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German Pages 1158 Year 2021
Beate Bender Kilian Gericke Hrsg.
Pahl/Beitz Konstruktionslehre Methoden und Anwendung erfolgreicher Produktentwicklung 9. Auflage
Pahl/Beitz Konstruktionslehre
Beate Bender · Kilian Gericke (Hrsg.)
Pahl/Beitz Konstruktionslehre Methoden und Anwendung erfolgreicher Produktentwicklung
Hrsg. Beate Bender Ruhr-Universität Bochum Bochum, Deutschland
Kilian Gericke Universität Rostock Rostock, Deutschland
ISBN 978-3-662-57302-0 ISBN 978-3-662-57303-7 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 1977, 1986, 1993, 1997, 2003, 2005, 2007, 2013, 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Michael Kottusch Springer Vieweg ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Vorwort zur 9. Auflage
Nach acht erfolgreichen deutschen Auflagen und Übersetzungen in neun Sprachen freuen wir uns, als Herausgeber der 9. Auflage des Pahl/Beitz in die Erfolgsgeschichte des Lehrbuchs zur Konstruktionslehre und methodischen Produktentwicklung einzusteigen. Die Vorarbeiten der Kollegen Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote, deren Anliegen nach der Integration aktueller Inhalte und hoher Praxisrelevanz im Wechsel vom Autoren- zum Herausgeberwerk mündete, ermöglichte uns eine hervorragende Grundlage für diese neue Auflage. Wir werden der Tradition von Gerhard Pahl, Wolfgang Beitz, Jörg Feldhusen, Karl-Heinrich Grote folgen und den Leserinnen und Lesern aktuelle Themen und Forschungsergebnisse mit Praxisrelevanz präsentieren. Gleichzeitig liegt uns die Aufrechterhaltung des noch heute aktuellen Kerns der Konstruktionsmethodik am Herzen, wie sie von Gerhard Pahl und Wolfgang Beitz entwickelt und erprobt wurde. Das Buch „Pahl/Beitz Konstruktionslehre“ hat seit der ersten Auflage das Ziel verfolgt, angehenden und erfahrenen Konstrukteuren und Entwicklerinnen eine Hilfestellung und Orientierung für ihre Arbeit zu bieten. Die Inhalte erfüllten dabei immer zwei Anforderungen. Vorgestellte Methoden und Hilfsmittel sollten in der Praxis bewährt und gleichzeitig wissenschaftlich fundiert sein. Dieser Anspruch hat dieses Werk bekannt gemacht und seinen Erfolg als Standardwerk in der Lehre begründet. Die Zielgruppe dieses Werks sind Studierende ingenieurwissenschaftlicher Fachrichtungen sowie erfahrene Ingenieurinnen und Ingenieure aus der Praxis, die ihre Arbeitsergebnisse nicht dem Zufall überlassen sowie ihre Arbeitsweise effizient gestalten, dokumentieren und weitervermitteln wollen. Das Buch ist in fünf Hauptteile gegliedert. Während Teil I die Grundlagen darstellt, orientieren sich die Teile II bis IV an den Hauptentwicklungsphasen Klären der Aufgabenstellung, Konzipieren und Gestalten. Im Teil V werden Begleitprozesse der Produktentwicklung beschrieben. Bewährte Inhalte wie die Gestaltungsprinzipien und die Mehrheit der Gestaltungsregeln wurden beibehalten. Diverse andere Themen wie zum Beispiel Produktarchitektur, Gestaltung für additive Fertigung oder die Arbeitsschritte der Gestaltung wurden umfangreich überarbeitet. Neue Inhalte wie Nutzerzentriertes Design, der Umgang mit Anforderungen, Ökodesign und Projektmanagement V
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Vorwort zur 9. Auflage
wurden aufgenommen. Das bestehende Autorenteam aus kompetenten Forschern und Experten aus der Praxis ist für diese 9. Auflage somit weiter angewachsen. Wir möchten daher an dieser Stelle auch all den Autoren danken, die intensiv an der Überarbeitung des Buches mitgewirkt haben. Wir sind stolz darauf, das Lehrbuch, dass unser beider Ausbildung und Berufsleben in der Hochschule und Industrie geprägt hat, nun als Herausgeber weiterführen zu können und sind gespannt auf Anregungen für die Weiterentwicklung in den kommenden Auflagen! Rostock Bochum im April 2020
Kilian Gericke Beate Bender
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Beate Bender und Kilian Gericke Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Teil I Grundlagen 2 Grundlagen technischer Systeme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Gerhard Pahl, Wolfgang Beitz, Kilian Gericke, Beate Bender, Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote 2.1 System, Anlage, Apparat, Maschine, Gerät, Baugruppe, Einzelteil . . . . . 9 2.2 Energie-, Stoff- und Signalumsatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.3 Funktionszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.4 Wirkzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2.5 Bauzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.6 Systemzusammenhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3 Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung. . . . . . . . 27 Kilian Gericke, Beate Bender, Gerhard Pahl, Wolfgang Beitz, Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote 3.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.1.1 Produktentwicklung als Problemlöseprozess . . . . . . . . . . . . . . . 28 3.1.2 Produktentwicklung als Informationsumsatz . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.1.3 Produktentwicklung als iterativer Prozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.1.4 Produktentwicklung als Koevolution von Problem und Lösung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3.2 Vorgehensstrategien der methodischen Produktentwicklung . . . . . . . . . . 39 3.3 Allgemein anwendbare Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
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4 Der Produktentwicklungsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Kilian Gericke, Beate Bender, Gerhard Pahl, Wolfgang Beitz, Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote 4.1 Produktlebenszyklus und Produktentstehungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . 58 4.2 Modelle des physikalischen Produkts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 4.3 Modell des Produktentwicklungsprozesses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4.3.1 Allgemeiner Lösungsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4.3.2 Allgemeines Vorgehensmodell der Produktentwicklung. . . . . . . 65 4.3.3 Begleitprozesse der Produktentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4.4 Erstellung und Gebrauch von Prozessmodellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 4.5 Entwicklung kontextspezifischer Produktentwicklungsprozesse . . . . . . . 75 4.6 Alternative Prozessmodelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.6.1 Klassifizierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.6.2 Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 4.6.3 Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Teil II Klären der Aufgabenstellung 5 Produktplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Matthias Kreimeyer, Werner Seidenschwarz und Matthias Rehfeld 5.1 Abgrenzung der Produktplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 5.2 Vorgehensmodelle zur Produktplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 5.3 Zentrale Grundmethoden in der Produktplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 5.4 Unternehmens- und Produktstrategie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5.4.1 Ebenen der Strategie und Einfluss auf das Produkt. . . . . . . . . . . 111 5.4.2 Einflüsse und Rahmenbedingungen zur Produktstrategie. . . . . . 113 5.5 Portfolioplanung und -management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5.5.1 Das Portfolio (Produktportfolio, Technologieportfolio). . . . . . . 116 5.5.2 Planung der Produktroadmap . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 5.6 Planung einzelner Produkte und Produktportfolios. . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 5.6.1 Vorgehensmodell für die Projektanbahnung. . . . . . . . . . . . . . . . 124 5.6.2 Rolle der Architektur und der Modularisierung. . . . . . . . . . . . . . 126 5.6.3 Beispiel: Planung eines Produktprojekts im Nutzfahrzeugbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5.7 Begleitung von Entwicklungsprojekten aus Sicht der Produktplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
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6 Nutzerbedürfnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Kristin Paetzold 6.1 Das Spannungsfeld zwischen Entwickler und Nutzer – eine Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 6.1.1 Unterschiedliche Sichtweisen auf das Produkt. . . . . . . . . . . . . . 137 6.1.2 Verantwortlichkeit der Entwicklung in der Produktgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 6.2 Charakterisierung und Klassifizierung von Nutzern. . . . . . . . . . . . . . . . . 140 6.2.1 Einflussfaktoren auf Wünsche und Bedürfnisse der Nutzer . . . . 140 6.2.2 Bestandteile und Interpretation des Produktbegriffes im Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 6.2.3 Unterscheidung von Nutzern nach deren Interesse am Produkt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 6.3 Systematik der Nutzerintegration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 6.3.1 Rahmenbedingungen für die Nutzerintegration. . . . . . . . . . . . . . 148 6.3.2 Ausdifferenzierung der Einzelaspekte der Nutzerintegration. . . 149 6.3.3 Der Untersuchungsprozess im Rahmen der Nutzerpartizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 6.4 Auswahl von Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6.4.1 Unterscheidung zwischen qualitativen und quantitativen Untersuchungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6.4.2 Typische Methoden der Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 6.4.3 Herausforderungen bzw. Fehlerquellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 7 Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering. . . . . . . . . . 169 Beate Bender und Kilian Gericke 7.1 Zielsystem des Entwicklungsvorhabens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 7.1.1 Produktbezogene Ziele, Terminziele und Kostenziele. . . . . . . . . 172 7.1.2 Modell für Ziel-, Objekt-, Prozess-, und Handlungssystem . . . . 174 7.1.3 Rolle von Zielen und Anforderungen in der Produktentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 7.2 Entwickeln der initialen Anforderungsbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 7.2.1 Entwicklungsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 7.2.2 Lasten- und Pflichtenheft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 7.2.3 Arten von Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 7.3 Methodisches Vorgehen beim Klären der Aufgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 7.3.1 Anforderungen ermitteln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 7.3.2 Anforderungen spezifizieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 7.3.3 Anforderungen strukturieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 7.3.4 Anforderungen analysieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
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8 Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management. . . . . . . . . . . . . . 211 Dietmar Göhlich und Tu-Anh Fay 8.1 Requirements Management im Produktentwicklungsprozess. . . . . . . . . . 212 8.2 Dokumente und Standards für das Arbeiten mit Anforderungen. . . . . . . . 216 8.2.1 Anforderungsliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 8.2.2 Standards und Richtlinien für Lasten- und Pflichtenhefte. . . . . . 218 8.2.3 Generische Lastenheftstruktur für mechatronische Komponenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 8.3 Software für das Arbeiten mit Anforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 8.3.1 Anforderungen definieren und dokumentieren. . . . . . . . . . . . . . 222 8.3.2 Anforderungen ändern, versionieren und rückverfolgen. . . . . . . 224 8.3.3 Anforderungen kommunizieren und über Schnittstellen austauschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Teil III Konzeptentwicklung 9 Funktionen und deren Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Kilian Gericke, Beate Bender, Gerhard Pahl, Wolfgang Beitz, Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote 9.1 Abstrahieren zum Erkennen der wesentlichen Probleme . . . . . . . . . . . . . 234 9.1.1 Ziel der Abstraktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 9.1.2 Systematische Erweiterung der Problemformulierung. . . . . . . . 236 9.1.3 Problem erkennen aus der Anforderungsliste . . . . . . . . . . . . . . . 238 9.2 Aufstellen von Funktionsstrukturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 9.2.1 Gesamtfunktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 9.2.2 Aufgliedern in Teilfunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 9.2.3 Aufstellen einer Funktionsstruktur anhand eines Beispiels. . . . . 245 9.2.4 Hinweise zum Erkennen und Bilden von Teilfunktionen . . . . . . 247 9.2.5 Weitere Beispiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 9.3 Praxis der Funktionsstruktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 10 Entwickeln von Wirkstrukturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Kilian Gericke, Beate Bender, Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote 10.1 Suche nach Wirkprinzipien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 10.2 Lösungsfindungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 10.2.1 Konventionelle Methoden und Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 10.2.2 Intuitiv betonte Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 10.2.3 Assoziativ betonte Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 10.2.4 Diskursiv betonte Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
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10.3 Kombinieren von Wirkprinzipien zu einer Wirkstruktur. . . . . . . . . . . . . . 299 10.3.1 Systematische Kombination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 10.3.2 Kombinieren mithlife mathematischer Methoden. . . . . . . . . . . . 302 10.4 Praxis der Wirkstruktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 11 Auswahl- und Bewertungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Sandro Wartzack 11.1 Einfache Bewertungsverfahren zur Vorauswahl von Lösungsvarianten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 11.2 Aufwendige Bewertungsverfahren zur Lösung von Entscheidungsaufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 11.3 Komplexe Bewertungsverfahren zur Entscheidungsfindung. . . . . . . . . . . 323 11.4 Rechnerunterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 11.5 Überprüfung der Bewertungsergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 12 Produktarchitektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Dieter Krause, Thomas Vietor, David Inkermann, Michael Hanna, Timo Richter und Nadine Wortmann 12.1 Definition der Produktarchitektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 12.2 Bauweisen technischer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 12.2.1 Integral- und Differentialbauweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 12.2.2 Modulbauweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 12.2.3 Verbundbauweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 12.2.4 Integrierende Bauweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 12.2.5 Multifunktionalbauweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 12.3 Zielstellungen für die Gestaltung der Produktarchitektur. . . . . . . . . . . . . 345 12.3.1 Planung und Entwicklung des Produktprogramms. . . . . . . . . . . 346 12.3.2 Wertschöpfungsprozesse im Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . 347 12.3.3 Produktnutzen für den Kunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 12.3.4 Interaktion zwischen Kunden und Unternehmen. . . . . . . . . . . . . 348 12.4 Produktstrukturierung unter Berücksichtigung der Variantenvielfalt . . . . 349 12.4.1 Herausforderungen der Variantenvielfalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 12.4.2 Strategien zur modularen Produktstrukturierung. . . . . . . . . . . . . 352 12.4.3 Baureihenstrategie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 12.5 Ausgewählte Methoden für die Gestaltung der Produktarchitektur . . . . . 359 12.5.1 Systematisches Vorgehen bei der Funktionsintegration. . . . . . . . 360 12.5.2 Strategie der einteiligen Maschine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 12.5.3 Change Mode & Effects Analysis (CMEA) . . . . . . . . . . . . . . . . 364 12.5.4 Theory of Modular Design . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
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12.5.5 Integration Analysis Methodology auf Grundlage der Design Structure Matrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 12.5.6 Vorgehen beim Entwickeln von Baukästen. . . . . . . . . . . . . . . . . 370 12.5.7 Modular Function Deployment. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 12.5.8 Product Family Master Plan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 12.5.9 Integrierter PKT-Ansatz zur Entwicklung modularer Produktfamilien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 12.6 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 12.6.1 Anwendung des PKT-Ansatzes zur Modularisierung von Aufzügen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 12.6.2 Integrales Bodenmodul für leichte Nutzfahrzeuge . . . . . . . . . . . 388 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 Teil IV Produktgestaltung 13 Gestaltung – Prozess und Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Sven Matthiesen 13.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 13.2 Die Einordnung der Gestaltung in den Produktentwicklungsprozess nach VDI 2221. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 13.3 Vorgehen in der Gestaltung und wichtige Begriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 13.3.1 Grundlegende Empfehlungen zum Vorgehen in der Gestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 13.4 Risiken in der Gestaltung abhängig von den zentralen Eingangsgrößen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 13.5 Contact&Channel-Ansatz – C&C2-A, ein Modell zur Modellbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 13.5.1 Elemente des C&C2-Ansatzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 13.5.2 Das Contact&Channel-Modell – C&C2-M, ein Modell zur Beschreibung der Gestalt-Funktion-Zusammenhänge im Produkt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 13.5.3 Vorgehen bei der Modellbildung mit dem C&C2-Ansatz. . . . . . 427 13.6 Synthesegetriebene Analyse in der Gestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 13.6.1 Techniken in der synthesegetriebenen Analyse. . . . . . . . . . . . . . 432 13.6.2 Erkenntnisgewinn in der Gestaltung durch Hypothesenbildung und -prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 13.6.3 „Konstruktionshypothesen“ als Hilfsmittel zum Erkenntnisgewinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 13.6.4 Gestalt-Funktion-Zusammenhänge erkennen und überprüfen durch Testing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 13.6.5 Quantifizierung von Gestalt-Funktion-Zusammenhängen durch Entwicklungsprüfständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
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13.7 Synthese in der Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 13.7.1 Techniken in der Synthese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 13.8 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 14 Grundregeln der Gestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Eckhard Kirchner und Alfred Neudörfer 14.1 Grundregeln, Gestaltungsprinzipien und Gestaltungsrichtlinien. . . . . . . . 468 14.2 Eindeutig. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 14.2.1 Konstruktive Aspekte der Eindeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 14.2.2 Eindeutigkeit in der Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 14.2.3 Die Grundregel Eindeutig im Produktlebenslauf. . . . . . . . . . . . . 479 14.3 Einfach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 14.3.1 Konstruktive Aspekte der Einfachheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 14.3.2 Einfache Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 14.3.3 Die Grundregel Einfach im Produktlebenslauf. . . . . . . . . . . . . . 485 14.4 Sicher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 14.4.1 Rechtliche Grundlagen des sicherheitsgerechten Konstruierens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 14.4.2 Mit Maschinen verbundene Gefahren und Risiken. . . . . . . . . . . 495 14.4.3 Konstruktionsmaßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 15 Gestaltungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Gerhard Pahl und Wolfgang Beitz 15.1 Prinzip der Kraftleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 15.2 Prinzip der Aufgabenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 15.3 Prinzip der Selbsthilfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 15.4 Prinzip der Stabilität und Bistabilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 15.5 Prinzip der fehlerarmen Gestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 16 Gestaltungsrichtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 Beate Bender, Kilian Gericke, Jörg Heusel, Thomas Bronnhuber, Olaf Helms, Jens Krzywinski, Christian Wölfel, Fritz Klocke, Klaus Dilger, Rainer Müller, Tobias Ehlers und Roland Lachmayer 16.1 Zuordnung und Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 16.2 Ausdehnungsgerecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 16.3 Kriech- und Relaxationsgerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 16.4 Korrosionsgerecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 16.5 Verschleißgerecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605
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16.6 Blechgerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 16.6.1 Blech . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 16.6.2 Die Prozesskette Blech . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 16.6.3 Gestalten mit Blech. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 16.6.4 Einsatzbereiche der Fertigungsverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 16.6.5 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630 16.7 Faserverbundgerecht: Konstruktion von Strukturbauteilen aus Faser-Kunststoff-Verbunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 16.7.1 Aufbau und Eigenschaften von Faser-KunststoffVerbunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 16.7.2 Gründe für den Einsatz von FKV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 16.7.3 Verfahren zur Herstellung von Faserverbundbauteilen. . . . . . . . 650 16.7.4 Methodischer Faserverbund-Leichtbau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 16.7.5 Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit von Faserverbundbauweisen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668 16.8 Ergonomisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 16.8.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 16.8.2 Ergonomische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674 16.8.3 Tätigkeiten des Menschen und ergonomische Bedingungen. . . . 679 16.8.4 Erkennen ergonomischer Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 16.9 Industriedesign und nutzerzentrierte Produktentwicklung . . . . . . . . . . . . 684 16.9.1 Aufgaben und Zielstellung des Industriedesigns in der interdisziplinären Produktentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684 16.9.2 Merkmale des Industriedesigns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 16.9.3 Gesamtproportion, Anmutung, Form und Detailgestaltung. . . . . 689 16.9.4 Methoden und Werkzeuge des Industriedesigns. . . . . . . . . . . . . 692 16.9.5 Akademische Einordnung und Entwicklung des Industriedesigns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 16.10 Fertigungsgerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704 16.11 Fügegerecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718 16.11.1 Schweißgerechte Gestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718 16.11.2 Klebegerechte Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719 16.12 Montagegerecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725 16.12.1 Die Montage und ihre Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726 16.12.2 Grundregeln für eine montagegerechte Produktgestaltung. . . . . 732 16.12.3 Produktgestaltung für eine einfache Montage. . . . . . . . . . . . . . . 742 16.12.4 Diskussion für die montagegerechte Produktgestaltung. . . . . . . 751 16.13 Gestaltung für Additive Fertigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755 16.13.1 Einordnung der Technologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755 16.13.2 Prozesskette. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758 16.13.3 Gestaltungsziele: Potenziale in der Produktentwicklung . . . . . . 764
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16.13.4 Konstruktionsmethodik für die Additive Fertigung. . . . . . . . . . . 765 16.13.5 Fertigungsgerechte Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 16.13.6 Anwendungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790 16.14 Instandhaltungsgerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799 16.14.1 Zielsetzung und Begriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799 16.14.2 Instandhaltungsgerechte Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 16.15 Recyclinggerecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803 16.15.1 Zielsetzungen und Begriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 804 16.15.2 Recyclinggerechte Gestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 806 16.16 Risikogerecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811 Teil V Begleitprozesse der Produktentwicklung 17 Projektmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831 Josef Oehmen 17.1 Was ist Projektmanagement?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831 17.2 Initiierung von Projekten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 834 17.2.1 Projektcharter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 834 17.2.2 Identifikation wesentlicher Stakeholder des Projektes und ihrer Rollen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 837 17.3 Projektplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 840 17.3.1 Arbeitspakete und Projektstrukturplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 840 17.3.2 Zeit- und Ablaufplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 844 17.3.3 Ressourcenplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847 17.3.4 Finanzplanung und –management. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 850 17.3.5 Management von Risiken und Unsicherheiten im Projekt . . . . . 854 17.4 Projektumsetzung & -controlling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 860 17.4.1 Zentrale Führungsprozesse – Project Governance. . . . . . . . . . . . 860 17.4.2 Visuelle Planung und Führung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867 17.4.3 Earned Value Management (EVM). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 17.5 Projektabschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 876 17.5.1 Aktivitäten während des Projektabschlusses. . . . . . . . . . . . . . . . 876 17.5.2 Lessons Learned . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877 17.6 Kurzübersicht wichtiger Projektmanagement Standards. . . . . . . . . . . . . . 880 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881 18 Qualitätssicherung in der Produktentwicklung und Konstruktion. . . . . . . . 883 Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote 18.1 Maßnahmen zur Vermeidung produktbezogener Fehler. . . . . . . . . . . . . . 886 18.1.1 Design Reviews. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887 18.1.2 Fehlerbaumanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889
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18.1.3 Fehler-Möglichkeits-Einfluss-Analyse (FMEA). . . . . . . . . . . . . 892 18.1.4 Quality Function Deployment. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 896 18.2 Designlenkung nach ISO 9000 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 899 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903 19 Produktdokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 905 Sándor Vajna und Michael Schabacker 19.1 Interne Technische Produktdokumentation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 905 19.2 Externe Technische Produktdokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 907 19.3 Anforderungen an die Technische Produktdokumentation. . . . . . . . . . . . 907 19.4 Einflüsse der Technischen Produktdokumentation auf das Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 909 19.5 Systeme für die interne und die externe Technische Produktdokumentation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911 19.6 Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen bei der Einführung eines Technischen Produktdokumentationssystems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 913 19.7 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 916 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 916 20 Technisches Änderungsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919 Gamal Lashin 20.1 Grundlagen des technischen Änderungsmanagements. . . . . . . . . . . . . . . 919 20.1.1 Die Rolle des Änderungsmanagements im Produktlebenszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919 20.1.2 Definition von „Produktänderungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 920 20.1.3 Konfigurations- und Änderungsmanagement – Abgrenzung. . . . 921 20.2 Ursachen für technische Produktänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 922 20.3 Prozess zum Änderungsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 923 20.3.1 Änderungsmanagement nach DIN 194. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 924 20.3.2 Änderungsmanagement nach VDA 4965 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 924 20.3.3 Praxisbeispiel Änderungsmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 927 20.3.4 Generischer Prozess zum technischen Änderungsmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 933 20.4 Kennzahlen für das Änderungsmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 936 20.4.1 Kosten für Produktänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 936 20.4.2 Durchlaufzeit bei Produktänderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937 20.4.3 Anzahl von Produktänderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 938 20.5 IT Technologien für das Änderungsmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 939 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941
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21 Kostenmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943 Florian Kauf 21.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943 21.2 Produktkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 944 21.3 Einflussfaktoren auf die Produktkosten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955 21.4 Produktkosten im Entwicklungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 962 21.5 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 972 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 972 22 Ökodesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 975 Tim C. McAloone und Daniela C. A. Pigosso 22.1 Motivation für die Umsetzung des Ökodesigns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 975 22.1.1 Ursprung und Kontext des Ökodesigns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 976 22.1.2 „Nachhaltigkeit ist nicht mein Geschäft“: ein passiver Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 976 22.1.3 „Wir müssen anfangen, etwas zu tun“: der reaktive Ansatz . . . . 977 22.1.4 „Nachhaltigkeit ist wirtschaftlich sinnvoll“: auf dem Weg zu einem präventiven Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 977 22.1.5 „Nachhaltigkeit als Motor für Innovationen“: der proaktive Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 978 22.1.6 „Nachhaltigkeit als Geschäftsmethode“: der integrative Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 981 22.1.7 Unser Schwerpunkt in diesem Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 982 22.1.8 Aber was ist ein Umweltproblem und wie hilft Ökodesign dabei?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 982 22.2 Umsetzung von Ökodesign in der Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 985 22.2.1 Fokus auf Produktentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 986 22.2.2 Denken in Multiprodukten und Multi-Lebenszyklen . . . . . . . . . 988 22.2.3 Voraussetzungen für die Umsetzung des Ökodesigns. . . . . . . . . 990 22.3 Vorbereitung und Implementierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 991 22.3.1 Annäherung an das Ökodesign aus der Perspektive des Entwicklungsprozesses (top-down). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 992 22.3.2 Annäherung an das Ökodesign aus der Perspektive des ökologischen Lebenszyklus (Bottom-Up). . . . . . . . . . . . . . . . . . 1006 22.4 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1016 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1018
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23 Umgang mit Normen und Normung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1023 Albert Hövel und Mario Schacht 23.1 Normen-Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1027 23.2 Normung und Normen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035 23.2.1 Normungsorganisation DIN e. V.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035 23.2.2 Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1037 23.2.3 Verschiedene Aspekte von Normen im Überblick. . . . . . . . . . . . 1037 23.2.4 Der Normungsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1038 23.2.5 Normen und Spezifikationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1042 23.2.6 Normung von Managementsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1044 23.3 Nutzen der Normung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1046 23.3.1 Volkswirtschaftlicher Nutzen der Normung . . . . . . . . . . . . . . . . 1046 23.3.2 Betriebswirtschaftlicher Nutzen der Normung. . . . . . . . . . . . . . 1049 23.3.3 Normung und Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1051 23.4 Normung im Innovationsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1054 23.4.1 Integration von Normung und Innovation. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1054 23.4.2 Normen in Unternehmens- und Innovationsprozessen . . . . . . . . 1055 23.4.3 Innovation mit Normen und Standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1056 23.4.4 Entwicklungsbegleitende Normung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1057 23.5 Normen und Patente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1057 23.6 Normung als strategisches Instrument. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1060 23.6.1 National – Deutsche Normungsstrategie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1062 23.6.2 Europäisch – Gemeinsame Normungsinitiative. . . . . . . . . . . . . . 1063 23.6.3 International – ISO-Strategie 2016–2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1063 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1064 24 Patente und gewerbliche Schutzrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067 Patrick Erk 24.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067 24.2 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1068 24.3 Überblick über den Gewerblichen Rechtsschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1068 24.3.1 Grundprinzipien der gewerblichen Schutzrechte. . . . . . . . . . . . . 1070 24.3.2 Übersicht über die gewerblichen Schutzrechte. . . . . . . . . . . . . . 1071 24.3.3 Arbeitnehmererfinderrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1080 24.3.4 Entwicklungskooperationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1081 24.3.5 Gewerbliche Schutzrechte und Schutzstrategien. . . . . . . . . . . . . 1082 24.3.6 Aufbau eines eigenen Patentportfolios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1086 24.3.7 Die Rolle von Patenten im Produktentwicklungsprozess . . . . . . 1089 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1093
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25 Virtuelle Produktentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1097 Gamal Lashin und Rainer Stark 25.1 Einführung in die virtuelle Produktentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1097 25.1.1 Definition und Motivation der virtuellen Produktwicklung. . . . . 1097 25.1.2 Wandel der Produktentstehung in Richtung zunehmender Digitalisierung und Virtualisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1099 25.2 Themengebiete der virtuellen Produktentwicklung (Lashin) . . . . . . . . . . 1101 25.2.1 3D-CAD-Technik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1101 25.2.2 Rapid Prototyping and Rapid Tooling. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1119 25.2.3 Systeme für die Datenvisualisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1119 25.2.4 Systeme für Produktdatenmanagement (PDM). . . . . . . . . . . . . . 1124 25.2.5 Enterprise Resource Planning (ERP). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1130 25.2.6 Product Lifecycle Management (PLM). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1135 25.2.7 Wissensmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1139 25.2.8 Systeme für Berechnung und Simulation (CAE). . . . . . . . . . . . . 1144 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1151 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1155
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Einleitung Beate Bender und Kilian Gericke
Produktentwicklung ist ein zentraler Erfolgsfaktor für Unternehmen. Neben produktspezifischen Zielen nehmen Projektpläne, Kostenziele, vertragliche Rahmenbedingungen mit Kooperationspartnern, verfügbare Ressourcen oder auch internationale Handelsvereinbarungen maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltungsmöglichkeiten eines zu entwickelnden Produkts. Das Zielsystem für die Entwicklung eines Produkts ist somit gekennzeichnet von Interdisziplinarität und Dynamik. Die Komplexität von Markt, Produkt, Prozess und Organisation werden als entscheidende Einflussfaktoren beim Entwickeln von Produkten benannt. Der erweiterte Produktbegriff im Zusammenhang mit Industrie 4.0, smarten oder cyber-physischen Produkten sowie der Integration von Dienstleistungen zu Produkt Service Systemen macht sowohl die Produkte selbst als auch deren Umfeld und den Entwicklungsprozess komplexer. Experten aus Industrie und Wissenschaft prognostizieren für das Jahr 2040, dass alle zu entwickelnden Produkte cyberphysische Systeme sein werden (Eckert et al. 2019). Die deutsche Akademie der Technikwissenschaften nennt im Kontext von Industrie 4.0 als eines der zentralen Themen die Entwicklung, Implementierung und Virtualisierung von Produkt-Service-Systeme als ganzheitlichem Leistungsangebot (Forschungsbeirat der Plattform Industrie 4.0 2019). Die Rolle des physischen Produkts in neuen Geschäftsmodellen kann dabei von untergeordneter Bedeutung sein oder gar ganz entfallen. Damit wird zum einen die über alle Disziplinen integrierte LebenszyklusBetrachtung eines Produktes zunehmend wichtig, als auch die Entwicklung von Dienst-
B. Bender (*) Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland K. Gericke Universität Rostock, Rostock, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_1
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B. Bender und K. Gericke
leistungen zum integralen Bestandteil des Produktentwicklungsprozesses (Thoben et al. 2014). Das Service Design stellt aus Sicht klassisch ausgebildeter Ingenieure einen völlig neuen Gegenstand der Entwicklungsaktivitäten dar. Die Bedeutung der Sicht auf die Bedürfnisse des Kunden und das Verständnis des zugrundeliegenden Erlösmodells nehmen dabei ebenso wie die Entwicklung nachhaltiger Produkte eine zentrale Rolle ein, wobei insbesondere die Integration und Orchestrierung der Akteure von Produktplanung, Produkt-, Dienstleistungs- und Produktionssystementwicklung entlang des gesamten Produktlebenszyklus als zentrale Aufgabe anzusehen ist. Wesentliche Unterschiede im Zielsystem nachhaltig entwickelter Produkte und Services ergeben sich beispielweise aus dem Bestreben der Umsetzung einer Circular Ecconomy (Lindahl 2019), der Maximierung der Nutzungsdauer eines Produkts, der Einbeziehung von Lebenszykluskosten bereits im Geschäftsmodell sowie der Aufarbeitung und Weiterverwendung der Produkte nach Ende ihrer ersten Nutzungsphase. Dies macht offensichtlich, dass die Wahl des zugrundeliegenden Geschäftsmodells in starker Wechselwirkung mit der Gestaltung des physischen Produkts steht und somit auch bei der Entwicklung des Lösungskonzepts des physischen Produkts durch die „klassische Produktentwicklung“ berücksichtigt werden muss. Das Entwickeln innovativer Produkte findet eingebettet in ein sozio-technisches System statt (Koltun et al. 2019). Die Beurteilung der Güte vorliegender Lösungen unterliegt somit einem nur interdisziplinär beurteilbaren, sich mit dem Erkenntnisfortschritt dynamisch ändernden Bewertungssystem. Kooperation über Bereichs- und Disziplingrenzen hinaus kann aufgrund der Produkteigenschaften und der Gestaltung des Produktentwicklungsprozesses zum kritischen Erfolgsfaktor werden. Der Kontext, in dem die Produktentwicklung stattfindet, ist damit selbst komplex und Gegenstand der Forschung (Birkhofer 2011; Gericke et al. 2013). Das Vorgehen beim Entwickeln von Produkten ist gekennzeichnet durch die Integration einer Vielzahl, teils konkurrierender Ziele und Anforderungen, die arbeitsteilig und disziplinspezifisch im Produkt umgesetzt werden müssen. Charakteristisch ist dabei die Koevolution von Problem und Lösung (Dorst und Cross 2001), die unvermeidliche Iterationen im Arbeitsfortschritt verursacht. Das Denken in Lösungsalternativen bietet die Chance, ein im Sinne der konkurrierenden Anforderungen ausgewogene Lösung zu finden. Die Kriterien für die Auswahl und Bewertung von Lösungsalternativen ändern sich dabei häufig auf der Grundlage neuer Erkenntnisse oder Anforderungen. In der Folge müssen daher bereits gefundene (Teil-)Lösungen angepasst oder verworfen werden. Über Schnittstellen und Wechselwirkungen mit anderen Teilsystemen des zu entwickelnden Produkts kann dies auch in späten Entwicklungsphasen noch zu weitreichenden Folgen für das gesamte Produktkonzept führen (Giffin et al. 2009). Diese Änderungen erzeugen Iterationen im Entwicklungsprozess (Shapiro et al. 2015), die wiederum in Wechselwirkung mit der Organisation und dem Arbeitsumfeld stehen (Loucopoulos 2005) und entsprechend auch Rückwirkungen auf das zu entwickelnde Produkt haben. Untersuchungen zeigen, dass die Digitalisierung den Entwicklungsprozess von Produkt-Service-Systemen fundamental beeinflusst (Pagoropoulos
1 Einleitung
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et al. 2017). Zusätzlich zu den Wechselwirkungen zwischen den beteiligten Stakeholdern und den Ergebnissen der Produktentwicklungsprozesses spielen Umfeldfaktoren eine nicht zu vernachlässigende Rolle. So können beispielsweise Klimakatastrophen oder politische Ereignisse Entwickler, Nutzer sowie zu entwickelnde Produkte und Prozesse ebenso beeinflussen wie die verwendeten Methoden und Werkzeuge oder die einer Berechnung zugrunde liegende Theorie. In der gewählten Lösung für das betrachtete Problem und deren Bewertung durch Entwickler und Nutzer spiegelt sich somit immer auch das Umfeld der Produktenwicklung (Abb. 1.1). Der sich wandelnde Produktbegriff vor dem Hintergrund smarter Produkte sowie kundenzentrierter Geschäftsmodelle führt zu veränderten Anforderungen an die Kompetenzen von Produktentwicklern. Angesichts der Dynamik und Komplexität des Umfelds heutiger Entwicklung wird deshalb ein Paradigmenwechsel in der Ausbildung prognostiziert (Norman 2016; Gulden 2019). Das lebenslange Lernen sowie die Fähigkeit, in interdisziplinären Netzwerken zu kooperieren stellen dabei Grundvoraussetzungen dar. Industrievertreter benennen in einer Befragung zu erforderlichen Kompetenzen bei der Entwicklung smarter Produkte methodisches Vorgehen als zentrale Komponente (Herzog und Bender 2017). Methodisches Vorgehen hilft insbesondere unerfahrenen Produktentwicklern dabei, grundlegende Fehler zu vermeiden sowie konkurrierende Anforderungen parallel nachzuverfolgen (Bender 2004). Hinausgehend über die Qualität der gefundenen Lösung sorgt methodisches Vorgehen für die entwicklungsbegleitende Dokumentation von Erkenntnissen und Entscheidungen. Dies ermöglicht bei unvermeidlich auftretenden, iterativen Rücksprüngen im Entwicklungsprozess Lösungsalternativen zu finden, die auf bereits geleisteter Arbeit aufbauen. Die Bedeutung der Dokumentation von Lösungsweg und Lösungsalternativen ist nicht nur vor dem Hintergrund sich potenziell ändernder Anforderungen und neuer Erkenntnisse hoch, sondern auch aufgrund zunehmend geforderter gesetzlicher und zulassungsrelevanter Regelungen zur Produktdokumentation.
Abb. 1.1 Umfeld der Produktentwicklung. (Nach Earl et al. 2005)
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B. Bender und K. Gericke
Das vorliegende Lehrbuch stellt unter den beschriebenen Herausforderungen eine wichtige Arbeitsgrundlage für Ingenieure und insbesondere Produktentwickler dar. Den Leserinnen und Lesern wird ein Leitfaden bereitgestellt, der dabei hilft, den Überblick zu behalten und nicht die erste beste Lösung zu wählen, die das vorliegende Problem zu lösen scheint. Vielmehr stellt methodisches Vorgehen sicher, dass wichtige Ziele und Restriktionen rechtzeitig erkannt und über den gesamten Entwicklungsprozess nachverfolgt werden. Alternative Lösungen werden gegeneinander abgewogen und Entscheidungen bleiben auch im Nachhinein noch nachvollziehbar. Methodisches Vorgehen schafft darüber hinaus die Grundlage für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Die transparente Ermittlung und Dokumentation von Zielsetzungen und Entscheidungskriterien sowie eine gemeinsame Sprache einen Austausch über den Arbeitskontext bilden hierfür die Basis. Seit dem Erscheinen sorgt die fortlaufende Aktualisierung des Buches mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen unter Beibehaltung bewährter Inhalte dafür, dass als Zielgruppe Studierende ebenso wie Praktiker angesprochen werden können. Die fünf Teile dieses Buchs orientieren sich an den Hauptphasen beim Entwickeln und Konstruieren. Voraussetzung für das Entwickeln erfolgreicher Produkte sind Grundlagen über technische Systeme, methodisches Vorgehen und den Produktentwicklungsprozess im Teil I. Ergänzt wird dieser Teil um das neu aufgenommene Kapitel zur Produktplanung. Diese geht dem eigentlichen Entwicklungsprozess voraus, um die Marktfähigkeit des zu entwickelnden Produkts sicherzustellen. Dem Klären der Aufgabenstellung widmet sich Teil II, der vollständig überarbeitet wurde. Als zentraler Punkt wird das Erkennen der Nutzerbedürfnisse adressiert, das im Fokus der Entwicklungsaktivitäten und des Geschäftsmodells stehen muss. Der Umgang mit Anforderungen umfasst in zwei Kapiteln das Entwickeln von Anforderungen in frühen Phasen der Entwicklung sowie das entwicklungsbegleitende Arbeiten mit Anforderungen. Die Konzeptentwicklung ist Gegenstand des folgenden Teils III. Dabei geht es zunächst um das Entwickeln von Funktionen sowie Wirkstrukturen, dem aufgrund der Integration von physischem Produkt, Software und Dienstleistungen wieder mehr Bedeutung beigemessen werden muss. Die daraus entstandenen Lösungskonzepte lassen sich mit Hilfe von Auswahl- und Bewertungsmethoden an den Anforderungen spiegeln. Abschließend werden Fragen der Produktarchitektur adressiert, die erweitert wurden und nun auch die Modularisierung, die Konzeptionierung von Produktfamilien sowie die Gestaltung von Baukästen und Baureihen darstellen. Die folgende Entwicklungsphase der Produktgestaltung umfasst der Teil IV. Hier wird in einem neu hinzugekommenen Kapitel beschrieben, wie, ausgehend von der prinzipiellen Lösung, die eigentliche Konstruktion entsteht. Daran anschließend werden die Grundregeln der Gestaltung – „eindeutig“, „einfach“ und „sicher“ – erläutert, die Grundlage für die Gestaltung jedes Produkts sein müssen. Die Gestaltungsprinzipien, wie beispielsweise die einfache und direkte Kraftleitung, haben seit ihrer ersten
1 Einleitung
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Formulierung durch Pahl und Beitz nicht an Relevanz verloren. Ein Großteil der sich daran anschließenden Gestaltungsrichtlinien hat ebenfalls weiterhin Gültigkeit und wurde teils im Original, teils ergänzt und überarbeitet übernommen. Mehrere völlig neu überarbeitete Richtlinien, zu nennen sind insbesondere das Industriedesign sowie die Additive Fertigung, repräsentieren neue Erkenntnisse. In Teil V werden wichtige Begleitprozesse der Produktentwicklung beschrieben. Diese erstrecken sich vom Projektmanagement, Produktdokumentation, dem technischen Änderungsmanagement, dem Kostenmanagement, dem Ökodesign, dem Umgang mit Normen und Normung, Patenten und gewerblichen Schutzrechten bis zur virtuellen Produktentwicklung. Auch hier werden bewährte Inhalte mit neuen ergänzt. Zu nennen für letztere sind etwa Projektmanagement, Kostenmanagement und Ökodesign. Bei der Begriffsverwendung im Buch wurden Vereinfachungen vorgenommen. Diese beziehen sich zum einen Auf den Produktbegriff. Nach VDI 2221 ist ein Produkt ein „Erzeugnis oder Leistung materieller wie immaterieller Art, das oder die allein oder als System angeboten wird, um den Bedarf am Markt sowie die Bedürfnisse von Nutzern zielgruppengerecht zu befriedigen“ (VDI 2221, Blatt 1). Das Ergebnis der Produktentwicklung wird dennoch aus Gründen der Übersichtlichkeit und Lesbarkeit des Textes im Folgenden immer als „Produkt“ bezeichnet, unabhängig davon, ob es um ein physisches Produkt, Software, eine Strategie oder eine integriertes Produkt-Dienstleistungssystem geht. Der Verweis auf handelnde Personen in der Produktentwicklung, im Unternehmen oder im Studium meint immer explizit alle Personen, unabhängig vom Geschlecht. Wo aus unserer Sicht sinnvoll möglich, haben wir geschlechtsneutrale Bezeichnungen verwendet.
Literatur Bender, B. (2004). Erfolgreiche individuelle Vorgehensstrategien in frühen Phasen der Produktentwicklung. Berlin: VDI-Verlag. Birkhofer, Herbert. (2011). The future of design methodology. London: Springer. Dorst, K., & Cross, N. (2001). Creativity in the design process: Co-evolution of problem-solution. Design Studies, 22(5), 425–437. Earl, C., Johnson, J., & Eckert, C (2005). Complexity. In J. Clarkson & Eckert, C. (Eds.), Design process improvement: a review of current practice.Springer Science & Business Media. Eckert, C., Isaksson, O., Hallstedt, S., Malmqvist, J., Öhrwall Rönnbäck, A., & Panarotto, M. (2019). Industry trends to 2040. Proceedings of the Design Society: International Conference on Engineering Design, 1(1), 2121–2128. https://doi.org/10.1017/dsi.2019.218. Forschungsbeirat der Plattform Industrie 4.0 (Hrsg.). (2019). Themenfelder Industrie 4.0 – Forschungs- und Entwicklungsbedarfe zur erfolgreichen Umsetzung von Industrie 4.0. Ostbevern: MKL Druck GmbH & Co. KG. Gericke, K., Meißner, M., & Paetzold, K. (2013). Understanding the context of product development. In U. Lindemann, S. Venkataramen, Y. Kim, S. Lee, M. Cantamessa, & B. Yannou
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B. Bender und K. Gericke
(Hrsg.), Proceedings of the international conference on engineering design, ICED (Bd. 3 DS75-03). Glasgow: The Design Society. Giffin, M., de Weck, O., Bounova, G., Keller, R., Eckert, C., & Clarkson, P. J. (2009). Change propagation analysis in complex technical systems. Journal of Mechanical Design, 131(8), 081001. Herzog, M., Bender, B. (2017). Competences for the development of smart products. In DS 87-9 Proceedings of the 21st international conference on engineering design (ICED 17) Bd. 9: Design education, Vancouver, Canada, 21–25.08.2017 (S. 285–294). Koltun, G., Romero Viturro, C., Buchholz, J., Wissel, J., Zaggl, M., Ocker, F., & Vogel-Heuser, B. (2019). Effective innovation implementation of mechatronic product-service systems considering socio-technical aspects. Proceedings of the Design Society: International Conference on Engineering Design, 1(1), 3051–3060. https://doi.org/10.1017/dsi.2019.31. Lindahl, M. (2019). Key issues when designing for a circular ecconomy. In M. Charter (Hrsg.), Designing fort the circular ecconomy. Abingdon: Routledge. Loucopoulos, P. (2005). Requirements Engineering. In J. Clarkson & C. Eckert (Hrsg.), Design process improvement: A review of current practice. London: Springer Science & Business Media. Norman, D. A. (2016). When You Come to a Fork in the Road, Take It: The Future of Design*, She Ji: The Journal of Design, Economics, and Innovation, 2(4), 343–348. ISSN 2405-8726. https:// doi.org/10.1016/j.sheji.2017.07.003. Pagoropoulos, A., Maier, A., & McAloone, T. C. (2017). Assessing transformational change from institutionalising digital capabilities on implementation and development of Product-Service Systems: Learnings from the maritime industry. Journal of Cleaner Production, 166, 369–380. Shapiro, D., Hamraz, B., Sommer, A. F., & Clarkson, P. J. (2015). Investigating the impact of changes in iteration-likelihoods on design process performance. Concurrent Engineering, 23(3), 250–264. https://doi.org/10.1177/1063293X15588202. Thoben, K. D., Pöppelbuß, J., Wellsandt, S., Teucke, M., & Werthmann, D. (2014, September). Considerations on a lifecycle model for cyber-physical system platforms. In IFIP International conference on advances in production management systems (S. 85–92). Springer, Berlin, Heidelberg.
Teil I Grundlagen
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Grundlagen technischer Systeme Gerhard Pahl, Wolfgang Beitz, Kilian Gericke, Beate Bender, Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote
2.1 System, Anlage, Apparat, Maschine, Gerät, Baugruppe, Einzelteil Die Lösung technischer Aufgaben wird mithilfe technischer Artefakte erfüllt, die als Anlage, Apparat, Maschine, Gerät, Baugruppe, Maschinenelement oder Einzelteil bezeichnet werden. Diese bekannten Bezeichnungen sind grob nach dem Grad ihrer Komplexität geordnet. Eine Anlage kann aus mehreren Apparaten, Geräten oder Maschinen bestehen. Diese wiederum setzen sich aus diversen Baugruppen zusammen, die jeweils aus verschiedenen Maschinenelementen bzw. Bauteilen bestehen. Je nach Fachgebiet und Abstraktionsgrad werden diese Begriffe zum Teil unterschiedlich v erwendet. Die Unterscheidung zwischen Apparat, Maschine und Gerät ist historisch bedingt und durch den jeweiligen Verwendungsbereich erklärbar. Die Begriffe differenzieren
K. Gericke (*) Universität Rostock, Rostock, Deutschland B. Bender Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland J. Feldhusen RWTH Aachen, Aachen, Deutschland K.-H. Grote Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_2
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Systeme hinsichtlich der maßgeblichen Transformation zwischen Eingangsgrößen und Ausgangsgrößen. Energieumsetzende technische Systeme werden als Maschinen bezeichnet, stoffumsetzende als Apparate und signalumsetzende als Geräte. Eine strenge Einteilung nach diesen Merkmalen ist nicht immer möglich oder im Hinblick bereits eingeführter Begriffe nicht immer zweckmäßig, sodass die Begriffe im allgemeinen Sprachgebrauch teils abweichend verwendet werden. Die etablierte systemtechnische Betrachtungsweise, bezeichnet alle technischen Artefakte als technische Systeme. Technische Systeme stehen mit ihrer Umgebung durch Eingangsgrößen (Inputs) und Ausgangsgrößen (Outputs) in Verbindung (Hubka 1984; Hubka und Eder 1992, 1988). Was zum betrachteten System gehört, wird jeweils durch die Systemgrenze festgelegt. Die Ein- und Ausgangsgrößen überschreiten die Systemgrenze. Ein System kann in Teilsysteme untergliedert werden. Mit dieser Vorstellung ist es möglich, auf jeder Stufe der Abstraktion, der Einordnung oder der Aufgliederung für den jeweiligen Betrachtungszweck geeignete Systeme zu definieren. In der Regel sind sie Teile eines größeren übergeordneten Systems. Ein konkretes Beispiel ist die in Abb. 2.1 dargestellte kombinierte Kupplung. Sie ist als ein System „Kupplung“ aufzufassen und stellt innerhalb einer Maschine oder zwischen zwei Maschinen eine Baugruppe dar, während für diese Baugruppe selbst die beiden Teilsysteme „Elastische Kupplung“ und „Schaltkupplung“ wiederum selbstständige Baugruppen sein können. Das Teilsystem „Schaltkupplung“ ließe sich weiter in die Systemelemente, hier „Einzelteile“, zerlegen. Das in Abb. 2.1 dargestellte System orientiert sich an der Baustruktur. Es ist aber auch denkbar, es nach Funktionen zu betrachten. Man könnte das Gesamtsystem „Kuppeln“ funktionsorientiert in die Teilsysteme „Ausgleichen“ und „Schalten“ gliedern, das letztere Teilsystem wiederum in die Untersysteme „Schaltkraft in Normalkraft ändern“ und „Reibkraft übertragen“. Zum Beispiel könnte das Systemelement g auch als ein Untersystem aufgefasst werden, das die Funktion hätte, die aus dem Schaltring kommende Kraft in die größere auf die Reibflächen wirkende Normalkraft zu ändern und durch seine Nachgiebigkeit einen begrenzten Verschleißausgleich zu ermöglichen. Wie und nach welchen Gesichtspunkten gegliedert wird, hängt vom Zweck der Betrachtung ab. Häufige Gesichtspunkte sind: • die Funktion, um funktionelle Zusammenhänge zu erkennen oder zu beschreiben, • Fertigungsmodule, um Fertigungsoperationen zu gliedern oder zusammenzufassen, • Montagebaugruppen, um Montageoperationen zu planen. Je nach Zweck können solche Systemunterteilungen nach unterschiedlichen Gesichtspunkten mehr oder weniger weit getrieben werden. Der Konstrukteur muss für den jeweiligen Zweck identifizieren, welches geeignete Elemente zur Beschreibung des Systems sind, bestehende Wechselwirkungen mittels der jeweiligen Ein- und Ausgangsgrößen beschreiben und die Systemgrenze gegenüber der Umgebung deutlich machen. Dabei kann er die ihm gewohnte oder allgemein übliche Bezeichnung beibehalten.
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Abb. 2.1 System „Kupplung“, a … h Systemelemente (beispielsweise); i … l Anschlusselemente; S Gesamtsystem; S1 Teilsystem „Elastische Kupplung“; S2 Teilsystem „Schaltkupplung“; E Eingangsgrößen (Inputs); A Ausgangsgrößen (Outputs)
2.2 Energie-, Stoff- und Signalumsatz Grundsätzlich dienen technische Systeme dazu etwas zu bewirken. Dieses „Bewirken“ ist die Funktion des Systems und wird in Kap. 9 behandelt. Funktionen beschreiben einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den Eingangs- und den Ausgangsgrößen. Unabhängig vom alltäglichen Sprachgebrauch können grundsätzlich drei Eingangsbzw. Ausgangsgrößen unterschieden werden. Es sind dies die Energie, der Stoff und das Signal. Entsprechend hat ein technisches System einen Energie-, Stoff- oder Signalumsatz, s. Abb. 2.2. Die zur Erfüllung der Aufgabe umzusetzende Funktion wird als
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Abb. 2.2 Umsatz von Energie, Stoff und Signal mit eindeutigem funktionalem Zusammenhang, aber unbekannter Lösung
„Black Box“ bezeichnet, um zu verdeutlichen, dass hierfür eine technische Lösung gesucht wird. Gleichzeitig wird die Lösungsneutralität hervorgehoben. Analysiert man technische Systeme, die Anlage, Apparat, Maschine, Gerät, Baugruppe oder Einzelteil genannt werden, so wird offenbar, dass sie einem technischen Prozess dienen, in dem Energien, Stoffe und Signale geleitet und/oder verändert werden. Bei Änderung haben wir es mit dem Energie-, Stoff- und/oder Signalumsatz zu tun, wie es Rodenacker (1991) formuliert und dargestellt hat. Der Umsatz von Energie betrifft, z. B. in einem Elektromotor, die Wandlung elektrischer Energie in mechanische Energie sowie in thermische Energie als Nebengröße. Die chemische Energie eines Brennstoffs wird beim Verbrennungsmotor ebenfalls in mechanische und thermische Energie gewandelt. Stoffe können verschiedene Veränderungen erfahren. Viele Stoffe werden gemischt, getrennt, gefärbt, beschichtet, verpackt, transportiert oder in andere Zustände überführt. Aus Rohstoffen entstehen Halbzeug und Fertigprodukte. Mechanisch bearbeitete Teile erhalten besondere Oberflächen, Produkte durchlaufen Veredelungsanlagen, Teile werden zwecks Prüfung zerstört. In jedem technischen System sind Informationen zu verarbeiten. Mithilfe von Signalen werden diese eingegeben, gesammelt, aufbereitet, weitergeleitet, mit anderen verglichen oder verknüpft, ausgegeben, angezeigt, registriert. In technischen Prozessen ist von der Funktion oder von der Art der Lösung her entweder der Energie-, Stoff- oder Signalumsatz dominierend. Es ist zweckmäßig, diesen dann in Form eines Flusses als Hauptfluss zu betrachten. Meistens ist ein weiterer Fluss begleitend, häufig sind alle drei beteiligt. So gibt es keinen Stoff- oder Signalfluss ohne einen begleitenden Energiefluss, auch wenn die benötigte Energie sehr klein ist oder problemlos bereitgestellt werden kann. Die Probleme der Energiebereitstellung oder des Energieumsatzes sind dann nicht dominierend, sie treten u. U. in den Hintergrund, aber der Energiefluss bleibt notwendig. Dabei kann es sich auch um den in der Komponente vorhandenen Fluss wie z. B. Kraft, Drehmoment, Strom usw. handeln, der dann als Kraftfluss, Drehmomentfluss oder Stromfluss bezeichnet wird. Der Energieumsatz zur Gewinnung z. B. von elektrischer Energie ist mit einem Stoffumsatz verbunden. In einem Steinkohlekraftwerk ist der kontinuierliche Stofffluss direkt
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sichtbar. Der begleitende Signalfluss ist zur Steuerung und Regelung des gesamten Prozesses ein wichtiger Nebenfluss. Andererseits werden in vielen Messgeräten, ohne einen Stoffumsatz zu bewirken, Signale aufgenommen, gewandelt oder angezeigt. In manchen Fällen muss hierfür Energie bereitgestellt werden, in anderen kann latent vorhandene Energie ohne Weiteres genutzt werden. Jeder Signalfluss ist mit einem Energiefluss verbunden, ohne immer einen Stofffluss bewirken zu müssen. Für die weiteren Betrachtungen gelten folgende Unterscheidungen: Energie mechanische, thermische, elektrische, chemische, optische Energie, aber auch Kraft, Strom, Wärme … Stoff gasförmige, flüssige, feste Materie, aber auch Rohprodukt, Material, Prüfgegenstand, Behandlungsobjekt, Endprodukt, Bauteil, geprüfter oder behandelter Gegenstand … Signal Messgröße, Anzeige, Steuerimpuls, Daten, Informationen … Im Rahmen dieses Buches werden technische Systeme • mit dem Hauptfluss Energie als „Maschine“, • mit dem Hauptfluss Stoff als „Apparat“ • und mit dem Hauptfluss Signal als „Gerät“ bezeichnet. Dies ist allerdings häufig nicht mit dem Sprachgebrauch deckungsgleich. Ein Telefonapparat hat als Hauptumsatz „Signal“ und ist nach der hier eingeführten Nomenklatur ein Gerät. Ein elektrischer Stromrichter mit dem Hauptfluss „Energie“ ist entsprechend eine Maschine. Bei jedem Umsatz der beschriebenen Größen müssen Quantität und Qualität beachtet werden, um eindeutige Kriterien für die Präzisierung der Aufgabe, für die Auswahl der Lösungen und für eine Bewertung zu erhalten. Jede Aussage ist nur dann präzisiert, wenn sowohl deren Quantitäts- als auch Qualitätsaspekte berücksichtigt werden. So ist z. B. die Angabe: „100 kg/s Dampf mit einem Druck von 80 bar und einer Temperatur von 500 °C“ als Eintrittsmenge für die Auslegung einer Dampfturbine erst dann ausreichend präzisiert, wenn bestimmt wird, dass es sich um die Nenndampfmenge und nicht z. B. um die maximale Schluckfähigkeit handeln soll und dass ferner die dauernd zulässige Schwankungsbreite des Dampfzustandes z. B. mit 80 bar ±5 bar und 500 °C ±10 °C festgelegt, also um einen Qualitätsaspekt erweitert wurde. Für sehr viele Anwendungen ist weiterhin eine sinnvolle Bearbeitung nur möglich, wenn die Eingangsgrößen in ihren Kosten bzw. ihrem Wert bekannt sind oder angegeben wurde, zu welchen Kosten die Ausgangsgrößen höchstens erstellt werden dürfen (vgl. Rodenacker 1991; Kategorien: Menge – Qualität – Kosten). In technischen Systemen findet also ein Umsatz von Energie, Stoff und/oder Signal statt, der durch Quantitäts-, Qualitäts- und Kostenangaben präzisiert werden muss, s. Abb. 2.2.
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2.3 Funktionszusammenhang Jedes Produkt dient dazu, eine Funktion zu erfüllen. Die Art der erfüllten Funktion hängt dabei von der Art des Produkts und dem Kontext ab, innerhalb dessen es verwendet wird. Im Rahmen dieses Werks soll mit Funktion die Erfüllung einer technischen Aufgabe gemeint sein, so ist z. B. ein „Moment vergrößern“ eine Funktion, die ein Getriebe erfüllt. Die Funktion eines technischen Systems beschreibt einen eindeutigen, reproduzierbaren Zusammenhang zwischen Eingangs- und Ausgangsgrößen, d. h. beschreibt den zur Erfüllung einer technischen Aufgabe erforderlichen Energie-, Stoff- und Signalumsatz. Bei einer Stoffumwandlung soll z. B. unter gegebenen Eingangsgrößen stets das gleiche Ergebnis bezüglich der Ausgangsgrößen erzielt werden. Auch soll zwischen dem Beginn und dem Ende eines Vorganges, z. B. dem Füllen eines Speichers, immer ein eindeutiger, reproduzierbarer Zusammenhang gewährleistet sein. Diese Zusammenhänge sind im Sinne einer Aufgabenerfüllung stets gewollt. Zum Beschreiben und Lösen konstruktiver Aufgaben ist folgende Definition für den Begriff „Funktion“ zweckmäßig: u Funktion Allgemeiner und gewollter Zusammenhang zwischen Eingang und Ausgang eines Systems mit dem Ziel, eine Aufgabe zu erfüllen Bei stationären Vorgängen genügt die Bestimmung der Eingangs- und Ausgangsgrößen, bei zeitlich sich verändernden, also instationären Vorgängen, ist darüber hinaus die Aufgabe durch Beschreiben der Größen zu Beginn und Ende auch zeitlich zu definieren. Dabei ist es zunächst nicht wesentlich zu wissen, durch welche Lösung eine solche Funktion erfüllt wird. Die Funktion wird damit zu einer Formulierung der Aufgabe auf einer abstrakten und lösungsneutralen Ebene. Ist die Gesamtaufgabe ausreichend präzisiert, d. h. sind alle beteiligten Größen und ihre bestehenden oder geforderten Eigenschaften bezüglich des Ein- und Ausgangs bekannt, kann auch die Gesamtfunktion angegeben werden. Eine Gesamtfunktion lässt sich in vielen Fällen unmittelbar in erkennbare Teilfunktionen aufgliedern. Die Verknüpfung der Teilfunktionen zur Gesamtfunktion unterliegt dabei oft einer logischen Reihenfolge, da bestimmte Teilfunktionen erst erfüllt sein müssen, bevor andere Teilfunktionen sinnvoll beginnen können. Oft verbleiben jedoch Variationsmöglichkeiten bei der Verknüpfung von Teilfunktionen, wodurch Varianten entstehen. In jedem Fall muss die Verknüpfung der Teilfunktionen untereinander verträglich sein. Die sinnvolle und verträgliche Verknüpfung von Teilfunktionen zur Gesamtfunktion führt zur sog. Funktionsstruktur (siehe Abb. 2.3), die zur Erfüllung der Gesamtfunktion variabel sein kann. Eine Blockdarstellung in Form von einzelnen Kästen (Black-Box) vereinfacht das Arbeiten und die Anschaulichkeit. Um die Vorgänge und Teilsysteme die
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Abb. 2.3 Unterteilung einer Gesamtfunktion in Teilfunktionen und Verknüpfung zu einer Funktionsstruktur
Abb. 2.4 Symbole zur Darstellung der Fluss- und der Teilfunktionsarten
zur Umsetzung der Teilfunktionen notwendig sind muss sich zunächst nicht gekümmert werden. Die Zerlegung der Gesamtfunktion in Teilfunktionen ermöglicht eine Komplexitätsreduktion der Aufgabe. Die Funktionsstruktur fördert somit ein ganzheitliches Verständnis der Aufgabe entkoppelt von bekannten Lösungen. Im weiteren Vorgehen ist die Funktionsstruktur ein Hilfsmittel für die Lösungssuche und somit wichtiges Element des methodischen Entwickelns von Lösungskonzepten. In Abb. 2.4 ist die verwendete Symbolik für Funktionen und Funktionsstrukturen zusammengefasst. Die Funktionen werden durch eine Wortangabe mit einem Substantiv und Verb wie „Druck erhöhen“, „Drehmoment leiten“, „Drehzahl verkleinern“ beschrieben und von den in Abschn. 2.2 genannten Flüssen des Energie-, Stoff- und Signalumsatzes aufgabenspezifisch abgeleitet. Diese Angaben sollen durch die beteiligten physikalischen Größen so weit wie möglich ergänzt bzw. präzisiert werden. In den meisten maschinenbaulichen
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Anwendungen wird es sich stets um die Kombination aller drei Komponenten handeln, wobei entweder der Stoff- oder der Energiefluss die Funktionsstruktur maßgebend bestimmt. Die Analyse der beteiligten Funktionen ist in jedem Fall sinnvoll (vgl. auch VDI 1995). Es ist zweckmäßig, zwischen Haupt- und Nebenfunktionen zu unterscheiden: Hauptfunktionen sind solche Teilfunktionen, die unmittelbar der Gesamtfunktion dienen. Nebenfunktionen tragen im Sinne von Hilfsfunktionen nur mittelbar zur Gesamtfunktion bei. Sie haben unterstützenden oder ergänzenden Charakter und sind häufig von der Art der Lösung für die Hauptfunktionen bedingt. Die Definitionen folgen den Vorstellungen der Wertanalyse (Miles 1961; DIN 2014) und sind von der jeweiligen Betrachtungsebene bestimmt. Nicht in allen Fällen sind Haupt- und Nebenfunktionen scharf unterscheidbar, sie nutzen aber einer zweckmäßigen Unterteilung und Benennung. Ihre Einteilung kann durchaus fließend gehandhabt werden. Bei Änderung der betrachteten Systemgrenzen können Nebenfunktionen zu Hauptfunktionen werden und umgekehrt. Außerhalb der Produktentwicklung ist der Funktionsbegriff teils weiter, teils enger gefasst. Das hängt davon ab, unter welchen Aspekten er gesehen und gebraucht wird. Im Lateinischen bedeutet functio „Verrichtung“. Der Begriff Funktion wird aber auch innerhalb Produktentwicklung mit teils unterschiedlichen Bedeutungen verwendet (Vermaas 2013; Crilly 2010). Unterschiedliche Disziplinen beschreiben das Produkt dabei häufig aus verschiedenen Perspektiven (Eisenbart et al. 2012). Im Wesentlichen kann zwischen drei verschiedenen Deutungen unterschieden werden, die sich im Gebrauch wiederspiegeln. Je nach Gebrauch lässt sich zwischen einer verhaltensbezogenen (Funktion als das beabsichtigte Verhalten eines Systems), ergebnisbezogenen (Funktion als die durch das Systemverhalten generierten erwünschten Effekte) oder aufgabenbezogenen (Funktion als der Zweck für den ein System verwendet wir) Deutung unterscheiden (Vermaas 2009). Der Übergang zwischen den Bedeutungen des Begriffs Funktion erfolgt dabei im Gebrauch oft fließend. Damit die Kommunikation ohne Missverständnisse abläuft, ist es jedoch wichtig, sich der verschiedenen Bedeutungen und Sichtweisen bewusst zu sein, und im Zweifelsfall den Gebrauch zu hinterfragen. Neben dem gewollten Zusammenhang zwischen Eingangs- und Ausgangsgrößen kommt es häufig zu ungewollten bzw. störenden Nebeneffekten, die das reale Verhalten des Systems beeinflussen. Dies kann zum Beispiel die Wärmeentwicklung in einem Elektromotor sein (siehe Abb. 2.5). In der Praxis erfordert dieses Verhalten des Produkts nicht selten einen nennenswerten Zusatzaufwand. Theoretisch lassen sich Funktionen so aufgliedern, dass die unterste Ebene der Funktionsstruktur nur aus Funktionen besteht, die sich hinsichtlich allgemeiner Anwendbarkeit praktisch nicht weiter unterteilen lassen (siehe Tab. 2.1). Sie liegen damit auf einem hohen Abstraktionsniveau. Von dieser Beobachtung ausgehend haben verschiedene Autoren allgemein anwendbare Funktionen vorgeschlagen, unter deren Zuhilfenahme sich technische Systeme beschreiben lassen. Rodenacker (1991) definiert sie aus der Sicht der
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Abb. 2.5 Funktion und Verhalten eines Elektromotors (Birkhofer et al. 2000)
Tab. 2.1 Übersicht allgemein anwendbarer Funktionen Rodenacker Logische Betrachtung
Verknüpfen, Trennen, Führen
Roth Allgemeine Betrachtung
Wandeln, Verknüpfen (Summativ, Distributiv), Übertragen (Umformen, Leiten), Speichern
Krumhauer Allgemeine Betrachtung
Wandeln (Art), Vergrößern/Verkleinern (Größe), Verknüpfen/Verzweigen (Anzahl), Leiten/Sperren (Ort), Speichern (Zeit)
Koller Wandeln/Rückwandeln, Richtung ändern, Vergrößern/Verkleinern, Physikalische Betrachtung Koppeln/Unterbrechen, Verbinden/Trennen, Fügen/Teilen, Leiten/ Isolieren, Sammeln/Streuen, Richten/Oszillieren, Führen/Nicht führen, Absorbieren/Emittieren, Speichern/Entleeren
zweiwertigen Logik, Roth (1982, 2001) hinsichtlich einer allgemeinen Anwendbarkeit, Koller (1974, 1994) in Bezug auf zu suchende physikalische Effekte. Krumhauer (1974) untersucht die allgemeinen Funktionen im Hinblick auf eine Rechnerunterstützung in der Konzeptphase. Dabei betrachtet er den Zusammenhang der Eingangs- und Ausgangsgröße nach der Änderung von Art, Größe, Anzahl, Ort und Zeit. Er kommt im Wesentlichen zu den gleichen Funktionen wie Roth, jedoch mit dem Unterschied, dass „Wandeln“ nur die Änderung der Art von Eingang und Ausgang, dagegen „Vergrößern bzw. Verkleinern“ nur die Änderung nach der Größe beinhaltet. Ausgehend von der Definition allgemein anwendbarer Funktionen wurden Vorschläge zur symbolischen Darstellung technischer Funktionen erarbeitet (Hansen 1966; Hubka 1976; Rodenacker 1991). Bisher hat sich keine Darstellungsform allgemeingültig durchgesetzt, sodass verschiedene Ansätze parallel existieren. Vor dem Hintergrund des Zwecks einer Funktionsstruktur ist dies nicht entscheidend. Für die Anwendung ist es wichtig, dass Funktionen möglichst eindeutig, z. B. mittels Substantiv und Verb beschrieben werden.
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Abb. 2.6 Allgemein anwendbare Funktionen. (Nach Krumhauer 1974)
Im Rahmen dieses Werks werden die allgemein anwendbaren Funktionen nach Krumhauer (1974) verwendet. In Abb. 2.6 wird die zugehörige symbolische Darstellung verwendet. Das Vorgehen beim Aufstellen einer Funktionsstruktur und ausgewählte Beispiele werden in Kap. 9 dieses Buches erläutert.
2.4 Wirkzusammenhang Das Aufstellen einer Funktionsstruktur erleichtert das Finden von Lösungen, da durch die Strukturierung die Bearbeitung weniger komplex wird und die Lösungen für Teilfunktionen zunächst gesondert erarbeitet werden können. Die einzelnen Teilfunktionen, die zunächst soweit möglich lösungsneutral (Black-Box) dargestellt wurden, werden nun durch eine konkretere Aussage ersetzt. Teilfunktionen werden in der Regel durch physikalische, chemische oder biologische Prozesse erfüllt, wobei physikalische Prozesse in maschinenbaulichen Lösungen überwiegen. Lösungen für die Verfahrenstechnik nutzen insbesondere chemische und biologische Prozesse. Physikalische Prozesse werden durch das Vorhandensein von physikalischen Effekten und durch das Festlegen von geometrischen und stofflichen Merkmalen in einen Wirkzusammenhang gebracht, der erzwingt, dass die Funktion im Sinne der Aufgabenstellung erfüllt wird. Der Wirkzusammenhang wird daher von den gewählten physikalischen Effekten und den festgelegten geometrischen und stofflichen Merkmalen bestimmt: Physikalische Effekte Der physikalische Effekt ist durch physikalische Gesetze, die die beteiligten Größen einander zuordnen, auch quantitativ beschreibbar: z. B. der Reibungseffekt durch das Coulombsche Reibungsgesetz FR = µ · FN, der Hebeleffekt durch das Hebelgesetz Fa · a = Fb · b oder der Ausdehnungseffekt durch das lineare Ausdehnungsgesetz fester Stoffe Δl = α · l · Δδ (s. Abb. 2.7). Vor allem Rodenacker (1991) und Koller (1994) haben solche Effekte zusammengestellt. Die Erfüllung einer Teilfunktion kann möglicherweise erst durch Verknüpfen mehrerer physikalischer Effekte erzielt werden, z. B. die Wirkungsweise eines Bimetalls,
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Abb. 2.7 Erfüllen von Teilfunktionen durch Wirkprinzipien, die aus physikalischen Effekten sowie aus geometrischen und stofflichen Merkmalen aufgebaut werden
die sich aus dem Effekt der thermischen Ausdehnung und aus dem Hookschen Effekt (Spannungs-Dehnungs-Zusammenhang) aufbaut. Eine Teilfunktion kann oft von verschiedenen physikalischen Effekten erfüllt werden, z. B. Kraft vergrößern mit dem Hebeleffekt, Keileffekt, dem elektromagnetischen Effekt, dem hydraulischen Effekt usw. Der gewählte physikalische Effekt einer Teilfunktion muss aber mit den Effekten von anderen verknüpften Teilfunktionen verträglich sein. So kann eine hydraulische Kraftverstärkung nicht ohne Weiteres ihre Energie aus einer elektrischen Batterie beziehen. Es ist ferner einleuchtend, dass ein bestimmter physikalischer Effekt nur unter gewissen Bedingungen die jeweilige Teilfunktion optimal erfüllt. Eine pneumatische Steuerung ist z. B. nur unter bestimmten Voraussetzungen einer mechanischen oder elektrischen überlegen. Verträglichkeit und optimale Erfüllung können in der Regel meist nur im Zusammenhang mit der Gesamtfunktion und erst bei konkreterer Festlegung geometrischer und stofflicher Merkmale sinnvoll beurteilt werden. Geometrische und stoffliche Merkmale Die Stelle, an der das physikalische Geschehen zur Wirkung kommt, kennzeichnet den Wirkort. Hier wird die Erfüllung der Funktion bei Anwendung des betreffenden physikalischen Effekts durch die Wirkgeometrie, d. h. durch die Anordnung von Wirkflächen (bzw. -linien, -räumen) und durch die Wahl von Wirkbewegungen erzwungen (Miller et al. 1960).
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Die Gestalt der Wirkfläche wird durch • Art, • Form, • Lage, • Größe und • Anzahl einerseits variiert und andererseits auch festgelegt (Rodenacker 1991). Nach ähnlichen Gesichtspunkten wird die erforderliche Wirkbewegung bestimmt durch • • • • •
Art: Translation, Rotation, Form: gleichförmig, ungleichförmig, Richtung: in x, y, z-Richtung oder/und um x, y, z-Achse, Betrag: Höhe der Geschwindigkeit und Anzahl: eine, mehrere usw.
Darüber hinaus muss eine erste prinzipielle Vorstellung über die Art des Werkstoffs bestehen, mit dem die Wirkflächen realisiert werden sollen, z. B. fest, flüssig oder gasförmig, starr oder nachgiebig, elastisch oder plastisch, hohe Festigkeit und Härte oder hochzäh, verschleißfest oder korrosionsbeständig usw. Eine Vorstellung über die Gestalt genügt oft nicht, sondern erst die Festlegung prinzipieller Werkstoffeigenschaften ermöglicht eine zutreffende Aussage über den Wirkzusammenhang. Nur die Gemeinsamkeit von physikalischem Effekt sowie geometrischen und stofflichen Merkmalen (Wirkgeometrie, Wirkbewegung und Werkstoff) lässt das Prinzip der Lösung sichtbar werden. Dieser Zusammenhang wird als Wirkprinzip bezeichnet (Hansen (1966) z. B. nennt es Arbeitsweise). Das Wirkprinzip stellt den Lösungsgedanken für eine Funktion auf erster konkreter Stufe dar. Abb. 2.7 gibt einige Beispiele: • Drehmoment übertragen durch Reibungseffekt nach dem Coulomb’schen Reibungsgesetz an einer zylindrischen Wirkfläche führt je nach Art der Aufbringung der Normalkraft zum Schrumpfverband oder zur Klemmverbindung als Wirkprinzip, • Kraft vergrößern mithilfe des Hebeleffekts nach dem Hebelgesetz unter Festlegen des Dreh- und Kraftangriffspunktes (Wirkgeometrie) führt ggf. unter Berücksichtigung der notwendigen Wirkbewegung zur Beschreibung des Wirkprinzips als Hebellösung oder Exzenterlösung usw., • elektrischen Kontakt herstellen durch Wegüberbrückung unter Nutzung des Ausdehnungseffekts entsprechend dem linearen Ausdehnungsgesetz führt erst nach Festlegen der notwendigen Wirkflächen hinsichtlich Größe (z. B. Durchmesser und Länge) und Lage zu einer gezielten Wirkbewegung des ausdehnenden Mediums, mit Wahl eines sich um einen bestimmten Betrag ausdehnenden Werkstoffs (Quecksilber) oder eines Bimetallstreifens als Schaltelement, insgesamt zum Wirkprinzip.
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Zum Erfüllen der Gesamtfunktion werden die Wirkprinzipien der Teilfunktionen zu einer Kombination verknüpft. Hier sind selbstverständlich auch mehrere unterschiedliche Kombinationen möglich. Die Richtlinie VDI 2222 bezeichnet diese Kombination als Prinzipkombination (VDI 1997). Die Kombination mehrerer Wirkprinzipien führt zur Wirkstruktur einer Lösung. In einer Wirkstruktur wird das Zusammenwirken mehrerer Wirkprinzipien erkennbar, die das Prinzip der Lösung (Lösungsprinzip) zum Erfüllen der Gesamtaufgabe angibt. Kennzeichnend ist, dass die Wirkstruktur ausgehend von der Funktionsstruktur die gewollte Wirkungsweise, also die Zweckwirkung und die zugehörigen Abläufe auf prinzipieller Ebene erkennen lässt. Die Wirkstruktur wird teilweise auch als Organstruktur bezeichnet (Hubka 1984; Hubka und Eder 1992, 1988). Zur Darstellung genügt bei bekannten Elementen ein Schaltplan oder ein Flussbild. Mechanische Artefakte werden zweckmäßig als Strichbild wiedergegeben und nicht allgemein festgelegte Elemente erfordern oftmals eine erläuternde Skizze (siehe Abb. 2.7). Vielfach ist die alleinige Wirkstruktur aber noch zu wenig konkret, um das Prinzip der Lösung beurteilen zu können. Die Wirkstruktur muss z. B. durch eine überschlägige Rechnung oder eine grobmaßstäbliche Untersuchung der Geometrie quantifiziert werden. Erst dann kann das Lösungsprinzip festgelegt werden. Das Ergebnis wird dann als prinzipielle Lösung bezeichnet. Durch den Wirkzusammenhang werden die vom Produkt zu erfüllenden Funktionen entsprechend der Funktionsstruktur und die sie jeweils realisierenden Funktionsträger festgelegt, siehe Abb. 2.8. Die Funktionsträger werden in diesem Zusammenhang im Wesentlichen durch den jeweils genutzten physikalischen Effekt repräsentiert. Der in Abb. 2.8 dargestellte Zusammenhang zwischen Funktionen und den Funktionsträgern wird in diesem ersten Schritt im Wesentlichen aus Sicht der Entwicklung festgelegt. Eine erste Produktgliederung, z. B. in Baugruppen kann evtl. bereits erahnt werden, ergibt sich aber nicht zwangsläufig. Diese bewusste Festlegung, welche Funktion durch welchen Funktionsträger und damit letztlich Bauteil oder Baugruppe realisiert werden, erfolgt mithilfe der Produktarchitektur. Zu beachten ist ebenfalls die Wechselwirkung des betrachteten Systems mit seinem Umfeld.
Abb. 2.8 Zusammenhang zwischen Funktionen eines Produkts und den sie realisierenden Funktionsträgern
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2.5 Bauzusammenhang Der in der Wirkstruktur bzw. in der prinzipiellen Lösung erkennbare Wirkzusammenhang ist Grundlage bei der weiteren Konkretisierung, die zur Baustruktur führt. In diesem Zusammenhang entstehen dann die Bauteile, Baugruppen oder Maschinen mit ihren zugehörigen Verbindungen, die das konkrete technische Artefakt bzw. System schließlich darstellen. Die Baustruktur berücksichtigt die Notwendigkeiten der Fertigung, der Montage, des Transports etc. Abb. 2.9 zeigt am Beispiel der in Abb. 2.1 dargestellten Schaltkupplung die vorgenannten grundlegenden Zusammenhänge, die in ihrer Reihung gleichzeitig Konkretisierungsstufen darstellen. Die realen Elemente einer Baustruktur genügen sowohl der gewählten Wirkstruktur als auch allen anderen Anforderungen, denen das gesamte System entsprechen muss. Um diese vollständig und rechtzeitig zu erkennen, sind aber noch systemtechnische Zusammenhänge zu beachten.
