Boccaccio geht es um eine Situation des Entzugs und der Tragik, die der Falke als unerreichbares Objekt des Begehrens und des Erzählens schafft, während sich in ihm zugleich ein Überschuss an Bildtraditionen und Liebescodes bündelt. Nur auf diese Weise kommt seine literarische Fähigkeit zustande, Verbindungen zu knüpfen: zwischen Liebenden, zwischen Lebenden und Toten, zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem. Davon erzählt auch Hugo von Hofmannsthal im Libretto zu Richard Strauss’ Oper Die Frau ohne Schatten (1919). Hier hat der rote Falke des Kaisers auf der Jagd eine fliehende Gazelle gestellt: „da flog er / der weißen Gazelle / zwischen die Lichter – / und schlug mit den Schwingen / ihre süßen Augen! / Da stürzte sie hin / und ich auf sie / mit gezücktem Speer – / da riß sich’s in Ängsten / aus dem Tierleib, / und in meinen Armen / rankte ein Weib!“8 Einmal mehr verbinden sich hier Jagd und Liebe, Sturz und Hingabe: Das wandlungsfähige Weib, Tochter eines Geisterkönigs, wird zur geliebten nichtmenschlichen Kaiserin, während der Kaiser den Falken für den Angriff auf „ihre süßen Augen“ straft. In dem Moment, als der Kaiser nach einem Jahr reuig loszieht, um den entflogenen Falken zurückzuholen, entdeckt die Kaiserin freudig den Vogel, doch dieser erinnert sie warnend an einen vergessenen väterlichen Fluch: Wenn sie nicht innerhalb von drei Tagen einen Schatten finde – ein Bild für kommende Mutterschaft –, dann würde der Kaiser zu Stein. So wie die Kaiserin ohne Schatten unfruchtbar ist, so offenbar auch der Kaiser ohne Falken. Dass die schlussendliche Menschwerdung und Überhöhung des kaiserlichen Paares durch eine Zauberflöten-ähnliche Prüfung dann ganz ohne Falken auskommt, verdankt sich dem damit einhergehenden konsequenten Ausschluss alles Nichtmenschlichen sowie dem Ende der Sehnsucht nach einem ‚anderen‘ Leben. Der Reichtum an Intertextualität in Bachmanns Gedicht „Nebelland“ kann hier, zugespitzt anhand des Verses „vom Jagdruf des Vogels getroffen“, nur angedeutet werden. Dabei ist, so Roland Barthes, „der Inter-Text [...] nicht unbedingt ein Feld von Einflüssen; vielmehr eine Musik von Figuren, Metaphern, Wort-Gedanken; es ist der Signifikant als Sirene“9 – als verführerische Stimme also, die in diesem Gedicht über die Suche nach einer Sprache der Liebe umso stärker ist. Zu Beginn ihrer Geschichten von der Liebe schreibt Julia Kristeva, die Liebeserregung 7 Theodor Storm: Briefe, hg. v. Peter Goldammer, Berlin 1972, Bd. 2, S. 282 (Brief vom 13.9.1883). 8 Hugo von Hofmannsthal: „Die Frau ohne Schatten“, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, hg. v. Rudolf Hirsch u.a., Bd. 25.1, Frankfurt am Main 1998, S. 7-79, hier S. 12. 9 Roland Barthes: Über mich selbst, München 1978, S. 158.
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sei grenzenloses Glück und pures Leid zugleich, und beide „mettent en passion les mots“.10 Eine solche Passionierung jener „Worte für alle“, wie es bei Bachmann heißt, durchglüht das Gedicht trotz Eis und Nebel. Der fliegende Vogel, dessen Jagdruf das liebende Ich trifft und zu Boden stürzt, ist zugleich Inbegriff des „Aufflugs von Metaphern“, des „envol de métaphores“, der die Sprache der Liebe kennzeichnet, wie Kristeva pointiert formuliert: „le langage amoureux est envol de métaphores: il est de la littérature.“11 Insofern ist Bachmanns Gedicht über eine Liebe auch als ein Gedicht über den „envol de métaphores“ und damit über literarisches Schreiben zu verstehen.
3. Schreiben Das begehrte eigenwillige Objekt des Jagdvogels steht in inniger Beziehung mit dem Begehren zu schreiben. In Ingeborg Bachmanns Gedicht „Mein Vogel“, ebenso wie „Nebelland“ in Die Anrufung des großen Bären erschienen, ist es ein offenkundig weibliches Ich, das das Schreiben und den Jagdvogel begehrt – und das die Unmöglichkeit formuliert, die Erregungen einer weiblichen Stimme in ‚besänftigte‘ Kunst zu überführen. Dass diese Unmöglichkeit eine systematische ist, zeigt bereits jene Verbindung zwischen dem Bild des Falken mit der Frage des literarischen Schreibens, die „Das erste Gedicht“ von Annette von Droste-Hülshoff (1845) unternimmt.12 Diese Verbindung wird mit Hilfe einer spezifischen topographischen Markierung geknüpft: in einem Turm. Das lyrische Ich erinnert sich, als Kind – „Mich fühlend halb als Falken, / Als Mauereule halb“ – etwas Bedeutsames in einem verfallenden Turm verborgen zu haben: „Nun sinn’ ich oft vergebens / Was mich so tief bewegt, / Was mit Gefahr des Lebens / Ich in den Spalt gelegt? // Mir sagt ein Ahnen leise, / Es sei, gepflegt und glatt, / Von meinem Lorbeerreise / Das arme, erste Blatt“. Der Turm markiert dabei den magischen Ort der Kindheit mit all ihren leidenschaftlichen Wünschen, die unter „Gefahr des Lebens“ verfolgt wurden: so etwa der Wunsch, eine Dichterin oder ein Jagdvogel zu sein. Im verfallenden Turm manifestiert sich aber auch die Kluft der vergehenden Zeit. Sie hat die Schreibanfänge des Ich – das „erste Blatt“ und die mit ihm verbundenen Sehnsüchte – fast vergessen lassen: „Nie sorgt’ ein Falke schlechter / Für seine erste Brut!“ Und zudem ist der Turm, denkt man an Droste-Hülshoffs berühmtes Gedicht „Am Turme“ (1842), jener Ort, auf den für ein weibliches schreibendes Ich die Wün-
10 Julia Kristeva: Histoires d’amour, Paris 1983, S. 9. 11 Ebd. Die deutsche Ausgabe verzichtet auf „Aufflug“ und übersetzt „envol de métaphores“ mit „setzt Metaphern frei“ (Julia Kristeva: Geschichten von der Liebe, Frankfurt am Main 1989, S. 9). 12 Im Folgenden alle Gedichtzitate nach: Annette von Droste-Hülshoff: „Das erste Gedicht“, in: Dies.: Sämtliche Werke, hg. v. Bodo Plachta/Winfried Woesler, Frankfurt am Main 2003, Bd. 1, S. 326-329.
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sche nach einem leidenschaftlichen Leben beschränkt sind: der Schreibturm als Gefängnisturm.13 Auch in Bachmanns Gedicht „Mein Vogel“ verbündet sich ein weibliches Ich, das schreiben will, mit einem Jagdvogel „vom Turm“, mit einer „Eule“.14 Von ihr wird das Ich beobachtet, begleitet und mit Schreibfedern ausgerüstet: „Mein eisgrauer Schultergenoß, meine Waffe, / mit jener Feder besteckt, meiner einzigen Waffe!“ Der Jagdvogel tritt hier zunächst als Waffenbruder und als Geliebter auf, während das Ich „befeuert“ zu schreiben und zu leben sucht: „mein Vogel, mein Beistand des Nachts, / wenn ich befeuert bin in der Nacht, / knistert’s im dunklen Bestand, / und ich schlage den Funken aus mir.“ Zugleich allerdings erscheint der Vogel als räuberischer Gegner („wenn du mein Herz auch ausraubst des Nachts“) sowie als überlegener Herrscher, der dem leidenschaftlichen Ich seine „herrliche Ruhe“ entgegensetzt. Das Gedicht „Mein Vogel“ nimmt hier also die entscheidende Konstellation des Romans Malina bereits vorweg: zwischen der erregten Stimme des Ich und der überlegenen Ruhe der Titelfigur. Weder in „Mein Vogel“ noch in Malina wird das passionierte schreibende weibliche Ich jene höhere „Warte“ erreichen, „die du, besänftigt, / in herrlicher Ruhe erfliegst – / was auch geschieht.“ Diese letzten Zeilen aus „Mein Vogel“ mit ihrem Entwurf eines stillen, ja allzu stillen Schlussbildes stellen das Gegenprogramm zu jenem emphatischen Vers aus „Nebelland“ dar, der hier zentral betrachtet worden ist: „vom Jagdruf des Vogels getroffen“. Zugleich aber ist unübersehbar, dass das, woraus das stille Schlussbild zusammengesetzt ist, es doch nicht zur Ruhe kommen lassen kann: Vor allem der fliegende Vogel ist zuvor in einer Ambivalenz gezeichnet worden, die dafür sorgt, dass die „Differenz zwischen Bild und Materialität offengehalten“15 wird. Ein solches Offenhalten der Differenz erzeugt allererst jene poetische Fülle, die auf die Möglichkeit eines ‚Anderen‘ verweist.
13 Annette von Droste-Hülshoff: „Am Turme“: in: Dies.: Sämtliche Werke (Anm. 12), Bd. 1, S. 74 f. Die ersten Verse des Gedichts („Ich steh’ auf hohem Balkone am Turm / Umstrichen vom schreienden Stare, / Und laß’ gleich einer Mänade den Sturm / Mir wühlen im flatternden Haare“) geben die geschlechtercodierte Überblendung von Gefängnisturm und Schreibturm vor, die die letzte Strophe explizit formuliert: „Wär ich ein Jäger auf freier Flur, / Ein Stück nur von einem Soldaten, / Wär ich ein Mann doch mindestens nur, / So würde der Himmel mir raten; / Nun muß ich sitzen so fein und klar, / Gleich einem artigen Kinde, / Und darf nur heimlich lösen mein Haar, / Und lassen es flattern im Winde!“ 14 Im Folgenden alle Gedichtzitate nach: Ingeborg Bachmann: „Mein Vogel“, in: Dies.: Werke (Anm. 1), Bd. 1, S. 96 f. 15 Das Offenhalten dieser Differenz hat Sigrid Weigel in ihrer Lektüre von Ingeborg Bachmanns „Nebelland“ hervorgehoben: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses, Wien 1999, S. 151.
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Der Handschuh. Ein Accessoire der Leidenschaft
° er abe zoch. / in gegen dem himel er in bot. / den nam der urone […] den hantschuch bote uon siner hant. / des ist der helt R˘olant / uon aller christenhait geret, / also uns ° leret.1 daz puh
Das Zitat aus der mittelhochdeutschen Übertragung der Chanson de Roland (10751110) von 1170 zeigt ebenso wie die bildliche Miniatur das Sterben des Heiligen Roland im Kampf gegen die Heiden. Im Tode ruft der Ritter Gott an und hält gleichzeitig seinen Handschuh gegen den Himmel − als Zeichen dafür, dass er sich Gottes Gnade ergeben und diesem zurückgeben will, was er von ihm bekommen hat.2 Ein Engel nimmt Roland den Handschuh ab und geleitet anschließend auch dessen Seele ins Paradies. Im Bild ist dieser Vorgang zu einem einzigen verschmolzen, so dass der weiße Handschuh wie die Repräsentation der zum Himmel auffliegenden Seele wirkt (Abb. 1). Zwei mittelalterliche Bedeutungen des Handschuhs verdichten sich in dieser Szene: Erstens meint seine Übergabe an einen höher Gestellten die Anerkennung von dessen Herrschaft, zweitens symbolisiert der Handschuh im geistlichen Ornat die reinen Hände und somit die Unschuld. Wenn nun der Engel den Handschuh annimmt, werden sowohl Rolands Gottergebenheit als auch die Reinheit seines Opfers anerkannt. Das Kleidungsstück wird so zum Zeichen der Passion Rolands, seiner Nachfolge Christi im Märtyrertod. Bereits in dieser sakralen Darstellung zeigt sich also in der Repräsentation des Handschuhs ein Mehrwert, der aus seiner Kulturgeschichte hervorgeht und diese gleichzeitig in Richtung Passions- bzw. Affektausdruck überschreitet. Auch kulturhistorisch haben Handschuhe eine doppelte Herkunft: Sie sind funktionale Schutzkleidung auf der einen, Teil liturgischer und weltlicher Kleiderordnung sowie Herrschafts- und Rechtszeichen auf der anderen Seite.3 Einen Fetisch-Charakter im weitesten Sinne weisen sie auf, da ihnen als Dingen eine gewisse 1 „Er zog den Handschuh ab / und hielt ihn Gott entgegen. / Ein Engel nahm ihn ab. / Dafür wird nun der Held Roland / von allen Christen verehrt, / wie dieses Buch uns lehrt.“ Dieter Kartschoke (Hg.): Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, Frankfurt am Main 1970, V. 68896894. 2 Ebd., V. 6886-6888. 3 Zur Kulturgeschichte des Handschuhs vgl. William Hull: The History of The Glove Trade, with the Customs connected with the Glove, London 1834; J. A. Kment: Der Handschuh und seine Geschichte, Wien 1890; Anny Latour: Der Handschuh, Ciba-Rundschau Nr. 71, Basel 1947; Berent Schwineköper: Der Handschuh im Recht, Ämterwesen, Brauch und Volksglauben, Berlin 1938.
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Abb. 1: Rolands Tod, in: Rudolf von Ems: Weltchronik
Ordnungsmacht zuerkannt wird.4 Durch einen einzelnen Handschuh kann sich der mittelalterliche König vor Gericht vertreten lassen und durch seine Übergabe Rechte gewähren. Im Sachsenspiegel ist festgehalten, dass der Handschuh des Königs, an das Marktkreuz gehängt, den königlichen Sonderfrieden garantiert5, und auch hier zeigt sich in Gestalt des Kreuzes und des daran aufgehängten Handschuhs eine bemerkenswerte Nähe des Kleidungsstückes zur Passion. Umgekehrt ist die Übergabe eines Handschuhs Zeichen der Unterwerfung, beim Schwur sollen gerade die unbehandschuhten Hände die reinen Absichten anzeigen – als aus dem Altertum überkommenes Zeichen verfügt der Handschuh wie Freuds Urwörter über primären Gegensinn. Mit der höfischen Kultur des Mittelalters entstehen zusätzliche Spektren neben Kleider- und Rechtsordnung, spätestens seit der Übernahme des Handschuhs in die Frauenkleidung im Hochmittelalter weitet sich sein Gebrauch als vornehmes Kleidungsstück aus.
4 Vgl. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg 2006. 5 Der Sachsenspiegel, 3. Buch Landrecht, 56v., http://www.sachsenspiegel-online.de/ [letzter Zugriff: 10.3.2009].
DER HANDSCHUH. EIN ACCESSOIRE DER LEIDENSCHAFT
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Seit der Frühen Neuzeit wird er in Manufakturen und später Fabriken massenhaft hergestellt, die bevorzugten Materialien bleiben bis ins 20. Jahrhundert die gleichen: Fell, Seide, Kalbs-, Lamm-, Reh- und Hundeleder.6 Mit dem Einbüßen seiner Rechts- und Herrschaftsfunktionen verliert der Handschuh im 18. Jahrhundert kurzfristig an Bedeutung, um dann im 19. als unentbehrlicher Bestandteil der bürgerlichen − männlichen wie weiblichen − Kleidungsetikette eine Hochphase zu erleben. Der Handschuh wird nun ganz zum ‚Accessoire‘, zu Deutsch: zum ‚Beiwerk‘. Seinen Bedeutungsüberschuss verliert er damit jedoch nicht, vielmehr findet er sich in Literatur und Kunst sozusagen als bewegtes Beiwerk: Er funktioniert ähnlich wie die Details der Faltenwürfe und Gesten, die nach Aby Warburg unter Rückgriff auf antike Pathosdarstellungen heftiger Erregung Ausdruck verleihen und so „zivilisationsgeschichtlich nur vermeintlich überwundene Affektpotentiale“7 zu Tage treten lassen. Der Handschuh wird zum Objekt und Indikator unausgesprochener Leidenschaften. Sind die Künste seit der Aufklärung mit der Verwaltung einer schwierigen Affektökonomie betraut, die zwischen ihrer Thematisierung und ihrer Mäßigung balanciert8, so kann der Handschuh als eines jener Details gelesen werden, die in verhüllter Form am Rande der Darstellung Spuren leidenschaftlicher Erregung zu lesen geben. Es ist darum kein Zufall, dass in Schillers Ballade Der Handschuh aus dem Jahr 1797 ein Fräulein Kunigund von den verschiedenen mittelalterlichen Accessoires, die es an sich getragen haben mag, ausgerechnet einen Handschuh in den Raubtierzwinger fallen lässt. Nur dieses Accessoire ist ambivalent und überdeterminiert genug, um in der Ballade Gefühle in ihr Gegenteil zu verkehren und wie nebenbei mittelalterliche Minne- ebenso wie aufgeklärte Affektordnung zu durchkreuzen. Zunächst führt Der Handschuh ein Szenario buchstäblicher Affektbeherrschung vor: Geordnet nach Rang sitzen vor dem Löwengarten „König Franz, / Und um ihn die Großen der Krone, / Und rings auf hohem Balkone / Die Damen in schönem Kranz.“9 Den Kreis spiegelt die Arena wider, wo verschiedene Raubkatzen nur durch die Autorität des Löwen daran gehindert werden, übereinander herzufallen: „Und herum im Kreis, / Von Mordsucht heiß, / Lagern sich die greulichen Katzen.“10 Eine vom Rande herkommende Bewegung ist es, die dieses Schauspiel unterdrückter „Mordsucht“ stört: „Da fällt von des Altans Rand / Ein Handschuh von schöner Hand / Zwischen den Tiger und den Leun / Mitten hinein. / […] /
6 Vgl. Valerie Cumming: Gloves, London 1982. 7 Ulrich Port: Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755-1888), München 2005, S. 12. Vgl. auch: Sigrid Weigel: „Pathos-Passion-Gefühl“, in: Dies.: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte, München 2004, S. 147-172. 8 Matthias Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung, Stuttgart 1995. 9 Friedrich Schiller: „Der Handschuh“, 2. Fassung, in: Ders.: Gedichte, hg. v. Georg Kurscheidt, Frankfurt am Main 1992, S. 83. 10 Ebd., S. 84. Zur Affektkontrolle als Programm bei Schiller vgl. Port: Pathosformeln (Anm. 7), S. 233-242.
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‚Herr Ritter, ist Eure Lieb so heiß / […] / Ei so hebt mir den Handschuh auf.‘“11 Die Akteurin, Fräulein Kunigund, kontrastiert die beherrschten Affekte mit einer unbeherrschten Geste. Erst hiermit kommt auch Bewegung ins Publikum, das die aus unerwarteter Richtung doch noch ausgebrochene Leidenschaftlichkeit mit geradezu aristotelischen Gemütsbewegungen, mit „Erstaunen“ und „Grauen“, verfolgt. Einzig der Ritter bleibt beherrscht, sein „feste[r] Schritt“ hält die Raubtiere weiterhin gebannt, und „gelassen bringt er den Handschuh zurück“.12 Doch die Haltung von Ritter und Fräulein zueinander hat sich im Laufe des Handschuhwerfens und -holens umgekehrt, ganz so, wie man sprichwörtlich einen Handschuh umkehrt: Wartet Fräulein Kunigund nun „mit zärtlichem Liebesblick“, so lässt sich der Ritter am Schluss zu einer affektiven Geste hinreißen: „Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht; / ‚Den Dank, Dame, begehr ich nicht‘“.13 Wäre diese unritterliche Entgleisung wohl auch bei einem Schleier passiert? Es scheint hier der Handschuh selbst zu sein, der in seiner Überdeterminierung eine Eigenmacht entwickelt und den Ritter seinerseits dazu treibt, schließlich doch noch die Beherrschung zu verlieren und die Minneordnung zu missachten. Auch dies ist aber keineswegs eine willkürliche Reaktion, vielmehr zeigt der Ritter damit, dass er die Zweideutigkeit des Handschuhwurfes erkannt hat: In der Liebesprobe versteckte sich eine Kampfansage. Als eine solche nämlich hat sich der Handschuhwurf seit Mitte des 11. Jahrhunderts etabliert – im übrigen zeitgleich zur Aneignung des bislang männlichen Würdenträgern vorbehaltenen Kleidungsstückes durch die Damen. Die zweideutige Geste Fräulein Kunigunds lässt dem Ritter nun einerseits keine andere Wahl, als die Liebesprobe anzunehmen. In der Handschuhaufnahme zwingt sie ihn aber andererseits zugleich zur Annahme der Kampfansage, was ihn insofern beleidigen muss, als dieser Code selbstverständlich nur unter Rittern gilt. Das Skandalon des Handschuhs besteht somit in der Übertretung der Geschlechterordnung durch das Fräulein. Sich bei Rückkehr aus dem Löwenkäfig wieder in den Minnecode einzuordnen, hieße für den Ritter, die Ambivalenz des Wurfes als versteckte Beleidigung auf sich sitzen zu lassen. Stattdessen reinstalliert er sich in der Schlussgeste als Herr der Zeichen, indem er Kunigund demütigt. Um 1800 wird von Schiller in seiner Ballade die Passion der Einhaltung der Geschlechtergrenzen untergeordnet und gleichzeitig die durch die unmäßig affektive Geste des Fräuleins gestörte Maßhaltung der Affekte wiederhergestellt. Der Handschuh lässt Ritter und Leser auf diese Weise einen geradezu Kantschen Erkenntnis- und Befreiungsakt vollziehen: „Leidenschaft […] wünscht sich kein Mensch. Denn wer will sich in Ketten legen lassen, wenn er frei sein kann?“14 In der Geste des Handschuhwurfes aber bleibt die Literatur der unerwünschten Leidenschaft auf der Spur, wie auch die erste Szene in Heinrich von Kleists Käth11 12 13 14
Schiller: „Handschuh“ (Anm. 9), S. 84. Ebd. Ebd. Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hg. v. Reinhard Brandt, Hamburg 2003, S. 171.