2.6 Systemzusammenhang Technische Artefakte bzw. technische Systeme stehen nicht allein, sie sind im Allgemeinen Bestandteil eines übergeordneten Systems. In einem solchen System wirkt vielfach der Mensch mit, indem er das technische System im Sinne der Funktionserfüllung durch Einwirkungen (handelnd, korrigierend, überwachend) beeinflusst. Dabei erfährt er Rückwirkungen, auch Rückmeldungen, die ihn zu weiterem Handeln veranlassen (siehe Abb. 2.10). Er unterstützt oder ermöglicht damit die gewollten Zweckwirkungen des technischen Systems. Daneben können nicht gewollte Eingänge auf das technische System aus der Umgebung (auch Nachbarsysteme), also Störwirkungen (z. B. zu hohe Temperatur), auftreten, die nichtgewollte Nebenwirkungen erzeugen (z. B. Formabweichung, Verlagerungen). Ferner können aus dem Wirkzusammenhang (Zweckwirkungen) ebenfalls ungewollte Erscheinungen als Nebenwirkungen (z. B. Schwingungen) sowohl aus den einzelnen technischen Artefakten innerhalb des Systems als auch aus dem Gesamtsystem nach außen auftreten, die den Menschen oder die Umgebung erreichen. Gemäß Abb. 2.10 ist nach VDI-Richtlinie 2242 (1986) zweckmäßig wie folgt zu unterscheiden: Zweckwirkung funktionale (gewollte) Wirkung als gewünschtes Ergebnis im Sinne der Nutzung Einwirkung funktionale Beziehung als Handlung des Menschen im technischen System Rückwirkung funktionale Beziehung des technischen Artefakts auf den Menschen oder auf ein anderes technisches Artefakt
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Abb. 2.9 Zusammenhänge in technischen Systemen
Störwirkung funktional nicht gewollte (unerwünschte) Einflüsse von außen auf das technische System, technische Artefakte oder den Menschen, die die Funktionserfüllung beeinträchtigen oder erschweren Nebenwirkung funktional unerwünschte und unbeabsichtigte Wirkung des technischen Artefakts bzw. Systems auf den Menschen und auf die Umgebung
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Abb. 2.10 Zusammenhänge in technischen Systemen unter Beteiligung des Menschen
Alle Wirkungen müssen im Gesamtzusammenhang bei der Entwicklung technischer Systeme verfolgt werden. Um diese rechtzeitig zu erkennen, sie zu nutzen oder ihnen nötigenfalls zu begegnen, ist es zweckmäßig, eine methodische Leitlinie zu benutzen, die generelle Zielsetzungen und Bedingungen berücksichtigt.
Literatur Birkhofer, H., Kloberdanz, H., & Berger, B. (2000). Produktentwicklung 1. Skript zur Vorlesung Wintersemester 2000/2001. Darmstadt. Crilly, N. (2010). The roles that artefacts play: Technical, social and aesthetic functions. Design Studies, 31(4), 311–344. Zugegriffen: http://linkinghub.elsevier.com/retrieve/pii/S0142694X10000281. DIN. (2014). Value Management – Wörterbuch – Begriffe: DIN EN 1325. Zugegriffen: https:// www.beuth.de/de/norm/din-en-1325/193178020. Eisenbart, B., Blessing, L., & Gericke, K. (2012). Functional modelling perspectives across disciplines: A literature review. In Proceedings of international design conference, DESIGN. Hansen, F. (1966). Konstruktionssystematik: Grundlagen für eine allgemeine Konstruktionslehre (2. Aufl.). Berlin: Verl. Technik. Hubka, V. (1976). Theorie der Konstruktionsprozesse: Analyse der Konstruktionstätigkeit. Berlin: Springer. Hubka, V. (1984). Theorie technischer Systeme: Grundlagen einer wissenschaftlichen Konstruktionslehre 2. Berlin: Springer. Hubka, V., & Eder, W. E. (1988). Theory of technical systems: A total concept theory for engineering design. Berlin: Springer. Hubka, V., & Eder, W. E. (1992). Einführung in die Konstruktionswissenschaft: Übersicht, Modell, Anleitungen (1. Aufl.). Berlin: Springer. Koller, R. (1974). Kann der Konstruktionsprozess in Algorithmen gefasst und dem Rechner übertragen werden. VDI-Berich. Düsseldorf: VDI-Verlag.
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Koller, R. (1994). Konstruktionslehre für den Maschinenbau: Grundlagen zur Neu- und Weiterentwicklung technischer Produkte mit Beispielen (3. Aufl.). Berlin: Springer. Krumhauer, P. (1974). Rechnerunterstützung für die Konzeptphase der Konstruktion: Ein Beitrag zur Entwicklung eines Programmsystems für die Lösungsfindung konstruktiver Teilaufgaben. [S.l.]: [s. n.]. Miles, L. D. (1961). Techniques of value analysis and engineering. London: McGraw Hill. Miller, G. A., Galanter, E., & Pribram, K. H. (1960). Plans and the structure of behavior. New York: Holt. Rodenacker, W. G. (1991). Methodisches Konstruieren: Grundlagen, Methodik, praktische Beispiele (4. Aufl.). Berlin: Springer. Roth, K. (1982). Konstruieren mit Konstruktionskatalogen. Berlin: Springer. Roth, K. (2001). Konstruieren mit Konstruktionskatalogen (3. Aufl.). Berlin: Springer. VDI. (1986). Ergonomiegerechtes Konstruieren. VDI-Richtlinie 2242 – Blatt 1. Düsseldorf: VDIVerlag. VDI. (1995). VDI Richtlinie 2803 (Entwurf) Funktionsanalyse – Grundlagen und Methode. VDI. (1997). VDI-Richtlinie 2222, Konstruktionsmethodik: Methodisches Entwickeln von Lösungsprinzipien, Blatt 1. Düsseldorf: VDI-Verlag. Vermaas, P. (2009). The flexible meaning of function in engineering. In M. Norell Bergendahl et al. (Hrsg.), Proceedings of ICED 09, the 17th International conference on engineering design (S. 113–124). Palo Alto: The Design Society. Vermaas, P. E. (2013). The coexistence of engineering meanings of function: Four responses and their methodological implications. Artificial Intelligence for Engineering Design, Analysis and Manufacturing, 27(3), 191–202.
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Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung Kilian Gericke, Beate Bender, Gerhard Pahl, Wolfgang Beitz, Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote
3.1 Grundlagen Produktenwicklung bedeutet, dass neue Lösungen erarbeitet werden müssen. Das Vorgehen des einzelnen Entwicklers oder eines Teams lässt sich dabei aus verschiedenen Perspektiven beschreiben. Nachfolgend wird das Vorgehen als Problemlösung, Informationsverarbeitung, Iteration oder als Koevolution von Problem und Lösung dargestellt. Tatsächlich ist der Entwicklungsprozess eine Kombination daraus. Die einzelnen Sichten heben dabei besondere Aspekte hervor, die ein besseres Verständnis dieser anspruchsvollen kognitiven Tätigkeit erlauben und helfen Empfehlungen für ein methodisches Vorgehen abzuleiten. Sie stellen somit wichtige Grundlagen für ein methodisches Vorgehen in der Produktentwicklung dar. Methoden zur Arbeitserleichterung und -verbesserung müssen die Eigenheiten, Fähigkeiten und Grenzen menschlichen Denkens berücksichtigen (Pahl 1994). Das methodische Vorgehen in der Produktentwicklung nutzt daher Erkenntnisse der Kognitions- und Denkpsychologie, Philosophie, und der Arbeitswissenschaften.
K. Gericke (*) Universität Rostock, Rostock, Deutschland B. Bender Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland J. Feldhusen Aachen, Deutschland K.-H. Grote Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_3
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Die vorgestellten allgemeinen methodischen Ansätze werden mit Vorgehensweisen und Einzelmethoden aus verschiedenen nichttechnischen Disziplinen kombiniert. Die Grundlagen dieser Vorgehensweisen sind dabei jedoch als interdisziplinär zu betrachten. Im Folgenden werden diese Grundlagen vermittelt, um die später vorgestellten Vorgehensweisen und Einzelmethoden besser einordnen und auch zweckdienlich anwenden zu können.
3.1.1 Produktentwicklung als Problemlöseprozess Der Konstrukteur sieht sich in seiner Tätigkeit vielfach Aufgaben gegenüber, die Probleme enthalten, die er nicht ohne weiteres bewältigen kann. Das Problemlösen auf unterschiedlichem Anwendungs- und Konkretisierungsniveau ist ein Kennzeichen seiner Tätigkeit. Die Denkpsychologie erforscht das Wesen menschlichen Denkens und somit auch des Problemlösens. Erkenntnisse der Denkpsychologie müssen in einer Konstruktionslehre berücksichtigt werden. Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf die Arbeiten von Dörner (1994, 1979). Bevor auf die Beschreibung der Problemlösung eingegangen wird, soll zunächst geklärt werden, wann eine Situation als Problem bezeichnet werden kann. Ein Problem lässt sich durch drei Komponenten beschreiben: • Anfangszustand, üblicherweise das Vorliegen einer unbefriedigenden Situation. • Endzustand, eine befriedigende Situation oder ein gewünschtes Ergebnis. • Bekanntheit der Mittel, die zur Transformation vom unerwünschten Ausgangszustand zum erwünschten Endzustand benötigt werden. Hindernisse, die einer Transformation im Wege stehen, können vielfältig sein und verändern das Wesen des resultierenden Problems, so dass verschiedene Kategorien von Problemen unterschieden werden können (siehe Tab. 3.1). Probleme weisen Merkmale wie Komplexität und Unbestimmtheit auf. Komplexität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass viele Komponenten mit unterschiedlich starker Verknüpfung bestehen, die sich gegenseitig beeinflussen. Unbestimmtheit bedeutet, dass nicht alle Anfangsbedingungen bekannt sind, nicht alle Zielkriterien definiert sind, der Einfluss einer Teillösung auf das Ganze oder auf andere Teillösungen nicht überschaubar ist und erst nach und nach erkannt wird. Die Schwierigkeiten verschärfen sich, wenn der Bereich, in dem die Probleme zu lösen sind, sich zeitlich ändert. Probleme können somit hinsichtlich der Klarheit der Zielkriterien und der Bekanntheit der Mittel zur Überwindung der Barrieren unterschieden werden.
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Alternativ zur Unterscheidung nach Dörner (1979) (siehe Tab. 3.1) wird zwischen wohldefinierten und schlecht definierten Problemen unterschieden (McCarthy 1956). Wohldefinierte Problem sind gekennzeichnet durch die Bekanntheit der Lösungsstrategie. Schlecht definierte Probleme hingegen weisen unklare Ziele auf und Lösungsstrategien sind unbekannt. Damit unterscheidet sich ein Problem von einer Aufgabe. Eine Aufgabe stellt geistige Anforderungen, für deren Bewältigung Mittel und Methoden eindeutig bekannt sind. Ein Beispiel wäre die Konstruktion einer Welle bei vorgegebenen Belastungen, Anschlussmaßen und Fertigungsverfahren. Beim Konstruieren treten Aufgaben und Probleme häufig vermischt auf und sind oft nicht klar trennbar. So kann sich eine gestellte Konstruktionsaufgabe bei näherer Betrachtung als Problem erweisen. Manche größere Aufgabe lässt sich in Teilaufgaben gliedern, von denen einige sich als schwierige Teilprobleme darstellen. Umgekehrt kann ein Problem durch Erledigung von mehreren erkannten Teilaufgaben in bisher unbekannter Kombination gelöst werden. Sowohl Dörner als auch McCarthy weisen auf die Subjektivität von Problemen hin, d. h. ob eine Situation ein Problem für eine Person darstellt oder lediglich als Aufgabe wahrgenommen wird hängt von der Erfahrung und dem Wissen der Person ab. Tab. 3.1 Unterscheidungen von Problemtypen Problemkategorie
Beschreibung
Syntheseproblem, Operatorproblem
Ausgangszustand und Endzustand sind bekannt Die Mittel zur Überwindung sind unbekannt und müssen noch gefunden werden
Interpolationsproblem, auch Kombinationsoder Auswahlproblem
Ausgangszustand und Endzustand sind bekannt Die Mittel zur Überwindung sind bekannt. Die Anzahl ist zu hoch oder die richtige Kombination ist jedoch unbekannt, sodass ein systematisches Durchprobieren unmöglich ist
Dialektisches Problem, Such- und Anwendungsproblem
Ausgangszustand ist bekannt Die Ziele (Endzustand) sind nur vage bekannt oder nur unscharf formuliert. Die Lösung entsteht durch dauerndes Abwägen und Beseitigen von Widersprüchen, bis ein akzeptables Ergebnis zur Erfüllung wünschenswerter Ziele entsteht
Kombination aus Synthese und dialektischem Problem
Ausgangszustand ist bekannt Endzustand ist nicht bekannt Die Mittel zur Überwindung sind unbekannt und müssen noch gefunden werden
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Denkprozesse sind Prozesse im Gedächtnis und umfassen auch die Veränderung von Gedächtnisinhalten. Beim Denken spielen also Gedächtnisinhalte und die Art und Weise, wie diese im Gedächtnis miteinander verknüpft sind, eine wichtige Rolle. Zunächst benötigt der Mensch zum Problemlösen ein bestimmtes Faktenwissen über den Realitätsbereich, in dem er das Problem lösen muss. In der Denkpsychologie nennt man das in das Gedächtnis übertragene Wissen die epistemische Struktur. Weiterhin muss der Mensch bestimmte Methoden (Verfahren) zur Lösungsfindung kennen, um effektiv handeln zu können. Dieser Teilaspekt betrifft die heuristische Struktur im Denken des Menschen. Außerdem kann man zwischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis unterscheiden. Das Kurzzeitgedächtnis als eine Art von Arbeitsspeicher hat eine geringe Kapazität und ist nur in der Lage, etwa sieben Gesichtspunkte oder Merkmale (Einheiten) gleichzeitig bereitzuhalten (Miller 1956). Das Langzeitgedächtnis mit einer praktisch wohl unendlich großen Kapazität nimmt dagegen das gesamte Fakten- und heuristische Wissen auf und legt es offenbar strukturiert ab. Dabei ist der Mensch in der Lage, bestimmte Zusammenhänge (Relationen) in mannigfacher Weise zu erkennen, zu gebrauchen und neu zu bilden. Solche Relationen, die auch im technischen Bereich hohe Bedeutung haben, sind beispielsweise: • Konkret-Abstrakt-Relation, z. B.: Schrägkugellager – Kugellager – Wälzlager – Lager – Führung – Kräfte leiten und Teil positionieren. • Hierarchische Relation (Teil-Ganzes-Relation, Meronymie), z. B.: Anlage – Maschine – Baugruppe – Teil. • Raum-Zeit-Relation, z. B.: Anordnung: vorn – hinten, unten – oben; Abfolge: dieses zuerst – jenes später. Man kann das Gedächtnis als ein semantisches Netzwerk mit Knoten (Wissen) und Verbindungen (Relationen) betrachten, das änderbar und ergänzbar ist. Das Denken besteht im Aufbau und in der Umbildung von solchen semantischen Netzen, wobei das Denken selbst intuitiv oder diskursiv betont verlaufen kann. Intuitives Denken ist stark einfallsbetont, der eigentliche Denkprozess geschieht weitgehend unbewusst, die Erkenntnis tritt plötzlich durch irgendwelche Ereignisse oder Assoziationen in das Bewusstsein. Man spricht von primärer Kreativität (Beitz 1985; Kroy 1984). Dabei werden recht komplexe Zusammenhänge verarbeitet. Müller (1990) verweist in diesem Zusammenhang auf das „Schweigende Wissen“, ein Alltags- und Hintergrundwissen, das auch mit episodenhaften Erinnerungen, mit vagen Begriffen und unscharfen Definitionen zur Verfügung steht. Es wird durch bewusste und unbewusste Denkakte aktiviert. Im Allgemeinen benötigt der plötzliche Einfall eine gewisse, nicht näher vorherbestimmbare Inkubationszeit ungestörten, unbewussten Denkens, bis er ins Bewusstsein tritt. Diese kann u. a. auch dadurch initiiert werden, dass z. B. Konstrukteure Lösungsideen frei skizzieren oder zeichnen. Nach Frick und Müller (1990) wird dabei die Aufmerksamkeit an den Gegenstand gebunden, es verbleiben aber bei der manuellen Handlung mentale Freiräume, die Raum für unbewusste
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Denkprozesse lassen, oder letztere werden durch den zeichnerischen Vorgang zusätzlich in Gang gesetzt. Diskursives Denken besteht in einem bewussten Vorgehen, das mitteilsam und beeinflussbar ist. Fakten und Relationen werden bewusst analysiert, variiert und neu kombiniert, geprüft, verworfen oder weiter in Betracht gezogen. Beitz (1985) und Kroy (1984) bezeichnen diesen Prozess als sekundäre Kreativität. Exaktes und wissenschaftlich begründetes Wissen wird über dieses Denken mindestens geprüft und in einen Wissenszusammenhang gebracht. Dieser Prozess ist im Gegensatz zum intuitiven Denken langsam und von vielen bewussten kleineren Denkschritten begleitet. In der Gedächtnisstruktur ist explizit und bewusst erworbenes Wissen vom oben erwähnten mehr vagen Alltags- oder Hintergrundwissen nicht exakt trennbar, und die Wissensbestände beeinflussen sich gegenseitig. Entscheidend für ein gut abrufbares und kombinierbares Wissen ist aber vermutlich eine geordnete, in sich logische Strukturierung des Faktenwissens (epistemische Struktur) im Gedächtnis des Problemlösers, gleichgültig, ob das Denkergebnis mehr intuitiv oder diskursiv entsteht. Die heuristische Struktur betrifft das explizierbare (erklärbare) und nicht explizierbare Wissen, um die Abfolge von Denkoperationen, von Handlungsoperationen zum Verändern des Zustands (Suchen und Finden) sowie von Prüfoperationen (Kontrolle und Beurteilung) organisieren zu können. Oftmals beginnt der Suchende ziemlich planlos, offenbar in der Absicht, aus der Kenntnis seines Wissens auf Anhieb ohne weitere Mühe eine Lösung zu finden. Erst bei Misserfolg oder Widersprüchen setzt eine mehr planmäßige oder systematischere Abfolge von Denkoperationen ein. Eine wichtige elementare Abfolge in Denkprozessen stellt die sog. TOTE-Einheit (Miller et al. 1960) dar (siehe Abb. 3.1). Dabei handelt es sich um zwei Prozesse, nämlich den Veränderungsprozess und den Prüfprozess. Die mit TOTE beschriebene Abfolge gibt an, dass einer Handlungsoperation zunächst eine Prüfoperation (Test) vorangeht, die die Ausgangssituation analysiert. Dann erst wird die entsprechend gewählte Handlungsoperation
Abb. 3.1 TOTE-Einheit als Grundeinheit der Organisation von Denk- und Handlungseinheiten (Dörner 1979; Miller et al. 1960)
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(Operation) durchgeführt. Anschließend erfolgt wieder eine Prüfoperation (Test), die den erreichten Zustand prüft. Ist das Ergebnis befriedigend, wird der Prozess verlassen (Exit), andernfalls wird die Handlungsoperation entsprechend angepasst wiederholt. In komplexeren Denkabläufen werden TOTE-Einheiten vielfach hintereinandergeschaltet, oder es werden mehrere Handlungen in Form einer „Handlungskaskade“ nacheinander durchgeführt, bevor ein erneutes Prüfen geschieht. Bei der Kopplung geistiger Prozesse sind also vielfache Kombinationen und Abfolgen denkbar, die aber immer wieder auf das Grundmuster der TOTE-Einheiten rückführbar sind. Das Vorgehen in einzelnen Arbeitsschritten der Produktentwicklung kann daher als Problemlöseprozess betrachtet werden, der die Kombination mehrerer TOTE-Einheiten anhand typischer Einzeloperationen in der Produktentwicklung beschreibt (siehe Abb. 3.2). Der Problemlöseprozess beginnt mit der Analyse eines zunächst häufig unscharf definierten Problems. Basierend auf der Problemanalyse und der dabei gewonnen Erkenntnisse wird das ursprüngliche Problem neu definiert. Anschließend erfolgt die Synthese von Lösungen. Die erarbeiteten Lösungen werden anschließend analysiert und hinsichtlich ihrer Eignung, das Problem zu lösen beurteilt. Ausgehend von dieser Beurteilung werden Teile des Prozesses wiederholt bis das (Teil-) Problem als gelöst gilt.
Abb. 3.2 Problemlösezyklus in der Produktentwicklung
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Kennzeichen guter Problemlöser Die nachfolgenden Aussagen sind zum einen aus den Arbeiten Dörner (1983) und zum anderen aus mit ihm zusammen durchgeführten Untersuchungen von Ehrlenspiel und Pahl gewonnen worden. Letztere sind den Veröffentlichungen von Rutz (1985), Dylla (1991), Ehrlenspiel und Dylla (1991), Fricke und Pahl (1991) und Fricke (1993) zu entnehmen. Die Erkenntnisse werden nachfolgend zusammengefasst (Pahl 1999): Intelligenz und Kreativität Unter Intelligenz wird im Allgemeinen Klugheit, die Fähigkeit des Begreifens und Verstehens sowie des Urteilens verstanden. Hierbei stehen oft analysierende Vorgehensweisen im Vordergrund. Kreativität meint eine schöpferische Kraft, die Neues hervorbringt oder bisher nicht bekannte Zusammenhänge bildet, wodurch weitere Lösungen oder Erkenntnisse möglich werden. Kreativität ist häufig mit einer mehr intuitiv ablaufenden, synthetisierenden Vorgehensweise verbunden. Intelligenz und Kreativität sind Eigenschaften von Personen. Ihre streng wissenschaftliche Definition und eine Abgrenzung zwischen Intelligenz und Kreativität ist bisher nicht gelungen. Mit Hilfe von Intelligenztests wird über einen Intelligenzquotienten (Vergleich mit dem Mittelwert einer großen Gruppe von Menschen) versucht, das Maß von Intelligenz zu messen, wobei angesichts vielfältiger Erscheinung von Intelligenz zum Erfassen des Spektrums auch entsprechend verschiedenartige Tests, sog. Testbatterien, angewendet werden. Erst ihre gemeinsame Betrachtung lässt gewisse Einschätzungen zu. Das gleiche gilt auch für Kreativitätstests. Zum Problemlösen ist ein Mindestmaß an Intelligenz erforderlich. Mit wachsendem Intelligenzquotienten steigt auch die Chance für gutes Problemlösen. Wesentlich ist aber, dass Intelligenztests allein wenig darüber aussagen, worin die Problemlösefähigkeit besteht (Dörner et al. 1983; Dörner 1979). Dörner (1979) begründet das so, dass es sich bei den Intelligenztests meist um Aufgaben oder Probleme handelt, deren Lösung nur wenige Denkschritte beansprucht, die daher in ihrer Abfolge meist gar nicht bewusst werden. Die selbständige Organisation vieler Lösungsschritte zu einer bestimmten Lösungsprozedur, d. h. das Hin- und Herschalten zwischen verschiedenen Ebenen oder Möglichkeiten, was bei der Durchführung längerfristiger Denkakte von entscheidender Bedeutung ist, wird bei Intelligenztests kaum erlangt. Ähnliches gilt für Kreativitätstests. Letztere werden oft auf einer so niedrigen Stufe angesetzt, dass der komplexe Problemlöseprozess, der auch viele Anteile des Planens und Steuerns des eigenen Vorgehens umfasst, nicht angesprochen wird. Ferner ist im konstruktiven Bereich Kreativität immer zielgerichtet. Eine reine, ungerichtete Produktivität von Ideen und Varianten kann beim Problemlösen eher hinderlich werden (Beitz 1985) oder allenfalls in einer bestimmten Phase förderlich sein.
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Entscheidungsverhalten Neben einem gut strukturierten Faktenwissen und einem geordneten Vorgehen beim Handeln und Prüfen sowie einer zielgerichteten Kreativität ist es erforderlich Entscheidungsprozesse zu beherrschen, für die noch andere geistige Tätigkeiten und Fähigkeiten ausschlaggebend sind: Erkennen von Abhängigkeiten In komplexen Systemen bestehen immer unterschiedlich starke Abhängigkeiten zwischen einzelnen Teilbereichen. Die Art und Stärke solcher Abhängigkeiten zu erkennen ist eine wesentliche Voraussetzung zur Gliederung in handhabbare, weniger komplexe Teilprobleme bzw. Teilziele, die getrennt bearbeitet werden können. Hierbei muss der Bearbeiter aber in der Lage sein, Nah- und Fernwirkungen im Gesamtzusammenhang im Auge zu behalten. Einschätzen von Wichtigkeit und Dringlichkeit Gute Problemlöser zeichnen sich dadurch aus, dass sie es verstehen, Wichtigkeit (sachliche Bedeutung) und Dringlichkeit (zeitliche Bedeutung) zu erkennen und daraus für ihr eigenes Vorgehen die richtigen Schlüsse ziehen. Sie werden versuchen, Dinge von Bedeutung zuerst zu lösen und dann davon abhängige Lösungen für die übrigen Teilprobleme zu entwickeln. Sie werden den Mut haben, es auf Nebenfeldern bei Unvollkommenheiten zu belassen, wenn sie bei den bedeutungsvollen Hauptfeldern gute und annehmbare Lösungen gefunden haben. Sie werden sich nicht in untergeordneten Teilfragen verzetteln und damit wertvolle Zeit verlieren. Gleiches gilt für die Einschätzung von Dringlichkeit. Gute Problemlöser können notwendigen Zeitbedarf richtig einschätzen und bauen sich einen Zeitplan auf, der sie zwar fordert, aber nicht überfordert. Interessant sind die Erkenntnisse von Janis und Mann (1977), dass milder, d. h. erträglicher, Stress für die Kreativität förderlich ist. Realistische Terminvorgaben wirken sich auf das Ergebnis von Denkprozessen eher günstig aus, woraus zu folgern ist, dass Neuentwicklungen am besten unter mäßigem Zeitdruck ablaufen sollten. Selbstverständlich empfinden und reagieren Menschen je nach Typ in diesem Zusammenhang unterschiedlich. Stetigkeit und Flexibilität Stetigkeit bedeutet kontinuierliches Festhalten am Erreichen der Ziele. Flexibilität meint hohes Anpassungsvermögen bei wechselnden Bedingungen, was aber nicht zu einem ziellosen Hin- und Herpendeln fuhren darf. Gute Problemlöser finden ein angemessenes Maß zwischen Stetigkeit und Flexibilität. Sie weisen ein stetig konsistentes aber zugleich flexibles Verhalten auf. Sie halten an vorgegebenen Zielen trotz auftretender Schwierigkeiten oder Hemmnisse fest. Dagegen passen sie ihr Vorgehen an sich ändernde Situationen oder bei auftretenden neuen Problemen unverzüglich an.
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Dabei sind ihnen vorgegebene Heurismen, Vorgehenspläne und Anweisungen in erster Linie nur Richtschnur, aber nicht starre Vorschrift. Dörner (1979) schreibt: „Heurismen oder Heurismenpläne dürfen nicht zu Automatismen entarten. Vielmehr sollen Individuen lernen, das Erworbene selbstständig fortzuentwickeln. Vorgegebene Heurismen dürfen nicht als Vorschriften missverstanden werden, sondern müssen als entwicklungsfähig und entwicklungsbedürftig empfunden werden!“ Misserfolge sind nicht vermeidbar In komplexen Systemen mit starker innerer Vernetztheit sind wenigstens partielle Misserfolge kaum vermeidbar, weil in einem solchen Beziehungsgeflecht nicht sogleich alle Wirkungen erkannt werden können. Beim Erkennen von solchen Misserfolgen kommt es in erster Linie auf die Art der Reaktion an. Wichtig ist die Fähigkeit eines flexiblen Vorgehens, das mit Analysefähigkeit über das eigene Vorgehen gepaart ist, und ein Entscheidungsverhalten, das zu einem korrigierten Neuaufbau des eigenen Denkens und daraus resultierendem neuen Handeln führt. Zusammengefasst ergeben die Erkenntnisse der Denkpsychologie folgendes Eigenschaftsprofil eines guten Problemlösers. Sie besitzen ein gutes fachliches Wissen in geordneter Weise, d. h. sie haben ein inneres gut strukturiertes Modell, finden ein richtiges, je nach Situation angepasstes Maß zwischen Konkretheit und Abstraktion, können auch bei Unschärfe oder Unbestimmtheiten handeln und halten am Ziel bei flexiblem Vorgehensverhalten fest. Eine solche heuristische Kompetenz ist wohl im hohen Maße von einer naturgegebenen Persönlichkeitsstruktur abhängig, kann aber sicherlich durch Training an unterschiedlichen Problemstellungen merklich weiterentwickelt werden. Die zuvor genannten Forschungsarbeiten haben folgende Kennzeichen guter Entwickler offenbart (G. Pahl 1999): • Gründliche Zielanalyse zu Beginn der Arbeit und auch bei der Formulierung von Teilzielen während des Konstruktionsprozesses insbesondere bei unscharfer Problemformulierung. • Durchlaufen einer konzeptionellen Phase zwecks Erarbeitens oder Erkennens des günstigsten Lösungsprinzips und nachfolgender konkreter Gestaltung in einer Entwurfsphase. • Eine zuerst divergierende und dann rasch konvergierende Lösungssuche mit nicht zu vielen Varianten auf der jeweils angemessenen Konkretisierungsebene mit Wechsel der Betrachtungsweise, z. B. abstrakt – konkret, Gesamtproblem – Teilproblem, Wirkzusammenhang – Bauzusammenhang. • Häufige Lösungsbeurteilungen nach umfassenden Kriterien ohne zu starke Betonung persönlicher Präferenzen. • Ständige Reflexion des eigenen Vorgehens und dessen Anpassung an die jeweilige Problemlage.
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Diese Kennzeichen stimmen mit den Anliegen und Vorschlägen der in diesem Buch beschriebenen Konstruktionsmethodik überein.
3.1.2 Produktentwicklung als Informationsumsatz Die Tätigkeiten der Produktentwicklung bestehen aus einer fortlaufenden Informationsverarbeitung und haben einen hohen Informationsbedarf. Auch Dörner (1979) bezeichnet das Problemlösen als Informationsverarbeitung. Informationen werden gewonnen (aufgenommen), verarbeitet und ausgegeben. Man spricht von einem Informationsumsatz. Abb. 3.3 zeigt diesen Sachverhalt schematisch. Informationsgewinnung kann z. B. geschehen durch Marktanalysen, Trendstudien, Patente, Fachliteratur, Vorentwicklungen, Fremd- und Eigenforschungsergebnisse, Lizenzen, Kundenanfragen und vor allem konkrete Aufgabenstellungen, Lösungskataloge, Analysen natürlicher und künstlicher Systeme, Berechnungen, Versuche, Analogien, überbetriebliche und innerbetriebliche Normen und Vorschriften, Lagerlisten, Liefervorschriften, Kalkulationsunterlagen, Prüfberichte, Schadensstatistiken, aber auch durch „Fragen stellen“. Die Informationsbeschaffung stellt beim Lösen von Aufgaben einen wesentlichen Tätigkeitsanteil dar. Informationsverarbeitung erfolgt z. B. durch Analyse der Informationen, Synthese durch Überlegungen und Kombinationen, Ausarbeiten von Lösungskonzepten, Berechnen, Experimentieren, Durcharbeiten und Korrigieren von Skizzen, Entwürfen und Zeichnungen sowie durch Beurteilen von Lösungen. Informationsausgabe erfolgt z. B. durch Festlegen des Überlegten in Skizzen, Zeichnungen, Tabellen, Versuchsberichten, Montage- und Betriebsanweisungen, Bestellungen, Arbeitsplänen. Häufig ist noch eine Informationsspeicherung notwendig. Mewes (1973) gibt einige Kriterien für Informationen an, die zu ihrer Kennzeichnung hilfreich sind und zur Formulierung von Forderungen des Informationsverbrauchers benutzt werden können. Im Einzelnen werden genannt:
Abb. 3.3 Informationsumsatz mit Iterationsschleife
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• Zuverlässigkeit, d. h. die Wahrscheinlichkeit ihres Eintreffens und ihre Aussagesicherheit. • Informationsschärfe, d. h. die Exaktheit und Eindeutigkeit des Informationsinhaltes. • Volumen und Dichte, d. h. Angaben über Wort- und Bildmenge, die zur Beschreibung eines Systems oder Vorganges notwendig sind. • Wert, d. h. die Wichtigkeit der Information für den Empfänger. • Aktualität, d. h. eine Angabe über den Zeitpunkt der Informationsverwendung. • Informationsform, d. h. ob es sich um graphische oder alphanumerische Informationen handelt. • Originalität, d. h. gegebenenfalls die Notwendigkeit zur Erhaltung des Originalcharakters einer Information. • Komplexität, d. h. die Struktur bzw. der Verknüpfungsgrad von Informationssymbolen zu Informationselementen, -einheiten oder -komplexen. • Feinheitsgrad, d. h. der Detaillierungsgrad einer Information. Ein solcher Informationsumsatz läuft in der Regel sehr komplex ab. So werden zum Lösen von Aufgaben Informationen von sehr unterschiedlicher Art, unterschiedlichem Inhalt und Umfang benötigt, verarbeitet und ausgegeben. Darüber hinaus müssen zur Anhebung des Informationsniveaus und damit zur Verbesserung häufig bestimmte Einzelschritte des Informationsumsatzes iterativ mehrmals durchlaufen werden (siehe Abschn. 3.1.3 und 3.1.4).
3.1.3 Produktentwicklung als iterativer Prozess Das Vorgehen in der Produktentwicklung nicht geradlinig sondern ist dynamisch und erfordert eine fortlaufende Anpassung der Planung da einzelne Aktivitäten mehrfach durchgeführt werden müssen. Iterationen sind ein zentrales Merkmal von Produktentwicklungsprozessen (Maier und Störrle 2011; Qureshi et al. 2013), sowohl auf Makroebene als auch Mikroebene des Prozesses (Wynn und Eckert 2017). Auf der Ebene kognitiver Prozesse wird dies im TOTE-Schema als wiederholtes durchlaufen des Test-Operation Zyklus dargestellt (siehe Abb. 3.1) oder ebenfalls als Iteration in der Beschreibung als Informationsumsatz (siehe Abb. 3.3). Es existieren verschiedene Formen von Iterationen die sich in ihrem Wesen und in ihrer Bedeutung für den Entwickler und die Prozessgestaltung unterscheiden. Iterative Arbeitsabläufe können können in drei Gruppen zusammengefasst werden (Wynn und Eckert 2017): fortschreitende, korrigierende und koordinierende Iterationen (siehe Abb. 3.4). Diese detaillierte Unterschiedung von Iterationen ist hilfreich für die Differenzierung von Konsequenzen für den Entwickler bzw. das Entwicklungsteam. So ist es wichtig, klar zwischen Iterationsformen zu unterscheiden, die unvermeidbar sind und positive Effekte hervorrufen und zwischen Formen, die hauptsächlich nachteilige Effekte wie zusätzlichen Ressourcen- und Zeitbedarf verursachen.
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Abb. 3.4 Ausprägungen von Iterationen in der Produktentwicklung (Wynn und Eckert 2017)
In der Produktentwicklung sollten erkenntnisfördernde Iterationen zugelassen werden. Dieser Freiraum ist notwendig um neue Ideen zu generieren und auch, um aus erkannten Fehlern lernen zu können. Unnötige Iterationen sollten hingegen vermieden werden. Iterationen die Einzelaktivitäten betreffen sind dabei zumeist unkritisch, sofern die Konsequenzen überschaubar bleiben. Aktivitäten- und Phasenübergreifende Iterationen hingegen sind als kritisch einzustufen, da die teils komplexen Abhängigkeiten zwischen Einzelaktivitäten starke Auswirkungen auf den Gesamtprozess haben können (Ahmad et al. 2012; Keller et al. 2005).
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Abb. 3.5 Koevolution von Problem und Lösung. (Nach Brooks 2010)
3.1.4 Produktentwicklung als Koevolution von Problem und Lösung Die Informationsverarbeitung und der Erkenntnisgewinn bezüglich einer möglichen Lösung für eine Entwicklungsaufgabe bzw. eines damit verbunden Problems erfolgt schrittweise. Dies bedeutet, dass bevor eine Lösung erarbeitet wird, zunächst das Problem verstanden werden muss. Nachdem ein erster Lösungsvorschlag erarbeitet wurde, kann dieser analysiert werden und liefert nicht nur Erkenntnisse darüber, wie die Lösung verbessert werden kann, sondern liefert auch ein besseres Verständnis des zu lösenden Problems bzw. führt zur Erkenntnis, dass die ursprüngliche Lösungsbeschreibung unzureichend war. Das Verständnis der Lösung und des zugrundeliegenden Problems entwickelt sich sozusagen infolge mehrerer evolutionärer Schritte (siehe Abb. 3.5) (Dorst und Cross 2001; Maher und Poon 1994; Maier et al. 2014). Wynn und Eckert (2017) ordnen diese Form iterativen Vorgehens als fortschreitende Iteration ein und bezeichnen sie als Exploration (siehe Abb. 3.4). Die Koevolution von Problem und Lösung kann als eine erweiterte Darstellung des TOTE-Schemas verstanden werden. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass die Analyse und die Synthese explizit sowohl die Problembeschreibung als auch den Lösungsvorschlag zum Gegenstand haben. Dieses Wechselspiel beschreibt den in der Produktentwicklung typischen schrittweisen Wissenszuwachs. Diese Sicht auf den Prozess trägt den Besonderheiten in der Produktentwicklung Rechnung und verdeutlicht, dass häufig zu Beginn das Problem nur unscharf oder unvollständig beschrieben ist (siehe „dialektisches Problem“, Tab. 3.1).
3.2 Vorgehensstrategien der methodischen Produktentwicklung Produktentwicklung hat sowohl eine logische als auch eine kreative Komponente und ist somit mehr als reines Problemlösen (Goel und Pirolli 1989). Dies erfordert spezielle Vorgehensstrategien, die intuitives und diskursives Denken nutzen, wie z. B. die
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Dekomposition komplexer Probleme, den Einsatz divergierender und konvergierender Arbeitsschritte und Abstraktion. Der Gebrauch solcher Vorgehensstrategien und einhergehender Methoden kann dabei bei Bedarf flexibel opportunistisch oder systematisch erfolgen. Die hier vorgestellte Konstruktionsmethodik versteht sich als Empfehlung und unterbreitet Vorschläge für das Vorgehen in der Produktentwicklung und Konstruktion. Diese Empfehlungen sollten vom Anwender jederzeit an den eigenen Kontext angepasst werden, um ein Höchstmaß an Nutzen zu ermöglichen und nicht als starre Regel verstanden werden, die den Konstrukteur in seiner Arbeit behindert. Eine allgemeine Konstruktionsmethodik soll branchenunabhängig und ohne fachspezifische Vorkenntnisse des Bearbeiters einsetzbar sein. Sie soll das Denken in geordneter und effektiver Form unterstützen. Die nachfolgend vorgestellten Ansätze werden bei speziellen Lösungs- und Vorgehensmethoden immer wieder in mehr oder minder veränderter Form auftauchen und dann z. T. auf die Belange technischer Produktentwicklung zugeschnitten. Anliegen dieses Abschnitts ist es, den Leser zunächst über methodisches Arbeiten allgemein zu informieren. Die folgenden Hinweise und Vorschläge basieren neben den in den in Abschn. 3.1.1 genannten denkpsychologischen Aspekten vor allem auf die Arbeiten von Holliger (1970, 1972), Nadler (1963, 1969), Müller (1970, 1990) und Schmidt (1980). Demnach müssen folgende Voraussetzungen beim methodischen Vorgehen erfüllt werden: • Ziele definieren durch Mitteilen des Gesamtziels, der einzelnen Teilziele und ihrer Bedeutung, wodurch die Motivation zur Lösung der Aufgabe sichergestellt und die eigene Einsicht unterstützt wird. • Bedingungen aufzeigen, d. h. Klarstellen von Rand- und Anfangsbedingungen. • Vorurteile auflösen, was erst eine breit angelegte Lösungssuche bei Verminderung von Denkfehlern ermöglicht. • Varianten suchen, d. h. stets mehrere Lösungen finden, aus denen dann die günstigste ausgewählt oder kombiniert werden kann. • Beurteilen im Hinblick auf die Ziele und gegebenen Bedingungen. • Entscheidungen fällen, was mit der vorangegangenen Beurteilung erleichtert wird. Nur Entscheidungen mit sich einstellenden Rückwirkungen machen einen Erkenntnisfortschritt möglich. Intuitives und diskursives Vorgehen Nach Abschn. 3.1.1 kann zwischen intuitiver und diskursiver Denkweise unterschieden werden, wobei ersteres mehr unbewusst und letzteres mehr bewusst abläuft. Durch Intuition sind eine Vielzahl von guten und sehr guten Lösungen gefunden worden und werden noch gefunden. Vorbedingung ist allerdings immer eine bewusste und entsprechend intensive Beschäftigung mit dem vorliegenden Problem. Dennoch ist bei rein intuitiver Arbeitsweise nachteilig, dass:
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• der richtige Einfall selten zum gewünschten Zeitpunkt kommt, denn er kann ja nicht erzwungen oder erarbeitet werden, • das Ergebnis stark von der Veranlagung und Erfahrung des Bearbeiters abhängt und • die Gefahr besteht, dass sich Lösungen nur innerhalb eines fachlichen Horizontes des Bearbeiters vor allem durch dessen Vorfixierung einstellen. Es ist deshalb anzustreben, ein bewussteres Vorgehen durchzuführen, das schrittweise ein zu lösendes Problem bearbeitet. Eine solche Arbeitsweise wird diskursiv genannt. Sie vollzieht die Arbeitsschritte bewusst, beeinflussbar und mitteilsam, in der Regel werden die einzelnen Ideen oder Lösungsansätze bewusst analysiert, variiert und kombiniert. Wichtiges Merkmal dieses Vorgehens ist also, dass eine zu lösende Aufgabe selten sofort in ihrer Gesamtheit angegangen wird, sondern dass man diese zunächst in übersehbare Teilaufgaben aufgliedert (siehe Dekomposition im folgenden Abschnitt), um letztere dann leichter lösen zu können. Es muss nachdrücklich betont werden, dass intuitives und diskursives Arbeiten keinen Gegensatz darstellen. Die Erfahrung zeigt, dass die Intuition durch diskursives Arbeiten angeregt wird. Stets sollte angestrebt werden, komplexe Aufgabenstellungen schrittweise zu bearbeiten, wobei es zugelassen bzw. erwünscht ist, Einzelprobleme intuitiv zu lösen. Ergänzend sei festgehalten, dass Kreativität durch Einflüsse gehemmt oder gefördert werden kann (Beitz 1985). So ist nach Abschn. 3.1.1 beim intuitiven Denken wegen der Inkubationszeit eine Unterbrechung der Tätigkeit oft förderlich. Andererseits kann ein häufiger Tätigkeitswechsel mit Unterbrechungen ein Störfaktor und damit kreativitätshemmend sein. Dagegen ist ein methodisches Vorgehen mit diskursiven Anteilen bei wechselnden Betrachtungsebenen, z. B. die Nutzung unterschiedlicher Lösungsmethoden, der Wechsel zwischen mehr abstrakter und mehr konkreter Betrachtung und umgekehrt, das Informieren anhand von Lösungskatalogen sowie eine Arbeitsteilung im Team mit entsprechendem Informationsaustausch kreativitätsfördernd. Ferner gilt nach (Janis und Mann 1977), dass realistische Terminvorgaben eher motivations- und kreativitätsfördernd als hemmend wirken. Dekomposition als Problemlösestrategie Komplexe Probleme, wie sie typisch sind in der Produktentwicklung, haben zur Konsequenz, dass Lösungen nicht direkt erarbeitet werden können. Typisch für das Vorgehen bei der Bearbeitung von komplexen Problemen in der Produktentwicklung ist die Kombination folgender Schritte (Goel und Pirolli 1992): • Analyse und Dekomposition des Problems, • Analyse von Abhängigkeiten zwischen Teilaspekten des Problems, • Lösung von isolierten Teilproblemen, • Integration der Teillösungen unter Berücksichtigung der Abhängigkeiten in eine Gesamtlösung.
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Eine vorteilhafte Vorgehensstrategie zur Lösung komplexer Probleme, ist die Zergliederung des Gesamtproblems in Teilprobleme (Dekomposition). Die Unterteilung beginnt mit einer detaillierten Analyse des Gesamtproblems bevor eine geeignete Unterteilung des Gesamtproblems in Teilprobleme vorgenommen wird. Die Dekomposition kann bei Bedarf mehrfach erfolgen, bis handhabbare Einzelprobleme definiert sind (siehe Abb. 3.6). Begleitend zur Dekomposition von Gesamtproblem und Teilproblemen sind die jeweiligen Abhängigkeiten auf jeder Detaillierungsebene zu analysieren und zu dokumentieren. Das Verständnis dieser Abhängigkeiten ist für die spätere Auswahl von Teillösungen, für die Prioritätensetzung und für die Integration von Teillösungen in eine Gesamtlösung notwendig. Das methodische Vorgehen nutzt dies beim Gliedern in Teilfunktionen und beim Aufstellen der Funktionsstruktur, der Suche nach Wirkprinzipien für Teilfunktionen und bei der Planung der Arbeitsschritte beim Konzipieren und Entwerfen. Divergenz und Konvergenz Ausgehend von der initialen Problemstellung werden verschiedene Zwischenergebnisse erarbeitet bevor die finale Lösung erstellt wird. Wie bereits im Abschn. 3.1.3 und 3.1.4 dargelegt, werden dabei mehrere Iterationen durchlaufen und der schrittweise Wissenszuwachs kann als Koevolution aus Problemverständnis und Lösungsverständnis beschrieben werden. Ein wichtiger Grundpfeiler methodischen Vorgehens besteht darin, dieses schrittweise Vorgehen um eine weitere Vorgehensstrategie zu ergänzen. Auf jedem Konkretisierungsgrad sollte zunächst der Suchraum geeigneter Lösungen systematisch erweitert werden (Divergenz) und anschließend durch Selektion und Auswahl auf eine handhabbare Menge von Alternativen reduziert werden (Konvergenz). Die Einengung des Lösungsraums sollte dabei nicht sprunghaft erfolgen (siehe Abb. 3.7), d. h. die Konkretisierung von Lösungsvorschlägen sollte nicht voreilig oder ohne hinreichende Erarbeitung und Analyse von alternativen Lösungen vorgenommen werden.
Abb. 3.6 Dekomposition komplexer Probleme und Integration von Lösungen (VDI 2221 1993)
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Abb. 3.7 Varianten der Suchraumgestaltung (Fricke 1993)
Ebenso ungeeignet ist eine übermäßige Erweiterung des Suchraums, d. h. die parallele Ausarbeitung zu vieler alternativer Lösungsansätze bevor eine Auswahl erfolgt. Dies bindet zu viele Ressourcen und ist daher nicht effizient. Sollte eine zunächst verfolgte Lösung sich später als ungeeignet erweisen, so können die zuvor erarbeiteten Lösungen erneut betrachtet werden und konkretisiert werden. Eine ausgewogene Suchraumgestaltung ist zu bevorzugen. Diese kennzeichnet sich durch die Erarbeitung mehrerer alternativer Lösungsvarianten auf jedem Konkretisierungsgrad und die anschließende Auswahl einer präferierten Variante für die nachfolgende Konkretisierung (Fricke 1993). Abstraktion als Lösungsfindungsstrategie Im Kontext der Produktentwicklung ist es zur Differenzierung vom Wettbewerb, zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit oder der Schaffung gänzlich neuer Funktionen notwendig innovative Lösungen zu erarbeiten. Dies erfordert Kreativität. Kreatives Arbeiten wird oftmals erschwert z. B. durch die Kenntnis existierender Lösungen, ein etabliertes Problemverständnis und andere äußere Faktoren wie Termin- und Erfolgsdruck. Eine häufige Folge ist die Vorfixierung auf eine mögliche Lösung (Crilly 2015; Lindemann 2009) so dass eine voreilige Suchraumeinengung erfolgt bzw. erst gar keine Lösungsalternativen oder ein unvoreingenommenes Problemverständnis erarbeitet werden. Eine Vorgehensstrategie die hilfreich ist, Vorfixierungen zu vermeiden, basiert auf der Abstraktion der initialen Problembeschreibung und darauf basierender Lösungsideen (Goldschmidt 2011). Eine systematische Abstraktion resultiert in einem neuen Verständnis der Aufgabenstellung und kann bestehende Vorurteile und Vorfixierungen auflösen. Dieses Vorgehen ist ein weiterer zentraler Bestandteil der hier vorgestellten Kontruktionsmethodik, d. h. bei der Bearbeitung einer Entwicklungsaufgabe werden ausgehend von einer im Rahmen der Produktplanung erarbeiteten Produktidee explizite Abstraktionsschritte vorgenommen bevor eine erneute Konkretisierung erfolgt (siehe Abb. 3.8).
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Abb. 3.8 Abstrahierende Vorgehensweise in der Produktentwicklung. (In Anlehnung an Blessing 1994)
Opportunistisches Vorgehen und systematische Vorgehensstrategie Die opportunistische Vorgehensweise besteht darin entweder auf Basis der vorhandenen Erfahrungen gewonnene Lösungsmuster (Alexander et al. 1977) zu erkennen oder aufgrund einer nicht näher spezifizierten Intuition direkt Teillösungen angeben zu können (Lemburg 2009). Dieses Vorgehen basiert also auf einer durch Erfahrungen gestützten Kreativität und darf nicht gleichgesetzt werden mit spontanen Einfällen. Die so gefundenen Lösungen stammen entweder aus dem eigenen Unternehmen oder sind Lösungen von Wettbewerbern. Dem Vorteil dieser Vorgehensweise, bei Aufgabenstellungen mit eingeschränkter Komplexität sehr schnell und effektiv eine mögliche Lösung zu finden, stehen aber auch Nachteile gegenüber: • Eine innovative Lösung wird nicht gefunden, da im vorhandenen Lösungsraum, also im eigenen Unternehmen oder bei marktgängigen Lösungen, gesucht wird, • mangelnde Berücksichtigung der unterschiedlichen Anwendungsbedingungen der Lösung bei der neuen und alten Aufgabe, • eine nicht optimale Lösung wird zu lange verfolgt und • es wird keine Lösung gefunden, weil auf dem gefragten Aufgabengebiet keine Erfahrungen vorliegen. Aus den genannten Gründen ist es immer sinnvoll und meistens auch erforderlich, einen Wechsel zwischen dem opportunistischen und einem systematischen Vorgehen vorzunehmen. Im Gegensatz zum opportunistischen Vorgehen, das auf der Nutzung spontaner Lösungsideen beruht, wird beim systematisch/methodischen Vorgehen der Wechsel zwischen Arbeitsschritten zur Analyse und Synthese der Aufgabe und Lösung genutzt. Die typischerweise beim Entwickeln und Konstruieren durchzuführenden Analysen sind in Abb. 3.9 dargestellt. Je nachdem, in welcher Phase des Produktentwicklungs-
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Abb. 3.9 Typische Analysen im Entwicklungs- und Konstruktionsprozess
prozesses man sich befindet, wird entsprechend die Anforderungsliste, das Konzept, die grobe Geometrie der Komponenten usw. synthetisiert, also aus einzelnen Elementen zusammengesetzt. Die hier vorgestellte systematische Vorgehensstrategie sollte grundsätzlich auch zur kritischen Bewertung und zur Lösungserweiterung bzw. Absicherung eines opportunistischen Vorgehens eingesetzt werden. Damit ergibt sich ein prinzipielles Vorgehen entsprechend Abb. 3.10. Individuelle Arbeitsstile Dem Konstrukteur sind bei seiner Arbeit Handlungsspielräume zu lassen, die es ihm ermöglichen, seinen ihm eigenen, meist optimierten Arbeitsstil anzuwenden. Diese Spielräume können in der Methodenauswahl, in der Reihenfolge bestimmter, notwendiger Einzelarbeitsschritte und in der Wahl des Informationspartners liegen. Dazu bedarf es der eigenen, flexiblen Planung im jeweils überschaubaren Arbeitsbereich und deren eigener Kontrolle. Die dann individuell verfolgte Vorgehensweise muss sich selbstverständlich in den allgemeineren Vorgehensplan der Methodik bzw. des Projekts sinnvoll und verträglich einpassen. Im Allgemeinen sind bei der Neuentwicklung eines Produkts mehrere Teilfunktionen (Teilprobleme) zu beachten, die dann auch entsprechende Teillösungen nach sich ziehen und/oder in sich kombiniert werden können. In einer solchen Situation kann der Entwickler individuell unterschiedlich vorgehen. So kann es sein, dass er bei der Lösungssuche zunächst auf der prinzipiellen Ebene für jede der beteiligten Teilfunktionen entsprechende Wirkprinzipien (Lösungsprinzipien) sucht, ihre gegenseitige Verträglichkeit grob prüft und sie dann zu einer gesamten Wirkstruktur (Lösungskonzept) kombiniert. Erst dann geht er an die nähere Gestaltung der Komponenten, die er mit
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Abb. 3.10 Wechsel der Vorgehensweisen. (In Anlehnung an Lemburg 2009)
Rücksicht auf die Gesamtkombination vornimmt. Methodisch gesehen geht er dem Vorgehensplan entsprechend methodisch stufenweise ablauforientiert vor, d. h. er treibt die unterschiedlichen Funktionsbereiche in der Lösungsfindung parallel vom Abstrakten (Idee, Vorstellung) zum Konkreten (endgültige Gestaltung) voran (vgl. Abb. 3.11a). Eine andere Art ist es, für jeden Problem- oder Funktionsbereich nacheinander die einzelnen Lösungen von der Lösungsidee bis zur endgültigen Gestaltung durchzuarbeiten und sie dann anschließend unter Anpassung miteinander zu kombinieren. Methodisch gesehen würde dann teilproblemorientiert, also im entsprechenden Funktions- oder Gestaltungsbereich vorgegangen werden (vgl. Abb. 3.11b). Die Untersuchungen von Dylla (1991), Ehrlenspiel und Dylla (1991), Fricke und Pahl (1991) und Fricke (1993) haben gezeigt, dass Anfänger mit methodischer Ausbildung dazu neigen, methodisch stufenweise ablauforientiert vorzugehen, hingegen erfahrene Konstrukteure eher teilproblemorientiert arbeiten. Letztere greifen auf ihren Erfahrungsschatz unmittelbar zu, kennen eine Reihe von möglichen Teillösungen und sehen sich auch in der Lage, diese rasch darzustellen. Sie kommen damit verhältnismäßig schnell zu einem konkreten Ergebnis, das dann unter Nutzung eines korrigierenden Vorgehens zu einer Gesamtlösung zusammengefasst wird. Diese Art des Vorgehens ist dann erfolgreich, wenn die einzelnen Komponenten sich nicht stark gegenseitig beeinflussen und ihre Eigenschaften gut überschaubar sind. Anderenfalls kommt es zum relativ späten Erkennen über eine mangelnde Funktionsfähigkeit im Zusammenwirken. Auch können unterschiedliche Teillösungen zu an sich gleichen oder ähnlichen Teilfunktionen entstehen, was häufig nicht wirtschaftlich ist und ein Zurückspringen auf die prinzipielle Betrachtung mit erneuter Lösungssuche zwingt. Im methodisch stufenweise ablauforientierten Vorgehen werden die vorgenannten Gefahren des teilproblemorientierten Vorgehens weitgehend vermieden, es bedarf aber eines größeren Zeitaufwandes der breiteren, mehr systematischen Betrachtung mit der Gefahr einer unnötigen Ausweitung (Divergenz) des Lösungsfeldes. Letzteres erfordert
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Abb. 3.11 Unterschiedlich individuelles Vorgehen bei der Lösungsentwicklung einer Teekochmaschine mit mehreren zusammenhängenden Funktionsbereichen: Grundplatte/Steuerung (A), Wasserspeicher und Heizung (B), Ausguss und Verschluss (C). a Methodisch stufenweise ablauforientiert, d. h. in jeder Stufe der Entwicklung ganzheitliche Betrachtung; b Teilproblemorientiert, d. h. jeder Funktionsbereich für sich entwickelt und dann zusammengeführt. (Idealisierte Verlaufsdarstellung nach Fricke 1993)
vom Entwickler das rechte Maß zwischen Abstraktem und Konkretem, d. h. das richtige Gefühl, eine hinreichend, nicht zu große Menge guter Lösungsansätze zu haben und die Entschlusskraft, diese möglichst rasch in der Kombination zu einer konkreteren Gesamtgestalt zusammenzuführen (Konvergenz).
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In der praktischen Anwendung ist nun methodisch stufenweise ablauforientiertes und teilproblemorientiertes Vorgehen nicht immer lupenrein gegeben, sondern es treten häufig je nach Problemlage Mischformen auf. Dennoch ist bei einzelnen Konstrukteuren eine mehr oder weniger starke Neigung zu der einen oder anderen Vorgehensweise feststellbar. Stufenweise ablauforientiertes Vorgehen empfiehlt sich bei starker Vernetzung der Teilprobleme und beim Betreten von Neuland. Ein teilproblemorientiertes Vorgehen ist zweckmäßig bei geringerer Vernetzung und bei Vorhandensein bekannter Teillösungen im Erfahrungsschatz des Anwendungsgebietes. Ähnliche individuelle Vorgehensunterschiede sind auch bei der Suche einzelner Lösungen beobachtbar: Entwickelt und untersucht der Konstrukteur bei der Lösungssuche zu einzelnen Teilfunktionen nebeneinander unterschiedliche Lösungsprinzipien oder Gestaltungsvarianten und vergleicht sie miteinander, um dann die günstigere auszusuchen, bezeichnet man dieses Vorgehen als eine generierende Lösungssuche (vgl. Abb. 3.12a). Wird hingegen von einer Idee oder einem Vorbild ausgegangen und dieser erste Ansatz schrittweise im Sinne der Problemstellung verbessert und angepasst bis eine befriedigende Lösung sichtbar wird, handelt es sich um eine korrigierende Lösungssuche (vgl. Abb. 3.12b). Bei ihr können dann auch eine Reihe von Lösungsvarianten entstehen, wenn einzelne Varianten nicht verworfen wurden.
Abb. 3.12 Unterschiedlich individuelles Vorgehen bei der Lösungssuche einer elastischen Abstützung. a Generierend, d. h. Erzeugung von denkbaren Lösungsmöglichkeiten und zielgerichtete Auswahl. b Korrigierend, d. h. von einer Idee fortschreitende und korrigierende Lösungssuche
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Erstere Art der Lösungssuche bietet eine größere Chance, auf neue, unkonventionelle Ideen zu kommen, unterschiedliche Prinzipien in Betracht zu ziehen, also ein breiteres Lösungsfeld zu gewinnen. Allerdings bestehen dann die Probleme der rechtzeitigen und zielgerichteten Auswahl, um später unnötig erscheinende Arbeit zu vermeiden. Zu dieser Vorgehensweise neigen wiederum eher methodisch geschulte Anfänger und methodisch versierte Entwickler. Die korrigierende Lösungssuche nutzt häufig der erfahrene Konstrukteur, besonders dann, wenn ihm schon eine im Anwendungsfeld ähnlich bekannte Lösung vorschwebt oder einfällt. Der Vorteil liegt in einer relativ raschen Konkretisierungsmöglichkeit, wenn auch die Varianten zunächst nicht voll befriedigen. Der Bearbeiter bleibt in seinem Erfahrungsfeld und weitet es schrittweise aus. Die Gefahr liegt darin, in einem prinzipiell ungünstigeren Lösungsansatz stecken zu bleiben oder andere vorteilhafte Lösungsprinzipien nicht zu erkennen. Wiederum ergeben sich in der praktischen Arbeit Mischformen. Es steht das Bestreben im Vordergrund, den Arbeitsaufwand jeweils zu minimieren. Der Entwickler und Konstrukteur neigt aufgrund seiner individuellen Fähigkeit und Erfahrung bzw. Prägung zu dieser oder jener Vorgehensweise, ohne sich häufig über die Vorteile oder Gefahren seines jeweiligen Weges bewusst zu sein. Die gewählte oder auch unbewusst eingeschlagene Vorgehensweise ist individuell von der Ausbildung und Erfahrung abhängig und beeinflussbar. Strenge Vorschriften sollten dem Konstrukteur auch nicht gemacht werden, hingegen ist es gut, ihn auf die Vorteile und Gefahren des jeweiligen Vorgehens aufmerksam zu machen und ihm dann die Entscheidung zu überlassen. Es ist zweckmäßig, durch Schulung (Weiterbildung) und durch angemessene Führung während des Produktentwicklungsprozesses sich über die jeweils geeignete Vorgehensweise im Klaren zu werden und sie abzustimmen.
3.3 Allgemein anwendbare Methoden Die im Folgenden dargestellten allgemeinen Methoden sind als weitere Grundlage für methodisches Arbeiten aufzufassen. Von ihnen wird immer wieder Gebrauch gemacht (Holliger 1970). Auch neue Methoden basieren oft auf allgemein wiederkehrenden Methoden oder kombinieren diese in vorteilhafter Weise (Birkhofer 2008; Zier 2014). Analyse Eine Analyse ist in ihrem Wesen Informationsgewinnung durch Zerlegen und Aufgliedern sowie durch Untersuchen der Eigenschaften einzelner Elemente und der Zusammenhänge zwischen ihnen. Es geht dabei um Erkennen, Definieren, Strukturieren und Einordnen. Die gewonnenen Informationen werden zu einer Erkenntnis verarbeitet. Zur Vermeidung von Fehlern wurde gefordert, die Aufgabenstellung klar und eindeutig zu formulieren. Dabei ist es wichtig, das vorliegende Problem zu analysieren. Problemanalyse heißt, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen und bei komplexeren
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Problemstellungen durch Aufgliedern in einzelne, überschaubare Teilprobleme die Lösungssuche vorzubereiten. Bereitet die Lösungssuche Schwierigkeiten, so kann durch Neuformulierung des Problems u. U. eine bessere Ausgangsposition geschaffen werden. Die Umformulierung von Aussagen ist oft ein wirksames Hilfsmittel, um neue Ideen oder Aspekte zu gewinnen. Die Erfahrung zeigt, dass eine sorgfältige Problemanalyse und -formulierung zu den wichtigsten Schritten methodischen Arbeitens gehören. Hilfreich bei der Lösung einer Aufgabe ist eine Strukturanalyse, d. h. das Suchen nach strukturellen Zusammenhängen, z. B. nach hierarchischen Strukturen oder logischen Zusammenhängen. Allgemein kann man dieses methodische Vorgehen dahingehend charakterisieren, dass es bemüht ist, über strukturelle Recherchen, z. B. mit Hilfe von Analogiebetrachtungen (vgl. Kap. 10), Gemeinsamkeiten oder auch Wiederholungen zwischen unterschiedlichen Systemen aufzuzeigen. Ein weiteres wichtiges Hilfsmittel ist die Schwachstellenanalyse. Dieser methodische Ansatz geht davon aus, dass jedes System, also auch ein technisches Produkt, Schwachstellen und Fehler besitzt, die durch Unwissenheit und Denkfehler, durch Störgrößen und Grenzen, die im physikalischen Geschehen selbst liegen, sowie durch fertigungsbedingte Fehler hervorgerufen werden. Im Zuge einer Systementwicklung ist es wichtig, ein Konzept oder Entwurf auf seine Schwachstellen hin zu analysieren und nach Verbesserungen zu suchen. Zum Erkennen solcher Schwachstellen haben sich Auswahlund Bewertungsverfahren (vgl. Kap. 11) und Fehlererkennungsmethoden bewährt. Die Erfahrung zeigt, dass nicht nur eine Detailverbesserung bei Beibehaltung des gewählten Lösungsprinzips möglich wird, sondern häufig auch die Anregung zu einem neuen Lösungsprinzip ausgelöst wird. Abstrahieren Abstrahierendes Vorgehen ist zum einen für die Planung des Entwicklungsprozesses, d. h. auf der Makroebene der Prozessbeschreibung von Bedeutung, so wie dies in Abschn. 3.2 beschrieben wurde und zu anderen auch für das Vorgehen bei der Bearbeitung von Teilaufgaben und Einzelproblemen. Ausgehend von einer Analyse ist es in der Regel möglich, aufgrund erkannter Merkmale durch Abstraktion (Verallgemeinern, Vereinfachen durch Verzicht auf Einzelheiten), einen übergeordneten Zusammenhang zu finden, der allgemeiner und damit weitreichender ist. Ein solches Vorgehen wirkt zum einen komplexitätsreduzierend und lässt zum anderen wesentliche Merkmale hervortreten. Letztere wiederum geben Anlass, nach anderen, die erkannten Merkmale aber enthaltenden Lösungen zu suchen und diese dann zu finden. Gleichzeitig entsteht beim Bearbeiter eine gedankliche Struktur, in die er unterschiedliche Erscheinungsformen leichter abrufbar einordnen kann. Die Abstraktion unterstützt also gleichermaßen kreative als auch systematisierende Denkvorgänge. Mit ihrer Hilfe ist es auch eher möglich, ein Problem so zu definieren, dass es von Zufälligkeiten der Entstehung oder Anwendung befreit wird und damit in eine allgemeingültige Lösung überführt werden kann.
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Synthese Die Synthese ist in ihrem Wesenskern Informationsverarbeitung durch Bilden von Verbindungen, durch Verknüpfen von Elementen mit insgesamt neuen Wirkungen und das Aufzeigen einer zusammenfassenden Ordnung. Es ist der Vorgang des Suchens und Findens sowie des Zusammensetzens und Kombinierens. Wesentliches Merkmal konstruktiver Tätigkeit ist das Zusammenfügen einzelner Erkenntnisse oder Teillösungen zu einem funktionsfähigen Gesamtsystem, d. h. das Verknüpfen von Einzelheiten zu einer Einheit. Bei diesem Syntheseprozess werden auch die durch Analysen gefundenen Informationen verarbeitet. Generell ist bei einer Synthese das sog. Ganzheits- oder Systemdenken zu empfehlen. Es bedeutet, dass bei der Bearbeitung einzelner Teilaufgaben oder bei zeitlich aufeinanderfolgenden Arbeitsschritten immer die Gegebenheiten der Gesamtaufgabe oder des Gesamtablaufs betrachtet werden müssen, will man nicht Gefahr laufen, trotz Optimierung einzelner Baugruppen oder Teilschritte, keine günstige Gesamtlösung zu erreichen. Aus dieser Erkenntnis hat sich auch die interdisziplinäre Betrachtungsweise der Methode „Wertanalyse“ entwickelt, die nach einer Problem- und Strukturanalyse durch frühzeitiges Hinzuziehen aller Betriebsbereiche ein ganzheitliches Systemdenken erzwingt. Ein weiteres Beispiel ist die Durchführung von Großprojekten. Die gesamte Systemtechnik mit ihren Methoden beruht sehr stark auf diesem Ganzheitsdenken. Besonders bei der Bewertung mehrerer Lösungsvorschläge ist eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die sich z. B. in der Wahl der Bewertungskriterien ausdrückt, wichtig, da der Wert einer Lösung nur bei Berücksichtigung aller Bedingungen, Wünsche und Erwartungen richtig abzuschätzen ist. Methode des gezielten Fragens Es kann häufig sehr nützlich sein, Fragen zu stellen. Durch selbst gestellte oder vorgelegte Fragen werden zum einen der Denkprozess und die Intuition angeregt, zum anderen fördert ein Fragenkatalog auch das diskursive Vorgehen. „Fragen stellen“ gehört mit zu den wichtigsten methodischen Hilfsmitteln. Das drückt sich auch dadurch aus, dass die Mehrzahl der Autoren zu den einzelnen Arbeitsschritten Fragelisten vorschlagen, mit denen ihre Durchführung erleichtert werden soll. Sie liegen in der Praxis für verschiedene Arbeitsschritte, z. B. als Checklisten, vor. Methode der Negation und Neukonzeption Die Methode der bewussten Negation geht von einer bekannten Lösung aus, gliedert sie in einzelne Teile bzw. beschreibt sie durch einzelne Aussagen oder Begriffe und negiert diese Aussagen der Reihe nach für sich oder in Gruppen. Aus dieser bewussten Umkehrung können neue Lösungsmöglichkeiten entstehen. Beispielsweise wird man bei einem „rotierenden“ Konstruktionselement auch eine „stehende“ Konzeption verfolgen. Auch das Weglassen eines Elements kann eine Negation bedeuten. Dieses Vorgehen wird auch als „methodisches Zweifeln“ bezeichnet (Holliger 1970).
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Methode des Vorwärtsschreitens Ausgehend von einem ersten Lösungsansatz versucht man, alle nur denkbaren oder möglichst viele Wege einzuschlagen, die von diesem Ansatz bzw. von dieser Anfangssituation wegführen und weitere Lösungen liefern. Man spricht auch von einem bewussten Auseinanderlaufenlassen der Gedanken (divergentes Denken bzw. Vorgehen). Divergentes Denken bedeutet jedoch nicht immer ein systematisches Variieren, sondern häufig auch ein zunächst unsystematisches Auseinanderlaufen der Gedanken. Die Lösungssuche durch Vorwärtsschreiten soll beispielsweise mit Abb. 3.13 bei der Entwicklung von Wellen-Nabe-Verbindungen gezeigt werden. Die eingezeichneten Pfeile deuten die Denkrichtungen an. Durch Nutzung systematischer Merkmale (siehe Kap. 10) kann ein solcher Denkprozess bewusst unterstützt werden, indem die Variation enger in Anlehnung solcher Merkmale erfolgt. Vielfach, insbesondere bei gut strukturierten Vorstellungen, erfolgt eine unbewusste, dann aber meist nicht vollständige Nutzung der Merkmale (s. Abb. 3.13). Methode des Rückwärtsschreitens Bei dieser Methode geht man nicht von der Anfangssituation des Problems, sondern von seiner Zielsituation aus. Man betrachtet hier das Entwicklungsziel und beginnt, rückwärtsschreitend alle nur denkbaren oder möglichst viele Wege zu entwickeln, die in dieses Ziel einmünden. Man spricht hier auch von einer Einengung oder von einem bewussten Zusammenführen der Gedanken (konvergentes Denken), da nur solche
Abb. 3.13 Entwicklung von Welle-Nabe-Verbindungen nach der Methode des Vorwärtsschreitens
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Gedanken verfolgt werden, die zum Ziel führen bzw. im Ziel zusammenlaufen. Dieses Vorgehen ist typisch beim Erstellen von Arbeitsplänen und Fertigungssystemen zur Bearbeitung eines fest vorgegebenen Werkstücks (Zielsituation). Dieser Methode kann auch das Vorgehen von Nadler (1967) zugeordnet werden, der zur Lösungssuche vorschlägt, ein ideales System aufzubauen, das die gestellten Anforderungen vollkommen erfüllt. Es dient dann als Richtschnur für die Entwicklung des geforderten Systems. Dabei wird ein Idealsystem nicht im eigentlichen Sinne entworfen, vielmehr existiert es als Bedingung, so z. B. ideale Umgebungsverhältnisse ohne irgendwelche Störeinflüsse. Im Folgenden wird dann schrittweise überprüft, welche Zugeständnisse gemacht werden müssen, um das theoretische Idealsystem in ein technologisch realisierbares System und schließlich in ein die konkreten Randbedingungen erfüllendes System zu überführen. Problematisch bei diesem Verfahren ist allerdings die Festlegung des „Ideals“, denn nicht für alle Funktionen, Systemelemente oder Baugruppen ist von vornherein der Idealzustand eindeutig erkennbar, insbesondere nicht, wenn sie in einem komplexen System verknüpft sind. Methode des Systematisierens Beim Vorliegen von kennzeichnenden Merkmalen besteht die Möglichkeit, durch systematische Variation ein mehr oder weniger vollständiges Lösungsfeld zu erarbeiten. Charakteristisch ist das Aufstellen einer verallgemeinernden Ordnung, wodurch erst eine vollständige Lösungsübersicht erreicht wird. Unterstützt wird dieses Vorgehen durch eine schematisierte Darstellung von Merkmalen und Lösungen. Auch vom arbeitswissenschaftlichen Standpunkt ist festzustellen, dass dem Menschen das Finden von Lösungen durch Aufbau und Ergänzung einer Ordnung leichter fällt. Arbeitsteilung und Zusammenarbeit Eine wesentliche arbeitswissenschaftliche Erkenntnis ist die Notwendigkeit einer Arbeitsteilung bei der Bearbeitung umfangreicher und komplexer Aufgabenstellungen. Eine solche Arbeitsteilung wird durch die ständig fortschreitende Spezialisierung immer notwendiger, sie ist aber auch durch die geforderten kurzen Bearbeitungszeiten erforderlich. Arbeitsteilung bedeutet aber auch interdisziplinäre Zusammenarbeit, wozu organisatorische und personelle Voraussetzungen, unter anderem die Aufgeschlossenheit des Einzelnen gegenüber Anderen, gegeben sein müssen. Es sei aber betont, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit und Teamarbeit umso mehr die Schaffung klarer Verantwortlichkeiten erfordern. So ist beispielsweise in der Industrie die Stellung des sog. Produktmanagers entstanden, der über die Abteilungsgrenzen hinweg die alleinige Verantwortung für die Entwicklung eines Produkts trägt. Methodisches Vorgehen, gepaart mit Methoden, die gruppendynamische Effekte nutzen, wie z. B. Brainstorming, Galeriemethode (vgl. Kap. 10) und Beurteilungen durch eine Gruppe (vgl. Kap. 11) helfen, durch Arbeitsteilung entstandene Informationsdefizite abzubauen und eine gegenseitige Anregung bei der Lösungssuche zu verstärken.
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Der Produktentwicklungsprozess Kilian Gericke, Beate Bender, Gerhard Pahl, Wolfgang Beitz, Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote
Produktentwicklung erfordert Kooperation. Für die Entwicklung komplexer technischer Produkte sind Fachkenntnisse aus unterschiedlichen Disziplinen erforderlich, die die Zerlegung des Problems in Teilprobleme, parallele Bearbeitung und Reintegration in eine Gesamtlösung erfordern (Abschn. 3.2). Produktentwicklung umfasst eine große Bandbreite möglicher Aktivitäten. Diese können von der Berechnung und Gestaltung einzelner Maschinenelemente wie Lager oder Schrauben über die Entwicklung von Baugruppen, Maschinen, Anlagen bis zur Ausarbeitung produktbegleitender Services reichen. Auch strategisch ausgerichtete Handlungsfelder wie die Konzeptionierung langfristiger Produktstrategien können zu den Aufgaben der Produktentwicklung gehören (Bender und Steven 2015, 2016; Gericke und Blessing 2012; Gericke et al. 2013b).
K. Gericke (*) Universität Rostock, Rostock, Deutschland B. Bender Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland J. Feldhusen Aachen, Deutschland K.-H. Grote Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_4
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Der Produktentwicklungsprozess beschreibt das Vorgehen beim Entwickeln eines Produkts. Produktentwicklungsvorhaben werden üblicherweise als Projekte durchgeführt (Kap. 17). Der Arbeitsablauf besteht aus Aktivitäten, die gemäß einer modellhaften, gedanklichen Logik aufeinander aufbauen. Das Modell ist angelehnt an das Vorgehen beim Lösen komplexer Probleme (Kap. 3) und daher für die Produktentwicklung allgemein gültig. Der konkrete Arbeitsablauf, d. h. die aufbau- und ablauforganisatorische Integration dieser Aktivitäten in einem Unternehmen dagegen müssen immer an den spezifischen Entwicklungskontext angepasst werden (Abschn. 4.5) und bilden somit die Grundlage für das Projektmanagement. Bei der Gestaltung von Produktentwicklungsprozessen gelten im Unterschied zu vielen anderen Prozessen, wie z. B. der Produktion, besondere Rahmenbedingungen. Die detaillierte Planung von Produktenwicklungsprozessen wird dabei durch Iterationen (Abschn. 3.1.3) und die mit dem Problemlösen verbundene Koevolution von Problem und Lösung (Abschn. 3.1.4) erschwert. Konkurrierende Ziele erfordern Kompromisse und der offene Lösungsraum, der eine Vielzahl möglicher Lösungen zulässt, erfordern wiederkehrend eine systematische Auswahl und Bewertung von Alternativen (Abschn. 3.2). Diese Rahmenbedingungen führen zu typischen Anforderungen an die Gestaltung von Produktentwicklungsprozessen. Die initiale Zieldefinition muss entwicklungsbegleitend regelmäßig entsprechend dem Erkenntnisfortschritt neu justiert werden können. Iterationen im Prozess müssen die Berücksichtigung neuer Erkenntnisse ermöglichen. Die Eigenschaftsabsicherung erfolgt entwicklungsbegleitend bereits für Teilergebnisse, um die Iterationsschleifen möglichst kurz zu halten. Je nach Zielsetzung und Betrachtungsschwerpunkt gibt es unterschiedliche Darstellungsformen des Produktentwicklungsprozesses, die beispielsweise auf bestimmte Anwendungsfelder wie die Mechatronik oder einzelne der genannten Prozessanforderungen wie die Eigenschaftsabsicherung abzielen. In Abschn. 4.3 wird ein Model des Produktentwicklungsprozess vorgestellt. In Abschn. 4.4 werden Ansätze zur Modellierung vorgestellt, die für die Anpassung des allgemeinen Models in (unternehmens-)spezifische Produktentwicklungsprozesse unter Berücksichtigung des individuellen Kontexts hilfreich sind (Abschn. 4.5). In Abschn. 4.6 wird ein Überblick über alternative Prozessmodelle gegen.
4.1 Produktlebenszyklus und Produktentstehungsprozess Der Produktlebenszyklus eines Produktes beschreibt die Phasen, die ein Produkt von der ersten Idee über die Realisierung den Gebrauch bis hin zur Außerbetriebnahme und dem Recycling oder der Weiterverwendung bzw. Wiederverwendung (Abb. 4.1) durchläuft. Basierend auf Informationen der Produktplanung beginnt die Produktentwicklung. Auf Grundlage der während der Entwicklung erstellten Dokumentation des Produktes erfolgt die Produktherstellung. Produktplanung, Produktentwicklung und Produktherstellung werden teils auch als Produktentstehung zusammengefasst. Diese Phasen
4 Der Produktentwicklungsprozess Abb. 4.1 Produktlebenszyklus und Einordnung der Produktentstehung (Bender und Gericke 2016)
59 Produktplanung Produktentwicklung
Produktrecycling
Beschaffung
Außerbetriebnahme
Produktherstellung
Nutzung Vertrieb
Produktentstehung
erfordern eine besonders enge Abstimmung der Prozesse und teils eine gemeinsame Konzeptionierung von Produkt und Produktionssystem (Gausemeier et al. 2018). Das realisierte Produkt wird genutzt und am Ende der Gebrauchsdauer außer Betrieb genommen. Das Produkt oder Bestandteile davon können nachfolgend ggf. in einem zweiten Nutzungszyklus wieder- oder weiterverwendet werden oder die verwendeten Materialien zur Herstellung neuer Produkte recycelt werden.
4.2 Modelle des physikalischen Produkts Der deutsche Begriff „konstruieren“ stammt vom Lateinischen „construere“ ab, was mit „aufbauen“ oder „errichten“ übersetzt werden kann. Zu Beginn der Industrialisierung wurden die Produkte von ein und derselben Person erdacht und hergestellt. Überlegungen zur Gestaltung wurden also direkt in Bauteile umgesetzt. Die Arbeitsteilung zwischen dem „Erdenken“ eines Produkts und dessen Herstellung machte eine modellhafte Abbildung der Überlegungen zur Gestaltung des Produkts erforderlich. Zur modellhaften Abbildung der dreidimensionalen Geometrie eines Bauteils werden bis heute zweidimensionale Zeichnungen nach genauen Regeln erstellt, s. Abb. 4.2. Der Modellierung des zu entwickelnden Produkts kommt in der Produktentwicklung eine zentrale Bedeutung zu, da das physikalische Produktmodell nicht nur die Externalisierung von Gedanken ermöglicht, sondern auch Teil vieler Analyseschritte ist sowie viele zusätzliche Informationen (Fertigung) transportieren kann. Damit stellt das Modell eine Grundlage für die Kommunikation zwischen den beteiligten Stakeholdern aus unterschiedlichen fachlichen Disziplinen dar. Die verschiedenen Eigenschaften eines Produkts werden mithilfe sehr unterschiedlicher Modelle wiedergegeben: die Geometrie über Zeichnungen, die Festigkeit über entsprechende Werkstoffgesetze usw. Der Erfolg beim Konstruieren hängt demnach sehr stark von der Wahl des richtigen Modells ab. Um eine Produkteigenschaft spezifisch, also für den gerade betrachteten Fall voraussagen zu können, müssen die allgemeingültigen Modelle mit den für die Anwendung spezifischen Daten versehen werden. In einer Zeichnung beispielsweise sind dies die genauen Abmaße, bei einem
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K. Gericke et al.
Abb. 4.2 Modellhafte Abbildung der Geometrie eines Bauteils (Schweißkonstruktion) durch eine Zeichnung
Werkstoffgesetz die genauen Werte für die Zugfestigkeit des gewählten Werkstoffs. Ein Arbeitsschritt beim Konstruieren besteht dann darin, das betreffende Modell, welches die betrachtete Eigenschaft abbilden kann, mit den aufgabenspezifischen Werten zu konkretisieren, um eine gesuchte Produkteigenschaft ermitteln zu können. Sehr häufig bedeutet dies beispielsweise, eine Formel (Modell) mit Werten (Daten) zu füllen und zu berechnen. Abb. 4.3 zeigt eine mögliche Anwendung eines einfachen Modells zur Modellierung der Reibkräfte eines Bauteils. Damit ein Produkt entsteht, muss natürlich eine ganze
Abb. 4.3 Ein Arbeitsschritt beim Konstruieren am Beispiel „Reibkraft bestimmen“
4 Der Produktentwicklungsprozess
61
Reihe solch kleiner Arbeitsschritte vollzogen werden. Letztlich ist es notwendig, jede Eigenschaft des Produkts durch ein entsprechendes Modell mit den zugehörigen Daten in einem Arbeitsschritt zu ermitteln. Durch die Summe all dieser Arbeitsschritte wird ein Produkt in seinen Eigenschaften modellhaft abgebildet. Die Summe aller Arbeitsschritte von der Produktidee bis zur Erzeugung der Fertigungsunterlagen wird als Produktentwicklungsprozess, bezeichnet. Die produktbeschreibenden Daten, die bei der Bearbeitung eines Modells verwendet werden, können, wie z. B. Werkstoffdaten, von außerhalb des Prozesses stammen und werden dann im Rahmen der Bearbeitung des Entwicklungsauftrags festgelegt. Typischerweise entstehen produktbeschreibende Daten aber auch im Prozess selbst als Ergebnis der Verarbeitung eines Modells.
4.3 Modell des Produktentwicklungsprozesses In den vorangegangenen Kapiteln sind die Grundlagen dargestellt. Basierend auf diesen Vorschlägen und Hinweisen wird ein für die Konstruktionspraxis branchenunabhängiges und allgemein anwendbares methodisches Vorgehen vorgestellt.
4.3.1 Allgemeiner Lösungsprozess In Abschn. 3.1.1 wurde dargelegt, dass Produktentwicklung als Problemlöseprozess betrachtet werden kann. Komplexe Probleme zeichnen sich durch folgende Merkmale aus (Dörner 1989; Schaub 2006): • Vernetztheit Vernetzung von Problem- und Lösungselementen untereinander, • Intransparenz unvollständige oder unklare Informationen zum Ausgangszustand sowie dem Weg, auf dem die Ziele erreicht werden können, • Dynamik das zu lösende Problem verändert sich während der Bearbeitung, • Neuartigkeit Neuartigkeit der Aufgabenstellung und Bekanntheit von Lösungen, • Vielzieligkeit Vielzahl von zu erreichenden, teils widersprüchlichen Zielen. Das Vorgehen beim Lösen derartiger Probleme folgt einem zyklischen Prozess, der neue Erkenntnisse sowie sich ändernde Ziele und Rahmenbedingungen berücksichtigt. Ein Beispiel für einen solchen Regelzyklus stellt das TOTE Schema dar (Miller et al. 1960, siehe Abschn. 3.1.1).
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K. Gericke et al.
Erkenntnisse der Denkpsychologie zeigen, dass wichtige Vorgehensprinzipien beim Lösen komplexer Probleme folgende sind (Abschn. 3.1.3 und 3.2): • die Iteration, d. h. das mehrmalige Durchlaufen (von Vorgehensschritten, jeweils auf einem neuen Erkenntnisstand) • das Zerlegen und Zusammenführen (von Problemen, Lösungen, Funktionen), • das Abstrahieren und Konkretisieren (von Problemen, Lösungen, Funktionen), • das Variieren und Einschränken (von Problemen, Lösungen, Funktionen), Die wesentliche Tätigkeit bei der Produktentwicklung und beim Lösen von Problemen und Aufgaben besteht in einem Vorgang der Analyse und in einem anschließenden Vorgang der Synthese und läuft in Arbeits- und Entscheidungsschritten ab. Dabei wird in der Regel vom Qualitativen immer konkreter werdend zum Quantitativen vorgegangen. Es werden im Folgenden Vorgehensweisen und Vorgehenspläne gezeigt, die für den allgemeinen Lösungsprozess als verbindlich und für die konkreteren Konstruktionsphasen als Vorgehenshilfen anzusehen sind. Mit ihrer Hilfe kann erkannt werden, was prinzipiell zu tun ist, wobei Anpassungen an die jeweilige Problemlage notwendig sind. Alle in diesem Buch dargestellten Vorgehenspläne sind daher als Handlungsempfehlungen aufzufassen, die der Logik des hier notwendigen technischen Handelns und der schrittweisen Lösungsentwicklung folgen. Sie sind nach Müller (1990) Prozessmodelle, die geeignet sind, das im komplexen Zusammenhang notwendige Vorgehen rational zu beschreiben und damit die Komplexität des Prozesses erfassbar und durchschaubar zu machen. Vorgehenspläne sind somit keine Beschreibung oder Festlegung des individuellen Denkprozesses, der durch in Abschn. 3.1.1 beschriebene Merkmale gekennzeichnet ist und auch von persönlichen Gegebenheiten mitbestimmt wird. Bei der praktischen Umsetzung der Vorgehenspläne in reale Abläufe vermischen sich operative Handlungsempfehlungen und individuelle Denkprozesse. Sie verdichten sich dann zum Planen, Handeln und Kontrollieren des eigenen Vorgehens, das sich sowohl an den allgemein gehaltenen Vorgehensplänen als auch an der jeweiligen Problemlage und an individuellen Erfahrungen orientiert. Vorgehenspläne sind in erster Linie Richtschnur und keine starre Vorschrift. Sie sind zwar vom Ablauf her sequentiell aufzufassen, denn es kann z. B. keine Lösung beurteilt werden, bevor sie nicht gefunden oder erarbeitet wurde. Andererseits sind Vorgehenspläne an die jeweilige Situation flexibel anzupassen. So können Arbeitsschritte übersprungen oder in einer anderen Reihenfolge abgearbeitet werden. Auch ist eine teilweise Wiederholung auf höherem Informationsniveau zweckmäßig oder erforderlich. Ferner kann in bestimmten Produktbereichen ein angepasster, spezieller Vorgehensplan auf der Basis der hier allgemein gehaltenen Pläne zutreffender oder hilfreicher sein. Ein Verzicht auf Vorgehenspläne würde aber angesichts des komplexen und mehrstufigen Ablaufs einer Produktentwicklung und des vielfältig notwendigen Methodeneinsatzes zu einem unüberschaubaren Chaos denkbarer Vorgehensweisen innerhalb
4 Der Produktentwicklungsprozess
63
eines Teams führen. Vorgehenspläne ermöglichen die Koordination der Aktivitäten aller Beteiligten und erlauben eine Kostenplanung für das Produktentwicklungsvorhaben selbst. Deswegen sind eine Orientierung über den Konstruktionsablauf und der zielgerichtete Einsatz von Einzelmethoden zu den in den Vorgehensplänen vorgeschlagenen Arbeits- und Entscheidungsschritten zweckmäßig und notwendig. Diese Tätigkeit des Entwickelns und Konstruierens wird nach Abschn. 3.1.2 als Informationsumsatz aufgefasst. Nach jeder Informationsausgabe kann es nötig werden, weitere Verbesserungen oder ein „Höherwertigmachen“ des Ergebnisses des gerade durchlaufenen Arbeitsschrittes vorzunehmen, d. h. er ist auf einer höheren Stufe an Informationsgehalt in einer Schleife nochmals zu durchlaufen und zu wiederholen, oder weitere Arbeitsschritte sind heranzuziehen, bis die nötige Verbesserung erzielt ist. Bei Produktentwicklungsvorhaben handelt es sich dabei um einen Iterationsvorgang, bei dem man sich der Lösung schrittweise nähert, bis das Ergebnis befriedigend erscheint. Er verläuft in einer sog. Iterationsschleife, die auch bei den elementaren Denkprozessen, z. B. nach dem TOTE-Schema, zu beobachten ist. Solche Iterationsschleifen sind fast immer erforderlich und treten innerhalb der Arbeitsschritte und zwischen ihnen auf. Der Grund liegt darin, dass häufig die Zusammenhänge komplex sind und die angestrebte Lösung daher nicht in einem Schritt gewonnen werden kann oder dass erst aus einem anderen, eigentlich nachfolgenden Arbeitsschritt Erkenntnisse für den vorhergehenden gewonnen werden müssen (vgl. Koevolution von Problem und Lösung, Abschn. 3.1.4). Die in den Vorgehensplänen angebrachten Iterationspfeile verweisen deutlich auf diesen Sachverhalt. Von einer starren, sequentiellen Arbeitsweise kann daher nicht gesprochen werden. Mit dem methodischen Vorgehen soll erreicht werden, dass solche Iterationsschleifen möglichst klein bleiben, um die Konstruktionsarbeit effektiv und zügig zu gestalten. Es wäre eine katastrophale Situation, wenn z. B. am Ende der Entwicklung eines Produkts noch einmal von vorn angefangen werden müsste, was einer Iterationsschleife über den ganzen Konstruktionsvorgang entsprechen würde. Die Gliederung in Arbeits- und Entscheidungsschritte stellt sicher, dass der notwendige und unlösbare Zusammenhang zwischen Zielsetzung, Planung, Durchführung (Organisation) und Kontrolle besteht (Beelich und Schwede 1983; Wahl 1969). Mit diesen grundsätzlichen Zusammenhängen lässt sich in Anlehnung an die Gedanken von Krick (1969) und Penny (1970) zum Vorgehen beim Lösen von Problemen bzw. Aufgaben ein Grundschema nach Abb. 4.4 aufstellen. Der gezeigte allgemeine Lösungsprozess gliedert sich in die Zielsuche, die Lösungssuche und die Lösungsauswahl (VDI 2221-1 2019). Jede Aufgabenstellung bewirkt zunächst eine Konfrontation, eine Gegenüberstellung von Problemen und bekannten oder (noch) nicht bekannten Realisierungsmöglichkeiten, d. h. es erfolgt eine Situationsanalyse. Wie stark eine solche Konfrontation ist, hängt vom Wissen, Können und der Erfahrung des Konstrukteurs und des Bereiches ab, in dem er tätig ist. In jedem Fall sind Informationen über Aufgabenstellung, Bedingungen, mögliche Lösungsprinzipien und bekannte ähnliche Lösungen nützlich. Dadurch wird im
64
K. Gericke et al.
Problem
Abb. 4.4 Allgemeiner Lösungsprozess, in Anlehnung an (VDI 2221-1 2019)
Situaonsanalyse
Zielsuche Zielformulierung Synthese von Lösungen
Lösungssuche Analyse von Lösungen Beurteilung
Lösungsauswahl Entscheidung Nachbereiten und Lernen
Lösung Allgemeinen die Konfrontation abgeschwächt und der Mut zur Lösungsfindung erhöht. Zumindest wird aber die Bedeutung der gestellten Anforderungen klarer erkannt. Eine anschließende Definition der wesentlichen Probleme (Wesenskern der Aufgabe) auf abstrakterer Ebene ermöglicht es, die Zielsetzung festzulegen und die wesentlichen Bedingungen zu beschreiben. Eine solche Zielformulierung ohne Vorfixierung einer bestimmten Lösung öffnet gleichzeitig die denkbaren Lösungswege, da durch den Vorgang der abstrahierenden Definition ein Freiwerden vom Konventionellen und ein Durchbruch zu außergewöhnlichen Lösungen gefördert wird. Anschließend ist die eigentlich schöpferische Phase zu sehen, die Synthese von Lösungen, in der Lösungsideen nach verschiedenen Lösungsmethoden entwickelt und mithilfe methodischer Anweisungen variiert und kombiniert werden. Der Synthese von Lösungen folgt die Analyse des Lösungsfelds. Eine Vielzahl von Varianten erfordert eine Beurteilung, die Grundlage zur Entscheidung für die anscheinend bessere Variante ist. Da die Ergebnisse des Denkens und des Konstruktionsablaufs stets einem Beurteilungsschritt unterworfen werden, entspricht er einer Kontrolle im Hinblick auf das zu erreichende Ziel.
4 Der Produktentwicklungsprozess
65
Entscheidungen führen zu grundsätzlichen Aussagen: • Die vorliegenden Ergebnisse sind hinsichtlich der Zielsetzung soweit befriedigend, dass der nächste Arbeitsschritt ohne Bedenken freigegeben werden kann (Entscheidung: ja, Freigabe des nächsten planmäßigen Arbeitsschrittes). • Angesichts des vorliegenden Ergebnisses ist die Zielsetzung nicht erreichbar (Entscheidung: nein, nächsten planmäßigen Arbeitsschritt nicht einleiten). • Wenn mit Wiederholung des Arbeitsschrittes (notfalls mehrere Arbeitsschritte) bei vertretbarem Aufwand ein befriedigendes Ergebnis aussichtsreich erscheint, so ist dieser auf höherer Informationsstufe zu wiederholen (Entscheidung: ja, Arbeitsschritt wiederholen). Für den Fall, dass die erzielten Ergebnisse eines Arbeitsschrittes nicht die Zielsetzung der vorliegenden Aufgabe treffen, ist es aber denkbar, dass sie bei modifizierter oder anderer Zielsetzung sehr interessant wären. Dann muss gefragt werden, ob im konkreten Fall eine Änderung der Aufgabenstellung möglich ist, oder ob das Ergebnis für andere Anwendungen genutzt werden kann. Dieser gesamte Ablauf von Zielsuche über Lösungssuche bis zur Lösungsauswahl wiederholt sich an den verschiedenen Stellen des Konstruktionsprozesses und findet jeweils auf unterschiedlichen Konkretisierungsstufen der zu entwickelnden Lösung statt. Um geeignete Vorgehensweisen zum Entwickeln von Produkten zu finden, können die Erkenntnisse über komplexes Problemlösen auf den Produktentwicklungsprozess übertragen werden. In einem Regelungszyklus werden die Ziele der Produktentwicklung durch Aktivitäten, die aus der Denk- und Handlungszyklen abgeleitet werden, in Ergebnisse transformiert. Konkretisiert man hierbei die Aktivitäten des allgemeingültigen Problemlöseprozesses zu Produktentwicklungsaktivitäten, entsteht ein allgemeines Vorgehensmodell der Produktentwicklung. Dies liefert eine grundsätzliche Logik, nach der im Allgemeinen beim Entwickeln von Produkten vorgegangen werden kann. Soll aus diesem allgemeinen Modell jedoch ein spezifischer Produktentwicklungsprozess für ein konkretes Produkt in einem bestimmten Unternehmen unter gegebenen Rahmenbedingungen abgeleitet werden, so sind dafür geltende Kontextfaktoren (siehe Abschn. 4.5) zu berücksichtigen.
4.3.2 Allgemeines Vorgehensmodell der Produktentwicklung Die Rahmenbedingungen für eine Produktentwicklung machen die Planung dreier Produktaspekte erforderlich: • Inhaltliche Planung des Entwicklungs-/Konstruktionsprozesses, • Zeitliche und terminliche Planung der Entwicklungs-/Konstruktionsarbeitsschritte, Kap. 17 • Kostenplanung des Produkts, um einen vorgegebenen Kostenrahmen einzuhalten. Kap. 21.
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K. Gericke et al.
Die Planungsinhalte und Umfänge sind dabei stark von der Aufgabenstellung abhängig, je nachdem, ob es sich um eine Neu-, Anpassungs- oder Variantenkonstruktion handelt. Nachfolgend wird ein allgemeines Modell des Produktentwicklungsprozesses vorgestellt, welches einen Ausgangspunkt und logischen Rahmen für die inhaltliche Planung, d. h. für die Planung des Vorgehens beim Entwickeln, darstellen soll. Das Modell erfordert eine Anpassung an den individuellen Kontext (Abschn. 4.5), sodass sich z. B. je nach Unternehmen und Entwicklungsaufgabe das daraus abgeleitete Prozessmodell unterscheiden wird, jedoch der gleichen Logik folgt. Während der Produktentwicklung werden die Eigenschaften des zu entwickelnden Produktes entsprechend eines vorher definierten Zielsystems festgelegt und dokumentiert (Kap. 7). Ergebnisse der Produktentwicklung können vielfältig sein: • Berechnungen wie z. B. Auslegungs- oder Nachweisrechnungen, • Simulationen wie z. B. geometrische Kollisionsbetrachtungen oder dynamische Schwingungsuntersuchungen, • CAD-Daten sowie daraus abgeleitete Zeichnungen, • Bewertungs- und Auswahllisten, z. B. für Konzeptvarianten, • Risiko- und Fehlerbetrachtungen, • Eingangsinformationen für Bedienungsanleitungen, Wartungs- und Instandhaltungspläne oder Montage- und Reparaturanleitungen. • Spezifikationen von (Teil-)Systemen, z. B. für den Einkauf. Die physikalische Repräsentation des Produkts in einem Produktmodell (siehe Abschn. 4.2) wird dabei ausgehend von der abstrakten Beschreibung zunehmend konkretisiert und je nach Aufgabenstellung bis zum Modell der physischen Gestalt weiterentwickelt. Die abstrakteste Beschreibung des Produktmodells besteht beim Start der Aktivitäten aus der Anforderungsbasis, die häufig (zunächst) als Anforderungsliste vorliegt (Kap. 7). Die konkreteste Darstellungsform des Produkts besteht aus dem Produktmodell, das neben den vollständigen Geometriedaten sämtliche Metadaten wie Werkstoff- und Fertigungsinformationen enthält (Kap. 19 und 25).
4.3.2.1 Hauptphasen der Produktentwicklung Entsprechend der gedanklichen Logik beim Problemlösen lässt sich der Produktentwicklungsprozess in die vier Hauptarbeitsphasen Klären der Aufgabe, Konzipieren, Entwerfen und Ausarbeiten untergliedern. Zu jeder dieser Hauptarbeitsphasen gehören typische Aktivitäten. Wie später erkennbar, ist in manchen Fällen eine scharfe Trennung dieser Hauptphasen nicht immer möglich, weil z. B. im Vorgriff Gestaltungsuntersuchungen bereits beim Konzipieren nötig sind oder beim Entwerfen bereits sehr detaillierte, fertigungstechnische Festlegungen getroffen werden müssen. Auch ist ein Rückgriff nicht immer
4 Der Produktentwicklungsprozess
67
Abb. 4.5 Hauptphasen des Produktentwicklungsprozesses und Begleitprozesse
zu vermeiden, wenn z. B. beim Entwerfen für erst dann erkennbare Nebenfunktionen prinzipielle Lösungen gesucht werden müssen. Dennoch ist die Unterteilung in Hauptphasen für die Planung, Ablaufgestaltung und Kontrolle des Entwicklungsprozesses immer hilfreich (Abb. 4.5). Die VDI 2221 Blatt 1 (2019) definiert in Einklang mit diesen Prozessphasen Aktivitäten der Produktentwicklung (siehe Tab. 4.1). Die in ihrer logischen Verknüpfung dargestellten Aktivitäten können in der Praxis teils parallel bearbeitet, mehrfach durchlaufen (Iteration) oder weiter unterteilt (Dekomposition) werden. Die Arbeitsergebnisse werden dabei schrittweise entsprechend dem fortscheitenden Erkenntnisstand verfeinert und überarbeitet. Während dieses iterativen Prozesses muss durch fortlaufende Eigenschaftsabsicherung sichergestellt werden, dass mit der verfolgten Lösung weiterhin das Erreichen der angestrebten Entwicklungsziele möglich ist. Klären der Aufgabe Basis der Entwicklungs-/Konstruktionsarbeiten ist die Aufgabenstellung. Unabhängig davon, ob die Aufgabe aus einem durch Produktplanung entstandenen Produktvorschlag oder aus einem konkreten Kundenauftrag stammt, muss die vorliegende Aufgabe vor Beginn der Produktentwicklung näher geklärt werden. Diese Klärung der Aufgabenstellung dient zur Informationsbeschaffung über die Anforderungen, die an das Produkt im Einzelnen gestellt werden, sowie über die bestehenden Bedingungen und deren Bedeutung. Das Ergebnis ist die informative Festlegung in einer Anforderungsliste. Die Aussagen und Festlegungen der Anforderungsliste sind auf die Belange der konstruktiven Entwicklung und der weiteren Arbeitsschritte zugeschnitten und abgestimmt. Die Anforderungsliste muss stets auf dem neuesten Stand gehalten werden, da von ihr die Freigabe zum Konzipieren und der weiteren Arbeit ausgehen können (Kap. 7 und 8).
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K. Gericke et al.
Tab. 4.1 Aktivitäten der Produktentwicklung, (VDI 2221-1 2019) Aktivitäten der PE
Beschreibung
Arbeitsergebnisse
1.
Klären und Präzisieren der Aufgabenstellung
Sammeln aller Informationen, Prüfen der Vollständigkeit, Ergänzen durch unternehmensinterne Anforderungen
Anforderungsliste, Lasten -/Pflichtenheft
2.
Ermitteln von Funktionen und deren Strukturen
Identifikation der Gesamtfunktion, Strukturieren in Teilfunktionen
Funktionale/logische Architektur(en)
3.
Suchen nach Lösungsprinzipien und deren Strukturen
Ermittlung physikalischer Effekte sowie geometrisch-stofflicher Merkmale auf Teilfunktionsebene
Prinzipielle Lösungskonzepte
4.
Bewertung und Auswahl
Kombination von Teillösungen zu Wirkstruktur(en), welche die prinzipielle Lösung beschreiben
Lösungskonzepte
5.
Gliedern in Module, Schnittstellendefinition
Zerlegen in (fachlich) handhabbare Systemarchitektur Teilsysteme inkl. Schnittstellen
6.
Gestalten der Module
Grobgestaltung der Module, u. U. parallele Bearbeitung
Vorentwürfe
7.
Integration des gesamten Produkts
Zusammenfügen der Module, Ergänzen und Feingestalten
Gesamtentwurf
8.
Ausarbeiten der Ausführungs- und Nutzungsangaben
Festlegung der fertigungstechnischen Realisierung, des Produktgebrauchs und der Außerbetriebsetzung
Produktdokumentation
9.
Querschnittsaufgaben
Validierung und Verifizierung von (Teil-)lösungen, Optimierung, Lösungsauswahl und Entscheidung
Konzipieren ist der Teil des Konstruierens, der nach dem Klären der Aufgabenstellung durch Abstrahieren auf die wesentlichen Probleme, Aufstellen von Funktionsstrukturen und durch Suche nach geeigneten Wirkprinzipien und deren Kombination in einer Wirkstruktur die prinzipielle Lösung festlegt. In vielen Fällen wird eine Wirkstruktur erst beurteilbar, wenn sie konkretere Gestalt annimmt. Diese Konkretisierung umfasst eine bestimmtere Vorstellung über vorzusehende Werkstoffe, meistens eine überschlägige Auslegung (Bemessung) sowie die Rücksichtnahme auf technologische Möglichkeiten. In der Regel erhält man dann erst ein beurteilungsfähiges Lösungsprinzip, das die Zielsetzung und bestehende Bedingungen im Wesentlichen berücksichtigt. Auch hier sind u. U. mehrere prinzipielle Lösungsvarianten denkbar.
4 Der Produktentwicklungsprozess
69
Die Darstellungsform einer prinzipiellen Lösung (Lösungsprinzip) kann sehr unterschiedlich sein. Bei festliegendem Bauelement genügt vielleicht schon die Blockdarstellung einer Funktionsstruktur, ein Schaltplan oder ein Flussdiagramm. In anderen Fällen reicht eine Strichskizze oder es muss zu einer grobmaßstäblichen Zeichnung gegriffen werden. Die Konzeptphase wird in mehrere Arbeitsschritte unterteilt. Diese Schritte sollen durchlaufen werden, damit von vornherein die Erarbeitung der bestmöglich erscheinenden prinzipiellen Lösung sichergestellt ist, denn die nachfolgende Arbeit des Entwerfens und Ausarbeitens kann grundlegende Mängel des Lösungsprinzips nicht oder nur schwer ausgleichen. Die erarbeiteten Lösungsvarianten müssen beurteilt werden. Erfüllen Varianten die Forderungen der Anforderungsliste nicht, werden sie gestrichen. Die übrigen werden nach Kriterien in einem zuvor festgelegten Verfahren bewertet. In dieser Phase beurteilt man vornehmlich nach technischen Gesichtspunkten, wobei die wirtschaftlichen auch schon grob berücksichtigt werden können. Man entscheidet sich aufgrund der Bewertung für das weiterzuverfolgende Konzept. Oft kann es sein, dass mehrere Varianten nahezu gleichwertig erscheinen und eine endgültige Entscheidung erst nach weitergehender Konkretisierung möglich ist. Auch können sich zu einem Lösungsprinzip mehrere Gestaltungsvarianten anbieten. Der Konstruktionsprozess wird dann auf der konkreteren Ebene des Entwerfens fortgesetzt. Entwerfen ist der Teil des Konstruierens, der für ein technisches Gebilde von der Wirkstruktur bzw. prinzipiellen Lösung ausgehend die Baustruktur nach technischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten eindeutig und vollständig erarbeitet. Das Entwerfen ist ausgehend von den qualitativen Vorstellungen, die quantitative gestalterische Festlegung der Lösung. In vielen Fällen wird man mehrere maßstäbliche Entwürfe neben- oder nacheinander im Sinne vorläufiger Entwürfe anfertigen müssen, um zu einem besseren Informationsstand über Vor- und Nachteile der Varianten zu gelangen. Dazu dient diese Phase, die nach entsprechender Durcharbeitung wiederum mit einer technisch-wirtschaftlichen Bewertung abgeschlossen werden muss. Dabei werden wiederum neue Erkenntnisse auf höherer Informationsebene gewonnen. Ein typischer Vorgang ist dabei, dass die favorisierte Lösungsvariante durch Teillösungen anderer, nicht ausgewählter Varianten ergänzt oder verbessert wird. Durch entsprechende Kombination und Übernahme solcher Teillösungen sowie durch Beseitigen von Schwachstellen, die durch die Bewertung auch offenbart werden, kann dann die endgültige Lösung gewonnen werden und die Entscheidung für die abschließende Gestaltung des endgültigen Gesamtentwurfs fallen. Der endgültige Gesamtentwurf ermöglicht schon eine Kontrolle der Funktion, der Haltbarkeit, der räumlichen Verträglichkeit usw. wobei sich die Anforderungen nun spätestens hier als erfüllbar darstellen müssen. Erst dann ist die Freigabe zur Ausarbeitung zulässig.
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K. Gericke et al.
Ausarbeiten ist der Teil des Konstruierens, der die Baustruktur eines technischen Gebildes durch endgültige Vorschriften für Form, Bemessung und Oberflächenbeschaffenheit aller Einzelteile, Festlegen aller Werkstoffe, Überprüfung der Herstellmöglichkeit sowie der endgültigen Kosten ergänzt und die verbindlichen zeichnerischen und sonstigen Unterlagen für seine stoffliche Verwirklichung schafft (ADKI 1966), vgl. auch (VDI 2223 2004). Das Ergebnis des Ausarbeitens ist die herstellungstechnische Festlegung der Lösung. In dieser Phase wird die Gestaltung des Produkts mit der endgültigen Festlegung der Geometrie durchgeführt. Es werden also die erforderlichen Fertigungsoperationen im Detail bestimmt. Die Funktionssicherheit und die Produktkosten werden stark beeinflusst.
4.3.2.2 Vorgehensmodell Basierend auf den in Tab. 4.1 beschriebenen Aktivitäten und der Beschreibung der Hauptphasen der Produktentwicklung wird ein allgemeines Vorgehensmodell der Produktentwicklung vorgeschlagen (siehe Abb. 4.6). Das gezeigte Vorgehensmodel stellt die logische Abfolge der Hauptarbeitsschritte dar. Ziel der Darstellung ist nicht die Planung und Organisation des Projektablaufs eines konkreten Entwicklungsprojekts. Vielmehr geht es um eine allgemeine Darstellung der Logik des Vorgehens. Die konkrete Umsetzung von Aktivitäten des modellhaft dargestellten Produktentwicklungsprozess kann in Abhängigkeit von der Zielstellung und dem inhaltlichen Schwerpunkt sehr unterschiedlich gestaltet werden. Grundsätzliche Modellierungsansätze finden sich in (Abschn. 4.4). Ein Ansatz zur Umsetzung in Projektpläne wird in Kap. 17 vorgestellt. In Abhängigkeit von der Aufgabe und dem Entwicklungskontext werden die Aktivitäten in realen Produktentwicklungsprozessen in unterschiedlicher Art und Weise durchlaufen. Einzelne Aktivitäten können auch mehrmals durchgeführt werden oder ganz entfallen. Die resultierenden verschiedenen Vorgehensstrategien zum Bearbeiten der in Phasen gegliederten Aktivitäten der Produktentwicklung lassen sich gemäß Abb. 4.7 unterscheiden in: schrittweise sequentiell (a), zyklisch (b), phasenweise wiederholend (c) und phasenweise konkretisierend (d) (Blessing 1994). Es ist leicht nachvollziehbar, dass im Rahmen dieser Beschreibung stark verallgemeinert werden muss. In der Praxis ist eine klare Trennung der Arbeitsschritte und ihrer Ergebnisse nicht immer erkennbar und auch nicht erforderlich. Im Sinne eines „roten Fadens“ ist es aber auch für Ingenieure in der Praxis sinnvoll, sich die geschilderten Abläufe und Arbeiten bewusst zu machen, um zum einen nichts zu vergessen und zum anderen die Arbeit besser planen zu können.
4 Der Produktentwicklungsprozess
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Akvitäten Ziele Entwicklungsaurag
Klären und Präzisieren des Problems bzw. der Aufgabe Ermieln von Funkonen und deren Strukturen Suchen nach Lösungsprinzipien und deren Strukturen Bewerten und Auswählen von Lösungskonzepten Gliedern in Module, Schnistellendefinion
Verfeinerte und ergänzte Anforderungen
Phasen Ergebnisse
Klären der Aufgabe
Anforderungen
Funkonsmodelle
Prinzipielle Lösungskonzepte
Konzipieren
Lösungskonzept
Systemarchitektur
Gestalten der Module Teilentwürfe
Entwerfen
Integrieren des gesamten Produkts Ausarbeiten der Ausführungs- und Nutzungsangaben
Gesamtentwurf
Produktdokumentaon
Ausarbeiten
… …
virtuell physisch
Absichern von Ergebnissen
Abb. 4.6 Allgemeines Vorgehensmodell der Produktentwicklung
Das Herstellen von Modellen und Prototypen ist eine wichtige Aktivität zur Informationsgewinnung und -absicherung und kann jederzeit sofern erforderlich und wirtschaftlich vertretbar durchgeführt werden. In vielen Fällen sind Modelle und Prototypen schon in der Konzeptphase angebracht, besonders dann, wenn sie grundsätzliche Fragen klären sollen. Die Feinwerktechnik, Elektronik und Firmen der Großserie machen davon Gebrauch. Im Großmaschinen- und Anlagenbau als Einzelfertigung sind aus Gründen der Durchführung, des Kosten- und Zeitaufwandes nur als Kundenlieferung denkbar. Dagegen können Prototypen für neu zu entwickelnde Maschinenoder Anlagenteile zur Beurteilung von Detailproblemen an vorhandenen Maschinen oder Anlagen oder in geeigneten Versuchseinrichtungen untersucht werden. Im Kleinserienbau hingegen wird im Normalfall ein Stück mit entsprechendem zeitlichem Vorlauf gefertigt, um evtl. auftretende Probleme bis zum Serienanlauf beheben zu können. Dieses vorabgefertigte Produkt wird ebenfalls vermarktet.
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K. Gericke et al. Akvitäten 1 2 3
c
1
1
2
Phasen
Phasen
a
3 4 seriell
4 Phasen und Akvitäten wiederholend Akvitäten 1 2 3
d 1 2
Phasen
Akvitäten
b
2 3
3 zyklisch
1 2 3 4
Phasen und Akvitäten und Lösungsraum konzentrisch
Abb. 4.7 Vorgehensstrategien (Blessing 1994)
In der Praxis stehende Konstrukteure werden beim Betrachten der geschilderten Vorgehensweise und der in den nachfolgenden Kapiteln dargestellten Methoden möglicherweise einwenden, dass so viele Arbeitsschritte aus zeitlichen Gründen nicht eingehalten werden können. Dabei sollte aber doch Folgendes bedacht werden: • Die Beschreibung der Arbeitsschritte basiert nicht nur auf theoretischen Modellen, sondern auch auf praktischer Erfahrung und deren Sinnhaftigkeit wurde schon mehrfach untersucht und prinzipiell nachgewiesen (Badke-Schaub und Frankenberger 1999; Bender 2004; Pahl et al. 1999; Rückert 1997) • Konstrukteure sind in der Regel schon jetzt den beschriebenen Weg gegangen, jedoch wurden manche Schritte unbewusst durchlaufen und häufig zum Nachteil für das Ergebnis zu stark zusammengefasst oder zu rasch übersprungen. • Das bewusst schrittweise Vorgehen verleiht dagegen Sicherheit, nichts Wesentliches vergessen oder unberücksichtigt gelassen zu haben. Der gewonnene Überblick über mögliche Lösungswege ist dabei recht breit und fundiert. Bei der Suche nach neuen Lösungen, d. h. bei Neukonstruktionen, empfiehlt sich daher das schrittweise Vorgehen ausnahmslos. • Bei der Anpassungskonstruktion wird man auf bekannte Vorbilder zurückgreifen können und nur dort das geschilderte Vorgehen einsetzen, wo es sich als zweckmäßig und notwendig erweist. Bei einer Detailverbesserung wären also die Anforderungsliste, die Lösungssuche, die Bewertung usw. auf diese Teilaufgabe beschränkt. • Wird von Konstrukteuren ein besseres Ergebnis erwartet, so sollte es durch methodisches Vorgehen angestrebt werden, wofür auch die angemessene Zeit
4 Der Produktentwicklungsprozess
73
zugebilligt werden muss. Eine solche Zeit ist durch Offenlegen und Befolgen der genannten Arbeitsschritte besser zu überschauen und abzuschätzen. Nach den bisherigen Erfahrungen ist der Zeitaufwand für schrittweises Vorgehen im Vergleich zu den konventionellen Tätigkeiten relativ klein.
4.3.3 Begleitprozesse der Produktentwicklung Die Produktentwicklung hat eine wichtige Aufgabe innerhalb eines Unternehmens und weist zahlreiche Wechselwirkungen zu anderen Funktionen innerhalb des Unternehmens auf. Produktenwicklungsprozesse müssen eng mit vor- und nachgelagerten Aktivitäten und auch mit parallel ablaufenden Aktivitäten abgestimmt werden. Typische sogenannte Begleitprozesse sind: • Projektmanagement, • Organisationsentwicklung, • Risikomanagement, • Produktdokumentation, • Änderungswesen, • Anforderungsmanagement, • Konfigurationsmanagement, • Produktmanagement, • Normung und Standardisierung, • Kostenmanagement, • Patentwesen, oder • Fertigungsplanung und Beschaffung. Dies sind nur beispielhaft genannte häufig vorkommende Begleitprozesse. In ISO 15288 (ISO/IEC/IEEE 15288 2015) werden 25 Teilprozesse in den Prozessgruppen technische Prozesse, Projektprozesse, organisatorische Projektunterstützungsprozesse und Vertragsprozesse genannt. Die konkreten Wechselwirkungen und Überschneidungen mit dem Produktentwicklungsprozess variieren dabei jedoch zwischen Unternehmen. Die Einbettung des Produktentwicklungsprozesses in eine Prozesslandschaft hat zur Folge, dass umfangreiche Kooperationen zwischen verschiedenen Fachdisziplinen und Unternehmensfunktionen sowie eine übergeordnete Koordination von Terminen und Ressourcen erforderlich sind. Für die operative Gestaltung von Produktentwicklungsprozessen bedeutet dies, dass sowohl fachliche als auch organisatorische Schnittstellen zwischen beteiligten Prozessen und Personen bekannt sein und berücksichtigt werden müssen.
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K. Gericke et al.
4.4 Erstellung und Gebrauch von Prozessmodellen Produktentwicklung ist kein isolierter Prozess, sondern wie zuvor erläutert eng verzahnt mit anderen Prozessen und Funktionen im Unternehmen (Maier und Störrle 2011). Verschiedene Stakeholdergruppen (z. B. unternehmensexterne Partner, andere Unternehmensfunktionen aber auch Personen mit verschiedenen Funktionen innerhalb eines Entwicklungsteams) haben unterschiedliche Sichten auf den Prozess bzw. sind in unterschiedlicher Weise an der Durchführung des Prozesses beteiligt. Dies bedeutet, dass sie einen unterschiedlichen Informationsbedarf haben. Zulieferer und andere Unternehmensbereiche sind z. B. an Terminen und Schnittstellen zwischen dem Produktentwicklungsprozess und Begleitprozessen interessiert während Mitglieder des Entwicklungsteams ein detailliertes Verständnis der Abhängigkeiten zwischen Einzelaktivitäten und Verantwortlichkeiten haben müssen. Jede Gruppe hat eine eigene Sichtweise und jede dieser Sichtweisen ist für die erfolgreiche Bearbeitung des Projektes von Bedeutung (Browning 2009; Gericke und Blessing 2012). Der unterschiedliche Informationsbedarf verschiedener Stakeholdergruppen resultiert aus den unterschiedlichen Zwecken, für die ein Prozessmodell jeweils verwendet werden soll. Mögliche Verwendungszwecke von Prozessmodellen in der Produktentwicklung sind z. B. (nach Browning et al. 2006): • Prozessvisualisierung: zur Darstellung und Kommunikation von Aktivitäten, Abhängigkeiten, und Zuständigkeiten • Prozessplanung: Auswahl von Aktivitäten, Prozessgestaltung und Strukturierung, Koordination von Zuständigkeiten und Ressourcen, Abschätzung und Optimierung von Kennwerten (z. B. Kosten, Dauer, etc.) • Prozessdurchführung und Kontrolle: Fortschrittsbeurteilung, Prozesskorrektur und -änderung, Ressourcenkontrolle • Prozessverbesserung: kontinuierliche Verbesserung des Prozesses, Wissensmanagement, Schulung von Mitarbeitern, Prozessdokumentation und Qualitätssicherung Da jedes Modell nur einen Teilaspekt der Realität abbildet, also eine schematische Vereinfachung darstellt, sollte je nach Verwendungszweck ein geeignetes Model erstellt und verwendet werden, dass die jeweils notwendigen Informationen beinhaltet (Browning 2010; Browning et al. 2006; Eckert und Stacey 2010). Dafür steht eine Vielzahl spezialisierter Modellierungsansätze zur Verfügung, z. B.: Integrated Definition Method (IDEF0, IDEF3) (Knowledge Based Systems Inc. 2010), Gantt Diagramm (Gantt 1919), Netzplantechniken (Kerzner und Grau 2008), Design Structure Matrix (DSM) (Eppinger und Browning 2012) und Signposting (Clarkson und Hamilton 2000). Die in den Modellen beinhalteten Informationen variieren zwischen den einzelnen Modellierungsansätzen teils erheblich. Das Spektrum der Informationen die ein detailliertes Prozessmodell umfassen kann beinhaltet z. B. (Browning 2009; Browning et al. 2006; Kreimeyer 2009):
4 Der Produktentwicklungsprozess
75
• Verantwortlichkeit (Personen, Rollen, Abteilungen), • Umfang von Aktivitäten (Dauer, benötigte Ressourcen), • Abhängigkeiten zwischen Aktivitäten, • Termine, • Arbeitsfortschritt, • Arbeitsergebnisse (Attribute der Ergebnisse, Dokumente, etc.), • Vertrauensniveau in Vorhersagen zu Dauer, Kosten etc. von Einzelaktivitäten. Reale Produktentwicklungsprozesse sind komplex, stark iterativ und beeinflusst durch den Entwicklungsgegenstand sowie das Prozessumfeld (Eckert und Clarkson 2005; Gericke et al. 2013a; Kreimeyer 2009; Maier und Störrle 2011). Sie unterscheiden sich von Fertigungsprozessen und typischen Geschäftsprozessen durch eine höhere Dynamik und Variabilität (Reinertsen 1998; O’Donovan et al. 2005; Vajna 2005). Diese Eigenschaften stellen für die Modellierung von Entwicklungsprozessen eine besondere Herausforderung dar. Prozessmodelle zeichnen sich häufig dadurch aus, dass der Dynamik und Variabilität realer Prozesse nur in teils stark idealisierter und vereinfachter Weise Rechnung getragen wird. Dies erfordert beim Lesen von Prozessmodellen Flexibilität und Interpretationsvermögen. Eine klare Kommunikation des intendierten Verwendungszwecks des Modells, sowie die Angabe vereinfachender Annahmen verringern die Gefahr der Fehlinterpretation solcher Modelle. Einen weiteren Ansatz zur Modellierung von Produktentwicklungsprozessen stellt das Integrierte Produktentstehungsmodell IPeM dar (Albers und Braun 2011). In diesem Modell wird explizit die Verknüpfung von Management- und Entwicklungsperspektive adressiert. Dazu werden das Zielsystem, das Handlungssystem und das Objektsystem als miteinander wechselwirkende Teilsysteme betrachtet (Negele et al. 1999). Das Zielsystem beschreibt alle zu erreichenden Ziele, Bedingungen und Wechselwirkungen. Das Objektsystem enthält alle Dokumente und Artefakte, die als Teillösungen während des Entstehungsprozesses anfallen, wobei das zu entwickelnde Produkt Teil des Objektsystems ist. Das soziotechnische Handlungssystem verknüpft beide Systeme miteinander und besteht aus strukturierten Aktivitäten, Methoden und Prozessen. Die Aktivitäten der Produktentwicklung sind folglich Teil des Handlungssystems. Sie werden aus Problemlöseaktivitäten abgeleitet und umfassen Systemanalyse, Problemeingrenzung, alternative Lösungen, Lösungsauswahl, Tragweitenanalyse, Entscheiden und Umsetzen, Nachbereiten und Lernen. IPeM bietet eine Darstellungsweise, die eine einfache Anpassung des Handlungssystems an den spezifischen Kontext ermöglicht.
4.5 Entwicklung kontextspezifischer Produktentwicklungsprozesse Das im vorangegangenen Abschnitt vorgestellte allgemeine Modell der Produktentwicklung Abb. 4.6 stellt logische Zusammenhänge zwischen Aktivitäten und Arbeitsphasen in der Produktentwicklung dar. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge hilft dabei zu verstehen, welche
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K. Gericke et al.
Akvitäten Ziele Entwicklungsaurag
Phasen Klären der Aufgabenstellung
Konzipieren
Klären und Präzisieren des Problems bzw. der Aufgabe
Ausarbeiten
Ergebnisse Anforderungen
Ermieln von Funkonen und deren Strukturen Suchen nach Lösungsprinzipien und deren Strukturen Bewerten und Auswählen von Lösungskonzepten Gliedern in Module, Schnistellendefinion
Verfeinerte und ergänzte Anforderungen
Entwerfen
Funkonsmodelle
Prinzipielle Lösungskonzepte
Lösungskonzept
Systemarchitektur
Gestalten der Module Teilentwürfe
Integrieren des gesamten Produkts Ausarbeiten der Ausführungs- und Nutzungsangaben …
Gesamtentwurf
Produktdokumentaon
…
virtuell physisch
Absichern von Ergebnissen
Abb. 4.8 Grundform des Vorgehensmodell in Phasendarstellung
Probleme im Allgemeinen beim Entwickeln von Produkten in welcher logischen Abfolge gelöst werden müssen. Soll daraus jedoch ein Ablaufplan für einen konkreten Entwicklungsprozess unter gegebenen Rahmenbedingungen modelliert werden, müssen dafür viele weitere Einflussfaktoren berücksichtigt werden. Diese lassen sich ableiten aus den Wechselwirkungen im Zielsystem der Produktentwicklung, die für jede Produktentwicklung gelten. Das Zielsystem besteht aus produktspezifischen Zielen, Terminzielen und Kostenzielen. Die Anpassung des allgemeinen Modells der Produktentwicklung zu einem kontextspezifischen Produktentwicklungsprozess ist Voraussetzung, um die Aktivitäten im Sinne eines operativen Vorgehensmodells zur Unterstützung der Ablaufplanung anzuordnen und ggf. auch Ressourcen zuzuweisen (vgl. Kap. 17). Die Darstellung des in Abb. 4.8 gezeigten Vorgehensmodells basiert auf dem allgemeinen Vorgehensmodell gemäß Abb. 4.6 sowie VDI 2221 und den Aktivitäten der Produktentwicklung gemäß Tab. 4.1. Es nutzt die Darstellungsweise des integrierten Produktentstehungsmodells (iPeM) gemäß Albers und Braun (2011). Das gezeigte Phasenmodell (rechte Seite, grau hinterlegte Box) hat keinen präskriptiven Anspruch, sondern zeigt nur beispielhafte wie ein Phasenmodell dargestellt werden kann. Ausgangspunkt für die Prozessgestaltung stellen die allgemein formulierten Hauptphasen der Produktentwicklung (Abb. 4.5) sowie der allgemeine Problemlöseprozess (Abb. 4.4) dar. Ausgehend von dieser Grundstruktur (siehe Abb. 4.9) erfolgt die Anpassung der allgemeinen Aktivitäten für einen spezifischen Entwicklungsprozess (VDI 2221-2, 2019) durch:
4 Der Produktentwicklungsprozess
Akvitäten
Phase 1
Querschnisprozesse
1
77
Phase 2
Phase 3
Phase 4
Begleitprozesse Produktplanung Klären und Präzisieren des Problems bzw. der Aufgabe
7
Ermieln von Funkonen und deren Strukturen
3
6
Suchen nach Lösungsprinzipien und deren Strukturen Bewerten und Auswählen von Lösungskonzepten
4 5
Gliedern in Module, Schnistellendefinion Gestalten der Module Integrieren des gesamten Produkts Ausarbeiten der Ausführungs- und Nutzungsangaben weitere Akvitäten
2
virtuell physisch
Absichern von Ergebnissen Herstellungsplanung Herstellung Vertrieb, Markeng Betrieb, Instandhaltung Produktablösung
Abb. 4.9 Schematische Darstellung der Anpassungsmöglichkeiten des allgemeinen Vorgehensmodells der Produktentwicklung, gemäß (VDI 2221-2 2019)
1. Umbenennung von Aktivitäten und Phasen (Nutzung der Unternehmensinternen Terminologie) 2. Ergänzung relevanter Aktivitäten/Verzicht auf einzelne Aktivitäten 3. Untergliederung von Aktivitäten (sequentielle Gliederung) 4. Vorziehen von Aktivitäten 5. Parallelisierung von Aktivitäten (parallele Gliederung) 6. Iteration von Aktivitäten 7. Aufgliederung des Prozesses für verschiedene Gewerke und/oder Zulieferer in Teilprojekte In Abhängigkeit vom Entwicklungskontext werden diese Aktivitäten in unterschiedlicher Intensität, Häufigkeit und Reihenfolge durchlaufen. Der Entwicklungskontext kann mittels verschiedener Kontextfaktoren beschrieben werden. Diese lassen sich dabei aufgrund ihrer Vielzahl und Wechselwirkungen untereinander nicht in Form von
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K. Gericke et al.
Abb. 4.10 Ebenen der Beschreibung des Produktentwicklungskontexts (Hales und Gooch 2004)
Ursache-Wirkungsbeziehungen in Prozessmerkmale umsetzen. Basierend auf einer Analyse empirischer Studien wurde eine umfangreiche Liste von Kontextfaktoren identifiziert (Gericke et al. 2013a). Diese können gemäß Hales und Gooch (2004) in fünf Ebenen unterteilt werden die interne und externe Faktoren unterscheiden lassen (siehe Abb. 4.10). Die VDI 2221 Blatt 2 (2019) beschreibt eine Auswahl der Faktoren mit der größten Bedeutung für die Anpassung des allgemeinen Vorgehensmodells an den Kontext eines konkreten Unternehmens. Die folgenden Gruppen von Kontextfaktoren sind für die Prozessgestaltung häufig von Bedeutung: • Markt, • Kunde, • Produktion, • Zulieferer, • Innovationswesen, • Projektmanagement, • Erwartung an Entwicklungsergebnisse, • Entwicklungsauftrag, • Einsatz von Methoden und Tools, • Fertigungstechnologie, Stückzahlen. Eine Auswahl verschiedener Prozesse und der kontextspezifischen Besonderheiten wird in VDI 2221, Blatt 2 gemäß dieser Logik beschrieben. Tab. 4.2 zeigt eine Übersicht der dort dargestellten Fälle.
Groß >100.000
Fertigungstechnologie, Stückzahl
Groß >100.000
Etabliert in vielen Anwendungsgebieten
Etabliert in vielen Anwendungsgebieten 1
Ausgewählte Methoden
1–10
>20.000
Wenige, ausEtabliert in vielen gewählte Methoden Anwendungsgebieten
Elektrogeräte, Gesamtsystem
Einsatz von Methoden und Tools
Verpackungsmaschinen, Gesamtsystem
Automobil, Gesamtsystem
Automobil, Teilsystem
Entwicklungsauftrag
Verpackungsanlagen, Gesamtsystem
Verbesserung nach Verbesserung nach Verbesserung nach Auslieferung mög- Auslieferung mög- Auslieferung mit lich lich hohen Kosten verbunden
Verbesserung nach Auslieferung mit extrem hohen Kosten verbunden
Erwartung an Verbesserung nach Entwicklungsergeb- Auslieferung mit nisse extrem hohen Kosten verbunden
Bis 1 Jahr, bis 30 Personen, Simultaneous Engineering
Wenige spezialisierte
Sehr hoch, zum Erlernen
Mechatronische Systeme
Kein Anspruch an Serienreife
4 Monate, 7 Personen, agile Projektorganisation
Wenige spezialisierte
Eigene und geringe Keine, nur Protofremde Produktion typen
Bis zu 6 Monate, Bis 1 Jahr, 10 bis 15 Personen bis 10 Personen
Wenige spezialisierte
Studentisches Entwicklungsprojekt
Primär B2B, global B2B, national
4–6 Jahre, >500 Personen, Simultaneous Engineering
Tier-1, breites OEM, breites Wenige Zulieferernetzwerk Zulieferernetzwerk spezialisierte
Zulieferer
Eigene Produktion
B2B, global
Hersteller von Elektrogeräten
Projektmanagement 2–4 Jahre, >50 Personen, Simultaneous Engineering
Eigene und fremde Eigene und fremde Eigene Produktion Produktion Produktion
B2B, Europa
Produktion
B2C, global
Maschinenbauunternehmen Standard- und Sondermaschinenbau
B2B, global
Automobilhersteller
Markt
Automobilzulieferer
Tab. 4.2 Übersicht beispielhaft beschriebener Produktentwicklungsprozesse gemäß (VDI 2221-2 2019)
4 Der Produktentwicklungsprozess 79
80
K. Gericke et al.
4.6 Alternative Prozessmodelle Das hier vorgestellte allgemeine Vorgehensmodell für die Produktentwicklung stellt eine mögliche Form der Visualisierung des Produktentwicklungsprozesses dar. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer Modelle, die sich durch Umfang der berücksichtigten Lebenszyklusphasen, Detaillierung, Formalisierungsgrad und weitere Aspekte unterscheiden (siehe Abb. 4.11). Viele der zuvor beschriebenen Eigenschaften für das hier vorgestellte Vorgehensmodell lassen sich auch auf andere Prozessmodelle übertragen (Gericke und Blessing 2012).
4.6.1 Klassifizierung Modelle des Entwicklungsprozesses lassen sich in verschiedene Gruppen unterscheiden. Modelle können phasenbasiert oder aktivitätenbasiert sein (Blessing 1994; Lawson 1997), problemorientiert oder lösungsorientiert sein (Blessing 1996; Wynn und Clarkson 2005)
Abb. 4.11 Darstellungsformen des PEP (VDI 2221-1 2019)
4 Der Produktentwicklungsprozess
81
Abb. 4.12 Klassifizierung von Prozessmodellen (Wynn und Clarkson 2005)
oder auch in präskriptive und deskriptive Modelle unterschieden werden. Diese Klassifizierungen schließen sich nicht gegenseitig aus sondern stellen drei Dimensionen zur Unterscheidung prozeduraler Prozessmodelle dar. Weitere Formen von Prozessmodellen werden von Wynn und Clarkson beschrieben (2018) (Abb. 4.12). Phasenbasierte Vorgehensmodelle (z. B. Cooper 1994; Pugh 1991; Ulrich et al. 2019) gliedern den Entwicklungsprozess in Phasen, die den Entwicklungsfortschritt beschreiben. Aktivitätenbasierte Vorgehensmodelle (z. B. Jones 1970; Lawson 1997; Lindemann 2009; March 1984) beschreiben das Vorgehen auf Ebene der Aktivitäten, die beim Entwickeln durchlaufen werden. Eine weitere besteht Gruppe stellen kombinierte Modelle dar (z. B. Hall 1962; Hubka 1980; NASA 2007; Pahl und Beitz 1977; Roozenburg und Eekels 1995; Ullman 2010), die eine Kombination aus Phasen und teils sich wiederholender oder phasenspezifischer Aktivitäten vorschlagen (vlg. Abb. 4.7). Problemorientierte Modelle (z. B. Dym und Brown 2012; Ehrlenspiel und Meerkamm 2013; French 1999; Hubka 1980; Pahl und Beitz 1977; Ulrich et al. 2019) betonen im Gegensatz zu lösungsorientierten Vorgehensmodellen (z. B. Archer 1965; Asimov 1962; Ertas und Jones 1993; Pugh 1991) die Analyse des der Aufgabenstellung zugrundeliegenden Problems und eine damit verbundene Abstraktion der Aufgabenstellung. Deskriptive Modelle beschreiben in der Praxis beobachtetes Vorgehen in der Produktentwicklung. Präskriptive Vorgehensmodelle beschreiben, so wie auch das hier vorgestellte allgemeine Vorgehensmodell, ein idealisiertes Vorgehen mit dem Ziel den Prozess effektiver und effizienter zu gestalten (Blessing 1996). Sie kombinieren Erkenntnissen zu in der Praxis beobachteten erfolgreichen Strategien und Methoden. Der Übergang zwischen diesen Kategorien ist dabei oft nicht eindeutig (Wynn und Clarkson 2005), da sich das Vorgehen in der Praxis kontinuierlich weiterentwickelt.
82
K. Gericke et al.
4.6.2 Vergleich Die große Bandbreite möglicher Aktivitäten, insbesondere die Lösung komplexer Probleme sowie die interdisziplinäre, arbeitsteilige Bearbeitung dieser Probleme erfordern ein übergeordnetes methodisches Vorgehen aller Beteiligten. Dieses muss auf einem gemeinsamen Verständnis des Ziels und der Logik des Ablaufs basieren. In Prozessmodellen kann diese Logik mehr oder weniger allgemeingültig abgebildet werden. Branchen- und produktunabhängig ist dies mit Hilfe der Systemtechnik bzw. des Systems Engineering möglich. Disziplinspezifische Modelle existieren beispielsweise für den Maschinenbau (Cross 2008; French 1999; Pugh 1991; Roozenburg und Eekels 1995; Ullman 2010; Ulrich et al. 2019), die Softwareentwicklung (Boehm 1988; Cockton und Gram 1996; Royce 1970) oder die Dienstleistungsentwicklung (Bullinger et al. 2003; Kim und Meiren 2010; Sakao und Shimomura 2007), ohne dabei auf ein spezielles Produkt zu fokussieren. Aufgrund der Forderung nach Allgemeingültigkeit sind diese Modelle abstrakt dargestellt. Sie beschreiben die Hauptphasen und Tätigkeitsfelder des Entwicklungsprozesses, deren Abhängigkeiten und die Zwischenergebnisse der Phasen und Aktivitäten (Bender und Gericke 2016; Gericke und Blessing 2012). Während sich die visuelle Erscheinung und die Terminologie der Vorgehensmodelle meist unterscheidet (vgl. Abb. 4.11) ist dennoch festzuhalten, dass sie auch deutliche Gemeinsamkeiten aufweisen und den grundsätzlichen Ablauf der Produktentwicklung ähnlich beschreiben. Gemeinsamkeiten zwischen disziplinspezifischen Prozessmodellen bestehen beispielsweise in der Einteilung des Entwicklungsprozesses in Entwicklungsphasen (siehe Tab. 4.3), die schrittweise iterativ zu bearbeiten sind.
4.6.3 Historie Der Produktentwicklungsprozess ist in Abhängigkeit von der Komplexität des Produkts und des Entwicklungskontexts häufig selbst sehr komplex. Seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurden deshalb Anstrengungen unternommen, diesen Prozess zu systematisieren und mit Hilfe von unterstützenden Arbeitstechniken, den Methoden, zielgerichtet ausführen zu können. So wurde im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts eine Konstruktionsmethodik entwickelt, die dies leisten soll und kann. Die folgende Darstellung der Entwicklung der Konstruktionsmethodik stellt eine Zusammenfassung von Bender (2004) dar. Eine sehr gute und ausführliche Darstellung findet sich auch in Heymann (2005). Bereits sehr früh wurde versucht, einen allgemein gültigen Produktentwicklungsprozess modellhaft abzubilden. Die ersten Überlegungen hierzu machte Reuleaux (1875) zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Er stellte ein modellhaftes Verfahren zur kinematischen Synthese vor. Erste Ansätze zu einem systematisch strukturierten Produktentwicklungsprozess hat Wögerbauer (1942) geliefert. Er betont
4 Der Produktentwicklungsprozess
83
Abb. 4.13 Konstruktionsprozess nach Wögerbauer (1942)
bereits die Bedeutung einer geklärten Aufgabenstellung und geht von mehreren Lösungsalternativen sowie einer Lösungsauswahl auf Basis einer Bewertung aus, s. Abb. 4.13. Mit den Hauptschritten seines Modells des Entwickelns und Konstruierens nennt er im Wesentlichen bereits die Hauptschritte späterer Modelle des Produktentwicklungsprozesses. Zusammenfassend kommen dabei folgende Hauptarbeitsschritte vor (vgl. Tab. 4.3): • Aufgabe klären, • Lösungsidee entwickeln, • Bewerten der Lösung, • Verbessern der Lösung und • Erstellen der Herstellungsunterlagen. Wögerbauer beschreibt mit seinem Prozessmodell die wesentlichen Arbeitsschritte der Konstruktionstechnik, die sich zusammenfassen lassen als: „Vom WAS zum WIE“.
84
K. Gericke et al.
Tab. 4.3 Beschreibung der Prozessphasen (Gericke und Blessing 2012) Bezeichnung
Beschreibung
1.
Ermittlung des Bedarfs
Beginn des Entwicklungsprozesses durch eine Produktidee, die Identifikation eines Bedürfnisses oder eines Problems
2.
Analyse der Aufgabenstellung
Detaillierte Analyse der initialen Beschreibung von Entwicklungsauftrag, Bedürfnis, Problem, oder Produktidee; zusätzliche Informationen werden gesammelt
3.
Konzeptphase
Entwicklung prinzipieller Lösungen/ Konzepte zur Lösung des Problems
4.
Entwurfsphase
Detaillierung des Lösungskonzepts
5.
Ausarbeitung
Integration von Teillösungen zu einer Gesamtlösung; Verfeinerung und finale Ausgestaltung der Lösung
6.
Implementierung
Integration in Gesamtsystem; Herstellung; Installation; Test; Freigabe; Markteinführung
7.
Gebrauch
Nutzung, Zustandsüberwachung und Wartung des Produkts
8.
Produktlebensende/Außerbetriebnahme Recycling; Überarbeitung/Aufarbeitung des Produkts; Entsorgung
Wesentliche Erkenntnisse der Konstruktionsmethodik finden sich jedoch noch nicht in seinem Prozessmodell. Insbesondere fehlen noch folgende Arbeitsschritte: • • • •
Die lösungsneutrale Beschreibung der Aufgabenstellung, Die systematische Lösungsentwicklung, z. B. auf Basis physikalischer Zusammenhänge, Die systematische Erzeugung von Lösungsalternativen und die systematische Bewertung der Lösungsalternativen.
Einen ähnlichen Ansatz wie Wögerbauer hat Kesselring (Kesselring 1954). Er fokussiert in seinem Prozessmodell auf drei Aspekte: • Die Erfindungslehre: In diesem Prozessabschnitt wird die Lösung für ein technisches Problem generiert. Hierfür werden Wege zur gezielten Gewinnung von Erfindungen beschrieben. • Die Gestaltungslehre: Dies ist der Prozessabschnitt, innerhalb dessen das Konzept auf Basis von Gestaltungsprinzipien konstruktiv ausgeführt wird. • Die Formungslehre: Dieser Prozessabschnitt dient der wirtschaftlichen Betrachtung der Konstruktion.
4 Der Produktentwicklungsprozess
85
Abb. 4.14 Hauptprozessschritte nach Hansen (1965)
Kesselring schlägt also, insbesondere durch die „Formungslehre“, Prozessabschnitte vor, wie sie auch heute einen Schwerpunkt bei der Konstruktion bilden. Hansen (1965) schließlich sieht die systematische Lösungsentwicklung und -erweiterung als Prozessschritte vor, s. Abb. 4.14. Damit legt er die wichtigen Grundlagen der Konstruktionsmethodik. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen haben dann ab ca. 1970 Rodenacker (1991), Roth et al. (Roth et al. 1971; Roth 2000), Hubka (1976), Koller (1976) sowie Pahl und Beitz (Beitz 1971; Pahl und Beitz 1977) die einzelnen Arbeitsschritte in sehr ähnlicher Weise definiert. Beispielhaft für diese entwickelten Prozessmodelle soll hier das Modell von Pahl und Beitz (1977) wiedergegeben werden (Abb. 4.15), das sich in verschiedene Hauptarbeitsschritte gliedert. Diese verschiedenen Prozessmodelle fanden dann Eingang in der ersten Auflage der VDI Richtlinie 2221 (VDI 2221 1986). In ihr wurden erstmalig die bisherigen Erkenntnisse in einem allgemeingültigen Prozessmodell des Entwickelns und Konstruierens zusammengefasst. Die Richtlinie wurde 2019 erneut überarbeitet (VDI 2221-1 2019; VDI 2221-2 2019). Ein anderes Vorgehensmodell für die Produktentwicklung ist das V-Modell (siehe Abb. 4.16). Die für komplexe mechatronische Systeme notwendige enge Integration von Maschinenbau, Elektrotechnik und Softwaretechnik in den Entwicklungsprozess führte zur Überarbeitung dieses aus der Softwareentwicklung stammenden Vorgehensmodells (Verein Deutscher Ingenieure 2004). Das Modell betont die Eigenschaftsabsicherung. Während Integration der domänenspezifischen Entwicklungsanteile in ein Gesamtsystem werden die Eigenschaften des Produkts kontinuierlich gegen definierte Testfälle abgesichert. Es gibt aber einen weiteren Aspekt im Rahmen der Produktentwicklung und Konstruktion, der bei den bisher dargestellten Prozessmodellen nicht dargestellt wird.
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Abb. 4.15 Vorgehensmodell nach Pahl und Beitz (1977)
K. Gericke et al.
4 Der Produktentwicklungsprozess
87
Abb. 4.16 Modell des Produktentwicklungsprozesses (Verein Deutscher Ingenieure 2004)
Es handelt sich dabei um die Abhängigkeit der Entwicklungs- und Konstruktionsergebnisse von den vorgefundenen Rahmen- und Randbedingungen. Beispielsweise muss häufig bereits eingekauftes und sonst nicht verwendbares Material wenn möglich bei einem aktuellen Projekt genutzt werden. Dies führt evtl. zu einer nicht optimalen Gestaltung, ist aber wirtschaftlich für das Unternehmen von Vorteil. Auch fehlende (personelle) Ressourcen führen häufig zu Lösungen, die nicht ausschließlich anhand ihres technischen Nutzwertes bewertet werden können. Eine Konstruktion ist demnach immer das Ergebnis aller im Unternehmen zusammenwirkenden Funktionsbereiche und somit aus unternehmerischer Sicht übergeordneter Optimierungskriterien. Ehrlenspiel (Ehrlenspiel und Meerkamm 2013) bezeichnet dieses Zusammenwirken beim Entwickeln und Konstruieren, bei dem die vorhandenen Rahmenbedingungen und die Bedürfnisse aller Unternehmensteile berücksichtigt werden, als „integrierte Produktentwicklung“. Weitere Ansätze der integrierten Produktentwicklung wurden von z. B. Andreasen und Hein (Andreasen und Hein 2000) und Vajna (2014) vorgestellt. Wie eingangs dieses Kapitels dargelegt ist die Produktentwicklung eng mit der Produktplanung und Produktion verbunden, so dass diese Prozesse gemeinsam betrachtet und eng aufeinander abgestimmt werden müssen bzw. teils zeitgleich erfolgen. Gausemeier et al. (2018) beschreiben entsprechend den Produktentstehungsprozess mittels vier einander bedingender Zyklen. Der erste Zyklus beschreibt die strategische Produktplanung, der zweite Zyklus die Produktentwicklung, der dritte die Dienstleistungsentwicklung und der vierte Zyklus die Produktionssystementwicklung (Abb. 4.17).
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K. Gericke et al.
Abb. 4.17 4-Zyklen-Modell der Produktentstehung (Gausemeier et al. 2018)
Alle bisher wiedergegebenen Modelle des Produktentwicklungsprozesses stellen den logischen Ablauf der einzelnen Arbeitsphasen dar. Dies erweckt evtl. den Eindruck eines sequentiellen Ablaufs, in dem eine Arbeitsphase vollständig abgeschlossen sein muss, bevor die nächste gestartet werden kann. In der Praxis ist dies natürlich nicht der Fall. Dies hat verschiedene Gründe: 1. Wie bereits zuvor erläutert, ist im Sinne eines Regelkreises eine kontinuierliche Überprüfung der Arbeitsergebnisse mit den Vorgaben erforderlich. In der Praxis werden dabei meistens nicht im Sinne aller Zielkriterien optimale Ergebnisse durch eine weitere Iterationsschleife im Prozess verbessert. Es wird also zurückgesprungen zu einem früheren Prozessschritt. 2. Teilprozesse, insbesondere die Beschaffung von Material betreffend, werden ebenfalls in der Praxis häufig vorgezogen. Bauteile oder Material mit langen Lieferzeiten müssen bestellt werden, bevor die Konstruktion abgeschlossen ist, um einen gegebenen Terminplan einhalten zu können. 3. Für viele Produkte ist die „Time to Market“ für den Erfolg entscheidend. Deshalb wird versucht, möglichst viele Prozessteile des Entwicklungsprozesses zu parallelisieren.
4 Der Produktentwicklungsprozess
89
Auch aus theoretischer Sicht können die Arbeitsphasen nicht sequentiell durchlaufen werden. Aufgrund der Koevolution von Problem und Lösung (Abschn. 3.1.4) beim komplexen Problemlösen können manche Anforderungen an das Produkt erst durch das Konkretisieren der technischen Lösung gefunden werden. Die Umsetzung dieser neuen Anforderungen in der zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Lösung kann dabei Rücksprünge in frühere Entwicklungsphasen erfordern (Abschn. 3.1.3). Die Anzahl und Abfolge der Arbeitsphasen im Entwicklungsprozess wird je nach Entwicklungsaufgabe und Rahmenbedingungen variiert. Für eine Anpassungskonstruktion sind die frühen Phasen der Suche nach Lösungskonzepten oft nicht erforderlich, bei einer Wettbewerbsanalyse stehen Analyse- und Bewertungsschritte im Vordergrund und für eine Fehlersuche reichen evtl. Methoden der Eigenschaftsabsicherung aus. Um der Variabilität der Reihenfolge von Aktivitäten der Produktentwicklung Rechnung zu tragen schlägt Lindemann (2007) ein netzartiges Modell vor (siehe Abb. 4.18). Es berücksichtigt u. a., dass in der industriellen Praxis häufig von ersten Lösungen, meistens von Vorgängerprodukten, ausgegangen wird. Die so erarbeiteten Gesamtlösungen werden dann im Sinne des V-Modells nach Abb. 4.16 mit den gesetzten Zielen verglichen und, wenn notwendig, optimiert. Es wird also demnach nicht rein sequenziell oder parallel gearbeitet. Vielmehr wird zwischen den einzelnen Schritten des Entwicklungsprozesses hin und her gesprungen. Der Startpunkt des Prozesses muss dabei nicht zwangsläufig die Zielanalyse nach Abb. 4.18 sein.
Abb. 4.18 Münchener Vorgehensmodell (Lindemann 2007)
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K. Gericke et al.
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Teil II Klären der Aufgabenstellung
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Produktplanung Matthias Kreimeyer, Werner Seidenschwarz und Matthias Rehfeld
In der Produktplanung werden die Rahmenbedingungen gesetzt, anhand derer sich die spätere Gestaltung des Produkts ausrichtet – je nach Geschäftsmodell des Unternehmens kann diese ganz unterschiedliche Form haben, vom technologiegetriebenen Innovationsführer im Markt über den spezialisierten Nischenanbieter bis hin zum kostenorientierten Massenproduzenten sind viele Ausprägungen denkbar. Allen gemein ist das Ziel der Produktplanung: Die für das Geschäftsmodell des Unternehmens richtigen Ideen finden, diese aus Sicht der Vermarktbarkeit und Machbarkeit bewerten und die Entwicklung und Detaillierung so aufsetzen, dass sich ein Produkt effizient entwickeln lässt. Das Geschäftsmodell schlägt sich dabei in Form der Strategie des Unternehmens und des angestrebten Produktportfolios nieder, das in der Produktplanung den Kontext aller Entscheidungen bildet. Elementares Ergebnis der Produktplanung ist die klare Beschreibung des jeweiligen Entwicklungsauftrags, um aus der Planung heraus entsprechende Entwicklungsprojekte zu starten und zu begleiten. Insbesondere bei kleinen und mittelständischen Unternehmen ist eine dedizierte Produktplanung oft nicht erkennbar. Der Start von Projekten oder Entwicklungsaufgaben basiert auf oft „zufälligen“ Ideen, ohne dass ein systematisches Vorgehen zugrunde liegt. Diese Vorgehensweise kann zu erfolgreichen Produkten führen, wenn Erfahrung und Know-How zu Markt und Technologie vorhanden sind, aber je unbekannter diese sind, desto höher sind die Risiken (Kramer und Kramer 1997). Größere Unternehmungen besitzen zumeist spezialisierte Arbeitsgruppen, die der Geschäftsführung oder dem Vorstand zuarbeiten.
M. Kreimeyer (*) · M. Rehfeld MAN Truck & Bus SE, München, Deutschland W. Seidenschwarz Seidenschwarz & Comp. GmbH, Starnberg, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_5
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Abb. 5.1 Disziplinen im Kontext der Produktplanung
5.1 Abgrenzung der Produktplanung Abb. 5.1 zeigt das thematische Umfeld der Produktplanung. In der Essenz ist die Produktplanung eine transdisziplinäre Tätigkeit, in der fast alle Unternehmensfunktionen zusammenkommen. Die Produktplanung ist eng mit der Unternehmensstrategie verwoben. Die Unternehmensstrategie bietet typischerweise Leitplanken zu den Produktentscheidungen, etwa zu Märkten, auf denen das Unternehmen sinnvoll seine Produkte platzieren kann oder zu Randbedingungen in Produktionsweisen, in der Aufstellung des Vertriebsnetzes und in der Positionierung der Produkte im Wettbewerb (inkl. der zugehörigen antizipierten Preisbildung und Preispositionierung). Die Produktplanung hat eine enge Schnittstelle zu den Märkten, im Unternehmen oft durch den Vertrieb oder das Marketing repräsentiert. Neben der Beurteilung der Performanz der schon bestehenden Produkte (Wachstum von Marktanteilen, Stückzahlen oder Segmenten des Markts) kommen aus Sicht der Produktplanung besonders die Segmentierung des Marktes bzw. das Clustern in Kundengruppen, die Erfassung der Anforderungen pro Kundengruppe und die Bewertung von Marktpotenzialen zukünftiger Produkte als Aufgaben in Betracht (Hermann 2008). Der Bewertung der Entwicklungs- und Produktionsfähigkeiten im Unternehmen im Sinne der Technologie kommt eine besondere Rolle zu, da es auch die Aufgabe der Produktplanung ist, die Machbarkeit einer neuen Idee zu bewerten. Das bedeutet, dass die Produktplanung sich auch um die Umsetzbarkeit einer Idee im Markt kümmert, d. h. die Innovation1 (Specht und Möhrle 2002) als „eine Invention mit Markterfolg“
1Übersicht
von unterschiedlichen Definition des Innovationsbegriffs vgl. Pfeiffer et al. (1985).
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(Hermann 2008; Schumann et al. 2003) (angelehnt an Hauschildt 2004) treibt. Somit ist die Findung neuer Ideen (z. B. über Kreativitätstechniken oder Recherche) zwar wichtig aber nicht ausreichend; vielmehr ist die Umsetzbarkeit unter Berücksichtigung der Fähigkeiten und des Wissens des Unternehmens hierzu von Bedeutung. Der Grad der Innovation kann dabei auf das Produkt (Produktinnovation), aber auch auf die Herstellung oder den Vertrieb (Prozessinnovation, Hybrides Produkt) bezogen sein. Der Produktentwicklungsprozess, der mit der Produktplanung angestoßen wird, ist damit zugleich der Innovationsprozess (Eversheim 2003). Damit ist indirekt schon gesagt, dass auch die betriebswirtschaftliche Bewertung nicht vergessen werden darf. Neben der Sicht des Business Case auf die neue Produktidee, die sich in der Planung befindet, kommen so auch die Bewertung der Projektkosten (Aufwandsschätzungen, Dienstleister, Beschaffungs- und Auditierungs-/Zertifizierungskosten,…), der Produktkosten (Montageaufwände, Produktkostenanalyse, idealerweise Target Costing,…), der nötigen Betriebsmittel (Maschinenpark, Werkzeuge,…) und zuletzt der verfügbaren finanziellen Mittel und Ressourcen zur Durchführung des Entwicklungsvorhabens zusammen.
5.2 Vorgehensmodelle zur Produktplanung Viele Unternehmen installieren eine Abteilung oder Gruppe, die den nachhaltigen Erfolg im Markt sicherstellen soll. Die wichtigste Aufgabe ist dabei die Einsteuerung neuer Ideen für Produkte, was auf der einen Seite bedingt, ein klares Bild für die Zukunft des Unternehmens zu kennen und Entscheidungen daran auszurichten (Schnittstelle zur Unternehmensstrategie), auf der anderen Seite steht die Transparenz über das bestehende Produktportfolio einschließlich der Kenntnis um den Markt (ggf. in der Schnittstelle zu Vertrieb und Marketing), die Technologien (ggf. in der Schnittstelle zu Forschung und Entwicklung) und die Leistungsfähigkeit der eigenen Unternehmung. So kann übergreifend das Risiko von Flops vermieden werden. Herangezogen wird dabei – je nach Phase – ein gewisses grundlegendes Set an Arbeitsmethoden. Die typischen Aufgaben ordnen sich gemäß des groben Vorgehens, wie in Abbildung Abb. 5.2 gezeigt. Es ordnet die Produktplanung als Schritt zwischen die Unternehmensstrategie und die eigentliche Entwicklung neuer Produkte bzw. die Überarbeitung bestehender Produkte. Auf dieser Ebene kann man die Produktplanung in vier Hauptaufgaben herunterbrechen: Die Produktstrategie, die die Leitplanken des Unternehmens auf das Produkt herunterbricht, das Portfoliomanagement als fortwährende „Bewachung“ des existenten Portfolios an Produkten, die Planung von einzelnen (neuen bzw. veränderten) Produkten und Produktportfolio und die Begleitung einzelner Produktprojekte aus Sicht der Produktplanung, um die Ziele einzelner Produktprojekte auch bestmöglich über die Beschreibung in Form von Anforderungen und Zielen in der Entwicklung sicherzustellen. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels bildet dieses Ordnungssystem auch die Struktur der Unterkapitel.