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chen von Heilbronn zeigt. In der Exposition zu diesem erneuten Theater unmäßiger Leidenschaften wirft Graf Friedrich vom Strahl, vor dem Femegericht der Verführung Käthchens angeklagt, dem abwesenden Kaiser seinen Handschuh hin: STRAHL: Ihr unbekannten Herren der Feme! […] Wollt ihr meinem Wort schlechthin […] glauben: ja, ja, nein, nein; gut! Wo nicht, so will ich nach Worms, und den Kaiser bitten […]. Hier werf ich ihm vorläufig meinen Handschuh hin! GRAF OTTO: Ihr sollt hier Rede stehn, auf unsre Frage!15
Graf Otto übergeht die Geste Strahls zu Recht, denn ‚handschuhrechtlich‘ gesehen ist sie völlig sinnlos − kann sich doch nur der König durch einen Handschuh vertreten lassen. Die Geste ist somit nicht als rechtliche, sondern als affektive zu lesen, als erstes Anzeichen für die Aufgewühltheit Strahls, seine unverstandene Leidenschaft für Käthchen, die er dann im Anschluss an die Szene verbalisieren wird. Abgesehen von dem Detail des Handschuhwurfes beantwortet er aber zunächst klar die Fragen Graf Ottos. Auch in der anschließenden Befragung Käthchens durch Strahl zeigen sich Affekte nur auf Seiten des Mädchens: Es wird „hochrot“ und spricht „mit Affekt“, während der Graf „kalt“ bleibt.16 Am Ende der Befragung bricht Käthchen zusammen, und der Graf schließt mit einem Plädoyer für ihre Unschuld – und einem nochmaligen Hinweis auf den Handschuh: „STRAHL erhebt das Käthchen vom Boden: Ihr Herrn, was ich getan, das tat ich nur, Sie mit Triumph hier vor euch zu erheben! Statt meiner – Auf den Boden hinzeigend: steht mein Handschuh vor Gericht!“17 Wiederum macht dieser Verweis rechtlich keinen Sinn und wird vom Femegericht konsequenterweise übersehen. Das Zitat einer (falsch verstandenen) mittelalterlichen Rechtsordnung, sich von einem Gegenstand vertreten lassen zu können, kann als ein letzter Versuch zur (affektiven) Distanznahme gelten, bevor Käthchen von der Berührung durch den Grafen erzählt (ein Fußtritt). Auch der Graf verwechselt so bereits das Rechtliche mit dem Affektiven, und der Text folgt hier, indem er den Handschuh konsequenterweise mit dem Ausdruck von Affekt kombiniert: Stand sein Werfen in verräterischem Gegensatz zur ruhigen Erscheinung des Grafen, so lässt sich nach erneutem (Blick-)Kontakt mit dem geworfenen Objekt Strahls Erregung nicht länger verbergen, sondern springt nun gleichsam wieder auf seinen Körper über: Der Graf wird in der Folge nun seinerseits „glutrot“ und spricht „mit unterdrückter Heftigkeit“.18 Ist die funktionale Seite des Handschuhs neben seiner modischen im 19. Jahrhundert fast in den Hintergrund getreten, so lässt sich dafür die Tendenz erkennen, den Handschuh nicht nur als Schutz vor Kälte und Schmutz zu gebrauchen, sondern als Kleidungsstück, das Distanz schafft und so auch Leidenschaften buchstäblich handhabbar macht. Die im 19. Jahrhundert erscheinenden Büchlein zur Ge15 Heinrich von Kleist: Das Käthchen von Heilbronn, in: Ders.: Werke und Briefe, hg. v. Siegfried Streller, Berlin 1978, Bd. 2, S. 132. 16 Ebd., S. 138 und S. 142. 17 Ebd., S. 143. 18 Ebd., S. 144.
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schichte des Handschuhs kolportieren als dessen Ursprung ein altfranzösisches Poem, das Venus den Handschuh erfinden lässt: Als sie ihrem Geliebten Adonis nachfolgte, habe sich die Göttin ihre Hand an einer Dorne geritzt und sich darum von den Grazien eine Bekleidung nach Form ihrer Hand anfertigen lassen. Die Sage ist vermutlich eine Erfindung der Gattung Handschuhbücher und somit der Moderne.19 In ihrer Verbreitung zeigt sich einerseits der Wandel des Handschuhs vom Herrschaftszeichen zum erotisch besetzten weiblichen Gegenstand und andererseits die Vorstellung, dass die elegante Handverhüllung zugleich einen gewissen Schutz vor durch leidenschaftliche Bewegung ausgelösten Verletzungen biete. Als Extremfall eines solchen ‚Affektschutzes‘ kann der eiserne Handschuh gelten, der bei Goethes Götz von Berlichingen die Hand ersetzt und so „gegen den Druck der Liebe unempfindlich“20 werden lässt. Aber auch in Heinrich Heines Florentinischen Nächten scheint diese Dimension des Kleidungsstückes auf: Hier entzieht sich ein Arzt dem Schauplatz der Passionen – dem Totenlager einer Frau, an dem der Protagonist die Erinnerungen an seine vergangenen Leidenschaften erzählt –, indem er sich rasch „seine schwarzen Handschuhe“21 überzieht. Möglicherweise schreibt sich in dieser Zuschreibung an den Gegenstand eine volkskundlich belegte apotropäische Funktion fort, nach der Handschuhe auch als Abwehrzauber Verwendung finden.22 Der Handschuh ist zweifellos eines jener Objekte, denen in unterschiedlichen Kontexten immer wieder bestimmte Wirkungsmacht zugeschrieben wurde. Zusammen mit dem Umstand, dass er die Anwesenheit des Abwesenden bezeichnen kann und als Kleidungsstück zur „Peripherie einer Person“23 gehört, macht dies den Handschuh zum geeigneten Objekt des sexuellen Fetischismus. In dessen Blütezeit um 1900 lässt nicht zuletzt die aufwändige modische Gestaltung unter Ablösung des funktionalen Aspektes das Accessoire zu einem „Schauplatz des Blickes“24 werden. Auf diese Weise avanciert der (Frauen-)Handschuh zum Objekt (männlichen) Begehrens. Max Klingers 1878 gestalteter Bildzyklus Paraphrase über den Fund eines Handschuhs (Abb. 2) führt vor, wie das aufgefundene Accessoire einer Unbekannten zum erotischen Zentrum einer Traum- bzw. Alptraumfolge wird. Der Blick des Betrachters löst den Handschuh vom Körper seiner Trägerin ab und
19 Christiane Hertel: Studien zu Max Klingers graphischem Zyklus „Paraphrase über den Fund eines Handschuhs“ (1878-1881), Frankfurt am Main 1987, S. 42 f. 20 „Meine Rechte, obgleich im Kriege nicht unbrauchbar, ist gegen den Druck der Liebe unempfindlich: sie ist eins mit ihrem Handschuh; Ihr seht, er ist aus Eisen.“ Johann Wolfgang von Goethe: Götz von Berlichingen, in: Ders.: Werke, Hamburger Ausgabe, hg. v. Erich Trunz, München 1990, Bd. 4, S. 81. 21 Heinrich Heine: Florentinische Nächte, in: Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Briegleb, München 1997, Bd. 1, S. 558 und S. 586. 22 „Handschuh“, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. v. Hanns BächtholdStäubli, Berlin 1931, Bd. 3, S. 1403-1412, hier S. 1411. 23 Böhme: Fetischismus (Anm. 4), S. 376. 24 Ebd., S. 392.
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Abb. 2: Max Klinger: Ruhe (aus dem Zyklus Paraphrase über den Fund eines Handschuhs)
verwandelt das Beiwerk in einen eigenständigen „Signifikant[en] des Begehrens“25, der im Bildzyklus eine „phantasmatische Semantik“26 entwickelt. Zu solcher Fetischisierungs-Praxis liest sich Annette von Droste-Hülshoffs Das Fräulein von Rodenschild wie eine feministische Kritik avant la lettre. Die 1840 entstandene Ballade lässt „siedend jungfräulich Blut“27 auf biedermeierliche Affektordnung treffen. Diese Versuchsanordnung zeitigt zunächst ein Doppelgängerinnenerlebnis, das in jenem Moment unvermittelt abbricht, in dem das Fräulein sein als schamlos empfundenes Spiegelbild berührt. Erst Jahre nach der Episode setzt die Ballade mit ihrer letzten Strophe wieder ein: Und wo im Saale der Reihen fliegt, / Da siehst ein Mädchen du, schön und wild, / – vor Jahren hat’s eine Weile gesiecht – / Das stets in den Handschuh die Rechte hüllt. / Man sagt, kalt sei sie wie Eises Flimmer, / Doch lustig die Maid, sie hieß ja immer: / ‚Das tolle Fräulein von Rodenschild.‘28
Hat die Berührung der Doppelgängerin durch die bloße Rechte das Fräulein einst krank werden lassen, so scheint nun die behandschuhte Rechte jene Kompromissformel zu sein, dank derer die „Affekte im Rahmen der zeitgenössischen Konvention zum Ausdruck“29 gebracht werden können. In dem heidnisch-mänadisch oder zumindest nymphenhaft anmutendem Bild vom extensiven Tanzen eines „schön[en] und wild[en]“ Mädchens ist der Handschuh allerdings zunächst ein 25 Ebd., S. 377. 26 Ebd. 27 Annette von Droste-Hülshoff: „Das Fräulein von Rodenschild“, in: Dies.: Sämtliche Gedichte, hg. v. Karl Schulte Kemminghausen, Frankfurt am Main 1998, S. 251. 28 Ebd., S. 254 f. 29 Weigel: Literatur (Anm. 7), S. 154.
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Störfaktor. Er bildet in seiner Unbewegtheit einen Kontrast zum ‚klassischen‘ bewegten Beiwerk im Warburgschen Sinne (Faltenwürfe, Haare), das das Fräulein im ersten Teil der Ballade umgibt und unschwer als Symptom unterdrückter Leidenschaftlichkeit erkennbar ist: Hier werden „Mieders Schleifen gelöst“, dort „häkelt das Kleid“.30 Als das Fräulein schließlich die Doppelgängerin stellt, muss es sich in ihr selbst erkennen: „Das gleiche Linnen […] / Gleich ordnungslos um die Glieder wallt.“31 Bei der Berührung des Spiegelbildes durch die (bloße) Rechte verschwindet die Erscheinung. Die Ballade bricht ab, um in der zitierten Schlussstrophe zu berichten, dass sich das Fräulein von dem Erlebnis erholt hat und dennoch mit dem Handschuh stets ein Erinnerungszeichen daran trägt. Während das Accessoire bei Klinger ein phantasmatisches Narrativ entfaltet, markiert es bei Droste eine Leerstelle; welche Spuren die Doppelgängerinnenberührung am Körper des Fräuleins hinterlassen hat, bleibt ungesagt. Berichtet wird von diesbezüglichen Spekulationen: „Man sagt“, der Handschuh verberge die kalte Hand. Dem Gerücht zufolge wurde gerade der Teil des Körpers leidenschaftslos −„kalt wie Eises Flimmer“ − bzw. gar abgetötet, der mit der Doppelgängerin, die ihre Erregung zur Schau stellt, in Berührung kam. In dieser Sichtweise verweist der Handschuh auf eine versehrte weibliche Handlungsfähigkeit, die verhüllte Rechte, ebenso wie auf eine eingeschränkte Leidenschaftlichkeit. Er funktioniert demnach als freudscher Fetisch, der anstelle des imaginierten weiblichen Mangels gesetzt wird.32 Die Ballade aber ist komplexer als das on dit: So besteht das Unheimliche des Handschuhs gerade darin, dass er nicht – wie bei Klinger – leer ist, sondern die offensichtlich noch existente Hand bedeckt, über deren Zustand aber nichts bekannt ist. Schließlich lässt sich in der exzentrischen Zurschaustellung des einen Handschuhs, dessen Zweck unklar bleibt, eine subversive Strategie im Umgang mit der Spekulation um den weiblichen Mangel erkennen. So gewendet ist der Handschuh als Maskerade lesbar, in der weniger etwas verdeckt als vielmehr ein Verwirrspiel mit der Erwartung an etwas zu Verdeckendes inszeniert wird.33 Im Tragen des Handschuhs bewahrte sich das Fräulein demnach innerhalb der Konventionen eine gewisse (Ausdrucks-)Freiheit. Über hundert Jahre später, in einem Text Ingeborg Bachmanns, findet sich ein Echo auf das Motiv des festsitzenden Handschuhs. Abermals im Rahmen einer Tanzszene wird er hier zur Hülle des Herzens, vermag aber in keiner Weise vor fremdem Zugriff zu schützen: „Aber das Herz, das Herz ist in meinen Handschuh gerutscht, es hat sich dort verteilt über Nappaleder, und Malina drückt mein Herz, meinen Handschuh, und ich sage, ich werde nie wieder einen Handschuh verlieren, 30 Droste-Hülshoff: „Fräulein“ (Anm. 27), S. 254. 31 Ebd. 32 Zur Lektüre des Fetischs als Objekt, das in der männlichen Imagination an die Stelle des weiblichen Penis-Mangels tritt: Sigmund Freud: „Fetischismus“, in: Ders.: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Frankfurt am Main 1975, Bd. 3, S. 379-388. 33 Vgl. Julika Funk/Elfi Bettinger (Hg.): Maskerade. Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung, Berlin 1995.
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weil Du mir die Hand drückst.“34 Im Unterschied zum Fräulein von Rodenschild kann sich dieses Ich nicht als Herr seines Handschuhs inszenieren. Denselben nicht mehr verlieren zu können, ist im Kontext der diskutierten Handschuhszenen kein Gewinn, sondern verweist vielmehr darauf, dass diese Ausdrucksmöglichkeit durch eine lückenlose (Affekt-)Beherrschung verwehrt wird. Kulturgeschichtlich verliert der Handschuh seit dem Ende des „langen 19. Jahrhunderts“ zunehmend an Terrain.35 Auch als verhüllte Darstellungsmöglichkeit versteckter Erregung scheint er nicht länger zu funktionieren. Mit Überwindung der bürgerlichen Kleider- und Affektordnungen verschwindet seine Bedeutung als Accessoire zur Leidenschaft, die nun anders verhandel- und darstellbar wird. Übrig bleibt er als unheimliches Relikt einer bestimmten Affektkultur: Als solches beginnt ein Handschuh in Siri Hustvedts The Blindfold von 1993 ein gespenstisches Eigenleben zu entfalten. Eine junge Frau übernimmt in diesem Roman eine Gelegenheitsarbeit bei einem Schriftsteller, für die sie nicht zuletzt ihre Studien zur Literatur des 19. Jahrhunderts qualifizieren: Der Schriftsteller hat Objekte einer geliebten Toten gesammelt, „objects that were lost, abandoned, speechless, but not dead. […] after several weeks, I noticed that they seemed to lose that vivacity.“36 Der job nun besteht darin, die in Schachteln verschlossenen Dinge exakt zu beschreiben und ihnen so ihre untote „vivacity“ zu bewahren. Die Protagonistin nimmt sich zunächst vor, wohlstrukturierte Texte zu verfassen „small literary exercises based on a kind of belated nineteenth-century positivism.“37 Das Öffnen der ersten Schachtel, das in gewisser Weise auch den Roman eröffnet, fördert einen einzelnen Damenhandschuh zu Tage, und bereits an ihm scheitern jegliche Ordnungs- und Festschreibeversuche. Stattdessen entfaltet der Roman unheimliche Polyvalenzen, die Protagonistin verliert sich zwischen ununterscheidbar gewordenen Maskeraden, Tag- und Traumwelten. Als halbvergessenes Objekt wird der „rather dirty white glove“ so an der Jahrtausendwende zum Ausgangspunkt für die Heimsuchung postmoderner Begehrens- und Geschlechterverhältnisse durch nur scheinbar überkommene Passionen des 19. Jahrhunderts.
34 Ingeborg Bachmann: „Entwürfe zum Traumkapitel, 1. Hauptentwurf“, in: Dies.: „Todesarten“-Projekt. Malina, hg. v. Monika Albrecht, München 1995, Bd. 3.1, S. 107. 35 Cumming: Gloves (Anm. 6), S. 76-89. 36 Siri Hustvedt: The Blindfold, London 1993, S. 13. 37 Ebd., S. 16.
HANS BELTING
Nachrufe auf das Gesicht: Rilke und Artaud
Die Krise des Gesichts wird nirgendwo eindrucksvoller und nirgends früher beklagt als von dem jungen Rilke, während er in Paris an den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge arbeitet. Die Fragen nach Individuum und Identität erfüllen den Deutschen, der wie ein verspäteter Flaneur die Metropole durchstreift, mit Schrecken, wenn er in der anonymen Gesellschaft den Verlust eines persönlichen Todes, an dessen Drama er sich im Rückblick auf die eigene Kindheit auf dem Lande erinnert, in der neu entstandenen Masse entdeckt. In den Krankenhäusern wird „natürlich fabrikmäßig“ gestorben. „Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer gibt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod?“ Das tun nicht einmal die Reichen. „Der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben. Gott, das ist alles da: Man kommt, man findet ein Leben fertig, man hat es nur anzuziehen… Man stirbt, wie es gerade kommt; man stirbt den Tod, der zu der Krankheit gehört, die man hat“. Der Tod, der im Lebensentwurf eines Individuums seinen privilegierten Ort hatte, ja ein Ziel darstellte, „ist natürlich banal“ geworden. Er stellt für niemanden mehr eine Aufgabe dar.1 Man kann das Gesicht nicht im Tode verlieren, wenn man schon vorher keines mehr hat. Das Gesicht und der Tod treten bei Rilke gemeinsam in den Blick. Deshalb kommt es zu einer sarkastischen Beschreibung all jener Gesichter der Masse, die ein Verfallsdatum haben. Die Identität im Gesicht ist zu einer verlorenen Erinnerung geworden. „Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab“, und es „weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den anderen? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen.“ Aber vielleicht geht auch der Hund damit aus. „Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht. Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem anderen, und tragen sie ab.“ Mit kaum vierzig sind sie schon beim letzten. „Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher […] und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.“2 Man hat den Eindruck, Rilke spreche hier von Gebrauchs-Masken, aber er sagt immer Gesicht, wenn er Maske meint. Der Unterschied scheint hinfällig gewor1 Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910). Mit einem Kommentar von Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Frankfurt am Main 2000, S. 13. 2 Ebd., S. 11 f.
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den. Denn das Gesicht selbst ist zu einer billigen Maske geworden, die sich im Leben rasch verbraucht. Jedermann bekommt eine Stückzahl von Gesichtern zum Gebrauch zugewiesen. Sie sind rationiert wie eine Konfektion. Hier richtet die Moderne einen enttäuschten Blick auf ein altes Menschen-Ideal. Aber vielleicht gab es privilegierte Gesichter immer nur als Ausnahme? Waren sie einmal für jedermann zu haben gewesen? Aber es hatte Rollen gegeben, und die konnte man einüben. Für sie brauchte man auch Masken. Wenn es keine Rollen mehr gab, waren auch Masken überflüssig geworden. War auch das Individuum eine Rolle gewesen? Und konnte man es wie eine Rollenmaske ablegen? Wenn sich auch das Gesicht inzwischen als Maske erwies, so ließ es sich dennoch nicht abnehmen, denn da war nichts mehr darunter (es sei denn der blanke Schädel). Nur ein Bildhauer konnte eine Maske vom Gesicht abnehmen. Aber dafür musste er erst einmal ein Gesicht finden. Rilkes Pessimismus hat ein Vorspiel bei Georg Büchner, der in Dantons Tod jemanden im Jakobinerklub über die Verräter der Revolution sagen lässt: „Es ist Zeit, die Masken abzureißen“.3 Als dieser Satz Danton berichtet wird, antwortet dieser, der das Spiel bereits verloren gibt, kurz und drastisch: „Da werden die Gesichter mitgehen.“4 Das „Nichtgesicht“ scheint sich in den Albträumen des Malte auf eine schreckliche Weise zu bewahrheiten, als dieser an der Ecke der Rue Notre-Dame des Champs auf „die Frau“ trifft. Sie „war in sich hineingefallen, vornüber in ihre Hände“. Sein eigener Schritt erschreckt sie in der leeren Straße so sehr, dass sich die Frau „aus sich ab“ hob, zu heftig, „so dass das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form“. Es kostete ihn eine Anstrengung, „nicht zu schauen“, was sich aus den „Händen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht“.5 Da war es selbst ein Trost, daran zu denken, dass es sich im Krankenhaus anonym sterben ließ. Die Hohlform der Maske hatte Rilke in Rodins Atelier, wo er Abgussverfahren beobachten konnte, oft genug gesehen. Jetzt spricht er aber von einem Gesicht, von dem es keine Rückseite, als Hohlform, geben kann. In der Kunst lagen die Dinge für Rilke ohnehin anders, da das Gesicht eine Form erhielt oder behielt, die es im Leben immer verlor. Gesichter in der Kunst waren eine Erinnerung an das, was sie einst im Leben gewesen waren, oder bargen die Hoffnung, dass sie noch eine Zukunft hatten. In den Texten über Rodin nennt er, wie dieser es selbst tat, alles Masken, was der Bildhauer schuf, auch wenn es Vollbüsten waren. Sie waren ohnehin Masken, insofern als sie keine echten Gesichter waren. Im ersten Text über Rodin (1902) wird „die Maske des Mannes mit der gebrochenen Nase“, eines frühen Werks aus dem Jahr 1863-64, als das erste Porträt gerühmt, das Rodin geschaffen hat (Abb. 1).
3 Georg Büchner: Dantons Tod. Ein Drama, Darmstadt 2002, S. 14. 4 Ebd., S. 23. 5 Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (Anm. 1).
NACHRUFE AUF DAS GESICHT: RILKE UND ARTAUD
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Abb. 1: Auguste Rodin: Mann mit der gebrochenen Nase
„Als Rodin diese Maske schuf, hatte er einen ruhig sitzenden Menschen vor sich und ein ruhiges Gesicht. Aber es war das Gesicht eines Lebendigen“ und also „voll Unruhe und Bewegung“. Eine Kunst, die Leben darstellen (und zugleich bannen) wollte, durfte nicht „jene Ruhe, die es nirgends gab, zu ihrem Ideal machen“.6 Das Leben hatte in einem solchen Gesicht gearbeitet, und Rodin hatte hier „seine Art, durch ein Gesicht zu gehen, schon ganz ausgebildet“, und dies in „jeder Linie, die das Schicksal gezogen hat“. Er arbeitete, „ohne zu fragen, wer der Mann war, dessen Leben in seinen Händen noch einmal verging“. Er konnte die Gesichter der Menschen nicht mehr sehen, „ohne an die Tage zu denken, die daran gearbeitet hatten“.7 Aber Leben war in jeder Gebärde. In seinen Vollfiguren hatte Rodin längst den Ausdruck des Gesichts, und seine Nacktheit, auf den ganzen Körper übertragen. Darin bestand die Revolution seiner modernen Skulptur. Rodins Menschen kamen allein in ihrem leidenschaftlichen Körper zum Leben: „Das Leben, das in den Gesichtern wie auf Zifferblättern stand, leicht ablesbar und voll Bezug auf die Zeit – in den Körpern war es zerstreuter, größer, geheimnisvoller und ewi-
6 Rainer Maria Rilke: Auguste Rodin, Leipzig 1913, S. 25; vgl. auch S. 18, 23, 49; John L. Tancock: The Sculpture of Auguste Rodin, Philadelphia Museum of Art, Boston 1976, S. 473 ff., Nr. 79. 7 Ebd.
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ger. Hier verstellte es sich nicht“8, wie es so leicht in den Gesichtern geschieht. Die Körper Rodins lehnen sich in ihren Gesten gegen alle Rollen auf, die man ihnen immer abverlangt hatte. Aber diese Auflehnung gab dem Verlangen nach Natur und Freiheit mehr Raum als dem Ausdruck einer Person. Rilke befand sich noch im Prolog eines Jahrhunderts, in dem Ereignisse wie Auschwitz die Frage nach dem Gesicht unerträglich verschärften – und alle überhaupt noch denkbaren Bilder in Zweifel setzten.9 Die bildende Kunst hatte sich aber schon lange vom Gesicht zurückgezogen, denn die Avantgarden ließen sich von der Maschine faszinieren und zogen, wie es Pontus Hulten einmal formulierte, die „mechanische Schönheit“ dem „sentimentalen“ Gesicht vor.10 Ein Rennwagen löste bei den Futuristen die berühmte hellenistische Nike-Statue im Louvre als Schönheitsideal ab. Auch der leidenschaftliche Fernand Léger war ein Protagonist der Maschinenästhetik. Da er sein Ideal vom nostalgischen Kult um das Lächeln im Gesicht der Mona Lisa bedroht glaubte, polemisierte er mit allen Mitteln gegen die Gesichter in der Kunst, die er als ein bürgerliches Klischee abtat, das einen veralteten Subjektbegriff mit sich führte. Für ihn galt nur das „plastische“ Objekt, das kein menschliches Gesicht besaß, sondern eine Form ohne andere Bedeutung zeigte.11 Die Welt sollte aufhören, anthropomorph auszusehen. In seiner Anklageschrift zur Antiquiertheit des Menschen entwirft Günther Anders 1956 ein Szenarium, aus dem der Tod ausgewandert ist. Deshalb weckt auch das lebende Gesicht kein Interesse mehr. Die „Ikonomanie“, von welcher er bereits damals spricht, ist Ersatz für eine verlorene Realität des Menschen. In seinem Buch beruft sich Anders auf Evelyn Waughs berühmten Roman über die Friedhöfe von Hollywood, The Loved One, der 1948 die europäische Kritik an der Kultur der USA einleitete. Die Parfümierung des Todes, so lautet seine These, vertreibt seine Realität zugunsten einer sterilen Fiktion des Lebens. „Was auf diesen Friedhöfen begraben wird, ist eben nicht der Tote, sondern der Tod“.12 In der Verwaltung des „Whispering Glades“, wie der kalifornische Friedhof heißt, wird die Leiche registriert als „just another has-been“, aber im Kundengespräch ist nur vom „lovedone“ die Rede, statt der Person einen Namen zu geben.13 Die USA erschienen in dieser frühen Analyse noch in der europäischen Distanz als Ort einer exotischen Zukunftsgesellschaft. Anders sieht aber erste Anzeichen für den schleichenden Gesichtsverlust des Menschen auch auf dieser Seite des Atlantiks. Das sei nicht „die oft beobachtete Schablonenhaftigkeit heutiger Physiognomien, nicht das Faktum, dass auch Gesichter, durch identische Vorbilder geprägt, heute einander ähnliche Serienproduk8 Ebd. 9 Zu Bildern des Holocaust vgl. Georges Didi-Huberman: Images malgré tout, Paris 2003. 10 Zum Maschinenkult vgl. den Katalog von Karl Gunnar Pontus Hulten: The Machine as seen at the End of the Mechanical Age, Museum of Modern Art, New York 1968, S. 10. 11 Fernand Léger: Fonctions de la peinture, Paris 1965; zur Maschinenästhetik vgl. S. 53 ff. 12 Evelyn Waugh: The Loved One. An Anglo-American Tragedy, Boston 1948, S. 7. 13 Ebd., S. 26 und S. 38.
NACHRUFE AUF DAS GESICHT: RILKE UND ARTAUD
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te werden, und dass sich Gesicht von Gesicht nur noch so unterscheidet, wie Tuch von Tuch: nämlich durch seinen individuellen Webfehler“. Vielmehr gehe jetzt selbst das „schablonisierte Gesicht noch verloren“.14 Unter den Stimmen der Nachkriegszeit, die aus der Debatte um das gefährdete Gesicht herausragen, verdient Antonin Artauds oft zitierter Text über das menschliche Gesicht (Le visage humain) einen neuen Blick. Er hat ihn veröffentlicht im Juli 1947, als seine Portraits et dessins in der Pariser Galerie Pierre ausgestellt wurden. Daher der wütende Appell, die Zeichnungen als Symbole des Gesichts ernst zu nehmen. Nach seiner Entlassung aus den psychiatrischen Kliniken, in denen er lange Jahre verbracht hatte, wollte er mit der Produktion von Porträtzeichnungen sich selbst vor dem drohenden Verlust von Identität retten. Seine Freunde sollten dabei als Modelle und Mitkämpfer mitwirken. Die Verstorbenen treten auf diesen Blättern in Totenmasken auf, während die Gesichter der Lebenden in bohrender Intensität danach befragt werden, ob sie denn bereits zu einem wirklichen Gesicht geworden waren. Die intimen Dialoge, die der Zeichner mit allen diesen Gesichtern führt, sollen diese dazu zwingen, etwas preiszugeben, was sie selbst noch nicht wissen, obwohl sie es seit langem in sich tragen.15 In der Blütezeit der Abstraktion, die in den 1940er Jahren zum unumstößlichen Credo der bildenden Kunst geworden war, wirkten Artauds Zeichnungen als Versuche eines Literaten bereits anachronistisch. Aber er wendet gegen den neuen Trend hartnäckig seinen Willen, „die Züge des menschlichen Gesichts so wiederzugeben, wie sie wirklich sind. Denn so, wie sie sind, haben sie noch nicht die Form gefunden, die sie aufrufen. Was besagen will, dass das (gegebene) Gesicht (visage) noch nicht seine face gefunden hat und sie deshalb vom Maler erst bekommen muss“. Face ist ein anderes Wort für Gesicht, aber der Begriff trägt auch die Bedeutung von Antlitz und Selbstausdruck in sich, der im Gegensatz zur bloß physiognomischen Ähnlichkeit stand. „Das menschliche Antlitz, so wie es ist, sucht sich noch selbst. Es trägt eine Art beständigen Tod in sich, vor dem es der Maler retten (sauver) muss, indem er ihm seine wahren Züge zurückgibt“.16 Das ist auch ein Bekenntnis zum Porträt, das schließlich die Sicherung gegen den Tod einmal zu seiner Aufgabe gemacht hatte. Aber Artaud will sich nicht in eine Tradition einreihen, die er in dem, was er selbst will, für gescheitert hält. Auf den alten Porträts begnügten sich die Maler mit „bloßen Oberflächen“, auf welchen sie die Gesichter zum Sprechen gebracht hatten. Artaud aber will dem wahren Gesicht der Menschen auf die
14 Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen (1956), 7. Aufl. München 1992, Bd. I, S. 85 und S. 280; zu seiner Referenz vgl. Waugh: The Loved One (Anm. 12). 15 Zu den Zeichnungen vgl. Paule Thévenin/Jacques Derrida (Hg.): Antonin Artaud: Dessins et portraits, Paris 1986, darin Derridas Text „Forcener le subjectile“; vgl. auch Margit Rowell (Hg.): Antonin Artaud. Works on Paper, Museum of Modern Art, New York 1996, dort ist der Text Artauds auf S. 94 ff. mit englischer Übersetzung wieder abgedruckt und auf S. 89 ff. von Agnès de la Beaumelle kommentiert. 16 Artaud: „Le visage humain“, in: Rowell: Antonin Artaud (Anm. 15), S. 95.
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Abb. 2: Antonin Artaud: Ohne Titel
Spur kommen. Es hat als „Form nie ganz mit ihrem Körper korrespondiert, sondern sich daran gemacht, etwas anderes als der Körper zu sein“.17 Kurz vor seinem frühen Tod zeichnet Artaud im Januar 1948 ein wunderbares Blatt, das noch einmal den Kampf um das Gesicht aufnimmt und auch nach seinem eigenen Gesicht forscht (Abb. 2).18 Auch auf dieser Zeichnung agieren die Gesichter körperlos und souverän miteinander wie in einem großen Maskentheater des Lebens. Am linken Blattrand baumeln an einem Seil Theatermasken wie nutzlos gewordene Requisiten, nachdem ihre Rollen alle vom Tod eingeholt wurden. Im rechten Teil reihen sich wahllos Gesichter aneinander, als warteten sie noch auf ihren Auftritt. Aber zum Auftritt kommt allein Artauds eigenes Gesicht. Er scheint auf das Leben zurück zu blicken, als wollte er sich davon verabschieden, aber er steht noch, als einziger unter all den Masken, im Leben und sucht daher immer noch nach seiner wahren „face“, um Artauds eigenen Begriff für das endgültige Gesicht aufzugreifen. Dem Tod, den er damals schon nahen fühlte, rang Artaud noch einmal einen Ausdruck des Lebens ab, in dem das Gesicht noch immer im Werden ist. Ist es aber einmal zu dem geworden, was seine Bestimmung ist, so ist 17 Ebd. 18 Privatsammlung. Zur 64 x 49 cm messenden Zeichnung, die etwa im Januar 1948 entstanden ist, vgl. Rowell: Antonin Artaud (Anm. 15), Nr. 111.
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seine Zeit schon abgelaufen, und es erstarrt zur Maske, wie es die Toten zu beiden Seiten bezeugen. Artauds Gesicht scheint das Haar seiner Freundin Yvonne Allendy zu streifen, deren Tod er nach mehr als zehn Jahren noch immer betrauert. Ihre übergroße Maske, in unbeweglicher Frontalität, ist hinter seinem Kopf zu einem Bild der Erinnerung erstarrt, aber sie wiederholt sich noch mehrfach auf der Diagonale nach unten wie im Echo, als wollte Artaud andeuten, dass mit seinem Tod auch ihr Bild der Erinnerung verblasst. Sein eigenes Gesicht hört aber noch eine kurze Zeit lang nicht auf „zu sagen, was es zu sagen hat“.19 Artauds Apologie des Gesichts ist ein vorweg genommener Nachruf. Sie mündet in den Gedanken, dass das Gesicht die Maske schon in sich trägt, während es noch gar nicht seine Form gefunden hat, die es der verbleibenden Zeit abringen muss. Der Unterschied zu den künstlich hergestellten Masken liegt in dem Lebensprozess, der im echten Gesicht abläuft. In diesem Prozess ist das Gesicht nicht statisch, sondern weist ebenso auf den Weg zurück, den es schon durchlaufen hat, wie es auch auf die Maske vorausweist, zu der es im Tod werden wird. Die Zeichnungen Artauds lassen die Begriffe in seinem Text hinter sich. Das Drama des Gesichts ist das Drama des Subjekts, das Artaud aus dem Schatten des Todes entwickelt. Sein Text wirkt aus heutiger Sicht bereits wie ein Abgesang, der in der Mediengesellschaft kein Gehör mehr finden wird.
19 Artaud: „Le visage humain“, in: Rowell: Antonin Artaud (Anm. 15), S. 95.
GINKA STEINWACHS
in meinen fenstern gereift 3 drei 3 passionsfrüchte für sigrid weigel
rogamos disculpen las molestias ein gedicht muß man / frau unter einsatz seiner / ihrer person lesen. nüchtern oder trunken gilt mir gleich, aber: kein butterbrot in der einen und die fernbedienung des fernsehers in der anderen hand. lesen heisst: STern sehen. G-stern heute immer. lesen heisst: sich verausgaben (export) und: sich vereinnahmen lassen (import). man / frau schwebt dabei dauernd in l i ebensgefahr. fliegen ja, man / frau darf fliegen. liegen ja, man / frau darf liegen. baden ja, man / frau darf baden. poren augen & ohren auf. so wird der / die leserIn akteur und die lektüre gerät zum kunststück.
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fenster eins: I wäre da nicht das hochbett mit seinen orangenholzinlays, welche den hafen von valldemossa thematisieren, wäre da nicht das hochbett – nennen wir es ANNA – hier heisst jedes bett ANNA, anna oder marie – es gäbe über fenster eins nichts zu sagen. besonders seit der baum fort ist – sein beschützer, es der schützling – ich mag lieber geBÄUME als geBÄUDE – ist es verstummt. es genügt sich mit seiner einteilung mal zwei. jeder flügel hat drei scheiben, gleichsam vitrinen, in denen die kostbarkeiten aus luft und natur sich fangen. mal morgentau, mal mond, mal dein eigenes gesicht wie im spiegel. bei vollmUnd dein lachen, bei halbmUnd ernst, bei neumUnd trauer. du bist mUndfrau wie man sagt jungfrau. vollmUnd ist das wort. II das fenster – vollmUndig – spricht eine gepflegte sprache. es kommen lauter hispanismen darin vor. und fettdeutsche satzbrocken. und proteste gegen das magerdeutsch. und musik von DU nach moll. und umgekehrt. do re mi fa sol. da steckt sonne drin. im unscheinbaren deutschen wort be SON ders, steckt sonne drin. sie hat drei tage lang nicht geschienen. drei tage sind lang. wie lang schon ein tag ist, kann nur der kranke ermessen, dem stunden zäher fliessen. ein tag ist unendlich lang und das MIT ohne = ohne rücksicht auf die kürze des lebens. der tag, der lange tag und sein widerpart: das kurze le-
IN MEINEN FENSTERN GEREIFT
ben. der tag als vorleben des lebens. das leben als nachleben des tags. jetzt, schon jetzt, möchte sie ihm socken anstricken, dem tag, und das mittelstück im slip verstärken und die ärmel verlängern, den kragen ausbessern. &&& . das leben als blue jeans unten und als sweater oben. alles in allem: mal pull-OVER, mal pull-UNDER, das leben. ein produkt der textilindustrie wie ihr text der einer textilindustriellen. sie schreibt im wettlauf mit der luft. ihr thema: das fenster als fernseher ist nicht aus der luft gegriffen, aber LUST inbegriffen.
fenster zwei: I fenstergedicht eins ist noch nicht ausgesprochen, da bringt die sonne um punkt zwölf die zwei, eine starke zwei an den tag. zwei hände hab ich an jedem arm, das hält die vier kamine warm. hundert stufen hinauf – wendeltreppe de enharmonia mundi – und hundert stufen hinab. zur terrasse & in den keller. die zwei, fenster zwei, läßt sich vielleicht bei stufe fünfzig lokalisieren. hier schneien berge namens CORNADORES herein. tragen sie hörner? es sind zwillinge. gemini. cap geminis & cap grossos. grUssköpfe, die einen und grOssköpfe die andern wie aus pappmaché. eine barceloneser arbeit von *ingenio*, carrer rauric numero 6. bar (bar) cel (himmel) ona (welle). tatsächlich haben die gehörnten kein geweih, sondern köpfe aufgesetzt.
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II sie machen, als der bussard fliegt, sie machen, als der bussard wie ein feuerball glüht im abendlicht, ein ernstes gesicht. vom land ab- und dem meer zugewendet. das meer bin ich, denkst DU und baust DIR im fenster, im fenster wie in einem laden, DEIN tischchen auf. ich backe mir mein arbeitsplätzchen, sagst DU. es schmeckt süss wie weihnachten. die heiligen drei könige sind noch nicht weit. es sind neuerdings auch drei königINNEN dazugekommen. sie heissen nicht balthasarine noch melchiorine noch kasparin, sondern christina ginka S I G R I D & tauchen in den achtziger jahren erstmalig gemeinsam in hamburg auf. tor zur welt. wer‘s glaubt, wird selig. DU bist dort nicht selig, aber hier INselig geworden.in jeder inSEL steckt eine halbe seligkeit darin. und hier ist die seligkeit ganz. p a r a d i e s d i e s.
fenster drei: I sie wischt sich die augen. sie wischt sich schlaf aus den augen. und dem fenster den tau. DEIN blick geht in die tiefe. in ein grünes tal. nennen wir es OVAL. das wort oase ist fehl am platze. hier rauscht das rohr und es donnert der bach, in einiger nähe sturzbach TORRENT. hier blüht klee, saftgrüner gelber klee. hier duften clementinen in weisser pracht. wieder gilt es stufen. fünfzig an der zahl. das grundstück fällt ab. hier beugen sich dalis weiche uhren über postmaurische mauern ins kreuz.
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zeit seimt, der tag so kurz, das leben lang, die ist mit gesumm honig geworden. sie leckt ihn ab, sieht sich schon mit harke. heute bist DU, heute ist das laub dran. es wird erst in grosse schwarze säcke verpackt, dann von dort auf das kleine dreieck verschoben und endlich verbrannt, weil die permissos zum feuer anzünden beim rathaus offen liegen. winter in mallorca. soviel sicht. II soviel licht. sie sieht bis zur pinie von deià am anderen ende des tales, einer schüssel. SOLLER, mallorca, balearic islands: als gott es geschaffen hatte und sah, daß es gut war, zerbrach er die gußform. so kann es einzig bleiben. sie ist selber fensterlade, fensterflügel. DU breitest schwingen aus. einmal in leonardomanier panoramatisch und einmal wie im vogelflug der tauben diese landschaft singend. nein, tauben singen nicht, sie gurren. die sprache täuscht. es sind silberglöckchen. silberne silbeNglocken in der luft. die sprache täuscht. der vogelton ist trommel. ja, er trommelt wie ein rummeltopf, rummeltopf, rummeltopf und der rummeltopf heißt hierzulande XIMBOMBA. am 16ten januar, ja ja ja nu aber, da ist sankt antoniustag und alle leute haben ximbombas. das feuchte kohlblatt am rohr erzeugt den ton. die frage ist nur, wie der von BINILUZ bis b e r l i n trägt.