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Abb. 5.2 Ordnungssystem für die Produktplanung
Dieses Ordnungssystem ist eng verwandt mit dem Vorgehen zur Produktplanung nach VDI 2220 (VDI-Richtlinie 2220 1980; Schmidt et al. 2016), das in Abb. 5.3 gezeigt ist. Neben diesen Ansätzen gibt es zahlreiche Vorschläge für eine systematische Produktplanung (Brankamp 1974; Eversheim 2003; Gausemeier et al. 2001; Geyer 1972; Kramer 1987; Spath und Grabowski 2001), die im Wesentlichen das gleiche Vorgehen beschreiben und auf unterschiedliche Kontexte erweitern. Der zentrale Arbeitsschritt ist das Finden und Auswählen von Produktideen als Ergebnis einer mehr oder weniger strukturierten Suche. Nach einem Auswahlschritt schließt sich die Ausarbeitung bzw. Konkretisierung zu Produktvorschlägen an, was im Wesentlichen dem methodischen Konzipieren auf einer weniger verbindlichen Ebene entspricht. Wann diese zur Marktreife weiterentwickelt werden, wird in der Umsetzungsplanung festgelegt bzw. es erfolgt ein Entwicklungsauftrag und der Produktvorschlag wird, um eine Anforderungsliste erweitert, der Entwicklung und Konstruktion übergeben. Den Kontext für dieses Vorgehen bilden in allen Fällen die Märkte, die Technologien und das Unternehmen. Der dargestellte Vorgehensplan ist nicht als starre Abfolge deutlich trennbarer Arbeitsschritte zu verstehen; er ist kein „Geradeausweg“ mit sequenzieller Abfolge, sondern nur Leitfaden für ein grundsätzlich zweckmäßiges Handeln. Je nach Unternehmen können die einzelnen Tätigkeiten im Unternehmen institutionalisiert und regelmäßig erfolgen oder die Produktplanung wird zu bestimmten Zeitpunkten als Projekt im Sinne einer Vorentwicklung durchgeführt. Entsprechend vielfältig sind auch die anwendbaren Modelle, Methoden und Werkzeuge. Aus diesem Grund verfolgt das in diesem Kapitel vorgeschlagene Vorgehen das in Abb. 5.3 vorgeschlagene Vorgehen als Struktur. Nach Erfahrung der Autoren ist es näher an der organisatorischen Ausrichtung, die viele größere Unternehmen im Maschinenbau und im produzierenden Gewerbe für sich eingerichtet haben.
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Abb. 5.3 Vorgehen bei der Produktplanung. (In Anlehnung an Kramer 1987; VDI 2220 1980)
In diesem Zusammenhang gilt auch festzustellen: Die Produktplanung beschränkt sich idealerweise nicht auf das technische Produkt, sondern sie bezieht die mechanischen, elektrischen und softwareseitigen Bestandteile ebenso mit ein wie die Dienstleistungen, die zum Produkt mit angeboten werden – der Begriff des „Produktangebots“ oder „Leistungsangebots“ ist damit der Fokus der Produktplanung (Hepperle 2013). In der Forschung und Wissenschaft wird in diesem Zusammenhang auch oft von „hybriden Leistungsbündeln“ oder „Product-Service-Systems“ gesprochen (Kernschmidt et al. 2012; Schmidt et al. 2016). Ein Beispiel aus der Welt der Nutzfahrzeuge zeigt dies:
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Klassischerweise fokussierte die Produktplanung zum Beispiel auf neue Leistungsstufen, etwa einen Sprung von 540 auf 580 PS für schwere Sattelzugmaschinen. Diese basiert rein technisch vor allem auf einer angepassten Parametrierung der Motoren, die eine andere Absicherung bedingt. Im Zuge der schrittweisen Digitalisierung ist nun denkbar, dem Kunden einen 540 PS Motor anzubieten mit der Option, diesen später im Betrieb temporär oder dauerhaft für eine höhere Leistungsstufe freizuschalten. Neben der grundlegenden Auslegung bedeutet das aus Sicht der Produktplanung, schon frühzeitig nicht nur die technischen Leistungsstufen, sondern auch die spätere Interaktion mit dem Kunden (etwa eine Art AppStore) und die Freischaltung während des Betriebs (etwa ein „Update over the Air“) inklusive aller Implikationen auf rechtliche Rahmenbedingungen oder auch Garantie und Kulanzleistungen zu durchdenken.
5.3 Zentrale Grundmethoden in der Produktplanung Es gibt eine Reihe Methoden, die sich in allen Phasen der Produktplanung – von ersten groben strategischen Betrachtungen bis hin zur detaillierten Erarbeitung einer Anforderungsliste – immer wieder als das grundlegende Handwerkszeug des Produktplaners (in der Folge synonym zu „Produktmanager“ verwendet) darstellen. Diese sollen in der Folge skizziert werden. Alle verbindet, dass sie in unterschiedlicher Form den Markt bzw. das Kundenbedürfnis beleuchten: Für den Erfolg eines Produkts ist es von zentraler Bedeutung, dass dieses den Wünschen und Bedürfnissen des Kunden entspricht. Als Folge dieser Erkenntnis hat sich die Kundenorientierung zunehmend zu einer Integration der Kundensicht bis hin zu ihrer direkten Integration in alle Phasen der Produktentstehung entwickelt (Beitz 1996; Kleinaltenkamp et al. 1996). Dabei gilt zu beachten, dass die Kundenperspektive zwar die Ausrichtung eines Produkts treibt, am Ende aber nicht das einzige Entscheidungskriterium ist. Es liegt auch immer in der Verantwortung der Produktplanung, ein Produkt oder eine Produktfamilie wirtschaftlich auszurichten. In diesem Sinne tragen die nachfolgenden Methoden immer auch einer systematischen und ganzheitlichen Entscheidungsfindung zu, wie Tab. 5.1 aufzeigt. Vier Methoden haben eine gewisse stellvertretende Rolle und sollen übergreifend etwas genauer betrachtet sein: Quality-Function-Deployment, Szenariotechnik, Roadmapping und der Produktlebenszyklus (siehe auch die weiteren Kapitel hierzu). Letzterer ist eigentlich keine Methode im klassischen Sinne, er zeigt mehr die Betrachtungsweise in den anderen Methoden auf, die in der Produktplanung notwendig ist. Die QFD-Methode (Quality Function Deployment) (Akao 1992), die auf dem Leitgedanken des Kundenwunsches als zentraler Aspekt des Innovationsprozesses aufbaut, wurde als Werkzeug zur Überführung von Kundenwünschen in Produktmerkmale in der Produktplanung eingeführt (Eder 1995; Kleinaltenkamp et al. 1996). Es gibt zudem Vorschläge zur Gestaltung des Produktplanungsprozesses, die die QFD als integralen
5 Produktplanung
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Tab. 5.1 Grundmethoden in der Produktplanung Methoden und weiterführende Quellen
Ausrichtung der Nutzung als Teil der Produktplanung
Benchmarking (Camp 1994), (Sabisch und Tintelnot 1997) Use Cases (Rumbaugh et al. 1993), (Bruegge und Dutoit 2000)
Analysewerkzeug zur Unternehmens- und Produktsituation im Markt und im Wettbewerbsvergleich; Erfassung der kundenrelevanten Sicht und Beschreibung/Analyse der Produktnutzung als Basis einer weiterführenden Betrachtung und Abgrenzung im Markt
Prognosen in der Form von Schätzen Analysewerkzeuge zur groben Bewertung in unter(Ehrlenspiel 2003)/Trendanalyse bzw. schiedlichen Graden des Aufwands; oft stark an Delphi-Analyse (Daenzer und Büchel 2002) Expertise zur existenten Situation gebunden Technologische Evolution bzw. Technologische S-Kurven (Altschuller 1984), (Daenzer und Büchel 2002), (Gausemeier et al. 2001), (Weule 2002)
Analysewerkzeug zur Technologiereife, insb. bei der Betrachtung und Bewertung von Produkten mit hohem Neuigkeitsgrad
Ursachen-Wirkungs-Analyse (Daenzer und Büchel 2002)/Wirkungsnetz (Daenzer und Büchel 2002)/Einflussmatrix (Lindemann et al. 2004), (Ulrich und Eppinger 2000)
Analysewerkzeug zu den Treibern und Einflussfaktoren auf ein Produkt und die zugehörigen Produktentscheidungen und deren Wechselbeziehungen untereinander
ABC-Analyse bzw. Pareto-Analyse (Daenzer und Büchel 2002), (Nebl 2004)
Analysewerkzeug zur Priorisierung und Schwerpunktbildung, insb. bei frühen Bewertungen und Entscheidungen
Plausibilitätsanalyse (Daenzer und Büchel 2002)/Konsistenzanalyse (Mörle et al. 2013)
Analysewerkzeug zur Sicherstellung, dass im Rahmen der Bildung von Annahmen und Schätzungen der Gesamtkontext der Entscheidung konsistent und richtig bleibt, ohne durch die inhärenten Unsicherheiten verzerrt zu werden
Bewertung (Ehrlenspiel 2003)/Paarweiser Vergleich (Lindemann 2009)/VorteilsNachteils-Bewertung (Bruegge und Dutoit 2000)/Stärken-Schwächen-Profil bzw. SWOT Analyse (Thompson 1994)
Analysewerkzeuge zur Vorbereitung einer Entscheidung in unterschiedlichen Detailgraden
Szenariotechnik (Mörle et al. 2013; Gausemeier et al. 1996)
Analysewerkzeug zu Richtungs- und Detailentscheidungen in der Darstellung unterschiedlicher Entscheidungsalternativen
Roadmapping (Mörle et al. 2013)
Modellierungswerkzeug zur Darstellung einer Strategie und der Entwicklung einer Thematik (Technologie, Produkt, Wettbewerb,…) meist über einen längeren Zeitraum
Business-Case (Schmidt 2015)/KapitalAnalysewerkzeug für die gesamtwirtschaftliche wert-Methode („Net present Value [NPV]“) Bewertung einer Produktentscheidung (Kruschwitz und Husmann 2012)
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Bestandteil nutzen (Hoffmann 1997; Lesmeister 2001; Mai 1998). Prinzipbedingt weisen diese Ansätze jedoch Schwächen in Bezug auf die Planung hochinnovativer Produkte auf: Einerseits sind gerade bisher unbekannte Kundenwünsche ein wesentlicher Ansatz für Neuprodukte. Andererseits behindert die frühzeitige Festlegung von Produktmerkmalen die Definition von Produktvorschlägen mit neuartigen Eigenschaften. QFDbasierte Ansätze zur Produktplanung eignen sich daher besonders zur Überarbeitung bestehender Produkte (Seidel 2005), und die Methodik hilft insbesondere bei der kontinuierlichen Pflege und Weiterentwicklung (Kreimeyer 2016). Abb. 5.4 zeigt die grundsätzliche Logik: In Form einer Liste werden die Anforderungen bzw. Kundenbedürfnisse („user needs“) oder Merkmale bzw. Eigenschaften des Produkts, die der Markt für ein Produkt fordert, aufgeführt. Diese können über ein zusätzliches Attribut gewichtet werden und bilden die Basis. Über die Wettbewerbsmatrix kann auch die relative Bedeutung jeder Anforderung im Markt nochmal ergänzend gewichtet werden. So bilden die Zeilen des Modells die Ziel-Marktsicht ab. Über die Spalten werden die prinzipiellen technischen Merkmale aufgeführt, beispielsweise die Abmaße, Leistungsstufen, technische Optionen o. ä. des finalen Produkts. Diese können über die Matrix im Inneren in Bezug zueinander gesetzt werden; ergänzend dient das „Dach“ als Möglichkeit, die Konsistenz der technischen Merkmale zueinander abzubilden (Passen alle in den Bauraum? Sind sie konsistent zueinander? etc.).
Abb. 5.4 Quality-Function-Deployment, allgemeiner Aufbau
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Im Inneren der Matrix werden diese dann aufeinander übertragen – so kann sichergestellt werden, dass die einzelnen Marktbedürfnisse auch bedient werden. Durch diese grundlegende Darstellung der Markt- und der Techniksicht kann die QFD-Methode helfen, dass die technische Lösung auf die Marktbedürfnisse fokussiert und die richtigen Umfänge mit den richtigen Lösungen bedient. Zugleich ist die QFD-Methode auch zu einem späteren Zeitpunkt im Prozess ein passendes Werkzeug, die Vollständigkeit einer Entwicklung zu überprüfen. Die Szenariotechnik (Gausemeier et al. 1996) ist eine weitere Grundlage der Produktplanung und tritt in allen Phasen auf. Sie erlaubt es, unterschiedliche Szenarios (d. h. alternative Zukunftsmodelle) zu einer Aufgabenstellung zu ermitteln und zu vergleichen. Das „Denken in Szenarios“ ist eine wichtige Grundhaltung eines Produktplaners. Sie besteht aus traditionell fünf Schritten zur Vorbereitung einer Entscheidung (Abb. 5.5). Die Nutzung der Szenariotechnik empfiehlt sich immer dann, wenn beispielsweise strategische Entscheidungen zur Ausrichtung des Unternehmens oder zu Entwicklungsschwerpunkten zu treffen sind. Die Szenariotechnik ist aber auch dann sinnvoll, wenn grundlegende konzeptionelle Entscheidungen zu fällen sind, da sie eine wertvolle Methode zur systematischen Auseinandersetzung mit der möglichen und denkbaren
Abb. 5.5 Vorgehen in der Szenariotechnik. (Angelehnt an Mörle et al. 2013)
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Zukunft ist (Lindemann 2009), weil sie es erlaubt, die Unsicherheiten, die einer Entscheidung zugrunde liegen, transparent zu machen. Sie hat als hilfreichen Nebeneffekt, dass sie eine disziplinenübergreifende Kommunikation und Denkweise anregt und so mögliche Risiken minimiert. Das Roadmapping bzw. das Erstellen von Roadmaps wird meist verwendet, um eine gewisse strategische Ausrichtung kommunizieren zu können. Roadmaps kommen daher insbesondere in der Produktplanung zum Einsatz und sind ein typisches Werkzeug eines Produktplaners. Sie können für alle Bereiche eingesetzt werden – Technologieroadmaps, Produktroadmaps, Wettbewerbs-Roadmaps, Forschungs-Roadmaps, usw. Eine wichtige Rolle in der Produktplanung eines Unternehmens liegt darin, diese verschiedenen Roadmaps aneinander auszurichten und die Kommunikation über die betroffenen Bereiche hinweg sicherzustellen (Oliviera und Rozenfeld 2010). Die zentrale Roadmap ist meist die Produkt-Roadmap, die die einzelnen Produktereignisse einer Firma darstellt. Diese Roadmaps können die unterschiedlichsten Formen annehmen (Schumann et al. 2003). Tab. 5.2 zeigt einige Literaturstellen zu bekannten Fallstudien auf, die als Referenz dienen können. Da die Produktroadmap einer Firma meist das geheimste Dokument neben der Finanzplanung ist, ist es oft schwierig, gute Beispiele zu finden.
Tab. 5.2 Unterschiedliche Case-Studies zu Roadmapanwendungen in großen Unternehmen Firma
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Philips
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Siemens
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Honeywell
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Eine typische Produktroadmap in der Produktplanung umfasst meist die Perspektive mehrerer Jahre, und sie beschreibt auf oberster Ebene die wichtigsten Produktereignisse, etwa die Einführung neuer Produkte, neuer Varianten oder die Erschließung neuer Märkte oder Geschäftsfelder. Diese Ereignisse sind meist in der Form von Meilensteinen oder Ereignissen vermerkt. Zusätzlich tragen die Roadmaps meist die wichtigsten Rahmenbedingungen auf, etwa große Messen, wichtige Veränderungen in den gesetzlichen Rahmenbedingungen oder die erwarteten Produktereignisse wichtiger Wettbewerber. Im Nutzfahrzeugbereich ist die Einführung neuer Umweltgesetzgebungen in Form der Euro-Stufen oder CO2-Regulierungen beispielsweise ein wichtiger Treiber, so dass diese den Rahmen für große Produktereignisse bilden. Abb. 5.6 zeigt ein abstrahiertes Beispiel aus dem Nutzfahrzeugbereich. Die Roadmaps dienen meist als Darstellung des größeren Kontexts, bevor einzelne Entscheidungen getroffen werden – ein hoher Detaillierungsgrad ist daher selten von Relevanz (Petrick und Echols 2004). Wichtiger ist vor allem die Quervernetzung von Informationen, um so den Entscheidungskontext möglichst vollständig zu bilden. Dies umfasst neben den bereits genannten Aspekten wie Wettbewerb etc. auch die erwarteten Gesamtkosten der Implementierung einer Roadmap, die Größe und das Potenzial der zugeordneten Märkte (etwa in Form einer Profit-Pool Analyse (Gadiesh und Gilbert 1998)) oder Kooperationsaktivitäten mit anderen Unternehmen, wie etwa die gemeinsame Entwicklung und Vermarktung eines Motors.
Abb. 5.6 Darstellungsform einer industriellen Roadmap
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Eine wichtige Grundlage ist dabei – gerade mit Blick auf Risiken oder auch nur Einflussfaktoren auf eine Entscheidung – der Produktlebenszyklus, für den es eine Vielzahl von Modellen gibt (Eigner und Stelzer 2009; Feldhusen und Gebhardt 2009; Bullinger et al. 2009). Abb. 5.7 zeigt die typischen sieben Schritte auf: Mit der Definition der Anforderungen beginnt der Lebenszyklus, und er endet mit dem Recycling. Dabei gilt der Zyklus sowohl auf der Meta-Ebene (d. h. für ein ganzes Produkt) wie auch für die einzelnen Bestandteile, etwa die Komponenten. Der Produktlebenszyklus ist aus zwei Gründen ein wichtiger Rahmen für die Produktplanung: Zum einen gilt die „Zehnerregel“ (Lindemann 2009): Gerade in den späten Phasen der Entwicklung entstehen oft hohe Kosten aus späten Anpassungen oder Änderungen am Produkt („Zehnerregel“ – in jeder Phase ist eine Änderung zehnmal teurer als in der Phase davor). Dies bedingt beispielsweise, dass eine fundierte Entscheidung aus Sicht der Produktplanung auch späte Aspekte des Produktlebens – etwa die Recyclebarkeit oder die Kosten im Service und Aftersales – mit einbeziehen muss. Zum anderen muss eine fundierte Produktplanung auch die späten Phasen des Produktlebens mit einbeziehen und in der Spezifikation abbilden (z. B. in der Anforderungsliste). Dafür ist ein Verständnis des jeweils spezifischen Produktlebenszyklus’ unabdingbar. Tab. 5.3 zeigt die grundlegenden Kategorien für die Konzeptentscheidungen zu technischen Komponenten eines Nutzfahrzeugs auf (Kreimeyer et al. 2012): Im Gegensatz zu Abb. 5.7 wird deutlich, dass die Einflussgrößen entlang des Produktlebenszyklus ungleich komplexer ausfallen können, als ein erster Blick dies zeigen mag. Ein gutes Beispiel bildet das so genannte „Second Life“, das insbesondere für schwere LKW gilt: Ein neues Fahrzeug wird meist zunächst in Ländern mit hohen Betriebskosten ausgeliefert, z. B. in Westeuropa, oft als Leasing-Fahrzeug und nicht durch den direkten Verkauf. Nach ca. vier Jahren wird das Fahrzeug dann zurückgenommen, und es geht oft in außereuropäische Länder, für die beispielsweise andere gesetzliche Regelungen (z. B. Abgasvorschriften) gelten. Das Produkt muss dafür dann später adaptiert werden, um über seinen gesamten Lebenszyklus profitabel zu sein. Eine Entscheidung für eine technische Ausprägung in die eine oder andere Richtung muss also mindestens alle diese Sichten einbeziehen.
Abb. 5.7 Standard-Produktlebenszyklus (Eigner und Stelzer 2009)
5 Produktplanung
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Tab. 5.3 Kategorien im Lebenszyklus technischer Komponenten eines Nutzfahrzeugs (Kreimeyer et al. 2012) Kategorie
Beschreibung
Entwicklung
Aufwendungen für Konstruktion, Zeichnungserstellung, Projektmanagement, Softwareentwicklung, Simulation/Berechnung, Abstimmung Lieferanten, interne Abstimmung, Stücklistenerstellung
Erprobung
Aufwendungen für Planung, Vorbereitung/Durchführung Erprobungen, Aufwendungen zur Erstellung von Prototypen von Vorserien
Qualitätssicherung
Vorbereitung und Durchführung von Maßnahmen zur Qualitätsplanung, Investitionen für Mess- und Prüfgeräte, Prüf- und Einstellaufwendungen pro Modul, Aufwendungen für Nacharbeiten und zur Fehlerbehebung
Materialkosten
Materialkosten, Mengeneffekte, anteilige Investitionskosten, Entwicklungskosten und Werkzeugkosten
Gewicht
Einfluss auf das Gesamtgewicht eines Fahrzeuges durch den Einsatz des Moduls (Erhöhung oder Reduzierung des Gewichts pro Fahrzeug), Mehr-/Mindergewicht pro Fahrzeug
Produktmanagement
Anforderungen vom Produktmanagement werden erfüllt? Angabe einer Begründung, falls die Anforderungen und Vorgaben nicht erfüllt werden
Produktionsstrategie
Anforderungen Produktion werden erfüllt? Angabe einer Begründung, falls die Anforderungen und Vorgaben vom Produktionslastenheft nicht erfüllt werden
Produktion
Aufwendungen für Planung/Vorbereitung von Produktionsanläufen, Erstellung/Überarbeitung von Betriebsmitteln, Planung/Anpassung Arbeitsplätzen, Montagezeit pro Modul, Berücksichtigung von Produktivitätsverlusten, Aufwendungen zum Materialhandling
Technische Risiken
Angabe Entwicklungsrisiko Angabe einer Begründung, falls technische Risiken gesehen werden
Entwicklungsstand
Das Modulkonzept ist eindeutig definiert, die Modulschnittstellen sind dokumentiert und mit dem Baureihenverantwortlichen abgestimmt
Life-cycle-cost (LCC)
Anforderungen LCC werden erfüllt? Beschreibung der Abweichungen, wenn die LCC Anforderungen nicht werden erfüllt; LCC Kosten pro Kilometer
5.4 Unternehmens- und Produktstrategie Der Rahmen für die Produktplanung wird durch die strategische Unternehmensführung mit ihrem Kernelement, der Strategie, vorgegeben. Die Strategie wird von verschiedensten Einflussfaktoren abgeleitet und muss im gesamten Unternehmen verinnerlicht werden.
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Der Begriff „Strategie“ bezeichnet generell den Weg zur Zielerreichung (Seidenschwarz und Lindemann 2016; Andrews 1997) und setzt den Rahmen dafür, wie die Ziele erreicht werden sollen. Um eine gelungene Umsetzung der Strategie sicherzustellen, ist es jedoch notwendig, nicht nur die Strategie zu definieren, sondern diese in eine integrale Umgebung einzubetten – die sogenannte Strategiepyramide (Abb. 5.8). Dazu wird zunächst die Mission eines Unternehmens bestimmt. Die Mission beschreibt insbesondere den Zweck der Unternehmung und setzt deren strategischen Leitplanken („Was ist unser Geschäftsfokus?“ und „Was soll nicht getan werden?“) (Seidenschwarz und Lindemann 2016). Damit setzt die Mission insbesondere für das Produkt die zentralen Leitlinien, etwa von „Wir liefern LKWs.“ bis hin zu „Wir organisieren den Transport für den Kunden.“ – in ersterem Falle ist das Angebot nur das Fahrzeug, in letzterem auch alle organisatorischen Dienstleistungen zum Warentransport. Die Vision skizziert ein Bild von der Zukunft eines Unternehmens (Kaplan und Norton 1992) anhand einer Leitidee. Es entwirft also den Zustand des Unternehmens, den es in der Zukunft erreichen möchte und zielt auf eine nachhaltige Änderung des aktuellen Zustandes ab („Was wollen wir künftig erreicht haben?“). Dabei wird untersucht, worauf es dem Kunden in Zukunft ankommen wird, was die Wettbewerbsvorteile des Unternehmens sein werden und wie es sich im Markt positionieren wird. Hieraus lässt sich nun eine Strategie formulieren, aus welcher sich wiederum die Balanced Scorecard (Kaplan und Norton 1992) ableiten lässt. Die Methode der Balanced
Abb. 5.8 Zentrale Elemente einer Strategiepyramide (Seidenschwarz und Lindemann 2016)
5 Produktplanung
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Scorecard ist dabei ein typisches Werkzeug des strategischen Managements und hat eine große Verbreitung gefunden. Ziel der Balanced Scorecard ist es, die strategischen Ziele messbar zu machen und das Fortschreiten der Realisierung überwachen und vorantreiben zu können. Ihr liegt die Philosophie „What gets measured gets done.“ als Instrument der Fortschrittsmessung zugrunde (Seidenschwarz und Lindemann 2016). Aus Sicht der Produktplanung können in der Balanced Scorecard – so diese im Unternehmen verwendet wird – oder in der generellen Unternehmensstrategie und -mission wichtige Rahmenbedingungen entstehen, die als Leitplanken für das Produkt und dessen Eigenschaften berücksichtigt sein müssen. Zur Umsetzung werden oft strategische Initiativen, oft auch als „Leuchtturmprojekte“ benannt, verwendet. Sie definieren, was konkret umgesetzt werden soll, um die entwickelte Strategie zu erreichen (Seidenschwarz und Lindemann 2016). Da die Strategie aus Sicht der Mitarbeiter oft zu vage oder zu unkonkret ist, helfen solche Initiativen dabei, die Motivation der Mitarbeiter zu steigern und den Zielzustand in die Breite zu tragen. Gerade aus Sicht einer Produktstrategie – etwa der Wandel hin zu längeren und aerodynamischeren LKWs im Fernverkehr – kann so ein Leuchtturm helfen, zukünftige Produkte früher „greifbar“ zu machen, die Diskussion hierzu anzuleiten und so den strategischen Wandel zu stärken. Frühe Prototypen oder Demonstratoren sind dabei eine typische Form solcher „Leuchttürme“. Schlussendlich werden die Ziele der Strategie mit persönlichen Zielen der Stakeholder und Führungskräfte verknüpft, um so die Umsetzungsbeteiligten eng in die Strategie(-umsetzung) einzubinden und eine Identifikation mit dieser zu erreichen. Dies wird insbesondere getan, um die Strategie über Schlüsselpositionen im Unternehmen zu kaskadieren. Dabei ist es für eine erfolgreiche Strategieumsetzung von besonderer Bedeutung, die richtigen Schlüsselpersonen zu identifizieren (Kaplan und Norton 1992). Außerdem gilt: je mehr Umsetzungsbeteiligte dabei involviert werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Strategie von den Schlüsselspielern implementiert werden wird und sich diese stark mit ihr identifizieren (Seidenschwarz und Lindemann 2016).
5.4.1 Ebenen der Strategie und Einfluss auf das Produkt Um die Strategie über alle Unternehmensebenen hinweg erfolgreich zu kaskadieren, muss eine entsprechende Ableitung der Gesamtunternehmensstrategie für alle Ebenen des Unternehmens definiert werden (Abb. 5.9). Die verschiedenen Ebenen wirken sich dabei unterschiedlich auf die Produktplanung aus. Aus der Gesamtunternehmensstrategie geht hervor, ob das Unternehmen eine Wachstums-, Schrumpfungs- oder Stabilisierungsstrategie verfolgt. Außerdem wird festgelegt, ob das Unternehmen lokal oder global agieren möchte und ob es verstärkt auf externe Partnerschaften in der Entwicklung setzt oder nicht (Abb. 5.9). Dies setzt insbesondere für die Märkte, auf denen ein Produkt eingesetzt werden soll, den Rahmen.
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Abb. 5.9 Strategieebenen (Seidenschwarz und Lindemann 2016)
Bei Unternehmen mit mehreren Managementebenen kann die Gesamtunternehmensstrategie auf zwei Wege über die Ebenen hinweg auf die Produktplanung wirken (Seidenschwarz und Lindemann 2016): • Vertikale Geschäftsstrategien, in deren Fokus bspw. exzellente strategische Positionierungen mit einem dazugehörigen Geschäftsportfolio stehen, oder • Horizontale Geschäftsstrategien, die für bereichs- und regionenübergreifende Optimierungen sorgen (bspw. Plattformlösungen). Auf der Ebene der marktnahen Einheiten (Geschäftseinheiten) werden Wettbewerbsstrategien entwickelt, die zunehmend hybrid sind, also nicht mehr rein auf Kostenführerschaft, Differenzierung oder Nischenabdeckung abzielen, sondern eine Kombination der drei darstellen. Damit diese Wettbewerbsstrategie eine erfolgssteigernde Wirkung hat, gilt es folgende Kriterien zu erfüllen (Seidenschwarz und Lindemann 2016): 1. Alleinstellungsmerkmal generieren 2. Klar werden darüber, was „man nicht tun will“ 3. Klar werden über die „Grundstrategie“ – Strategie der operationalen Exzellenz, Strategie der Kundenvertrautheit oder Strategie der Produktführerschaft? 4. Strategie muss implementiert werden
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Im Sinne eines „strategic fit“ müssen alle vier Kriterien erfüllt sein, um eine erfolgreiche Produktplanung abzuleiten und die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens langfristig zu verbessern. Auf dieser Ebene zeigt die Strategie insbesondere die Abgrenzung zu Wettbewerbsprodukten aus Sicht einzelner Merkmale und der Preispositionierung auf. Dies hat zur Konsequenz, dass bei der Planung eines Produktes idealerweise schon früh der Dialog mit den Märkten geführt wird, um so grobe Prämissen zu jedem angestrebten Markt abzuleiten.
5.4.2 Einflüsse und Rahmenbedingungen zur Produktstrategie Bei der Erstellung der Produktstrategie müssen verschiedenste Einflussfaktoren berücksichtigt werden, die sich in drei Gruppen unterteilen lassen: 1. Externe Einflüsse, 2. Geschäftszielsetzungen und 3. Interne Einflüsse. Dabei ist zu bedenken, dass alle diese Faktoren nicht statisch sind, sondern sich kontinuierlich wandeln bzw. einer gewissen Dynamik unterliegen. Externe Einflüsse entstehen häufig im Unternehmensumfeld und können unterschiedlicher Natur sein, darunter beispielsweise wirtschaftspolitische Ereignisse und regulatorische Eingriffe, Ressourcenverknappung, Substitutionen durch innovative Technologien oder neue Forschungsergebnisse. Im Umfeld der Automobilindustrie hat sich über die Jahre insbesondere die Vorgabe immer neuer Abgasgesetzgebungen als wichtiger Treiber der Strategie dargestellt; ohne diese schrittweise Beschränkung der Motorentechnologie wäre aktuell wahrscheinlich noch kein Übertritt in alternative Antriebsweisen (Hybrid, Elektromobilität,…) erkennbar. Die Einflüsse können allerdings auch direkt aus dem Markt entstehen. So können beispielsweise die technische und wirtschaftliche Stellung des eigenen Produkts am Markt (bspw. Umsatzrückgang, Entwicklung des Marktanteils), die Änderung der Marktwünsche und Bedürfnisse (bspw. nach neuen Funktionen oder neuer Formgebung), welche auch soziokulturell bedingt sein können, Anregungen und Kritik der Kunden und technische und wirtschaftliche Vorteile der Produkte von Wettbewerbern die Strategie beeinflussen. Auch die Zielsetzungen des Gesamtunternehmens beeinflussen die Entwicklung einer Produktstrategie. So gilt es beständig abzugleichen, wie sich die Geschäftsziele verändern, und welche Auswirkungen dies auf die Produktstrategie hat. Eine Differenzierung gegenüber den Wettbewerbern kann so einen Effekt haben, etwa indem ein Nutzfahrzeughersteller beschließt, sich eine stärkere Positionierung als „grüner Anbieter“ von umweltfreundlichen Elektrofahrzeugen zu geben; dies bedingt dann
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eine stärkere Fokussierung auf den städtischen Lieferverkehr, wo Elektromobilität eine stärkere Rolle hat. Die internen Einflussfaktoren auf die Strategie umfassen unter anderem die zentralen Wertevorstellungen und die gelebte Kultur eines Unternehmens, also die Art und Weise, wie etwas im Unternehmen getan wird (Kaplan und Norton 1992). Ist eine Strategie nicht mit der Kultur eines Unternehmens vereinbar, so wird es für das Unternehmen schwer werden diese umzusetzen, da sich Mitarbeiter nicht mit ihr identifizieren können. Darüber hinaus können die Nutzung von Ideen und Eigenforschungsergebnissen in Entwicklung und Fertigung, neue Funktionen zur Erweiterung oder Befriedigung des Absatzgebietes, die Einführung neuer Fertigungsverfahren, Rationalisierungsmaßnahmen in der Produktpalette und der Fertigungsstruktur, die Nutzung von Beteiligungsmöglichkeiten und ein höherer Diversifikationsgrad, d. h. genügend breite Abstützung auf mehrere Produkte, die sich im Lebenszyklus sinnvoll überlappen, die Strategie beeinflussen. Immer wieder auftretende Disruptionen aus Technologie, Gesellschaftsentwicklung, Politik und Märkten können Einfluss darauf haben, ob eine Strategie die richtige ist oder nicht. Deshalb muss auch der Strategieprozess kontinuierlich hinterfragt und gegebenenfalls die Strategie angepasst bzw. neu bewertet werden, wenn unerwartet größere Ereignisse auftreten. Die Nicht-Beachtung solcher größeren Ereignisse kann zu Wettbewerbsnachteilen führen, wenn das Unternehmen nicht proaktiv oder marktprägend agiert, Frühwarnsysteme die auftretenden Ereignisse nicht erkennen oder das Unternehmen sich im Tagesgeschäft im Roadmapping bzw. der Multiprojektplanung verliert und somit den Blick für das große Ganze verloren hat (Seidenschwarz und Lindemann 2016). Angesichts stetig kürzer werdender Lebenszyklen ist eine Produktplanung als Reaktion auf das Bekanntwerden der oben genannten Einflussfaktoren und Impulse heute oft zu spät. Aus diesem Grund müssen entsprechende Fakten zur Gewinnung eines zeitlichen Vorteils prognostiziert werden, wozu beispielsweise bestehende Trends oder disruptive Marktentwicklungen herangezogen werden können. u
Fast alle Märkte unterliegen früher oder später gewissen Disruptionen. Eine Strategie sollte daher nicht nur auf der kontinuierlichen Weiterentwicklung eines bestehenden Produkts aufsetzen – auf lange Sicht ist dies selten nachhaltig, wie z. B. die Technologie-S-Kurven zeigen (Foster 1986). Die Ausarbeitung neuer radikaler Ideen ist meist prädestiniert für die Umsetzung in kleinen, agil arbeitenden Teams.
Versäumt es ein Unternehmen disruptive Entwicklungen selbst einzuleiten oder erkennt es solche bedeutsamen Marktveränderungen in Innovations- und Technologiefeldern gar zu spät oder gar nicht, so kann dies für ein Unternehmen weitreichende Folgen haben (Seidenschwarz 2015).
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Schafft es ein Unternehmen jedoch eine klar formulierte Unternehmensstrategie für eine disruptive Entwicklung mit ausgereiften Architektur-, Plattform-, Modularisierungsund Standardisierungskonzepten für nachfolgende Produkt- und Geschäftsmodellkonzepte zu entwickeln, so kann es einen großen Wettbewerbsvorteil aufbauen (Seidenschwarz 2015). Häufig basieren diese disruptiven Konzepte auf dem Lean-Startup Gedanken, die auf schnell anfassbare und auslieferbare Produkte abzielen, aber trotzdem auf eine längerfristige, übergeordnete Produktentwicklung, den „Polarstern“, hinarbeiten. Außerdem gewinnen neue Produktentwicklungsphilosophien, wie die agile Produktentwicklung, vor allem im Hinblick auf die Softwareentwicklung (Seidenschwarz und Lindemann 2016), inzwischen aber bereits auch im Hinblick auf mechatronische Systeme, immer mehr an Bedeutung. Das agile, kurzfristigere Planen erschwert eine Produktplanung mit konventionellen Methoden und die für eine neue Produktentwicklung zur Verfügung stehende Zeit wird drastisch verkürzt. Entscheidungen zum Einstieg in neue Technologien müssen allerdings aufgrund der langen Vorlaufzeiten in der Regel dann fallen, wenn die betrachtete Technologie noch sehr jung ist, also nur wenige Informationen als Entscheidungsgrundlage vorliegen. Den resultierenden Unsicherheiten ist mit einem systematischen Vorgehen zu begegnen. Es gilt aus der Menge aller Technologien nach der Festlegung eines Suchraums, die als möglicherweise relevant erkannten Technologien mit geeigneten Hilfsmitteln, wie z. B. der Portfolioanalyse, zu untersuchen (Specht et al. 2002).
5.5 Portfolioplanung und -management Die Portfolioplanung und das Portfoliomanagement haben zum Ziel, das angebotene Produktportfolio (seien es physische Produkte, Dienstleistungen oder eine Kombination daraus) im Markt zu steuern. Dies umfasst insbesondere das Führen und Realisieren des Innovationsprozesses sowie das Führen des zugehörigen Portfolios an (Entwicklungs-) Projekten im Kontext der Strategie. Das Portfoliomanagement ist damit ein dynamischer Steuerungsprozess, in den alle bestehenden Produktprojekte und alle Neuproduktprojekte einbezogen werden, unabhängig davon in welcher Phase des Produktlebenszyklus’ sie sich befinden. Das bedeutet auch, dass auch das „vom-Markt-Nehmen“ zum Aufgabenspektrum gehört. Bestehende Produkte werden hinsichtlich ihres Erfolgs am Markt bewertet, und neue Produktprojekte werden entworfen, gestartet, neu bewertet, beschleunigt oder verworfen. Die benötigten Ressourcen werden entsprechend gesteuert. Das Portfoliomanagement ist also eine laufende Aktualisierung und Bewertung der Produktprojekte. Es kann als
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Abb. 5.10 Vorgehen Portfoliomanagement
funktionsübergreifende PLM -Prozesssicht (Product Lifecycle Management) oder funktionsspezifische Sicht aufgesetzt werden (Seidenschwarz und Lindemann 2016): • Bei der funktionsübergreifenden Prozesssicht wird das Portfoliomanagement in den PLM-Prozess eingebunden. Die Schaffung von Profitabilität durch die Erhöhung des Kundennutzens über den gesamten Produktlebenszyklus steht hier im Vordergrund. • Eine funktionsspezifische Sicht betrachtet das Portfoliomanagement aus Sicht der jeweiligen Funktionsbereiche, also bspw. Vorentwicklung, Produktdefinition, Entwicklung, Konstruktion oder weitere Funktionsbereiche. Da auch das Portfoliomanagement einen funktionsübergreifenden Charakter aufweist, ist die PLM-Sicht zu bevorzugen. Aufbauend auf der Prozesssicht können nun die zentralen Elemente eines Portfoliomanagementprozesses skizziert werden, über die eine Übersicht in Abb. 5.10 gegeben wird.
5.5.1 Das Portfolio (Produktportfolio, Technologieportfolio) Die Darstellung der aktuellen Situation des Unternehmens erleichtert das Erkennen von Handlungsoptionen – die Darstellung als Portfolio, geordnet nach wenigen Kriterien, ist dazu die übliche Form. Dazu werden unternehmensspezifische Daten gesammelt, ggf. aufbereitet und in einer überschaubaren Form in einer meist zweidimensionalen Matrix gegenübergestellt. In diesem Ansatz werden drei Portfoliostufen aus dem strategischen Management herausgegriffen, aus denen folgend das Portfoliomanagement der Entwicklung abgeleitet wird. Sie basieren auf der Vision und der Geschäftsstrategie des Unternehmens (Abb. 5.10). Durch den Portfolioansatz aus dem strategischen Management sollen verschiedene Geschäfte miteinander vergleichbar gemacht und strategische Empfehlungen abgeleitet werden, aber auch Synergiepotenziale aufgezeigt werden (Seidenschwarz
5 Produktplanung
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und Lindemann 2016). Es sollen Priorisierungen zur Verteilung der finanziellen Mittel herbeigeführt und visualisiert werden. Die am weitesten gefasste Stufe einer Portfolioerweiterung stellt sich mit der Diversifikationsfrage. Diese dreht sich um die Frage, ob und in wie weit ein Unternehmen in einen Diversifizierungsprozess zu gehen beabsichtigt (Seidenschwarz und Lindemann 2016). Der Grad der Diversifikation wird dabei zum einen durch die Vertrautheit mit einer bestimmten Technologie und zum anderen durch die Vertrautheit mit einem Markt bestimmt (Abb. 5.11; vgl. Lerchner und Müller-Stevens 2005). Ist ein Unternehmen weder mit dem Markt, noch mit der Technologie vertraut, so wird es eher zu einer ausgelagerten Lösung tendieren. Ist es hingegen gut vertraut mit Markt und Technologie so wird es eine interne Lösung bevorzugen. Mit direktem Bezug zu bereits in Arbeit befindlichen Märkten eines Unternehmens kann man in einer nächsten Konkretisierungsstufe des Portfoliomanagements beispielsweise mit der Wettbewerbspositions-Marktattraktivitäts-Matrix arbeiten (Abb. 5.12; vgl. Lerchner und Müller-Stevens 2005). Dabei wird die relative Wettbewerbsposition mit der Attraktivität des Marktes ins Verhältnis gesetzt. In einem späteren ProduktAnforderungsliste kann hieraus abgeleitet werden, welche Merkmale ein Produkt aufweisen muss, um sich entsprechend einzuordnen.
Abb. 5.11 Wahl der Diversifikationsform in Abwägung der Vertrautheit mit Markt und Technologie (Seidenschwarz und Lindemann 2016)
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Abb. 5.12 Wettbewerbspositions-Marktattraktivitäts-Matrix (Seidenschwarz und Lindemann 2016)
Marktattraktivität und Wettbewerbsposition ergeben sich dabei durch die Bewertung folgender Faktorenkataloge (Seidenschwarz und Lindemann 2016): Marktattraktivität: • • • •
Marktwachstum und Marktgröße Marktqualität (Segmente, Profit Pool,…) Energie- und Rohstoffversorgung Umfeldsituation (u. a. Inflation)
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Relative Wettbewerbsposition: • Relative Wettbewerbsposition im Sinne von Marktanteil und Risiko • Relatives Produktpotenzial • Relatives FuE-Potenzial im Sinne von Innovationspotenzial und Verfügbarkeit der Technologien • Relative Mitarbeiterqualität • Relative Qualität der Systeme und Strukturen Die verschiedenen Felder im Portfolio geben Empfehlungen für die Investitionen in die einzelnen Geschäfte ab. So wird beispielsweise für Geschäfte, in denen das Unternehmen schlechter als die Hauptkonkurrenten und die Attraktivität gering ist, empfohlen zu desinvestieren. Bei Geschäften mit hoher Attraktivität, in denen das Unternehmen besser als die Hauptkonkurrenzen ist, sollen hingegen die Investitionen maximiert und eine Marktführerschaft angestrebt werden, sie sollen wachsen. In den Feldern dazwischen muss selektiv entschieden werden. Für die Anwendung des Portfolioansatzes auf die Bewertung technologischer Potenziale wurde der Ansatz des Technologieportfolios entwickelt (Abb. 5.13; vgl. Pfeiffer et al. 1985). Bei diesem wird davon ausgegangen, dass ein Technologielebenszyklus viel länger andauert als ein Produktlebenszyklus (Lerchner und Müller-Stevens 2005, S. 297). Es wird die Technologieattraktivität der Ressourcenstärke eines Unternehmens gegenübergestellt. Gegenüber dem Ansatz, den Markt zu bewerten, kann ein Technologieportfolio dabei helfen, technologiegetriebene Innovationen zur Erschließung neuer Märkte transparent zu machen. Die Technologieattraktivität wird einerseits durch potenzialseitige Indikatoren, also durch das Weiterentwicklungspotenzial und die Kompatibilität der Technologie, sowie durch bedarfsseitige Indikatoren, also die Anwendungsbreite der Technologie, bestimmt (Abb. 5.13). Die Ressourcenstärke hingegen wird durch die vorhandene Know-how-Stärke und die Finanzstärke im Unternehmen bestimmt. Diese zwei Kriterien werden durch die Bewertung des technisch-qualitativen Beherrschungsgrades („Wie ist unsere Lösung in technisch-wirtschaftlicher und qualitativer Hinsicht im Verhältnis zur wichtigsten Konkurrenzlösung einzuschätzen?“), der Potenziale („Stehen finanzielle, personelle, sachliche und rechtliche Ressourcen zur Ausschöpfung der in diesem Bereich noch bestehenden Weiterentwicklungsreserven zur Verfügung?“) und der (Re-) Aktionsgeschwindigkeit („Wie schnell können wir im Vergleich zur Konkurrenz eventuelle technische Weiterentwicklungsmöglichkeiten ausschöpfen?“) bestimmt (siehe Abb. 5.13; vgl. Seidenschwarz und Lindemann 2016). Auch hier wird aus der zweidimensionalen Matrix eine Investitionsempfehlung gegeben. Für schwache Ressourcenstärke und geringe Technologieattraktivität desinvestieren, für starke Ressourcenstärke und hohe Technologieattraktivität investieren und dazwischen erneut selektieren.
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Abb. 5.13 Technologieportfolio
Mit diesem Ansatz kann für die Produktplanung eine Empfehlung für die VorabPriorisierung verschiedener Technologien abgegeben werden (Seidenschwarz und Lindemann 2016).
5.5.2 Planung der Produktroadmap Aus den drei Portfoliostufen kann nun eine erste Roadmap abgeleitet werden. In dieser wird festgelegt, welches Produkt zu welchem Zeitpunkt auf dem Markt erscheinen soll. Diese zeitliche Positionierung hängt stark davon ab, welche Innovationsstrategie eine Geschäftseinheit verfolgt. Beispielsweise kann es die Strategie eines Unternehmens sein, eine neue Technologie immer als erstes auf den Markt zu bringen. Es kann jedoch auch den Wert darauf legen, ein „Trendsetter“ zu sein und eine Technologie nicht als erstes auf den Markt zu bringen, sondern genau dann, wenn ein großer Boom bevorsteht. Hieraus lassen sich drei Investitionsstrategien ableiten: first-to-market, fast-to-market und slowto-market (Seidenschwarz und Lindemann 2016). Roadmaps sollten deshalb stetig hinterfragt werden, um zu überprüfen, ob die getroffenen Annahmen noch die richtigen sind um der Investitionsstrategie zu genügen.
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Besteht ein grober Überblick darüber, wie die Technologien und Produkte positioniert werden sollen, folgt nun eine Aufteilung des zur Verfügung stehenden Budgets. Es wird unter Beachtung der Technologie- und Marktbewertung sowie der übergeordneten Strategien festgelegt, in welche Produkte (typischerweise wie viel F&E2-Budget) über die nächsten Jahre investiert werden soll und wie viel Budget in den nächsten Jahren in Wartung und Pflege fließen soll. Ziel ist es typischerweise, die Investitionen über die Jahre zu steigern und die Wartungs- und Pflegekosten zu verringern. Diese aus der Unternehmensstrategie abgeleitete Aufteilung der Mittelverwendung wird mithilfe des Töpfe-Ansatzes realisiert. Zunächst werden dabei die Leitplanken durch die Geschäfts- und Innovationsstrategie gesetzt, das heißt „welche Mittel man für welche Kategorien der Produktentwicklung generell zur Verfügung stellen möchte“ (Seidenschwarz und Lindemann 2016). Beispielsweise kann eine Einteilung in die Geschäfts- und Innovationsstrategien „Geschäftswachstum durch Innovationsführerschaft“, „Geschäftswachstum durch Einsatz von Entwicklungsressourcen für die installierte Basis“ und „Erfolg in der Forschungscommunity, der das Innovationsimage eines Unternehmens in einer Branche unterstreicht“ erfolgen. Daraus lassen sich spezifizierte operative Töpfe für die nächsten jeweils ein bis zwei Jahre ableiten, die sich wiederum weiter in einzelne Projekte unterteilen lassen. Diese einzelnen Projekte in den verschiedenen Töpfen können dabei in einem unterschiedlichen Stadium sein (Abb. 5.14). So können einzelne Projekte in den verschiedenen Kategorien/Töpfen top-down vorsortiert werden (Seidenschwarz und Lindemann 2016). Aus Sicht eines Nutzfahrzeugherstellers können solche Töpfe beispielsweise die klassische Serienentwicklung und -pflege des bestehenden Produktportfolios sein, erweitert um Töpfe für zukünftige Antriebstechnologien, die Entwicklung (teil-)autonomer Fahrzeuge und die Fehlerbehebung im Feld. Innerhalb der einzelnen Töpfe wird eine unternehmensspezifische Priorisierung vorgenommen, wobei zumeist nach den Kriterienkategorien strategische Bedeutung, Profitabilität, Innovationsgrad und Risiko entschieden wird (Seidenschwarz und Lindemann 2016). Weitere Aspekte, die es während des Priorisierungsprozesses zu beachten gilt, sind beispielsweise strategische Leitstrukturen, eine interdisziplinäre Diskussion, begrenzte Personen- und Kriterienzahl, die Fähigkeit auch nein sagen zu können, Innovationshüter für „junge Pflanzen“ und das Zeitnehmen für den Prozess des Priorisierens, da dieser oft wichtiger ist, als das Resultat selbst (Seidenschwarz und Lindemann 2016). Mithilfe der zuvor ermittelten Projektpriorisierung werden nun die zur Verfügung stehenden Ressourcen auf die Projekte aufgeteilt. Dazu wird im ersten Schritt eine grobe Füllstandsmarkierung gezogen, also bis wohin die zuvor priorisierten Projekte theoretisch mit den vorhandenen Ressourcen umsetzbar sind (Seidenschwarz und Lindemann 2016). Im zweiten Schritt werden dann Beziehungen der einzelnen Projekte
2Forschung
und Entwicklung.
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Abb. 5.14 Portfoliomanagement – von der Strategie bis zur Maßnahmenebene
untereinander analysiert – sind beispielsweise zwei Projekte voneinander abhängig, wobei das eine höher priorisiert wurde und das andere niedriger, so kann es notwendig sein, dass das niedrigere, obwohl es unterhalb des Füllstandes liegt, auch realisiert werden sollte (Seidenschwarz und Lindemann 2016). In einem dritten Schritt wird ein Projektranking mit den in Schritt eins herausgearbeiteten Filterkriterien durchgeführt, welches zu einer Überarbeitung der Priorisierung führt. Die so entstandene Projektliste wird nun noch einmal mit den Topfgrößen abgeglichen (Pfeiffer et al. 1985). In einem letzten Schritt kann es je nach Unternehmenskultur sein, dass noch Ermessensentscheidungen seitens der Unternehmensführung gefällt werden (Seidenschwarz und Lindemann 2016). Schlussendlich werden die zur Verfügung stehenden Ressourcen dann auf die priorisierten Projekte im Rahmen einer Multi-Projektplanung aufgeteilt und in mehreren Planungsstufen auf die einzelnen Teams und Abteilungen heruntergebrochen. Dies geschieht typischer Weise in einem Gegenstromverfahren (Top-Down Projektpriorisierung, Bottom-Up Ressourcenplanung) (Seidenschwarz und Lindemann 2016). Die Multi-Projektplanung wird im Normalfall viertel- oder halbjährig in einem Review überprüft. Im Falle von kurzfristigen Budgetrestriktionen kann es sein, dass unterjährig noch einmal umpriorisiert werden muss (Seidenschwarz und Lindemann 2016).
5 Produktplanung
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5.6 Planung einzelner Produkte und Produktportfolios Aufbauend auf den Erkenntnissen und der Vorausschau der Portfolioplanung werden Entwicklungsvorhaben aufgesetzt. Kern dieses Aufsatzes ist meistens der Entwicklungsauftrag samt Anforderungsliste. Diese Dokumente dienen als Projekt-Charter, die damit die Ziele des Projekts und die weiteren Rahmenbedingungen beschreibt. Den Rahmen dazu setzt die Planung des Portfolios inklusive der Bewertung der verfügbaren Mittel und Ressourcen. Ziel der Produktplanung ist damit vor allem die Operationalisierung und Konkretisierung dieser Aspekte, um daraus einzelne dedizierte Entwicklungsvorhaben oder -projekte zu starten (Cooper et. al. 2001). Entgegen der klassischen Vorgehensweise, die in der Literatur oft vorgeschlagen wird, laufen Projekte selten als Neuentwicklungen, sondern vielmehr als Anpassungsentwicklungen bestehender Produkte. Dies bedingt, dass viele Unternehmen nur die Abweichung zum bestehenden Produkt beschreiben. Derartige Entwicklungsaufträge und Anforderungslisten sind in der Realität also in den wenigsten Fällen vollständig, vielmehr werden sie oft erst während der frühen Phasen der Projektarbeit komplettiert – bei der Anbahnung des Projektes liegt oft also nur ein grobes Dokument vor. Dasselbe gilt auch oft für die Beschreibung neuer Produktentwicklungen, gerade während der Anbahnung des Projektes: Während das Projektteam noch nicht vollständig benannt ist und zunächst noch die Ideen und Konzepte gesammelt werden, ist in vielen Fällen keine vollständige Anforderungsliste erstellbar – auch in solchen Fällen liegt bei Start des Projekts erst eine grobe Beschreibung vor. Wichtig ist in beiden Fällen aber, dass die vorliegenden Informationen es zulassen, die Erfolgswahrscheinlichkeit des Projekts ganzheitlich abzuschätzen und so ein sinnvolles Projekt aufzusetzen. Ist dies nicht möglich, kann es notwendig sein, weitere Vorab-Tätigkeiten zu starten, etwa eine Vorstudie, die vertiefte Klärung der Randbedingungen, die Entwicklung einer Technologie oder die detaillierte Studie des Marktes. Der Planung der Produktentwicklung kommt damit vor allem die Rolle der ganzheitlichen Chancen- und Risikoabschätzung zu (vgl. Oehmen 2016). Dazu ist es Aufgabe in der Produktplanung, ein ganzheitliches Bild der Projektinhalte zu erfassen: • • • • • •
Strategische Gesichtspunkte Technische Gesichtspunkte Die Wirtschaftlichkeit Die Leistbarkeit Die Marktakzeptanz und die Marktanforderungen Die grobe Umsetzungsplanung
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5.6.1 Vorgehensmodell für die Projektanbahnung Das in Abb. 5.15 gezeigte Vorgehen soll hier stellvertretend diese Aspekte aufnehmen – es richtet sich an typischen Vorgehensweisen in der Industrie aus und kann damit in vielen Fällen als generische Leitlinie gelten; in kleineren und mittleren Unternehmen kann es entsprechend im Umfang reduziert werden. Die relevanten Aufgaben spiegeln sich in den unterschiedlichen Meilensteinen wider. Das Vorgehen nimmt zudem typische Aspekte einer Projektanbahnung auf, wie etwa die späten Prüfaufträge im Rahmen der Vorbereitung der Entscheidung mit den Geschäftsführern oder dem Vorstand oder aber die organisatorischen Aspekte des Kickoffs etc. Übergeordnet lässt sich das Vorgehen aus der Abbildung in drei Schritte aufteilen: Die Setzung der strategischen Grundlagen, die Konsolidierung und Bewertung von Produktideen und das Herbeiführen der Entscheidung. Diese sind als drei Phasen abgebildet. Innerhalb der drei Phasen werden drei Dokumente fortgeschrieben: Die grobe Anforderungsliste als Beschreibung der Ansprüche an das Produkt aus allen Sichten des Produktlebenszyklus’ (Markt, Produktion, Service,…), das Grob-Konzept als Beschreibung der technologischen Machbarkeit über alle Sichten im Unternehmen
Abb. 5.15 Vorgehen zur Projektanbahnung
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(Technologie, Produktion, Vermarktung,…) und der Business-Case als Bündelung aller monetären Kenngrößen einschließlich der wirtschaftlichen Machbarkeit (Kosten, erwarteter Umsatz, Ressourcenverfügbarkeit,…). Diese drei Dokumente sind als Zeilen in der Grafik erkennbar. u
Je dichter die Anbahnung der tatsächlichen Entscheidung kommt, desto schwerer ist es, diese agil durchzuführen, da eine Vielzahl von Informationen im Business Case zusammenfließen und konsistent sein müssen. Umgekehrt bietet es sich aber an, gerade die frühen Phasen bis zur Erstellung der groben Anforderungsliste agil durchzuführen.
Während der Strategie-Phase steht insbesondere die Konsolidierung aller Inputs und die Sicherstellung einer gewissen Vollständigkeit im Mittelpunkt – hierfür steht im Mittelpunkt die 360°-Betrachtung, die vor allem Inputs aus der Unternehmensstrategie, dem Markt und der Produktpositionierung aufnimmt, aber auch auf Gesetze, Abkündigungen und Einkaufsthemen oder andere für das Unternehmen relevante Entwicklungen schaut. Liegen diese Inputs zu Meilenstein G1 vor, entstehen daraus erste Themensteckbriefe und ein Entwurf der späteren Anforderungsliste, um diese dann sukzessiv zu detaillieren. Eine derartige Entscheidung kann zum Beispiel Sinn machen, wenn aus Sicht der Produktion eine neue Technologie (z. B. Schleifen statt Läppen für Zahnräder) eingeführt wird und sich diese in gewissen Entwicklungsumfängen resultiert (z. B. die Anpassung der Toleranzen und die Absicherung im Versuch). Mit Vorliegen dieser Themenübersicht kann dann zu Meilenstein G2 eine erste Grobentscheidung getroffen werden, um das eine oder andere Themenpaket weiterzuverfolgen oder zur Seite zu legen. Dabei ist zu bedenken: Entscheidungen in einer derart frühen Phase der Entwicklung bedeuten immer, die Risiken und Unsicherheiten bestmöglich abzuschätzen (Chalupnik et al. 2013). In diesem Sinne bietet es sich oft an, Ideen etwas länger zu verfolgen und „im Rennen zu behalten“ (Lindemann und Ponn 2008). Während der Phase der Bewertung der Produktideen ist es die Aufgabe der Produktplanung, die grobe Anforderungsliste zu erstellen und zu komplettieren, um so den späteren Entwicklungsauftrag besser zu beschreiben. Die Details einer sinnvollen Anforderungsbeschreibung werden später in diesem Buch beschrieben. Parallel erfolgt die Erarbeitung des GrobKonzepts. Dieses dient als Grundlage für die folgenden Zwecke: • Abschätzung der technologischen Risiken und der Erfüllbarkeit der Anforderungen • Abschätzung der Aufwände zur Entwicklung, Produktion, … • Erste Bewertung der Marktfähigkeit, ggf. zusammen mit Kunden, einschließlich einer ersten Bewertung der möglichen Preisbildung • Erste Bewertung der Produktkosten und ggf. Ableitung von Kostenzielen mittels Target Costing • Ableitung der notwendigen Projektorganisation und des Projektplans
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Dabei baut das Grobkonzept natürlich analog dem Vorgehen in der VDI 2221 (VDI 1993) auf der Anforderungsliste auf, und der Business Case wiederum setzt mit Meilenstein G3 auf beiden auf. Wichtig ist dabei aber, dass diese Aufgaben nicht sequentiell nacheinander erfolgen, sondern parallel zueinander weiterlaufen, um die Erkenntnisse, die jeweils entstehen, konsistent zueinander zu halten und zugleich in die spätere Projektorganisation zu überführen. Dieser Konsistenz und dem zugehörigen Anspruch an die Vollständigkeit (gerade aus Sicht gesetzlicher Rahmenbedingungen) trägt der Meilenstein G4 Rechnung, der eine gesamthafte Prüfung auf Konsistenz und Vollständigkeit (z. B. mittels des Quality-Function-Deployments) einleitet. Ist dies mit Meilenstein G5 vorhanden, so kann die Entscheidung getroffen bzw. vorbereitet werden. In der industriellen Realität ist es fast nie der Fall, dass eine Entscheidung als Dokument vorbereitet und dann direkt getroffen wird – gerade in großen Unternehmen handelt es sich um komplexe Vorgänge, die zu einer Entscheidung führen (Mintzberg 1994). Die Phase der Entscheidungsvorbereitung (G5 bis Start Entwicklungsprojekt) kann daher sehr kurz oder auch sehr lang sein, je nach Situation und Größe des Unternehmens. Am Ende der Phase steht neben der eigentlichen Entscheidung ein Projektauftrag zur Verfügung, der durch die grobe Anforderungsliste, das Grob-Konzept und den Business-Case detailliert wird. Vor allem während der Entscheidungsfindung nimmt dabei der Business-Case eine vergleichsweise wichtige Rolle ein, da er neben der eigentlichen Idee („Invention“) auch deren Markterfolg („Innovation“) in den Mittelpunkt stellt. In der Betriebswirtschaft existieren hierzu viele Modelle, Methoden und Werkzeuge zur Beschreibung. Eine oft angewendete Methode zur Betrachtung der Wirtschaftlichkeit ist der klassische Business-Case auf Grundlage der Kapitalwertmethode (auch als NPV „Net Present Value“ bezeichnet) oder eines ähnlichen dynamischen Modells; in einfachen Fällen reicht auch eine statische Betrachtung auf Grundlage einer Kostenvergleichsrechnung o. ä. (Kruschwitz und Husmann 2012).
5.6.2 Rolle der Architektur und der Modularisierung Werden breitere Produktportfolios oder Produktfamilien und nicht nur einzelne Produkte entwickelt, kommt der übergreifenden Planung aller Produkte eine besondere Rolle zu. Der Grundlegende Gedanke hierbei ist, dass Produktfamilien oder -portfolios von den Kommunalitäten zwischen den einzelnen Produktmerkmalen profitieren (Förg et al. 2014; Blees 2011). Der in Abb. 5.16 gezeigte Produktarchitektur-Entwicklungsprozess (Schuh et al. 2010) nimmt diesen Gedanken auf, er steht hier stellvertretend für viele vergleichbare Vorgehensweisen (Robertson und Ulrich 1998; Simpson et al. 2001; Krause et al. 2018). Die Idee hierbei ist, dass eine Baukastenentwicklung dann erfolgreich ist, wenn auch die Planung des Produkts, also die in der Anforderungsliste benannten Merkmale und Eigenschaften, eine Modularität verfolgen. Das Wirkprinzip lässt sich mit „same customer need = identical function“ übersetzen, wie es etwa Scania als Prinzip verfolgt (Scania 2017). Konsequenz für die Produktplanung und die Anbahnung einzelner Projekte ist, innerhalb eines einzelnen Projekts bereits – im Sinne der Produktroadmap – vorauszudenken
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Abb. 5.16 Produktarchitektur-Entwicklungsprozess (Schuh et al. 2010)
und ggf. kommende Anforderungen an eine Lösung mit in die Anforderungsliste aufzunehmen und im Rahmen der Vorbereitung eines Projekts zu bewerten. In der Praxis bedeutet das insbesondere, die zusätzlichen Aufwände, die durch die Entwicklung eines Baukastens an Stelle einer einzelnen Lösung entstehen, transparent zu machen.
5.6.3 Beispiel: Planung eines Produktprojekts im Nutzfahrzeugbereich Anpassungsentwicklungen und Erweiterungen bestehender Produkte und Produktportfolios bedingen, dass bekannt ist, welche Teile des Produktportfolios im geplanten Produktvorhaben – wie bspw. die Einführung eines ACC-Systems (Adaptive Cruise Control) – betroffen sind. Unternehmen mit einem großen Portfolio ist es oft aus Gründen der Ressourcenverfügbarkeit nicht möglich, Produktverbesserungen in einem Zug über das gesamte Portfolio auszurollen – im Hinblick auf den Erfolg am Markt ist dies auch nur in seltenen Fällen ratsam (Elberse 2008). Die oben beschriebenen Kommunalitäten zwischen Produktmerkmalen können das Ausrollen über große Teile eines Portfolios erleichtern. In Abb. 5.17 ist die Zuordnung der in diesem Beispiel geplanten ACC-Einführung in einer vereinfachten Portfoliodarstellung abgebildet. Zur Ermittlung des
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Entwicklungsaufwands müssen in einer solchen Portfoliozuordnung Produktmerkmale berücksichtigt werden, die eine Schnittstelle zu neu- oder weiterentwickelten Komponenten besitzen (diejenigen also, die gegebenenfalls auch zu Anpassungen führen und Aufwände erzeugen). Grundlage für die Portfolioplanung kann eine Bewertung der marktseitigen Performanz oder Relevanz von Produktvorhaben über die einzelnen Teile des Portfolios sein. Hierzu werden am Beispiel der ACC-Einführung die erzielbaren Mehrerlöse am Markt gepaart mit dem erzielbaren Volumen über die Kombinationen verschiedener Produktmerkmale (= Teilportfolios) aufgetragen (Abb. 5.18).
Abb. 5.17 Geplantes Produktvorhaben (ACC – Adaptive Cruise Control) in einer vereinfachten Portfoliodarstellung anhand ausgewählter Produktmerkmale
5 Produktplanung
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Hinter jedem Teilportfolio kann sich je nach Segmentierung bspw. ein spezieller Markt oder eine besondere Kundengruppe verbergen, deren Kaufkraft und Zahlungsbereitschaft so mit in die Planung einfließen. Grundlage der Beurteilung ist dabei vor allem die Nutzung des Produktes durch den Kunden in dem jeweiligen Marktsegment, etwa anhand von Kundensteckbriefen, Use Cases oder ähnlichen Untersuchungen. Auch kurze, skizzenhafte Abfragen im Markt sind denkbar. Anhand der beiden Übersichten (Abb. 5.17 und 5.18) kann nachvollzogen werden, dass eine mögliche Portfolioerweiterung „ohne“ Aufwände – aufgrund gegebener Kommunalitäten zwischen den betroffenen Produktmerkmalen (am Beispiel: Motor und Fahrerhaus [FHS]) – unter Umständen keine oder nur geringe Erlöse und Volumen am Markt erzielen kann. In der Praxis kann dies für Unternehmen mit einem großen Produktportfolio zu Komplexität und damit verbundenen Kosten (Validierungs-, Dokumentations- und Pflegeaufwände) ohne die nötigen Einnahmen führen.
Abb. 5.18 Marktkenngrößen (erzielbare Mehrerlöse und Volumina) zugeordnet zum Produktportfolio am Beispiel der Einführung eines ACC
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Zur Vorbereitung der Entscheidung über ein Produktprojekt fließen die gesammelten Informationen aus der Produktplanung zusammen: Das Produktvorhaben wird als grobe Anforderungsliste beschrieben, und die darin gesammelten Informationen bilden die Basis zur Ermittlung des Marktpotenzials. Die daraufhin und auf Basis erster Konzeptvorschläge erstellte Zuordnung des Produktvorhabens auf das Portfolio ist wesentliche Einflussgröße für die Ermittlung der Entwicklungsaufwände. Unter Einbeziehung der weiteren Aufwände zur Realisierung des Produktvorhabens (z. B. Investitionen) kann ein Business Case erstellt und ein Net Present Value (Abschn. 5.6.1) ermittelt werden. Dieses Vorgehen in der Entscheidungsvorbereitung ist in Abb. 5.19 am Beispiel des ACC-Produktvorhabens (Adaptive Cruise Control) dargestellt. Zur Priorisierung einzelner Produktvorhaben für ein Produktprojekt können diese anhand wichtiger Kenngrößen, wie Kundennutzen und Net Present Value (NPV), einander gegenübergestellt werden.
Abb. 5.19 Entscheidungsvorbereitung und Übersicht zur Priorisierung von Produktvorhaben am Beispiel des ACC
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5.7 Begleitung von Entwicklungsprojekten aus Sicht der Produktplanung Die Umsetzung der Produktvorhaben geschieht meist im Rahmen zueinander abgegrenzter Produkt(entstehungs)projekte, mit klarem Ergebnis, definiertem Start- und Endzeitpunkt und klar definierten Ressourcen. Die Begleitung und intensive Betreuung dieser Projekte durch die Produktplanung gewährleistet eine zielgerichtete Umsetzung der Produktvorhaben und den Rückfluss wichtiger Informationen, die als Planungsprämissen weiterer Produktvorhaben vorausgesetzt werden können. Die Randbedingungen eines Projekts werden durch die Projektcharter beschrieben Kap. 17 (Projektmanagement), zur detaillierteren Beschreibung des Entwicklungsauftrags und zur Sammlung aller Anforderungen wird in der frühen Phase der Projekte eine Anforderungsliste erstellt. Sie beschreibt die Leistungen und Lieferungen des Auftragsnehmers (Entwicklungsabteilungen, bei fremdvergebenen Entwicklungsumfängen: Lieferant) aus Sicht des Auftraggebers (Produktplanung, bei fremdvergebenen Entwicklungsumfängen: OEM [Original Equipment Manufacturer]) (DIN 69901-5:2009-1). Dem Produktplaner (oft auch: Produktmanager) kommt in der Projektarbeit, vor allem bei der Erstellung der Anforderungsliste, die Rolle des Qualitätswahrenden zu. Sein oberstes Ziel muss es sein, dass im Projektcharter verankerte und der Produktplanung zugrunde liegende Ergebnis des Projekts zu wahren. Dies bedeutet, dass die gesamthafte Konsistenz, Klarheit und Korrektheit über alle Informationen zentral gewahrt wird. Dies betrifft damit vor allem die Prüfung der Detaillierung der Anforderungen, etwa bei Ergänzungen, Umformulierungen oder bei Kürzungen (durch bspw. Ressourcen- oder Zeitengpässe): Hier muss der Produktplaner die Kompatibilität zur Produkt- und Unternehmensstrategie sicherstellen. Mit diesem Anspruch geht oft einher, dass der Produktplaner auch die Übergabe und Durchsprache der Inhalte der Anforderungsliste begleitet. Dies hat zum einen den Hintergrund, dass der Produktplaner so auf eventuelle Fragen eingehen kann und durch die Rücksprache eine bessere Verbindlichkeit der Anforderungsliste sicherstellen kann, zum anderen ist es der Einstieg in den folgenden Änderungsprozess, mit dem sichergestellt wird, dass Änderungen an der Anforderungsliste und am Projektauftrag auch nach Projektstart aktiv geplant, gesteuert und nachverfolgt werden. Oft werden Anforderungslisten aus Sicht der Produktplanung als statische Dokumente behandelt und Änderungen sind nur gegen großen Widerstand innerhalb laufender Entwicklungsprojekte möglich. Dahinter verbirgt sich nach Einschätzung der Autoren in vielen, vor allem großen Unternehmen der Wunsch nach geordneten Prozessen und geringem Änderungsaufwand sowie die fehlende Nachvollziehbarkeit (Nachverfolgbarkeit) der Änderungen (vgl. auch „Zehnerregel“, Lindemann 2009). Häufige Änderungen in laufenden Projekten werden der Produktplanung in der Regel negativ angelastet. Ein von der Produktplanung gesteuertes Änderungsmanagement für Anforderungslisten mit entsprechender Nachverfolgbarkeit der Anforderungen sowie deren Änderungen kann der Produktplanung im Unternehmensumfeld zu größerer Akzeptanz und im eigenen Sinne zu erhöhter Planungssicherheit verhelfen.
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Nutzerbedürfnisse Kristin Paetzold
6.1 Das Spannungsfeld zwischen Entwickler und Nutzer – eine Einführung Technische Systeme können dem Menschen helfen, gegebene natürliche Leistungsgrenzen zu überwinden bzw. aufzuheben. Dabei ist es unabhängig davon, wodurch die Leistungsgrenzen bedingt sind (z. B. biologisch, krankheitsbedingt oder altersbedingt). Man denke allein an die Möglichkeit zu fliegen. Technische Systeme in ihren unterschiedlichen Ausprägungen können helfen, unsere eigenen Ressourcen zu stärken und unsere Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Aktivitäten sowohl im beruflichen als auch im privaten Umfeld lassen sich zeit- und energiesparend ausführen, was wiederum Freiraum für eine persönliche Selbstverwirklichung schafft. Die Nutzung setzt aber voraus, dass die technischen Systeme vom Nutzer als attraktiv wahrgenommen werden, ihre Funktionsweise verstanden wird und Konsequenzen der Nutzung und einhergehende Aufwände akzeptiert werden.
6.1.1 Unterschiedliche Sichtweisen auf das Produkt Grundlage dafür, den Menschen in seiner alltäglichen Lebensführung zu unterstützen ist, dass der Entwickler den Nutzer mit seinen Bedarfen und Wünschen aber auch dessen individuelles Lebensumfeld versteht. Dazu muss man berücksichtigen, dass der Mensch
K. Paetzold (*) Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_6
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K. Paetzold
in der Bewertung und Interpretation von Produkten zwei unterschiedliche Rollen einnehmen kann (Paetzold 2018): • In der Rolle als Nutzer nimmt der Mensch ein Produkt und interpretiert dessen Funktionalität über die Gestaltgebung und die Eigenschaften. Indem er die so für sich definierte Funktionalität in seinen Lebenskontext stellt, der durch seine individuelle Lebens- und Handlungssituation geprägt ist, entscheidet der Nutzer über die Gebrauchstauglichkeit des Produktes für sich. Entscheidungen für ein Produkt sind entsprechend nicht nur geprägt durch dessen Funktionalität, sondern auch durch affektive, emotionale und soziale Aspekte. • In der Rolle als Entwickler greift er technologische Möglichkeiten auf, um diese in den Nutzer potenziell unterstützende Funktionen innerhalb eines Produktes umzusetzen. Diese technologiegetriebene Denkweise orientiert sich natürlich an Bedürfnissen des Nutzers, reduziert diese jedoch häufig auf Betrachtungen zu dessen Leistungsfähigkeit. Mit der Ingenieurssicht verbundene Entscheidungen sind einerseits geprägt durch physikalische Zusammenhänge und berücksichtigen andererseits eher rationale Aspekte wie DFX-Kriterien, die technische Machbarkeit und die fertigungstechnische Realisierbarkeit. Die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Produkt durch den Nutzer und Entwickler sind in Abb. 6.1 verdeutlicht. Während der Entwickler nach dem Finalitätsprinzip handelt und auf Basis eines definierten Systemzwecks die Produktfunktionalitäten und letztlich das Produkt gestaltet, handelt der Nutzer nach dem Kausalitätsprinzip. Er muss sich die Produktfunktionalität quasi erarbeiten. Die Basis hierfür bilden seine Erfahrungen und Erwartungen an das Produkt. Die genutzte Funktionalität, die auf
Abb. 6.1 Unterschiedliche Sichtweisen auf das Produkt durch den Nutzer und den Entwickler (Paetzold und Nitzsch 2014)
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Basis dieser Interpretation entstanden ist, wird vom Nutzer hinsichtlich ihres Nutzungszwecks geprüft und führt für diesen zu einer Entscheidung, ob und wie er das Produkt als technische Assistenz annimmt. Diese unterschiedlichen Sichtweisen bezeichnet Sarodnick (2006) als „symmetrische Ignoranz“ zwischen Nutzer und Entwickler. Sie führt letztendlich dazu, dass zwar funktional und qualitativ hochwertige Produkte entstehen, diese aber vom Nutzer nicht akzeptiert werden, weil sie nicht im Sinne der Problemlösung vom Nutzer wahrgenommen werden. Eine Nichtbeachtung dieser Zusammenhänge kann dazu führen, dass Nutzer das Produkt nicht akzeptieren und der wirtschaftliche Erfolg des Produktes und damit die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens beeinträchtigt werden. Dies macht deutlich, dass es eines guten Verständnisses des Nutzers bedarf, um dessen Bedürfnisse zu erkennen und verantwortungsvoll in Produktideen und deren Ausgestaltung einfließen zu lassen. In diesem Kontext finden zunehmend Methoden der Nutzerintegration Verwendung, wobei Nutzerintegration und Nutzerpartizipation synonym verwendet werden. Im Folgenden soll auf Basis einer ausführlichen Nutzerbetrachtung hergeleitet werden, wie und mit welchen Randbedingungen der Nutzer in den Entwicklungsprozess integriert werden kann und welche Methoden hierfür im Wesentlichen zur Verfügung stehen.
6.1.2 Verantwortlichkeit der Entwicklung in der Produktgestaltung Mit der Unterstützung der Menschen durch technische Systeme nimmt der Entwickler eine große Verantwortung auf sich. Technische Systeme und Produkte dienen dazu, den Menschen in der Bewältigung von Aufgaben zu unterstützen. Aufgabenbewältigung bedeutet dabei immer auch, dass der Mensch hierzu Widerstände überwinden muss, diese resultieren nicht nur aus äußeren Rahmenbedingungen, sondern können auch motivationsgeprägte Ursachen haben („…sowas hab ich noch nie gemacht…“ Gransche 2017). Technische Systeme liefern dabei die Assistenz zum menschlichen Handeln, sie liefern Beistand in der Aufgabenbewältigung indem sie Kompetenzen erweitern resp. ersetzen. Die Kompetenzersetzung durch ein Produkt als technische Assistenz ist dann positiv konnotiert, wenn sie zur Stärkung und Steigerung der eigenen Aufgabenbefähigung beitragen und als solche durch den Menschen als Nutzer auch wahrgenommen werden. Dieser positive Effekt wiederum kann in Anlehnung an Seligman und Csikszentmihalyi (2014) auf zwei Arten ausgeprägt sein: Zum einen kann die Aufgabenbewältigung für den Menschen eine Homöostase ermöglichen bzw. unterstützen, was sich aus der Bedürfnisbefriedigung zu Zielen oder Wünschen ergibt. Das damit verbundene gute Gefühl resultiert aus der Sicherheit, mit einer Situation umgehen zu können (Pleasure). Andererseits kann mit der Aufgabenbewältigung das positive Gefühl einhergehen, etwas Neues erfahren bzw. Grenzen überwunden zu haben. Dies entspricht eher dem
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berwinden eines Gleichgewichtszustandes bzw. des Aufbaus auf einer neuen Ebene, Ü was zum Wohlbefinden und Wachsen der Persönlichkeit beiträgt (Enjoyment). Gleichzeitig werden mit der Verrichtung von Tätigkeiten auch eigene Fähigkeiten trainiert und aufgebaut, was wiederum den Kompetenzerhalt unterstützt. Wird der Beistand durch die technische Assistenz vom Nutzer als Komfort wahrgenommen, der in erster Linie dazu dient, Widerstände zu vermeiden, wirkt sich die Kompetenzersetzung für den Nutzer schnell negativ aus. Sie führt zu einem Kompetenzverlust, der dem Nutzer nicht unbedingt bewusst ist oder auch billigend in Kauf genommen wird. Dann ist die Kompetenzersetzung negativ konnotiert. Beispielsweise kann die ausschließliche Nutzung von Navigationssystemen zur Orientierungsunterstützung zu einer Reduktion der kognitiven Fähigkeit, innere Karten zu bilden, führen. Aus diesen Überlegungen heraus erscheinen für weitere Betrachtungen der Nutzerintegration vor allem zwei Aspekte von besonderer Bedeutung: • Produkte als technische Assistenz gilt es, durch den Entwickler bereit zu stellen. Dazu muss sich der Entwickler Gedanken machen, was für die Aufgabenbewältigung benötigt wird und wie dies im Sinne der Verbesserung oder Erhaltung der Lebensqualität umgesetzt werden muss. • Die Inanspruchnahme der Produkte als technische Assistenz durch den Nutzer orientiert sich an dessen Bedarfen und Intentionen in der Produktnutzung, also daran, wie er die Aufgaben für sich definiert und mit welchen Zielen er an die Aufgabenbewältigung geht. Dies erfordert vom Ingenieur ein tiefgehendes Verständnis vom Nutzer, welches nicht auf die eher funktionale Betrachtung seiner Leistungsfähigkeit reduziert werden darf, sondern auch dessen Lebens- und Handlungssituation berücksichtigt werden muss.