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RENCONTRES
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An den Absender zurück – Aus Heinrich Heines letzter Korrespondenz I Lieber Benjamin! Sie haben mich schon wie einen alten Freund behandelt, indem Sie mich so lange ohne Antwort gelassen haben. Wissen wir doch beide, welchen Gründen ein langes Stillschweigen beizumessen ist. Aber wo befindet sich in diesem Augenblick mein wahlverwandter Zeitgenosse? Wo ist er? Wo weilt er? Im Abendland oder im Morgenland? − − − Ja, Reisende waren wir beide auf diesem Erdball, das war unsre irdische Spezialität, und diejenigen, welche nach uns kommen, mögen nach Belieben darüber glossieren, inwieweit der Verfasser der Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts und der Berichterstatter der Lutetia zusammen paßten. Ich kann jener drei Februartage anno achtundvierzig nicht ohne Wehmut gedenken, denn sie haben uns seit dem Tag, da wir im Tuileriengarten spazierten, ein zweites Mal in Paris zusammengeführt. Ich weiß, Sie recherchierten für die Neue Rheinische Zeitung die Revolution. Das ist nun lange her. Wir flanierten ein Stück von den Boulevards, beständig Getrommel, Schießen und Marseillaise – diese dämonischen Freveltöne, das unaufhörliche Lied! Es sprengte mir fast das Gehirn und ach! das staatsgefährlichste Gedankengesindel, das ich dort seit Jahren eingekerkert hielt, brach wieder hervor. Um den Aufruhr, der in meinem Gemüte entstand, einigermaßen zu dämpfen, brummelte ich Sätze vor mich hin, die ich für die Korrespondenz in der Allgemeinen Zeitung schon brouilloniert hatte. „Den Reichen, jenen vornehmen Dieben, die für ihre Geldkasten zitterten, ward es beinahe unheimlich zu Mute als sie vernahmen daß man Diebe, welche man bei Plünderungen ertappte, auf der Stelle erschieße. Unter einem solchen Regimente, dachten sie, ist man am Ende doch seines Lebens nicht sicher.“ Sie erinnern sich? Ich glaube, der ironische Ton meines Mißmuts hatte nicht Ihren Beifall. Aber waren wir nicht eines Sinnes? Die französischen Ouvriers kämpften uneigennützig für die Republik. Die haben sie jetzt – An die Stelle der rohesten Plünderungslust der Aristokratie werden Gesetze treten, die der Egoismus der herrschenden Kaste erläßt und die nichts anderes sind als eine andere Art von Zähnen, womit sie ihre Beute erhascht, und eine andere Art von Dolchen, womit sie das Volk meuchelt. Einst hatten Sie, theuerster Benjamin, als Sie meine Englischen Fragmente rezensierten, solchen Sätzen Beifall gezollt. Doch jetzt, während die heiseren Schreie der Republik uns umtosten, schwiegen Sie. Es war mir plötzlich, als befänden wir uns wieder unter den Bäumen bei den Tuilerien, als Sie, in tiefe Nachdenklichkeit versunken, neben mir einherschritten. Ich sprach von den deutschen Exi-
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lanten in Paris, von denen einer, dessen Freund von einem Aste, der eben herunterfiel, erschlagen ward, hier nicht mehr spazieren wollte. Ihre Augengläser blitzten auf. „Wer das Exil nicht kennt“, riefen Sie aus, „begreift nicht, wie grell es unsere Schmerzen färbt, und wie es Nacht und Gift in unsere Gedanken gießt.“ Kein Wahnsinniger sei es, der in den Tuilerien nicht mehr spazierengehn will. „Er sieht“, setzten Sie in schauerlich ruhigen Worten hinzu, „die Bäume zwar schön grün, aber die Wurzeln in der Erde blutrot“. Auch jetzt, während die armen Leute in Kittel und Lumpen an uns vorüberstürmten zum nächsten Barrikadenbau, worin die Franzosen so viel Talent besitzen, und ich bewundernd ausrief, wie sie diese Bollwerke und Verschanzungen, zu deren Anfertigung die deutsche Gründlichkeit ganze Tage bedürfte, in wenigen Minuten improvisierten, als hätten die Erdgeister dabei unsichtbar die Hand im Spiel – wieder sah ich Ihre Augengläser aufblitzen, und mir war es, als vernähme ich aus Ihrem Munde gar seltsame Naturlaute, wie schlafende Gedanken. War, was Sie nun in Paris sahen und hörten, jenes „Jetzt“, in welchem „die Wahrheit mit Zeit bis zum Zerspringen geladen“ sei? Fügte sich, in einem Augenblick der Gefahr, auch in Ihrem Kopfe schon das Brouillon eines Textes – den Sie einmal schreiben würden? Ich erkannte Wörter wie „in Bildern neu gruppiert“, „Urgeschichte“, „den Traum von einer Sache“, auch der Name unsres Freundes Marx lugte aus diesem Wortgeflecht hervor. Als ich dann wieder hinter meinem Fenster saß und der Lärm unter mir allmählich verstummte, zog ich den einzigen Brief hervor, den ich einst von Ihnen empfangen, und ich gestehe, die Würdigung, die Sie mir in demselben angedeihen ließen, sie rührte mich in diesem Augenblicke zu Tränen. Der Brief handelt von Baudelaire, von dem man damals noch nicht wußte, was Ihnen schon erkennbar. Er werde „das letzte Gedichtbuch von europäischer Wirkung“ hervorbringen, und Sie stellten, nach dem Ossian, das Buch der Lieder in den gleichen Rang. Merkwürdig! Zur selben Stunde, als wir beide in die Passage des Panoramas vor dieser Revolution der Schneider und Schuster entwichen, jener guten Leute und schlechten Musikanten, um ein wenig von der historischen Gefühlsrichtung zu empfangen, die einem dort entgegenweht, übersetzte mein armer Freund Gerard de Nerval aus eben jenem Buche. Er nahm sich nicht „irgendein republikanisches Rutenbündel“ vor, das in meinem Werk wohl zu finden sei, sondern das Lyrische Intermezzo und Die Nordsee. „Jetzt“, so bemerkt er, „im Augenblick des Aufruhrs, où les cris enroués de la place publique ne se taisent jamais, da tut es Not, daß ein Gläubiger vor den Altar der Poesie trete und mit dem Hut in der Hand seine Anbetung hersage − − − “ Den Impuls zu diesem Brief, der vielleicht der letzte ist, den ich mit lebender Hand noch schreibe, ihn gebar, mein verehrter Freund, die Erinnerung an diesen Augenblick hinter meinem Fenster. Sie waren, als wir uns trennten, rasch in die Galerie Vivienne eingebogen, ohne mir zu sagen, wo Ihre eigentliche Wohnung sei, so daß ich Sie nachträglich nichts mehr schnell fragen konnte. Als ich dessen inneward, sah ich mich, wandelnder Traumjäger wie ich bin, noch überall in den Passagen nach Ihnen um. Ich fand Sie nicht. Eine Auskunft von Ihnen über das Brouillon in Ihrem Kopf blieb mir versagt. Aber jene mysteriösen Worte, die Ihnen beim
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Gang durch das Februarmärchen von Paris, womöglich unwillkürlich, entschlüpft, ich durfte sie nicht verloren geben. Und wenn es nur für mich selber wäre. Sobald ich also meine Wohnung im Getümmel erreichen konnte, begann ich in meinem Gedächtnis zu suchen, was darin von diesen Worten, dem Augenblick geschuldet, erkennbar noch, wohl aufzufinden wäre? Ich war entschlossen, es aufzuzeichnen. Waren wir auf den Boulevards nicht beide gleichsam im Zeugenstand der Zeitgeschichte verbunden gewesen? Ich begann. Sogleich trat der Name des Freundes wieder hervor, den ich Ihrem versonnen tastenden Sprechen abgehört hatte. Ruge hatte mir bei seinem letzten Besuch einen Brief von Marx gezeigt, den dieser ihm vor seiner Ausreise nach Paris geschrieben hatte. Ich erinnerte einen Gedanken daraus besonders lebhaft, oder vielmehr die Miene eines Gedankens; er kam mir entgegen wie ein alter Bekannter: Unser Losungswort müsse sein, schrieb Marx, daß „die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur noch das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen“. Auch bei der Erklärung der Liebe, Benjamin, muß dieses historische Faktum Berücksichtigung finden, denn auch sie, die Liebe als Glück, Elend und Passion, hat eine Vorgeschichte, deren dunkles Bewußtsein uns blieb. War das Wort „Urgeschichte“ nicht auch über Ihre Lippen gekommen?! Galt ihr die Vorstellung von Bildern, in denen sie sich wie in einem revolutionären Vorbewußtsein „neu gruppiert“? Spielten die spontan errichteten Barrikaden in diese Vorstellung hinein? Nahmen sie in ihr eine darstellbare Form der Urgeschichte an, wodurch sie in Ihrem Plan als Bilder aus der Hauptstadt der Revolution ihre Zuständigkeit für das XIX. Jahrhundert unter Beweis stellten? Und erkennen wir in einer dergestalt originären Urgeschichte denn nicht eine Erinnerung an die Triebkraft der Liebe wieder (als Agens mittel- oder unmittelbar), wodurch wir dem Dogma des Fortschritts (ich glaube, Lassalle hat mir von diesem falschen Messianismus jüngst vorgeschwärmt) den Boden entziehen können? So wie mir einst Rahel Varnhagen im Leiden an unsrer eigensten „Krankengeschichte“ ermunternd schrieb, ich solle über ihren Satz „Der Grund ist Geschichte“ alles schreiben, in Haß und Liebe, „einschneidend“ und „nächstens“, so möchte ich auch Ihnen tun. Wir können über dieses Jahrhundert nicht schreiben, ohne über den Haß gegen unsre Feinde zu schreiben. Es ist derselbe Haß, der den Opferwillen der „rächenden Klasse“ beseelt. Marx denkt so. Er glaubt daran, daß es die letzte geknechtete sei. Ich glaube es nicht. Aber Sie, Benjamin, Sie werden schreiben, daß dieser Glaube unsres Freundes ein gerechter Glaube ist, weil er nicht wie der Glaube der Doktrinäre „am Ideal der befreiten Enkel“ sich nährt. Sie werden ihm aber die poetische Form eines an Hegel geschulten Denkbildes geben. Es wird aus den mit Erinnerung gesättigten Hoffnungen der Völker gespeist sein, welche „das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führen wollen.“ Auf die rächende Klasse wird, wenn sie eben so kräftig liebt, wie sie haßt, im Kampf um Leben und Tod die historische Erfahrung warten, daß ihr Haß eigentlich nur eine Liebe ist, welche umgesattelt hat. War ungefähr dies die Gedankenspur, aus der Ihre Worte im Angesicht der Barrikadenbauer sich auszupuppen begannen? Haben Sie den ironischen Ton in mei-
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nem Unmut über den Uneigennutz der kämpfenden Ouvriers deshalb nicht goutieren mögen, weil er von der Allegorie der Barrikade ablenke, die gerade jetzt „unter dem freien Himmel der Geschichte“ zu sprechen begonnen hatte und in die Ferne der Zeit zurück verweist? Belehre sie uns doch, daß die groben Klötze, die sie auftürmen, im dunklen Bewußtsein einer Vorgeschichte die Zeit zum Stillstand bringen, welche uns nur weiter in den Neid gegen unsre Zukunft getrieben hätte! – In jenem einzigen Briefe schrieben Sie mir auch: „Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten? haben die Frauen, um deren Huld wir beseligt werben, nicht Schwestern, die sie nicht mehr gekannt haben? Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung, ja eine Solidarität zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.“ Mein werthester Freund, Ihr Zorn auf den Zukunfts-Konformismus der Kommunisten à la Lassalle ist von dem meinigen nicht sehr abweichend. Es fehlt ihnen die letzte Entschlossenheit eines Louis-Auguste Blanqui. Aber ach! ist ein verlorener Posten inmitten der Feinde („ohne Hoffnung, daß ich siege“ – Sie kennen mein Gedicht „Enfant perdu“?) nicht eine sehr mißliche Stellung? Wird es uns ergehen wie dem Fliegenden Holländer, dem Ewigen Juden des Ozeans? – hin und hergeschleudert zwischen Tod und Leben – keins von beiden will ihn behalten – sein Schmerz so tief wie das Meer, worauf er herumschwimmt – sein Schiff ohne Anker und sein Herz ohne Hoffnung − − − Wo in der Welt stecken Sie? Wohin adressiere ich meine Tränen? Baudelaire, wie Sie wissen, hat sich soeben bei Gelegenheit der hiesigen Weltausstellung meiner Worte erinnert, die ich in meinen Kunstberichten aus dem Salon von 1833 gegen das stehende Heer jener schwatzenden Juroren gerichtet hatte, deren hinkender Verstand vom heiligen Weltgeist, der in uns waltet, nichts ahnt – und er nimmt meine ergraute Philippika mit den verjüngenden Worten auf: dont les doigts crispés, paralysés par la plume, ne peuvent plus courir avec agilité sur l’immense clavier des correspondances! Welch heimlicher, tief gedachter Schmerz über die Gefahren, die jener Solidarität von diesem ne peuvent plus drohen, spricht sich hier aus! Wie verständigen wir uns in einer Welt der postalischen Krise? – Ich trotze ihr und adressiere an Sie meine Erinnerungen poste-restante. Zum guten Ende: eine davon ist mir über alles lieb und teuer. Sie haben mir unter jenen Bäumen im Tuileriengarten Ihre Angst gestanden, die Sie um „den Namen eines Blanqui“ haben, dessen Erzklang das Jahrhundert erschüttert habe. Welch ein Bild für diesen bravsten Kerl unter der Sonne! Er war voll Geist, Redlichkeit und Grimm. Wird es dem kommunen Kommunismus in der Zukunft „gelingen“, fragten Sie, diesen Namen ganz auszulöschen? Ich hörte Wut und Trauer aus den Worten des stets Wortkargen.
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Ich nehme diese Worte mit ins Grab, den Ort der Wahrheit und des Gedächtnisses, wie ich den Haß auf eine Welt mitnehme, die ich einmal, in der Kraft und Verzweiflung meiner Jugend, „vollends vernichten“ wollte. Paris, im Februar 1856
Heinrich Heine
II Verehrtes Fräulein Bachmann, Ma chère cousine! Dieser Brief ist nur die Taube, die Ihnen aus meiner Arche zufliegt mit einem Blatt im Munde – Ich erwarte nicht, daß mir ein Olivenzweig aus Ihrer Welt zurück gebracht werde, weiß ich doch, Sie sind ein wenig besessen von dem Gedanken, „hier, in dieser Gesellschaft“ sei immer Krieg, „der Krieg, der der Frieden ist“. Diese Denkweise steht der meinen nicht fern – Ach! welch ein Schlachtfeld diese Erde! Doch ich will mich aus der biblischen Metapher wieder herausziehn und vom Blatte selbst sprechen, das in Wahrheit meine Sendung ist – Es ist leer. Sie erinnern sich: „Ein leeres Blatt, / Mein Fürst. Sie sagte ihre Liebe nie“ – Sie kennen den Text – höre ich Ihre Stimme? – : „Und ließ Verheimlichung, wie in der Knospe / Den Wurm, an ihrer Purpurwange nagen. / Sich härmend, und in bleicher, welker Schwermut / Saß sie wie die Geduld auf einer Gruft, / Dem Grame lächelnd. Sagt, war das nicht Liebe?“ – Und weiter! Ich habe keine Scheu, hier fortzufahren – „Wir Männer mögen leicht mehr sprechen, schwören, / Doch der Verheißung steht der Wille nach − − − “ „Starb Jene denn an ihrer Liebe? − − −“ Das ist, dem Herzog in den Mund gelegt, jedenfalls eine schlimme Frage, die eine hinlänglich grelle Bedeutung hat, ein Geheimnis beleuchtend, worin der freundlichste Farbenschmelz der weltironischen Sprache Shakespeares, in unsere schöne deutsche Sprache gebracht, von einem durchbebenden Schmerze gar seltsam gedämpft wird. – Schreiben Sie mir immerhin! Oder taten Sie es schon? So fülle sich das leere Blatt. Aber, meine Freundin, vielleicht versuchen Sie sich im Briefgeheimnis zu üben – und schicken auch mir Ihre Post nicht? Wie viele solcher Briefe sind es schon, „in denen alles stand“? Fürchten Sie nicht, der Tag wird kommen, da alle diese Briefe das Aussehen haben werden, als seien sie eine Stunde vor dem Tode geschrieben worden? Wir aber leben! Ich bitte, schreiben Sie! Mag ich auch nur ein Schattenbild in Ihrem Traume sein, wie Erinnerung aus einem früheren Dasein, so werden Sie diesem Gespenst gewiß zuverlässiger adressieren können, als dem kalten, schwarzen, leeren Nichtsein des Todes. Ich versichere Sie, in meiner Pariser Arche, unter Bestien, ist Ihr Geheimnis wohlverwahrt – Von Feenbegünstigung plaudern nur Toren. Sie sollen mir schreiben, da Sie an den Tag glauben, „an dem die Menschen rotgoldne Augen und siderische Stimmen haben − − − und nach den höchsten aller
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Güter mit ihren schuldlosen Händen greifen werden“. Wertheste! Sie wundern sich, daß ich Sie lese? Ich kenne Sie. Sie wissen wahre Sätze zu finden. Der letzte Romantiker gesteht Ihnen, vielleicht auch der Mond, der stille Lauscher, übt auf die Geisterwelt seine siderischen Einflüsse − − − Glauben Sie! ich werde nicht fragen wie Ivan, „Was ist denn das für eine Obsession?“ Sie lieben ihn – und hören ihn sagen: „Alle diese Bücher, die hier herumstehen in deiner Gruft, die will doch niemand! Und was bedeuten diese Zettel?“ Sie sind geduldig – und halten die Stürme der Ungeduld gebunden durch Ihre geduldige Klugheit. Aber wie lange noch werden Sie dem Fortschritt des Übels, des Unverständnisses, zusehen? Sie schreiben in dunklen Zeiten – aber ob Sie mit Klugheit bei Ihrer Lampe wachend bleiben, oder als ein sehr unkluges Fräulein bei der erlöschenden Lampe einschlafen – Ihrer harret kein Freudentag. Es will mich bedünken, auf einem jener „Zettel“ könnte stehen: „Es sollen die Menschen nicht ewig, sie werden nicht ewig warten müssen.“ Und auf einem anderen: „zugrund“. Als ich einst, in bessren Tagen, ma chère cousine, in Verona durch die Straßen ging, die allmählig menschenleer wurden und wunderbar widerhallten, war es mir plötzlich, als hörte ich aus den Mauern Töne hervorhämmern, wie den Klavierauszug aus Dantes Inferno, den ich schon einmal im Harze vernommen, dazwischen klägliche Stimmen. Waren das die Verdammten, denen ihr dermaliger Zustand so unerträglich geworden, daß sie nur diesem entzogen zu werden wünschen konnten, und sollten sie auch dadurch in einen noch schlechtern geraten? Oder stöhnten schlafgebunden, leichentot aus ihren heutigsten Leibern hervor die Abkömmlinge des Antonio della Scala, als seien sie des Wartens auf den Brudermörder müde – als hätten sie Eile ins Grab zu kommen? Ich las an der Ecke die Worte: Scala Mazzanti. Wem aber gehörte die Stimme, die mir so süß unheimlich in die Seele drang, als ich über diese Treppe stieg? Es war Gesang wie aus der Brust einer sterbenden Nachtigall, todzärtlich, und wie hülferufend an den steinernen Häusern widerhallend. Lied und Stimme schienen mir so wohl bekannt − − − Ich blieb nur einen Tag in Verona, in beständiger Verwunderung ob des nie Gesehenen und Gehörten. Der Anblick der alten Paläste und der neuen Gesichter, deren Charakterzüge noch aus der Römerzeit herrührten, bewegte wunderbar meine Seele. Ich erblickte einen altviereckigen Kirchturm, woran oben der Zeiger und das Zifferblatt der Uhr zur Hälfte zerstört ist, so daß es aussieht, als wolle die Zeit sich selber vernichten – – Auf dem Platze La Bra aber sitzt man auf kleinen Stühlchen vor den Kaffeebuden, und schlürft Sorbet und Abendkühle und Musik. Da läßt sich gut sitzen, das träumende Herz wiegt sich auf süßen Tönen und erklingt im Widerhall, und Erinnerungen mit tiefen schwarzen Augen blühen daraus hervor, und drüber hin ziehen die Gedanken, wie Wolkenzüge, stolz und langsam und ewig. Geh nach Rom, liebe Seele! – Mir ist’s, als antworteten Sie! – Da ist der Stein nicht tot –