6.2 Charakterisierung und Klassifizierung von Nutzern Grundsätzlich sollen im Folgenden als Nutzer die Menschen verstanden werden, die mit dem Produkt interagieren, um für sich in ihrer Lebens- und Arbeitsumwelt eine bestimmte Wirkung zu erzielen.
6.2.1 Einflussfaktoren auf Wünsche und Bedürfnisse der Nutzer Ob sich der Nutzer für ein Produkt zur Aufgabenbewältigung entscheidet und die Art und Weise, wie er dieses dann nutzt bzw. seine Funktionalität für sich interpretiert, ist nicht nur von seinen sensorischen, motorischen und kognitiven Fähigkeiten abhängig, sondern auch von affektiven, psychologischen und sozialen Aspekten. Diese beeinflussen nicht nur die Bedürfnisse des Nutzers, sondern auch sein Nutzungsverhalten.
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Der Produktentwickler steht vor der Herausforderung, die gewünschte Wirkung zu antizipieren und hierbei die Wünsche und Bedürfnisse des Nutzers aus deren spezifischer Sicht heraus zu berücksichtigen. Hierzu wird als Grundlage für die Entwicklung ein Zielsystem definiert. Ein Zielsystem umfasst nach Oerding (2009) alle Informationen zu einem Produkt und dessen Wechselwirkungen mit den interessierenden übergeordneten oder auch gleichgestellten Systemen, wobei hier das sozio-technische System im Fokus steht. Es beinhaltet alle expliziten Ziele eines zu entwickelnden Produktes einschließlich deren Abhängigkeiten und Randbedingungen innerhalb eines definierten Interessensbereiches zu einem bestimmten Zeitpunkt (Lohmeyer 2013). Wichtig erscheint, dass das Zielsystem nicht allein auf das Produkt bezogen wird sondern auf das Ergebnis in der Anwendung des Produktes. So muss eine Kaffeemaschine z. B., nicht nur Kaffee oder Variationen von diesem erzeugen, sondern auch vom Nutzer bedienbar und wartbar sein. In diesem Kontext muss auch darüber nachgedacht werden, dass in kleinen Küchen möglicherweise nicht genug Platz ist, um zur Wartung seitlich Teile wie den Tresterbehälter heraus zu ziehen. Daher dient die Beschreibung des Zielsystems nicht dazu, Produktideen zu generieren oder Produkte zu bewerten, sondern es kann im Sinne eines Handlungsumfeldes bzw. zur Beschreibung der Handlungssituation des Nutzers verstanden werden. Ein Zielsystem definiert entsprechend: • die Funktionalität des zu entwickelnden Systems, • die Rahmenbedingungen aus der Umgebung, unter denen die gewünschte Wirkung erreicht werden soll, • das Nutzerverhalten, also die Art und Weise, wie der Mensch das Produkt nutzt, um sich seine Wirkung zu erschließen. Nicht nur die Erfassung der Nutzerbedürfnisse und Wünsche, sondern auch die daraus resultierende Beschreibung von Zielsystemen erweist sich hierbei als anspruchsvoll. Es existieren Nutzermodelle, mit denen sensorische, kognitive und motorische Leistungsfähigkeiten identifiziert und beschrieben werden können (Weißmantel und Biermann 1995). Hier sei z. B. auf antropomethrische Modelle der Ergonomie verwiesen (z. B. Duffy 2009). Zum Aufbau kognitiver Modelle z. B. zur Beschreibung von kognitiven Arbeitsbelastungen dient die Modellierungsmethode ACT-R (z. B. Rasmussen 1986). Die sensorische Leistungsfähigkeit das Menschen ist in verschiedenen Katalogen beschrieben (z. B. in Weißmantel und Biermann 1995). Die darin enthaltenen Informationen können zum Aufbau von Regelkreisen verwendet werden. Dies hilft aber nur bedingt, Nutzerbedürfnisse zu konkretisieren, da diese nur zu einem geringen Teil aus der Leistungsfähigkeit resp. der Leistungseinschränkung resultieren. Die Funktionsbeschreibungen für bzw. die Anforderungen an technische Systeme werden damit nur teilweise vervollständigt, weil diese eher mechanische Sichtweise affektive, psychische und soziale Aspekte vernachlässigt. Vor allem in den Fachgebieten der Humanwissenschaft und Geisteswissenschaft existieren Ansätze, um den Menschen genauer hinsichtlich dieser Effekte zu
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beschreiben. Diese sind aber nicht nur vergleichsweise komplex, sondern durch den Entwickler für seine Arbeit schwierig zu interpretieren. Um ein besseres Verständnis vom Nutzer für die Produktentwicklung zu erhalten, und die Entwicklung stärker am Nutzer und seinen Bedarfen auszurichten, erweisen sich die Methoden der Nutzerintegration als probates Mittel. Sie erfordern nicht nur eines klaren Verständnisses des Nutzers, sondern auch des Produktes bzw. seiner Bedeutung für den Nutzer. Hierfür sollen im Folgenden gängige Sichtweisen analysiert und unterschieden werden.
6.2.2 Bestandteile und Interpretation des Produktbegriffes im Kontext Wie aus den vorangegangenen Abschnitten deutlich wird, umfasst die Zielsystembeschreibung weit mehr als nur die Definition potenzieller Produktfunktionalitäten. Das bringt es aber auch mit sich, dass vom Produkt ein bestimmtes Verhalten in spezifischen Anwendungssituationen erwartet wird, welches nicht allein aus den Funktionsbeschreibungen abgeleitet werden kann. Zur vollständigen Beschreibung eines Produktes sind daher auch Dienstleistungen zum Produkt bzw. im Kontext der Produktnutzung, zum technischen Design als Produktsprache sowie ergonomische Aspekte zur Unterstützung der Bedienung und Anwendung genauso wie zur Personalisierung zu berücksichtigen (Abb. 6.2). Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang nicht vernachlässigt werden darf, ist der, dass der Nutzer mit dem Produkt zur Assistenz seiner Aktivitäten bestimmte
Abb. 6.2 Bestandteile des Produktes zur Erfüllung von Nutzererwartungen
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Wertvorstellungen verbindet. Nach Ottoson (2010) kann nach vier Wertekategorien unterschieden werden. Der funktionale Wert beschreibt inwiefern vor allem die Kombination aus technischen Funktionalitäten, der Bedienbarkeit und den zugehörigen Dienstleistungen die Aufgabenbewältigung für den Nutzer unterstützt wird. Der wahrgenommene Wert ergibt sich aus den Sinneseindrücken, die der Nutzer mit dem Produkt verbindet und wird neben der Funktionalität auch sehr stark durch das technische Design und ergonomische Aspekte geprägt, da damit die Produktsemantik zum Ausdruck gebracht wird. Im Kontext hier transportieren technisches Design und Ergonomie die Funktionsbeschreibung an den Nutzer. Dessen Interpretation wird dazu beitragen, wie sich der Nutzer die technische Funktionalität erschließt. Der Image-Wert beschreibt mehr oder weniger das Bild, welches der Nutzer mit der Nutzung des Produktes anderen vermitteln will. Es beeinflusst das Fremdbild, welches andere Menschen vom Nutzer erhalten. Der Image-Wert manifestiert sich z. B. in Dingen wie dem Markennamen bzw. der Markenwahrnehmung. Entscheidungen darüber sind von Nutzerseite vor allem mit Fragen der sozialen Integration und Zugehörigkeit verbunden. Damit einher gehen z. B. auch Aussagen zur Technikaffinität eines Nutzers bzw. darüber, inwieweit er bereit ist, eine technische Assistenz zur Aufgabenbewältigung anzunehmen und zu akzeptieren. Der emotionale Wert thematisiert das subjektive Wohlfühlen des Nutzers im Umgang mit dem Produkt. Das Wohlbefinden beschreibt dabei einen mentalen Zustand im Umgang mit dem Produkt und erlaubt damit letztlich Rückschlüsse auf die Motivation für die Produktnutzung (Hollnagel 2014). Es ist anzunehmen, dass dieses subjektive Wohlfühlen aus einer gewissen Sicherheit resultiert, die der Nutzer in der Situation der Aufgabenbewältigung durch die technische Unterstützung erhält.
6.2.3 Unterscheidung von Nutzern nach deren Interesse am Produkt Der Grundgedanke, den Nutzer stärker in Unternehmensprozesse im Allgemeinen und in Entwicklungsprozesse im Besonderen zu intergieren, findet nicht nur in der Produktentwicklung zunehmend Anklang, sondern wird auch in anderen Fachgebieten wie z. B. dem Marketing oder dem Innovationsmanagement thematisiert. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: es gilt, den Nutzer und das Nutzungsverhalten besser zu verstehen, um Trends wie Individualisierung und Personalisierung bedienen zu können. Hierbei verändert sich zunehmend die Perspektive im Blick auf den Nutzer. Seine vormals passive Rolle wird zunehmend zu einer aktiven Rolle im Entwicklungsprozess bzw. in der Produktentstehung, was mit einer stärkeren Ausdifferenzierung sowohl hinsichtlich der Sichten auf den Nutzer als auch der Rolle vom Nutzer in der Entwicklung einhergeht. Hieraus ergeben sich verschiedene Interpretationen des Nutzers, die im Folgenden unterschieden werden sollen.
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Abb. 6.3 Soziotechnisches System als Betrachtungsgegenstand
Ausgangspunkt bildet dabei die Überlegung, dass nicht mehr allein das technische System die Assistenzfunktion des Produktes determiniert, sondern das Produkt und Mensch als ein System zusammenwirken (Abb. 6.3). In die Betrachtung des soziotechnischen Systems fließt der Mensch als Nutzer mit seinen Fähigkeiten aber auch seiner Lebens- und Handlungssituation ein, aus denen einerseits Verhaltensanforderungen an das Produkt entstehen, die aber andererseits auch auf Verhaltensweisen im Umgang mit dem Produkt schließen lassen. Um die verschiedenen Wertvorstellungen in der Nutzung des Produktes durch den Nutzer integrieren zu können, muss in der Beschreibung des technischen Systems auch die Ergonomie, das technische Design und Dienstleistungen mitberücksichtigt werden.
6.2.3.1 Differenzierung der Nutzer durch Grenzziehung Grundsätzlich gilt es zwischen Nutzer und Konsument (Consumer) zu unterscheiden, was sich in einer Grenzziehung bzw. der Sichtweise auf das sozio-technische System manifestiert. Dem Konsument (Consumer) wird eine eher passive Rolle im soziotechnischen System zugeordnet, im Fokus steht nicht seine direkte Interaktion mit dem Produkt. Zwar wird der Mensch als Konsument gerade in Fachgebieten wie dem Marketing weiter ausdifferenziert, im Fokus steht dabei aber nicht die Interaktion mit dem Produkt, sondern externe Aspekte dazu, wie Kaufentscheidungen zustande kommen (Gabler Wirtschaftslexikon 2019). Im Gegensatz dazu wird bei der Betrachtung des Menschen als Nutzer auf die Analyse und Beschreibung der Wechselwirkungen mit dem Produkt fokussiert. 6.2.3.2 Differenzierung der Nutzer durch Interesse am Produkt Produkte werden für einen definierten Systemzweck entwickelt, trotzdem gibt es Nutzer, die mit dem Produkt interagieren, dabei aber nicht den originären Systemzweck verfolgen. Am Produkt haben häufig eine Vielzahl von Menschen sehr unterschiedliche Interessen. Es gilt, verschiedene Stakeholder am Produktverhalten zu berücksichtigen, wobei hier auf solche fokussiert werden soll, die in die Produktnutzung in irgendeiner Art involviert sind.
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Exemplarisch hierfür sei ein Flugzeug, dessen Nutzer nicht allein der Passagier ist, der von A nach B befördert werden möchte, sondern auch der Pilot, das Servicepersonal, das Wartungs- und Reinigungspersonal, die am Produkt und dessen Verhalten Interesse haben. Daher soll nach Stakeholdern unterschiedlichen Grades unterschieden werden. Während Stakeholder 1. Grades ein direktes Interesse am Systemzweck des Produktes haben (Passagier und Pilot), sind Stakeholder 2. Grades am Produkt dahingehend interessiert, dass sie dessen originären Systemzweck bestmöglich verfügbar machen. Die Gründe für das Nutzungsinteresse von Stakeholdern 2. Grades sind vielfältig: Co-User bezeichnet solche Nutzer, die das Produkt zwar direkt nutzen, aber derart, dass der originäre Systemzweck unterstützt bzw. abgesichert werden soll. Hierzu zählen z. B. Bedien- oder Wartungstätigkeiten im Flugzeug (Janhager 2013). Bezüglich der Verwendung von Produkten muss zwischen Kunden und Nutzern unterschieden werden. Auch der Kunde gilt als indirekter Nutzer, wenn er das Produkt beschafft, aber nicht direkt selbst nutzt. Beispielhaft sei das Unternehmen genannt, welches Werkzeugmaschinen beschafft, um durch deren Verwendung durch den Arbeiter die Unternehmensexistenz abzusichern (Arens und Hehenberger 2015). Als Side-User (in der Literatur auch tertiärer Nutzer oder Stakeholder dritten Grades genannt (z. B. Reinicke 2004)), sollen die Menschen bezeichnet werden, die durch die Produktnutzung auch bzw. primär durch andere in ihrer Lebens- und Handlungssituation beeinflusst werden (Janhager 2013). Beispielhaft sei hier auf Menschen verwiesen, die nahe einer Straße wohnen und durch die Nutzung von Autos durch Lärmentwicklung und Schadstoffe beeinflusst werden.
6.2.3.3 Differenzierung der Nutzer durch ihre Art der Produktnutzung Vor allem im Innovationsmanagement und unter betriebswirtschaftlichen Aspekten werden Nutzer nach ihrer Art der Produkt-Nutzung unterschieden. Ziel der Überlegungen ist es dabei, Innovations- und Diffusionsprozesse für neue Produkte und Technologien durch die gezielte Ansprache von Personengruppen zu unterstützen, von denen man sich aufgrund ihrer hohen Innovations- und Adaptionsbereitschaft eine entsprechende Affinität für Neuerungen erwartet (Fichter 2005). Fichter (2005) unterscheidet dazu sechs unterschiedliche Nutzertypen, die entweder eine Rolle im Innovationsprozess oder eine Rolle im Diffusionsprozess wahrnehmen (Abb. 6.4). Von besonderer Bedeutung in diesem Kontext ist der Lead-User als trendführender Nutzer. Das auf von Hippel (1986) zurückgehende Konzept charakterisiert den Lead-User als Menschen, die gerade hinsichtlich ihrer Technikaffinität ihrer Zeit voraus aber auch in der Lage sind, Ideen und Anforderungen für Produkte zu formulieren. Entsprechend erscheint deren Expertise von besonderer Bedeutung für die Produktentwicklung. Nichtsdestotrotz sind auch die in Abb. 6.4 genannten Nutzer, die vor allem in der Diffusionsphase von Produkten für die Prozesse der Nutzerintegration von Interesse, da deren spezifische Sichtweise wiederum interessante Erkenntnisse zur Nutzung bzw. Nicht-Nutzung von Produkten liefern können sowie Rückschlüsse zu Akzeptanzmechanismen für Produkte erlauben.
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Abb. 6.4 Nutzertypen im Innovationsprozess. (In Anlehnung an von Hippel 1986)
6.2.3.4 Differenzierung nach der Integrationsstärke des Nutzers in die Produktentstehung Grundlage für diese Art der Differenzierung bildet v. Hippels Konzept der funktionalen Quellen der Innovationen (von Hippel 1979). Demnach entwickelt der Mensch eine funktionale Beziehung zum Objekt. Als Nutzer wird er dann bezeichnet, wenn er aus der Nutzung des Produktes einen Vorteil bezieht. Profitiert er aus der Herstellung bzw. Entwicklung des Produktes, wird er zum Hersteller (Fichter 2005). Hat der Mensch wiederum eine aktive Nutzerrolle, kann aber gleichzeitig durch das Äußern von Präferenzen oder durch die Möglichkeit das Produkt zu individualisieren, ist er gleichzeitig Nutzer und Hersteller. Diese Art der Nutzer werden auch als Pro-Sumer bezeichnet (Szymusiak 2013). Die Ausprägung der Einflussnahme auf das Produkt und damit auch die Frage, wie stark der produzierende Anteil ausgeprägt ist, variiert natürlich von Anwendung zu Anwendung. Ein Beispiel hierfür seien Handys für Unternehmen. Diese gilt es, meist mit nicht unerheblichem Aufwand, durch den Nutzer zunächst auf seine Bedürfnisse und Anwendungspräferenzen anzupassen, bevor es wirklich produktiv verwendet werden kann. Ohlander et al. (2017) nutzen dafür auch den Begriff des Co-Designers, der den Nutzer als Mitentwickler und Kooperationspartner in der Entwicklung betrachten. Sie beschreiben damit eine Rolle in der partizipativen Produktentwicklung. Nicht zuletzt lässt sich aus der Beschreibung der Integration des Nutzers in die Entwicklung auch ein Rollenverständnis für die Nutzerintegration ableiten. Der Nutzer ist im Entwicklungsprozess im Wesentlichen in die drei Aufgaben involviert: Generierung
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von Produktideen, die Bewertung von Produktideen bzw. Produkten sowie die Lösungsfindung und Realisierung von Produktfunktionen. Auch hierbei kann die Art und Intensität in der Wahrnehmung bzw. Ausführung dieser Rolle sehr stark variieren und ist aus Nutzersicht vor allem von seiner Motivation, seinem Kenntnisstand und seinen Erfahrungen sowie seiner Bereitschaft zur Mitarbeit aber auch von den zu behandelnden Problemfeldern abhängig.
6.3 Systematik der Nutzerintegration Mit der Nutzerintegration soll ein besseres und tiefer gehendes Verständnis für den Nutzer, seine Wünsche und Bedürfnisse, aufgebaut werden. Die mit den Methoden der Nutzerintegration erarbeiteten Informationen unterstützen den Transformationsprozess für ein gegenseitiges Verständnis von Entwickler und Nutzer und fließen in unterschiedlicher Art und Weise in den Produktentwicklungsprozess ein. Die Integration des Nutzers bietet diesem die Möglichkeit der Mitgestaltung. Die Produktentwicklung kann aus dreierlei Sicht hier Nutzen daraus ziehen. Nutzerintegration • trägt zur Generierung und Erzeugung von Ideen bei, • hilft, Produktideen und Produkte aus der Nutzersicht heraus zu bewerten, • liefert Lösungsansätze für spezifische Problemstellungen. Primär geht es darum, mit den Methoden der Nutzerintegration Daten und Informationen zum Nutzer, seinen Wünschen und Bedürfnissen im Kontext seiner spezifischen Lebensund Handlungssituation zu sammeln und so zu strukturieren und aufzubereiten, dass einerseits Einsatzbedingungen und Voraussetzungen für Produkte und Nutzungsmöglichkeiten identifiziert werden, andererseits aber auch der Mensch als Nutzer besser verstanden wird und somit Produkte, dem Gedanken des soziotechnischen Systems folgend, zielgerichteter entwickelt werden können. Damit einher geht, dass von den Methoden der Nutzerintegration erwartet wird, dass sie den Informations-Transformationsprozess unterstützen. Es geht nicht allein darum, aus Nutzerwünschen und -bedürfnissen konkrete Zielsystembeschreibungen und technische Parameter für die Entwicklung abzuleiten. Methoden der Nutzerintegration tragen dazu bei, Fehlinterpretationen sowohl aufseiten der Nutzer als auch auf Seiten der Entwickler zu vermeiden. Die gemeinsame Ideenfindung und Umsetzung für technische Assistenzen zur Alltagsunterstützung helfen nicht nur, die Technologie-Interpretation, sondern auch die Lebens- und Handlungssituation der Nutzer besser zu verstehen. Häufig ist der Nutzer hierbei nur in die Ideen- und Lösungsfindung integriert, nicht aber in die Konkretisierung und Umsetzung. Das hierzu erforderliche Know-How entspricht im Allgemeinen den Kernkompetenzen des Unternehmens, die nicht preisgegeben werden sollen. Wieder stärker ist der Nutzer dann in die Produktbewertung am Ende des Entwicklungsprozesses involviert. Hierdurch entstehen nicht nur Brüche im
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Integrationsprozess, sondern es ergeben sich auch unterschiedliche Anforderungen an die Gestaltung der Nutzerintegration. Hieraus resultieren sehr heterogene Ausprägungsmöglichkeiten für die Berücksichtigung von Nutzerinteressen in der Produktentwicklung. Im Folgenden werden ein methodischer Ansatz vorgestellt und Anpassungsmöglichkeiten aufgezeigt, die helfen, Nutzer effizient und aufgabenspezifisch in den Entwicklungsprozess zu integrieren. Hierauf aufbauend werden Indikatoren für die Ausdifferenzierung von Strategien zur Nutzerintegration abgeleitet.
6.3.1 Rahmenbedingungen für die Nutzerintegration Für die Nutzerintegration stehen eine Vielzahl von Methoden sowohl aus den Ingenieurwissenschaften als auch aus den Sozialwissenschaften zur Verfügung. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie bzw. nach welchen Kriterien die Methodenauswahl für die Nutzerintegration erfolgen kann. Für die Strukturierung und Abgrenzung soll auf eine Modellvorstellung aus dem Management zurückgegriffen werden, welches als Bezugsrahmen dient, um die unterschiedlichen Entscheidungen im Rahmen der Nutzerintegration in ihrem Gesamtzusammenhang zu verstehen (Reinicke 2004). Hierzu wird in die drei Ebenen wie in Abb. 6.5 dargestellt unterschieden. Auf normativer Ebene werden grundsätzliche Prinzipien, Normen und Philosophien für das Handeln definiert. Generelle Ziele für Entscheidungen in Nutzerprozessen im Allgemeinen und den Entwicklungsprozess im Besonderen. Auf Basis solcher grundlegenden Entscheidungen werden auf strategischer Ebene Vorgehensweisen und Methoden installiert, die der Erreichung der übergeordneten Ziele dienen. Die Umsetzung der
Abb. 6.5 Strukturierungsansatz für Methoden zur Nutzerintegration. (In Anlehnung an Reinicke 2004 und Ruegg-Stürm und Grand 2014)
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Strategien erfolgt durch die Auswahl geeigneter Methoden, Werkzeuge und Instrumente auf der operativen Ebene (Ruegg-Stürm und Grand 2014). Die Entscheidung, den Nutzer in die Entwicklung zu integrieren, ist auf normativer Ebene angesiedelt. Diese Festlegung sollte nicht aus einem Projekt heraus motiviert sein, sie beruht vielmehr auf der Zustimmung der Unternehmensleitung, wodurch diese in den Entwicklungsprozessen verankert werden kann und damit auch die organisatorischen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Auf strategischer Ebene werden dann in Abhängigkeit von der Zielstellung konkrete Methodiken für die Nutzerintegration definiert und beschrieben. Diese Methodiken orientieren sich an den Rollen, die der Nutzer im Entwicklungsprozess einnehmen kann. Dies kann z. B. das Design Thinking sein (z. B. in Plattner et al. 2009), welches die Rolle des Ideengenerators thematisiert. Mit Methoden der User Experiences oder auch der Akzeptanzbewertung steht die Rolle des Bewerters im Vordergrund. Es bietet aber auch ausreichend Spielraum, um produkt- und kontextspezifische Anpassungen existierender Methodiken vorzunehmen oder spezifische Vorgehensweisen aufzubauen und zu implementieren (Gericke et al. 2013). Auf der operativen Ebene werden Methoden konkret ausgewählt, Instrumente und Werkzeuge entwickelt und angepasst, um die Daten im Sinne der Zielstellung zu erheben und zu analysieren und hieraus Informationen für den Entwicklungsprozess abzuleiten. Hierzu kann auf eine breite Palette von Methoden zurückgegriffen werden, auf die im Folgenden noch etwas näher eingegangen werden soll.
6.3.2 Ausdifferenzierung der Einzelaspekte der Nutzerintegration Die Aufgaben der Nutzerintegration selbst können vielfältig und verschiedenartig ausgeprägt sein. Wird der Nutzer beispielsweise als Ideenlieferant in den Prozess involviert, wird er sich auf Basis seiner Wertvorstellungen und Präferenzen in den Prozess einbringen, was entsprechende Methoden erforderlich macht, um sein Potenzial voll auszuschöpfen. Hieraus lassen sich aber auch Faktoren für Lösungsansätze ableiten bzw. Kriterien für die Produktbewertung ableiten. Unabhängig davon, welche konkrete Zielstellung mit der Nutzerintegration verbunden ist, wird der Fokus immer darauf liegen, den Nutzer in seiner Lebens- und Handlungssituation zu verstehen und hieraus Bedarfe und Wünsche zu identifizieren. Für die konkrete Ausgestaltung der Nutzerintegration (Abb. 6.6) gilt es zunächst zu klären, was mit dieser erreicht werden soll. Die erwarteten Ergebnisse konkretisieren nicht nur die Zielgruppe und die daraus abzuleitende repräsentative Nutzergruppe, sondern auch die zeitliche Integration der Nutzer in den Entwicklungsprozess und die Intensität der Integration, die notwendig ist, um erforderliche Informationen vom Nutzer zu erhalten. Diese Aspekte sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.
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Abb. 6.6 Einflussfaktoren auf die Gestaltung von Nutzerintegrationsprozessen
6.3.2.1 Ergebnisdefinition für die Nutzerintegration Ausgangspunkt aller Maßnahmen zur Nutzerintegration ist die Frage nach den erwarteten Ergebnissen. Entsprechend der übergeordneten Zielstellung ein tiefgehendes Nutzerverständnis aufzubauen und damit konkreter auf Wünsche und Bedürfnisse an technische Assistenzsysteme eingehen zu können, werden in Anlehnung an die in oben genannten Aufgaben mit der Nutzerintegration folgende Ziele verfolgt • Ideengenerierung für technische Assistenzsysteme für den Nutzer, • Ausgestaltung resp. Lösungsfindung für spezifische Problemstellungen, • Bewertung von Produktideen, Lösungsansätzen oder Produkten Demzufolge wird der Nutzer unterschiedliche Rollen im Entwicklungsprozess einnehmen: die als Ideenlieferant, als Lösungsfinder oder die als Bewerter. Es ist dabei davon auszugehen, dass diese Rollen nicht immer eindeutig sind und sich überschneiden können. Wichtig ist, die Erwartungen an die zu integrierenden Nutzer genau zu formulieren und den beteiligten Nutzern zu kommunizieren. Außerdem bildet diese Zielbeschreibung die Grundlage für die Auswahl geeigneter Methoden zur Integration. Die Rolle des Ideenlieferanten fokussiert auf die frühen Phasen der Entwicklung und kann durchaus unabhängig vom eigentlichen Entwicklungsprozess erfolgen. Der Lösungsfinder dagegen muss direkt in den Entwicklungsprozess integriert sein, wobei auch hier die frühen Phasen von besonderer Bedeutung sind. Der Bewerter dagegen wird
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Tab. 6.1 Erwartungen an die Nutzer im Entwicklungsprozess Nutzerrolle
Erwartete Informationen für den Entwicklungsprozess
Ideenlieferant
Wünsche und Bedürfnisse artikulieren und in der Transformation in Anforderungen unterstützen Wünsche und Bedürfnisse über Lösungsvorschläge explizit machen
Lösungsfinder
Lösungen für Teilprobleme aus der konkreten Lebens- und Handlungssituation und damit aus einem gewissen Pragmatismus heraus entwickeln
Bewerter
Einschätzung von Lösungen aus dem persönlichen Handlungskontext heraus Basierend auf dem Erfahrungswissen wird die Nützlichkeit abgeschätzt
erst gegen Ende des Entwicklungsprozesses bzw. signifikanter Entwicklungsschritte involviert sein. Diese unterschiedlichen Rollen des Nutzers im Entwicklungsprozess bedürfen auch unterschiedlicher Nutzercharakteristika, worauf im nachfolgenden Kapitel noch einmal eingegangen wird. Die Erwartungen an die Nutzerrollen bezüglich der Informationen für den Entwicklungsprozess sind in Tab. 6.1 zusammengefasst. Im Sinne der Zielbeschreibung ist es auf operativer Ebene wichtig, klar festzulegen, woran der Nutzer beteiligt wird, respektive wofür seine Informationen verwendet werden sollen. Es gilt daher auch zu klären, was Gegenstand der Entwicklung ist (das Produkt, Teilsysteme am Produkt, Prozesse, Dienstleistungen, Funktionen etc.).
6.3.2.2 Identifikation der Zielgruppe und der zu integrierenden Nutzer Im Sinne der Betrachtung des Umgangs mit dem Produkt als soziotechnischen System wird die Nutzung der Produkte und die Nützlichkeit eines Produktes maßgeblich durch den Nutzer beeinflusst. Daher ist die präzise Definition der Zielgruppe von besonderer Bedeutung, um einerseits repräsentative Nutzer für den Entwicklungsprozess zu identifizieren und andererseits diese dann auch zielführend in den Entwicklungsprozess integrieren zu können. Für die Auswahl von Nutzern zur Beteiligung am Entwicklungsprozess spielen vier Kriterien eine wichtige Rolle: • Fähigkeiten und Kompetenzen, um erforderliche Nutzerinformationen einbringen zu können; der Fokus liegt dabei auf der Verfügbarkeit von Anwendungswissen und Nutzungsanforderungen • Bereitschaft und Motivation des Nutzers, sich in den Prozess einzubringen; hierbei spielt die Zeit eine Rolle, die der Nutzer aufbringen muss bzw. investieren kann • Aufgeschlossenheit gegenüber Technologien und Veränderungen sind von Bedeutung • Repräsentation der gewünschten Zielgruppe und die Anerkennung durch diese; hierdurch wird die persönliche Lebens- und Handlungssituation abgebildet und repräsentativ gemacht Differenzierungen in den Fähigkeiten und Kompetenzen können z. B. anhand einer im Innovationsmanagement üblichen Nutzerklassifizierung vorgenommen werden, wie sie
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Tab. 6.2 Charakterisierung von Nutzern hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen für die Produktentwicklung Nutzer
Charakteristik
Lead User
Zeigt Fähigkeit zur potenzielle Problemerkennung; Bedürfnisse eilen dem Bedarfe Massenmarkt voraus; Nutzenerwartung durch Problemlösung
Experte
Lieferant für Anwendungen und Nutzungsszenarien; Bereitschaft zur Erprobung neuer Dinge im Lebensumfeld
Rolle des Nutzers als Ideenlieferant
Liefert Nutzungsszenarien für Ideen
Lösungsfinder
Bewerter
Liefert Umsetzungsvorschläge
Kaum Relevanz
Liefert pragmatische Lösungen
Kritische Beurteilung von Ideen
Repräsentativer Repräsentiert die Ziel- Kaum Relevanz Zeigt Nutzungspotenziale im Nutzer gruppe in Lebens- und Alltag Handlungssituation; prinzipielle Nutzungsbereitschaft von etablierten Lösungen
Kritische Bewertung von Lösungen
bereits in Abb. 6.4 dargestellt wurde (von Hippel 1979). Die Einteilung in drei Nutzertypen erscheint hilfreich. Tab. 6.2 charakterisiert diese und beschreibt die Eignung für die im Rahmen der Nutzerintegration einzunehmenden Rollen. Soll eine stärkere Ausdifferenzierung hinsichtlich der Lebens- und Handlungssituation der Nutzer erfolgen, erscheinen Klassifizierungsansätze aus der sozialwissenschaftlichen Forschung hilfreich. Hier sei insbesondere auf die Clusterbildung in sogenannte SinusMilieus verwiesen (Sinus Institut 2019) die im industriellen Umfeld eine breite Akzeptanz genießen. Die Sinus-Milieus (Abb. 6.7) nutzen nicht allein Kriterien wie die Schulbildung, Einkommen oder den Beruf für die Nutzerklassifikation, sondern fokussieren auf den Lebensstil und die Lebensumwelt der Menschen. Sinus-Milieus umfassen also Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln, sie basieren auf Wertorientierungen und Alltagseinstellungen (Sinus Institut 2019) Abb. 6.7 zeigt die Sinus-Milieus, die sich aus der Gegenüberstellung von sozialer Lage und Grundorientierung im Leben ergeben.
6.3.2.3 Integrationsmöglichkeiten in den Entwicklungsprozess Die Organisation und Gestaltung des Entwicklungsprozesses unterliegt Effizienzkriterien. Neuartige und qualitativ hochwertige Produkte gilt es in kurzer Zeit auf den Markt zu bringen, um hierdurch die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens
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Abb. 6.7 Beispiel für Sinusmilieus (Sinus Institut 2019)
abzusichern. Dieser Prämisse muss auch die Nutzerintegration folgen, was voraussetzt, dass in Abhängigkeit der definierten Ziele die Art und Weise bzw. die Intensität der Nutzerintegration zu überlegen ist. Letztlich gilt es die Frage zu klären, in welcher Phase die Expertise der Nutzer den Entwicklungsprozess unterstützen kann bzw. welche Informationen in welchen Phasen der Entwicklung vom Nutzer benötigt werden. Neben dem Zeitpunkt der Integration und den Informationsbedarfen sind auch organisatorische Fragen der Einbindung zu klären (Einbindung in Kernteam, parallele Informationserfassung, Nutzung externer Möglichkeiten zur Informationserfassung) und Fragen zu verfügbaren Produktartefakten zur Veranschaulichung zu klären. Abb. 6.8 fasst diese genannten Einflüsse zusammen. Während in der frühen Phase der Nutzer als Ideenlieferant nicht nur für die Beschreibung von Wünschen und Bedürfnissen, sondern auch zur Klärung der Nutzungssituation und der Leistungsbedarfe beiträgt, steigt in der Konzept- und Detaillierungsphase vor allem der Bedarf an der Beteiligung in der Lösungsfindung. Ab der Konzeptphase sind Bewertungen von Ideen, Teilsystemen oder Produkten durch den Nutzer erforderlich (Wolf und Priebe 2003). In Abhängigkeit von der Rolle des Nutzers und dem damit verbundenen Informationsbedarf werden Art und Intensität der Integration und Untersuchungsdesign1 festgelegt. Nachfolgend erfolgt die Auswahl geeigneter Methoden zur Datenerfassung und -auswertung. 1In
Abhängigkeit von der Rolle des Nutzers und dem damit verbundenen Informationsbedarf werden Art und Intensität der Integration und Untersuchungsdesign festgelegt. Nachfolgend erfolgt die Auswahl geeigneter Methoden zur Datenerfassung und -auswertung.
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Abb. 6.8 Informationsgewinnung und -verwertung in der Entwicklung
Besonderes Augenmerk bei der Planung der Nutzerintegration ist auf die verfügbaren Produktartefakte zu legen, die zur Diskussion und Bewertung zur Verfügung stehen. Typische Produktartefakte, wie z. B. das CAD-Modell, Komponentenprototypen oder auch Produktprototypen sind im Allgemeinen Modelle, die nur ausgewählte Eigenschaften abbilden. Diese Modelle müssen für den zu integrierenden Nutzer verständlich und interpretierbar sein, um unverfälschte Ergebnisse und Informationen für den Entwicklungsprozess ableiten zu können. Wird das Produktmodell dem Nutzer erst durch den Entwickler erklärt, kann eine indirekte Beeinflussung der Meinungsbildung des Nutzers erfolgen (Bias). Weiterhin kann in der Intensität, mit der ein Nutzer in den Entwicklungsprozess eingebunden wird, differenziert werden nach: (Sarodnik und Brau 2006) • Bei einer passiven Mitwirkung wird die Meinung der Nutzer erhoben, durch den Entwickler interpretiert und entsprechend in der Gestaltung berücksichtigt. • Von einer aktiven Mitwirkung spricht man, wenn Nutzer in die Entscheidungsfindung mit einbezogen sind. • Von einer aktiven Partizipation spricht man, wenn Nutzer im Entwicklungsprozess gemeinsam mit dem Entwickler gestaltend tätig werden.
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Abb. 6.9 Intensität und Informationsgehalt für Nutzerintegration
Der Grad der Intensität, mit der Nutzer in den Entwicklungsprozess eingebunden werden können, hängt vom erforderlichen Informationsumfang bzw. der gewünschten Kompetenznutzung ab. Die Zusammenhänge sind in Abb. 6.9 noch einmal verdeutlicht.
6.3.3 Der Untersuchungsprozess im Rahmen der Nutzerpartizipation Ziel ist die Gewinnung von Informationen und Wissen über Nutzer und Produkt(en) im Sinne eines soziotechnischen Systems. Geeignete Methoden aus den Ingenieurwissenschaften als auch aus den Sozialwissenschaften dienen dabei in erster Linie der Analyse der Gegebenheiten im Umgang bzw. in der Benutzung der Produkte als technische Assistenz aber auch der Erfassung möglicher Bedürfnisse aus der Lebens- und Handlungssituation heraus. Letztendlich sind Entwickler an der Synthese interessiert, also an der Nutzung der Erkenntnisse für die Systemgestaltung. Dies ist aber nur sekundär Gegenstand der Untersuchungen und wird daher im Allgemeinen in einem nachgelagerten Schritt betrachtet. Ausgangspunkt der Nutzerpartizipation bildet eine Problemstellung, die auf Basis des interessierenden Sachverhaltes zum soziotechnischen System, also z. B. zum Nutzungsverhalten von Personen, zum Umgang mit Produkten oder auch zur Bedarfserfassung aus Alltagssituationen heraus resultieren. Auf Basis dieser Problemstellung wird verfügbares Wissen zu dem zu betrachtenden Sachverhalt zusammengetragen, um hieraus einen theoretischen Rahmen für die Untersuchung abzuleiten. Im Ergebnis entsteht eine Theorie oder Hypothese, die es im Rahmen der Untersuchung zu überprüfen gilt. In der Beschreibung der Hypothese erscheint es durchaus zielführend, bereits die Betrachtung von Lösungsansätzen zu bedenken, allerdings sollte das primäre Ziel der Hypothese sein, ein tiefgehendes Verständnis vom Nutzer in einer spezifischen Lebensund Handlungssituation zu erhalten, um erst danach unvoreingenommen über mögliche Unterstützungspotenziale nachzudenken.
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Im Rahmen der Nutzerpartizipation werden zwei Fälle für die weitere Vorgehensweise unterschieden: • Ist die Lebens- und Handlungssituation oder das Nutzungsverhalten nicht sicher beschreibbar, bedarf es zunächst Untersuchungen dazu, wie und warum der Mensch in spezifischen Situationen agiert. Hier gilt es zunächst Hypothesen zum Nutzungsverhalten zu entwickeln, um den Nutzer in seinen Handlungen zu verstehen und Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu beschreiben. • Sind solche Kenntnisse zum Nutzungsverhalten und den Einflussfaktoren bereits vorhanden werden mit den Hypothesen abhängige und unabhängige Variablen identifiziert, um die Ursache-Wirkungs-Beziehungen quantifizieren und ausdifferenzieren zu können. Je nach Untersuchungsgegenstand variieren nicht nur das Untersuchungsdesign, sondern auch die Methoden zur Datenerhebung und -auswertung, welche im Rahmen der konzeptionellen Phase nun näher zu spezifizieren sind. Das Untersuchungsdesign legt zunächst ganz grundsätzlich fest, wie sich der Problemstellung genähert werden soll, also ob ingenieurwissenschaftliche oder sozialwissenschaftliche Methoden oder eine Kombination aus diesen zu nutzen sind. Bei den sozialwissenschaftlichen Methoden muss weiterhin zwischen qualitativen und quantitativen Untersuchungsmethoden unterschieden werden, auf die in einem späteren Abschnitt noch einmal explizit eingegangen wird. Auf Basis des gewählten Untersuchungsdesigns können dann konkrete Methoden zur Datenverarbeitung festgelegt werden. Die Datenverarbeitung untergliedert sich in die Einzelschritte: Datenerhebung, Datenanalyse und Auswertung, Datenaufbereitung, wie in Abb. 6.10 dargestellt.
Abb. 6.10 Konzeption des Untersuchungsdesigns
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• Zur Datenerhebung stehen sowohl Methoden aus den Ingenieurwissenschaften als auch aus den Sozialwissenschaften zu Verfügung. Ingenieurwissenschaftliche Methoden erlauben Daten vom Menschen in spezifischen Untersuchungssituationen über geeignete Sensorik zu erfassen. Exemplarisch sei hier auf Messung von Vitaloder Bewegungsparametern oder das Eye-Tracking verwiesen. Die Messungen z. B. über Kraft- oder Bewegungssensoren oder auch Vitalmessungen geben Rückschlüsse auf das Verhalten oder den körperlichen Zustand des Probanden. Zur Absicherung der Validität bzw. zur Bewertung der Untersuchungssituation bedarf es geeigneter Referenzen bzw. Menschmodelle. Gerade für die Einbeziehung des Menschen finden heute vielfach sozialwissenschaftliche Methoden Verwendung. Je nach Untersuchungsdesign stehen hier in erster Linie Befragungen, Observationen oder das Experiment zur Datengewinnung zur Verfügung, auf die später noch eingegangen wird. Ergänzend zu einer solchen Primärdatenerhebung erfolgt üblicherweise eine Sekundärdatenerhebung, d. h. die Erfassung von Daten aus Fachliteratur, Datenbanken, Statistiken oder anderen Informationssystemen. Ziel der Sekundärdatenerfassung ist die Unterstützung der Hypothesenbildung. Außerdem helfen diese Erkenntnisse, die im Rahmen der Primärdatenerhebung gewonnenen Daten plausibel zu machen und zu interpretieren. • Die Phasen der Datenanalyse und Auswertung hängen üblicherweise eng zusammen. Dieser Prozess dient dazu aus den erfassten Daten die notwendigen Informationen für die betrachtete Zielstellung abzuleiten. Die Datenauswertung wird einerseits determiniert durch das gewählte Untersuchungsdesign. Andererseits können die zur Verwendung kommenden Methoden durch die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Datenmaterial sehr vielfältig sein. Statistische Verfahren für Messwerte gehören hier genauso dazu (Diekmann 2007) wie interpretative Verfahren (Kodierung und Interpretation) für qualitativ erfasste Daten (Flick et al. 2005). • Die Datenaufbereitung hat das Ziel, die Erkenntnisse und Informationen, die im Rahmen der Datenanalyse entstanden sind, so zusammenzustellen, dass sie für die Entscheidungsfindung im Entwicklungsprozess nutzbar werden. Entsprechend eng hängt mit der Datenaufbereitung auch die Datennutzung zusammen. Letztendlich muss es das Ziel der Datenaufbereitung sein, Modellvorstellungen des soziotechnischen Systems Mensch-Produkt abzuleiten, die den Nutzer respektive sein Nutzungsverhalten erklären und Impulse für die Ideengenerierung und Produktgestaltung liefern aber auch im Entwicklungsprozess zur Validierung und Verifikation eingesetzt werden können. Solche Datenaufbereitungen können z. B. Menschmodelle für Kinematiksimulationen, kognitive Menschmodelle oder auch einfache Persona-Beschreibungen sein. Die einzelnen Schritte in der konzeptionellen Phase sind in Abb. 6.10 noch einmal zusammengefasst. In der anschließenden Operationalisierung werden die in der konzeptionellen Phase ausgewählten Methoden zur Datenerhebung präzisiert. Hat man sich also z. B. für eine qualitative Untersuchung entschieden, in deren Rahmen eine Hypothese zum
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Nutzerverhalten aufgestellt werden soll, gilt es nun, geplante Experteninterviews vorzubereiten. Hierbei sind nicht nur die Fragen im Einzelnen zu formulieren, sondern auch in einem Interviewleitfaden zusammen zu stellen und zu erläutern, sodass diejenigen, die die Daten erheben sollen, die dahinterliegenden Untersuchungsfragen verstehen, interpretieren und nachvollziehen können. Zudem gilt es, die sogenannte Untersuchungseinheit festzulegen. Dies meint, dass entschieden wird, wer befragt werden soll, wer also als potenzielle Nutzergruppe identifiziert wurde. Auch die Stichprobengröße ist zu definieren. Für quantitative Untersuchungen z. B. ist diese so zu wählen, dass eine sinnvolle statistische Auswertung möglich wird. Die Stichprobe hängt dabei nicht nur von der erwarteten Marktgröße, sondern auch von der Homogenität der Nutzergruppe ab. Bei sehr spezifischen Aufgaben wie z. B. die Nutzung eines Werkzeuges im betrieblichen Umfeld darf die Nutzergruppe kleiner sein, soll ein Werkzeug im Heimwerkerbereich bewertet werden, muss die Nutzergruppe entsprechend angepasst werden, um repräsentativ zu sein. Weiterhin ist zu überlegen, welche Produkte bzw. Produktartefakte herangezogen werden und wie diese im Sinne der zu klärenden Fragestellung zu gestalten sind. Die Festlegung der Umgebungsrandbedingungen determiniert, wie stark die tatsächlichen Lebens- und Handlungssituation der Nutzer in der Untersuchung berücksichtigt werden können. Für die anschließende Erhebungsphase von Daten sind vor allem Zeit- und Kostenaspekte zu berücksichtigen. Nicht nur, dass die Datenerhebungen selbst, vor allem auch die Datenauswertung ist zeitaufwendig. Auch teilnehmende Probanden müssen Zeit investieren, die je nach avisierter Zielgruppe nur begrenzt zur Verfügung steht. Auch gilt es zu beachten, dass die Aufmerksamkeit der Probanden zeitlich eingeschränkt ist. Je länger die Datenerhebung dauert, desto unaufmerksamer werden Probanden, was zur Ergebnisverfälschung führen kann. Kosten entstehen nicht nur weil Ressourcen für die Datenerhebung und -auswertung nötig sind, sondern sind gegebenenfalls erforderlich, weil Aufwandsentschädigungen für die Probanden zu berücksichtigen sind. Des Weiteren gilt es Datenschutz, ethische Aspekte und rechtliche Fragen zu bedenken (z. B. Kämper 2016). Für die Datenerhebung müssen die Untersuchungsleiter eingewiesen und entsprechende räumliche und technische Rahmenbedingungen vorbereitet sein. Nach der Datenerhebung erfolgt die Datenaufbereitung als Vorbereitung für die eigentliche Auswertung. Im Ergebnis entstehen Informationen entsprechend der Zielstellung. Im Rahmen der anschließenden Interpretationsphase werden die Ergebnisse auf Basis der verwendeten Hypothesen und der zu klärenden Untersuchungsfragen analysiert und ausgewertet. Schlussfolgerungen sollen die Kausalbeziehungen beschreiben und präzisieren. In der Diskussion und Interpretation der Ergebnisse kommt nun auch der Syntheseaspekt hinzu, die Ergebnisse sind so aufzubereiten, dass nicht nur die Ideen zur Lösungsfindung abgeleitet werden können sondern auch zum besseren Verständnis des soziotechnischen Systems beitragen. Idealerweise entstehen Nutzermodelle, die, gezielt aufbereitet, in den verschiedenen Phasen der Produktentwicklung weiter genutzt werden können.
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6.4 Auswahl von Methoden Auf Basis der vorangegangenen Einordnung der Erwartungen an die Nutzerintegration und der Beschreibung des Informationsbedarfs über den Nutzer gilt es nun, geeignete Methoden und Werkzeuge so auszuwählen, dass relevante und interessierende Daten erfasst und hieraus die essentiellen Informationen abgeleitet werden. Bevor auf einzelne Methoden eingegangen wird, soll zunächst kurz der Prozess der Informations- und Wissensgenerierung im Rahmen der Nutzerpartizipation skizziert werden, um die Methodenauswahl und Zuordnung in einen Kontext zu setzen. Gerade im Aufbau von Erkenntnissen zum bzw. über den Nutzer gewinnen sozialwissenschaftliche Methoden auch in der Produktentwicklung zunehmend an Bedeutung. Mit den empirischen Methoden der Sozialwissenschaften stehen Werkzeuge zur Analyse von sozialen Handlungen zur Verfügung, um Ursache-Wirkungs-Beziehungen zur Interaktion des Menschen mit Produkten in seinem Lebensumfeld zu erfassen, zu analysieren und zu interpretieren. Analog zur ingenieurwissenschaftlichen Herangehensweise geht der Verwendung sozialwissenschaftlicher Methoden eine Theoriebildung voraus, also die Ableitung von einleuchtenden beweisbaren Annahmen über das Verhalten soziotechnischer Systeme. Ziel ist es, Beschreibungen und Erklärungen für kausale Beziehungen im Umgang mit technischen Systemen durch den Menschen in seiner sozialen Umgebung zu finden (Henecke 1999). Die soziale Wirklichkeit erscheint dabei nicht vollständig erfassbar. Lebens- und Handlungssituationen sind durch eine Vielzahl von Einflussfaktoren geprägt, wie z. B. der emotionale Zustand, der wiederum aus der Erfassung und Bewertung der aktuellen Situation bestimmt aber auch durch körperliche Faktoren beeinflusst wird, die das Wohlfühlen determinieren. Es bedarf daher einer Selektion und Konzentration auf den zu betrachtenden Ausschnitt und damit einer Spezifizierung des Untersuchungsgegenstandes. Im Rahmen der anwendungsorientierten Forschung ist es erforderlich, auf konkrete soziotechnische Probleme zu fokussieren, für die ein adäquates Verständnis aufgebaut werden soll. Dies wiederum determiniert die Art und Weise der empirischen Erfassung, hierfür wird zwischen qualitativen und quantitativen Methoden unterschieden.
6.4.1 Unterscheidung zwischen qualitativen und quantitativen Untersuchungen Erkenntnisse aus der Anwendung sozialwissenschaftlicher empirischer Methoden basieren auf Zusammenhängen, die sich aus Erfahrungen ergeben. Überprüft werden Behauptungen über Phänomene an der Wirklichkeit. Grundsätzlich stehen hierfür zwei Kategorien an Forschungsmethoden zur Verfügung: qualitative und quantitative Methoden. Grundlage für die Differenzierung sind Unterschiede in der verwendeten Erkenntnistheorie, also der Beantwortung der Frage, wie die Realität wahrgenommen und daher Wissen aufgebaut wird (Wolf und Priebe 2003):
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Im Sinne des Positivismus wird davon ausgegangen, dass die reale Welt unabhängig von einer subjektiven Wahrnehmung und damit einem Beobachter existiert, was die Welt objektiv beschreibbar macht. Ein objektiver Beobachter erkennt und reguliert dann Ursache-Wirkungs-Beziehungen auf Basis der Empirie. Damit verbunden ist die Möglichkeit, allgemeingültige Gesetze herauszuarbeiten. Dies ist die Basis für die quantitative Untersuchungen. Theoretische Modelle (Hypothesen) werden durch Testen und Messen nachgewiesen. Dem Konstruktivismus liegt die Annahme zugrunde, dass die Realität durch die subjektive Wahrnehmung geprägt ist und damit Interpretationen auch durch den Betrachter erlaubt sind. Ursache-Wirkungs-Beziehungen resultieren aus der subjektiven Wahrnehmung des Betrachters, was eine Generalisierung außerhalb des betrachteten Kontextes schwierig macht. Untersucht werden entsprechend individuelle Konzepte und Interpretationen externer Faktoren. Die daraus abgeleitete qualitative Untersuchung entwickelt entsprechende Theorien, indem die Realität beobachtet und interpretiert wird. Qualitative Untersuchungsmethoden Mittels qualitativer Untersuchungen soll die Wirklichkeit anhand der subjektiven Sicht von Beobachtern auf den Betrachtungsgegenstand mit dem Ziel erfolgen, Ursache für deren Verhalten zu erkennen, zu verstehen und nachzuvollziehen (Wolf und Priebe 2003). Mit einer stärkeren Subjektbezogenheit geht einher, dass nicht so hohe Fallzahlen erforderlich sind, um Aussagen zu soziotechnischen Systemen als Untersuchungsgegenstand treffen zu können. Vergleichbar zur quantitativen Untersuchung bedarf es erster theoretischer Annahmen, um die Erhebungsinstrumente für qualitative Forschung auswählen und anpassen zu können, allerdings zeichnet sich die Vorgehensweise der qualitativen Forschung durch eine größere Offenheit aus, die es erlaubt, flexibel auf unvorhergesehene oder unbekannte Aspekte zu reagieren. Damit gewinnen qualitative Methoden vor allem für die explorative Untersuchung und die Hypothesengenerierung an Bedeutung. Die Datenauswertung selbst erfolgt üblicherweise interpretativ, damit können sich für unterschiedliche Akteure unterschiedliche Bedeutungen und Interpretationen von Daten ergeben. Diese mangelnde Objektivität wird als wesentlicher Kritikpunkt für die Verwendung gesehen. Eine gewisse Objektivierung der Ergebnisse wird dadurch erreicht, dass die Vorgehensweise, die gewählten Methoden und der Interpretationsprozess ausführlich dokumentiert werden. Mit der Darstellung des Kontextes der Ergebnisse lassen sich diese entsprechend in ihrer Güte beurteilen (Flick et al. 2005). Quantitative Untersuchungsmethoden Quantitative Forschung zeichnet sich durch einen Objektbezug aus. Es gilt, Ursache-Wirkungszusammenhänge zu identifizieren und zu quantifizieren. Durch die Annahme der Objektivität ist die Realität für das soziotechnische System mit kontrollierten Methoden erfassbar. Modelle und Zusammenhänge lassen sich durch numerische Daten genau beschreiben, was eine Vorhersagbarkeit von Aktionen und
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Reaktionen mit sich bringt. Daten werden theoriegeleitet und gezielt gesammelt. Sie müssen im Sinne der Theorieprüfung entsprechenden Gütekriterien (Validität und Reliabilität) gerecht werden (Wolf und Priebe 2003). Quantitative Untersuchungsmethoden sind immer dann sinnvoll, wenn bereits genügend Erkenntnisse über den Untersuchungsgegenstand vorliegen, um Hypothesen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen aufstellen und Beurteilungskriterien ableiten zu können, über die diese Beziehungen quantifizierbar sind. Die Datenerfassung erfolgt dann durch Messen und Zählen. Typische Methoden der Datenerfassung sind z. B. strukturierte Interviews und Experimente, bei denen abhängige und unabhängige Variablen klar identifizierbar sind. Entsprechend kann für die Datenauswertung auf mathematisch-statistische Verfahren zurückgegriffen werden. Dies wiederum erfordert eine ausreichend große und repräsentative Stichprobe (Flick et al. 2005). In Tab. 6.3 sind Unterschiede, Vor- und Nachteile von qualitativem und quantitativem Vorgehen in Anlehnung an (Wolf 1995) noch einmal zusammengestellt.
6.4.2 Typische Methoden der Datenerhebung Für sozialwissenschaftliche Untersuchungen stehen verschiedene Methoden zur Datenerhebung zur Verfügung die in unterschiedlichen Ausprägungen angewendet werden können (Kromrey 2009). Auf die wichtigsten Methoden soll hier kurz eingegangen werden. Das Interview Interviews sind Befragungen von Personen in mündlicher oder schriftlicher Form, die sich aber signifikant für qualitative und quantitative Untersuchungen unterscheiden. Für quantitative Untersuchungen sind Interviews, egal ob mündlich oder schriftlich, streng strukturiert. Bei schriftlichen Formen werden Interviewbögen vom Interviewer oder vom Befragten selbst ausgefüllt. Im letzteren Falle muss das Ausfüllen ohne Vermittlungshilfe oder Rückfragen möglich sein. Die Fragen gilt es entsprechend präzise und verständlich zu formulieren. Es ist eine nicht zu unterschätzende Herausforderung, einen brauchbaren Fragebogen aufzusetzen. Sozialwissenschaftler können beim Erstellen des Fragebogens mit einer professionellen Methodenlehre und einem Regelsystem helfen, die absichern, dass mögliche Fehler vermieden bzw. Fehlerquellen ausgeschaltet werden und damit der Erhebungsprozess transparent und kontrollierbar wird (Bogner et al. 2014). Gerade für die Produktentwicklung haben qualitative Untersuchungen zur Ermittlung von Ursache-Wirkungs-Beziehungen, also zur Bedarfsermittlung respektive zur Beschreibung des Verhaltens von Nutzern im Umgang mit Produkten eine große Bedeutung. Daher soll auf die Gestaltung solcher Interviews etwas intensiver eingegangen werden. Für die qualitative Untersuchung sind die Befragungen semi-strukturiert, allerdings gilt es einen Interviewleitfaden zu erarbeiten, der vor allem die Objektivierung
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Tab. 6.3 Gegenüberstellung qualitativer und quantitativer Untersuchungen Qualitative Untersuchungen • Fokussiert auf Untersuchung realer Situationen ohne konkrete Festlegung abhängiger und unabhängiger Variablen (werden identifiziert) • Frage nach wer, wann, wie, was, warum • Lebenswelten werden aus Sicht der handelnden Menschen erfasst
Quantitative Untersuchungen Ziel
• Untersucht abhängige Variablen durch Variation unabhängiger Variablen • Erklären kausaler Zusammenhänge zwischen Phänomenen • Frage nach wie viel, wie oft, wie lange • Auffinden genereller Wirkzusammenhänge zur Erklärung soziotechnischer Systeme
• Beobachten und interpretieren Datenerfassung • induktiv, Sinn-verstehend und -auswertung • in semistrukturierter Art und Weise
• Messen und testen • deduktiv, messend • in strukturierter Art und Weise
• Beobachter ist in Untersuchungssituation integriert • Interaktion bietet Möglichkeit, Hintergründe zu erfragen • Subjektiver Charakter der Resultate
Rolle des Untersuchenden
• Untersuchender als unabhängiger Beobachter • Repräsentative Ergebnisse durch große Stichproben und statistische Auswertung • Objektiver Charakter der Resultate
•D ynamisches interaktives Vorgehen • Theorie unterliegt Wachstumsprozess • Vorgehen anpassbar während Untersuchung • Weiche realitätsnahe Daten
UntersuchungsProzess
• Statisches Vorgehen • Theorie wird getestet • Wenig flexibel während der Untersuchung • Harte replizierbare Daten
• Flexible Anwendung •O ffenes Vorgehen ermöglicht Entdeckung neuer Sachverhalte •H ohe inhaltliche Validität durch nicht-determiniertes Vorgehen • Tiefer Informationsgehalt durch offene Datenerhebung
Vorteile
• Exakt quantifizierbare Ergebnisse und statistische Zusammenhänge • Repräsentativität und Objektivität durch große Stichproben • Geringer Kosten- und Zeitaufwand • Hohe externe Validität durch große Stichproben
•Z eit- und Kostenintensiv Hohe Anforderungen an die Qualifikation und Kompetenz des Durchführenden • Vergleichsweise aufwändige Auswertung
Nachteile
• Wenig flexibel im Vorgehen durch standardisierte Untersuchungssituation • Keine Ermittlung von Ursachen oder Einstellungen der betrachteten Person möglich • Keine Hinweise für Veränderungspotenzial
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der Ergebnisse unterstützen soll. Vom Interviewer wird sowohl ein hohes Maß an Kommunikationsfähigkeit und Gesprächsgeschick als auch genaue Kenntnisse über den theoretischen Rahmen und die Zielstellung erwartet, um interessante Aspekte, die ad hoc aufkommen können, aufnehmen und interpretieren zu können. Ein Interview in der qualitativen Untersuchung ist immer eine Form der Kommunikation, gerade auch bei offenen und wenig strukturierten Interviews erscheint es daher unbedingt notwendig, nicht nur die Antworten zu protokollieren sondern auch auf das außersprachliche Verhalten wie Mimik und Gestik, Körpersprache, Tonfall und Lautstärke zu achten, da sie den Aussagen der Probanden Bedeutungstiefe verleihen können. Dabei gilt auch zu beachten, dass das Interview zwar eine Form der Kommunikation nicht aber ein Diskurs ist. Es gilt nicht nur, die eigene Meinung zurückzuhalten, sondern Fragen auch neutral und offen zu formulieren. Hochwertige und tiefgehenden Aussagen lassen sich nur in einem offenen Gesprächsklima erreichen. Hierbei kann eine Variation der Fragetechnik hilfreich sein. Anhaltspunkte liefert Tab. 6.4. (Bogner et al. 2014). Häufig werden auch biographische Elemente in die Interviews einbezogen, die Interviewten werden gebeten, besondere Erlebnisse oder Aspekte aus Ihrem Leben zu schildern. Dies hilft nicht nur, Gesprächsbarrieren abzubauen, sondern erlaubt auch andere Sichtweisen auf die zu untersuchende Fragestellungen. Hierdurch kann es gelingen, die Lebens- und Handlungssituation des Nutzers besser zu erfassen und zu verstehen bzw. deren Einfluss auf die zu untersuchende Problemstellung zu beschreiben. Wichtig ist zu beachten, dass nur Aussagen und Einstellungen oder Meinungen erfasst werden, nicht aber ein tatsächliches Verhalten (Flick et al. 2005). Tab. 6.4 Fragetypen für halb- oder unstrukturierte Interviews Frageart
Beispiel
Einleitung
… können Sie mir etwas erzählen über…
Folgefragen; Motivation zum weiterreden
Mmm….; Kopfnicken; jede Form der Zustimmung; Verständnis durch Körpersprache; Wiederholen von Schlüsselwörtern; Auswählen anhand des spezifischen Untersuchungsinteresses
Untersuchungsfragen
… können Sie etwas mehr davon erzählen? Warum denken Sie, dass …
Spezifizierungsfragen
… Können Sie mir das näher erklären? Können Sie mir ein Beispiel nennen?
Direkte Fragen (später) Wenn Sie über … nachdenken, woran denken Sie dann spontan/ genauer? … denken Sie spontan an … oder eher an …? Indirekte Fragen
Wie glauben Sie, sehen andere das Problem? Denken andere in gleicher Art und Weise darüber nach?
Strukturierungsfragen
Vielen Dank für das Statement. Ich würde jetzt gern noch mal auf …. Eingehen.
Stille Interpretationen
Also, was ich mitgenommen habe ist Folgendes…
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Die Beobachtung Die Beobachtung von Menschen in spezifischen Handlungs- und Lebenssituationen respektive in der Nutzung technischer Systeme ist ebenfalls geeignet, Ursache-WirkungsBeziehungen zu identifizieren. Diese Methode kann in Laborumgebung oder im Feld durchgeführt werden. Letzteres hat den Vorteil, dass ein Agieren in der gewohnten Umgebung die Lebens- und Handlungssituation der Probanden einbezieht und damit die Ergebnisaussage detaillierter und tiefer wird. Beobachtet werden meist nicht nur die reinen Handlungen, sondern man lässt den Probanden seine Handlungen kommentieren und erfasst zusätzlich das gesprochene Wort. Zudem ist es hilfreich, die außersprachlichen Faktoren wie Gestik, Mimik, Körperhaltung und Körpersprache mit zu erfassen. Daten werden über Sprachprotokolle, Videoaufzeichnungen, Notizen, Bilder und Fotos aufgenommen. Neue Technologien wie das Eye-Tracking liefern hier sehr interessante Ergebnisse, da der Blickwinkel aus Sicht des Probanden eine eigene Perspektive darstellt, die ohne diese Technologie nicht zugänglich wäre. In der Beobachtung kann der Bobachter zwei Rollen einnehmen: passiv und teilnehmend. Die passive Bobachtung unterstützt die Objektivität der zu untersuchenden Situation. Bei der teilnehmenden Beobachtung versucht der Beobachter sich selbst, in die zu beobachtende Situation zu integrieren, um ein tiefgehendes Verständnis für diese aufzubauen. Verbunden damit ist aber auch die Gefahr, dass die Beobachtungssituation beeinflusst wird bzw. Schlussfolgerungen durch eine starke Identifikation mit der Situation zu subjektiv werden. Eine Variation bzw. Weiterentwicklung der Beobachtung ist die Aktionsforschung, bei der der Beobachter gleichzeitig beobachtet und aktiver Teilnehmer an den zu untersuchenden soziotechnischen Fragestellungen ist. Die Beobachter sind damit gleichzeitig „Datenlieferant“ und aktiv in die untersuchten Projekte eingebunden, sowohl in die Planung als auch in die Durchführung und Auswertung (Flick et al. 2005). Die Aktionsforschung erfordert vom Beobachter viel Erfahrung und Gefühl für die Situation, um einerseits akzeptiert zu werden und andererseits die Untersuchungsbedingungen nicht zu stark zu beeinflussen. Das Experiment Für die Beschreibung von Phänomenen zum soziotechnischen System kann sich auch des Experiments bedient werden. Dabei wird eine relevante Situation nachgebildet, in der der Nutzer entsprechend handeln muss. Das Experiment zeichnet sich durch Planbarkeit, Wiederholbarkeit und Variierbarkeit aus. Über eine Hypothese werden unabhängige Variablen identifiziert (z. B. Nutzer die ein Handy neben der Kommunikation auch für die Navigation verwenden), deren Veränderung (Eigenschaften der Navigation werden variiert, z. B. durch Sprach- oder Vibrationsunterstützung) zu Veränderung der abhängigen Variablen führt (Adaption des Nutzungsverhaltens durch den Nutzer in unbekannten Umgebungen). Das Experiment ist zur Datenerhebung im Allgemeinen gekoppelt mit Methoden der Beobachtung und des Interviews, um vom Handelnden
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einerseits die Informationen zu erhalten und andererseits den Untersuchungskontext zu spezifizieren. Die Herausforderung im Experiment liegt in der Gestaltung der Umgebungssituation. Laborumgebungen als künstliche Umgebungen vernachlässigen nicht nur die Lebensund Handlungssituation des Nutzers respektive des Probanden, in der dieser eigentlich agieren soll, sondern auch, dass sein emotionaler Zustand durch andere Einflussfaktoren unabhängig vom Experiment beeinflusst ist. Aus dem Bewusstsein der Künstlichkeit der Situation verändert sich die Reaktion des Probanden, auch weil sie einen natürlichen Habitus nicht zulassen. Experimente im Feld umgehen solche Herausforderungen, lassen sich aber möglicherweise nicht mehr so gut steuern, da die Umgebungsbedingungen variieren können. Hierdurch sind auch statistische Effekte in der Datenerhebung möglich.
6.4.3 Herausforderungen bzw. Fehlerquellen Auch für die Ergebnisse aus der empirischen Sozialforschung muss die Validität (Gültigkeit) und Reliabilität (Zuverlässigkeit) der Ergebnisse nachgewiesen werden. Aufgrund der Methodencharakteristik liegt bei qualitativen Untersuchungsmethoden der Fokus auf der Validität, bei quantitativen Verfahren gilt es zudem die Reliabilität abzusichern. Untersuchungsergebnisse können durch Mängel oder unbeabsichtigte Fehler verfälscht werden, sodass keine angemessene Beantwortung der Forschungsfrage möglich ist. Auf mögliche Fehlerquellen vor allem in der Datenerhebung und Datenauswertung soll kurz eingegangen werden. Im Rahmen der Datenerhebung bei qualitativen Untersuchungsmethoden verfälschen vor allem Einflüsse durch den Interviewer. Interviewer und Befragter stehen in einer Kommunikationsbeziehung, die Aussagen des Befragten werden nicht nur den ersten Eindruck, sondern auch durch Mimik, Gestik, Körpersprache, Tonfall etc. geprägt, was zu einer Beeinflussung (Bias) führen kann. Unterschwellig kommunizierte Erwartungshaltungen des Interviewers beeinflussen ungewollt die Ergebnisse im Sinne einer Bestätigung der Hypothese. Auch Versuchspersonen selbst antworten aus einer Wert- und Normenvorstellung heraus, die dem Versuchsleiter üblicherweise nicht bekannt sind. So entstehen leicht Meinungsäußerungen, die eher einer sozialen Erwünschtheit als die reale Meinung der Versuchsperson wiederspiegeln. Ein ähnlicher Effekt ist für die Beantwortung von Fragebögen für quantitative Untersuchungen bekannt. Versuchspersonen reagieren z. T. nicht adäquat und flexibel, sondern folgen Mustern und Schemata in der Beantwortung (response set), was zur sogenannten „ja-Sager-Tendenz“ führt. Solche bekannten Effekte gilt es daher durch die Gestaltung der Fragebögen von vorneherein zu vermeiden (Henecke 1999), indem z. B. die Antwortlogik (eher zustimmend, eher ablehnend) immer wieder verändert wird. In der Datenauswertung für quantitative Untersuchungen zeigt sich die Übersetzung von sprachlichen Aussagen (nie, selten, oft, sehr oft) in konkrete Zahlen als eine
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Schwierigkeit. Es gilt zu prüfen, ob der Intensitätsabstand beispielsweise zwischen „nie“ und „selten“ genau so groß ist wie zwischen „oft“ und „sehr oft“. Schwankungen ergeben sich allein daraus, dass jeder Befragte ein anderes Verständnis für diese Kategorien hat. Am Ende suggerieren produzierte Zahlenwerte eine Genauigkeit, die durch die textbasierte Erfassung möglicherweise nur bedingt erzeugt werden kann. Eine Pseudogenauigkeit wird zudem durch die Anzahl der Stellen nach dem Komma provoziert. Hier ist mit gesundem Augenmaß zu prüfen, wie viele Stellen nach dem Komma wirklich sinnvoll sind und zur Aussage beitragen (Henecke 1999). Auch statistische Methoden wie der Signifikanztest oder Korrelationsfaktoren gilt es in ihrer Verwendung zu hinterfragen. Es muss differenziert werden, ob mit diesen Methoden Aussagen über die Hypothese abgeleitet werden sollen oder als Messverfahren für die Güte der Ergebnisse dienen. Statistisch signifikante Zusammenhänge bilden nicht zwangsläufig kausale Erklärungsmuster ab. Es gilt, die Berechnungsansätze in die Bewertung der Ergebnisse mit einzubeziehen.
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Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering Beate Bender und Kilian Gericke
Produktentwicklungsvorhaben stellen ebenso wie die Produkte selbst komplexe Systeme dar, die aus einer großen Anzahl von untereinander vernetzten Elementen und Teilsystemen bestehen sowie einer hohen Dynamik unterliegen. Im Sinne der Arbeitspsychologie stellt das Entwickeln von Produkten „komplexes Problemlösen“ dar (Hacker 1998). Aufbauend darauf können zur Klassifikation der Anforderungshöhe von Konstruktionsaufträgen die Kriterien Widersprüchlichkeit der Ziele, Komplexität, Intransparenz, Anzahl der Freiheitsgrade zur Entwicklung der Lösung, Dynamik der gegebenen Rahmenbedingungen sowie dem erforderlichen Wissen herangezogen werden (Schroda 2000). Insbesondere die Entwicklung innovativer Lösungen durch die iterative Konkretisierung von Problemdefinition und Lösungsansatz (vgl. Abschn. 3.1.4 Koevolution von Problem und Lösung, (Maher et al. 1996; Dorst und Cross 2001)) verursacht für die Entwickler ein hohes Maß an Intransparenz sowohl in Bezug auf die zu entwickelnde Lösung als auch auf den zu verfolgenden Lösungsweg. Eine hohe Dynamik beim Entwickeln ist unter anderem gekennzeichnet durch sich während der Problembearbeitung ändernde Rahmenbedingungen (Bender 2004; Rückert 1997; Rückert et al. 1997) wie z. B. sich durch neue Erkenntnisse, Testergebnisse, sich wandelnde Wettbewerbssituation oder – z. B. durch die Weiterentwicklung der Lösung identifizierte – geltende Normen. Hinzu kommt, dass komplexe Entwicklungsvorhaben in interdisziplinärer Zusammenarbeit innerhalb von Kooperationsnetzwerken erfolgen.
B. Bender (*) Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland K. Gericke Universität Rostock, Rostock, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_7
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B. Bender und K. Gericke
Die Entwicklung findet häufig abteilungs- oder auch unternehmensübergreifend statt (Franke 2011; Ehrlenspiel und Meerkamm 2017). Eine zeitparallele Bearbeitung ermöglicht darüber hinaus die Verkürzung der Entwicklungszeit. Das Entwicklungsvorhaben wird in Teilprojekte und Arbeitspakete zerlegt, um sie von unterschiedlichen Fachdomänen gemäß eines übergeordneten Projektplans (vgl. Kap. 17 Projektmanagement) arbeitsteilig zu bearbeiten. Die Teilergebnisse müssen entsprechend ihrer logischen und zeitlichen Anhängigkeiten zur Gesamtlösung zusammengeführt werden. Dieser Vorgang beinhaltet insbesondere für komplexe Systeme ein Fehlerrisiko im Hinblick auf die Konsistenz der Ziele untereinander und damit auch für die Konsistenz der Teillösungen innerhalb der der Gesamtlösung. Vor dem Hintergrund der genannten Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen kommt dem kontinuierlichen Abgleich zwischen Problem, Ziel und Lösungskonzept eine zentrale Rolle in der Produktentwicklung zu. Dies erfordert eine möglichst gute Operationalisierung aller Ziele in Form messbarer Anforderungen, welche die Arbeitsgrundlage des Entwicklungsteams darstellen. Die arbeitsteilige Bearbeitung der Anforderungen im interdisziplinären, verteilten Kooperationsnetzwerk erfordert, dass alle aktuell gültigen Anforderungen für alle Beteiligten zugänglich dokumentiert werden. Schnittstellen zu anderen Datenquellen (z. B. ERP-, PDM oder CAD-Systeme) und Unternehmensprozessen müssen widerspruchsfrei gestaltet und doppelte Datenhaltung vermieden werden (vgl. Kap. 8 Arbeiten mit Anforderungen und Kap. 25 Virtuelle Produktentwicklung). Die ebenfalls parallel zum Entwicklungsprozess stattfindende Validierung und Verifikation muss möglichst früh zeigen, inwieweit die in der gewählten technischen Lösung umgesetzten Anforderungen geeignet sind bzw. sein könnten, das vorliegende Entwicklungsproblem zu lösen (vgl. Kap. 17 Projektmanagement und Kap. 18 Qualitätssicherung in der Entwicklung und Konstruktion). In der ersten Arbeitsphase eines Entwicklungsprojekts findet daher das Erarbeiten einer möglichst stabilen Anforderungsbasis statt, um gemeinsam mit allen Stakeholdern ein entsprechend dem Informationsstand vollständiges, eindeutiges und widerspruchsfreies Zielsystem zu repräsentieren. Dabei ist das Mandat zu berücksichtigen, das der Entwicklungsauftrag beinhaltet. Das Mandat bezeichnet Art und Umfang der Interpretationsmöglichkeiten und Entscheidungsfreiheit des Entwicklungsteams, die bei der Lösung des Problems, definierter Teilziele oder Teillösungen genutzt werden dürfen. Ausgehend vom initialen Zielsystem wird die initiale Anforderungsbasis über den gesamten Projektverlauf weiterentwickelt (Abb. 7.1). Sie dient allen Stakeholdern in allen Entwicklungsphasen als Vergleichsgröße für die Beurteilung des Projekterfolgs. Gegenstand dieses Kapitels ist die Erarbeitung der initialen Anforderungsbasis in den frühen Phasen eines Entwicklungsprojekts. Die Aktivitäten beim projektbegleitenden Arbeiten mit der Anforderungsbasis, ihre Einbettung in weitere Unternehmensprozesse, wie insbesondere in den Lasten-/Pflichtenheftprozess, sowie Unterstützungsmöglichkeiten durch Tools finden sich in Kap. 8 Arbeiten mit Anforderungen.
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7.1 Zielsystem des Entwicklungsvorhabens Das Zielsystem für ein Entwicklungsvorhaben besteht aus produktbezogenen Zielen, Kosten- sowie Terminzielen (Abb. 7.2). Die technische Produktspezifikation ist dabei ein wichtiger Bestandteil des Zielsystems. Sie reicht jedoch nicht aus, um die Anforderungen an die Lösung des Entwicklungsproblems vollständig und bestmöglich umzusetzen. Kosten- und Terminziele sowie die Rahmenbedingungen, unter denen alle spezifizierten Ziele erreicht werden müssen, haben einen ebenso großen Einfluss auf die Gestaltungsmöglichkeiten für das Produkt. Übereinstimmend wird in der DIN ISO EN 9000 (2015) die technische Spezifikation allgemein als das Dokument bezeichnet, in dem Anforderungen festgelegt werden. Diese können sich auf Produkte beziehen (Produkt- oder Leistungsspezifikation), aber auch auf Tätigkeiten. Beispiele hierfür sind Verfahrens- und Prozessdokumentationen oder Testspezifikationen. Zwischen den Zielen und Teilzielen sowie den Rahmenbedingungen für einen Entwicklungsauftrag existieren bei der Umsetzung in eine konkrete Lösung häufig Zielkonflikte, d. h. konkurrierende Wechselwirkungen. Die Verbesserung eines Zielwerts kann für eine definierte Lösung mit der Verschlechterung eines oder mehrerer anderer Zielwerte verbunden sein, etwa wenn die Leistungssteigerung eines Motors bei einfacher Skalierung auch dessen Gewicht erhöht. Die gleichzeitige Umsetzung zweier oder mehrerer Ziele kann sich gegenseitig u. U. ganz ausschließen, beispielsweise wenn verfügbare nachhaltige Materialien für eine ökologischere Ausrichtung nicht die geforderten mechanischen Eigenschaften aufweisen. Konflikte in der Zielerreichung hängen also von der Wahl und Umsetzung der Lösung ab. Typischerweise können viele dieser Wechselwirkungen erst nach dem Projektbeginn identifiziert werden, da entweder technische Expertise oder die Konkretisierung möglicher Lösungskonzepte erforderlich ist, um diese Zielkonflikte zu erkennen oder zu quantifizieren. Eine erfolgreiche Durchführung jedes Entwicklungsvorhabens erfordert die Ermittlung eines initialen Zielsystems unter Berücksichtigung aller Ziele, das dann als Querschnittsaufgabe begleitend zum Entwicklungsprozess aktualisiert und nachverfolgt wird. Ausgehend vom initialen Zielsystem zum Zeitpunkt t0 wird das Zielsystem parallel zum Entwicklungsprozess fortlaufend weiterentwickelt und regelmäßig entsprechend neuer Erkenntnisse zu den Zeitpunkten t1, t2, .... bis tn dokumentiert (Abb. 7.1).