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Und desto leidenschaftlicher sprechen mit uns Reste der Vergangenheit. Wer aber ist so gesund unwissend, daß nicht heimlich bei diesem Namen sein Herz erbebte und seine Denkkraft aufrüttelte? Ich lebe, wie Sie wohl wissen, im holdseligen, zivilisierten Paris, der natürlichen Fortsetzung von Athen und Rom. Aber ich gestehe, daß mein Gefühl mehr Angst als Freude enthielt, als ich in Verona daran dachte, bald umherzuwandeln auf dem Boden der alten Roma – Schwer zu sehen ist, was unter der Erde liegt: Wasserstätten und Todesstätten. Treppen führen hinunter zu Zisternen, die der Wind ausgetrunken hat, zu Blutstropfen, die Quellen auslösten – Die alte Roma ist ja jetzt tot, zagende Seele! Wir haben die Freude, ihre schöne Leiche ganz ohne Gefahr zu betrachten. Aber es steigt das Falstaffsche Bedenken in dir auf: Wenn sie doch nicht ganz tot wäre, und sich nur verstellt hätte, und sie stände plötzlich wieder auf? – es wäre entsetzlich! Noch aber umfing mich die uralte Stadt mit ihren heißen Farben und scharfbestimmten Formen. Shakespeare hat sie zum Schauplatze gewählt für sein Heldenstück der Liebe − − −. War ich eingeschlummert? Gespenstische Trompetenklänge und ferne Waffengeräusche zogen mich unter jenen Balkon des nun verwitterten Palasts, ich vernahm das Geflüster zerbrochener Bildsäulen – „Gern hielt ich streng auf Sitte“ − − − „doch wenn du schwörst, so kannst du treulos werden“ − − − Allen feindlichen Verhältnissen trotzte Julie, denn sie fürchtete sich nicht, in dem großen Kampfe zu dem schrecklichsten, aber sichersten Bundesgenossen, dem Tode, ihre Zuflucht zu nehmen. Liebe im Bündnisse mit dem Tode ist unüberwindlich – Erklär mir Liebe − − −, die höchste und siegreichste aller Leidenschaften – Überschwengliche Seligkeiten und Schrecknisse! Unerklärliche Anziehung und Abstoßung! Ihre weltbezwingende Stärke bei dem Weibe besteht in ihrer schrankenlosen Großmut, in ihrer fast übersinnlichen Uneigennützigkeit. Je wilder sie brennt, desto früher erlöscht sie – Aber das hindert sie nicht, sich ihren lodernden Trieben ganz hinzugeben, als dauerte ewig dieses Feuer – Hamlet-Romeo fühlte, melancholischer als jede Todesahnung, im heißesten Rausche den Gedanken an künftige Nüchternheit und Kühle − − − Bei der Erklärung der Liebe, meine Schwester, muß entweder jenes physikalische Phänomen oder ein historisches Faktum angenommen werden. Ist es Sympathie, wie der dumme Magnet das rohe Eisen anzieht? Oder ist eine Vorgeschichte vorhanden, deren dunkles Bewußtsein uns blieb? − − − Wir fragen und fragen. Ungefähr solchergestalt, längst schon, und ferner noch, beschriftet mit Worten, die an uns grenzen, hin und zurückgesprochen im Widerhall, denke ich mir das leere Blatt, das jetzt ins Ungewisse geht – Geister-Gespräch in stillgestellter Zeit. Es ist und bleibt Fragment. Wie ein leuchtender Schatten huscht ein letztes Echo über meine Arche – Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land –
Unsre geradgewachsenen Seelen werden einst nicht in Rom einkehren, sondern weiter ziehen nach Herkulanum und Pompeji, jenen Palimpsesten der Natur, wo jetzt wieder der alte Steintext hervorgegraben wird. Paris, den 16. Februar 1856
Heinrich Heine
STEPHAN BRAESE
kenny clarke im club st-germain-des-prés Zu einem Satz von Alfred Andersch Im Dezember 1958 erschien in den Frankfurter Heften eine Erzählung von Alfred Andersch unter dem Titel In der Nacht der Giraffe. Sie setzt ein mit den Worten „Am 29. Mai, nachts um elf Uhr“. Rasch wird deutlich, dass der Ort der Handlung Paris ist und dass es sich um den 29. Mai desselben Jahres 1958 handelt. Nach wenigen Absätzen gibt der Erzähler eine Momentaufnahme dieser Stunde: original-manuskriptseiten von prousts „à la recherche du temps perdu“ in den schaufenstern der librairie la hune. dazu korrekturfahnen, mit seinen autorkorrekturen; er hat an den rändern ganze abschnitte neu hinzugeschrieben. gegenüber in der montana-bar der amerikanische smart set des 6. arrondissements: hauptsächlich elegante schwule. juliette-gréco-schatten auf den unteren lidern brillanter mädchen. die seriöse journaille im le village. milchkaffeefarbene halbnegerin in brauner lederjacke, nur die schenkel leuchtend in auf die haut geklebten weißen hosen, von drei männern begleitet. kenny clarke am schlagzeug im club st-germain-des-prés, mit einem französischen meisterpianisten, vor fünf gästen, die flasche coca-cola zu tausend francs. sartres wohnung, ecke rue bonaparte, ist hell erleuchtet. der deux-magots-kiosk funkelnd wie ein juwel in der blauen nacht aus schwankenden straßenlaternen. Marianne legt ihren kopf unter die guillotine und löst selbst das fallbeil: die karikatur des punch als titel der neuesten express-ausgabe. tomatenrotes alfa-romeo-cabriolet in der rue st-benoit eingekeilt. grüne getränke, weiße getränke, grüne getränke, auf den tischen in der taubenblauen nacht aus gelben cafehausscheiben. aber die häuser und die kirche, von straßenlaternen überflackert, samtbraun und gefiedergrau. die oberfläche von paris entspricht der tiefe von paris. arthur adamov geht bekümmert den boulevard entlang, im gespräch mit martin flinker. was wollen sie, sagt der siebzigjährige buchhändler, einer der gejagten des jahrhunderts, zu adamov, man kann gar nicht genug historische ereignisse erleben.1
I Die Passage ist bestimmt von einer Poetik der Eigennamen: Proust – der Gigant der klassischen Moderne; Sartre – der führende Philosoph des französischen Existentialismus; Adamov – der avantgardistische Dramatiker; schließlich Martin Flinker – der Vertraute Thomas Manns, bekannt mit Hermann Hesse und Robert Musil, Hermann Broch und Henri Michaux, vor allem jedoch Gründer der legendären Librairie Flinker am Quai des Orfèvres. In diese kurze, aber ostentativ vorgetragene 1 Alfred Andersch: „In der Nacht der Giraffe“, in: Frankfurter Hefte 13/12, 1958, S. 851-864, hier S. 852.
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Reihe von Signalnamen einer Moderne auf der Schwelle, gleichsam ‚in der Entscheidung‘, ist paritätisch ein weiterer, ein angelsächsischer Name aufgenommen, dessen Träger kein europäischer homme de lettres ist, keine kanonische oder gar ikonische Bedeutung im Milieu alteuropäischer Bildungskreise der 50er Jahre genießt: Kenny Spearman Clarke. Der 1914 in Pittsburgh geborene Schlagzeuger war eine der Gründerfiguren des Bop, der tiefgreifendsten stilistischen Umwälzung innerhalb des afroamerikanischen Jazz seit seinen Anfängen in New Orleans zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Als maßgeblicher Teilnehmer an den historischen Sessions in Minton’s Playhouse zu Beginn der 40er Jahre hatte Clarke den durchgeschlagenen Beat von der Basstrommel auf das große Becken verlegt – bei sehr schnellem Tempo nur mehr als ein durchgehendes Zischen vernehmbar – und als einer der ersten Schlagzeuger des Jazz zum polymetrischen Rhythmus gewechselt. Diese Revolutionierung des JazzSchlagzeugs, umgehend aufgenommen und bald weiterentwickelt von Max Roach, später Billy Higgins, Elvin Jones und anderen, rückte Clarke gleichberechtigt neben Charlie Parker, Dizzy Gillespie und Thelonious Monk. Anderschs Textpassage scheint dieser Stellung Clarkes durch die Positionierung seines Namens neben denen anderer Repräsentanten der westlichen Moderne Rechnung zu tragen, ja, ihn aus der Missachtung und der Marginalisierung, der die afroamerikanische Musik in großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit der 50er Jahre ausgesetzt war, symbolisch zu befreien. Zugleich verspricht die zitierte Passage, indem die Eigennamen nicht eigentlich durch ein Reihungs-, sondern durch ein Verknüpfungsverhältnis gekennzeichnet werden, weitere Aufschlüsse über die Potenzialität, die der Nennung von Clarkes Namen hier zukommt. Der Oberflächeneffekt dieser Verknüpfungen ist ‚Authentizität‘: Tatsächlich waren die zum Zeitpunkt der Handlung lebenden Träger dieser Namen zu dieser Zeit an diesem Ort, tatsächlich war auch Kenny Clarke 1958 in Paris wohnhaft, spielte im tatsächlich existenten Club St. Germain. Den Fond dieser Authentizität bilden aber historische Korrespondenzen und Nahverhältnisse, die den US-amerikanischen Musiker mit den Trägern der anderen Namen verbinden. Auf eine erste Korrespondenz deutet die Bezeichnung Flinkers als „einer der gejagten des jahrhunderts“: Auch für Clarke war Paris, wie für den Wiener Juden, der 1938 aus seiner Heimat vertrieben worden war, ein Exil-Ort. Als Kenny Clarke 1949 zusammen mit Miles Davis auf einer Tournee Paris besuchte, beschloss er, nicht in die USA zurückzukehren. In seinen Erinnerungen hat Davis die Wirkung, die die französische Metropole auf ihn und seinen Mitmusiker im Kontrast zu den US-amerikanischen Lebensbedingungen ausübte, geschildert: I had never felt that way in my life. It was the freedom of being in France and being treated like a human being, like someone important. Even the band and the music we played sounded better over there […]. Kenny Clarke decided right then and there he was staying, told me I was a fool to go back to the United States. I was sad, too, because every night I would go out to the clubs with Sartre and Juliette [Gréco, S.B.] und we would just sit in the outside cafes and drink wine and eat and talk. […] When I got ready to leave, there were a lot of sad faces at the airport, including mine. Kenny
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was there waving goodbye. Man, I was so depressed coming back to this country on the airplane that I couldn’t say nothing all the way back. […] When I got back to this country in the summer of 1949 it was just like Kenny Clarke told me – nothing had changed. […] Paris was there I understood that all white people weren’t the same, that some weren’t prejudiced and others were. […] I really came to know it in Paris.2
Die Ablehnung, die Künstlern wie Davis und Clarke in den USA entgegenschlug, war jedoch nicht nur dem allgegenwärtigen Alltagsrassismus gegen die afroamerikanische Bevölkerung geschuldet. Auch die von ihnen in den 40er und 50er Jahren repräsentierte Kunst, der Bop, wurde – zu Recht – nicht nur als demonstrative Absage an den gefälligen Swing der weißen Bigbands verstanden, sondern zugleich als Ausdruck eines neuen afroamerikanischen Selbstbewusstseins während und im Gefolge des Krieges, der als Feldzug gegen Unrecht und für die Durchsetzung elementarer Menschenrechte ausgegeben worden war und in dem weit überproportional afroamerikanische US-Bürger ihr Leben eingesetzt hatten. Der Widerstand gegen einen gleichwohl unverminderten Rassismus mündete in blutige Auseinandersetzungen. Langston Hughes schrieb: „Jedesmal, wenn ein Bulle einen Neger mit dem Gummiknüppel schlägt, dann macht der alte Knüppel: Bop! Bop! Bebop! Mob! Bop. […] Da kommt Bebop her. Aus irgendeines Negers Kopf direkt in die Hörner und Saxophone und Klaviertasten hineingeprügelt.“3 Zwar konnte von einer agitatorischen Direktheit, wie sie der Jazz der 60er Jahre ausprobieren sollte, beim Bop keine Rede sein. Doch seine harmonische und rhythmische Komplexität war eine unüberhörbare, ostentative anti-assimilationistische Gebärde4, fortgesetzte Ausdifferenzierung eines black code, dessen Vorgänger bis zu den Plantagen der Sklavenbesitzer zurückreichten und den unverändert virulenten Träger einer expliziten, gegenwärtigen „counterculture“5 bildete. Die Analogie zum Exil des Wiener Buchhändlers, zu seiner rassistischen Verfolgung, schließlich zu seiner kulturellen Aktivität bildet jedoch nicht die einzige Verknüpfung Clarkes mit den angeführten Namen. Ihrer Konstellierung wächst eine zusätzliche Begründung zu durch die spezifische kulturelle Affinität zunächst des Jazz zu Frankreich, sodann des Bop zum Existenzialismus. Die französische Geschichte von New Orleans hatte enge Beziehungen des Jazz seit seinen Anfängen zur frankophonen Welt gestiftet; und schon unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg war Paris ein wichtiges Zentrum des Jazz gewesen. Die Verbotspolitik der NS-Kulturbehörden hatte den Jazz mit dem Odium einer genuin widerständigen Ausdrucksform versetzt und seinen Status als Musik der Résistance bestätigt. Was am Bop der 40er Jahre ohnehin avantgardistisch klang, schien eine passende Begleitmusik zu sein für jene weltanschaulichen Einsichten der Epoche, deren Konsequenzen 2 Miles Davis/Quincy Troupe: Miles – The Autobiography, New York u. a. 1994, S. 126-128. 3 Vgl. Iron Werther: Bebop – Die Geschichte einer musikalischen Revolution und ihrer Interpreten, Frankfurt am Main 1988, S. 50. 4 Vgl. Paul Gilroy: The Black Atlantic – Modernity and Double Consciousness, London/New York 2002, S. 100. 5 Ebd., S. 37.
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Abb. 1: Kenny Clarke (re.) und Miles Davis in Paris, Mai 1949
schließlich der französische Existenzialismus – in Anderschs Passage durch den Namen Sartres und, gleichsam in einer populärkulturellen Modifikation, durch denjenigen Grécos repräsentiert – zu ziehen versuchte. Ihre wohl spektakulärste Verbindung waren Bop und Existenzialismus jedoch nur wenige Monate vor Anderschs „29. Mai“ 1958 eingegangen: in der Einspielung des Soundtracks zu Louis Malles L’ascenseur pour l’échafaud im Dezember 1957. Die schicksalhafte Verstrickung der Protagonisten in Sehnsucht und Verbrechen, die Bedeutung des Zufalls, die das Leben der Menschen absurd erscheinen lässt, eine Kälte, die von den Charakteren wie von der modernen Architektur gleichermaßen ausstrahlt, dazu konkrete zeithistorische Einsprengsel wie der französische Indochinakrieg, aber auch das Wirtschaftswunder Westdeutschlands versehen den Spielfilm – verstärkt um das sensationelle Spiel Jeanne Moreaus in ihrer ersten großen Hauptrolle – mit einer atmosphärischen Ausstrahlung, die den Zeitgeist des Existenzialismus in kongenialer Weise zu treffen schien. Diese Ausstrahlung suchte Malle durch eine besondere Filmmusik noch zu steigern, für die er Miles Davis, der sich gerade in Europa aufhielt, gewinnen konnte. Vor einer Leinwand im Studio, auf die Sequenzen des Films projiziert wurden, spielt Davis’ französischamerikanisches Quintett in der Nacht vom 4. auf den 5. Dezember 1957 den Soundtrack ein. Als Beginn von Davis’ modaler Spielweise, die ihren Höhepunkt 1959 im Album Kind of Blue finden sollte, bildet er einen Meilenstein im Schaffen
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des afroamerikanischen Künstlers. Am Schlagzeug spielt Kenny Clarke; noch im Januar 1958 findet die Uraufführung statt; der Film, der der Nouvelle Vague den Weg bereitete, verschaffte Malle den Durchbruch als Regisseur und machte Moreau zum Star. Bezüge wie die hier aufgezeigten weisen auf eine kulturgeschichtliche Vernetzung, in der der afroamerikanische Schlagzeuger eine integrale Stellung unter den von Andersch angeführten Namen einnimmt. Die Re-Lektüre der Passage jedoch zeigt, dass es dem Text nicht um eine Würdigung dieser Stellung oder gar um eine Anerkennung des Jazz als autochthoner künstlerischer Ausdrucksform des 20. Jahrhunderts zu tun ist als vielmehr um seine traditionell ‚alteuropäische‘ Funktionalisierung: seine Einsetzung als Symptom der Dekadenz.
II Am Abend des 29. Mai 1958 sucht Charles de Gaulle den Präsidenten der französischen Republik im Elysée-Palast auf. In der Folge des kurz zuvor durchgeführten Offiziersputsches in Algerien gegen die Pariser Zentralregierung war eine Staatskrise ausgebrochen, die de Gaulle, seit 1954 ohne öffentliches Amt, zu einem Griff nach der Macht zu nutzen versuchte. Gegner de Gaulles, die die parlamentarische Demokratie in Gefahr sahen, veranstalteten noch am selben Abend Demonstrationen, pro-gaullistische Parteigänger hielten mit eigenen Veranstaltungen dagegen. Andersch, Zeuge der „Holzknüppelangriffe der Polizei“6 gegen beide Seiten, schildert in seiner Erzählung den vergeblichen Versuch eines (fiktiven) Journalisten, durch die Veröffentlichung einer kompromittierenden Namensliste am Putsch Beteiligter de Gaulles Bemühungen zu durchkreuzen. Sein Gesprächspartner in dieser Nacht in St. Germain-des-Prés belehrt ihn über die Wirkungslosigkeit einer solcherart genutzten Pressefreiheit, selbst wenn die Redaktion einer großen Zeitung die Liste drucken sollte. Nur die direkte Aktion oder das Vertrauen in „lange und langsame Entwicklungen“, die „große Literatur“ vorbereite, könnten Veränderungen bewirken.7 Anderschs zitierte Passage über St. Germain-des-Prés bereitet dramaturgisch dieses desillusionierende Gespräch vor. Sie zeichnet das Bild einer von Kommerzialisierung und Genusssucht korrumpierten Kultur und Gesellschaft, die für jede Gegenwehr, für jegliche irgend eingreifende Handlung die erforderliche Kraft nicht mehr aufzubringen vermögen. Die kostbare Schrift Prousts, im Schaufenster feilgeboten, ist zur Ware verdinglicht; das gesellige Nachtleben wird maßgeblich von Homosexuellen bestritten; eine „halbnegerin“, „von drei männern begleitet“, markiert die totale Erosion verlässlich eindeutiger ethnischer und moralischer Normen in bezeichnender Verbindung; Kenny Clarkes Spiel „vor fünf gästen, die flasche coca-cola zu tausend francs“ schließlich steht für eine geradezu obszön elitäre 6 Nach Stephan Reinhardt: Alfred Andersch – Eine Biographie, Zürich 1996, S. 307. 7 Andersch: „In der Nacht der Giraffe“ (Anm. 1), S. 862.
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Entfernung des Künstlers von einer wie auch immer verstandenen Öffentlichkeit. Diese Szenerie der Dekadenz, mit dem Schlagzeuger als Klimax, wird zusätzlich konturiert durch die in ihr gleichsam verloren wirkenden ‚echten‘ Kulturträger Adamov und Flinker, von denen nicht nur der eine „bekümmert“, der andere „einer der gejagten des jahrhunderts“ ist, sondern die beide gerade auch an diesem Ort und zu dieser Zeit wenn auch nicht Ausgestoßene, so doch Außenseiter zu sein scheinen. Mit dieser Funktionalisierung des Jazz steht Andersch in einer einflussreichen Tradition nicht nur der deutschsprachigen, sondern auch anderer europäischer Literaturen. Die Verbreitung des Jazz in Europa war mit der umfassenden Krisenerfahrung nach 1918 zusammengefallen: „Als Signal für das Ende einer selbständigen europäischen Kultur verstärkte Jazz das in den zwanziger Jahren sich verbreitende Bewußtsein, mit dem Krieg von 1914/18 vom heilen Europa des 19. Jahrhunderts und seinen bürgerlich-liberalen Illusionen Abschied genommen zu haben.“8 Die Fixierung des Blicks auf das vermeintlich Eigene bewirkte jedoch eine Stilisierung des Anderen, die einzig am Gegensatz, nicht am Eigentümlichen interessiert war. Das hierfür typische Bild vom Jazz findet sich etwa in Hermann Hesses 1927 erschienenem Steppenwolf: Aus einem Tanzlokal, an dem ich vorüberkam, scholl mir, heiß und roh wie der Dampf von rohem Fleisch, eine heftige Jazzmusik entgegen. Ich blieb einen Augenblick stehen; immer hatte diese Art von Musik, so sehr ich sie verabscheute, einen heimlichen Reiz für mich. Jazz war mir zuwider, aber sie war mir zehnmal lieber als alle akademische Musik von heute, sie traf mit ihrer frohen rohen Wildheit auch bei mir tief in die Triebwelt und atmete eine naive redliche Sinnlichkeit. – Ich stand einen Augenblick schnuppernd, roch an der blutigen grellen Musik, witterte böse und lüstern die Atmosphäre dieser Säle. […] Untergangsmusik war es, im Rom der letzten Kaiser mußte es ähnliche Musik gegeben haben. Natürlich war sie, mit Bach und Mozart und wirklicher Musik verglichen, eine Schweinerei – aber das war all unsere Kunst, all unser Denken, all unsre Scheinkultur, sobald man sie mit wirklicher Kultur verglich. Und diese Musik hatte den Vorzug einer großen Aufrichtigkeit, einer liebenswerten unverlogenen Negerhaftigkeit und einer frohen kindlichen Laune. Sie hatte etwas vom Neger und etwas vom Amerikaner, der uns Europäern in all seiner Stärke so knabenhaft frisch und kindlich erscheint. Würde Europa auch so werden? War es schon auf dem Weg dazu? Waren wir alten Kenner und Verehrer des einstigen Europa, der einstigen echten Musik, der ehemaligen echten Dichtung, waren wir bloß eine kleine dumme Minorität von komplizierten Neurotikern, die morgen vergessen und verlacht würden? War das, was wir ‚Kultur‘, was wir Geist, was wir Seele, was wir schön, was wir heilig nannten, war das bloß ein Gespenst, schon lange tot und nur von uns paar Narren noch für echt und lebendig gehalten?9
8 Hans-Jürgen Schaal: „Humanität und Widerstand. Zum Bild des Jazz in der Literatur“, in: That’s Jazz – Der Sound des 20. Jahrhunderts. Eine Musik-, Personen-, Kultur-, Sozial- und Mediengeschichte des Jazz von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. Klaus Wolbert, Frankfurt am Main 1997, S. 635-641, hier S. 636. 9 Hermann Hesse: Der Steppenwolf, Frankfurt am Main 1980, S. 42 f.
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Es ist diese Deutungstradition, aus der heraus dem Namen Kenny Clarke, genauer: der Musik, die er repräsentiert, ihr genauer Ort in Anderschs Text zugewiesen wird. Die Reihung der Namen mit ihrem suggestiven Effekt der Gleichstellung nobilitiert nicht die Kunst aus der Neuen Welt, sondern versieht die Künste aus der Alten Welt mit dem Makel der Schwäche, einer ‚Untergangskultur‘. Doch es scheint, als ob noch solche Stereotypisierung missgestaltet und verschoben auf ein Attribut des Jazz deutet, das weit in seine Entstehungsgeschichte zurückführt. Paul Gilroy hat den Hinweis darauf erneuert, dass die afroamerikanische Musikkultur konstitutiv geprägt worden war durch das Lese- und Schreibverbot, das die einstigen Sklavenhalter über ihre Sklaven verhängt hatten. Die erzwungene Ferne zur Schrift war in eine Ausdruckskultur gemündet, eine „expressive culture“, in die nicht nur die Leiden, die Empörung und der Zorn über Entrechtung und Erniedrigung eingingen, sondern die zugleich, als eine kompensatorische Antwort auf das Schriftverbot, eine Gegenkultur bildete, which refuses the modern, occidental separation of ethics and aesthetics, culture and politics. […] In contradistinction to the enlightenment assumption of a fundamental separation between art and life, these expressive forms reiterate the continuity of art and life. They celebrate the grounding of the aesthetic with other dimensions of social life. The particular aesthetic which the continuity of expressive culture preserves derives not from dispassionate and rational evaluation of the artistic object but from an inescapably subjective contemplation of the mimetic functions of artistic performance in the processes of struggles towards emancipation, citizenship, and eventually autonomy.10
Diese in der Genese der afroamerikanischen Kultur begründete spezifische Verknüpfung zwischen Ästhetik und sozialer Realität traf auf die europäische Wahrnehmung als Ausdruck einer ‚Ganzheitlichkeit‘, einer Integrität menschlichen Selbstausdrucks, für die – unter den Bedingungen des europäischen Selbstverständnisses in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – keine anderen Bezeichnungen als „rohe Wildheit“ und „unverlogene Negerhaftigkeit“ zur Verfügung standen. Das Fundament dieser Ausdruckskultur bildete hingegen eine Erfahrung, die nicht nur einer exotistischen, eurozentrischen, kolonialen Position unassimilierbar war, sondern auch einem politisch progressiven Standpunkt: Die afroamerikanische Ausdruckskultur kündete von Barbarei und Unrecht, von Sklaverei und rassistischem Terror nicht als Exzessäußerungen der menschlichen Gattung, sondern als genuinen Verwirklichungen der europäischen Aufklärung.11 Auf komplexe Weise ist auch die Gegenwart des Bop im Paris der 50er Jahre, seine politische Aktualität, von dieser historischen Grundierung bestimmt. Auch wenn allenfalls einzelne Zeitgenossen in ihm eine radikale Kritik der europäischen 10 Gilroy: Black Atlantic (Anm. 4), S. 38f., 57. 11 Vgl. ebd., S. 39, sowie Susan Buck-Morss: „Hegel und Haiti“, in: Der Black Atlantic, hg. v. Haus der Kulturen der Welt in Zusammenarbeit mit Tina Campt und Paul Gilroy, Berlin 2004, S. 69-98, sowie Michel-Rolph Trouillot: „Eine undenkbare Geschichte – Zur Bagatellisierung der haitianischen Revolution“, ebd. S. 180-198.
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Aufklärung erkannten, so mochte er durchaus größere Teile seines Publikums in einer Zeit schwerer postkolonialer Konflikte in Fernost und Nordafrika daran erinnern, dass auch das Mutterland der Menschenrechte keineswegs vor „own failures of colonialism and racism“12 gefeit war. Aber auch in einem Projekt wie der Filmmusik zu L’ascenseur pour l’échafaud artikulierte sich eine historische Dynamik: die Entwicklung des Jazz zur klassischen Musik der Globalisierung – als einem künstlerischen Idiom, in dem sich nicht nur Menschen verschiedener Ethnien und Kulturen zu begegnen und auszutauschen vermögen, sondern das zugleich ein Vokabular bereithält, das metonymisch von der Situation des Menschen der Gegenwart handelt und fortgesetzt die konkrete Geschichte der afroamerikanischen Bevölkerung bezeugt. Alfred Andersch ist dieser historischen Konstellation im Paris von 1959 begegnet, paradigmatisch verdichtet im Namen Kenny Clarkes. Er fügt ihn ein in sein textuelles Mosaik – als Bestandteil eines überlieferten, noch unverändert machtvollen Musters. Doch diese Scherbe blinkt eigensinnig. Sie hat zu viel eigene Geschichte. Sie kündet schon von anderem.
12 Wilfried Raussert: „Introduction: Traveling Sounds: Music, Migration and Identity Formation“, in: Traveling Sounds – Music, Migration, and Identity in the U.S. and Beyond, hg. v. Wilfried Raussert/John Miller Jones, Berlin 2008, S. 9-21, hier S. 18.
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Passionsverkehr
Und dann stand er hinter ihr, sie spürte seinen Hauch in ihrem Nacken und den leichten Luftzug des Flügelschlags, während sie auf den Trümmerhaufen starrte, der sich vor ihr auftürmte. Ihr war schlagartig klar, was das bedeutete. Sie war ohne nachzudenken in einen Seitenstollen eingebogen, der beim Eingangsbereich wortkarg beschriftet war mit „Kreatur“, und plötzlich war er lautlos hinter sie getreten, wohl um ihr den Rückweg zu versperren. Sie hielt vor Schreck den Atem an, zog die Schultern hoch und verharrte für einige Sekunden reglos. Als nichts passierte, suchte sie den Schrecken abzuschütteln, nahm all ihre Sinneskräfte zusammen und wandte sich dann langsam um, wobei sie am meisten seine Größe fürchtete, denn obschon er auf den Bildern immer so klein aussah, berührte sein Atem sie nun von oben herab. Und natürlich hatte sie auch Angst vor seinem bohrenden Blick, wenngleich sie ja eigentlich wusste, dass dieser Engel keinem direkt in die Augen sah. Und so war es. Er war nur wenig größer als sie selbst. Sein fasriger, gelb-gräulicher, beinah durchsichtig erscheinender Körper ließ ihn erbarmungswürdig erscheinen. Er hatte beide Arme erhoben, als hätte sie „Hände hoch“ zu ihm gesagt, und er schaute, wie sie erwartet hatte, an ihr vorbei. In dem Moment, als sie ihn ganz erblickte, fiel jede Angst von ihr ab, weil sie sah, dass er nicht von dieser Welt war und dass keine Gefahr von ihm ausging. Und es bestand kein Zweifel: Das Bild war zuerst da gewesen. Sie hatte es nur einmal gesehen, im Berner Paul Klee-Zentrum, wo es im Juni 2008, als spektakuläre Leihgabe aus Jerusalem, fünf Tage lang zu betrachten gewesen war. Und nun also stand er höchstselbst vor ihr, gefangen in seiner geronnenen Gebärde, die er offenbar auch hier bewahrte, wo alles ruhig war und wo kein Sturm ihn irgendwohin trieb. Als sie Anstalten machte, die kleine Höhle wieder zu verlassen, trat er rasch beiseite, ohne dass sich an seinem leeren schielenden Blick etwas änderte. Sie ging an ihm vorbei und betrat wieder den Pfad, von dem sie abgebogen war, wobei sie das Schild „Kreatur“ erneut rasch mit den Augen streifte. Sie atmete flach und schritt zügig aus, als könnte sie damit die geisterhafte Begegnung schnell hinter sich lassen. Dabei wusste sie genau, dass er ihr nicht folgen konnte, und im Gedanken an all die Mythen von zurückgeworfenen Blicken lachte sie gar kurz auf. Dennoch versagte sie es sich, trotzig stehen zu bleiben und sich umzuwenden. Außerdem ja drangen die Worte, die in der ganzen Welt unentwegt über ihn gesprochen wurden, hier ohnehin durch alle Wände, Decken und Böden, warum also sollte er seinen geschützten Schacht verlassen. Die Begegnung reichte allerdings dazu aus, ihr das Gefühl zu geben, sie sei vom Weg abgekommen. Zwar hatte sie auch auf ihren bisherigen Gängen vergeblich
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nach einem Hauptpfad gesucht; so gab es Kreuzungen, die nicht erahnen ließen, welcher von zwei Wegen der wichtigere wäre, bei manchen Abzweigungen wiederum war der abgehende Gang deutlich kleiner, und dann kamen noch die vielen Kreisel hinzu, von denen gleich mehrere Wege abgingen. Räumlich überschaubar und daher besonders einladend waren einzig die abgeschlossenen kleinen Seitenstollen, die sich bisweilen rechts oder links der Wege auftaten. Jetzt aber schien es ihr hier labyrinthischer als je zuvor. Tatsächlich allerdings hatte sie bisher auch keinerlei Plan für ihren Gang gemacht. Sie hatte sich einfach treiben lassen, der Name war ihr Gewähr genug, und außerdem konnte man sich ja jederzeit zu einer der vielen Exit-Türen begeben, hinter denen sich die Aufzüge verbargen, die die Besucher direkt zur Außenfläche zurück brachten. Nun beschloss sie aber doch, beim nächsten Kreisel eine Pause einzulegen, um sich für den weiteren Gang in Ruhe zu orientieren. Dort angekommen, ließ sie sich auf den hellen warmen Boden nieder, lehnte mit dem Rücken an die Wand und öffnete ihren Rucksack. Sie zog die Mappe mit den Feuilletonartikeln heraus, „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“. Gleich nachdem der Artikel damals in der FAZ erschienen war, hatte sie Bachs Matthäuspassion aus dem CD-Regal herausgesucht und dann tagelang immer wieder Ausschnitte daraus gehört, doch es gelang ihr nun beim besten Willen nicht, hier eine Hörerinnerung zustande zu bringen. Sie wusste natürlich noch, dass dies die Eröffnungsworte der Passion waren − ein Aufruf, den Gekreuzigten zu beklagen, gesungen von einem großen gemischten Chor, gesungen in so erhabener Weise, dass man sich dem Gesang hingebungsvoll und voller Gefühlsseligkeit zuneigt. Von diesem Beispiel leitete die Verfasserin ihre zentrale Aussage ab: Die Gottesliebe ist tot, aber die Passionen sind uns geblieben. „Moderne Rezipienten bleiben durch Bilder und Töne wirkungsvoller an die Gefühlsmodulationen der christlichen Tradition gebunden als durch Überzeugung“, heißt es in dem Artikel, und: „Für passionierte Musikliebhaber gilt: Die erreg…“ − aus dem Stollen, der gegenüber von ihr vom Kreisel abging, erklang unversehens ein sonderbarer Ton. Es war eine Art Ruf, der wiederholt erschallte und von weither zu kommen schien, aber sie konnte ihn nicht verstehen. Sie vermochte nicht einmal recht zu sagen, ob es sich um einen menschlichen oder tierischen oder vielleicht auch einfach nur um einen technisch erzeugten Laut handelte. Unwillkürlich musste sie grinsen, als sie sich vorstellte, dass in dem besagten Gang vielleicht gerade die Protagonistin aus Malina versuchte, wieder aus der Wand herauszukommen. Ach, wie gern hätte sie sie in Empfang genommen! Um die Beschriftung des Stollens lesen zu können, musste sie aufstehen, da das Schild seitlich im Gang selbst angebracht war: „Zur Pathosformel“. Aha. Sie lächelte. Angst verspürte sie diesmal keine, denn tatsächlich war das hier ja keine Gespensterbahn, sondern ein sicheres Passionsgehäuse. Der vermessene Engel hatte sie nur erschreckt, weil er hinterrücks aufgetreten war. Nun erhob sie sich rasch, den Rucksack mit den Mappen und Büchern ließ sie liegen und bog neugierig in den Gang ein. Hier wurde sie schnell überwältigt von einer immer lauter werdenden Klangwelt, die den Ruf, der sie hierher gelockt hatte, schon bald ganz übertönte. Wäh-
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rend ihrer ersten Schritte in dem Stollen erklang ein Ausschnitt aus der Matthäuspassion („Blute nur, du liebes Herz“), der aber schon fünfzig Meter weiter ausgeblendet wurde zugunsten einer viel zu laut erklingenden Callas-Arie − „die Opernstimme: Wiederbelebung und Erinnerungsspur vergangener Affekte in der Gegenwart“ −, nach weiteren hundert Metern dann ging die Stimme der Callas unter in einem markerschütternden musikalischen Lärm, es klang, als würden gleichzeitig Hunderte verschiedener Opern eingespielt, sie blieb stehen und hielt sich unwillkürlich die Ohren mit den Händen zu. Links und rechts an den Wänden flackerten währenddessen, wie von geheimen Projektoren eingespeist, in Sekundenschnelle wechselnde Bilder der Kunstgeschichte auf, unter denen sie Dürers Tod des Orpheus und Botticellis Primavera erkannte. Zudem vermeinte sie durch ihre an die Ohren gepressten Hände hindurch neben der überlauten Musik nun auch noch Schreie zu vernehmen, Schreie in ihrem Kopf, durchdringende Schreie, die einstmals vermutlich Gesang gewesen waren, Schreie des traumatisierten Engels, „musikalische Passio“, „traumatische Erinnerung“, „Nachhall, Phantom“… Es schien ihr, dass die Sinne platzten − in diesem einen Moment erlosch alles. Das Licht, die Bilder an den Wänden, die Musik, die Schreie gingen aus. Im Dunklen raste ihr Herz, sie wagte kaum Luft zu holen, während sie in ihrem inneren Ohr weiterhin ein schmerzhaftes Sausen vernahm. Nachdem sie einige Momente bewegungslos abgewartet und sich dabei auch etwas beruhigt hatte, hörte sie aus der Tiefe des Ganges jenen Lockruf wieder, in dem sie nun ein einfaches „Hallo“ zu verstehen meinte; zugleich nahm sie eine kleine Gestalt wahr, die in der Dunkelheit auf sie zukam, wobei es mit jedem Schritt dieser Gestalt ein wenig heller wurde. Schließlich erkannte sie einen kleinen Jungen, der wohl um die acht, neun Jahre alt war. Er hatte grades hellbraunes Haar, trug eine dunkelbraune Kordhose, ein beiges Flanellhemd und gutes Schuhwerk. Sie war erstaunt und umso gespannter. Der Junge blieb in angemessenem Abstand vor ihr stehen, blickte ihr standhaft in die Augen und sagte mit heller, klarer Stimme: „Hello. My name is Aby.“ Vor Überraschung stockte ihr der Atem. Was war denn das? Ein Scherz, eine Zeitreise? Herr Warburg spazierte als kleiner englischsprechender Junge in seiner eigenen Pathosformel herum? Sie musste sich zusammennehmen, um nicht aufzulachen; andererseits spürte sie gleichzeitig, wie eine Art Ehrfurcht in ihr aufkam, auch wenn hier nur ein kleines adrettes Kind vor ihr stand. Und dieses schien die erste Figur in diesen Gängen zu sein, die direkt mit ihr zu sprechen versuchte. Sie musste die Chance unbedingt nutzen und dahinter kommen, was hier gespielt wurde. Sie beugte sich nieder, berührte den Jungen leicht an seinem rechten Arm und sagte dann, während er sie genau betrachtete, mit warmer Stimme: „Hello Aby. My name is Loverby. What are you doing here?“ „Hello. My name is Aby“, sagte er. Sie war schlagartig enttäuscht, ihr wurde auch etwas unheimlich zumute, nun fasste sie ihn fester an. War er ein Automat oder eine Aufziehpuppe? Sein Arm fühlte sich völlig normal an, ebenso schien ihr sein Gesicht, sein Atem und auch seine Stimme äußerst menschlich. Sie versuchte es noch einmal: „I’m here to honour my friend. She has written a lot of articles about your work.“
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„Hello. My name is Aby.“ Seine Miene blieb unverändert. Ihr schwindelte. Sie ließ ihn los und setzte sich hin, er beobachtete sie dabei und blickte sie weiterhin unverwandt an. Sie schüttelte leicht den Kopf, seufzte und dachte schon daran, wieder zum Kreisel zurückzugehen, als sich aus der Tiefe des Ganges eine weitere Gestalt näherte. Eines war schon mal sicher: diesmal handelte es sich um kein Kind. Die Gestalt war nämlich sehr groß, und je näher sie kam, desto deutlicher konnte sie einen alten, hageren und leicht vornübergebeugten Mann erkennen, der murmelnd heranschlurfte und eine Art Schlafanzug aus heller Baumwolle trug. Als er näherkam, vermochte sie seine Worte, die er in rezitierender Weise vor sich hin sprach, zu verstehen: „… ‚dass die archaische Erbschaft des Menschen nicht nur Dispositionen, sondern auch Inhalte umfasst, Erinnerungsspuren an das Erleben früherer Generationen‘ …“. Er sah Aby an. „Jede Generation ist eine Fortsetzung der andern. Die Väter haben Härlinge gegessen, und die Enkel haben davon schmerzhaft taube Zähne bekommen. Universalbankrott. Universalbankrott, das hab ich doch schon 1854 gesagt. Komm, mein Junge, wir müssen diesen Freud unbedingt noch weiter lesen.“ Der Alte schlurfte weiter, Aby folgte ihm bereitwillig, die beiden steuerten nun gemeinsam auf den Kreisel zu. Ihr war es bei den „Härlingen“ wie Schuppen von den Augen gefallen, denn es war noch gar nicht lange her, seit sie dieses Wort aus den Memoiren nachgeschlagen hatte, nicht ahnend, dass es ihr so bald schon helfen würde, den Autor desselben leibhaftig zu identifizieren! Unreife Trauben, das würde sie nun bestimmt nie mehr vergessen. Plötzlich überkam sie eine unbändige Lust. Sie lief den beiden nach, und als sie dicht hinter ihnen war, rempelte sie den Alten vor lauter Übermut beinah an. „Herr Heine, guten Tag, Herr Heine! Es freut mich außerordentlich! − Sagen Sie, sind vielleicht Herr Benjamin und Frau Bachmann auch hier?“ Was hatte sie sich dabei nur gedacht? Dass Herr Heine sagen würde: „Ja klar, wir spielen jeden Samstag eine Runde Bridge.“ Oder: „Nein. Wir haben uns hoffnungslos zerstritten wegen der verschiedenen Gedächtnistheorien, da sind die beiden wieder abgereist.“ Wie Aby ging natürlich auch er nicht auf ihre Worte ein. Weshalb der Junge sie vorhin direkt angesprochen hatte, vermochte sie sich nicht zu erklären. Beim Kreisel angelangt, bogen die beiden in schweigender Übereinstimmung in den links angrenzenden Gang „Genealogie“ ein. Sie zögerte kurz, beschloss dann aber, ihnen zumindest noch ein Stück weit in den Stollen hinein zu folgen. Auch hier war es ziemlich dunkel, aber sie konnte die zwei, die nun etwa fünf Meter vor ihr hergingen, noch gut genug sehen. Der Junge und der alte Mann. In verschiedenen Jahrhunderten geboren, durch Tod und Geburt ein Jahrzehnt voneinander getrennt, und hier gingen sie einmütig nebeneinander her. Überlieferung. Schrift, Gedächtnis, Hinterlassenschaft. Beim Rücken-Anblick des dahinschreitenden Paares wurde sie vor Rührung überwältigt. Sie dachte an das Buch Genea-Logik, in dem so vieles kulminierte. Genetik Generation Gattung Geschlecht Gedächtnis. Ein einziger großer G-Gang, in dem die
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Überlieferung von familialen, evolutionären, künstlerischen, genetischen Entwicklungslinien befragt wurde. Und ganz offensichtlich war es genau die intensive Auseinandersetzung mit Figuren wie Heine und Warburg gewesen – und mit Benjamin und Bachmann, ihre Frage war doch absolut gerechtfertigt! −, die solches Denken möglich gemacht hatte. In der verschlungenen Anordnung der Gänge hier spiegelte sich eine solche Entwicklungsgeschichte des Intellekts allerdings keineswegs. Und dann passierte es. „Ein Erdbeben“, war das erste, was ihr durch den Kopf schoss. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall wie bei einer Explosion, fast gleichzeitig wurde sie in die Höhe geschleudert, krachte mit dem Kopf in die Decke hinein, knallte zurück auf den Boden und wurde sofort wieder hochgeworfen, doch merkwürdigerweise waren die Decke, die Wände und der Boden nun ganz weich, wie aus Gummi, es war, als würde sie in einer Art Rundum-Trampolin herumgeworfen. Danach kam das Wasser. Es schoss in den Gang, es schoss ihr ins Gesicht, in die Augen und den Mund, es wirbelte sie herum und riss sie mit sich fort, wobei sie den Kopf nicht immer über der Oberfläche halten konnte. Unvermeidlich schluckte sie Wasser, und ihr war sofort klar, woher es kam, denn es handelte sich eindeutig um kalkarmes Wasser, Schweizer Wasser, außerdem roch sie deutlich den Tang. Wasser aus dem Zürichsee. Wie konnte das sein? In nächsten Augenblick vermeinte sie, weiter vorn einen Fetzen helle Baumwolle aus dem Strom ragen zu sehen. Anschließend füllten sich die Stollen zunehmend mit verschiedenen Objekten an, die unkontrolliert im Wasser herumschossen. Sie wurde von einem riesigen farbigen DNA-Strang aus Plastik überholt, der über die Wasseroberfläche wirbelte; um ihr Handgelenk schlang sich etwas Weiches, als sie es nervös abschüttelte, erkannte sie die Locken der Medusa. An den vorbeirauschenden Wänden klebten aufgeweichte Flugschriften und Postkarten; nur Flaschenpost begegnete ihr keine. Nach und nach beruhigten sich die Wogen, sie bekam wieder Boden unter den Füßen zu spüren, und dann plötzlich sank das Wasser sehr rasch ab, es schien im Boden zu verschwinden, als würde es jemand von unten her in riesigen Mengen abschlürfen. Sie blieb verwundert zurück und strich sich mit den Händen die nassen Haare aus dem Gesicht, als aus einem Nebenstollen Schritte ertönten, die sich ihr schnell näherten, und gleich darauf bogen der Junge und Heine auch schon um die Ecke, beide gingen sehr zügig, zweifellos hatten sie es eilig. Ihre Kleider waren gutaussehend und trocken, als wäre nichts gewesen. „Kommen Sie, Loverby“, sagte Heine zu ihr im Vorbeigehen. „Das dürfte Sie auch interessieren. Wir müssen uns beeilen.“ Es verschlug ihr die Sprache. Sie hastete den beiden hinterher. Er sagte nichts mehr, und sie fragte nicht. So schritten sie wieder zu dritt voran, die beiden vorn, sie hinten. Schließlich kamen sie bei einem Kreisel an, und sie dachte, es wäre derselbe, an dem sie zuvor Rast gemacht hatte. Ein nebliges Licht fiel von einem bestimmten Stollen ein, in den ihre beiden Vorgänger nun etwas langsamer einbogen. Nach und nach verzogen sich die Nebelschwaden. Schließlich gaben sie den Blick in einen leeren Seitenstollen frei, an dessen Ausbuchtung eine der vielen Exit-Türen zu sehen war.