Abb. 7.1 Initiales Zielsystem und Weiterentwicklung
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7.1.1 Produktbezogene Ziele, Terminziele und Kostenziele Jedes Entwicklungsvorhaben ist zusätzlich zu den produktbezogenen Zielen an Terminziele und Kostenziele gebunden (Abb. 7.2). Die produktbezogenen Ziele zp spezifizieren das Produkt, das einen definierten Kundennutzen erfüllen soll (vgl. Kap. 6 Nutzerbedürfnisse und Kap. 5 Produktplanung). Die Terminziele zT legen die Terminkette bis zur Auslieferung an den Kunden fest (vgl. Kap. 17 Projektmanagement), die Kostenziele zK für das Gesamtsystem bzw. Teilsysteme oder -funktionen werden im Sinne des Target Costing aus dem verhandelten bzw. angestrebten (Markt-)Preis des Produkts heruntergebrochen (vgl. Kap. 21 Kostenmanagement). Die produktbezogenen Ziele, Termin- und Kostenziele sind nicht unabhängig voneinander. Ein Produkt, das beispielsweise aus Sicherheitsgründen hohen Qualitätsansprüchen genügen muss, kann höhere Herstellkosten oder einen aufwendigeren Fertigungs- und Montageprozess bedingen. Umgekehrt müssen bei einem möglichst kostengünstigen Produkt in der Regel Kompromisse im Hinblick auf dessen Qualität oder Lieferzeit gemacht werden. Die Ziele von Entwicklungsvorhaben konkurrieren also miteinander, sie können nicht gleichzeitig oder unabhängig voneinander für eine gewählte Lösung optimiert werden. Aufgrund dieser für die Produktentwicklung typischen Zielkonflikte muss für jede Entwicklungsaufgabe in einem definierten Entwicklungskontext (siehe Abschn. 4.5 Entwicklung kontextspezifischer Produktentwicklungsprozesse) immer ein spezifischer Kompromiss aus diesen konkurrierenden Zielsetzungen gefunden werden (Song et al. 2018). Diese Kompromissfindung erfordert die Beteiligung aller relevanten Stakeholder zur Priorisierung der Anforderungen im Rahmen eines Aushandlungsprozesses. Ein wichtiger Stakeholder ist der spätere Nutzer des Produkts. Weitere, bei der Entwicklung des Zielsystems zu berücksichtigende Stakeholder können über den gesamten Produktlebenszyklus (Abschn. 4.1 Produktlebenszyklus und Produktentstehungsprozess) im und außerhalb des Unternehmens zu finden sein. Beispiele hierfür sind die unternehmensinterne oder -externe Produktion, Produktmanager oder Projektleiter benachbarter Produktlinien, Mitglieder von Normen und Richtlinienausschüssen, Vertreter aus dem Umweltschutz oder auch bestimmte Nutzergruppen wie etwa Behindertenverbände. Ergänzend zu den Entwicklungszielen müssen die Rahmenbedingungen bekannt sein, unter denen das Produkt entwickelt, eingesetzt, genutzt, gewartet und instandgehalten sowie entsorgt werden muss. Dies können Normen und Richtlinien zur Auslegung und Berechnung, Vorgaben aus Qualitätsmanagementsystemen, zu berücksichtigende Umgebungsbedingungen oder Kennzeichnungssysteme für das Recycling sein (siehe Abschn. 7.2.3 Arten von Anforderungen). Entwicklungsteams bestehen in der Regel aus einer Vielzahl von Personen aus unterschiedlichen fachlichen Domänen, die teilweise verteilt über unterschiedliche Standorte oder auch Organisationen arbeiten (z. B. Zulieferer, Dienstleister, Berater). Während des Entwicklungsprojekts werden alle Einzelanforderungen zur Bearbeitung auf diese Personen und Organisationseinheiten verteilt (vgl. Abschn. 7.3.3) und stellen deren Arbeitsgrundlage dar. Deshalb müssen alle produktbezogenen Ziele sowie die Terminund Kostenziele eines Entwicklungsvorhabens in der Gesamtheit der Anforderungen an
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Abb. 7.2 Termin-, kosten- und produktbezogene Ziele
das zu entwickelnde Produkt repräsentiert werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Kompromissfindung zwischen konkurrierenden Zielen konsistent im gesamten Entwicklungsteam und damit auch in allen Teillösungen des Lösungskonzeptes umgesetzt wird. Wird etwa aufgrund der funktionalen Arbeitsteilung in einem Unternehmen in der Abteilung für die mechanische Auslegung der Komponenten höchste Priorität auf die Modularisierung und Standardisierung des Produkts gelegt, dagegen im Bereich zur Entwicklung der steuerungstechnischen Lösung eine möglichst detailgenaue Anpassung an Kundenwünsche nachverfolgt, führt das zu einem inkonsistenten Lösungskonzept. Für das Produkt als Ganzes hätte dies zur Folge, dass weder die Modularisierung noch die kundenindividuelle Anpassung bestmöglich umgesetzt würden. Am Markt könnte sich ein solches Produkt damit weder gegen durchgängig modular gestaltete Produkte noch gegen kundenindividuell angepasste Sonderlösungen behaupten. Nicht alle Anforderungen und Randbedingungen sowie deren Wechselwirkungen können beim Start der Entwicklungsaktivitäten vollständig erfasst werden. Neben Definitionslücken, d. h. noch nicht (explizit) festgelegten Anforderungen, bestehen in dieser frühen Phase auch Wissenslücken, die erst mit den Erkenntnissen aus der Konkretisierung der Lösung geschlossen werden können (Hastings, D. und McManus, H. 2005). Dies können zum einen weitere Rahmenbedingungen, Anforderungen an die technische Umsetzung oder Wechselwirkungen mit anderen Teilsystemen sein. Beispielsweise aus einem gewählten Lösungsprinzip, das als Antriebsenergie Druckluft vorsieht, ergeben sich neue zu berücksichtigende konstruktive Anforderungen an die Ausführung und Dichtheit des Systems, geltende Normen und Richtlinien sowie sicherheitstechnische Aspekte. Zum anderen werden Entwicklungsziele durch Kooperationsbeziehungen, etwa mit anderen Unternehmensbereichen, externen Lieferanten oder Zulassungsbehörden modifiziert oder Rahmenbedingungen neu definiert. Auch können Zielkonflikte während der Bearbeitung des Entwicklungsauftrags durch die Wahl
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bestimmter Lösungsprinzipien oder ihrer technischen Ausgestaltung erst erkannt werden. Der Umgang mit Zielkonflikten und das Arbeiten mit Anforderungen sind somit entwicklungsbegleitende Aktivitäten, die nicht am Ende der ersten Arbeitsphase „Klären der Aufgabe“ abgeschlossen werden dürfen. Diese Aufgabe kann nur durch Kooperation im Entwicklungsteam und mit den anderen Stakeholdern erreicht werden. Aus diesem Grund wird die Produktentwicklung auch als informationsumsetzender Prozess charakterisiert, dessen Kernaufgaben die Gewinnung, Verarbeitung und Weitergabe von Informationen umfasst (Ehrlenspiel und Meerkamm 2017).
7.1.2 Modell für Ziel-, Objekt-, Prozess-, und Handlungssystem Die Ziele eines Produktentwicklungsvorhabens werden durch Aktivitäten, die sich aus dem Problemlösezyklus herleiten lassen, in Ergebnisse transformiert (vgl. Kap. 3 „Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung“). Dabei werden Syntheseund Analyseschritte durchgeführt. Die Ziele werden verwendet, um Lösungskonzepte zu synthetisieren, die dann durch Analyse wiederum mit den Zielen abgeglichen werden (Abb. 7.3). Während der Produktentwicklung findet so ein stetiger Informationszuwachs durch die Weiterentwicklung der Lösung statt. Das Inkrafttreten neuer Normen und Gesetze, neue Berechnungsmethoden aber auch der technische Fortschritt erfordern einen ständigen Abgleich der Anforderungen und Lösungen mit den für das Produkt geltenden
Abb. 7.3 Informationszuwachs durch Synthese und Analyse im Produktentwicklungsprozess
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bzw. angenommenen Rahmenbedingungen. Deshalb kann jedes Produktentwicklungsvorhaben als dynamisches System verstanden werden, welches durch Informationsumsetzung einer stetigen Zustandsänderung unterliegt. Zusätzlich zu den Wechselwirkungen zwischen produktbezogenen Zielen, Termin- und Kostenzielen beeinflussen die Eigenschaften des zu entwickelnden Produkts, der entwickelten Zwischenstände sowie der Entwicklungsprozess selbst die Möglichkeiten zur Lösung des Entwicklungsproblems. Sind etwa bestimmte Ressourcen wie Rohstoffe, Testeinrichtungen oder auch Fachexperten für die gewählte technische Lösung nicht verfügbar, müssen unter Umständen alternative Lösungen gefunden werden. Die Wechselwirkungen zwischen Produkt, Entwicklungsprozess und Entwicklungszielen können in einem Modell dargestellt werden. Zurückgehend auf die zuerst von Ropohl (2009) im Kontext der Systemtechnik vorgenommenen Definitionen von Handlungssystem, Sachsystem und Zielsystemen entwickelte Negele ein Beschreibungsmodell für die Produktentwicklung bestehend aus Ziel-, Objekt-, Prozess und Handlungssystem (Negele 1998). Dieses wurde weiterentwickelt zum integrierten Produktentstehungsmodell iPeM (Albers et al. 2016), in dem Prozess- und Handlungssystem zusammengefasst sind (vgl. Kap. 4, Der Produktentwicklungsprozess). Die Relevanz der Wechselwirkungen der Zielsetzungen für das Risikomanagement in der Produktentwicklung zeigt Neumann auf, in dem er daraus eine Vorgehensweise zur risikoorientierten Entwicklung innovativer Produkte herleitet (Neumann 2017). Der in diesen Modellen dargestellte Zusammenhang zwischen dem zu entwickelnden Produkt, den Zielsetzungen und dem menschlichen Handeln im Rahmen eines Entwicklungsprozesses verdeutlichen, dass auch die Anforderungen für ein bestimmtes Entwicklungsprojekt nie isoliert von übergeordneten Zielen, Prozessen und handelnden Menschen zu betrachten sind (Abb. 7.4). Die Wechselwirkungen innerhalb des Systems im Produktentwicklungsvorhaben lassen sich anhand des folgenden Beispiels veranschaulichen. Bei der Entwicklung eines Schienenfahrzeugs beinhaltet das Zielsystem (z. B. im Ausschreibungstext) die
Abb. 7.4 Wechselwirkungen im Zielsystem eines Entwicklungsprojekts
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Anforderung, dass der Zug zu einem definierten Zeitpunkt mit definierten Eigenschaften wie der erreichbaren Höchstgeschwindigkeit bei einer maximalen Achslast zugelassen an den Kunden zu übergeben ist. Es könnte am zu entwickelnden Zug (Objektsystem) nach Vertragsabschluss etwa der Einbau von Schiebetritten zur Verringerung des Spalts zwischen Zug und Bahnsteig als erforderlich für die Zulassung des Zuges erkannt werden. Der Einbau von Schiebetritten geht mit einer Veränderung der Masse bzw. Achslasten und damit der fahrdynamischen Eigenschaften des Zuges einher. Daraus wiederum ergeben sich Anforderungen an die maximal erlaubte Masse und erforderliche Leistung vieler weitere Systeme im Zug, um die zulässige Gesamtmasse nicht zu überschreiten. Je nach Zeitpunkt des Feststellens dieser zusätzlichen Anforderungen können signifikante Lieferzeitverzögerungen und damit u. U. Strafzahlungen wegen Terminverzug die Folge sein. Es müssen demnach Maßnahmen (im Handlungssystem) im Umgang mit diesen Änderungen definiert werden, die wiederum Einfluss auf die Ausgestaltung des technischen Systems (Objektsystem) und evtl. auch auf die erreichbaren Entwicklungsziele (Zielsystem) haben können.
7.1.3 Rolle von Zielen und Anforderungen in der Produktentwicklung Nach Ehrlenspiel sind Ziele Soll-Vorstellungen des Auftraggebers, die unscharf sein können. Als Beispiele werden genannt „Die Spülmaschine soll leiser sein als alle der Konkurrenz!“. Für die Durchführung des Entwicklungsprojekts müssen diese Ziele in bearbeitbare Anforderungen umformuliert werden. Im angeführten Beispiel könnte diese lauten „Das Geräusch der Spülmaschine darf 70 dBA in 2 m Abstand im Normraum nicht übersteigen.“ (Ehrlenspiel 2009). Dabei enthält die Umformulierung in Anforderungen zwei wesentliche Aspekte. Zum einen wird das unspezifische Ziel durch die fachliche Expertise des Entwicklungsteams konkretisiert (70 dBA). Zum anderen stellt die Formulierung sicher, dass anhand objektiv messbarer Kriterien eindeutig festgestellt werden kann, ob und in welchem Umfang die Anforderung durch das entwickelte Produkt erfüllt wird. Aufgabe des Entwicklungsteams ist also die Entwicklung der technisch oder in sonstiger Hinsicht unscharfen Zielvorstellungen eines Auftraggebers zu voneinander abgrenzbaren Anforderungen, die den bearbeitenden Personen bzw. Organisationseinheiten zugeordnet werden können. Für die Ausarbeitung der Ziele oder schon durch den Auftraggeber formulierten Anforderungen in mess- und prüfbaren Kriterien ist die Expertise des Entwicklungsteams erforderlich. Anforderungen, deren Erfüllung im Rahmen der Validierung und Verifikation nicht ermittelbar ist, müssen umformuliert oder aus der Anforderungsbasis entfernt werden. Darüber hinaus muss im Rahmen der jeweils aktuellen Erkenntnisse sichergestellt werden, dass die Summe aller Anforderungen die Gesamtheit der Entwicklungsziele incl. der Nutzerbedürfnisse vollständig repräsentieren. Das nachträgliche Ergänzen von übersehenen oder vorhersehbaren Anforderungen kann
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aufgrund der oben genannten Wechselwirkungen zwischen produktspezifischen Zielen, Termin- und Kostenzielen dazu führen, dass eine gewählte Lösung als nicht geeignet zur Erfüllung der Entwicklungsziele verworfen werden muss. Die Anforderungen stellen über die gesamte Entwicklungszeit die Arbeitsgrundlage für jedes Entwicklungsprojekt dar. Sie dienen in allen Phasen eines Entwicklungsvorhabens als Messgröße dafür, inwieweit die Entwicklungsziele erreicht werden bzw. aufgrund der aktuellen Erkenntnisse mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit erreicht werden könn(t) en. Entwicklungsziele, die nicht in den Anforderungen repräsentiert werden, können nicht systematisch über alle Projektphasen und bis auf alle Konkretisierungsebenen nachverfolgt werden. Widersprüche zu bestehenden (Teil-)Zielen oder im Rahmen der Entwicklung identifizierten neuen Zielen können somit oft nicht (rechtzeitig) identifiziert werden. Auch übergeordnete Prioritätensetzungen wie z. B. die Umsetzung von Modularisierungskonzepten oder Wartungs- und Instandhaltungsanforderungen können für das technische Gesamtsystem nur über die Analyse und Umsetzung von spezifischen Anforderungen für den konkreten Entwicklungsauftrag gesteuert werden. Änderungen von Anforderungen – und damit der Erreichbarkeit von Zielen – führen aufgrund der Komplexität des Gesamtsystems sowie deren Wechselwirkungen untereinander insbesondere in späten Projektphasen zu überproportionalen hohen Änderungskosten und -aufwänden in allen Unternehmensbereichen (Giffin et al. 2009). Dies lässt sich mit Hilfe des „Dilemma der Produktentwicklung“ (Ehrlenspiel und Meerkamm 2017) anschaulich darstellen (vgl. Abb. 7.5). Mit fortschreitender Ausgestaltung des Produkts und der damit verbundenen Aktivitäten in anderen Unternehmensfunktionen ist eine zunehmende Anzahl von Personen und weiterer Unternehmensfunktionen von
Abb. 7.5 Dilemma der Produktentwicklung
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den Inhalten der Entwicklung betroffen, die bei Anforderungsänderungen jeweils ihren Arbeitsanteil prüfen und ggf. anpassen oder gar neugestalten müssen. Beispiele für solche durch Änderungen betroffene Aktivitäten können sein: • Erarbeiten technischer Konzepte und Schnittstellen zu weiteren Teilfunktionen des Produkts, • Auslösung von Bestellungen im Einkauf, • Planung und Vorbereitung der Produktion, • Durchführung von Kundengesprächen und Übergabe von Informationsmaterial durch den Vertrieb, • Erarbeitung einer Ressourcenplanung im Controlling. Mit zunehmendem Arbeitsfortschritt der zum Zeitpunkt der Anforderungsänderung durchgeführten Arbeiten steigt der Aufwand zur Einarbeitung der dadurch verursachten Änderungen am Produkt, den Berechnungen oder begleitenden Unterlagen wie Wartungsund Instandhaltungspläne oder Zertifizierungsdokumente. Zudem erhöht das nachträgliche Ändern in bestehenden Zeichnungen, Berechnungen oder sonstigen Daten mit zunehmendem Arbeitsfortschritt die Wahrscheinlichkeit, Fehler zu verursachen. Die initiale Transformation von oft vagen Zielen in überprüfbare, möglichst widerspruchsfreie Anforderungen findet in der ersten Phase des Produktentwicklungsprozesses statt. Dem Klären der Aufgabe kommt damit eine zentrale Rolle in der Produktentwicklung zu, da hier die entscheidenden Weichen für den Erfolg des zu entwickelnden Produkts gestellt werden. Die initiale Anforderungsbasis muss über den gesamten Produktentwicklungsprozess weiter ausgearbeitet und konkretisiert werden (vgl. Abb. 7.1). Die systematische Nachverfolgung von Zielen und daraus abgeleiteten Anforderungen, ihrer Wechselwirkungen im Ziel-, Objekt-, und Handlungssystem (vgl. Abb. 7.4) sowie die Art und Weise ihrer Umsetzung als Beitrag zum Gesamtsystem (vgl. Abb. 7.2) dient dabei als Steuerungsinstrument und Messgröße für den Erfolg des Entwicklungsvorhabens.
7.2 Entwickeln der initialen Anforderungsbasis Im Rahmen eines Entwicklungsprozesses findet die Umsetzung der Entwicklungsziele in ein Produkt statt. Entwicklungsprozesse können nach unterschiedlichen Kriterien gestaltet werden (vgl. Kap. 4 Produktentwicklungsprozess). Die Ausgestaltung in einem Unternehmen kann mehr oder weniger detailliert vorgegeben oder reglementiert sein. Wie in Kap. 4 dargestellt, folgt jeder Entwicklungsprozess einer bestimmten, an den Phasen des Problemlöseprozesses orientierten Logik (vgl auch VDI 2221 2018). Diese ist unabhängig von den durch den Entwicklungskontext bestimmten Rahmenbedingungen, festgelegten Prozessschritten oder Meilensteinen. Die erste Phase eines Entwicklungsvorhabens besteht danach im Klären der Aufgabe. Das Ergebnis dieser Phase ist eine dokumentierte initiale Anforderungsbasis. Sie dient dem Entwicklungsteam als Ausgangspunkt für die Suche nach Lösungsmöglichkeiten in der darauf folgenden Konzeptphase. Ein Praxisbeispiel
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für das Erarbeiten der initialen Anforderungsbasis für einen Akkuschrauber in Form eines Workshops beschreibt Baumgart (Baumgart 2016). Ziel dieser ersten Arbeitsphase „Klären der Aufgabe“ ist es, auf Grundlage der im Entwicklungsauftrag benannten Entwicklungsziele (Abb. 7.2) mit Hilfe der technischen Expertise des Entwicklungsteams die initialen Anforderungen an das Produkt zu ermitteln, zu analysieren und ggf. in Abstimmung mit allen Stakeholdern entsprechend der Prioritäten zwischen den zu erreichenden Zielen anzupassen oder zu konkretisieren. Damit wird das Entwicklungsvorhaben mit den zu diesem Zeitpunkt bekannten Rahmenbedingungen so strukturiert und geplant, dass konsistente übergeordnete produktbezogene Ziele, Terminund Kostenziele erreicht werden können. Die Zielsetzungen, Anforderungen oder Rahmenbedingungen eines Entwicklungsprojekts ändern sich aufgrund äußerer Einflüsse wie geänderten Kundenanforderungen oder Inkrafttreten neuer Normen, aber auch durch den im Verlaufe der Entwicklung erarbeiteten Erkenntnisfortschritt, dies könnte z. B. ein erst durch Festlegung von geometrischen Kenngrößen ermittelbarer Materialkennwert sein. Das initiale Zielsystem wird so über den Projektverlauf kontinuierlich konkretisiert und wenn nötig angepasst (Abb. 7.6, vgl. Abb. 7.1). Dabei müssen unter Beteiligung aller relevanten Stakeholder die Regeln des Änderungsmanagements Anwendung finden (siehe auch Kap. 20 Technisches Änderungsmanagement). In den darauffolgenden Entwicklungsphasen werden aufgrund des erzielten Erkenntnisfortschritts weitere, detaillierte Anforderungen oder Rahmenbedingungen ermittelt und die initiale Anforderungsbasis wird schrittweise ergänzt, konkretisiert und vervollständigt. Änderungen insbesondere initialer Anforderungen müssen deshalb immer im Hinblick auf ihre Wechselwirkungen mit der gewählten Lösung sowie innerhalb des Zielsystems überprüft werden. Dies bedeutet umgekehrt, das beim Klären der Aufgabe
Abb. 7.6 Ableiten der Anforderungsbasis aus dem Zielsystem
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eine sorgfältige und gründliche Ermittlung aller produkt-, termin-, und kostenbezogener Anforderungen von zentraler Bedeutung für den Entwicklungserfolg ist, um vermeidbare spätere Änderungen auszuschließen. Eine eindeutige Klärung aller offenen Punkte und Widersprüche aufgrund fehlenden Wissens ist zu diesem Zeitpunkt jedoch oft noch nicht möglich. In diesem Fall werden zunächst Annahmen getroffen, die im Entwicklungsverlauf bestätigt oder korrigiert werden. Auch aus diesem Grund müssen die initialen Anforderungen und die Entwicklungsplanung dokumentiert und während aller folgenden Arbeitsphasen ständig nachverfolgt und aktualisiert werden.
7.2.1 Entwicklungsauftrag Der Start eines Entwicklungsvorhabens erfolgt mit der Aufgabenstellung – einem internen oder externen Entwicklungsauftrag. Synonym wird auch der Begriff Projektauftrag oder Projektcharter verwendet, weil Produktentwicklungen in Unternehmen oft in Form von Projekten durchgeführt werden (vgl. Kap. 17 Projektmanagement). Der Entwicklungsauftrag ist als Ergebnis der Produktplanung das zentrale Kommunikationsmittel an der Schnittstelle zur Produktentwicklung. Ein interner Entwicklungsauftrag kommt aus dem eigenen Unternehmen und kann z. B. durch die Bereiche Marketing, Produktmanagement, Vertrieb oder auch der Produktion (Betriebsmittelkonstruktion) initiiert werden. Externe Entwicklungsaufträge können direkt vom Kunden (z. B. im Anlagenbau) erteilt oder durch einen Kooperationspartner (Systempartner, Entwicklungsdienstleister) ausgelöst werden. Der Entwicklungsauftrag muss alle entwicklungsrelevanten Informationen enthalten, was neben einer kunden-/marktorientierten technischen Produktspezifikation auch wirtschaftliche und terminliche Randbedingungen wie z. B. die einzuhaltenden Termine und Kosten, Personal- und Einsatzmittel, vorgesehener Markt und Umsatz, sowie Stückzahlen einschließt (Feldhusen 2013; Ehrlenspiel und Meerkamm 2017). In jedem Fall ist sicherzustellen, dass schriftlich fixiert ist, auf Grundlage welcher produktbezogenen Ziele, Terminziele und Kostenziele die Beauftragung stattfindet und anhand welcher Kriterien die erfolgreiche Erfüllung des Auftrags gemessen wird. Auch muss ein Verfahren festgelegt sein, wie das Entwicklungsteam mit Zielkonflikten umgeht, die unvermeidlich während der Bearbeitung des Entwicklungsauftrags identifiziert werden. Insbesondere ist zu klären, wer für das Entwicklungsteam interne und/oder externe Verhandlungspartner für den Umgang mit identifizierten Zielkonflikten, der notwendigen Priorisierung von Zielen und bei der Kompromissfindung sind. Laut DIN muss der Entwicklungsauftrag mindestens folgende Punkte enthalten: „Zielsetzung, erwartete Ergebnisse, Randbedingungen, Verantwortlichkeiten, geplante Ressourcen, übereinstimmende Willensbekundung des Auftraggebers und des Projektverantwortlichen“ (DIN 699015:2009-01). Die DIN ISO 21500:DIN ISO 2150-02 (DIN ISO 21500:2016-02) ergänzt, dass der Entwicklungsauftrag „das Projekt mit den strategischen Zielsetzungen der Organisation“ verknüpft und „etwaige einschlägige Spezifikationen, Verpflichtungen, Annahmen und Randbedingungen beinhalten“ sollte. Zur Klärung und Präzisierung des
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Entwicklungsauftrages sollten deshalb Fragen zu den Projektbeteiligten, zum Hintergrund und Nutzen des Projektes, zum Projektumfang (Liefergegenstände), zu den Grenzen des Projektes, zum Projektaufwand und zu den Projektrisiken beantwortet und dokumentiert werden (Meyer und Reher 2016). Damit die Entwicklungsaufgabe umfassend verstanden wird, sind Zusatzinformationen z. B. über das Nutzenversprechen, zukünftige Entwicklungen oder die Hintergründe des Zustandekommens von Anforderungen erforderlich (Abb. 7.7). Die Bereitstellung dieser Informationen erhöht zudem die Akzeptanz des Entwicklungsauftrages bei den involvierten Entwicklern und vergrößert ihre Weitsicht (Echterhoff 2016) (Abb. 7.7). In der Praxis ist ein heterogenes Bild hinsichtlich der Art und Informationsqualität der Auftragsdokumente zu beobachten. Ursache ist die Vielfalt denkbarer Entwicklungsprojekte und Rahmenbedingungen, unter denen diese durchgeführt werden können. Form und Umfang der Entwicklungsaufträge können von der mündlichen Auftragserteilung bis hin zu mehreren hundert Seiten umfassenden Aufgabenbeschreibungen und
Abb. 7.7 Übergabeinformationen und -dokumente im Entwicklungsauftrag
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ganze Ordner füllenden Vertragspapieren reichen (Jakoby 2015). Einfluss auf die Unterschiede nimmt der Entwicklungskontext, in dem Faktoren wie Unternehmensgröße, Projektgröße, Neuheitsgrad oder das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer subsummiert werden (Bender und Gericke 2016). Das Vorgehen in dieser Arbeitsphase wird vom Verhältnis zwischen Auftraggeber, Auftragnehmer und Nutzer des Produkts bestimmt. Handelt es sich um den Businessto-Consumer Markt (B2C, auch Konsumgütermarkt), so ist der Kunde aus Sicht des Unternehmens anonym. In diesem Fall werden in der Regel Kundenbefragungen oder Marktstudien zur Identifikation von Kundenbedürfnissen und Rahmenbedingungen durchgeführt (siehe Kap. 6), die von einem unternehmensinternen Bereich wie dem Marketing oder Produktmanagement oder auch von externen Dienstleistern zu für das Unternehmen verwertbaren Zielen oder auch ersten konkreten Anforderungen ausgewertet werden. Auch hier muss geklärt werden, welcher interne Repräsentant des Unternehmens der Verhandlungspartner für das Entwicklungsteam beim Klären der Aufgabe ist. Änderungen des Entwicklungsauftrags dürfen keinesfalls „auf Zuruf“ (informell) oder nach eigener Interpretation der Kundenanforderungen durch das Entwicklungsteam vorgenommen werden. Die „Interpretation“ von Kundenanforderungen kann Auswirkungen haben, die in der Entwicklung zunächst nicht bekannt sind. Dies können beispielsweise Auswirkungen auf die Abgrenzbarkeit des zu entwickelnden Produkts von Wettbewerbsprodukten sein, durch die Abmessungen oder Masse veränderte Verpackungs- und Versandkosten oder auch der durch die Wahl eines anderen Fertigungsverfahrens neue mögliche Zeitpunkt des Markteintritt des Produkts sein. Im Business-to-Business Markt (B2B, auch Investitionsgütermarkt oder Anlagenbau) wird der Entwicklungsauftrag direkt durch einen spezifischen Kunden erteilt. Hier ist dem Entwicklungsauftrag häufig ein Ausschreibungsverfahren mit anschließenden Auftragsverhandlungen vorausgegangen. Die unternehmensinternen Repräsentanten, d. h. die Verhandlungspartner des Entwicklungsteams sind dann meist der Vertrieb oder das Produktmanagement. Eigenständige technische Verhandlungen mit dem Auftraggeber sind dem Entwicklungsteam auch hier nicht ohne festgelegtes Verfahren erlaubt, da jegliche Änderungen am vertraglich vereinbarten Liefer- und Leistungsumfang vor allem rechtliche Konsequenzen für das Ausschreibungsverfahren haben können. Zudem können auch hier technische, kalkulatorische oder terminliche Auswirkungen auf das Projektergebnis vorliegen, die aus Sicht des Entwicklungsteams nicht unmittelbar erkennbar sind. Beispielsweise kann die Verwendung eines alternativen, vermeintlich baugleichen technischen Bauteils Auswirkungen auf den Montageprozess haben – etwa durch eine veränderte Verpackung bei Anlieferung – oder auf vertragliche Regelungen zum Lieferzeitraum. Zudem geht die Zusage bestimmter technischer Eigenschaften des Produkts mit dem Rechtsanspruch des Kunden auf Gewährleistung einher. Auch im Falle eines externen Auftraggebers muss also ein interner Verhandlungspartner für das Entwicklungsteam benannt werden. Erst nach unternehmensinterner Abstimmung und Klärung des Mandats darf ggf. direkt mit dem Kunden verhandelt werden. Änderungen an Zielen und Anforderungen aus dem Entwicklungsauftrag sind immer vollumfänglich und ausnahmslos zu dokumentieren
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und vom internen sowie ggf. dem externen Auftraggeber schriftlich zu bestätigen. Ein häufig verwendetes Vorgehen zur Umsetzung eines Kundenauftrags in ein konsistentes internes Arbeitsdokument für das Entwicklungsteam ist der Lasten- und Pflichtenheftprozess. Das Ergebnis der Entwicklungsphase Klären der Aufgabe wird in der Anforderungsbasis dokumentiert, die in Form eines Textdokuments, einer Tabelle oder einer Datenbank vorliegen kann (vgl. Kap. 8 Arbeiten mit Anforderungen).
7.2.2 Lasten- und Pflichtenheft Im Lasten- und Pflichtenheftprozess werden die vom Auftraggeber formulierten Anforderungen im sog. Lastenheft dokumentiert, das dem Auftragnehmer (das ausführende Unternehmen) zur Verfügung gestellt wird. Das Lastenheft beantwortet die Frage nach dem „Was und Wofür“ für das zu entwickelnde Produkt. Im Pflichtenheft beschreibt das auftragnehmende Unternehmen auf welche Art und Weise die Realisierung aller Anforderungen des Lastenheftes stattfinden soll. Dafür werden die Anforderungen des Auftraggebers, evtl. mit ihm gemeinsam, durch Ergänzung und Vervollständigung detailliert und zu Realisierungsanforderungen konkretisiert. Die zu beantwortende Frage lautete für das Lastenheft: „Wie und Womit“ werden die Anforderungen umgesetzt (VDI 2519) (Abb. 7.8, siehe auch Kap. 8). Die Begriffe und das Vorgehen stammen ursprünglich aus dem B2B-Markt, in vielen Bereichen des B2C Marktes werden inzwischen vergleichbare interne Prozesse angewendet. Ein interner Kunde, beispielsweise aus dem Vertriebsbereich, dient dabei als Repräsentant des (anonymen) externen Kunden und übernimmt die Rolle des Auftraggebers im Lasten- und Pflichtenheftprozess. Ziel des Lasten- und Pflichtenheftprozesses ist die Einigung auf einen Liefer- und Leistungsumfang, der die Kundenanforderungen mit der Erfahrung und der Expertise des Auftragnehmers im Rahmen der für ihn technisch machbaren und wirtschaftlich sinnvollen Umsetzung ergänzt. Der Prozessablauf sowie wichtige Meilensteine sind exemplarisch im Abschn. 8.1 dargestellt. Der Kunde beschreibt dabei einen im Idealfall lösungsneutralen Soll-Zustand, den er mit der Nutzung des Produkts erreichen will und überlässt die (technische) Definition des Produkts dem Experten, d. h. dem Auftragnehmer. In der Praxis ist eine lösungsneutrale Beschreibung des Soll-Zustands aus mehreren Gründen nicht immer anzutreffen. Zum einen werden Produkte oft auf der Basis von Vorgängeroder Vergleichsprodukten entwickelt. Es existieren also bereits konkrete Vorstellungen davon, welches Lösungskonzept geeignet sein könnte oder wie das Produkt gestaltet sein soll. Zum anderen erfordert eine Beschreibung von lösungsneutralen Zielen jenseits technischer Umsetzungsideen ein hohes Abstraktionsvermögen sowohl im Hinblick auf den Bedarf als auch auf den Nutzen des Produkts. Zudem werden von Kunden häufig detaillierte Lösungen oder Rahmenbedingungen vorgegeben, die den Lösungsraum einschränken. Ein Beispiel stellt die Vorgabe von Schnittstellen, Anschlussmaße oder eines konkreten Lieferanten für ein bestimmtes Bauteil dar. Praktisch existieren im Lastenheft demzufolge, in Abhängigkeit vom Kunden und Entwicklungskontext, unscharfe Ziele
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und konkrete Anforderungen in der Regel nebeneinander und werden im Rahmen des Lasten- und Pflichtenheftprozesses parallel bearbeitet. Im Lastenheft beschreibt der Kunde Soll-Zustände sowie Eigenschaften des Produkts, aber auch Rahmenbedingungen, die für ihn wichtig sind, und priorisiert diese z. B. im Vergleich zu anderen produktspezifischen Zielen, zu Lieferzeit oder den Lieferkosten (Methoden zur Strukturierung von Anforderungen siehe Abschn. 7.3). Diese Beschreibung der Ziele durch den Kunden ist jedoch nicht vollständig und ausreichend, um ein dauerhaft funktionstüchtiges, zugelassenes, sicheres, wart- und instandhaltbares, produzierbares oder recyclebares Produkt zu entwickeln, da dem Auftraggeber in der Regel die fachliche Expertise zur Festlegung dieser Anforderungen fehlt (z. B. geltende Normen und Richtlinien) oder der Bedarf aus seiner Sicht nicht besteht (z. B. Verwendbarkeit der Lösung auch für andere Kunden). Weitere Anforderungen ergeben sich aus dem Ziel des Auftragnehmers, den Auftrag gewinnbringend abwickeln zu können, da sonst Sinn und Zweck der Geschäftstätigkeit in Frage gestellt sind. Beispiele sind die Einhaltung interner Standardisierungsvorgaben oder Kostenziele, die aus Sicht des Kunden nicht relevant für die Auftragserfüllung sind und die ihm nicht notwendigerweise bekannt sein müssen. Eine Checkliste mit möglichen Quellen und Kriterien für Anforderungen findet sich im Abschn. 7.1.3 (Abb. 7.12 Checkliste zur Ermittlung von Anforderungen). Das Pflichtenheft ist durch die Ergänzungen und Konkretisierungen des Auftragnehmers zu verstehen als dessen spezifischer Realisierungsvorschlag für die im Lastenheft genannten Kundenanforderungen. Das Pflichtenheft eines anderen Auftragnehmers für dasselbe Lastenheft (z. B. im Zuge einer Ausschreibung) kann aufgrund unternehmensspezifisch anderer Rahmenbedingungen wie Fertigungsmöglichkeiten, vorhandener technischer Fachkompetenz oder einem anderen Geschäftsmodell vollkommen anders aussehen.
Abb. 7.8 Lasten- und Pflichtenheft
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Für die Erstellung des Pflichtenheftes muss der Auftragnehmer die im Lastenheft formulierten Kundenanforderungen besonders hinsichtlich folgender Kriterien prüfen: • Insgesamt müssen die Kundenanforderungen auf Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit geprüft werden. Fehlende Anforderungen können sich aus Normen und Gesetzen, aber auch aus technischen Zusammenhängen und Rahmenbedingungen ergeben. Hier ist die Expertise des Auftragnehmers mit dem Produkt, dem Einsatzbereich sowie weiteren relevanten Rahmenbedingungen gefragt. • Zentral ist außerdem die Prüfung ob oder in welchem Umfang jede Kundenanforderung technisch überhaupt umgesetzt werden kann. Möglicherweise enthält das Lastenheft Forderungen, die entweder allgemein oder für den Auftragnehmer nicht realisierbar sind. • Darüber hinaus können Anforderungen im Widerspruch zu geltenden Normen, Richtlinien oder zu Schutzrechten Dritter (Patente) stehen, die dem Kunden nicht bekannt sind. Hier besteht häufig kein technisches Verhandlungspotenzial, lediglich über die Verteilung der Kosten zur Umsetzung der Anforderungen kann hier verhandelt werden. Ein weiterer aus Sicht des Auftragnehmers häufig wichtiger Punkt ist die Einhaltung eigener interner Werksnormen oder Standardisierungsstrategien. Diese kann der Kunde nicht kennen, ist aber evtl. im Rahmen des Verhandlungsprozesses bereit oder gezwungen, seine Anforderungen daran anzupassen. • Schließlich kann es Anforderungen des Kunden geben, die zwar umsetzbar sind, aber mit unverhältnismäßig hohem Aufwand für den Auftragnehmer einhergehen und gleichzeitig nur einen geringen Kundennutzen erzeugen. Beispielsweise könnte ein Kunde für die Einhausung einer Anlage unwissentlich eine Farbe aus dem RAL Spektrum gewählt haben, die aufgrund hoher Umrüstaufwände oder erforderlicher Vorbehandlungen hohe Kosten verursacht, ohne dass die Farbe ein für ihn wichtiges Entscheidungsmerkmal darstellt. Es könnte also für das Produkt eine andere Farbe gewählt werden, ohne dass davon wichtige Kundeninteressen beeinträchtigt wären. Einen Anhaltspunkt zur Vorgehensweise sowie darüber, welche Inhalte im Lasten-/ Pflichtenheft abgedeckt werden sollten finden sich in der VDI 2591 (VDI 2519) am Beispiel von Förder- und Lagersystemen sowie in der VDI/VDE 3694 (Norm VDI 3694) am Beispiel eines Automatisierungssystems sowie in Kap. 8 Arbeiten mit Anforderungen. Am Ende des Lasten- und Pflichtenheftprozesses steht ein von beiden Seiten verbindlich festgelegter, überarbeiteter Entwicklungsauftrag, der im Einklang mit dem angepassten Zielsystem steht (Abb. 7.2 und 7.6). Im Investitionsgüter-Bereich ist das Pflichtenheft Teil des Vertrags zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer. Auch unternehmensinterne Entwicklungsaufträge benötigen ein für beide Seiten verbindliches Dokument über den Entwicklungsauftrag, wobei Art und Form je nach Unternehmen variieren. Häufig kommt auch hier ein ggf. angepasster Lasten- Pflichtenheftprozess zum Einsatz. Da sowohl interne und externe Auftraggeber als auch der Auftragnehmer ein Interesse an der erfolgreichen
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Entwicklung haben, sollte der Lasten-/Pflichtenheftprozess stets im Rahmen einer gleichberechtigten Verhandlung stattfinden. Die ablauflogische Zuordnung des Lasten- und Pflichtenheftprozesses erfolgt zur ersten Entwicklungsphase, dem Klären der Aufgabenstellung, da hier die initiale Anforderungsbasis erstellt wird. Gleichzeitig ist für die Erstellung eines Pflichtenhefts die Existenz eines (vorläufigen) Lösungskonzepts im Sinne einer grundsätzlichen Idee erforderlich, mithilfe welcher Lösungsansätze die Anforderungen des Kunden umgesetzt werden könnten. Die methodische Entwicklung des endgültigen Lösungskonzepts findet jedoch erst in den folgenden Entwicklungsphasen statt. Ein erster Vorschlag eines Pflichtenhefts erfolgt auf der Basis einer oft noch vorläufigen Produktidee, die dann iterativ mit dem Erkenntnisfortschritt konkretisiert wird. Die Koevolution von Problem und Lösung ist in diesem Prozess gut erkennbar. Entwicklungsprojekte, für die ein Pflichtenheft vertraglich abgesicherter Teil des Entwicklungsauftrags ist, basieren häufig auf bekannten Vorgängerlösungen, sodass das Lösungskonzept bereits bekannt ist.
7.2.3 Arten von Anforderungen Anforderungen können in Abhängigkeit von den damit verbundenen Zielsetzungen anhand unterschiedlicher Kriterien unterschieden werden. Diese Kriterien sind Zusatzinformationen, die den Inhalt der Anforderungen klassifizieren und z. B. für ihre Analyse oder Strukturierung genutzt werden können. Grundsätzlich können Anforderungen in funktionale und nicht-funktionale Anforderungen unterschieden werden. Diese Unterscheidungsart stammt aus der Software-Entwicklung. Funktionale Anforderungen beschreiben, wie sich das Produkt verhalten soll. Nicht-funktionale Anforderungen sind häufig funktionsübergreifend und beschreiben genauer, wie und unter welchen Bedingungen die Funktionen erfüllt werden sollen. Übertragen auf die Entwicklung von Produkten, die auch physikalisch umgesetzte Komponenten enthalten, adressieren funktionale Anforderungen höhere Abstraktionslevel des Lösungskonzepts als Anforderungen an die physikalische Gestalt. Funktionale Anforderungen spielen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung von Produkten mit integrierten Software-Funktionalitäten, die mit der physikalischen Gestalt und/oder ihrer Umgebung interagieren. Weitere Arten von Anforderungen können in Anlehnung an (Baumgart 2016) anhand folgender Kriterien unterschieden werden: • Gegenstand der Anforderung: Unterscheidung von produktspezifischen und produktneutralen Anforderungen. Produktneutrale Anforderungen müssen von jedem Produkt erfüllt werden wie beispielsweise allgemeine Anforderungen im Hinblick auf Montage, Fertigung oder Zulassung. Produktspezifische Anforderungen gelten nur für das konkret zu entwickelnde Produkt. Diese Unterscheidung hilft bei der Erstellung von Vorlagen und Checklisten für Anforderungslisten, die auch unternehmens- oder branchenspezifisch gestaltet werden können.
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• Verbindlichkeit der Anforderung: Unterscheidung von Forderungen (Muss-Anforderungen) und Wünschen (SollAnforderungen), wobei die Wünsche zusätzlich in unterschiedlichen Stufen (z. B. 1, 2, 3) priorisiert, d. h. gewichtet werden können. Letzteres ermöglicht die vergleichende Bewertung unterschiedlicher Lösungsalternativen im Hinblick auf das definierte Bewertungsprofil. • Messbarkeit der Anforderung: Unterscheidung von qualitativ und quantitativ beschriebenen Anforderungsausprägungen. Qualitative Anforderungen müssen für die weitere Nutzung im Entwicklungsprozess in quantitativ formulierbare Anforderungen überführt werden. Die Messbarkeit der Anforderung ist Voraussetzung für die Nachverfolgung und Beurteilung ihrer Umsetzung und damit unabdingbar für die Eigenschaftsabsicherung des Produkts. Abb. 7.13 zeigt exemplarisch, wie Anforderungen von qualitativ zu quantitativ weiterentwickelt werden können. • Bewusstheit der Anforderung: Unterscheidung explizit genannter und implizit erwarteter, d. h. dem Stakeholder unbewusste Anforderungen (implizite Anforderungen). Ziel beim Klären der Aufgabe ist insbesondere das Finden impliziter Anforderungen beim Kunden, da diese häufig Ausschlusskriterien für Kauf oder Nutzung des Produkts darstellen oder Hinweise auf Differenzierungsmöglichkeiten von Wettbewerbsprodukten liefern. • Kritikalität der Anforderung: Unterscheidung von aktiven und passiven Anforderungen je nach Anzahl der Wechselwirkungen mit anderen Anforderungen (Eben und Lindemann 2010). Aktive Anforderungen, die für eine gegebene Lösung viele Wechselwirkungen mit anderen Anforderungen haben, führen im Falle der Anforderungsänderung aufgrund des Fortpflanzungseffekts zu umfangreichen weiteren Änderungen, die das gewählte Lösungskonzept stark beeinflussen können. In einem Lösungskonzept sollten Teillösungen, in denen aktive Anforderungen umgesetzt werden, entweder flexibel gestaltbar sein oder die Anforderung muss möglichst früh mit hoher Sicherheit stabil festgelegt werden. • Einfluss auf Kundenzufriedenheit: Unterscheidung von Basis-, Leistungs- und Begeisterungsanforderungen (Leistungsanforderungen) (vgl. Abb. 7.16). Nicht erfüllte Basisanforderungen stellen Ausschlusskriterien für den Kauf oder die Nutzung des Produkts dar. Begeisterungsanforderungen dagegen stellen einen hohen Kauf- oder Nutzungsanreiz dar und ermöglichen die Differenzierung von Wettbewerbsprodukten. • Stakeholder der Anforderung: Unterscheidung von internen und externen Anforderungen oder nach konkreten Urhebern der Anforderungen, z. B. Kunde, Gesetzgeber, Fertigung, etc. Die Zuordnung der Anforderungen zu Stakeholdern ist die Voraussetzung für ihre Interpretation, Priorisierung und ggf. Anpassung oder Änderung im Rahmen des Aushandlungsprozesses beim Abgleich konkurrierender Zielsetzungen während der Produktentwicklung.
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• Toleranzbereich der Anforderung: Unterscheidung von Punkt-, Grenz- und Bereichsanforderungen (Baumgart 2016). Diese Unterscheidung ermöglicht die Definition eines Spielraums bei der Interpretation, Priorisierung und Anpassung oder Änderung von Anforderungen. Punktanforderungen lassen keinen Spielraum, Grenzanforderungen ermöglichen eine einseitige Abweichung von einem gegebenen Anforderungsparameter, Bereichsanforderungen geben eine erlaubte Bandbreite von Anforderungsparametern an. • Lösungseingrenzung der Anforderung: Unterscheidung von Anforderungen, die lösungsneutral (z. B. Beschreibung des Problems oder einer Funktion) oder lösungsspezifisch (z. B. Beschreibung eines Merkmals) sind. Diese Unterscheidung spiegelt sich in einigen Ansätzen zur methodischen Entwicklung wider, in denen zwischen zu entwickelnden Eigenschaften oder Funktionen im Vergleich zu physikalisch umgesetzten Merkmalen oder Designparametern unterschieden wird (Weber 2005; Suh 2001) Die Anforderungsarten stellen jeweils unterschiedliche Sichten auf die Gesamtheit der aus den Entwicklungszielen abgeleiteten Anforderungen dar, die für unterschiedliche Stakeholder in verschiedenen Phasen des Entwicklungsprojekts relevant sind. Für die Interpretation und Umsetzung von Anforderungen ist die Berücksichtigung der äußeren Rahmenbedingungen von zentraler Bedeutung, unter denen diese Anforderungen Gültigkeit haben. Beispielsweise die Aussage über die Tragfähigkeit oder die Lebensdauer eines Produktes ist immer an bestimmte Betriebsbedingungen und Lastfälle gebunden. Oder die Zusage über das Erreichen bestimmter Raumtemperaturen in einem Zug kann nur vor dem Hintergrund äußerer klimatischer Bedingungen, der Anzahl der im Fahrgastraum befindlichen Fahrgäste sowie die durch die Streckenführung bedingte Öffnungszeit der Einstiegstüren gelten. Allgemein wird die Bestimmung bzw. Vorhersage jeder Produkteigenschaft mittels geeigneter Modelle, Methoden und Werkzeuge immer unter Annahme bestimmter äußerer Rahmenbedingungen durchgeführt (Vajna et al. 2018). Deshalb müssen diese Randbedingungen gemeinsam mit den zu erreichenden Zielen und den daraus abgeleiteten Anforderungen dokumentiert oder ggf. ermittelt und festgelegt werden. Die Vielfalt der Sichten – und damit Filtermöglichkeiten – auf die Anforderungen an ein Produkt unter Berücksichtigung der jeweils gültigen Rahmenbedingungen macht deutlich, dass ihre Abbildung in Textverarbeitungs- oder Tabellenkalkulationsprogrammen mit zunehmender Anzahl der Anforderungen sowie zunehmender Komplexität und Dynamik des Zielsystems nicht mehr ausreichend ist. Stattdessen müssen DatenbankAnwendungen zum Einsatz kommen, die den gleichen Datensatz nach unterschiedlichen Kriterien strukturieren und analysieren können. Dies ist umso wichtiger, je größer die Zahl der Anforderungen ist und je mehr Personen an der Entwicklung des Produkts beteiligt sind. Im Extremfall arbeitet eine große Zahl interdisziplinärer Experten parallel an unterschiedlichen Standorten in unterschiedlichen Zeitzonen an miteinander vernetzten Anforderungen. Unterstützende Methoden und Software-Tools für die Arbeit mit Anforderungen werden im nachfolgenden Kap. 8 beschrieben.
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7.3 Methodisches Vorgehen beim Klären der Aufgabe Das Klären der Aufgabe umfasst Aktivitäten zur Ermittlung von Anforderungen, zur fortlaufenden Aktualisierung und Verwaltung sowie zur Nachverfolgung der Umsetzung dieser Anforderungen. Die Zuordnung zu den häufig auch im Deutschen verwendeten Begriffen Requirements Engineering und Requirements Management wird aufgrund unterschiedlicher Interpretationen der Übersetzung aus dem Englischen uneinheitlich gehandhabt. Bei der Anforderungsentwicklung – hier verstanden als die deutsche Entsprechung zum Requirements Engineering – ist das Ziel, Anforderungen an das zu entwickelnde Produkt möglichst umfassend zu ermitteln und zu strukturieren (Grande 2011). Voraussetzung dafür ist eine Analyse der vorliegenden Entwicklungsziele sowie bereits benannter konkreter Anforderungen im Hinblick auf Vollständigkeit und Konsistenz untereinander. Damit werden die angestrebten Produkteigenschaften mithilfe der Expertise des Entwicklungsteams vervollständigt und Widersprüche im Zielsystem sichtbar gemacht. Die so konkretisierten Anforderungen müssen zudem so eindeutig spezifiziert werden, dass ihre erfolgreiche Umsetzung zu einem definierten Zeitpunkt zweifelsfrei festgestellt werden kann (siehe Abschn. 7.1.3 am Beispiel der Konkretisierung qualitativer Anforderungen an eine Spülmaschine sowie Abb. 7.13 zur Präzisierung von Anforderungen). Nach Eigner bezeichnet die Anforderungsentwicklung einen kooperativen, iterativen, inkrementellen Prozess zum Ermitteln, Analysieren, Verstehen und Festlegen von Anforderungen (Eigner et al. 2014). Darüber hinaus stellen die Nachverfolgung, das Korrigieren bzw. Abgleichen sowie das Anpassen von Anforderungen laufende Aktivitäten der Anforderungsentwicklung dar. Das Arbeiten mit Anforderungen dagegen – hier verstanden als die deutsche Entsprechung zum Requirements Management (fälschlicherweise oft synonym verwandt für Anforderungsmanagement) – fokussiert auf die Datenerfassung und Pflege der Anforderungsbasis im gesamten Verlauf des Entwicklungsprojekts (Pohl und Rupp 2015). Ziel ist, zu jedem Zeitpunkt im Projekt einen dokumentierten gültigen Stand der Anforderungen eindeutig erkennbar zu machen sowie Änderungen über die gesamte Projektlaufzeit zu kennzeichnen und nachzuverfolgen. Dies erfordert die Zuordnung jeder Anforderung zu einer verantwortlichen Person oder funktionalen Organisationseinheit. Das Arbeiten mit Anforderungen im Sinne des Requirements Management wird im Kap. 8 vertieft. Eine weitere zentrale Aufgabe beim Arbeiten mit Anforderungen besteht darin, im Projektverlauf die einzelnen Anforderungen im Hinblick auf ihre Umsetzung (Nachweisführung und Testplanung), zu konkretisieren und nachzuverfolgen. Wichtig ist an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen Verifikation und Validierung (Abb. 7.9). Aufgabe der Verifikation ist es, die Umsetzung jeder einzelnen Anforderung zu verfolgen und deren Erfüllung nachzuweisen. Es muss zu jedem Zeitpunkt die Frage danach beantwortet werden können, ob das aktuelle Produktmodell geeignet ist, die zu diesem Zeitpunkt bekannten Anforderungen zu befriedigen. Die Validierung dagegen adressiert die Frage, inwieweit das entwickelte Produkt den verfolgten Zielen und insbesondere den Kundenwünschen entspricht. Die Frage nach den initialen Zielen der Produktentwicklung wird
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Abb. 7.9 Validierung und Verifikation in der Produktentwicklung
in der Produktplanung, also vor Start des Entwicklungsprojekts geklärt. Im Rahmen der Beseitigung von Zielkonflikten oder des Erkenntnisfortschritts im Verlaufe des Entwicklungsprojekts werden neue Erkenntnisse erzielt, die Einfluss auf das initiale Zielsystem haben, das dann gemäß einer mit allen Stakeholdern vereinbarten Vorgehensweise weiterentwickelt und angepasst werden muss (vgl. Abb. 7.2 und Abb. 7.6). Damit muss unter Umständen die Frage nach der Validierung der Entwicklungsziele erneut gestellt werden. Die in Abb. 7.10 gezeigten Aktivitäten beim Arbeiten mit Anforderungen werden im Unternehmen in der Regel von unterschiedlichen Organisationseinheiten verantwortet und betreut. Bei der Anforderungsentwicklung liegt der Schwerpunkt auf der fachlichen – in der Regel technischen – Bearbeitung des Entwicklungsauftrags. Die Kenntnis vorhandener (Vorgänger-)Produkte, relevanter Standards und Normen, grobe Vorstellungen über mögliche Konzeptvarianten aber auch überschlägige erste Auslegungsabschätzungen bestimmen diese Aktivitäten. Bei der Anforderungsverwaltung sind schwerpunktmäßig eher Fachkenntnisse im Prozessablauf, Datenmanagement und der informationstechnischen Unterstützung durch Software Tools beim Arbeiten mit Anforderungen erforderlich. Die Eigenschaftsabsicherung, d. h. die Nachverfolgung der Umsetzung der Anforderungen, erfordert ein weiteres spezifisches Kompetenzprofil der Mitarbeiter. Je nach Reifegrad der entwickelten Lösung müssen Konzepte für das virtuelle oder physikalische Testen gefunden werden. Weitere wichtige Aktivitäten bestehen in der Gestaltung und Durchführung von Design Reviews, in deren Rahmen Qualität und Arbeitsfortschritt der entwickelten Lösung beurteilt und der Anforderungsbasis gegenübergestellt werden. Die Bandbreite der genannten Aktivitäten und sich daraus ergebenden erforderlichen Kompetenzprofile zeigt, dass das für das Entwickeln und Arbeiten mit Anforderungen funktionsübergreifend eng zwischen allen Organisationseinheiten kooperiert werden muss, um das Erreichen der Entwicklungsziele zu ermöglichen. Den Startpunkt bildet dabei die erste Entwicklungsphase, das Klären der Entwicklungsaufgabe. Aufgrund der Weiterentwicklung der Lösung und sich ändernden Erkenntnissen und Rahmenbedingungen müssen diese Aktivitäten über den gesamten Projektverlauf weiterverfolgt werden. Die phasen- und funktionsübergreifende Zusammenarbeit minimiert das Risiko, dass das entwickelte System nicht den Anforderungen der Stakeholder entspricht (Pohl und Rupp 2015). Auch das Klären der Aufgabe ist deshalb untrennbar mit dem
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Abb. 7.10 Aktivitäten beim Entwickeln von Anforderungen
Arbeiten mit Anforderungen verbunden. Eine Beschreibung der Aktivitäten beim Arbeiten mit Anforderungen findet sich in Göhlich et al. (2020). Unabhängig vom Begriffsverständnis und der funktionalen Zuordnung lassen sich die folgenden grundlegenden Aktivitäten beim Arbeiten mit Anforderungen voneinander unterscheiden (Baumgart 2016): • • • • • • • • •
Anforderungen ermitteln, Anforderungen spezifizieren, Anforderungen strukturieren, Anforderungen analysieren, Anforderungen dokumentieren, Anforderungen ändern, Anforderungen versionieren, Anforderungen rückverfolgen, Anforderungen prüfen und kommunizieren.
Der Schwerpunkt der Aktivitäten beim Entwickeln von Anforderungen besteht im Ermitteln, dem Spezifizieren der einzelnen Anforderungen sowie dem Strukturieren und Analysieren der Gesamtheit der Anforderungen. Das Ermitteln bezieht sich auf die Vollständigkeit der Anforderungen im Hinblick auf die Erreichbarkeit und Umsetzbarkeit der Entwicklungsziele. Das Spezifizieren meint die verständliche und eindeutige Formulierung der Anforderung, die darüber hinaus die objektive Beurteilung ihres Erfüllungsgrads unzweifelhaft zulässt. Strukturieren bedeutet die fachliche Zuordnung von Anforderungen zu Unternehmensfunktionen und damit zu Bearbeitern. Das Analysieren ermöglicht neben der Vervollständigung der Anforderungsbasis vor allem die Konsistenzprüfung des Zielsystems und das Auflösen von Zielkonflikten. Die Aktivitäten beim Arbeiten mit Anforderung (Requirements Management) werden in Kap. 8 beschrieben.
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Alle Aktivitäten beim Entwickeln von und Arbeiten mit Anforderungen werden begleitet von der fortlaufenden Prüfung getroffener Annahmen über Problem und Lösung sowie der Gültigkeit der angenommenen Rahmenbedingungen. Aufgrund der Vielzahl der Stakeholder, der fachlichen und organisatorischen Perspektiven sowie der zunehmenden Komplexität zu entwickelnder Produkte stellt dies hohe Ansprüche an die Gestaltung des Anforderungsmanagementprozesses sowie die Kommunikation aller beteiligten Personen.
7.3.1 Anforderungen ermitteln Ausgehend von den Entwicklungszielen und vom Entwicklungsauftrag sowie den zu diesem Zeitpunkt bekannten Rahmenbedingungen müssen die initialen Qualitäts-, Termin- und Kostenanforderungen möglichst eindeutig und umfassend ermittelt werden (Abb. 7.2). Zur Entwicklung einer initialen Anforderungsbasis sollten im ersten Ansatz immer vorhandene Quellen und Dokumente im Hinblick auf die Vermittlung von Anforderungen geprüft werden. Dies können neben dem Entwicklungsauftrag oder dem Lastenheft (vgl. Abschn. 7.2) auch Vertragsdokumente wie Leistungs- und Lieferpläne oder Gesprächsprotokolle, etwa aus internen Ideenworkshops, Kunden- oder Lieferantengesprächen, umfassen. Aus den vorliegenden Informationen ergeben sich erste Anforderungen, die mithilfe methodischer Ansätze iterativ zur initialen Anforderungsbasis vervollständigt werden müssen. Häufig gibt es im Unternehmen bereits ein vergleichbares Vorgängerprodukt, auf dessen Anforderungen aufgebaut werden kann. Wichtig ist in diesem Fall nicht nur neue Anforderungen zu ergänzen, sondern auch für das aktuelle Entwicklungsprojekt irrelevante Anforderungen zu finden und zu hinterfragen. Das ungeprüfte Übertragen „alter Anforderungen“ in neue Projekte führt zu hohen Kosten und Aufwänden und lässt sich später aufgrund der komplexen Vernetzung von Anforderungen mit Lösungen praktisch nicht mehr korrigieren. Deshalb ist die initiale Anforderungsermittlung nicht nur bei der Neusondern auch bei der Varianten- oder Generationenentwicklung von zentraler Bedeutung. Bei der Ermittlung der Anforderungen müssen alle Stakeholder des Produkts berücksichtigt werden. Unter Stakeholdern sind in diesem Kontext alle Anspruchsgruppen zu verstehen, die über den gesamten Produktlebenszyklus Anforderungen an das Produkt haben können. Dies können außerhalb des eigenen Unternehmens neben dem Kunden Zulieferer, Entwicklungspartner oder Zulassungsstellen sein. Stakeholder im eigenen Unternehmen sind in vielen Unternehmensfunktionen zu finden. Beispiele sind Marketing, Vertrieb, Produktion oder unterschiedliche Engineering-Bereiche. Die wichtigste Quelle zur Identifikation von Anforderungen ist der Kunde (Kundenanforderungen). Erfüllt das Produkt seine grundlegenden Anforderungen nicht, nicht ausreichend, nicht kostengerecht oder nicht termingerecht, ist die Bearbeitung des Entwicklungsauftrags nicht erfolgreich. Dabei muss bedacht werden, dass der Kunde nicht notwendigerweise der Nutzer des Produkts ist. Kunden können auch Käufer sein, die das Produkt selbst nicht nutzen, Geldgeber oder andere Auftragnehmer, die dem
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Entwicklungsteam einen Unterauftrag erteilen. Der Kunde ist insbesondere im Industriegütergeschäft (B2B-Bereich) nicht immer auch gleichzeitig der Nutzer des Produkts. Beispielsweise ist der Käufer eines Zuges nicht der Passagier, sondern die Betreibergesellschaft eines Verkehrsunternehmens. Der Zug muss zwar grundlegende Richtlinien und sicherheitstechnische Anforderungen an die Beförderung von Passagieren erfüllen. Dennoch bestimmt der Betreiber im Kontext seines Geschäftsmodells im Rahmen ergonomischer Normen und Richtlinien über den aus seiner Sicht anzustrebenden Fahrgastkomfort wie die Beinfreiheit der Passagiere oder den anzustrebenden Klimakomfort. Es kann also vorkommen, dass die Anforderungen des Kunden (z. B. die DB AG als Betreibergesellschaft) nicht mit den Anforderungen des Nutzers (Passagier) übereinstimmen. Die Erfüllung der Anforderungen des Nutzers liegen dennoch in der Regel im hohen Interesse des Kunden, der diese in seine eigenen Anforderungen übersetzt und an den Auftraggeber weitergibt. Das Vorgehen zur Ermittlung der Nutzerbedürfnisse wird in Kap. 6 beschrieben. Bei der Ermittlung der Kundenanforderungen ist es wichtig, auch implizite Anforderungen zu finden. Dazu zählen selbstverständlich erwartete und deshalb nicht explizit genannte oder dem Kunden bzw. Nutzer nicht bewusste Anforderungen (vgl. Abb. 7.16). Methoden zur Ermittlung impliziter Anforderungen, die oftmals erst nach Markteintritt als nicht oder schlecht erfüllt erkannt werden, sind z. B. Benchmarking, Beschwerdesysteme, Gebrauchstests, Interviews mit „Lead Usern“ oder „Focus Groups“, „Lost Customer“-Umfragen und Win/Loss Reports (Ahrens G. 2000). Trotz ihrer großen Bedeutung kann allein mit den Kunden- und Nutzeranforderungen kein erfolgreiches Produkt entwickelt werden. Es müssen viele weitere Anforderungen und Rahmenbedingungen berücksichtigt werden, die Kunde und Nutzer nicht kennen oder die sie nicht betreffen. Etwa die Zulassungsanforderungen für ein zu entwickelndes Fahrzeug wird ein Nutzer nicht vollumfänglich kennen, er erwartet beim Kauf aber dennoch die Übergabe eines zugelassenen Fahrzeugs. Auch für die Einhaltung werksinterner Normen beim Auftragnehmer besteht aus Kundensicht kein unmittelbares Interesse, für den Hersteller ist sie jedoch essentiell zur Kostendämpfung und Fehlervermeidung. Entsprechend ist die methodische Suche nach Anforderungen über die Kunden- und Nutzeranforderungen hinaus unverzichtbar. Bei der Suche nach relevanten Anforderungen für das zu entwickelnde Produkt hilft die Einnahme unterschiedlicher Betrachtungsperspektiven im Ziel-, Handlungs- und Objektsystem: • Produkt: Welche Anforderungen können sich aus der Erfüllung der Funktion des Produkts ergeben? Beispiele sind die Übertragung geforderter Antriebsleistungen, die Einhaltung einer bestimmten Lebensdauer oder die Spezifikation einer Datenschnittstelle. • Produktlebenszyklus: Welche Anforderungen können sich aus der Betrachtung anderer Lebenszyklusphasen wie z. B. Fertigung, Montage, Produktnutzung, Wartung oder Recycling ergeben? Hier sei auch auf die entsprechenden Gestaltungsrichtlinien (Kap. 16) verwiesen.
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• Allgemeine Regeln der konstruktiven Gestaltung: Ergeben sich spezifische Anforderungen für das vorliegende Problem aus den Grundregeln der Gestaltung (Kap. 14) oder den Gestaltungsprinzipien (Kap. 15)? • Stakeholder: Welche Anforderungen können sich aus den Interessen unterschiedlicher Beteiligter und Betroffener wie Kunde, Nutzer, Qualitätsbeauftragte oder Spediteur ergeben? • Wettbewerb: Welche Anforderungen lassen sich aus der Analyse von Wettbewerbsprodukten ableiten? Verwendbar sind sowohl Positiv- als auch Negativbeispiele. • Rahmenbedingungen: Welche Anforderungen technischer, organisatorischer oder auch ethischer Natur können sich aus dem Umfeld ergeben? Beispiele können Einsatzbedingungen, Gesetze, Zulassungsanforderungen, gesellschaftspolitische Anliegen oder maximale Transportabmessungen von Einzelteilen sein, aber auch aus Zielen inklusiver oder nachhaltiger Produktgestaltung hervorgehen. Diese Perspektiven sind nicht überschneidungsfrei, sondern sollen bei der gedanklichen Strukturierung der Aufgabe in Sinne einer Checkliste unterstützen und können produkt-, unternehmensspezifisch oder individuell ergänzt werden (Abb. 7.11). Eine häufig angewandte Checkliste ist die Kriterienliste, die beim Ermitteln wesentlicher und gestaltbestimmender Produktanforderungen unterstützt (Abb. 7.12). Die ursprünglich auf die physikalischen und geometrischen Eigenschaften eines Produkts fokussierte Liste (bekannt als „Hauptmerkmalliste“ vgl. Pahl et al. 2007) wurde weiterentwickelt und um Beurteilungskriterien aus anderen Lebenszyklusphasen sowie organisatorische und marktrelevante Aspekte ergänzt (Nagarajah 2013). Das Durchgehen der aufgelisteten Punkte hilft dabei, durch Assoziationen relevante Anforderungen an das Entwicklungsvorhaben zu ermitteln. Auf die spezifischen Anforderungen der Nutzer wird in Kap. 6 eingegangen. Weitere Hinweise auf Anforderungen, die sich aus einzelnen Gestaltungszielen herleiten lassen, sind in den Kap. 14 bis 16 dieses Buches zu finden. Die Art und Weise der Dokumentation der Anforderungen in der Anforderungsliste wird in Abschn. 8.2 gezeigt.
Abb. 7.11 Betrachtungsperspektiven für die Identifikation von Anforderungen
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Abb. 7.12 Checkliste zur Ermittlung von Anforderungen
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Nachfolgend werden weitere in der Praxis bewährte Methoden vorgestellt, die bei der Analyse und Vervollständigung der Anforderungsbasis unterstützen können. Fragebogen Der Fragebogen ist eine Methode zur expliziten Befragung einer großen Anzahl an Stakeholder, um deren bewusstes Wissen zu erfassen und vergleichend auszuwerten. Der Fragebogen kann sowohl geschlossene Fragen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten als auch offene Fragen, die individuelle Antworten ermöglichen, umfassen (Pohl und Rupp 2015) Für die Gestaltung eines Fragebogens sind verschiedene Kriterien wie z. B. Form (digital oder papiergebunden), Frageformate (z. B. Multiple-Choice), Antwortformate (z. B. Anzahl und Skalenniveaus der Antwortmöglichkeiten) oder Gütekriterien (z. B. Verständlichkeit, Transparenz, Beantwortungsdauer, Auswertbarkeit) zu berücksichtigen (Porst 2014). Wird ein Fragebogen einmal nach diesen Kriterien entwickelt, können in kurzer Zeit Anforderungen der befragten Stakeholder ermittelt werden. Fragebogen können auch als Grundlage bzw. Leitlinie für (standardisierte) Interviews, also auch in mündlicher Form, genutzt werden. Benchmarking Benchmarking ist ein Instrument der Wettbewerbsanalyse und bezeichnet den systematischen Vergleich der eigenen Produkte oder Dienstleistungen (oder auch Unternehmensprozesse) mit denen anderer Unternehmen. Das Ziel besteht darin sich an den erfolgreichsten Wettbewerbslösungen gemäß eines „best practices“ zu orientieren, um die eigene Lösung zu verbessern (Mertins und Kohl 2009). Die Merkmale und Eigenschaften der besten Wettbewerbsprodukte (oder auch Dienstleistungen) müssen in Anforderungen für das eigene Entwicklungsvorhaben formuliert werden. Bei dieser Methode besteht jedoch die Gefahr, dass durch die Orientierung an nur bestehenden Lösungen kaum Innovationen gefördert werden. Die Szenario-Technik Die Szenario-Technik ist eine Methode aus der strategischen Produktplanung und unterstützt das Vorausdenken potenzieller zukünftiger Chancen und Gefahren der Produktentwicklung. Bei der Bildung möglicher Szenarien wird zwischen dem Szenariofeld und dem Gestaltungsfeld unterschieden, wobei das Szenariofeld externe, nicht lenkbare Einflüsse enthält und das Gestaltungsfeld dagegen die vom Unternehmen direkt gestaltbaren Möglichkeiten umfasst (Gausemeier et al. 1995). Die Szenario-Technik kann also auch eingesetzt werden, um mögliche Anforderungen an das zu entwickelnde Produkt aus all seinen Lebensphasen sowie dem Produktumfeld zu antizipieren (Gräßler et al. 2017). Dafür müssen in den Szenarien die Wechselwirkungen des Produktes mit der Umgebung, also insbesondere auch den Nutzern, in jeder Lebensphase durchdacht werden. Unter Zuhilfenahme von Dokumenten (z. B. Lastenheft, Checklisten, Richtlinien und Normen) und Expertenwissen können so Anforderungen bezüglich des Leistungsverhaltens, der Interaktion, Toleranzen, Sicherheit, etc. ermittelt werden.
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Die Prototypenbeobachtung Anforderungen können auch durch Beobachtung und Analyse von Referenzprodukten oder Prototypen (Prototypenbeobachtung) ermittelt werden. Insbesondere wenn dem Kunden (oder anderen Stakeholdern) die fachliche Expertise zur eindeutigen, technischen Formulierung seiner Wünsche fehlt, kann er bei dieser Methode seine Anforderungen direkt am Prototypen präziser und detaillierter beschreiben. Außerdem können durch den frühen direkten Kundeneinbezug Abweichungen zwischen Bedürfnis und Umsetzung (z. B. „Over-Engineering“) vermieden werden. Prototypen haben den besonderen Vorteil, dass sie ausprobiert werden können und damit für den Kunden erlebbar sind. Dadurch kann zusätzlich analysiert werden, wie bestimmte Personengruppen (z. B. ältere Menschen) mit dem Produkt interagieren und welche Anforderungen sich dabei ergeben. Auch die Erprobung von produktbegleitenden Dienstleistungen wird durch die Verwendung von Prototypen bereits vor Fertigstellung des eigentlichen Produkts ermöglicht. So kann diese Methode über die Anforderungsermittlung hinaus auch zur validierenden Beurteilung des Lösungskonzeptes genutzt werden (Nagarajah 2013). Unter einem Prototyp werden alle Arten von Produktkonzepten und -modellen verstanden, mit denen die Funktionalität und/oder Gestalt des zu entwickelnden Produkts demonstriert werden kann. Dabei sind sowohl physische Modelle des Lösungskonzepts oder bestehende Produkte, in der eine zu entwickelnde Teillösung bereits realisiert ist, als auch virtuelle Modelle des Lösungskonzepts, aber auch integrierte Modellkonzepte wie Hardware- oder Software-in-the-Loop denkbar. Mithilfe der Erweiterten Realität (auch Augmented Reality oder Mixed Reality genannt) ist es möglich, virtuelle Prototypen mit mehreren Sinnen erlebbar zu machen.
7.3.2 Anforderungen spezifizieren Viele der vom Kunden kommunizierten Anforderungen sind vage und eher als Ziele formuliert und müssen für die Entwicklung in präzise, technische Anforderungen übersetzt werden. Nur so kann überprüft werden, ob die Anforderungen durch das entwickelte Produkt erfüllt werden (können). Beispielsweise die Formulierung „Das Fahrzeug muss technisch auf dem neuesten Stand sein“ wäre eine Formulierung, deren Umsetzung sich schwer überprüfen ließe. Weder ist spezifiziert, auf welche technischen Merkmale sich diese Anforderung bezieht (z. B. Energieverbrauch, Sicherheit, Digitale Vernetzung), noch welche konkreten Werte unter welchen Rahmenbedingungen erreicht werden müssen. Umgekehrt kann es vorkommen, dass der Kunde bereits konkrete Anforderungen mit sehr spezifischen Zielwerten angibt und damit die umsetzbaren Lösungsmöglichkeiten einschränkt. Ist ein Spielraum bei der Erreichung von Zielwerten zulässig, muss die Anforderung entsprechend spezifiziert werden, z. B. durch Angabe eines Wertebereiches oder Grenzwertes statt eines festen Punktwertes (vgl. Abschn. 7.2.3 bzw. Baumgart 2016).
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Generell müssen bei der Spezifikation von Anforderungen (Anforderungsspezifikation) Qualitätskriterien eingehalten werden, um eine zielgerichtete Entwicklung zu ermöglichen und aufwendige Iterationen zu reduzieren. Folgende Qualitätskriterien werden in der Literatur genannt (vgl. Pohl und Rupp 2015): • eindeutig: ohne Interpretationsspielraum, mit Kennzeichnung (z. B. Identifikationsnummer), • gültig und aktuell: Freigegeben, z. B. durch Review oder genehmigten Änderungsantrag, • korrekt: inhaltlich richtig, • priorisiert: mindestens nach Wunsch oder Forderung („muss/kann“) klassifiziert, • realisierbar: technisch und wirtschaftlich machbar (entsprechend der zum Betrachtungszeitpunkt vorliegenden Informationen), • rückverfolgbar („traceable“): zum Stakeholder, zur Lösung, im Bezug auf die Nachweisführung, • vereinbart: freigegeben durch alle Stakeholder, • verifizierbar: testbare Merkmale durch Angabe messbarer Ausprägungen (z. B. Breite von 3 m +/- 0,01 m), • verständlich: einfache Formulierung, • vollständig: mit allen relevanten Zusatzinformationen (Rahmenbedingungen). Die Einhaltung von Qualitätskriterien ist insbesondere in der frühen Entwicklungsphase schwierig, wenn ambitionierte Ziele der Stakeholder einem geringen Konkretisierungsgrad der Problemlösung und damit einem hohen Wissens- und Informationsdefizit des Entwicklungsteams gegenüberstehen. Daraus entstehen grundsätzliche Widersprüche bei der Spezifikation von Anforderungen, die Eiletz (1999) als Konflikt-Paare formuliert: • Operational vs. lösungsneutral: Der kreative Lösungsfreiraum wird durch zu starkes Beharren auf eindeutigen, detaillierten Anforderungen stark eingeschränkt. • Vollständig, eindeutig vs. rechtzeitig: Die Festlegung eines vollständigen Zielsystems geht mit einem hohen Zeitaufwand einher bzw. ist in frühen Entwicklungsphasen noch nicht vollständig möglich, weil die dafür notwendigen Erkenntnisse erst im Verlauf der Entwicklung gewonnen werden. Zu früh festgehaltene Annahmen zur Vermeidung von Unsicherheiten bei der Entwicklung der Problemlösung können zu später notwendigen Änderungen (Iterationen) führen. • Widerspruchsfrei machbar vs. anspruchsvoll: Konfliktfreie Ziele widersprechen dem Bestreben, durch anspruchsvolle Ziele innovative Lösungen zu erreichen. Zu hohe Ziele hingegen können bei nicht erkennbarer Erreichbarkeit demotivierend oder gar lähmend auf die involvierten Entwickler wirken. Anforderungen müssen durch messbare Quantitätswerte präzisiert werden, um sie einer eindeutigen und verifizierbaren Beschreibung zu erfüllen. Zunächst qualitativ formulierte Ziele wie „Das Auto muss sportlich aussehen“ müssen soweit möglich in nachprüfbaren
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Eigenschaften heruntergebrochen werden. Eine nachprüfbare Eigenschaft könnte die Neigung der A-Säule oder die Form der Scheinwerfer beim PKW sein. Lassen sich keine derartigen Eigenschaften finden, um die Anforderung ausreichend auf der Basis messbarer Eigenschaften zu quantifizieren, können Kundenbefragungen zur Beurteilung der Umsetzung qualitativ formulierter Anforderungen eingesetzt werden. Auch hier ist im Rahmen der Anforderungsspezifikation festzulegen, welche Produkteigenschaften bei welchen Kunden in welchem Umfang abgefragt und wie beurteilt werden müssen, um die Erfüllung der Anforderung zu überprüfen. Die Präszisierung quantitativer Anforderungen ist am Beispiel „Einfache Wartung“ in Abb. 7.13 dargestellt. Falls eine Präzisierung der Anforderung durch messbare Zielwerte nicht möglich ist, muss diese aus dem Zielsystem entfernt werden.