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Und vor dieser Tür stand er. Um die Hüfte trug er einen Gürtel, ansonsten war er unbedeckt. Seine Arme waren nun nicht mehr in die Höhe gereckt, er schien von seiner Gebärde erlöst. In der einen Hand hielt er den Zünder, die andere hatte er lässig in den Gürtel gesteckt. Er blickte sie alle gütig an, wandte dann seinen Blick ihr zu und sagte freundlich: „Ich will überleben. Das ist keine Übertreibung.“ Er betätigte die Taste für den Aufzug. Als dieser eintraf, öffnete sich die ExitTüre lautlos, er trat ein und drehte sich nicht mehr zu den dreien um. Bevor die Tür zuging, war ein leichter, aufzuckender Flügelschlag zu sehen.
KERSTIN WILHELMS
Suchen – Finden – Erinnern Erinnerungssplitter in sechzig Sätzen Schön ist nicht nur das Spiel mit Buchstaben und Erinnerungssplittern, sondern auch das mit Zahlen. Im Jahr Zweitausendundzehn ist es dreißig Jahre her, dass ich der damals dreißigjährigen Sigrid Weigel zum ersten Mal begegnete. Mit ihr als Dozentin lernte ich – nach meinem Wechsel von der Bonner zur Hamburger Universität im Sommersemester 1980 – eine Form des leidenschaftlichen Studierens kennen, die ich noch mehr ersehnt hatte als das Großstadtleben. Es war wohl eine der glücklichen Konstellationen, in denen Lehrende und Lernende gemeinsam aufbrachen, um neue Fragen an ihr Fach, die Literaturwissenschaft, zu stellen, vergessene Texte (von Frauen) zu entdecken und bekannte (von Männern) anders zu lesen. Getrieben von der Wissbegierde, was es denn mit der Geschlechterdifferenz auf sich hatte, übten wir uns in genauer Lektüre, intensiver Analyse und theoretischer Reflexion. In der Morgensonne glänzten die Villen am Elbhang, unser Schiff fuhr in Richtung Nordsee. Wir wollten nach Krautsand, um uns dort auf einem Wochenendseminar mit den „Schreibenden Frauen in der Romantik“ – oder waren es die „Frauen im Vormärz“? – zu beschäftigen. Doch bevor die erste Arbeitseinheit noch an Bord stattfand, ließen wir unserer Phantasie freien Lauf. Welches dieser zahlreichen stattlichen Gebäude, die uns fürs Wohnen viel zu groß erschienen, wäre wohl als Lehr- und Forschungsort am besten geeignet? Es war die Hochzeit der Hausbesetzungen in Berlin, und wir schwelgten für einen Moment in romantisch-vorrevolutionären Träumen. Glücklicherweise stand eine Ausgabe von Louise Astons Roman Revolution und Contrerevolution aus dem Jahre 1849 in der Hamburger Institutsbibliothek. Das ersparte das zeit- und nervenraubende Ausfüllen von Fernleihzetteln in dreifacher Ausfertigung an Schreibmaschinen der Staatsbibliothek, die noch älter waren als die eigene zu Hause. Die zerlesene, vergilbte Kopie erinnert allerdings an die Stunden, die es brauchte, um die Hunderte von Seiten des zweibändigen Werkes zu kopieren. Auch kostete es anfangs einige Mühe, die Frakturschrift zu entziffern, zumal manche Wörter in verschiedenen Rechtschreibungen auftauchten. Heutigen Leserinnen sind alle Texte dieser Autorin in einer digitalen Bibliothek im Internet leicht zugänglich, kostenfrei und in moderner Schrifttype. Ruhig atmen war schwer – mein Herzklopfen, als die Tür ins Schloss fiel, steigerte sich. Sigrid Weigel trat ans Pult, um ihren Anhörungsvortrag für die Bewerbung um eine Professur am Literaturwissenschaftlichen Seminar Hamburg zu halten. Ob das Thema, zu dem sie sprach, wirklich Schlegels Lucinde war, weiß ich nicht mehr genau. Präsent dagegen ist die Aufregung, eine spezifische Mischung
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aus Angespanntheit und Freude, während der anderthalb Stunden im Hörsaal des Philosophenturms. Zugleich hat sich mir das Gefühl der zunehmenden Lust, ihren Ausführungen gedanklich zu folgen, bewahrt. Immer wenn ich Garnelen esse, fällt mir eine Einladung zum Ladies Dinner ein. Da saßen wir zu zehnt an einer großen Tafel, Tischkärtchen wiesen uns formvollendet unseren Sitzplatz zu. Bald waren alle in lebhafte Gespräche verwickelt – und wie es sich bei Tisch gehört: auch über das Essen. Als Hauptgang verspeisten wir sehr ladylike Unmengen von frisch zubereiteten Gambas, wobei bekanntlich die Finger als Werkzeug dienen. Seitdem zähle ich mich zu den Profis in dieser Disziplin, auch wenn ich nie wieder so viele der Granat-Tierchen an einem Abend verzehrte. Dass sich mit hartnäckigem Suchen, mit Lesen und Schreiben Geld verdienen ließ, lehrte mich vor rund fünfundzwanzig Jahren Lola Montez. Der Verleger von Zweitausendeins interessierte sich für die Memoiren der berühmten Mätresse des Bayernkönigs Ludwig I., die 1851 erschienen sein sollten. Auf Sigrid Weigels Empfehlung erhielt ich den Rechercheauftrag. Bei der Suche nach der Ausgabe zeigte sich, dass die vermeintlich falschen Spuren entscheidende Hinweise für das Aufspüren der Originalbände lieferten – und zur Biographie dieser in zahlreichen Texten und Karikaturen verhandelten Frau. Mein Nachwort zu dem über 1800 Seiten starken Memoiren-Text nannte ich dann Sie suchen die Lola. Wer konnte ahnen, dass das internationale Symposium, das im April 1989 in Hamburg stattfand, einmalig bleiben sollte? Nicht wegen des Titels Frauen und Weiblichkeit im kulturellen und literarischen Prozeß, auch nicht, weil es eine ganze Woche, von Montag bis Samstag, dauerte, und ebenso wenig, weil es eine Veranstaltung war, an der nur Wissenschaftlerinnen aus den Literatur- und Kulturwissenschaften teilnahmen. Einmalig war, dass von den zweiunddreißig Teilnehmerinnen fast die Hälfte der Forscherinnen aus der Deutschen Demokratischen Republik angereist kam. Damit wurde ein Projekt Wirklichkeit, das während der langen Vorbereitungszeit manchmal phantastisch, manchmal größenwahnsinnig und manchmal schlicht zum Scheitern verurteilt erschien. Als zwei Jahre später der Tagungsband „Wen kümmert’s, wer spricht“ herauskam, gab es keine zwei deutschen Staaten mehr. Eine lange Zeit klebte ein Zettel am Fensterbrett hinter meinem Schreibtisch, auf dem „Keine Skrupel im Detail“ stand. Das war der Ratschlag aus einem Brief der Doktormutter, der zu einem zügigen ersten Schreibdurchgang aufrief. Später bei der Überarbeitung des Gesamttextes, hieß es dort, sollten Unstimmigkeiten oder Überschneidungen dann leichter erkannt und korrigiert werden können. Lachend oder beschwörend flüstere ich manchmal noch heute diese vier Wörter vor mich hin. Sie repräsentieren einen der wenigen Imperative, der in meinen Ohren animierend und besänftigend zugleich klingt. In der Evangelischen Akademie in Hamburg fand zum Abschluss eines zweitägigen Symposions ein Fest statt. Anlass war das Erscheinen des fünfzigsten Heftes von Frauen in der Literaturwissenschaft, dessen erste Ausgabe im November 1983 verschickt worden war. Auch die Gründerinnen der anfänglich als Rundbrief apo-
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strophierten Zeitschrift – Inge Stephan und Sigrid Weigel, angereist aus Berlin und Zürich – hielten Vorträge und feierten mit. An diesem für Hamburg ungewöhnlich heißen Juniabend 1997 saßen wir noch lange draußen, unter anderem mit der ehemaligen Akademie-Leiterin Hildegard Tornau, und erinnerten uns an frühere Tagungen in Bad Segeberg, Hamburg, Bielefeld … Es wurde ein ausgelassenes Abschiedsfest – die fünfzigste blieb zugleich die letzte Ausgabe. Grün war die Schachtel mit den Schokoladenzigaretten, die jahrelang bei mir im Regal stand – darauf abgebildet der heilige Georg auf seinem Pferd, wie er den Drachen bezwingt. Sigrid Weigel hatte sie mir geschenkt, als ich, damals noch Raucherin, an meiner Dissertation arbeitete. Eine Zeit, in der jeder „Nothelfer“, gleich welchen Geschlechts oder Ursprungs, willkommen war. Weshalb der Verzicht auf den Schokoladengenuss nicht so schwer fiel. Oder hatte ich die Packung gekauft, um sie ihr zu geben, weil sie sich mit Märtyrer-Figuren beschäftigte? Einmal war ich in ein Schloss eingeladen, das hieß Blankensee. Ganz einfach war es nicht, dorthin zu gelangen. Der Bahnhof in Trebbin war nämlich sehr einsam gelegen, verstaubt vom märkischen Sand – und keine Droschke weit und breit. Aber märchenhafterweise gelang es dann doch. Was gut war, denn so konnte ich Karl Philipp Moritz’ und Wolf Erlbruchs Neues ABC-Buch auf den Gabentisch legen, anno zweitausend. Leichtfüßig kommen manche Erinnerungen, nur zart angestupst, lösen sie sich aus dem Vergangenheitskörper und sind schon fertige Episoden. Andere erscheinen wie von einem größeren Brocken abgesprengt, lassen sich dann nur widerwillig in Worte fassen. Noch andere brauchen Geburtshilfe, durch Hände, die in Papieren blättern, Augen, die lesen, sie wollen erst begriffen werden. Jetzt sind sie zum Sechzigsten für Sigrid Weigel in sechzig Sätze und zwölf Fragmente gebannt. Bei mir werden sie wohl noch eine Zeit lang an der Oberfläche vagabundieren, bevor sie sich wieder dankbar einnisten im Gedächtnis der ehemaligen Studentin, Examenskandidatin, Mitarbeiterin, Promovendin.
YOKO TAWADA
Sechzig Nazonazo (Rätsel) oder Ein Lobgesang auf die altisländische Schönheit
1. Das sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge, in die eine vom Platzregen überraschte Frau hineinspringt. Sie entdeckt dort unerwartet zahlreiche Wunder-Waren, die sie noch nie im Leben gesehen hat. 2. Man findet sie in einer Wohnung oder zwischen Tag und Nacht oder bei Paul Celan. 3. Sie ist älter als ihre Geschichte, bleibt aber immer jung. Sie hat viele Dimensionen, braucht jedoch nur zwei für ihren Auftritt. Weder das Zeugen noch das Überzeugen ist ihre Aufgabe. 4. Man hat sie im Paradies verloren und in der Poesie wieder gefunden. 5. Sein Vater war Dada, seine Mutter war eine Passage. 6. Er hat mehr als eine. Er hat ein Haar mehr. Er wird für mich immer wichtiger. 7. Er hatte keine Angst vor Nietzsche, aber vor dir hatte er eine Furcht, vielleicht eine Ehrfurcht. In seinem besten Buch beschreibt er gnadenlos die moderne dionysische Klassengesellschaft, die ihn betrog und zugrunde richtete. Sein Halbbruder hingegen schien von jener Todeslast frei gewesen zu sein, von der 1947 sein Landsmann Antonin Artaud schrieb: „Wer hat uns diesen auf der Sexualität basierenden Körper gegeben, unter dem wir wie unter einer entsetzlichen Todeslast leiden?“ 8. Der Schauplatz der ersten Gasbeleuchtung. 9. Das ist eine Form. Sie kann auch eine Zahl oder ein Buchstabe sein. Sie schwebt manchmal über dem Kopf eines Engels, aber sie kann auch im wörtlichen Sinne teuflisch sein. Sie kommt nicht an einem interdisziplinären Abend vor. Jeder Ornithologe hat sogar zwei davon, während der Germanist keine hat. 10. Hätte er ein n, wäre er mein Freund. Hätte er ein e, wäre er glücklicher. 11. Es ist eine Maschine, in der sich die tote Ophelia, eine Coca Cola und Lenin befinden. 12. Du hast drei davon, Ingeborg Bachmann hat einen, ich habe keinen. 13. Er ist 1935 in Pécs geboren. 14. Man könnte einem Buch über das postmoderne Theater den Titel „Sind das noch Dramen?“ geben. Trennt man sich von R, kann das Buch ganz anders aussehen. 15. Ein Name, der sich in einem Schweigekloster versteckt hat.
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16. In diesem Buch habe ich hundertsechsundzwanzig Autorinnen kennengelernt. Manche von ihnen habe ich später außerhalb des Buches als lebende Menschen wieder gesehen. 17. Diese Autorin ist viel wichtiger als ihr Namensgenosse, der als Hüter der deutschen Sprache gilt. Er hat immer recht, weil er opportunistisch arbeitet. Er freut sich über jede Reform, bei der er mehr von seinen Büchern verkaufen kann. Die Autorin hingegen interessiert sich nicht für eine Reform, sondern für einen Übergang. 18. Lasst uns die Universität Zürich reformieren, indem wir versität durch ca und ich durch n ersetzen. Gerade das Ich lässt sich leicht ersetzen, weil es aus Buchstaben besteht. 19. Ihre Gelenke sind kugelförmig. Sie wird von ihrem Schöpfer als Poesie-Erreger benutzt. 20. Die amerikanische Autorin, die „Three Lives“ schrieb, hat dieselben Initialen wie diese deutsche Autorin. Diese beschäftigte sich unter anderen mit einer französischen Autorin, die auch dieselben Initialen hat. Alle drei lebten eine Zeit lang in Paris. 21. Wenn er da wäre, wären unser Stift und unser Müll von Heiner vollständig. 22. Man sagt, er könne Glück bringen, wenn er vier Blätter habe. In Wirklichkeit hatte er viel mehr Blätter als vier bei sich, wenn er arbeitete. Ohne ihn gäbe es keinen Engel der Geschichte. 23. Ein Vogel sitzt in ihrem Namen, so dass sie fliegen konnte. Die Spuren des Flugs können nach ihrem Tod nachgezeichnet werden. Die besten Zeugen sind nicht die Freunde, sondern die hinterlassenen Texte. 24. Er verheimlicht nicht, dass er einen Fluss in sich trägt. Buchstaben, Zahlen und Gegenstände stehen bei ihm im klaren Licht, so dass man eigentlich nichts übersehen könnte. Trotzdem hätte er ohne dich nicht gemerkt, womit das spannende Denkbild der Auswanderung zusammenhing, als er von der Auswanderung der Zahlen aus dem alpha-numerischen Code sprach. 25. Benjamin bezeichnete das als Schrei der nackten Lust. 26-a Das Gegenteil von einer Niederlage. 26-b Das altisländische Wort für Schönheit. 27-a Ein häufig gebrauchtes englisches Wort, das aus zwei Buchstaben besteht. Wenn man dieses Wort benutzt, ist man vom Gefühl der Einsamkeit befreit. Aber das Wort erklärt keineswegs, warum Zusammengehörigkeit oder Solidarität möglich ist. 27-b Ein Tier, das man nicht streicheln kann, weil sein Körper durch viele Stacheln geschützt ist. 28. Zwei Buchstaben, die für zwei Richtungen (ich denke an einen Korso) oder für zwei Jahreszeiten (und dazugehörige Semester) stehen. Die Initialen, die die Initiative ergreifen. 29. Der siebte Januar ist ihr Namenstag. 30. Die drei Schwestern bei Tschechow haben Namen, die auf a enden. Das liegt an der historischen Natur der russischen Sprache. Aber bei den drei Schwes-
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tern, die ich kenne, erscheint bei allen dreien ein g als der dritte Buchstabe ihres Namens. Eine Gemeinsamkeit zwischen dem Wort Disziplin und deinem Namen. Dieser Philosoph habe den Eros zum Diener seiner Zwecke gemacht. Er verführte die Jugend, dabei war seine Liebe bloß ein Mittel. Wäre er viel später in Preußen geboren, wo der Eros nicht einmal als Mittel zum Zweck der Erziehung akzeptiert wurde, hätte er sich wie Fräulein von Bernburg verhalten müssen. Die meisten Forscher sind stolz auf sich selbst, wenn sie das große Geheimnis eines toten Autors gelüftet zu haben glauben. Die meisten Rezensenten verachten rätselhafte Romane, loben hingegen die Romane, die angeblich geheimnisvoll sind. Das Geheimnis wird also heutzutage teurer verkauft als das Rätsel. Es gab aber in der Vergangenheit einen Autor, der das Rätsel, die Sprache der Sphinx, zu schätzen wusste. Er warnte uns davor, beim Wort Rätsel sofort an das Kreuzworträtsel zu denken, das eine eindeutige Sprache hat wie Lichtreklame oder Verkehrszeichen. Das Rätsel heißt auf Japanisch Nazo oder Nazonazo. Das letztere ist spielerischer als das erste. Ein Land, in dem ein riesiger, leuchtender Vorhang im Abendhimmel schwebt und steile Felswände am Meer die Gesichter der Riesen zeigen. Wenig bekannt ist, dass es dort neuerdings eine nationalistische Tendenz gibt. Das Land gehört zu Europa und im gewissen Sinne doch nicht. Hoffentlich benutzen die Nationalisten dort nicht das Wort Vaterland, denn es ist dein Großmutterland. Das ist ein Fluss. Seine Eltern haben ihm ein Vermögen hinterlassen. Bei der Übertragung des Eigentums wurde aber der Buchstabe r durch l ersetzt. So entstand sein Name. In diesem Land wurde jene Firma gegründet, die erfolgreich ein globales Geschäft treibt. Auch die kritischen Intellektuellen, die McDonald’s und Starbucks hassen, öffnen gerne ihre Portemonnaies in den Läden, die dieser Firma gehören. Das ist das Land, wo Kalle Blomquist geboren ist, den ich als Kind beneidete, weil er drei Monate Sommerferien hatte. Vielleicht hast du mit ihm gespielt, als du da warst. Ein englisches Instrument zum Schreiben, das zwischen der Schweiz und Italien liegt, um Goethes Sehnsucht lebendig zu halten. Ich sah ihr steinernes Gesicht in deinem Garten. Der Wind war still. Ich wurde nicht versteinert, obwohl ich ihr in die Augen schaute, um sie zu filmen. Zwei Männer, die als Straßennamen in Berlin stehen, um die Literaturforschung zu verteidigen. Beide können mit dem Bogen schießen. Sein Nachname beginnt mit dem Buchstaben, mit dem er endet. Es klingt sehr einfach, aber ich kenne sonst keinen, der so schlüssig ist. So lange wie man sie in der Singularform trägt, werden keine Zinsen berechnet.
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42. Sie ist unsichtbar, nicht käuflich und nur bedingt lernbar. Du kannst sie überall schnell einbauen. Ohne sie wäre ein Gemälde keine Kunst, ein Tag unbefriedigend, ein Institut eine Katastrophe. 43. Eine Antwort, bei der man nie weiß, was die Frage war. Es ist wichtig, sie zu übernehmen und zu tragen, aber sie hat ein Gewicht, das deine Gesundheit belasten kann. Leider ist sie nie leicht, kann nur schwer oder groß sein, manchmal sogar strafrechtlich. 44. Ein Bekannter von mir, der sonst im Deutschen kaum Fehler machte, sagte einmal Schwierigmutter, als er Schwiegermutter meinte. Die Stiefmutter ist auch ein verwirrendes Wort. Das Präfixoid „stief-“ kommt angeblich vom Stumpf. Eine Stiefmutter ist also etymologisch gesehen ein gestutzter Baum. Ihre Gebärmutter hängt nicht wie ein Apfel am Stammbaum. Es gibt noch eine andere Form der Mutter, die nicht die Gene, sondern den Genius weitergibt. 45. Es ist weiß, hat aber eine harte, braune Haut. Sein Inneres hat keinen guten Ruf bei dir, wahrscheinlich, weil es klebrig, bestechlich und charakterlos ist. In Süddeutschland hat es einen anderen Namen als in Norddeutschland. 46. Seine Vorfahren stammen wahrscheinlich aus einer Wüste. Er steht auf deinem Schrank, sagt kein Wort, braucht zwar Pflege, ist aber gesund. 47. Ein Land, in dem die Sonne Urlaub macht, obwohl drei Siebtel des Landes aus einem einzigen Tal bestehen. 48. Sie können knacken, vibrieren oder zischen. Sie sind nie stumm, können aber stimmlos sein. Fast jeder produziert sie täglich. Sie sind nicht käuflich. 49. Eine Form der Musiktheater, der der Ton f fehlt. Dieser Ton wurde aus dem Bauch des Opfers herausgeschnitten, um den dramatischen Höhepunkt zu erreichen. 50. Er hat Europa erobert, bekam aber am Ende nur eine Schaumkrone. 51. Es ist nicht trojanisch, hat keinen Bauch, in dem sich jemand verstecken könnte. 52. Es ist eine Sorte Nuss, die nass ist. Eigentlich ist sie nicht immer nass, meistens nicht, aber der Anfang ihres Namens macht einen feuchten Eindruck. Ihr Name stammt ursprünglich aus dem Rheinischen Schiefergebirge. Du kennst sie seit über zehn Jahren, ich genieße sie erst seit Juli 2008. 53. Eine Bar, die ich oft und gerne besuche. Es ist zwar auch schön, auf der anderen Seite des Wassers zu wohnen und gelegentlich eine Flaschenpost zu schicken. Aber jetzt, wo es möglich ist, ziehe ich die Unmittelbarkeit der Bar der Distanz des Wassers vor. 54. Eine Spur ohne Sprache. Selbst wenn man w und e fest zusammen nähen würde, würde sie lebenslang offen bleiben und weiter bluten, besonders, wenn sie sich in einem Herzen befindet. 55. Ein Name, der nach der Scheidung nicht zu seinen Töchtern zurückgekehrt ist. Das ist der Name eines Tiers, vor dem die Menschen Angst haben, weil es stark, edel und klug ist. Es ist bekannt, dass dieses Tier seine Kinder liebevoll
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behandelt. In der ostasiatischen Tuschmalerei war es ein beliebtes Motiv. William Blake schenkte ihm vierzehn Fragezeichen. Man findet es auf einem Trauerfest oder in einem Traum. Man braucht einen Zeugen, damit das Vertrauen wieder da ist. Er kann von vorne oder von hinten kommen. Er kann lang oder kurz sein. Manchmal ist er offen, manchmal geschlossen oder halbgeschlossen. Fast jeder hat täglich einen oralen Kontakt mit ihm. In Italien, Finnland oder Japan ist er präsenter als in Deutschland. Es gibt eine jugoslawische Insel, die ganz ohne ihn auskommt. Ein Gefühl, das in einem verschlüsselten Gedicht verständlicher wird als in einem Verständigungstext. Manche besitzen nur ein paar, du hast ungewöhnlich viele davon. Sie öffnen ihre Münder wie die Mohnblume im ehemaligen Grenzgebiet zwischen Hamburg und Berlin und erinnern mich an den Rauschzustand, in den ich ohne Opium geriet. In einem Märchen wird am Ende die dritte Tochter Prinzessin. Sie ist genauso arm wie die anderen, muss aber nicht ihren kleinen Zeh kastrieren, weil ihr das, was ihr gegeben worden ist, genau passt. Eine nächtliche Variante von einem Kaffee-Raum.
Bildnachweise
KARLHEINZ BARCK: ERFINDUNG UND PASSION. CHARLES FOURIERS IMAGINÄRE SCHAUPLÄTZE Abb. 1: Pierre Faucheux: Quatrième portrait de Charles Fourier, 1965, in: L’archibras 3 (1968): Le surréalisme, S. 91. Abb. 2: Pierre Faucheux: L’Opéra carnivore, in: L’archibras 3 (1968): Le surréalisme, S. 92. Abb. 3: Charles Fourier: Table et analogie des 7 passions de l’âme, in: Charles Fourier: Œuvres complètes, Bd. 2: Théorie de l’unité universelle, Paris 1842, S. 145. HANS BELTING: NACHRUFE AUF DAS GESICHT: RILKE UND ARTAUD Abb. 1: Auguste Rodin: Mann mit der gebrochenen Nase, 1863-64 (Philadelphia Museum of Art), in: John L. Tancock: The Sculpture of Auguste Rodin, Philadelphia Museum of Art, Boston 1976, Abb. 79. Abb. 2: Antonin Artaud: Ohne Titel, 1948, Zeichnung (Privatsammlung), in: Antonin Artaud: Dessins et portraits, hg. v. Paule Thévenin/Jacques Derrida, Paris 1986, Abb. 111. MICHAEL BÖHLER: KLEINE PASSION ODER GRAND ENNUI – FLIEGENTOD UND KRÖTENLEBEN. ZU ZWEI GEDICHTEN GOTTFRIED KELLERS Abb. 1: Albrecht Dürer: Christus in der Rast, 1511, Holzschnitt, ca. 127 x 97 mm (Titelbild von Die Kleine Holzschnittpassion), in: Albrecht Dürer: Das Gesamtwerk. Sämtliche Gemälde, Handzeichnungen, Kupferstiche und Holzschnitte, hg. v. Mathias Bertram, Berlin 2000, S. 826 (= Digitale-Bibliothek, Bd. 28). STEPHAN BRAESE: KENNY CLARKE IM CLUB ST-GERMAIN-DES-PRÉS.
ZU EINEM SATZ VON ALFRED ANDERSCH Abb. 1: Kenny Clarke und Miles Davis in Paris, Mai 1949. Mit freundlicher Genehmigung der Frank Driggs Collection, New York City.
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BILDNACHWEISE
BICE CURIGER: MIT DER LEIDENSCHAFT DES ANDEREN. EIN KURZFÜHRER DURCH DAS WERK VON THOMAS HIRSCHHORN Abb. 1: Thomas Hirschhorn: Jemand kümmert sich um meine Arbeit, 1992 (Paris 1992). Abb. 2: Thomas Hirschhorn: Less is Less, More is More, 1995 (Africus: First Johannesburg Biennale, Johannesburg 1995). Abb. 3: Thomas Hirschhorn: Présentoir: Les Plaintifs, les Bêtes, les Politiques, 1995 (Bruit de fond, Centre National de la Photographie, Paris 2000). Mit freundlicher Genehmigung des Bonnefanten Museum, Maastricht. Abb. 4: Thomas Hirschhorn: Tränentisch, 1996 (Kunstmuseum Luzern 1996, Paris 1992). Abb. 5: Thomas Hirschhorn: Skulptur-Sortier-Station, 1997 (Skulptur Projekte, Münster 1997). Mit freundlicher Genehmigung des Musée national d’art moderne, Centre Pompidou, Paris. Abb. 6: Thomas Hirschhorn: Ingeborg Bachmann Altar, 1998 (Freie Sicht aufs Mittelmeer, Kunsthaus Zürich 1998). Abb. 7: Thomas Hirschhorn: Meret Oppenheim Kiosk, 2000 (Universität Zürich, Irchel 2000). Mit freundlicher Genehmigung des Hochbauamts des Kantons Zürich. Abb. 8: Thomas Hirschhorn: Deleuze Monument (La Beauté, Avignon 2000). Mit freundlicher Genehmigung des DRAC Provence-Alpes-Côte d’Azur, Aix-enProvence. Abb. 9: Thomas Hirschhorn: Wirtschaftslandschaft Davos, 2001 (Kunsthaus Zürich 2001). Mit freundlicher Genehmigung der Galerie Susanna Kulli, Zürich. Abb. 10: Thomas Hirschhorn: Bataille Monument, 2002 (Imbiss) (Documenta 11, Kassel, 2002). Foto: Werner Maschmann. Mit freundlicher Genehmigung der Gladstone Gallery, New York. Abb. 11: Thomas Hirschhorn: Musée Précaire Albinet, 2004 (Common Meal, week Andy Warhol / Repas commun, semaine Andy Warhol, Cité Albinet, Aubervilliers, 2004). Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Laboratoires d’Aubervilliers, Aubervilliers. Abb. 12a: Thomas Hirschhorn: Ur-Collage, 2008 (Exhibition view, Galerie Susanna Kulli, Zürich 2009). Abb. 12b: Thomas Hirschhorn: Ur-Collage 131, 2008 (Galerie Susanna Kulli, Zürich 2009). BIRGIT R. ERDLE: DAS UNFERTIGE IM BILD Abb. 1: Thomas Gainsborough: Portrait of the Artist with his Wife and Daughter, um 1748 (National Gallery, London). Abb. 2: Thomas Gainsborough: Mr and Mrs Andrews, um 1748/49 (National Gallery, London).
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Abb. 3: Thomas Gainsborough: The Painter’s Daughters with a Cat, 1760/61 (National Gallery, London). Abb. 4: Thomas Gainsborough: The Painter’s Daughters Chasing a Butterfly, um 1756 (National Gallery, London). Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der National Gallery, London. JÜRGEN HEINRICHS: PASSION ALS DENKSTIL: DIE LEKTÜRE VON BILDERN ALS KRITISCHE PRAXIS Abb. 1: Barbara Kruger: Ohne Titel (Your Gaze Hits the Side of My Face), 1981, Fotografie, 140 x 104 cm (Sammlung Allison und Neil Rubler, New York). Mit freundlicher Genehmigung der Mary Boone Galerie (© Barbara Kruger). Abb. 2: Hank Willis Thomas: The Day I Discovered I Was Colored, 2009, Tintenstrahldruck auf Papier, 76 x 76 cm. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Jack Shainman Galerie, New York (© Hank Willis Thomas). Abb. 3: David Wojnarowicz: Ohne Titel (One Day This Kid…), 1990, Silbergelatineabzug, Photostat, 76 x 100 cm. Mit freundlicher Genehmigung des Estate of David Wojnarowicz und der P.P.O.W. Galerie, New York. MICHAEL W. JENNINGS: BRINKMANN’S PASSIO: ROM, BLICKE AND CONCEPTUAL ART Abb. 1: Dan Graham: Homes for America, in: Art in America, Dec. 1966. Abb. 2: Robert Smithson: A Tour of the Monuments of Passaic, New Jersey, in: Artforum, Dec. 1967. ESTHER KILCHMANN: DER HANDSCHUH. EIN ACCESSOIRE DER LEIDENSCHAFT Abb. 1: Rolands Tod, in: Rudolf von Ems: Weltchronik, Staatsbibliothek zu Berlin − Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, SBB-IIIA, Ms germ fol 623 022 r. Mit freundlicher Genehmigung der Staatsbibliothek zu Berlin. Abb. 2: Max Klinger: Ruhe (aus dem Zyklus Paraphrase über den Fund eines Handschuhs), Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Singer 120-II, Inv. 425-92. Mit freundlicher Genehmigung der Staatlichen Museen zu Berlin. HERBERT LACHMAYER: STAGING KNOWLEDGE UND IMAGINATIVE RHETORICS. INSZENIERUNG VON WISSENSRÄUMEN UND PERFORMATIVE KULTURVERMITTLUNG Abb. 1: Herbert Lachmayer/Margit Nobis: Pornosophic Wallpaper „Début de Siècle“, 2009 (Haydn Explosiv, Schloss Esterházy, Eisenstadt). Abb. 2: Herbert Lachmayer/Margit Nobis: Hermeneutic Wallpaper „Oper“, 2009 (Haydn Explosiv, Schloss Esterházy, Eisenstadt).
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BILDNACHWEISE
Abb. 3: Franz West/Rudolf Polanszky: Tapete/Roy Lichtenstein: Teppich, 2008 (Wozu braucht Carl August einen Goethe?, Stadtschloss, Weimar). Abb. 4: Heinrich Gentz: Stiegenhaus/Roy Lichtenstein: Teppich, 2008 (Wozu braucht Carl August einen Goethe?, Stadtschloss, Weimar). Abb. 5: Klaus Pinter: Mongolfière „La conquête de l’air“, 2006 (Mozart. Experiment Aufklärung, Albertina, Wien). Abb. 6: Franz West: Teppich, 2006 (Mozart. Experiment Aufklärung, Albertina, Wien). Abb. 7: Margit Nobis/Rudolf Polanszky/Franz West: Tapete, 2009 (Haydn Explosiv, Schloss Esterházy, Eisenstadt). Abb. 8: Roy Lichtenstein: Teppich, 2009 (Haydn Explosiv, Schloss Esterházy, Eisenstadt). Abb. 9: Daniel Dobler/Clemens Kogler: Deckenprojektion, 2009 (Haydn Explosiv, Schloss Esterházy, Eisenstadt). Abb. 10: Herbert Lachmayer/Margit Nobis: Hermeneutic Wallpaper „Boy’s Day“, 2009 (ich, boy, 19, suche, Pädagogische Hochschule, Wien). THOMAS MACHO: CARMENS PASSION Abb. 1: Grand taureau cornu, ca. 30.000 v. Chr., Höhlenmalerei, Lascaux, Périgord Noir, in: Lascaux en Périgord Noir. Environnement, art pariétal et conservation, hg. v. Pierre Fanlac, Périgueux 1982, S. 19. Abb. 2: Archétype: l’Artémis d’Ephèse d’Endoios, um 550 v. Chr., 20 cm hoch (Collection Louvre, Département des Antiquités grecques, étrusques et romaines, CA 1202). Abb. 3: Francisco de Goya: Portrait of the Matador Pedro Romero, 1795-98, Öl auf Leinwand, 84,1 x 65 cm (Collection Kimbell Art Museum, Fort Worth, Texas). © Kimbell Art Museum. Abb. 4: Francisco de Goya: La Tauromaquia: Wendigkeit und Waghalsigkeit des Juanito Apiñani in der Arena von Madrid, 1815/16, Radierung, 24,3 x 35,5 cm (Blatt 20 der Folge der Tauromaquia), in: Francisco de Goya. Radierungen. Die Sammlung des Morat-Instituts, Ausstellungskatalog Jahrhunderthalle Hoechst, 8.12.1996-19.1.1997, S. 80. Abb. 5: Virgen del Carmen de Chile, im Votivtempel von Maipú, 1956 von Sra. Rosalía Mujíca de Gutiérrez gestiftet. ANNE-KATHRIN REULECKE: KINOLEIDENSCHAFT, GETEILT Abb. 1 a-c: Screenshots aus: Stephen Daldry: The Hours, USA 2002. Die Urheberrechte liegen bei der Highlight Communications AG, Pfäffikon, Schweiz. Abb. 2 a-c: Screenshots aus: Michael Haneke: Caché, F, A, I 2005. Die Urheberrechte liegen bei der EuroVideo Bildungsprogramm GmbH, Ismaning.
KLEINE PASSION ODER GRAND ENNUI
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Abb. 3 a-c: Screenshots aus: Ang Lee: Lust, Caution, VCR, TW 2007. Die Urheberrechte liegen bei der TOBIS Film GmbH & Co. KG, Berlin. Abb. 4 a-c: Screenshots aus: Ari Folman: Waltz with Bashir, ISR, F, D 2008. Die Urheberrechte liegen bei der Pandora Film GmbH & Co. Verleih KG, Köln. MONIKA WAGNER: DAS ZERBROCHENE GLAS. OPAKE KOMMENTARE IN EINEM TRANSPARENTEN MEDIUM Abb. 1: Olaf Metzel: Eichenlaubstudie, 1986, Vitrine aus Acrylglas; Gips, 200 x 110 x 35 cm (Besitz des Künstlers), in: Jenisch-Park. Skulptur. Ausstellungskatalog, hg. v. Kulturbehörde Hamburg, Hamburg 1986. Abb. 2: Domenico Andrea Remps: Kunstkammerschrank, Ende 17. Jahrhundert, Öl auf Leinwand, 99 x 136 cm (Museo dell’Opificio delle Pietre Dure, Florenz), in: Sybille Ebert-Schifferer: Die Geschichte des Stillebens, München 1998, Abb. 154. Abb. 3: Anonym: Le Chirurgien, 18. Jahrhundert, Öl auf Leinwand (Verbleib unbekannt), in: Martin Battersby: Trompe l’œil. The eye deceived, London 1974, Abb. 160. Abb. 4: Laurent Dabos: Friedensvertrag zwischen Frankreich und Spanien, nach 1801, Öl auf Leinwand (Musée Marmottan, Paris), in: Le Trompe-l’œil. Plus vrai que nature?, Ausstellungskatalog Musée de Brou, Bourg en Bresse, Abb. 34. Abb. 5: François Jouvenet: Trompe-l’œil des Stichs nach Nicolas Lancrets „La Servante Justifiée“, Mitte 18. Jahrhundert, Öl auf Leinwand (Privatsammlung, Paris), in: Michel Faré/Fabrice Faré: La vie silencieuse en France, Fribourg 1976, Abb. S. 402. Abb. 6: Nicolas de Larmessin nach François Jouvenet: La Servante Justifiée, Stich, in: Jean de la Fontaine, Contes et Nouvelles, 1666. Abb. 7: Gaspard Gresly: Trompe-l’œil von Nicolas Lancrets „Der Winter“, Mitte 18. Jahrhundert, Öl auf Leinwand, 38 x 47 cm (Privatsammlung), in: Le Trompel’œil. Plus vrai que nature?, Ausstellungskatalog Musée de Brou, Bourg en Bresse, Abb. 32. Abb. 8: Jean Duplessi-Bertaux: L’Innocence, spätes 18. Jahrhundert, Öl auf Leinwand (Privatsammlung, Paris), in: Michel Faré/Fabrice Faré: La vie silencieuse en France, Fribourg 1976, Abb. S. 405. RAIMAR ZONS: THE STORYTELLER. BILD – ERZÄHLUNG – PASSION Abb. 1: Jeff Wall: The Storyteller, 1986, Transparency in lightbox, 2290 x 4370 mm (Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main). © Jeff Wall.