Abb. 7.13 Präzisierung von Anforderungen (Nagarajah 2013)
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Bei der Formulierung von Anforderungen kann die natürlichsprachliche Beschreibung bei verschiedenen Personen häufig zu einer unterschiedlichen Interpretation führen. Wörter wie „leicht“ oder „eher“ können nicht eindeutig ausgelegt werden. Eine große Auswahl von zu vermeidenden Begriffen ist in VDA 2006 gegeben. Es wird außerdem empfohlen, ein Glossar über die verwendeten Begriffe anzulegen, um zu verhindern, dass Begriffe unterschiedlich interpretiert werden (Nagarajah 2013). Ein weiteres Hilfsmittel ist eine Formalisierung zur Beschreibung von Anforderungen, wie das syntaktische Satzbaumuster vom Verband der Automobilindustrie (VDA 2006). Danach wird vorgeschlagen, festgelegte Satzbauglieder zu verwenden, deren Reihenfolge zur Einhaltung einer korrekten Grammatik flexibel eingesetzt werden können: • Bedingung: Bedingung ist ein optionales Satzbauglied und beschreibt u. a. zeitliche Aspekte, Zustände des Systems oder der Außenwelt. • Subjekt: Als Subjekt wird das ausführende Element, wie z. B. das System, das Teilsystem oder der Anwender beschrieben. • Anforderungswort: Anforderungswort ist ein optionales Satzbauglied und beschreibt die Bedeutung einer Anforderung. • Objekt: Als Objekte werden passive Elemente beschrieben, die an einer Aktion beteiligt sind. • Aktion: Die Aktion wird durch ein Verb beschrieben. Nagarajah (2013) veranschaulicht die Anwendung der Satzbauglieder an folgendem Beispiel: Bei der Demontage der Motorhaubenschließsystem-Komponenten dürfen die Befestigungselemente die Karosserie nicht beschädigen. Bedingung Bei der Demontage der Motorhaubenschließsystem-Komponenten Anforderungswort dürfen Subjekt die Befestigungselemente Objekt die Karosserie Aktion nicht beschädigen
7.3.3 Anforderungen strukturieren Die Anforderungen an ein zu entwickelndes Produkt im Kontext eines Ziel-, Sachund Handlungssystems (Abb. 7.4) stellen ein komplexes System von miteinander in Wechselwirkung stehender Einzelanforderungen dar. Sie werden von unterschiedlichen Fachdisziplinen verantwortet und bearbeitet, betreffen oft unterschiedliche Lebenszyklusphasen des Produkts, und ihre Umsetzung ist darüber hinaus unterschiedlich priorisiert. Viele Anforderungen ergeben sich erst aus der gewählten (technischen) Lösung und
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ändern sich daher dynamisch mit neuen Erkenntnissen durch die Konkretisierung der Lösung, bei Änderung der Rahmenbedingungen oder durch die Änderung anderer Anforderungen. Das Zielsystem eines komplexen Produktes wird daher sehr schnell unübersichtlich. Die systematische Umsetzung und Nachverfolgung aller Anforderungen in der Anforderungsbasis erfordert deshalb eine einheitliche Strukturierung der Anforderungen. Damit können Doppelungen, fehlende Informationen, aber auch Widersprüche zwischen Zielen oder Anforderungen gefunden werden. Dazu werden die Einzelanforderungen nach fachlicher Verantwortung auf Personen verteilt, die dann für deren weitere Bearbeitung verantwortlich sind. Die Nachverfolgung der Umsetzung aller Anforderung ist nur dann möglich, wenn es im Entwicklungsteam für jede Anforderung eine verantwortliche Person gibt. Diese kann ggf. an weitere Personen delegieren, trägt aber weiterhin die Verantwortung für die Nachverfolgung. Die Nachverfolgung jeder Einzelanforderungen adressiert im Kontext der Eigenschaftsabsicherung die Verifikation (vgl. Abb. 7.9). Die Anzahl der Anforderungen, die für die Entwicklung eines Produkts zu berücksichtigen ist, kann von einigen wenigen bis zu mehreren zehntausend Einzelanforderungen reichen, je nach Komplexität des zu entwickelnden Produkts sowie der Rahmenbedingungen, die dabei zu beachten sind. Zudem betreffen Anforderungen unterschiedliche Fachdisziplinen und werden daher in der Regel in unterschiedlichen Organisationseinheiten eines Unternehmens parallel bearbeitet. Auch dafür muss sichergestellt werden, dass jede Anforderung genau einen verantwortlichen Bearbeiter hat. Anforderungen ohne Verantwortlichen werden bei der Bearbeitung nicht systematisch nachverfolgt oder u. U. ganz vernachlässigt. Bei Anforderungen, die mehrere Verantwortliche haben, besteht im Falle von auftretenden Zielkonflikten die Gefahr unlösbarer Konflikte oder im Sinne der Problemlösung schlechter Kompromisse zwischen den unterschiedlichen fachlichen Sichten der Bearbeiter. Es gibt Anforderungen, die eindeutig einem Teilsystem oder einer Funktion des Produkts und damit genau einem Verantwortlichen zur Bearbeitung zugeteilt werden können. Die Struktur, nach der Anforderungen auf Verantwortungsbereichen verteilt werden, muss eine eindeutige Zuordnung erlauben. Dafür müssen Anforderungen nicht nur dem physikalischen Produkt selbst mit seinen Teilsystemen zugeordnet werden können, sondern auch zu erfüllenden Produktfunktionen, durchzuführenden Prozessschritten oder zu berücksichtigenden Rahmenbedingungen. Für ein komplexes Entwicklungsprojekt führt dies zu einer umfangreichen Gliederungsstruktur, die Ähnlichkeit mit einem Projektstrukturplan hat. In der Praxis orientieren sich viele Unternehmen an vorhandenen branchentypischen, in Normen oder Richtlinien festgelegten Gliederungsoder Strukturierungskriterien, die für den eigenen Anwendungszweck angepasst werden. Dies hat den Vorteil, dass die inhaltliche Konsistenz der Struktur durchdacht und in der Regel mit den beteiligten Stakeholdern mindestens auf allgemeiner Ebene abgestimmt und erprobt ist. Darüber hinaus ermöglicht die Nutzung standardisierter Strukturierungskriterien eine unternehmensweit einheitliche Verwendung, die allen Beteiligten bekannt und geläufig ist. Abb. 7.14 zeigt die sog. Requirements Breakdown Structure für Projekte
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B. Bender und K. Gericke
Abb. 7.14 Anforderungsstrukturierung abgeleitet aus EN 15380 am Beispiel der Bahntechnik
in der Bahntechnik, die abgeleitet aus der (DIN EN DIN EN 15380-5)1 „Kennzeichnungssystem Schienenfahrzeuge“ für ein spezifisches Unternehmen angepasst wurde. Anforderungen an einen Zug können beispielsweise zugeordnet werden zum Traktionssystem (z. B. Oberleitungsspannung 15 kV), der mechanischen Tragstruktur (z. B. Energieverzehr im Crashfall 650 kJ) oder dem Bremssystem (z. B. Bremsverzögerung mind. 1 m/s2). Demgegenüber gibt es Anforderungen, bei denen diese Zuordnung nicht überschneidungsfrei möglich ist. Für das genannte Beispiel wäre dies etwa die Anforderung nach einer möglichst geringen, aber maximal zulässigen Dienstmasse des Zuges von 120t. Diese kann nicht ausschließlich dem Traktionssystem, der mechanischen Tragstruktur oder dem Bremssystem zugeordnet werden. Alle Funktionen wirken zur Umsetzung dieser Anforderung in eine technische Lösung zur Erreichung des Zielwertes zusammen. Für die Entwicklung des Traktionssystems sowie des Bremssystems stellen die Dienstmasse eine für die Auslegung zu berücksichtigende Eingangsgröße dar. Die mechanische Tragstruktur des Zuges muss alle Subsysteme des Zuges sowie die im Crashfall zu verzehrende Energie aufnehmen können. Gleichzeitig tragen alle (Teil-)Systeme zur Dienstmasse des Zuges bei. Dennoch muss es einen 1Dieses
Dokument definiert die Systemstruktur für Schienenfahrzeuge und deren wesentlichen Merkmale. Es gilt auch für Sonderfahrzeuge wie Baumaschinen und Schneepflüge. Die Systeme, die häufig in Verbindung mit allgemeinen Schienenfahrzeugen eingesetzt werden, sind in diesem Dokument enthalten, während die speziellen Systeme, die für deren Arbeitsabläufe charakteristisch sind, nicht behandelt werden. Sie sind für diese individuellen Projekte hinzuzufügen.
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Verantwortlichen geben, der die Umsetzung und Einhaltung der Anforderung nachverfolgt und zwischen den einzelnen Bearbeitern koordiniert. Im Beispiel würde dies bedeuten, dass die Verantwortung für die Einhaltung der Dienstmasse des Zuges einer Person als Hauptverantwortlicher zugeordnet wird. Die Nachverfolgung der Anforderungen an die Masse der Teilsysteme wie Bremse oder Traktionssystem wird dabei an die fachlich verantwortlichen Mitglieder des Entwicklungsteams delegiert. Diese sind damit zwar verantwortlich für die Masse ihres Teilsystems, der „Massemanager“ trägt jedoch die Verantwortung dafür, dass die Summe aller Teilsysteme der Gesamtmasse entsprechen. Auch systemübergreifende Anforderungen wie beispielsweise die Masseverteilung im Zug und Berechnung des Schwerpunkts müssen durch den Massemanager nachverfolgt werden. Eine weitere Zielsetzung bei der Strukturierung von Anforderungen besteht darin, ihre Abhängigkeiten und Hierarchie untereinander darzustellen bzw. zu erkennen. Damit wird eine wichtige Voraussetzung für die Analyse und Rückverfolgbarkeit der Anforderungen geschaffen. Die Rückverfolgbarkeit von Anforderungen ist beim Arbeiten mit Anforderungen unabdingbar, um im Fall von Änderungen oder Konflikten ermitteln zu können, woher die Anforderung stammt und welche weiteren Anforderungen bei ihrer Änderung betroffen wären. Arten von Abhängigkeiten zwischen Anforderungen lassen sich mithilfe der Netzwerk- oder Graphentheorie beschreiben. Dabei ist zu beachten, dass die Abhängigkeiten zwischen den Anforderungen u. U. nur für ihre konkrete Umsetzung in einem bestimmten Lösungskonzept gelten. Beispielsweise die Anforderung nach der Berücksichtigung der VDI 2230 zur Dimensionierung von Schraubenverbindungen widerspricht der Anforderung nach der Verwendung ausschließlich unlösbarer Bauteilverbindungen nur dann, wenn im gewählten Lösungskonzept überhaupt Schrauben als Verbindungselemente erforderlich sind (z. B. aus Montagegründen). Auch die Anforderung nach einer mindestens erforderlichen Lebensdauer definierter Bauteile kann nur anhand konkreter Konstruktionslösungen mit bekannten Lastverteilungen überprüft werden und sich für unterschiedliche gewählte Lösungen im Verlaufe des Entwicklungsprozesses als widersprüchlich oder im Einklang mit anderen Anforderungen herausstellen (Abb. 7.15). Das Ergebnis der Strukturierung der Anforderungen besteht in einer nach festgelegten Kriterien strukturierten Anforderungsbasis. Diese Kriterien können die fachliche Zuordnung der Anforderungen zu Personen oder Unternehmensbereichen sein. Sofern die Anforderungen in einer Datenbank vorliegen, ermöglicht diese eine Filterung der Anforderungen nach bestimmten Kriterien. Dies können Sichten unterschiedlicher Stakeholder, Relevanz für bestimmte Teilsysteme oder auch die Anzahl der erfüllten/nicht erfüllten Anforderungen zu einem bestimmten Zeitpunkt sein. Das Strukturieren der Anforderungen steht in engem Zusammenhang mit dem Analysieren, da die Zuordnung der Anforderungen zu einer Struktur oft von einer Analyse der Inhalte begleitet werden muss.
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Abb. 7.15 Anforderungshierarchien nach (Gebauer 2001)
7.3.4 Anforderungen analysieren Die Anforderungsbasis stellt die Arbeitsgrundlage des Entwicklungsteams dar und ist die wichtigste Messgröße für den Projekterfolg. Deshalb muss die Anforderungsbasis vollständig, widerspruchsfrei und eindeutig hinsichtlich der zur erreichenden Anforderungsparameter sein. Ziele bei der Analyse von Anforderungen ist die Vervollständigung der Anforderungsbasis sowie das Identifizieren und Auflösen von Zielkonflikten durch Priorisierung der Anforderungen. Ergebnis der Analyse ist eine konsistente Anforderungsbasis, die widerspruchsfrei gemäß dem aktuellen Erkenntnisstand über die Lösung und die geltenden Rahmenbedingungen ist.
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Voraussetzung für die Analyse ist die Strukturierung der Anforderungen und die Zuordnung zu Verantwortlichen (siehe Abschn. 7.3.3 – Anforderungen strukturieren). In einem ersten Schritt klären die jeweils verantwortlichen Fachdisziplinen ihre initialen Anforderungen inhaltlich und prüfen die Einhaltung der Qualitätskriterien für die jeweilige Anforderungsspezifikation (siehe Abschn. 7.3.2 Anforderungen spezifizieren). Parallel müssen die Bearbeiter auf der Basis von Erfahrung, abgeleitet aus Vorgängerprodukten oder mit Hilfe von Checklisten ihren Teil der Anforderungsbasis vervollständigen (siehe Abschn. 7.3.1 Anforderungen ermitteln). Darüber hinaus muss geprüft werden, ob systemübergreifende Anforderungen und Schnittstellen zwischen den Teilsystemen ausreichend definiert sind. Die Verantwortung hierfür liegt bei der Projektleitung oder den entsprechenden Querschnittsfunktionen, z. B. im Engineering. Die Identifikation von Zielkonflikten ist bei der Analyse von Anforderungen unvermeidlich und stellt gleichzeitig einen zentralen Erfolgsfaktor beim Lösen komplexer Probleme dar. Es muss beim Entwickeln regelmäßig die Entscheidung getroffen werden, welche der konkurrierenden Anforderung in welchem Umfang erfüllt werden kann, soll oder muss. Die Priorisierung von Anforderungen ermöglicht dabei das Abwägen zur Selektion der Lösungsalternativen im Hinblick auf unterschiedliche Auswahlkriterien und stellt damit eine wichtige Voraussetzung für die Auflösung der Zielkonflikte dar. Dieser Vorgang kann Rückwirkungen auf das Zielsystem haben. Stellt sich während der Analyse heraus, dass Ziele im Zielsystem beispielsweise aufgrund physikalischer Zusammenhänge der gewählten Lösung nicht gleichzeitig (bestmöglich) erfüllbar sind, muss in einem Iterationsschritt mit den jeweiligen Stakeholdern bzw. dem Auftraggeber das weitere Vorgehen geklärt und dabei ggf. Ziele angepasst oder verworfen werden. Aufgrund der Koevolution von Problem und Lösung werden solche Zielkonflikte nicht nur in der frühen Phase des Klärens der Aufgabe identifiziert, sondern können im gesamten Entwicklungsprozess auftreten. Die Klärung findet deshalb häufig gebündelt im Rahmen von regelmäßigen Design Reviews mit dem Auftraggeber und ggf. anderen betroffenen Stakeholdern statt. Kriterien zur Analyse und Priorisierung von Anforderungen können sein: • Verbindlichkeit der Anforderung: ist die Erfüllung der Anforderung eine Forderung oder ein Wunsch, auch bezeichnet als Muss-, oder Kann-Anforderungen. • Erfüllungsgrad der Anforderung (gilt nur bei Bereichsanforderungen): Unterscheiden von Punkt-, Grenz- und Bereichsanforderungen (Baumgart 2016). • Beitrag, den die Erfüllung der Anforderung zur Kundenzufriedenheit leistet: KanoModell, House of Quality. • Wechselwirkungen mit anderen Anforderungen: Hat die Erfüllung einer Anforderung für eine gewählte Lösung positive oder negative Auswirkungen auf die Erfüllbarkeit oder den Erfüllungsgrad anderer Anforderungen, so stehen diese in Wechselwirkung miteinander. Je höher das Ausmaß der Wechselwirkungen einer betrachteten
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Anforderung mit anderen Anforderungen ist, desto größer sind die Auswirkungen auf das Gesamtsystem bei einer Änderung der betrachteten Anforderung. Diese Eigenschaft wird deshalb auch als „Kritikalität“ bezeichnet (siehe Abschn. 8.3.2 „Arten von Anforderungen“). Die Kritikalität von Anforderungen kann sowohl zur Priorisierung von Anforderungen untereinander als auch zur Gestaltung der Lösung herangezogen werden, z. B. für die Unterscheidung von Grund- und Anpassbausteinen in Baukastensystemen. KANO-Modell Das KANO-Modell kategorisiert Anforderungen hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Kundenzufriedenheit (Kano 1984). Basisanforderungen werden oft nicht explizit genannt, weil sie als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Werden sie nicht erfüllt, führt dies zu einer hohen Unzufriedenheit des Kunden. Leistungsanforderungen dagegen werden meistens explizit genannt und dienen als maßgebliche Vergleichsgrößen mit anderen Wettbewerbsprodukten. Ihr Erfüllungsgrad wirkt sich ungefähr proportional auf die Kundenzufriedenheit aus. Begeisterungsanforderungen umfassen wieder implizite Anforderungen, die vom Kunden nicht erwartet werden und bei deren Erfüllung ihre Zufriedenheit überproportional steigt. Deshalb führen Begeisterungsanforderungen meist zur Differenzierung vom Wettbewerb. Zu beachten ist jedoch der Einfluss der Zeit, d. h. Anforderungen, die den Kunden zunächst begeistern, werden mit zunehmendem Fortschritt zu Leistungs- und schließlich zu Basisanforderungen (Abb. 7.16).
Abb. 7.16 KANO-Modell
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Conjoint-Analyse Die Conjoint-Analyse ist eine Methode, die mithilfe einer Bewertung durch den Kunden ermittelt, welche Merkmale und Merkmalsausprägungen eines Produktes besonders bedeutsam für die Kundenzufriedenheit sind (Baier und Brusch 2009) Dafür müssen zunächst diejenigen Merkmale mit differenzierten Ausprägungen ausgewählt werden, die abgefragt werden sollen. Diese werden so miteinander kombiniert, sodass unterschiedliche Produktkonzepte entstehen, bei denen mindestens eine Merkmalsausprägung variiert. Insgesamt muss jede Ausprägung mindestens einmal vorkommen. Die Aufgabe jedes befragten Kunden besteht nun darin, diese Produktkonzepte in eine Rangfolge zu bringen, die seiner/ihrer persönlichen Präferenz entspricht. Die Merkmale und ihre Ausprägungen werden dadurch nicht isoliert, sondern im Wirkungskontext eines Gesamtkonzeptes bewertet. Mittels statistischer Verfahren können dennoch Rückschlüsse auf die Bedeutung einzelner Merkmale und Ausprägungen gezogen werden. Danksagung Die Autoren bedanken sich sehr herzlich bei Young-Woo Song, Lehrstuhl für Produktentwicklung an der Ruhr-Universität Bochum, für seine kritische und konstruktive Begleitung bei der Erstellung des Kapitels. Die Verantwortung für sämtliche Fehler verbleibt selbstverständlich bei den Autoren.
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B. Bender und K. Gericke
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Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management Dietmar Göhlich und Tu-Anh Fay
Im vorstehenden Kapitel wurde beschrieben, wie eine initiale Anforderungsbasis über das Ermitteln, Spezifizieren, Analysieren und Strukturieren von Anforderungen entwickelt wird (Requirements Engineering). Diese Anforderungsbasis ist aber keineswegs statisch, sondern unterliegt im weiteren Verlauf des Produktentstehungsprozesses einer ständigen Analyse, Priorisierung, Weiterentwicklung und Verifizierung. Das Entwickeln und das Arbeiten mit Anforderungen müssen, wie in Abb. 8.1 dargestellt, also eng verzahnt und aufeinander abgestimmt erfolgen. Dabei muss auch die Rückverfolgbarkeit von Anforderungen gewährleistet sein und die Veränderung von Anforderungen muss mit allen beteiligten Stakeholdern transparent abgestimmt und aktuell gehalten werden. Das prozessbegleitende Arbeiten mit der Anforderungsbasis im Produktentwicklungsprozess, hier auch als Requirements Management (abgekürzt RM) bezeichnet, soll im Folgenden beschrieben werden. Requirements Management umfasst dabei sowohl die Prozessgestaltung als auch die operative Anforderungsverwaltung über den gesamten Produktentstehungsprozess. Das RM beinhaltet die Einbettung der Anforderungsverwaltung in den Entwicklungsprozess und das Zusammenspiel mit den anderen Teilprozessen, die bei einer Produktentwicklung mit zahlreichen Stakeholdern aus unterschiedlichen Bereichen und häufig auch über die Grenzen eines Unternehmens hinweg gewährleistet werden müssen. Die hierfür eingesetzten Dokumente – z. B. in der Form von Anforderungslisten, Steckbriefen, Lasten- und Pflichtenheften – werden im Folgenden beschrieben und es werden
D. Göhlich (*) · T.-A. Fay Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_8
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D. Göhlich und T.-A. Fay
Ansätze zur Standardisierung vorgestellt. Diese Dokumente können aufgrund des notwendigen Detaillierungsgrades sehr umfangreich werden. Schon das Lastenheft einer einzelnen Komponente kann mehrere hundert Seiten umfassen. Unterschiedliche Komponentenlastenhefte müssen konsistent mit Anforderungen an Module, Systeme und Produkte erstellt und gepflegt werden. Hierfür werden in der Praxis spezifische Software Tools eingesetzt. RM umfasst daher auch die Spezifikation, Einführung und Pflege von geeigneten Software Lösungen.
8.1 Requirements Management im Produktentwicklungsprozess Das Requirements Management ist ein fester Bestandteil des gesamten Produktlebenszyklus. Dementsprechend hat das Arbeiten mit Anforderungen in den Modellen zur Produktentwicklung eine besondere Bedeutung. In Kap. 4 wird ein allgemeines Modell der Produktentwicklung beschrieben, welches auf alle Arten technischer Produkte und Systeme sowie die entsprechenden interdisziplinären Entwicklungs- und Entstehungsprozesse angewendet werden kann, siehe auch VDI-Richtlinie 2221 (2019a). Die grafische Darstellung des Modells in Abb. 4.6. zeigt, wie bereits in der Produktplanung Anforderungen definiert und in der anschließenden Produktentwicklungsphase verfeinert und ergänzt werden. Die Vielfalt mechatronischer Produkte und die Komplexität moderner cyberphysischer Systeme machen ein verteiltes und gleichzeitiges Entwickeln auf unterschiedlichen Aggregationsstufen des zu entwickelnden Produktes unabdingbar. Eine domänenübergreifende Methode zum Entwickeln mechatronischer Systeme wird in der VDI-Richtlinie 2206 (2004) beschrieben, siehe hierzu Abb. 4.16. Die Kernelemente sind hierbei ein allgemeiner Problemlösungszyklus auf der Mikroebene und das sogenannte V-Modell auf der Makroebene. Ausgangspunkt des V-Modells sind die Anforderungen, die auf unterschiedlichen Ebenen definiert werden (Bender 2005). Abb. 8.2 zeigt eine
Abb. 8.1 Aktivitäten beim Arbeiten mit Anforderungen
8 Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
SystemAnforderungsanalyse
Eigenschaftsabsicherung
System
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SystemAbnahmetest System-Integration und Test
System-Entwurf
Informationstechnik -Integration und Test
IT AnforderungsAnalyse
Subsystem
SoftwareImplementierung
Komponente
Hardware-Prototypen
Mechanik-Prototypen
Abb. 8.2 Anforderungen im V-Modell der Produktentwicklung. (eigene Darstellung in Anlehnung an Bender 2005)
exemplarische Unterteilung in drei Ebenen: Systemebene (z. B. Gesamtprodukt), erste Subsystemebene (z. B. Modul), zweite Subsystemebene (z. B. Baugruppe oder Bauteil). Typischerweise werden die Anforderungen für jede Ebene in unterschiedlichen Dokumenten verwaltet, für das Gesamtprodukt in einem Produktlastenheft (PLH), für die Subsysteme in Komponentenlastenheften (KLH). Die im Verlauf der Lösungssuche über virtuelle und physikalische Prototypen konkretisierten Lösungen werden einer Eigenschaftsabsicherung unterzogen. Hierzu werden die vorhandenen oder prognostizierten Eigenschaften der einzelnen Teil- bzw. Gesamtlösungsvarianten anhand der an sie gestellten Anforderungen evaluiert. Dies kann z. B. durch Berechnung, Simulation, Versuch etc. erfolgen. Die Gestaltung realer Entwicklungsprozesse erfolgt unter Berücksichtigung spezifischer Kontextfaktoren. Je nach Anwendungsfall im Unternehmen können die Ziele, Aktivitäten und Ergebnisse von Produktentwicklungsprozessen unterschiedlich sein, siehe VDI-Richtlinie 2221 (2019b). Requirements Engineering und Requirements Management sind dabei immer wesentliche Teilprozesse der Produktentstehung. Insbesondere die Erstellung und Freigabe von Lasten- und Pflichtenheften werden als wesentliche Meilensteine im Rahmenterminplan jeder Produktentwicklung vorgesehen. Der Prozess zur Lastenhefterstellung soll im Folgenden genauer beschrieben werden. Grundsätzlich ist dabei zu unterscheiden, ob der Entwicklungsauftrag intern vom Hersteller definiert wird, wie es zum Beispiel in der Automobilindustrie bei der Entwicklung einer neuen Fahrzeugbaureihe aber auch in vielen anderen Branchen üblich
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D. Göhlich und T.-A. Fay
ist, oder ob es sich um eine Auftragsentwicklung handelt, bei der der Hersteller zunächst ein Angebot für die Entwicklung und Lieferung eines Produktes an den ausschreibenden Betreiber erstellt. Dies ist z. B. im Anlagenbau oder bei der Entwicklung von Schienenfahrzeugen üblich, wo der Verkehrsbetreiber wie z. B. die Deutsche Bahn Ausschreibungen erstellt und die Schienenfahrzeughersteller daraufhin entsprechende Angebote abgeben. Abb. 8.3a zeigt den Prozess der Erstellung des Produktlastenhefts (PLH) bei internem Entwicklungsauftrag. Dabei werden hier exemplarisch nur zwei Produktebenen (Gesamtprodukt und Komponenten) und die Zusammenarbeit des Herstellers (häufig auch als Original Equipment Manufacturer, kurz OEM, bezeichnet) mit seinen direkten Lieferanten (häufig mit dem englischen Begriff Tier 1 bezeichnet) berücksichtigt. In realen Entwicklungsprozessen arbeiten die direkten Lieferanten häufig mit weiteren Sublieferanten (Tier 2, 3…N) zusammen. In der Planungsphase werden beim OEM die strategischen Entscheidungen gefällt und die übergeordneten Ziele und Rahmenbedingungen für die Entwicklung eines Produkts oder sogar für eine ganze Produktfamilie (z. B. eine Baureihe) festgelegt. Zum Entwicklungsstart werden die grundlegenden Anforderungen und Rahmenbedingungen vom Hersteller in einem Produktsteckbrief definiert. Auf dieser groben Ebene ist es allerdings oft noch nicht möglich, die hierin enthaltenen Zielkonflikte vollständig zu identifizieren. In der Produktkonzeptionsphase werden die Ziele detaillierter ausgearbeitet, dabei werden typischerweise Widersprüche transparent. Zur Auflösung der Widersprüche sind Zielanpassungen oft unumgänglich. Auf dieser Basis wird ein Konzeptheft erstellt, übergeordnete Ziele werden hier in konkrete Anforderungen überführt. Das Konzeptheft beschreibt sowohl das Gesamtprodukt, bei einem Fahrzeug z. B. Gesamtabmessungen und Fahrleistungen, als auch die wesentlichen Komponenten wie z. B. Antriebssystem oder Fahrwerk. Das Konzeptheft wird im weiteren Prozess zu einem Produktlastenheft weiterentwickelt. Dabei treten wiederum Zielkonflikte auf, die erkannt und gelöst werden müssen. Dazu ist es häufig sinnvoll, bereits in der frühen Phase Entwicklungspartnerschaften einzugehen und potentielle Lieferanten auch ohne Liefervertrag in den Abstimmungsprozess einzubeziehen, wie in Abb. 8.3a dargestellt. Bei einer Auftragsentwicklung kommt neben dem Hersteller und den Lieferanten noch der Auftraggeber als ein dritter Stakeholder hinzu. Abb. 8.3b zeigt exemplarisch wie der Auftraggeber auf Basis einer Ausschreibung ein Angebotslastenheft (ALH) erstellt. Der Hersteller entwickelt auf dieser Basis ein Produktkonzept, welches, analog zum o. g. Konzeptheft, noch nicht frei von Widersprüchen ist. Im nächsten Schritt werden diese Widersprüche, auch hier i. d. R. in Zusammenarbeit mit Lieferanten, aufgelöst und der Hersteller erstellt ein Angebot. Die zu erfüllenden Anforderungen werden gegenüber dem Auftraggeber in einem Produktpflichtenheft des Herstellers (PPH) dokumentiert. Kommt es daraufhin zu einem Auftrag an den Hersteller, erfolgt der eigentliche Projektstart und das Produktpflichtenheft wird zu einem Produktlastenheft (PLH) weiterentwickelt.
8 Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
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Abb. 8.3 Exemplarische Darstellung des Prozess zur Lastenhefterstellung auf der Gesamtproduktebene mit der Unterscheidung a) interner Projektauftrag, b) externer Projektauftrag
Das freigegebene PLH ist die verbindliche Basis für die weitere Produktentwicklung sowohl beim Hersteller als auch für die Zusammenarbeit des Herstellers mit den Lieferanten. Dabei ist es unerheblich, ob der Entwicklungsauftrag intern vom Hersteller definiert wird oder ob es sich um eine Auftragsentwicklung handelt. In Abb. 8.4 ist dargestellt, wie auf der Grundlage des PLH Komponentenlastenhefte (KLH) für Systeme, Module und Bauteile erarbeitet werden. Diese KLH fassen alle Anforderungen des Herstellers (Auftraggeber) an die Leistungen und Lieferumfänge der Komponenten zusammen und sind ein wesentlicher Bestandteil der Anfrageunterlagen. Auf dieser Basis erstellen die Lieferanten Angebote und Pflichtenhefte der Komponenten (KPH), welche die Realisierung der Anforderungen beschreiben. Gegebenenfalls benennt der Auftragnehmer in einer „Clause-by-Clause“ Kommentierung auch die Anforderungen, die gar nicht oder in veränderter Form erfüllt werden. Für die Einbettung des RM-Prozesses in die Gesamtheit des Produktentwicklungsprozesses sowie die Auswahl, Einführung und Pflege von RM Software Tools (siehe Abschn. 8.3) sind spezifische Kenntnisse der Prozessabläufe, des Datenmanagements und der informationstechnischen Umsetzung erforderlich. Daher wird die Verantwortlichkeit im Unternehmen oft zentralen Bereichen übertragen. Bei der Anforderungsentwicklung liegt der Schwerpunkt auf der fachlichen – in der Regel technischen – Kompetenz. Daher wird die Verantwortung hierfür in der Regel der Produktentwicklung zugeordnet. Anforderungen müssen mit allen relevanten Stakeholdern abgestimmt und auf Konsistenz geprüft werden. Die verbindliche Festlegung und Abstimmung mit allen Stakeholdern erfolgt über funktions- und bereichsübergreifende Entscheidungsinstanzen zu den durch entsprechende Meilensteine festgelegten Zeitpunkten. Die Verantwortlichkeit für die Nachverfolgung der Umsetzung der Anforderungen wird in vielen Unternehmen ebenfalls der
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Produktentwicklung zugeteilt, kann aber auch im Sinne eines „vier Augen Prinzips“ als gemeinsame Aufgabe von Produktentwicklung und Qualitätsmanagement (oder einer anderen Querschnittsfunktion) definiert werden. In jedem Fall ist eine personenbezogene Verantwortung erforderlich. So können zum Beispiel die Projektleiter die Gesamtverantwortung für das Produktlastenheft und die Entwicklungsingenieure für die Komponentenlastenhefte übernehmen. Übergreifende Anforderungen, z. B. für die Montage oder Qualitätssicherung, werden dabei von den entsprechenden Querschnittsfunktionen definiert.
8.2 Dokumente und Standards für das Arbeiten mit Anforderungen Bei der Sammlung, Zuordnung und Nachverfolgung von Anforderungen spielen Dokumente eine zentrale Rolle. Diese technischen Dokumentationen sind auf das jeweilige Produkt abzustimmen und entsprechend den Erfordernissen des Prozesses auszuarbeiten, siehe VDI-Richtlinie 4500 (2006). Die einfachste Form der Anforderungsdokumentation erfolgt tabellarisch in Form einer Anforderungsliste (siehe Abschn. 8.2.1), die in der heutigen industriellen Praxis allerdings nur noch für Entwicklungsaufgaben mit geringer Komplexität Anwendung findet. Für komplexere Produkte mit verteilten Entwicklungsaufgaben, häufig über die Grenzen eines Unternehmens hinweg, reichen derartig einfache Dokumentationsformen nicht aus. Der notwendigen Weiterentwicklung der Anforderungen im Produktentwicklungsprozess und der Komplexität der Entwicklungsaufgabe wird durch unterschiedliche Dokumente Rechnung getragen. Die Anforderungen, die sich zu Beginn
Abb. 8.4 Exemplarische Darstellung von Meilensteinen, Abläufen und Dokumenten des Anforderungsmanagements im Produktentwicklungsprozess
8 Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
217
des Produktentstehungsprozesses aus der Produktplanung ergeben, werden in der Regel in der Form eines Steckbriefes zusammengefasst, der häufig auch als Rahmen- oder Konzeptheft bezeichnet wird (siehe Abschn. 8.1). Im sogenannten Lastenheft wird die Summe der Anforderungen an die Produktentwicklung festgehalten, wobei üblicherweise ein übergeordnetes Lastenheft für das Gesamt-Produkt und untergeordnete Lastenhefte für Systeme, Module und Bauteile erstellt werden. Die Lastenhefte sind eine wesentliche Grundlage für die Zusammenarbeit von Auftraggebern und Auftragnehmern, so zum Beispiel bei der Zusammenarbeit eines Produktherstellers mit Lieferanten von Produktkomponenten und auch bei der Zusammenarbeit von Lieferanten untereinander. Die Entwicklung der Anforderungsbasis und die Erstellung von Lasten- und Pflichtenheften wurde bereits in Abschn. 7.2 diskutiert. Im Folgenden werden verschiedene Dokumente für das Arbeiten mit Anforderungen vorgestellt. Außerdem werden Standards diskutiert, die eine vereinheitlichte Struktur, standardisierte Schnittstellen sowie standardisierte Prozesse vorschlagen.
8.2.1 Anforderungsliste Die Anforderungsliste dokumentiert alle Anforderungen in einer übersichtlichen tabellarischen Form. Die Anforderungsliste sollte mindestens Informationen zur Organisation, Identifikation, dem eigentlichen Inhalt der Anforderung und der Verfolgbarkeit (Erstellung und Änderungshistorie) enthalten. I. d. R. werden die Einzelanforderungen nach den Teilsystemen oder nach Hauptmerkmalen gegliedert (siehe Bild 7.12) ebenso ist eine Klassifizierung in verbindliche Forderungen und fakultative Wünsche üblich. Methoden zur Ermittlung von Anforderungen finden sich im Abschn. 7.3.1. Kriterien und Methoden, die bei der Erstellung einer Anforderungsliste helfen, werden dort bereitgestellt. Abb. 8.5 zeigt den formalen Aufbau einer solchen Anforderungsliste. Gemäß Abschn. 7.2.3 wird hier eine Strukturierung in Funktionalanforderungen, nicht-Funktionalanforderungen (z. B. Qualitätsanforderungen) und Rahmenbedingungen vorgeschlagen. Allerdings gibt es für den formalen Aufbau von Anforderungslisten keinen einheitlichen Standard. Typischerweise entwickeln Organisationen eigene, jeweils auf ihren Anwendungsfall zugeschnittene Tabellenformate. Als konkretes Beispiel ist hier das Hubwerk eines Fassadenaufzugs zur Reinigung von Hausfassaden aufgeführt, der in Abb. 8.6 schematisch dargestellt ist. Abb. 8.7 zeigt einen Auszug aus der zugehörigen Anforderungsliste mit allen relevanten Informationen inkl. einer Benennung der Quellen, aus denen die Anforderungen stammen, nämlich einerseits aus einem Entwicklungsauftrag (zum Beispiel von der Geschäftsleitung oder einem Kunden) aber auch aus einer einschlägigen Norm, in diesem Fall der DIN EN 1808 (Sicherheitsanforderungen an hängende Personenaufnahmemittel).
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Abb. 8.5 Formaler Aufbau einer Anforderungsliste
8.2.2 Standards und Richtlinien für Lasten- und Pflichtenhefte In der VDI-Richtlinie 2519 Blatt 1 (2001a) wird eine Vorgehensweise bei der Erstellung eines Lasten- und Pflichtenheftes für Materialflusssysteme und zugehörige Automatisierungssysteme erläutert. Weiterhin werden Kriterien zur Qualitätsbeurteilung von Lasten- und Pflichtenheften aufgestellt. In der VDI-Richtlinie 2519 Blatt 2 (2001b) und VDI/VDE Richtlinie 3694 (2014) werden – für Automatisierungs- und Materialflusssysteme – Gliederungsvorschläge für Lasten- und Pflichtenhefte aufgestellt. Dabei werden neben allgemeinen Gesichtspunkten (z. B. die Beschreibung der Ausgangssituation, übergreifende Eckdaten, Datenmanagement) insbesondere die Systembeschreibung, die Schnittstellen, die systemtechnischen Anforderungen, die Inbetriebnahme, die Qualität und die Projektorganisation behandelt. Der Verband der Automobilindustrie (VDA) hat eine „Automotive Standardvorlage für Komponentenlastenhefte“ vorgeschlagen (VDA 2007), die auf der Zusammenstellung von „Best Practices“ beruht. Die VDA-Struktur besteht inhaltlich aus zwei
8 Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
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Teilen, in denen die übergreifenden Anforderungen, die für das Gesamtprodukt und alle Komponenten gelten, von den spezifischen Anforderungen an die jeweilige Komponente getrennt werden. Ferner wird in diesem Dokument eine Basis für standardisierte IT-Unterstützung durch Requirements Engineering Tools geschaffen. Ein branchenübergreifender Standard oder eine allgemeine Norm für Pflichten- und Lastenhefte liegt bisher nicht vor. Die o. g. Richtlinien und Standards lassen sich aber durchaus auf andere Anwendungsfelder der Mechatronik und des Maschinenbaus übertragen.
8.2.3 Generische Lastenheftstruktur für mechatronische Komponenten Bei komplexen Produkten ist die Beschreibung aller Anforderungen in einem einzigen Produktlastenheft (PLH) weder sinnvoll noch möglich. Stattdessen werden neben dem PLH zahlreiche Komponentenlastenhefte definiert. Entsprechend den jeweiligen Anforderungsebenen gemäß Abb. 8.2 steht der Begriff Komponentenlastenheft dabei für • Systemlastenheft • Modullastenheft • Baugruppenlastenheft • Bauteillastenheft Um die Konsistenz der Anforderungen in diesen unterschiedlichen Lastenheften zu gewährleisten wird auch hier vorgeschlagen, die Anforderungen in übergreifende
Wippausleger
Seil Systemgrenze B/G M Arbeitsbühne
T
Hubwerk
B/G T M
Bremse-Getriebe Einheit Seiltrommel Motor
Rahmen Fahrwerk
Abb. 8.6 Hubwerk eines Fassadenaufzugs, Systemdarstellung mit Systemgrenze
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Abb. 8.7 Auszug aus der Anforderungsliste für das Hubwerk eines Fassadenaufzugs
und spezifische Anforderungen aufzuteilen (siehe Abschn. 8.2.2). Die übergreifenden Anforderungen gelten für das Gesamtprodukt und alle Komponenten und werden an alle Komponentenlastenhefte „vererbt“. Spezifische Anforderungen müssen für jede Komponente separat definiert werden. Auf der Basis der o. g. Standards wird in Abb. 8.8 eine generische Lastenheftstruktur vorgeschlagen, die als Ausgangspunkt und Checkliste für mechatronische Produkte des Maschinen-, Anlagen- und Fahrzeugbaus geeignet ist. Für die spezifische Entwicklungsaufgabe sind gegebenenfalls nicht alle Punkte relevant und abhängig vom spezifischen Anwendungsfall müssen Anforderungskategorien ergänzt werden.
8 Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
221
Abb. 8.8 Generische Lastenheftstruktur für Mechatronische Komponenten
links: übergreifende Anforderungen rechts: spezifische Anforderungen
8.3 Software für das Arbeiten mit Anforderungen Die Dokumentation der Anforderungen und das Erstellen der vorgenannten Dokumente werden mithilfe von Software Tools unterstützt. Einfache Office Anwendungen erleichtern das digitale Erfassen der Anforderungen und bieten eine Möglichkeit zur digitalen Sammlung und Bearbeitung in Form von Listen und Tabellen (vgl. Abschn. 8.2.1). Allerdings stößt das Arbeiten mit Anforderungen auf diesem Weg schon bei der Entwicklung von Systemen mit mittlerer Komplexität sehr schnell an praktische
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Grenzen. Ein prozessbegleitendes und konsistentes Bearbeiten der miteinander in Wechselwirkung stehenden Einzelanforderungen ausschließlich mit Office-Funktionalitäten ist mit zunehmender Komplexität und Dynamik des Zielsystems daher nicht mehr durchführbar. Auf dem Markt existiert eine Vielzahl von spezifischen Software Tools, die das Arbeiten mit Anforderungen unterstützen. Ihnen ist gemein, dass die Einzelanforderungen in einer Datenbank abgelegt werden und Dokumente wie das Lastenheft für ein bestimmtes Bauteil bzw. ein System mittels Export aus der Datenbank erstellt werden können. Allerdings müssen die Software Tools in der Regel an die unternehmensspezifischen Prozesse, an spezifische Schnittstellen, an Geschäfts- und Sicherheitsanforderungen angepasst werden. Moderne Anforderungsmanagement Software Tools verfügen über ein Workflow Management, mit dem die Verwaltung der Anforderungen in den Entwicklungsprozess und das Projektmanagement eingebunden werden kann. Im Folgenden wird beschrieben, wie die grundlegenden Aktivitäten beim Arbeiten mit Anforderungen durch Software Tools unterstützt werden.
8.3.1 Anforderungen definieren und dokumentieren In Software Systemen werden Anforderungen in Form von sogenannten Objekten in einer Datenbank erfasst und mit Attributen versehen. Attribute bestehen typischerweise aus drei Teilen: dem Attributtyp, der Attributdefinition und dem Attributwert. Der Attributtyp definiert den Informationstyp, den das Attribut speichern kann. Die Attributdefinition kann weitere Parameter für das Attribut festlegen. Beispielsweise kann die Attributdefinition Standardwerte bereitstellen oder den Bereich des eigentlichen Attributwerts einschränken. Für die in Abschn. 8.2.1 vorgestellte Anforderungsliste haben die Einzelanforderungen die Attribute Identifikator ID, Verantwortliche Person, Priorität, Änderungsdatum, Bemerkung und Quelle der Anforderung. In der Vorlage ist es möglich, die Attribute im Typ und in der Ausprägung zu spezifizieren und einen Default-Wert vorzugeben. Z. B. ist das Attribut Bemerkung vom Typ Text und im Attributwert wird der Inhalt der Bemerkung abgespeichert. Um das Arbeiten mit Anforderungen durch Tools zu unterstützen, werden vordefinierte Vorlagen verwendet, die an die spezifischen Informationsstrukturen, Prozesse und Kontextfaktoren der jeweiligen Entwicklungsorganisation angepasst sind. Diese Vorlagen dienen auch der Strukturierung und Gliederung der Einzelanforderungen, z. B. nach der in Abschn. 7.3.1 dargestellten erweiterten Hauptmerkmalsliste. In der Datenbank werden die Gliederungsebenen ebenfalls als Objekte hinterlegt. Dabei bestehen mehrere Gliederungsmöglichkeiten, die parallel verwendet werden. Eine Gliederung erfolgt nach System-, Subsystem- und Komponentenanforderungen, wie in Abb. 8.2 dargestellt. Außerdem können Einzelanforderungen in Rahmenbedingungen, Funktionalanforderungen und Qualitätsanforderungen gegliedert werden (siehe Abb. 8.5). Die
8 Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
223
jeweilige Gliederung stellt eine hierarchische Struktur dar und Attribute der Gliederung können als „Eltern-Kind-Beziehungen“ vererbt werden. Des Weiteren erleichtern Software Tools die Handhabung von Abhängigkeiten und unterstützen somit die Rückverfolgbarkeit. In einer klassischen Anforderungsliste wie in Abb. 8.7 gezeigt, wird eine vorhandene Abhängigkeit als Text in der Spalte Bemerkung dokumentiert (Anforderung F-2-1 ergibt sich aus F-1-1). Mithilfe eines Software Tools kann die Abhängigkeit mittels Verlinkung dokumentiert werden und Änderungen in der einen würden in der von ihr abhängigen Anforderung automatisch aufgezeigt. Anforderungen auf Systemebene, die Auswirkungen auf mehrere, miteinander in Wechselwirkung stehende Subsysteme haben, können mithilfe eines gemeinsamen Systemmodells dargestellt werden. Modellbasiertes Systems Engineering (MBSE) ist die formalisierte Anwendung der Modellierung zur Unterstützung von Systemanforderungen, Entwurfsanalysen, Verifizierungen und Validierungen. Zur Beschreibung eines Systemmodells ist eine geeignete Kombination aus Modellierungssprache, Methode und Software Tool zu wählen (Zingel 2013). Ansätze zur interdisziplinären Systemmodellierung wurden im Rahmen einer umfangreichen Studie von INCOSE (International Council on Systems Engineering) untersucht. Dabei wurde SysML als geeignete softwareunabhängige, grafische Modellierungssprache identifiziert (Estefan 2007). SysML steht für Systems Modeling Language und basiert auf UML in der Version 2.0. Nach Anpassungen und Überarbeitungen wurde im April 2006 die SysML als Standard anerkannt und 2007 SysML 1.0 von der OMG (Object Management Group) offiziell veröffentlicht (OMG). Die Anforderungen an das System und die Relationen zu anderen Anforderungen werden in Anforderungsdiagrammen abgebildet. Einzelanforderungen an die Subsysteme und Komponenten lassen sich mit diesem Modell aus Systemanforderungen ableiten. Relationen werden in SysML in vier verschiedenen Beziehungsebenen definiert: Systemstruktur, Systemverhalten, Anforderungen und Parametrik in Form von mathematischen Beziehungen (Friedenthal et al. 2014). In Abb. 8.9 sind die Beziehungsebenen grafisch dargestellt. Anforderungen sind ein integraler Bestandteil des Systemmodells. Systemmodelle ermöglichen über die grafische Repräsentanz hinaus eine automatisierte Korrelation der Systemartefakte (blaue Pfeile in Abb. 8.9) (Weilkiens 2008). Die möglichen Beziehungsarten sind in Tab. 8.1 aufgelistet (Dick et al. 2017; Weilkiens 2008). Diese werden in SysML und auch in RM-Software Tools verwendet. Änderungen in der Systemstruktur oder im Systemverhalten haben direkte Auswirkungen auf die Anforderungen und werden, da sie im Systemmodell hinterlegt sind, von der Software automatisch erkannt und transparent gemacht. Als Beispiel ist hier das bereits in Abb. 8.7 diskutierte Hubwerk eines Fassadenaufzugs zur Reinigung von Hausfassaden aufgeführt. In Abb. 8.10 ist das Anforderungsdiagramm auf oberster Ebene für die Rahmenbedingungen gezeigt. Der Übersichtlichkeit wegen wurden nur die Attribute Identifikation und der beschreibende Text dargestellt. Die Informationen aus dem Anforderungsdiagramm lassen sich leicht in eine Tabellenform überführen, wie in Tab. 8.2 gezeigt. Die Tabellenansicht zeigt jedoch nicht die Abhängigkeiten.
224 Abb. 8.9 Generische Darstellung der vier Beziehungsebenen mit Verlinkung. (eigene Darstellung in Anlehung an Weilkiens 2008)
D. Göhlich und T.-A. Fay 1. Systemstruktur ibd
req
3. Anforderungen
2. Systemverhalten act
par
4. Parametrik
Damit der Austausch von Informationen zwischen dem Systemmodell und der RM Software störungsfrei funktioniert, muss die Schnittstelle zwischen beiden Werkzeugen klar definiert sein und Regeln für die Synchronisation der Daten müssen vorab vereinbart sein. So werden die Attribute im Systemmodell den Attributen in der RM Software zugeordnet. Eine Regel könnte beinhalten, dass nur Attribute mit mindestens dem Status Ready for Review synchronisiert werden.
8.3.2 Anforderungen ändern, versionieren und rückverfolgen Im Laufe des Produktentwicklungsprozesses müssen Anforderungen angepasst oder revidiert werden und das häufig mehrfach und in allen Phasen des Produktentwicklungsprozesses. RM Software Tools stellen Funktionen bereit, die sowohl die Historie einer Anforderung über zahlreiche Versionen als auch die Rückverfolgbarkeit der Auswirkungen von veränderten Anforderungen ermöglichen. Wenn eine Anforderung verändert wird, sollten die Auswirkungen der Änderungen geklärt und geänderte Attribute versioniert werden. Um die Transparenz zu erhöhen, werden Anforderung mit einem Attribut „Status“ versehen, der beispielsweise folgende Stati vorsieht: Draft, Ready for Review, To Be Revised, Released (VDA 2007). In einem Attribut „Kommentar“ können Begründungen zur Änderung festgehalten werden. Der Verlauf der Änderungen wird in einer Historie abgespeichert. Die notwendigen Entscheidungsprozesse im Unternehmen können damit wirksam unterstützt werden.
8 Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
225
Tab. 8.1 Beziehungsarten Beziehungsart/Relation
Beschreibung
Derive Requirement Relationship
Lässt sich eine Anforderung von einer anderen Anforderung ableiten, wird ihre Relation als „Derive Requirement Relationship“ bezeichnet. Sie ist von der abgeleiteten Anforderung auf die ursprüngliche Anforderung gerichtet und wird mit „deriveReqt“ gekennzeichnet.
Namespace Containment
Ist eine Anforderung in einer anderen Anforderung enthalten, spricht man von „Namespace Containment“.
Satisfy Relationship
Wird eine Anforderung von einem Designelement erfüllt, handelt es sich um eine „Satisfy Relationship“. Sie ist vom Designelement zur Anforderung gerichtet und wird mit „satisfy“ gekennzeichnet.
Copy Relationship
Ist eine Anforderung eine Kopie einer anderen Anforderung, wird die Beziehung zwischen diesen als „Copy Relationship“ bezeichnet. Sie ist von der Kopie zum Original gerichtet und wird mit „copy“ gekennzeichnet.
Verify Relationship
Kann eine Anforderung durch einen Test verifiziert werden, spricht man von „Verify Relationship“. Sie ist vom Test auf die zu verifizierende Anforderung gerichtet und wird mit „verify“ gekennzeichnet.
Test Case
Ein Test Case definiert einen Fall, der überprüft, ob das betrachtete System die Anforderung erfüllt.
Refine Relationship
Wird eine Anforderung durch weitere Anforderungen/ Modellelemente detaillierter beschrieben, so spricht man von „Refine Relationship“. Sie ist von der verfeinerten/ detaillierteren Anforderung/Modellelement auf die zu verfeinernde/allgemeinere Anforderung gerichtet und wird mit „refine“ gekennzeichnet.
Trace Relationship
Besteht eine Beziehung zwischen einer Anforderung und einem beliebigen Modellelement, handelt es sich um eine „Trace Relationship“, vorausgesetzt, ein Fall von Traceability liegt vor. Sie wird mit „trace“gekennzeichnet. Sie ist beispielsweise von einer funktionalen Anforderung auf eine nicht-funktionale Anforderung gerichtet.
Abb. 8.11 zeigt die grafische Oberfläche einer RM Software. Rechts im Bild ist das Eigenschaftsfenster (Properties) aufgeklappt. Im Reiter „Discussion“ kann der Entscheidungsprozess zur Änderungshistorie nachverfolgt werden. Im Reiter „Versions“ lassen sich alle Änderungen nachverfolgen. Bei Bedarf können auch ältere Versionen der Anforderung angezeigt und Änderungen zur aktuellen Version kenntlich gemacht werden.
226
D. Göhlich und T.-A. Fay
req [Package] Fassadenaufzug- Hubwerk Anforderungen [Top Level Anforderungen]
Hubwerkanforderung
ID = „R-0“ Text = „Das Hubwerk muss für ein Fassadenaufzug zur Reinigung von Hausfassaden entworfen werden.“
Klima ID = „R-1“ Text = „ Der Einsatz muss unter mitteleurop. Klimabedingungen möglich sein“
Umwelt
ID = „R-2“ Text = „Das Hubwerk muss vor Umwelteinflüssen geschützt werden“
Umgebungstemperatur ID = „R-1.1“ Text = „Das Hubwerk muss bei Außentemperaturen zwischen -20°C und 40°C betriebsbereit sein.“
Testfall 1
Hubgeschwindigkeit
Anwendung
ID = „R-7“ Text = „ Der Einsatz darf nur bei Windverhältnissen v_wind ≤ 20m/s erfolgen“
ID = „R-15“ Text = „Die Hubgeschwindigkeit soll 10m/min +-5% betragen“
Windsensor
Abb. 8.10 SysML Darstellung der Anforderungen für die Rahmenbedingungen des Fassadenaufzugs
Tab. 8.2 Tabellarische Form der Anforderungen aus der SysML Darstellung ID
Titel
Text
R-0
Hubwerkanforderung
Das Hubwerk muss für ein Fassadenaufzug zur Reinigung von Hausfassaden entworfen werden
R-1
Klima
Der Einsatz muss unter mittel-europ. Klimabedingungen möglich sein
R-1.1
Umgebungstemperatur
Das Hubwerk muss bei Außentemperaturen zwischen −20 °C und 40 °C betriebsbereit sein
R-2
Umwelt
Das Hubwerk muss vor Umwelteinflüssen geschützt werden
R-4
Anwendung
Der Einsatz darf nur bei ruhigen Windverhältnissen erfolgen
R-15
Hubgeschwindigkeit
Die Hubgeschwindigkeit soll 10 m/min + −5 % betragen
Im Kontext des Requirements Engineering wird die Rückverfolgbarkeit (Traceability) über die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Objekten auf derselben Ebene ermöglicht oder über die verschiedenen Ebenen (System, Sub-System, Komponente) hinweg. D. h., es handelt sich um Eltern-Kind-Beziehungen, bei der Eltern eine Vielzahl von Kindern, aber Kinder auch eine Vielzahl von Eltern haben können (N-M-Beziehungen). RM Software Tools unterstützen die Dokumentation dieser Beziehungen typischer Weise durch einfache „Drag-and-Drop“ Funktionalitäten, wobei die Richtungsabhängigkeit zu beachten ist. „Traces“ werden auf die Informationen zurückgeführt, auf die sie reagieren (Dick et al. 2017).
8 Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
227
Abb. 8.11 RM Software Visure Solutions, GUI mit Diskussionsfenster (rechts im Bild)
Die konsequente Umsetzung der Rückverfolgbarkeit in Entwicklungsprojekten ist allerdings mit hohen Erfassungskosten verbunden. So sind zum Beispiel in der Automobilindustrie mehrere zehntausend Anforderungen und daraus resultierend große Mengen an sich potenziell beeinflussenden Design-Artefakten, Quellcodes, und Testfällen durchaus üblich (Houdek 2013). Verschiedene Entwicklungsartefakte wie Anforderungen, CADModelle, Quellcode oder Testprotokolle werden häufig mit individuellen Werkzeugen erstellt und verwaltet. Viele dieser Werkzeuge sind nicht interoperabel und erlauben deshalb keine übergreifende Rückverfolgbarkeit. Daten aus heterogenen Werkzeugen müssen zunächst aufwendig homogenisiert werden. Daher sollte die Tiefe der Rückverfolgbarkeit sorgfältig geplant werden und mittels geeigneter Traceability Software unterstützt werden (Egyed et al. 2009). In diesem Zusammenhang ist es darüber hinaus wichtig, die Veränderung von Anforderungen auch mit dem Änderungsprozess (siehe Kap. 20) zu verzahnen. Die RM Software und der RM Workflow sollten möglichst nahtlos in die Software Tools zum Projekt- und Änderungsmanagement integriert sein.
8.3.3 Anforderungen kommunizieren und über Schnittstellen austauschen Der Nutzen der heute am Markt erhältlichen Software Tools beschränkt sich nicht nur auf die Unterstützung des unternehmensinternen Requirements Engineering und Management, sondern fördert auch die Zusammenarbeit zwischen Herstellern und Lieferanten durch eine systemgestützte Abstimmung und Aktualisierung der Anforderungen.
228
D. Göhlich und T.-A. Fay
OEM 1
Lieferant 1 System A
System A Email der ReqIF-Datei
OEM 2
Lieferant 2
und/oder System B
OEM 3
Ablage der ReqIF-Datei auf einem zentralen Server
System C
System B
Lieferant 3 System C
Exportschnittstelle
Importschnittstelle
ReqIF Datei
Abb. 8.12 Austausch von Anforderungen mittels ReqIF-Standard (VDA 2007)
Damit die Kommunikation zwischen Hersteller (OEM) und Lieferant zu jeder Zeit gewährleistet ist und nicht durch die Anwendung unterschiedlicher Software Tools eingeschränkt wird, ist eine standardisierte Schnittstelle erforderlich, welche die Attribute über ein standardisiertes Format beschreibt. Ein solches Format bietet das Requirements Interchange Format (ReqIF), welches ursprünglich im Rahmen eines Konsortiums aus deutschen Automobilherstellern entwickelt wurde. Der ReqIF -Standard ist ein toolunabhängiges, xml-basiertes und frei verfügbares Austauschformat für Anforderungen und wurde mithilfe realer Austauschszenarien entwickelt (VDA 2007). Das ReqIF Format wurde an das internationale Konsortium OMG übergeben und wird dort stetig weiterentwickelt. Zum Austausch von Anforderungen müssen die Software Tools beim OEM und Lieferanten über ReqIF Import und Exportschnittstellen verfügen. Ein beispielhafter Austausch mittels ReqIF ist in Abb. 8.12 dargestellt.
Literatur Bender, K. (2005). Embedded Systems: Qualitätsorientierte Entwicklung. Berlin: Springer. Dick, J., Hull, E., & Jackson, K. (2017). Requirements engineering (4. Aufl.). Switzerland: Springer. Egyed, A., Grünbacher, P., Heindl, M., & Biffl, F. (2009). Value-based requirements traceability: Lessons learned. Design requirements engineering: A ten-year perspective (= Lecture Notes in Business Information Processing) (Nr. 14, S. 240–257). Berlin: Springer. https://doi. org/10.1007/978-3-540-92966-6_14. (springer.com. Zugegriffen: 18. Dez. 2016). ISBN 978-3540-92965-9.
8 Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
229
Estefan, J. A. (2008). Survey of model-based systems engineering (MBSE) methodologies. Incose MBSE Focus Group, 25(8), 1–12. Friedenthal, S., Moore, A., Steiner, R., & Steiner, R. (2014). A practical guide to SysML: The systems modeling language (3. Aufl.). Amsterdam: Elsevier. Houdek, F. (2013). Managing large scale specification projects. 19th Intl. Working Conference on Requirements Engineering: Foundation for Software Quality. Essen, Germany. OMG. https://www.omg.org/spec/SysML/About-SysML/. Zugegriffen: 17. Aug. 2019. VDA. (2007). Automotive VDA-Standardvorlage Komponentenlastenheft (1. Aufl.). Frankfurt a. M: Henrich Druck + Medien GmbH & Co. KG. VDI-Richtlinie 2206. (2004). Entwicklungsmethodik für mechatronische Systeme. Berlin: Beuth. VDI-Richtlinie 2221. (2019a). Entwicklung technischer Produkte und Systeme. Düsseldorf: VDI. VDI-Richtlinie 2221. (2019b). Blatt 2 Entwicklung technischer Produkte und Systeme - Gestaltung individueller Produktentwicklungsprozesse. Düsseldorf: VDI. VDI-Richtlinie 2519. (2001a). Blatt 1 Vorgehensweise bei der Erstellung von Lasten-/Pflichtenheften. Düsseldorf: VDI. VDI-Richtlinie 2519. (2001b). Blatt 2 Lastenheft/Pflichtenheft für den Einsatz von Förder- und Lagersystemen. Düsseldorf: VDI. VDI-Richtlinie 4500. (2006). Technische Dokumentation. Düsseldorf: VDI. VDI/VDE-Richtlinie 3694. (2014). Lastenheft/Pflichtenheft für den Einsatz von Automatisierungssystemen. Düsseldorf: VDI. Weilkiens, T. (2008). Systems Engineering mit SysML-UML: Modellierung, Analyse, Design. Heidelberg: dpunkt. Zingel, C. (2013). Basisdefinition einer gemeinsamen Sprache der Produktentwicklung im Kontext der Modellbildung technischer Systeme und einer Modellierungstechnik für Zielsystem und Objektsystem technischer Systeme in SysML auf Grundlage der ZHO Prinzips (Bd. 70)., IPEK Forschungsberichte Karlsruhe: IPEK.
Teil III Konzeptentwicklung
9
Funktionen und deren Strukturen Kilian Gericke, Beate Bender, Gerhard Pahl, Wolfgang Beitz, Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote
Das Konzept eines Produkts lässt die von einem Produkt zu erfüllenden Funktionen erkennen und beschreibt mit welchen Hilfsmitteln, den Funktionsträgern, diese erfüllt werden sollen. Es ist also ein Abbild der Produktarchitektur (vgl. Kap. 12). Es gibt den prinzipiellen Aufbau und den prinzipiellen Zusammenhang der Haupt- und, wenn notwendig, auch der Nebenelemente des Produkts untereinander wieder. Gleichzeitig legt es grundsätzliche gestalterische Aspekte fest. Wegen dieser grundsätzlichen Bestimmung der wesentlichen Elemente des Produkts und ihres Zusammenhangs untereinander kommt dem Konzept höchste Bedeutung zu. Fehler im Konzept können später gar nicht oder nur mit größtem Aufwand korrigiert werden. Neben dem funktionalen Aspekt besteht das Konzept aus zwei Teilkonzepten, dem Wirkkonzept und dem Gestaltkonzept. Wirkflächen konkretisieren die Beschreibung eines Wirkkonzepts und sind für die Erarbeitung des Gestaltkonzepts von zentraler Bedeutung.
K. Gericke (*) Universität Rostock, Rostock, Deutschland B. Bender Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland J. Feldhusen RWTH Aachen, Aachen, Deutschland K.-H. Grote Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland G. Pahl Darmstadt, Deutschland W. Beitz Berlin, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_9
233
234
K. Gericke et al.
• Wirkkonzept (WK): Es wird zuerst festgelegt und gibt die zur Funktionserfüllung gewählten physikalischen Effekte und deren Verknüpfung untereinander, die prinzipiellen Werkstoffarten (Effektträger) sowie die Gestaltung der Wirkflächen (WF) wieder. • Wirkflächen (WF): An den Wirkflächen wird die Umsetzung der gewählten physikalischen Effekte erzwungen. Dazu wird im Allgemeinen ein Wirkflächenpaar (WFP), also zwei Wirkflächen, die miteinander korrespondieren, benötigt. • Gestaltkonzept (GK): Es legt die Hauptabmessungen und -gestaltung sowie die Zuordnung der Elemente eines Produkts untereinander unter Berücksichtigung des Hauptflusses und evtl. Nebenflüsse fest. Wegen der großen Bedeutung des Konzepts sind vor seiner Erstellung mögliche wesentliche Probleme zu erkennen.
9.1 Abstrahieren zum Erkennen der wesentlichen Probleme 9.1.1 Ziel der Abstraktion Fast kein Lösungsprinzip ist auf Dauer als optimal anzusehen. Neue Technologien, Werkstoffe und Arbeitsverfahren sowie naturwissenschaftliche Erkenntnisse eröffnen möglicherweise in neuartiger Kombination andere und bessere Lösungen. Der Erarbeitung neuer Lösungsprinzipien stehen dabei jedoch oft diverse Hindernisse im Weg. So existieren in jedem Unternehmen Erfahrungen, aber auch Vorurteile und Konventionen, die zusammen mit dem Streben nach geringstem Risiko den Durchbruch zu ungewohnten Lösungen verhindern, die technisch besser und wirtschaftlicher sein können. Des Weiteren kommt es häufig vor, dass vom Aufgabensteller beim Erarbeiten der Anforderungsliste bereits Lösungsprinzipien oder Vorschläge für eine bestimmte Lösung geäußert werden. Oft basieren einzelne Anforderungen bereits auf Ideen und Vorstellungen zur konstruktiven Umsetzung. Solche bewussten und auch unbewussten Vorfixierungen auf bestimmte Lösungen schränken den Lösungsraum ein und können für die Entwicklung einer besseren Lösung hinderlich sein. Beim Vorgehen zum Erreichen einer neuen, nachhaltigen Lösung darf man sich nicht von Vorfixierungen oder konventionellen Vorstellungen allein leiten lassen oder sich mit ihnen zufriedengeben. Vielmehr muss sorgfältig geprüft werden, ob nicht neuartige und zweckmäßigere Lösungswege möglich sind. Zum Auflösen von Vorfixierungen und zum Befreien von konventionellen Vorstellungen dient die hier angestrebte Abstraktion. Beim Abstrahieren sieht man vom Individuellen und vom Zufälligen ab und versucht das Allgemeingültige und Wesentliche zu erkennen. Eine solche Verallgemeinerung, die das Wesentliche hervortreten lässt, führt dabei auf den Wesenskern der Aufgabe. Wird dieser treffend formuliert, so werden die Gesamtfunktion und die die Problematik kennzeichnenden, wesentlichen Bedingungen erkennbar, ohne dass damit schon eine bestimmte Art der Lösung festgelegt wird.
9 Funktionen und deren Strukturen
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Betrachten wir als Beispiel die Aufgabe, eine Labyrinthdichtung einer schnelllaufenden Strömungsmaschine unter bestimmten gegebenen Bedingungen zu entwickeln oder entscheidend zu verbessern. Die Aufgabe sei durch eine Anforderungsliste umrissen, das zu erreichende Ziel ist also beschrieben. Im Sinne einer abstrahierenden Betrachtung würde der Wesenskern nicht darin bestehen, eine Labyrinthdichtung zu konstruieren, sondern eine Wellendurchführung berührungslos abzudichten, wobei bestimmte Betriebseigenschaften zu garantieren sind und ein gewisser Raumbedarf nicht überschritten werden soll. Ferner sind Kostengrenzen und Lieferzeiten zu beachten. Im konkreten Fall wäre zu fragen, ob der Wesenskern der Aufgabe darin liegt: • die technischen Funktionen, z. B. Dichtigkeit oder die Betriebssicherheit beim Anstreifen zu erhöhen, • das Gewicht oder den Raumbedarf zu verringern, • die Kosten entscheidend zu senken, • die Lieferzeit merklich zu kürzen oder • die Abwicklung und den Fertigungsablauf zu verbessern. Alle genannten Fragen können Teile der Gesamtaufgabe sein, aber ihre Bedeutung ist unter Umständen stark unterschiedlich. Sicherlich müssen sie alle angemessen berücksichtigt werden. Eine der genannten Teilaufgaben wird ein wichtiger Anlass sein, weswegen ein neues und besseres Lösungsprinzip gefunden werden muss. Neuentwicklungen für Produkte nach einem bekannten und bewährten Lösungsprinzip werden oft allein wegen der Kosten- und Lieferzeitsenkungen, verbunden mit einer Umstrukturierung der Abwicklung und Fertigung, nötig. Wenn im oben erwähnten Beispiel eine Verbesserung der Dichtigkeit den Wesenskern darstellt, werden neue Dichtsysteme zu suchen sein, folglich muss man sich mit der Physik der Strömung in engen Spalten beschäftigen und aus der gewonnenen Erkenntnis Anordnungen vorsehen, die bei erzielter höherer Dichtigkeit die anderen genannten Teilfragen ebenfalls lösen können. Wäre die Kostenminderung wesentlich, so wird man nach einer Analyse der Kostenstruktur zu untersuchen haben, ob bei gleicher physikalischer Wirkungsweise durch andere Wahl der Materialien, durch Verminderung der Zahl der Teile oder durch eine andere Fertigungsart eine Kostensenkung möglich erscheint. Man könnte aber auch neue Dichtsysteme suchen, allerdings mit dem Ziel, mit geringerem Kostenaufwand eine größere oder wenigstens die gleiche bisherige Dichtigkeit zu erreichen. Das Identifizieren des Wesenskerns der Aufgabe mit den funktionalen Zusammenhängen und den aufgabenspezifischen, wesentlichen Bedingungen zeigt erst das Problem auf, für das eine Lösung zu finden ist. Ist man sich über den Wesenskern der vorliegenden Aufgabe klarer geworden, kann man sehr viel zweckmäßiger die Gesamtaufgabe im Zusammenhang mit den sichtbar werdenden Teilaufgaben formulieren. Deshalb ist es notwendig, durch Erfassen des Wesenskerns der Aufgabe die bestehenden wesentlichen Probleme zu erkennen (Hansen 1966; Lehmann 1985; Steuer 1968).
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K. Gericke et al.
9.1.2 Systematische Erweiterung der Problemformulierung An dieser Stelle des Entwicklungsprozesses ist die beste Gelegenheit, verantwortliches Handeln des Entwicklers und Konstrukteurs frühzeitig ins Spiel zu bringen. Vom Wesenskern der Aufgabe ausgehend sollte schrittweise geprüft werden, ob eine Erweiterung oder sogar Abänderung der ursprünglichen Aufgabe zweckmäßig erscheint, um zukunftssichere Lösungen zu finden. Ein einleuchtendes Beispiel zu einem solchen Vorgehen lieferte Krick (1969). Die Aufgabe war, das Abfüllen und Versenden von Futtermitteln von einem gegebenen Zustand aus zu verbessern. Eine Analyse ergab die in Abb. 9.1 dargestellte Situation. Ein schwerwiegender Fehler wäre es nun, von der vorgefundenen Lage ausgehend die sich darstellenden Teilaufgaben als solche zu akzeptieren und zu verbessern. Mit einem solchen Vorgehen würde man andere, zweckmäßigere und wirtschaftlichere
Abb. 9.1 Vorgefundener Zustand beim Futtermittelversand (Krick 1969)
9 Funktionen und deren Strukturen
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Lösungsmöglichkeiten außer Acht lassen. Mithilfe einer Abstraktion und einer systematischen Erweiterung des Erkannten sind folgende Problemformulierungen denkbar, wobei der Abstraktionsgrad jeweils schrittweise erhöht wird: 1. Füllen, Wiegen, Verschließen und Stapeln der mit Futtermittel gefüllten Säcke. 2. Übergabe des Futtermittels vom Mischsilo in Vorratssäcke im Lagerhaus. 3. Übergabe von Futtermittel aus dem Mischsilo in Säcken auf den Lieferwagen. 4. Übergabe von Futtermittel aus dem Mischsilo an den Lieferwagen. 5. Übergabe von Futtermittel aus dem Mischsilo an ein Transportmittel. 6. Übergabe von Futtermittel aus dem Mischsilo an den Vorratsbehälter des Verbrauchers. 7. Übergabe von Futtermittel aus den Vorratsbehältern der Futtermittelkomponenten an den Vorratsbehälter des Verbrauchers. 8. Übergabe von Futtermittel vom Erzeuger zum Verbraucher. Kennzeichnend für dieses Vorgehen ist: Die Problemformulierung wird schrittweise so breit als möglich entwickelt. Man bleibt also nicht bei der vorgefundenen oder naheliegenden Formulierung, sondern bemüht sich um eine systematische Erweiterung, die eine Verfremdung darstellt, um sich von der vorgegebenen Lösung zu befreien und damit andere Möglichkeiten zu öffnen. So ist z. B. die 8. Formulierung in diesem Fall die denkbar breiteste, allgemeinste und an die geringsten Voraussetzungen gebundene. Der Wesenskern ist in der Tat der mengen- und qualitätsgerechte wirtschaftliche Transport vom Erzeuger zum Konsumenten und nicht z. B. die beste Art und Weise des Verschließens der Futtermittelsäcke oder des Stapelns und Förderns der Futtermittel im Lagerhaus. Bei einer breiteren Formulierung können sich Lösungen anbieten, die das Abfüllen in Säcke und Stapeln im Magazin überflüssig machen. Wie weit man nun eine solche Problemformulierung treibt, hängt von den jeweiligen Bedingungen der Aufgabe ab. Im vorliegenden Beispiel wird sich die Formulierung 8 aus technischen, zeitlichen und witterungsbedingten Gründen überhaupt nicht durchführen lassen: der Verbrauch des Futtermittels ist gerade nicht an die Zeit der Ernte gebunden, der Konsument wird aus verschiedenen Gründen die Speicherung über ein Jahr nicht in Kauf nehmen wollen, darüber hinaus müsste er die jeweils gewünschte Mischung der einzelnen Futtermittelkomponenten selbst durchführen. Aber der Transport des Futtermittels auf Abruf, z. B. mit Silowagen unmittelbar vom Mischbehälter zum Vorratsbehälter des Verbrauchers (Formulierung 6), ist ein wirtschaftlicheres Verfahren als die Zwischenlagerung und der Transport kleinerer Mengen in Säcken. An diesem Beispiel wurde gezeigt, wie die umfassende und treffende Problemformulierung auf abstrakter Ebene durch eine systematische Erweiterung oder sinnvolle Abänderung den Weg zu einer besseren Lösung öffnet. Ein solches Vorgehen schafft die grundsätzliche Möglichkeit, die Einwirkung und Verantwortlichkeit des Entwicklers in
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einer breiteren, übergeordneten Sicht zu Geltung zu bringen, z. B. auch in Fragen des Umweltschutzes oder der Wiederwendung bzw. des Recyclings. Hilfreich ist es, die Anforderungsliste in nachstehender Weise zu analysieren.
9.1.3 Problem erkennen aus der Anforderungsliste Das Klären der Aufgabenstellung durch Erarbeiten der Anforderungsliste hat bei den Beteiligten bereits ein eingehendes Befassen mit der bestehenden Problematik und einen hohen Informationsstand hervorgerufen. Insofern diente das Aufstellen der Anforderungsliste auch zur Vorbereitung dieses Arbeitsschrittes. Der erste Hauptarbeitsschritt zur Lösung besteht darin, die Anforderungsliste auf die geforderte Funktion und auf wesentliche Bedingungen hin zu analysieren, damit der Wesenskern klarer hervortritt. Roth (2000, 2001) hat darauf hingewiesen, die in der Anforderungsliste enthaltenen funktionalen Zusammenhänge in Form von Sätzen herauszuschreiben und nach ihrer Wichtigkeit zu ordnen. Das Allgemeingültige und Wesentliche einer Aufgabe kann durch eine Analyse hinsichtlich funktionaler Zusammenhänge und wesentlicher aufgabenspezifischer Bedingungen bei gleichzeitig schrittweiser Abstraktion aus der Anforderungsliste relativ einfach gewonnen werden. Dazu ist folgendes Vorgehen zweckmäßig: 1. Schritt: Wünsche weglassen. 2. Schritt: Nur noch Forderungen berücksichtigen, die die Funktionen und wesentlichen Bedingungen unmittelbar betreffen. 3. Schritt: Quantitative Angaben in qualitative umsetzen und dabei auf wesentliche Aussagen reduzieren. 4. Schritt: Erkanntes sinnvoll erweitern. 5. Schritt: Problem lösungsneutral formulieren. Je nach Aufgabe und/oder Umfang der Anforderungsliste können entsprechende Schritte weggelassen werden. Am Beispiel einer Anforderungsliste für einen Geber eines Tankinhaltsmessgerätes bei einem Kraftfahrzeug nach Abb. 9.2 wird der Vorgang der Abstraktion entsprechend der genannten Anweisung in Tab. 9.1 gezeigt. Durch die allgemeine Formulierung wird erkennbar, dass bezüglich des funktionalen Zusammenhangs Flüssigkeitsmengen zu messen sind und dass diese Messaufgabe unter den wesentlichen Bedingungen steht, die sich ändernden Mengen in beliebig geformten Behältern fortlaufend zu erfassen. Damit ist das Ergebnis dieses Schrittes eine Definition der Zielsetzung auf abstrakter Ebene, ohne eine bestimmte Art der Lösung festzulegen. Grundsätzlich müssen bei einer Neuentwicklung alle Wege offenbleiben, bis klar erkennbar ist, welches Lösungsprinzip für den vorliegenden Fall das geeignetste ist. So muss der Konstrukteur die gegebenen Bedingungen infrage stellen und sich davon
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Abb. 9.2 Anforderungsliste (Auszug): Geber für Tankinhaltsmessgerät in einem Kraftfahrzeug
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Tab. 9.1 Vorgehen bei der Abstraktion: Geber für Tankinhaltsmessgerät in einem Kraftfahrzeug Ergebnis des 1. und 2. Schrittes: • Volumen: 20 dm3 bis 160 dm3 • Behälterform gegeben aber beliebig (formstabil) • Anschluss oben oder seitlich • Behälterhöhe: 150 mm bis 600 mm • Entfernung Behälter–Anzeigeger.t: ≠ 0 m, 3 m bis 4 m • Benzin und Diesel, Temperaturbereich: −25 °C bis +65 °C • Ausgang des Gebers: beliebiges Messsignal • Fremdenergie: (Gleichstrom 6 V, 12 V, 24 V, Toleranz −15 % bis +25 %) • Messtoleranz: Ausgangssignal bezogen auf max. Wert ±3 % (zusammen mit Anzeige ± 5 %) • Ansprechempfindlichkeit: 1 % des max. Ausgangssignals • Signal eichbar • Minimal messbarer Inhalt: 3 % des max. Wertes Ergebnis des 3. Schrittes: • Unterschiedliche Volumen • Unterschiedliche Behälterformen • Verschiedene Anschlussrichtungen • Unterschiedliche Behälterhöhen (Flüssigkeitshöhen) • Entfernung Behälter–Anzeigegerät: ≠ 0 m • Flüssigkeitsmenge zeitlich veränderlich • Beliebiges Messsignal • (Mit Fremdenergie) Ergebnis des 4. Schrittes: • Unterschiedliche Volumen • Unterschiedliche Behälterformen • Anzeige in unterschiedlicher Entfernung • Flüssigkeitsmenge (zeitlich veränderlich) messen • (Mit Fremdenergie) Ergebnis des 5. Schrittes (Problemformulierung): Unterschiedlich große, zeitlich sich ändernde Flüssigkeitsmengen in beliebig geformten Behältern fortlaufend messen und anzeigen
überzeugen, inwieweit sie berechtigt sind, und mit dem Aufgabensteller klären, ob sie als echte Einschränkungen bestehen bleiben müssen. Scheinbare Einschränkungen in seinen eigenen Ideen und Vorstellungen muss der Konstrukteur durch kritisches Fragen und Prüfen bei sich selbst überwinden lernen. Der Vorgang der Abstraktion hilft, scheinbare Einschränkungen zu erkennen und nur echte weiter gelten zu lassen sowie neue, zweckmäßige Aspekte zu berücksichtigen.
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Nachfolgende Beispiele zeigen noch einmal eine zweckmäßige Abstraktion und Problemformulierung: • Entwirf kein Garagentor, sondern suche einen Garagenabschluss, der es gestattet, einen Wagen diebstahlsicher und witterungsgeschützt abzustellen. • Konstruiere keine Passfederverbindung, sondern suche die zweckmäßigste Weise, Rad und Welle zur Drehmomentübertragung bei definierter Lage zu verbinden. • Projektiere keine Verpackungsmaschine, sondern suche die beste Art, das Produkt geschützt zu versenden, oder bei eingeschränkter Betrachtung das Produkt schützend, raumsparend und automatisch zu verpacken. • Konstruiere keine Spannvorrichtung, sondern suche nach einer Möglichkeit, das Werkstück für den Bearbeitungsgang schwingungsfrei zu fixieren. Für den nächsten Hauptarbeitsschritt ist es sehr hilfreich, die endgültige Formulierung lösungsneutral vorzunehmen. Die lösungsneutrale Problemformulierung beschreibt zugleich die Gesamtfunktion des zu entwickelnden Systems: • „Welle berührungslos abdichten“ und nicht „Labyrinthstopfbuchse konstruieren“. • „Flüssigkeitsmenge fortlaufend messen“ und nicht „Flüssigkeitshöhe mit Schwimmer abtasten“. • „Futtermittel dosieren“ und nicht „Futtermittel in Säcken wiegen“.
9.2 Aufstellen von Funktionsstrukturen Die Beschreibung der Funktionen von Produkten, d. h. der Funktionszusammenhang, wurde bereits in Kap. 2 vorgestellt. Insbesondere der Kunde hat diese Sichtweise, da ihn im Normalfall die vom Produkt erfüllten Funktionen interessieren und nicht, durch welche technische Lösung diese realisiert werden. Das Aufstellen einer Funktionsstruktur für ein Produkt und ein erstes Aufteilen der Gesamtfunktion in Teilfunktionen, zumindest bis zur ersten Ebene, erfordert eine Fokussierung auf die wesentlichen Probleme. Da die Aufteilung der Gesamtfunktion in Teilfunktionen zunächst willkürlich ist, wird der Entwickler angeregt, auch alternative Gliederungen der Gesamtfunktionen vorzunehmen und zumindest grob zu bewerten. Dieser „spielerische“ Umgang mit der Funktionsstruktur fördert das Verständnis für die Aufgabe und für das Produkt. Die Funktionsstruktur ist also nicht Selbstzweck, und es ist auch kein Ziel, sie in möglichst viele Teilfunktionen aufzuteilen. Die Funktionsstruktur ist lediglich ein Hilfsmittel, um • wesentliche Probleme des Produkts zu erkennen, • wesentliche Funktionen zu beschreiben, • mögliche Gliederungen des Produkts aufzuzeigen,
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• z. B. mit dem Vertrieb oder dem Produktmanagement mögliche Bausteineinteilungen für ein Baukastenprodukt diskutieren zu können und • die funktionale Beschreibung der Produktarchitektur abbilden zu können. Vor diesem Hintergrund muss das Aufstellen einer Funktionsstruktur betrachtet werden.
9.2.1 Gesamtfunktion Nach Abschn. 2.1 bestimmen die Anforderungen an eine Anlage, Maschine oder Baugruppe die Funktion, die den allgemeinen, gewollten Zusammenhang zwischen Eingang und Ausgang eines Systems darstellt. In Abschn. 9.1 wurde erläutert, dass die durch Abstraktion gewonnene Problemformulierung auch den funktionalen Zusammenhang, nämlich den gewollten Zweck enthält. Ist also die Gesamtaufgabe im Wesenskern formuliert, so kann die Gesamtfunktion angegeben werden, die unter Bezug auf den Energie-, Stoff- und/oder Signalumsatz unter Verwendung einer Blockdarstellung lösungsneutral den Zusammenhang zwischen Eingangs- und Ausgangsgrößen angibt. Dieser soll dabei so konkret wie möglich beschrieben werden (vgl. Abb. 9.3). Beim Beispiel eines Tankinhaltsmessgeräts werden Flüssigkeitsmengen einem Behälter zugeführt und aus ihm entnommen, wobei die im Behälter jeweils befindliche Menge zu messen und anzuzeigen ist. Daraus ergeben sich zunächst im Flüssigkeitssystem ein Stofffluss mit der Funktion: „Flüssigkeit speichern“ und im Messsystem ein Signalfluss mit der Funktion: „Flüssigkeitsmenge messen und anzeigen“. Letztere ist die Gesamtfunktion der vorliegenden Aufgabe zur Entwicklung des Tankinhaltsmessgeräts, vgl. Abb. 9.3. Die sich ergebende Gesamtfunktion wird je nach Komplexität der zu lösenden Aufgabe ebenfalls mehr oder weniger komplex sein. Unter Komplexität wird in diesem Zusammenhang der Grad der Übersichtlichkeit des Zusammenhangs zwischen Eingang und Ausgang, die Vielschichtigkeit der notwendigen physikalischen Vorgänge sowie die sich ergebende Anzahl der zu erwartenden Baugruppen und Einzelteile verstanden. Entsprechend Abschn. 2.3 kann die Gesamtfunktion in Teilfunktionen niedrigerer Komplexität aufgegliedert werden.
Abb. 9.3 Gesamtfunktion der beteiligten Systeme einer Tankinhaltsmessung
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9.2.2 Aufgliedern in Teilfunktionen Zum Erstellen einer Funktionsstruktur wird die Gesamtfunktion zunächst zweckmäßig in Teilfunktionen untergliedert. Die Teilfunktionen sind untereinander durch den entsprechenden Fluss (Stoff-, Energie-, Signalfluss) verbunden und erfüllen so in ihrem Zusammenspiel die Gesamtfunktion. Die Unterteilung und Verknüpfung basiert dabei üblicherweise auf Annahmen über logische Zusammenhänge, die zur Realisierung der notwendigen Flüsse erforderlich sind. Die Funktionsstruktur soll grundsätzlich einfach und eindeutig sein. Der Auflösungsgrad einer Gesamtfunktion, d. h. die Anzahl der Teilfunktionsebenen sowie die Zahl der Teilfunktionen je Ebene, wird durch den Neuheitsgrad der Aufgabenstellung, aber auch von der anschließenden Lösungssuche bestimmt. Bei Neuentwicklungen sind im Allgemeinen sowohl die einzelnen Teilfunktionen als auch deren Verknüpfungen unbekannt. Mit zunehmender Konkretisierung der Funktionsbeschreibung verliert die Funktionsstruktur ihren lösungsneutralen Charakter. Auch wenn die konkreten Funktionsträger und die zugrundeliegenden Wirkprinzipien noch nicht detailliert sind so wird durch die Beschreibung der Verknüpfungen und die Beschreibung der Transformationsprozesse innerhalb der einzelnen Flüsse der Lösungsraum eingegrenzt. Dieser Umstand macht es erforderlich, die Funktionsstruktur zu variieren und es empfiehlt sich die zugrundeliegenden Annahmen für die einzelnen Varianten zu dokumentieren (Gericke und Eisenbart 2017). Es gibt verschiedene Sichten der Funktionsstruktur: • die „transformatorische Sicht“. Hierbei werden der Fluss der Hauptfunktion sowie alle Teilfunktionen als Transformationsprozesse betrachtet. Es besteht also jeweils ein eineindeutiger Zusammenhang zwischen der Eingangsgröße und der Ausgangsgröße einer Funktion, d. h. der jeweilige Operand (Stoff, Energie, Signal) wird vom Eingangszustand in den Ausgangszustand transformiert. • die „hierarchische Sicht“. Hierbei wird die hierarchische Unterteilung von Funktionen über mehrere Konkretisierungsstufen abgebildet. In Abb. 9.4 ist eine Überlagerung beider Sichten dargestellt. In dieser Abbildung wird auch ein Zweck der Funktionsstruktur deutlich, nämlich die Reduktion der Komplexität der Konstruktionsaufgabe. Entsprechend ist die Tiefe der Gliederung einer Funktionsstruktur in einzelne Ebenen, in Abb. 9.4 in zwei Ebenen, abhängig vom Wissens- und Erfahrungsstand des Anwenders bezüglich der Aufgaben. Die transformatorische Sicht ist insbesondere für Produkte geeignet, bei denen ein Prozessablauf oder der Durchlauf eines Gutes durch das Produkt eine Rolle spielt. In Abb. 9.5 ist beispielhaft eine Funktionsstruktur entsprechend der hierarchischen Sicht wiedergegeben. Dieses Funktionsmodell ist gut geeignet, wenn nicht die Reihenfolge von Ereignissen eine Rolle spielt, sondern ihre Abhängigkeit untereinander.
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Abb. 9.4 Funktionsstruktur entsprechend transformatorischer Sicht
Abb. 9.5 Funktionsstruktur entsprechend hierarchischer Sicht
Die Unterteilung der Gesamtfunktion in Teilfunktionen kann durch einen „Top-down“-Ansatz, beispielsweise FAST-Methode (Function Analysis System Technique) (Value Analysis Incorporated (VAI) 1993), oder mittels eines „Bottomup“-Ansatzes, z. B. die „Subtract-and-Operate-Method“ (Otto und Wood 2001), erstellt werden. Verwenden kann man beide Ansätze sowohl für Neuentwicklungen als auch für die Überarbeitung oder Analyse vorhandener Produkte. Mithilfe der „Substract and Operate“-Methode werden dabei folgende Schritte zur Aufstellung und Analyse der Funktionsstruktur ausgeführt: 1. Eine Baugruppe oder ein Bauteil wird negiert. 2. Das Produkt wird modellhaft betrieben.
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3. Analyse der Auswirkungen der fehlenden Baugruppe oder des fehlenden Bauteils. 4. Ableiten der Teilfunktion der Komponente oder des Bauteils aus Punkt 1 unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus Punkt 3. 5. Die Arbeitsschritte 1–5 für alle Baugruppen und/oder Bauteile wiederholt. 6. Aufstellen einer hierarchischen Funktionsstruktur entsprechend Abb. 9.5.
9.2.3 Aufstellen einer Funktionsstruktur anhand eines Beispiels Das in Abschn. 9.1 und 9.2 begonnene Beispiel eines Gebers für ein Tankinhaltsmessgerät wird weiterverfolgt. Ausgangspunkt ist die Problemformulierung für die Gesamtfunktion entsprechend Abb. 9.3. Als Hauptfluss wird der Signalfluss zugrunde gelegt. Naheliegende Teilfunktionen werden in mehreren Schritten entwickelt. Zunächst muss das den Tankinhalt erfassende Signal gewonnen und abgenommen werden. Dieses Signal wäre weiterzuleiten und schließlich dem Fahrer anzuzeigen. Damit ergeben sich zunächst drei wichtige, unmittelbare Hauptfunktionen. Möglicherweise muss das Signal aber zur Weiterleitung gewandelt werden. Abb. 9.6 lässt die Entwicklung und die Variation einer Funktionsstruktur entsprechend den in diesem Abschnitt gegebenen Hinweisen erkennen. Nach der Anforderungsliste soll die Messung auch an unterschiedlich großen Behältern, also für unterschiedlich große Mengen vorgesehen werden. So ist eine Anpassung des Signals an die jeweilige Behältergröße zweckmäßig, was als Nebenfunktion eingeführt wird. Die Messung an beliebig geformten Behältern macht unter Umständen eine Korrektur des Signals als weitere Nebenfunktion nötig. Die Lösung für die Signalgewinnung der Messaufgabe wird möglicherweise Fremdenergie erfordern, sodass dieser Energiefluss als weiterer Fluss eingeführt wird. Schließlich wird durch die Variation der Systemgrenze deutlich, dass der Geber dieses Messgeräts angesichts der vorliegenden Aufgabenstellung ein elektrisches Ausgangssignal abgeben muss, wenn bereits vorhandene Anzeigegeräte verwendet werden sollen. Andernfalls müssen auch die Teilfunktion „Signal leiten“ und „Signal anzeigen“ in die Lösungssuche einbezogen werden. Auf diese Weise wurde eine Funktionsstruktur mit entsprechenden Teilfunktionen gewonnen, wobei die einzelnen Teilfunktionen eine geringere Komplexität aufweisen und deutlich wird, welche Teilfunktion zweckmäßig zuerst für die Lösungssuche betrachtet wird. Diese wichtige, lösungsbestimmende Teilfunktion, für die zunächst eine Lösung gesucht wird und von deren Wirkprinzip offensichtlich die anderen Teilfunktionen abhängen, ist die Teilfunktion „Signal abnehmen“ (vgl. Abb. 9.6). Auf diese wird sich die Lösungssuche zunächst konzentrieren. Von diesem Ergebnis wird es im Wesentlichen abhängen, inwieweit eine Vertauschung einzelner Teilfunktionen sinnvoll oder sogar ihr Wegfall möglich ist. Auch lässt sich dann besser beurteilen, ob die Lösung mit einem elektrischen Ausgangssignal und der Nutzung vorhandener Leitungs- und Anzeigemittel möglich ist oder ob eine Lösung für die Anzeige ebenfalls (erweiterte Systemgrenze) ins Auge gefasst werden muss.
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Abb. 9.6 Entwicklung einer Funktionsstruktur für den Geber eines Tankinhaltsmessgeräts
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9.2.4 Hinweise zum Erkennen und Bilden von Teilfunktionen Es ist zweckmäßig, zunächst den Hauptfluss in einer Struktur, soweit eindeutig vorhanden, aufzustellen, um dann erst bei der weiteren Lösungssuche die Nebenflüsse zu berücksichtigen. Ist eine einfache Funktionsstruktur mit ihren wichtigsten Verknüpfungen gefunden, fällt es in einem weiteren Schritt leichter, nun auch die ergänzenden Flüsse mit ihren entsprechenden Teilfunktionen zu berücksichtigen sowie eine weitere Aufgliederung komplexer Teilfunktionen zu erreichen. Dabei ist es oft hilfreich, sich für die vereinfachte Funktionsstruktur bereits eine erste, vorläufige Wirkstruktur oder eine bestimmte Lösung gedanklich vorzustellen, ohne jedoch damit eine Vorfixierung einer Lösung vorzunehmen. Der zweckmäßige Auflösungsgrad einer Gesamtfunktion, d. h. die Anzahl der Teilfunktionsebenen sowie die Zahl der Teilfunktionen je Ebene, wird durch den Neuheitsgrad der Aufgabenstellung, aber auch von der anschließenden Lösungssuche bestimmt. Bei ausgesprochenen Neukonstruktionen sind im Allgemeinen sowohl die einzelnen Teilfunktionen als auch deren Verknüpfung unbekannt. Bei diesen gehört deshalb das Suchen und Aufstellen einer optimalen Funktionsstruktur zu den wichtigsten Teilschritten der Konzeptphase. Für Anpassungskonstruktionen ist dagegen die Baustruktur mit ihren Baugruppen und Einzelelementen weitgehend bekannt. Eine Funktionsstruktur kann daher durch Analyse des weiterzuentwickelnden Produkts aufgestellt werden. Sie kann entsprechend den speziellen Anforderungen der Anforderungsliste durch Variation, Hinzufügen oder Weglassen einzelner Teilfunktionen und Veränderungen ihrer Zusammenschaltung modifiziert werden. Große Bedeutung hat das Aufstellen von Funktionsstrukturen bei der Entwicklung von Baukastensystemen. Für diese Möglichkeit einer Variantenkonstruktion muss sich der stoffliche Aufbau, d. h. die als Bausteine einsetzbaren Baugruppen und Einzelteile, sowie deren Fügestellen, bereits in der Funktionsstruktur widerspiegeln (vgl. auch Kap. 12). Ein weiterer Aspekt beim Aufstellen einer Funktionsstruktur liegt darin, dass man bekannte Teilsysteme eines Produkts oder neu zu entwickelnde Teilsysteme gut abgrenzen und auch getrennt bearbeiten kann. So werden bekannte Baugruppen entsprechend komplexen Teilfunktionen unmittelbar zugeordnet. Die Aufgliederung der Funktionsstruktur wird dann bereits auf hoher Komplexitätsebene unterbrochen, während für die weiter oder neu zu entwickelnden Baugruppen eines Produkts das Strukturieren in Teilfunktionen abnehmender Komplexität so weit getrieben wird, bis eine Lösungssuche aussichtsreich erscheint. Durch diese dem Neuheitsgrad der Aufgabe bzw. des Teilsystems angepasste Funktionsgliederung ist das Arbeiten mit Funktionsstrukturen auch zeit- und kostensparend. Außer zur Lösungssuche werden Teilfunktionen und Funktionsstrukturen auch zu Ordnungs- und Klassifizierungszwecken eingesetzt. Als Beispiel hierzu wären „Ordnende Gesichtspunkte“ von Ordnungsschemata (vgl. Abschn. 10.2) und die Gliederung von Katalogen zu nennen.
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Neben der Möglichkeit, aufgabenspezifische Funktionen zu bilden, kann es zweckmäßig sein, die Funktionsstruktur aus allgemein anwendbaren Teilfunktionen aufzubauen. Solche allgemeinen Funktionen können bei der Lösungssuche dann vorteilhaft sein, wenn mit ihrer Hilfe aufgabenspezifische Teilfunktionen gefunden werden sollen oder wenn für sie bereits erarbeitete Lösungen in Katalogen vorliegen. Auch kann die Variation von Funktionsstrukturen, z. B. mit dem Ziel einer Optimierung des Energie-, Stoff- und/oder Signalflusses, durch die Verwendung allgemeiner Funktionen einfacher sein. Nachstehende Auflistung möge als Anregung dienen: Energieumsatz • Energie wandeln – z. B. elektrische in mechanische Energie wandeln, • Energiekomponente ändern – z. B. Drehmoment vergrößern, • Energie mit Signal verknüpfen – z. B. elektrische Energie einschalten, • Energie leiten – z. B. Kraft übertragen, • Energie speichern – z. B. kinetische Energie speichern. Stoffumsatz • Stoffumsatz wandeln – z. B. Luft verflüssigen, • Stoffabmessungen ändern – z. B. Blech walzen, • Stoff mit Energie verknüpfen – z. B. Teile bewegen, • Stoff mit Signal verknüpfen – z. B. Dampf absperren, • Stoffe miteinander verknüpfen – z. B. Stoffe mischen oder trennen, • Stoff leiten – z. B. Kohle fördern, • Stoff speichern – z. B. Stoffe lagern. Signalumsatz • Signal wandeln – z. B. mechanisches in elektrisches Signal wandeln oder stetiges in unstetiges Signal umsetzen, • Signalgröße ändern – z. B. Ausschlag vergrößern, • Signal mit Energie verknüpfen – z. B. Messgröße verstärken, • Signal mit Stoff verknüpfen – z. B. Kennzeichnung vornehmen, • Signale verknüpfen – z. B. Soll-Ist-Vergleich durchführen, • Signal leiten – z. B. Daten übertragen, • Signal speichern – z. B. Daten bereithalten. In zahlreichen Fällen der Praxis wird es dagegen nicht zweckmäßig sein, eine Funktionsstruktur beginnend aus allgemeinen Teilfunktionen aufzubauen, weil sie zu allgemein formuliert sind und dadurch keine genügend konkrete Vorstellung des Zusammenhangs hinsichtlich der anschließenden Lösungssuche gegeben ist. Diese entsteht im Allgemeinen erst durch Ergänzen mit aufgabenspezifischen Begriffen.
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9.2.5 Weitere Beispiele Abb. 9.7 und 9.8 zeigen als Beispiel die Funktionsstruktur einer Prüfmaschine zur Untersuchung des Kraft-Verformungs-Zusammenhangs an Probestäben. Es liegt ein komplexer Energie-, Stoff- und Signalfluss vor. Ausgehend von der Gesamtfunktion wird die Funktionsstruktur aus Teilfunktionen schrittweise aufgebaut, wobei zunächst nur wesentliche Hauptfunktionen betrachtet werden. So sind in einer ersten Funktionsebene nach Abb. 9.7 nur diejenigen Teilfunktionen erkannt worden, die unmittelbar der Erfüllung der geforderten Gesamtfunktion dienen. Diese sind als komplexere Teilfunktionen, wie in vorliegendem Beispiel „Energie in Kraft und Weg wandeln“ und „Prüfling belasten“ formuliert, um zunächst zu einer übersichtlicheren Funktionsstruktur zu kommen. Bei vorliegender Aufgabe sind Energiefluss und Signalfluss etwa gleichberechtigt für die Lösungssuche anzusehen, während der Stofffluss, d. h. das Auswechseln des Prüflings, nur wesentlich für die Haltefunktion ist, die anschließend in Abb. 9.8 ergänzt wurde. Bei der dann entstandenen Funktionsstruktur in Abb. 9.8 wurden schließlich hinsichtlich des Energieflusses noch eine Einstellfunktion für die Lastgrößen und am Ausgang des Systems die Verlustenergie bei der Energiewandlung eingetragen, weil sie durchaus konstruktiv Konsequenzen haben kann. Die Verformungsenergie des Prüflings geht mit dem Stofffluss beim Auswechseln verloren. Weiterhin wurden die Nebenfunktionen „Messgrößen verstärken“ und „Soll-Ist vergleichen“ zum Einstellen der Energiegröße für die Prüfkraft notwendig.
Abb. 9.7 Gesamtfunktion (a) und Teilfunktionen (b) einer Prüfmaschine
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Abb. 9.8 Vervollständigte Funktionsstruktur für die Gesamtfunktion einer Prüfmaschine
Es gibt Aufgabenstellungen, bei denen die Betrachtung eines Hauptflusses allein zur Lösungssuche nicht ausreichend ist, weil auch die anderen, begleitenden Flüsse stark lösungsbestimmend sind. Als Beispiel hierfür diene die Funktionsstruktur einer Kartoffel-Vollerntemaschine: Abb. 9.9 zeigt die Gesamtfunktion und die Funktionsstruktur bei Berücksichtigung des Stoffumsatzes als Hauptfluss und der begleitenden Energie- und Signalflüsse. Ein letztes Beispiel zeigt die Ableitung von Funktionsstrukturen durch die Analyse bekannter Systeme. Diese Vorgehensweise ist insbesondere für Weiterentwicklungen angebracht, bei denen ja mindestens eine Lösung bekannt ist, und es darum geht,
Abb. 9.9 Funktionsstruktur für eine Kartoffel-Vollernte-Maschine
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Abb. 9.10 Analyse eines Durchgangshahns hinsichtlich seiner Funktionsstruktur
verbesserte Lösungen zu finden. Abb. 9.10 zeigt die Analyseschritte für einen Durchgangshahn beginnend bei der Auflistung der enthaltenen Elemente, der einzelnen Aufgaben je Element und der vom System erkannten und zu erfüllenden Teilfunktionen. Aus letzteren lässt sich dann die vorhandene Funktionsstruktur zusammenstellen. Diese kann dann zwecks einer Produktverbesserung variiert oder ergänzt werden.
9.3 Praxis der Funktionsstruktur Beim Aufstellen von Funktionsstrukturen muss zwischen Neukonstruktionen und Anpassungskonstruktionen unterschieden werden. Bei Neukonstruktionen ist der Ausgangspunkt für Funktionsstrukturen die Anforderungsliste und die abstrakte Problemformulierung. Aus den Forderungen und Wünschen sind funktionale Zusammenhänge erkennbar, zumindest ergeben sich aus diesen oft die Teilfunktionen am Eingang und
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Ausgang einer Funktionsstruktur. Es ist hilfreich, die in der Anforderungsliste enthaltenen funktionalen Zusammenhänge in Form von Sätzen herauszuschreiben und diese in der Reihenfolge ihrer voraussichtlichen Wichtigkeit oder logischen Zuordnung zu ordnen (Roth 2000, 2001). Bei Weiterentwicklungen in Form von Anpassungskonstruktionen ergibt sich als erster Ansatz die Funktionsstruktur aus der bekannten Lösung durch Analyse der Bauelemente. Sie dient als Grundlage für Varianten der Funktionsstruktur, die zu anderen Lösungsmöglichkeiten führen können. Sie kann ferner zu Optimierungszwecken oder für Baukastenentwicklungen herangezogen werden. Das Erkennen funktionaler Beziehungen kann durch Fragenstellen erleichtert werden. Bei Baukastensystemen bestimmt die Funktionsstruktur entscheidend die Bausteine und die Baugruppengliederung (vgl. Kap. 12). Hier beeinflussen neben funktionalen Gesichtspunkten verstärkt auch fertigungstechnische Forderungen die Funktionsstruktur und die von ihr abgeleitete Baustruktur. Die Aufstellung einer Funktionsstruktur soll die Lösungsfindung erleichtern. Sie ist also kein Selbstzweck, sondern wird nur soweit entwickelt, wie sie auch dieser Zielsetzung nutzt. Es hängt deshalb sehr vom Neuheitsgrad der Aufgabenstellung und dem Erfahrungsschatz des Bearbeiters ab, wie vollständig und wie stark untergliedert sie aufgebaut wird. Ferner muss festgestellt werden, dass die Aufstellung einer Funktionsstruktur selten ganz frei von der Vorstellung bestimmter Wirkprinzipien bzw. Gestaltungsvorstellungen ist. Aus dieser Tatsache kann man ableiten, dass es sehr nützlich sein kann, zunächst für die Aufgabenstellung eine erste Lösung spontan zu konzipieren und dann in einer Schleifenbildung durch abstraktere Betrachtung die Funktionsstruktur und ihre Varianten zu komplettieren oder zu optimieren. Zum Aufstellen von Funktionsstrukturen werden folgende Empfehlungen gegeben: • Es ist zweckmäßig, aus den in der Anforderungsliste erkennbaren, funktionalen Zusammenhängen zunächst eine grobe Struktur mit nur wenigen Teilfunktionen zu bilden, um diese dann schrittweise durch Zerlegen komplexer Teilfunktionen weiter aufzugliedern. Dieses ist einfacher, als sofort mit komplizierten Strukturen zu beginnen. Unter Umständen ist es hilfreich, für die grobe Struktur zunächst eine erste, vorläufige Wirkstruktur oder eine Lösungsidee zu entwickeln, um dann durch deren Analyse weitere wichtige Teilfunktionen zu erkennen. Ein möglicher Weg besteht auch darin, zunächst mit einer bekannten Teilfunktion am Eingang oder Ausgang zu beginnen, deren Größen die gedachte Systemgrenze überschreiten. Von den Nachbarfunktionen kennt man dazu dann schon zumindest die Eingangs- oder Ausgangsgrößen. • Können eindeutige Verknüpfungen zwischen Teilfunktionen noch nicht erkannt und angegeben werden, ist zur Suche nach einem ersten Lösungsprinzip auch die bloße Auflistung erkannter Teilfunktionen in der Reihenfolge scheinbarer Bedeutung für die Lösungssuche ohne logische oder physikalische Verknüpfung sehr hilfreich.
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• Logische Zusammenhänge können zu Funktionsstrukturen führen, anhand derer unmittelbar Logikelemente verschiedener Wirkprinzipien (mechanisch, elektrisch u. a.) wie in einem Schaltplan vorgesehen werden. • Funktionsstrukturen sind grundsätzlich nur bei Angabe des vorliegenden bzw. zu erwartenden Energie-, Stoff- und Signalflusses vollständig. Trotzdem ist es zweckmäßig, zunächst nur den Hauptfluss zu verfolgen, da er in der Regel lösungsbestimmend und aus dem beabsichtigten Zusammenhang leichter ableitbar ist. Die begleitenden Flüsse sind dann für die konstruktive Durcharbeitung, für Störgrößenbetrachtungen, für Antriebs- und Regelungsfragen usw. maßgebend. Die vollständige Funktionsstruktur unter Berücksichtigung aller Flüsse und deren Verknüpfungen erhält man dann durch iteratives Vorgehen, indem man nach Vorliegen erster Lösungsansätze für den Hauptfluss zunächst eine Struktur sucht, diese anschließend hinsichtlich der begleitenden Flüsse ergänzt und dann die Gesamtstruktur aufstellt. • Beim Aufstellen von Funktionsstrukturen ist es hilfreich zu wissen, dass beim Energie-, Stoff- und Signalumsatz einige Teilfunktionen in den meisten Strukturen häufig wiederkehren. Es handelt sich im Wesentlichen um die allgemein anwendbaren Funktionen nach Tab. 2.1, die zur Formulierung von aufgabenspezifischen Funktionen anregen können. • Im Hinblick auf den Einsatz von Mikroelektronik ist es zweckmäßig, Signalflüsse zu betrachten. Dadurch entsteht eine Funktionsstruktur, die in sehr zweckmäßiger Weise den modularen Einsatz von Elementen der Erfassung (Sensoren), der Betätigung (Aktoren), der Bedienung (Stellteile), der Anzeige (Signale, Displays) und vor allem der Verarbeitung durch Mikroprozessoren oder andere Rechner initiiert. • Aus einer Grobstruktur oder einer durch Analyse bekannter Systeme ermittelten Funktionsstruktur können weitere Varianten im Interesse einer Lösungsvariation und damit Lösungsoptimierung gewonnen werden durch: – Zerlegen oder Zusammenlegen einzelner Teilfunktionen, – Ändern der Reihenfolge einzelner Teilfunktionen, – Ändern der Schaltungsart (Reihenschaltung, Parallelschaltung, Brückenschaltung) sowie durch – Verlegen der Systemgrenze. • Da durch Strukturvariation bereits unterschiedliche Lösungen initiiert werden können, ist die Aufstellung von Funktionsstrukturen bereits ein Schritt der Lösungssuche. • Funktionsstrukturen sollen so einfach wie möglich aufgebaut sein, weil sie dann in der Regel auch zu einfachen und kostengünstigen Systemen führen. Hierzu ist auch das Zusammenlegen von Funktionen anzustreben, die dann Grundlage für integrierte Funktionsträger sind. Es gibt aber auch Aufgabenstellungen, bei denen man bewusst Funktionen verschiedenen Funktionsträgern zuordnen muss, wenn z. B. erhöhte Forderungen an die Eindeutigkeit einer Lösung sowie extreme Belastungs- und Qualitätsforderungen vorliegen. In diesem Zusammenhang sei auf das „Prinzip der Aufgabenteilung“ (vgl. Abschn. 15.2) hingewiesen.
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• Es sollen zur Lösungssuche nur aussichtsreiche Funktionsstrukturen verwendet werden, wozu in dieser Phase bereits Auswahlverfahren einsetzbar sind (vgl. Kap. 11). • Eine Analyse der Funktionsstruktur lässt erkennen, für welche Teilfunktionen neue Wirkprinzipien gesucht werden müssen und für welche bereits bekannte Lösungen genutzt werden können. Auf diese Weise wird ein arbeitssparendes Vorgehen gefördert. Die Lösungssuche beginnt für die Teilfunktion(en), die offensichtlich lösungsbestimmend und von denen dann Lösungen anderer Teilfunktionen abhängig sind.
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Entwickeln von Wirkstrukturen
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Kilian Gericke, Beate Bender, Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote
Die Entwicklung der prinzipiellen Lösung ist eine anspruchsvolle Tätigkeit im Produktentwicklungsprozess und stellt einen sehr bedeutenden Arbeitsabschnitt dar. Ausgehend vom Funktionsverständnis werden für einzelne Teilfunktionen alternative Teillösungen in Form von Wirkprinzipien entwickelt. Die Integration einzelner Wirkprinzipien zu einer Gesamtlösung wird als Wirkstruktur bezeichnet. Die Konkretisierung der Wirkstruktur resultiert in der prinzipiellen Lösung, bzw. dem Wirkkonzept. Die im Zuge dieser Arbeitsschritte getroffenen grundlegenden Festlegungen und Entscheidungen sind folgenreich für das Produkt. Deshalb muss ein Konzept sorgfältig entwickelt werden und die zuvor formulierten Anforderungen berücksichtigen. In Abb. 10.1 ist ein Wirkkonzept für eine mechanische, einseitig wirkende Sperrvorrichtung dargestellt. Der verwendete physikalische Effekt ist „Reibung“ unter Nutzung des Prinzips der Selbstverstärkung. Das Prinzip wurde Roth (2001) entnommen. In Abb. 10.1 stellt die Komponente „b“ das Sperrelement dar, das zusammen mit der Komponente „a“ die einseitig wirkende Sperrfunktion erfüllt. Gelagert ist „a“ in den Lagern „c“. Das Beispiel verdeutlicht den Unterschied zwischen der Skizze des physikalischen Prinzips, wie es in Abb. 10.1 oben links zu sehen ist, und dem Wirkkonzept. Im Wirkkonzept werden alle notwendigen Komponenten in ihrer
K. Gericke (*) Universität Rostock, Rostock, Deutschland B. Bender Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland J. Feldhusen RWTH Aachen, Aachen, Deutschland K.-H. Grote Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_10
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Abb. 10.1 Beispiel für ein Wirkkonzept einer Sperrvorrichtung
technischen Ausprägung wiedergegeben, hier speziell die als Prinzip dargestellte elastische Feder zur Erzeugung der Initialkraft. Das Symbol legt dabei nicht fest, dass diese Feder im konkretisierten Entwurf als Schraubenfeder ausgeführt werden muss. Mithilfe des Wirkkonzepts soll überprüft werden, ob das Produkt seine Funktionen prinzipiell erfüllen kann. Der erforderliche Detaillierungsgrad eines Wirkkonzepts ist deshalb nicht festgelegt. Vielmehr hängt er von der Möglichkeit ab, die oben gestellte Frage beantworten zu können. Aus diesem Grund ist der Übergang vom Wirkkonzept zum Gestaltkonzept in der Praxis häufig fließend. Typischerweise müssen einzelne Wirkflächen schon sehr detailliert gestaltet und z. B. auch bestimmte Beschichtungen für die sichere Funktionserfüllung festgelegt werden, bevor der Rest des Produkts detailliert wird. u Verwendete Begriffe Wirkungsweise Zusammenwirken von technischen Systemen, um Funktionen nach bestimmten Wirkprinzipien zu erfüllen. Wirkbewegung Bewegung, mit der eine Wirkung erzwungen oder ermöglicht wird. Wirkfläche Fläche an der oder über die eine Wirkung erzwungen oder ermöglicht wird. Wirkgeometrie Anordnung von Wirkflächen (bzw. -linien, -räumen), über die eine Wirkung erzwungen oder ermöglicht wird.
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Wirkkörper Körper, durch den oder an dem eine Wirkung erzwungen oder ermöglicht wird. Wirkort Ort, an dem durch Wirkflächen und Wirkbewegungen Wirkungen erzwungen oder ermöglicht werden. Wirkprinzip Lösungsprinzip zur Erfüllung einer Funktion auf erster konkreter Stufe bestehend aus zugrundeliegendem physikalischen, biologischen oder chemischen Effekt sowie geometrischen und stofflichen Merkmalen (Wirkgeometrie, Wirkbewegung und Werkstoff). Wirkstruktur Kombination von Wirkprinzipien mehrerer Teilfunktionen zum Erfüllen der Gesamtfunktion. Wirkkonzept Siehe prinzipielle Lösung. Prinzipielle Lösung Kombination von Wirkprinzipien zum Erfüllen der Gesamtfunktion (Wirkstruktur) mit erster Konkretisierungsvorstellung. Gestaltkonzept Festlegung der Hauptabmessungen und Gestalt sowie Zuordnung der Elemente eines Produkts untereinander unter Berücksichtigung des Hauptflusses und evtl. der Nebenflüsse. Lösungsprinzip Grundsatz, von dem die Lösung abgeleitet wird und welches das Wirkprinzip umfasst. Lösungskonzept Festgelegte prinzipielle Lösung nach Durchlaufen der Konzeptphase.
10.1 Suche nach Wirkprinzipien Die Suche nach Wirkprinzipien für Teilfunktionen umfasst die Festlegung des zu verwendenden physikalischen Prinzips, der einzusetzenden Werkstoffe, zumindest in Form einer Werkstoffgruppe, und die qualitative Geometrie der Wirkflächen. Dabei können zur Erfüllung einer Funktion mehrere physikalische Effekte zum Einsatz kommen. Der erste Entwicklungsschritt besteht in der Festlegung des physikalischen Effekts. Er bestimmt die verwendbaren Werkstoffe und die Geometrie. Die Suche nach möglichen und möglichst zweckmäßigen Wirkprinzipien kann durch verschiedene Hilfsmittel und Methoden unterstützt werden. Zweckmäßig bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Rahmenbedingungen zur Realisierung der Lösung beachtet werden. Kritisch ist z. B. die Nutzung von Lösungsprinzipien, über die im Unternehmen keine Erfahrungen zur Realisierung vorhanden sind. Die daraus resultierenden Risiken müssen gegenüber dem Nutzen einer innovativen Lösung abgewogen werden.
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Eine im Sinne der Zielerreichung optimale Lösung ist durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet: • Sie erfüllt alle Forderungen der Anforderungsliste sowie möglichst viele Wünsche, • Sie kann unter den gegebenen Randbedingungen des Unternehmens realisiert werden, hierunter fallen z. B. vorgegebene Kosten, Liefertermine, Fertigungsmöglichkeiten usw. Um eine solche Lösung zu erreichen, ist ein mehrstufiges Vorgehen erforderlich. Ziel der Lösungssuche ist es, diverse alternative Lösungsvarianten für die gestellte Aufgabe zu erzeugen, um diese dann im Hinblick auf ihr jeweiliges Eigenschaftsprofil zu vergleichen. Basis hierfür ist die Funktionsstruktur, mit deren Hilfe die Gesamtfunktion in Teilfunktionen aufgeteilt wird. Häufig erfordert die Realisierung einer Teilfunktion die Kombination mehrerer physikalischer Effekte. Ausgewählte Methoden zur Unterstützung der Lösungssuche werden im folgenden Abschnitt vorgestellt. Es ist sinnvoll, mehrere verschiedene Methoden zur Lösungsfindung zu nutzen, um so zusätzliche Alternativen zu finden und den Lösungsraum möglichst breit abzudecken.
10.2 Lösungsfindungsmethoden Die Suche nach Wirkprinzipien kann durch verschiedene Methoden unterstützt werden. Viele dieser Methoden können auch in anderen Phasen des Entwicklungsprozesses, z. B. während der Produktplanung zur Entwicklung von Lösungen (Produktideen) oder auch während der Entwurfsphase zur Lösung von Detailproblemen verwendet werden. Die nachfolgend vorgestellten Methoden sind sowohl für die Entwicklung und Konstruktion neuer Produkte geeignet. Sie sind aber auch hilfreich, wenn es darum geht, vorhandene Produkte, evtl. nur in Teilbereichen, zu optimieren oder auch Patente eines Wettbewerbers zu umgehen. Sie entstammen u. a. aus dem Gebiet der Kreativitätstechnik, beruhen auf Analogiebetrachtungen oder basieren auf allgemeinen anwendbaren Methoden zur Problemlösung (vgl. Abschn. 3.3). Methoden müssen der Problemsituation entsprechend ausgewählt, angepasst und angewendet werden. Auswahlkriterien können bestimmt werden durch die zu lösende Aufgabe, die Entwicklungssituation, die Vertrautheit mit dem Stand der Technik, die Patentlage, den notwendigem Neuheitsgrad einer Lösung oder die Schwierigkeit der Erfüllung von Produktanforderungen. Einige dieser Methoden eignen sich sowohl für Teamarbeit als auch für Einzelarbeit. Andere Methoden hingegen können nur im Team oder nur für Einzelarbeit verwendet werden. Die folgend erläuterten Methoden lassen sich grob in die Kategorien konventionell, intuitiv betont, assoziativ betont und diskursiv betont unterteilen (siehe auch intuitives und diskursives Denken in Abschn. 3.1.1). Die meisten Methoden weisen jedoch Merkmale mehrerer dieser Kategorien auf.
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10.2.1 Konventionelle Methoden und Hilfsmittel 10.2.1.1 Kollektionsverfahren Wichtige Grundlage für Produktentwickler und Konstrukteure sind Informationen über den Stand der Technik. In einem ersten Schritt, vgl. auch Abschn. 3.2, werden typischerweise Erfahrungen aus der eigenen Arbeit genutzt. Insbesondere bei neuartigen Problemen reicht diese Betrachtungsweise aber nicht aus. Deshalb ist es sinnvoll und zielführend zu klären, bei welchen technischen oder auch nicht technischen Fragestellungen ähnliche Lösungen zu erwarten sind, welche für die aktuelle Fragestellung genutzt werden können. Sofern Wettbewerbsprodukte vorhanden und zugänglich sind, ist es naheliegend, zunächst diese zu analysieren. Unter Beachtung der Rechtslage, insbesondere möglicher Patente, werden hierbei schon eine Reihe nutzbarer Lösungen entdeckt. Darüber hinaus kann eine Recherche in den üblichen Quellen erfolgen. Hierzu gehören z. B.: • Literaturrecherche, • Patentrecherche, • Auswertung von Verbandsberichten, • Auswertung von Messen und Ausstellungen, • Auswertung von Katalogen und Präsentationen der Konkurrenz, usw.
10.2.1.2 Messungen, Modellversuche Messungen an ausgeführten Systemen, Modellversuche unter Ausnutzung der Ähnlichkeitsmechanik und sonstige experimentelle Untersuchungen gehören zu den wichtigsten Informationsquellen des Konstrukteurs. Besonders Rodenacker (1991) betrachtet das Experiment als wichtiges Hilfsmittel und zwar aus der Erkenntnis heraus, dass die Konstruktion als Umkehrung des physikalischen Experiments aufgefasst werden kann. Bei feinwerktechnischen, mikromechanischen und elektronischen Produkten und Geräten der Massenfertigung sind experimentelle Untersuchungen wichtig und auch üblich, um Lösungen zu finden. Die Bedeutung experimenteller Zwischenschritte drückt sich auch in organisatorischer Hinsicht aus, da für solche Produktentwicklungen oft das Labor und die Mustererstellung in den Konstruktionsprozess einbezogen sind. In ähnlicher Weise gehört auch das Testen und daraus folgende Ändern von Software-Lösungen zu dieser empirisch orientierten Methodengruppe, und es stellt ein notwendiges Vorgehen bei der Lösungsentwicklung dar.
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10.2.2 Intuitiv betonte Methoden Der Mensch ist ein kreatives Wesen. Diese Fähigkeit nicht zu nutzen, hieße mögliche Lösungen nicht zu entdecken. Insbesondere die Schnelligkeit, mit der Lösungen durch spontane Ideen gefunden werden, lässt die Anwendungen dieses Vorgehens als sinnvoll erscheinen. Der spontane Einfall ist fast immer im Unter- bzw. Vorbewusstsein aufgrund der Fachkenntnis, der Erfahrung und angesichts der bekannten Aufgabenstellung schon weitgehend auf Eignung untersucht und aus verschiedenen Möglichkeiten ausgesondert worden, sodass oft dann nur ein Anstoß genügt, um ihn ins Bewusstsein treten zu lassen. Dieser Anstoß kann auch eine scheinbar nicht im Zusammenhang stehende äußere Erscheinung oder eine dem Thema fernliegende Diskussion sein. Häufig trifft der Konstrukteur mit seinem Einfall ins Schwarze, und auf dieser Basis sind dann nur noch Abwandlungen und Anpassungen nötig, die zur endgültigen Lösung führen. Sehr viele gute Lösungen sind so entstanden und erfolgreich weiterentwickelt worden. Dennoch ist es riskant sich allein auf die spontane Ideenfindung zu verlassen. Dies würde bedeuten, die Lösungsfindung dem Zufall zu überlassen. Eine solche Arbeitsweise hat folgende Nachteile: • Der richtige Einfall kommt nicht zur rechten Zeit, denn er kann nicht erzwungen werden, • wegen bestehender Konventionen und eigener fixierter Vorstellungen werden neue Wege nicht erkannt und • aufgrund mangelnder Informationen dringen neue Technologien oder Verfahren nicht in das Bewusstsein der Konstrukteure. Diese Gefahren werden umso größer, je mehr die Spezialisierung fortschreitet, die Tätigkeit der Mitarbeiter einer stärkeren Aufgabenteilung unterliegt und der Zeitdruck zunimmt. Diverse Methoden haben zum Ziel, die Intuition und Kreativität zu fördern und durch Gedankenassoziationen neue Lösungswege anzuregen, um die genannten Nachteile einer rein spontanen Lösungssuche zu vermeiden. Richtig eingesetzt kann die intuitive, kreativ betonte Lösungssuche eine wertvolle Quelle für gute Lösungen sein. Die einfachste und vielfach geübte Methode sind Gespräche und kritische Diskussionen mit Kollegen, aus denen Anregungen, Verbesserungen und neue Lösungen entstehen. Führt man eine solche Diskussion sehr straff und beachtet man dabei die allgemein anwendbaren Methoden des gezielten Fragens, der Negation und Neukonzeption, des Vorwärtsschreitens usw. (vgl. Abschn. 3.3), so kann sie sehr wirksam und fördernd sein. Intuitiv betonte Methoden wie Brainstorming, Galeriemethode und Methode 635 nutzen gruppendynamische Effekte, wie Anregungen durch unbefangene Äußerungen
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anderer Gruppenmitglieder. Solche Gruppen setzten sich üblicherweise aus Mitarbeitern des eigenen Unternehmens zusammen. Je nach Aufgabe kann es aber auch sinnvoll sein, Vertreter von Kooperationspartnern, Kunden oder Nutzer vergleichbarer Produkte oder des in der Entwicklung befindlichen Produktes einzubinden. Insbesondere bei unternehmensfremden Personen ist auf die Belange des gewerblichen Rechtsschutzes (Erfinderrecht) zu achten (siehe Kap. 24).
10.2.2.1 Brainstorming Brainstorming lässt sich am besten mit Gedankenblitz, Gedankensturm oder Ideenfluss bezeichnen, wobei gemeint ist, dass Denken sich zu einem Sturm, zu einer Flut von neuen Gedanken und Ideen freimachen soll. Die Vorschläge für dieses Vorgehen stammen von Osborn (1957). Sie beabsichtigen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass eine Gruppe von aufgeschlossenen Menschen, die aus möglichst vielen unterschiedlichen Erfahrungsbereichen stammen sollten, vorurteilslos Ideen produziert und sich von den geäußerten Gedanken wiederum zu weiteren neuen Vorschlägen anregen lässt (Withing 1958). Dieses Vorgehen macht vom unbefangenen Einfall Gebrauch und spekuliert weitgehend auf Assoziation, d. h. auf Erinnerung und auf Verknüpfung von Gedanken, die bisher noch nicht im vorliegenden besonderen Zusammenhang gesehen wurden oder einfach noch nicht bewusst geworden sind. Ein zweckmäßiges Vorgehen ist: Vorbereitung • Die Vorbereitung der Brainstorming-Sitzung insbesondere die Auswahl der richtigen Teilnehmer, Auswahl und Formulierung der Problemstellung sind von großer Bedeutung für den Nutzen. • Die Teilnehmer sollten mit ausreichend Vorlauf vor der eigentlichen BrainstormingSitzung die Problemstellung erhalten (ein oder zwei Tage). Dies ermöglicht eine individuelle Ideenfindung vor der Sitzung. Während dieser Inkubationszeit reifen Ideen auch wenn die Teilnehmer nicht bewusst über das Problem nachdenken. Die so gewonnenen Ideen liefern erste Impulse für die Gruppensitzung. • Die Aufgabe sollte eine offene positive Formulierung verwenden, d. h. nicht das Problem adressieren („Wie kann das ungewollte Auslösen des Mechanismus verhindert werden?“), sondern auf eine Lösung fokussieren („Wie kann eine sichere Arretierung des Mechanismus erzielt werden?“). Auf diese Weise wird weniger auf das Problem mit der bekannten Lösung fokussiert und mehr nach alternativen Lösungen gesucht (Gericke et al. 2009). Zusammensetzung der Gruppe • Die an der Sitzung teilnehmende Gruppe sollte mindestens fünf, jedoch höchstens zehn Personen umfassen. Weniger als fünf Personen haben ein zu geringes Anschauungs- und Erfahrungsspektrum und geben damit zu wenig Anregungen. Bei mehr als zehn Personen ist es schwierig alle Teilnehmer aktiv in das Gespräch einzubinden. Dies kann zu Passivität und Absonderung von Teilnehmern führen.
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• Die Gruppe muss nicht allein aus Fachleuten zusammengesetzt sein. Wichtig ist, dass möglichst viele unterschiedliche Fach- und Tätigkeitsbereiche vertreten sind, wobei durch Hinzuziehen von Nichttechnikern eine ausgezeichnete Bereicherung erzielt werden kann. • Die Gruppe sollte nicht hierarchisch, sondern möglichst aus Gleichgestellten zusammengesetzt sein, damit Hemmungen in der Gedankenäußerung, die möglicherweise durch Rücksicht auf Vorgesetzte oder auf unterstellte Mitarbeiter entstehen können, entfallen. Leitung der Gruppe • Der Leiter der Gruppe (Moderator) sollte nur im organisatorischen Teil (Einladung, Zusammensetzung, Dauer und Auswertung) initiativ wirken. Vor Beginn des eigentlichen Brainstormings erläutert er die Aufgabe und klärt Fragen. • Während der Sitzung sorgt er für das Einhalten der Regeln, vor allen Dingen für eine aufgelockerte Atmosphäre. Dies kann erzielt werden, indem der Moderator am Anfang einige absurd erscheinende Ideen vorbringt. Auch ein Beispiel aus anderen Brainstorming-Sitzungen kann geeignet sein. • Der Moderator darf keine Lenkungsrolle während der Ideenfindung übernehmen. Dagegen kann er Anstoß zu neuen Ideen geben, wenn die Produktivität der Gruppe nachlässt. • Der Moderator stellt die Brainstorming-Regeln vor. Niemand darf am Vorgebrachten Kritik üben. Killerphrasen wie „Ist alles schon dagewesen!“, „Haben wir noch nie gemacht!“, „Geht niemals!“, „Gehört doch nicht hierher!“ sowie wertende Gestik und Mimik sind verboten. Der Moderator achtet auf die Einhaltung dieser Regeln. Die Auswertung von Ideen erfolgt gesondert. Kritik während der Sitzung führt leicht dazu, dass die kritisierten Personen nicht mehr aktiv mitarbeiten und in ihrer Kreativität gestört werden. • Der Moderator bestimmt ein oder zwei Protokollführer. Es ist wichtig die während der Sitzung vorgetragenen Ideen zu dokumentieren. In der Flut der Ideen gehen sonst leicht gute Ideen unter. Eine sorgfältige Dokumentation bewahrt wertvolle Ideen, deren Potenzial während der Sitzung nicht erkannt wurde. Durchführung • Alle Beteiligten müssen in der Gedankenäußerung ihre Hemmungen überwinden, d. h., nichts sollte bei einem selbst oder in der Gruppe als absurd, als falsch, als blamabel, als dumm oder als schon bekannt angesehen werden. Eine einfache Aufgabe, die mit dem eigentlichen Problem nicht im Zusammenhang steht kann förderlich sein, um die Teilnehmer in die richtige Stimmung zu bringen. • Die vorgebrachten Ideen dürfen und sollen von anderen Teilnehmern aufgegriffen, abgewandelt und weiterentwickelt werden. Ferner können und sollen mehrere Ideen kombiniert und als neuer Vorschlag vorgebracht werden.
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• Alle Ideen oder Gedanken werden aufgeschrieben, skizziert oder als Tonaufnahme aufgezeichnet. • Die Vorschläge sollten soweit konkretisiert sein, dass eine Lösungsidee bezogen auf das vorliegende Problem erkennbar wird. • Zunächst wird die Realisationsmöglichkeit der Vorschläge nicht beachtet. • Die Sitzung soll im Allgemeinen nicht viel länger als eine halbe bis dreiviertel Stunde dauern. Längere Zeiten bringen erfahrungsgemäß nichts Neues und führen zu unnötigen Wiederholungen. Es ist besser, später mit einem neuen Informationsstand oder anderer personeller Zusammensetzung einen neuen Anlauf zu versuchen. Auswertung • Die Ergebnisse werden von den zuständigen Fachleuten gesichtet, auf lösungsträchtige Merkmale hin analysiert, wenn möglich in eine systematische Ordnung gebracht und auf Brauchbarkeit hinsichtlich einer möglichen Realisierung untersucht. Auch sollen aus den Vorschlägen neue mögliche Ideen entwickelt werden. • Das gewonnene Ergebnis sollte zeitnah mit der Gruppe nochmals diskutiert werden, damit etwaige Missverständnisse oder einseitige Auslegungen vermieden werden. Auch könnten bei dieser Gelegenheit nochmals neue, weiterführende Gedanken entwickelt werden. Vorteilhafterweise macht man vom Brainstorming Gebrauch (Pahl und Beelich 1981), wenn • • • •
noch kein realisierbares Lösungsprinzip vorliegt, das physikalische Geschehen einer möglichen Lösung noch nicht erkennbar ist, das Gefühl vorherrscht, mit bekannten Vorschlägen nicht weiterzukommen oder eine völlige Trennung vom Konventionellen angestrebt wird.
Dieses Vorgehen ist auch dann zweckmäßig, wenn es sich um die Bewältigung von Teilproblemen innerhalb bekannter oder bestehender Systeme handelt. Das Brainstorming hat außerdem einen nützlichen Nebeneffekt. Alle Beteiligten erhalten indirekt neue Informationen, wenigstens aber Anregungen über mögliche Verfahren, Anwendungen, Werkstoffe, Kombinationen usw., weil der vielseitig zusammengesetzte Kreis über eine sehr breite Wissensbasis verfügt (z. B. Konstrukteur, Montageingenieur, Fertigungsingenieur, Werkstofffachmann, Einkäufer usw.). Man ist überrascht, wie groß die Vielfalt und Breite von Ideen ist, die ein solcher Kreis produzieren kann. Der Konstrukteur wird sich aber auch bei anderer Gelegenheit an die in einer Sitzung geäußerten Ideen erinnern. Sie gibt neue Impulse, weckt Interesse an Entwicklungen und stellt eine Abwechslung in der Routine dar. Generell sollte man von einer Brainstorming-Sitzung keine fertigen Lösungen erwarten. Viele der so gewonnenen Vorschläge sind technisch oder wirtschaftlich nicht realisierbar oder den Fachleuten bekannt. Dies ist jedoch unproblematisch, da das Brain-
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storming in erster Linie Anstoß zu neuen Ideen geben soll. Das Ziel einer Brainstorming Sitzung ist bereits erreicht, wenn aus der Vielzahl der Äußerungen einige wenige brauchbare neue Gedanken entspringen, die es wert sind, weiterverfolgt zu werden. Dies ist oft der Fall. Im Kontext methodischer Lösungssuche empfiehlt sich im Nachgang zum Brainstorming immer die Weiterverwendung der Ergebnisse in einer diskursiv betonten Methode, z. B. die Erstellung eines Morphologischen Kastens oder eines Ordnungsschemas. Damit lassen sich die gefundenen Ideen systematisieren und strukturieren, was eine methodische Erkundung des Lösungsraums ermöglicht.
10.2.2.2 Methode 635 Von Rohrbach (1969) wurde das Brainstorming zur Methode 635 weiterentwickelt: Nach Bekanntgabe der Aufgabe und ihrer sorgfältigen Analyse werden die Teilnehmer aufgefordert, jeweils drei Lösungsansätze zu Papier zu bringen und stichwortartig zu erläutern. Nach einiger Zeit gibt man diese Unterlagen an seinen Nachbarn weiter, der wiederum nach Durchlesen der vom Vorgänger gemachten Vorschläge drei weitere Lösungen, ggf. in einer Weiterentwicklung, hinzufügt. Bei sechs Teilnehmern wird dies solange fortgesetzt, bis alle drei Lösungsansätze von den jeweils fünf anderen Teilnehmern ergänzt oder assoziativ weiterentwickelt wurden. Daher auch die Bezeichnung Methode 635. Gegenüber dem zuvor beschriebenen Brainstorming ergeben sich folgende Vorteile: • Eine tragende Idee wird systematischer ergänzt und weiterentwickelt, • es ist möglich, den Entwicklungsvorgang zu verfolgen und den Urheber des zum Erfolg führenden Lösungsprinzips annähernd zu ermitteln, was aus rechtlichen Gründen von Bedeutung sein kann und • die Problematik der Gruppenleitung entfällt weitgehend. Als nachteilig kann sich eine geringere Kreativität des Einzelnen durch Isolierung und mangelnde Stimulierung einstellen, weil die Aktivität der Gruppe nicht unmittelbaren Ausdruck findet.
10.2.2.3 Galeriemethode Die Galeriemethode nach Hellfritz (1978) verbindet Einzelarbeit mit Gruppenarbeit und eignet sich besonders bei Gestaltungsproblemen, weil bei ihr die Lösungsvorschläge in Form von Skizzen sehr gut präsentiert werden können. Voraussetzungen und Gruppenbildung entsprechen den Regeln des Brainstormings. Die Methode gliedert sich in folgende Einzelphasen: Einführungsphase, bei der das Problem durch den Gruppenleiter dargestellt und durch Erläuterungen erklärt wird.
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Ideenbildungsphase I. Es erfolgt zunächst durch jedes Gruppenmitglied für sich eine intuitive und vorurteilslose Lösungssuche mit Hilfe von Skizzen und ggf. zweckmäßigen verbalen Erläuterungen für eine Dauer von etwa 15 min. Assoziationsphase. Die bisherigen Ergebnisse der Ideenbildungsphase I werden zunächst in einer Art Galerie aufgehängt, damit alle Gruppenmitglieder diese visuell erfassen und diskutieren können. Das Ziel dieser etwa 15-minütigen Assoziationsphase ist es, durch Negation und Neukonzeption neue Ideen zu gewinnen und ergänzende oder verbessernde Vorschläge zu erkennen. Ideenbildungsphase II. Die aus der Assoziationsphase gewonnenen Einfälle oder Erkenntnisse werden nun von den einzelnen Gruppenmitgliedern festgehalten und/oder weiterentwickelt. Selektionsphase. Alle entstandenen Ideen werden gesichtet, geordnet und auch ggf. noch vervollständigt. Erfolgsversprechende Lösungsansätze werden sodann ausgewählt. Auch können lösungsträchtige Merkmale für ein späteres diskursives Vorgehen (vgl. Abschn. 3.1.1) durch Analyse gewonnen werden. Die Galeriemethode zeichnet sich vor allem durch folgende Vorteile aus: • • • •
intuitives Arbeiten in der Gruppe ohne ausufernde Diskussionen, wirksame Vermittlung mit Hilfe von Skizzen besonders bei Gestaltungsfragen, individuelle Leistung bleibt erkennbar und gut auswertbare, dokumentierbare Unterlagen.
10.2.2.4 Delphi-Methode Bei dieser Methode werden Fachleute, von denen man eine besondere Kenntnis der Zusammenhänge erwartet, schriftlich befragt und um eine entsprechende schriftliche Äußerung gebeten (Dalkey und Helmer 1963). Die Befragung läuft nach folgendem Schema ab: 1. Runde Welche Lösungsansätze zur Bewältigung des angegebenen Problems sehen Sie? Geben Sie spontan Lösungsansätze an! 2. Runde Sie erhalten eine Liste von verschiedenen Lösungsansätzen zu dem angegebenen Problem! Bitte gehen Sie diese Liste durch und nennen Sie dann weitere Vorschläge, die Ihnen neu einfallen oder durch die Liste angeregt wurden.
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3. Runde Sie erhalten die Endauswertung der beiden Ideenerfragungsrunden. Bitte gehen Sie diese Liste durch und schreiben Sie die Vorschläge nieder, die Sie im Hinblick auf eine Realisierung für die besten halten. Dieses aufwendige Vorgehen muss sorgfältig geplant werden und wird im Allgemeinen auf generelle Fragen, die mehr grundsätzliche und unternehmenspolitische Aspekte haben, beschränkt bleiben. Im technisch-konstruktiven Bereich kann die DelphiMethode eigentlich nur bei sehr langfristigen Entwicklungen in der Grundsatzdiskussion Bedeutung erlangen.
10.2.2.5 Kombinierte Anwendung Ein strenges Vorgehen nur nach der einen oder anderen Methode ist oft nicht möglich und auch nicht zwingend notwendig. Erfahrungen zeigen, dass • beim Brainstorming der Gruppenleiter oder eine andere Person bei Nachlassen der Produktivität der Ideen durch ein teilweise synektisches Vorgehen – Ableitung von Analogien, systematisches Suchen nach dem Gegenteil oder nach der Vervollständigung – eine neue Ideenflut entfachen kann, • eine neue Idee oder ein Impuls die Denkrichtung und Vorstellung der Gruppe stark ändert, • eine Zusammenfassung des bisher Erkannten auch wiederum zu neuen Ideen führt, • die bewusste Anwendung der Methode der Negation und Neukonzeption und des Vorwärtsschreitens (vgl. Abschn. 3.3) die Ideenvielfalt anzureichern und weiterzuführen vermag. Die angeführten Methoden sind ggf. in Kombination so anzuwenden, wie sie sich nach den jeweiligen Umständen zwanglos anbieten und sich am besten nutzen lassen. Eine pragmatische Handhabung sichert den größten Nutzen.
10.2.3 Assoziativ betonte Methoden Die nachfolgend vorgestellten Methoden fördern die Kreativität durch assoziative Ideenfindung, z. B. durch die Analyse von Analogien oder das strukturierte Anregen von Wortassoziationen. Wenngleich diese Methoden ebenfalls einen großteils intuitiven Charakter haben so sind sie durch die Art der gezielten Nutzung von Analogien und Stimuli bereits strukturierter als rein intuitive Methoden. Die Analyse von Analogien basiert auf der gezielten Suche nach Lösungsprinzipien in analogen Systemen, d. h. Systemen die eine vergleichbare Funktion in einem anderen Kontext erfüllen. Hierbei wird das analoge System als Modell des beabsichtigten Systems zur weiteren Betrachtung verwendet. Analogien werden bei technischen Systemen z. B. durch Änderung der Energieart gewonnen (Bengisu 1970; Schlösser und
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Olderaan 1961). Wichtig sind auch Analogiebetrachtungen zwischen technischen und nichttechnischen (natürlichen) Systemen. Neben der Anregung für die Lösungssuche bieten Analogien die Möglichkeit, durch Simulations- und Modelltechnik das Systemverhalten in einem frühen Entwicklungsstadium zu studieren, um daraus notwendige neue Teillösungen zu erkennen und/oder ggf. schon eine Optimierung einzuleiten. Soll das analoge Modell auf Systeme mit bedeutend anderen Abmessungen und Zuständen übertragen werden, müssen Ähnlichkeitsbetrachtungen unterstützend vorgenommen werden.
10.2.3.1 Analyse bekannter technischer Systeme Die Analyse bekannter technischer Systeme gehört zu den wichtigsten Hilfsmitteln, mit denen man schrittweise und nachvollziehbar zu neuen oder verbesserten Varianten bekannter Lösungen kommt. Eine solche Analyse besteht in einem gedanklichen oder sogar stofflichen Zerlegen ausgeführter Produkte. Sie kann als Strukturanalyse (vgl. Abschn. 3.3) aufgefasst werden, die nach Zusammenhängen in logischer, physikalischer und gestalterischer Hinsicht sucht. Aus der Baustruktur können die Teilfunktionen ermittelt werden. Von diesen ausgehend lassen sich bei weiterer Analyse auch die beteiligten physikalischen Effekte erkennen, die ihrerseits Anregung zu neuen Lösungsprinzipien für entsprechende Teilfunktionen der zu lösenden Aufgabenstellung geben können. Ebenso ist es möglich, aus der Analyse gefundene Lösungsprinzipien als solche zu übernehmen. Bekannte Systeme zum Zwecke der Analyse können sein: • Produkte oder Verfahren des Wettbewerbs, • ältere Produkte und Verfahren des eigenen Unternehmens, • ähnliche Produkte oder Baugruppen, bei denen einige Teilfunktionen bzw. Teile ihrer Funktionsstrukturen mit denen übereinstimmen, für die Lösungen gesucht werden sollen. Da man sinnvollerweise nur solche Systeme analysiert, die zu der neuen Aufgabe einen gewissen Bezug haben oder sie sogar bereits zum Teil erfüllen, kann man bei dieser Art der Informationsgewinnung auch von einer systematischen Nutzung von Bewährtem bzw. von Erfahrung sprechen. Sie dürfte vor allem nützlich sein, wenn es gilt, zunächst einen ersten Lösungsansatz als Ausgangspunkt für weitere gezielte Variationen zu finden. Zu diesem Vorgehen ist kritisch zu bemerken, dass man Gefahr läuft, bei bekannten Lösungen zu bleiben und neue Wege nicht zu beschreiten.
10.2.3.2 Analyse natürlicher Systeme Der Begriff „Bionik“ (auch Biomimikri oder Biomimese) setzt sich aus den Teilbegriffen „Biologie“ und „Technik“ zusammen. Die Bionik möchte Lösungen und Prinzipien der Biologie für technische Aufgabenstellungen nutzen (Nachtigall 2003). Insbesondere chemische Prozesse werden in der Natur häufig sehr effektiv und effizient ausgeführt.
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Abb. 10.2 Prototyp der Flussturbine (Sous 2011)
Aber auch für andere technische Fragestellungen gibt es in der Natur Lösungen, die mit den Mitteln der industriellen Produktionstechnik genutzt werden können. Selbst wenn Lösungen nicht direkt übernommen werden können, so gibt das Studium der natürlichen Lösungen doch sehr viele Anregungen. Im Folgenden soll ein Beispiel vorgestellt werden. Es stammt von Sous (2011). Es geht dabei um die Fragestellung, wie der Auslaufdiffusor einer Flussturbine so gestaltet werden kann, dass er sowohl die Festigkeitsanforderungen während des Transports als auch die auftretenden statischen und dynamischen Kräfte beim Betrieb im Wasser ertragen kann. Eine Flussturbine dient der Stromerzeugung durch das strömende Wasser eines Flusses. Dazu wird eine Turbinen-Generatorkombination in den Fluss gebracht. Zur Wirkungsgraderhöhung befindet sich auf der Ausströmseite ein Diffusor (siehe Abb. 10.2). Das Problem besteht darin, dass durch die wirkenden Kräfte der Diffusor in Querrichtung zur Strömungsrichtung auf der breiten Seite zusammengedrückt wird. Hier musste eine kostengünstige und fertigungstechnisch einfach zu realisierende Lösung gefunden werden. Erste Analogiebetrachtungen zu Gewölbekonstruktion der Renaissance führten zu den Skelettaufbauten von Fischen. Das Skelett des Wals ist für große Drücke geeignet und von seiner Baugröße vergleichbar mit der Aufgabenstellung. In Abb. 10.3 ist das Skelett eines Zwergwals mit gekennzeichneter Hauptstruktur wiedergegeben. Das Prinzip des Skeletts als tragende Struktur wurde auf den Diffusor übertragen. Die gesamte Konstruktion ist in einem Faserverbundwerkstoff ausgeführt. Die Fügestellen sind geklebt. Das Konstruktionsprinzip ist in Abb. 10.4 wiedergegeben.
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Abb. 10.3 Skelett eines Zwergwals mit gekennzeichneter Hauptstruktur (Übersee Museum Bremen 2012)
Abb. 10.4 Konstruktionsprinzip der Tragkonstruktion für den Diffusor (Sous 2011)
10.2.3.3 SCAMPER SCAMPER ist eine Methode, die von Eberle (1972, 1977, 1996) basierend auf Brainstorming Checklisten (Osborn 1957, S. 286–287) entwickelt wurde. SCAMPER ist ein Akronym für Themenbereiche (siehe Tab. 10.1), die jeweils mittels mehrerer Fragen ausgehend von einer existierenden Idee oder Lösung das Finden neuer Lösungen anregen sollen (Moreno et al. 2014). Die Methode ist sowohl für die Durchführung in Einzelarbeit als auch in kleinen Gruppen geeignet und ist aufgrund ihrer Einfachheit ohne aufwendiges Training durchführbar. SCAMPER basiert auf der Annahme, dass es für nahezu jedes Problem analoge Probleme gibt (Pólya 1945), für die Lösungen existieren (Moreno et al. 2014). Die Themenbereiche und Fragen sollen helfen Assoziationen hervorzurufen und Ideen für
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Tab. 10.1 SCAMPER Checkliste Themenbereiche
Beispiele für Fragen
Substitute Ersetze – Funktionen, Bauteile, Material, Energie, …
Welche Teile können ausgetauscht werden? Welche Materialien können ersetzt werden? Welches andere Produkt/welche Dienstleitung hat die gleiche Funktion? Kann eine andere Energiequelle verwendet werden?
Combine Kombiniere – Funktionen, Bauteile, Anwendungen, …
Können Funktionen kombiniert werden? Können Materialien kombiniert werden? Können Bauteile oder Teilsysteme kombiniert werden? Kann die Idee (das System) mit einer anderen Idee (einem anderen System) kombiniert werden? Kann der Gebrauch des Systems mit einer anderen Verwendung kombiniert werden?
Adapt Passe an – Funktion, Verwendung, Bauteile, andere Lösungen, …
Kann das System (die Idee) für eine andere Verwendung angepasst werden? Welche andere Lösung ist ähnlich und kann angepasst werden? Welche bisherige Lösung kann an die neuen Anforderungen angepasst werden?
Modify/Magnify/Minify Modifiziere (Vergrößere, Verkleinere) – Funktionalität, Bauteile, Gestalt, Ergonomie, Eigenschaften, …
Was kann dem System hinzugefügt werden? Welche Änderung würde den Nutzen/Wert des Systems steigern? Wie kann die Gestalt des Bauteils/Systems verändert werden? Was kann dem System hinzugefügt werden? Wie kann der Gebrauch des Systems vereinfacht werden? Wie können die Eigenschaften (Gewicht, Preis, Lebensdauer, …) des Systems verbessert werden?
Put to other uses Übertrage es auf andere Anwendungen – Zweck, Markt, Nutzer, …
Kann das System für einen anderen Zweck verwendet werden? Können Teile des Systems einer anderen Verwendung zugeführt werden? Wer sonst könnte das System benutzen?
Eliminate Entferne – Funktionen, Bauteile, Materialien, …
Kann das System vereinfacht werden? Welche Funktionen können entfernt werden? Welche Komponenten können entfernt werden? Wie kann das System leichter werden? Was passiert, wenn ein Bauteil/Teilsystem entfernt wird? Kann auf ein Material verzichtet werden?
Rearrange/Reverse Ordne anders an – Bauteile, Gestalt, Nutzungs- oder Herstellungsprozesse, …
Welche Bauteile/Teilsysteme können ausgetauscht werden? Was kann anders gestaltet werden? Was kann gedreht/gespiegelt/anders angeordnet werden?
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das aktuelle Problem zu generieren. Die Auswahl des Referenzsystems, von dem ausgehend alternative Lösungen gesucht werden, ist daher der erste Schritt für die Vorbereitung und Durchführung eines SCAMPER Workshops. Das Referenzsystem kann eine existierende Lösung, eine Lösungsidee oder ein Teilsystem sein. Zur Vorbereitung eines SCAMPER Workshops sollte ausgehend vom Referenzsystem durch den Leiter der Gruppe anhand der SCAMPER Themenbereiche ein Fragenkatalog erarbeitet werden. Tab. 10.1 zeigt einige beispielhafte Fragen, die den einzelnen Themenbereichen zugeordnet sind. Durch geschickte Formulierung der Fragen kann die Ideenfindung der Gruppe positiv beeinflusst werden. Die Fragen sollten dabei offen formuliert sein und keine Lösung vorwegnehmen. Während des SCAMPER Workshops werden ausgehend vom Referenzsystem (mehrere) Antworten für die verschiedenen Fragen gesucht. Zur Dokumentation der Ideen können diese auf Arbeitsblättern notiert werden, welche gemäß der Themenbereiche organisiert sind oder auch Klebenotizen verwendet werden. Abschließend werden die Antworten hinsichtlich geeigneter Ideen ausgewertet. Je nach Menge an Antworten und Ideen können für die Auswertung Methoden zur Strukturierung (z. B. Affinitätsdiagramm) oder einfache Auswahl- und Bewertungsmethoden (siehe Kap. 11) verwendet werden. Durchführung 1. Einführung – Referenzsystem vorstellen (z. B. eine zuvor entwickelte Idee, ein bestehendes Produkt, eine existierende Teillösung) 2. Fragen stellen – Fragen allein oder im Team beantworten 3. Antworten auswerten – Vorhandene Antworten hinsichtlich die gelieferten Lösungsvorschläge auswerten – Lösungsvorschläge hinsichtlich ihrer Eignung das Problem zu lösen beurteilen und in Gruppen unterteilen (z. B. geeignet, teilweise geeignet, nicht geeignet) – Die vielversprechendsten Lösungsvorschläge weiterentwickeln
10.2.3.4 Synektik Der Name Synektik ist ein aus dem Griechischen abgeleitetes Kunstwort und bedeutet Zusammenfügen verschiedener und scheinbar voneinander unabhängiger Begriffe. Synektik ist ein dem Brainstorming verwandtes Verfahren mit dem Unterschied, dass die Absicht besteht, sich durch Analogien aus dem nichttechnischen oder dem halbtechnischen Bereich anregen und leiten zu lassen. Vorgeschlagen wurde diese Methode von Gordon (1961). Sie ist im Vorgehen systematischer als das willkürliche Sammeln von Ideen beim Brainstorming (siehe Abschn. 10.2.2.1). Hinsichtlich der Unbefangenheit sowie Vermeidung von Hemmungen und Kritik gilt dasselbe wie beim Brainstorming.
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K. Gericke et al.
Der Leiter der Gruppe hat hier eine zusätzliche Aufgabe. Er versucht anhand der geäußerten Analogien den Gedankenfluss entsprechend dem nachstehenden Schema weiterzuführen. Die Gruppe sollte nur bis zu sieben Teilnehmer umfassen, damit ein Zerfließen der Gedankengänge vermieden wird. Man hält sich dabei an folgende Schritte: • Darlegen des Problems, • Vertraut machen mit dem Problem (Analyse), • Verstehen des Problems, es ist damit jedem vertraut, • Verfremden des Vertrauten, d. h. Analogien und Vergleiche aus anderen Lebensbereichen anstellen, • Analysieren der geäußerten Analogie, • Vergleichen zwischen Analogie und bestehendem Problem, • Entwickeln einer neuen Idee aus diesem Vergleich, • Entwickeln einer möglichen Lösung. Unter Umständen beginnt man wieder mit einer anderen Analogie, wenn das Ergebnis unbefriedigend ist. Ein Beispiel soll das Finden von Lösungen mit Hilfe von Analogien und die schrittweise Weiterentwicklung zu einem Vorschlag zeigen. Das Beispiel zeigt die Entwicklung einer Lösung zur Entfernung von Harnleitersteinen aus dem menschlichen Körper. Ausgangspunkt war die Idee einer mechanischen Vorrichtung, mittels derer der Harnleiterstein umfasst, festgespannt und herausgezogen werden kann. Die Vorrichtung hätte dazu im Harnleiter aufgespannt und geöffnet werden müssen. Das Stichwort „Spannen“ bzw. „Aufspannen“ führte dazu, nach Analogien zu suchen, wie etwas gespannt werden kann, s. Abb. 10.5. Assoziation. Regenschirm
Abb. 10.5 a–f Schrittweise Entwicklung eines Lösungsprinzips zur Entfernung von Harnleitersteinen durch Bilden einer Analogie und schrittweiser Verbesserung (nach Handskizzen), Bezeichnungen vgl. Text
10 Entwickeln von Wirkstrukturen
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a) Frage: Wie kann man das Regenschirmprinzip nutzen? b) Stein durchbohren, Schirm durchstecken, aufspannen - technisch schlecht realisierbar c) Schlauch durchstecken und aufblasen am dünneren Ende - Loch bohren irreal d) Schlauch vorbeischieben - Stein beim Rückzug vorn, ergibt Widerstand und möglicherweise Zerstören des Harnleiters e) zweiten Ballon vorschalten als Wegbereiter f) Stein zwischen beiden Ballons in ein Gel einbetten und herausziehen Dieses Beispiel zeigt die Assoziation zu einer halbtechnischen Analogie (Regenschirm), von der aus die Lösung angesichts der bestehenden speziellen Bedingungen weiterentwickelt wurde. Kennzeichnend ist die unbefangene Vorgehensweise unter Benutzung einer Analogie. Bei technischen Problemen ist diese zweckmäßigerweise aus dem nichttechnischen oder halbtechnischen Bereich und bei nichttechnischen Problemen umgekehrt aus dem technischen Bereich. Die Analogiebildung wird im ersten Anlauf meist spontan geschehen. Bei Weiterverfolgung und Analyse von bestehenden Vorschlägen ergeben sich diese dann meist stärker schrittweise und systematisch abgeleitet.
10.2.3.5 Wordtree Die Suche nach Analogien ist teils eine schwierige Aufgabe. Wordtree zielt darauf ab, den Anwender durch einen strukturierten Ansatz bei der Suche nach Analogien zu unterstützen (Linsey 2007; Linsey et al. 2012). Wordtrees visualisieren die Beziehung zwischen einem Begriff und seinen Synonymen (Ersatzwörter), Antonymen (Gegensatzwörtern), Hyperonym (Oberbegriffe) und Troponymen (Unterbegriffe). Diese Relationen bilden hierarchische Strukturen mit alternativen Begriffen auf untergeordneten Ebenen, sodass eine grafische Darstellung dieser Begriffe eine Baumstruktur ergibt. u Verwendete Begriffe Begriff Beispiel „sprechen“ Synonym Beispiel „reden“ Antonym Beispiel „schweigen“ Hyperonym Oberbegriff; Beispiel „kommunizieren“ Troponym Unterbegriff; Beispiel „flüstern“ Ausgehend von der Suche nach Schlagwörtern, die das Problem bzw. die Problemdomäne beschreiben, können durch die Bildung von Wordtrees (hierarchisch organisierte Beziehungen zwischen Wörtern) und deren nachfolgende Analyse Analogien bzw. analoge Domänen identifiziert werden. Die gefundenen Analogien können dann zur Ideenfindung anregen (siehe Abb. 10.6).
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K. Gericke et al.
Vorgehen 1. Auflisten der Deskriptoren Auflisten von Schlagwörtern (Deskriptoren) zur Beschreibung des Problems. Schlagwörter können z. B. der lösungsneutralen Problembeschreibung und der funktionalen Beschreibung (Gesamtfunktion oder Teilfunktionen) entnommen werden. Gut geeignet sind Verben (im Aktiv). 2. Erzeugen von Wordtrees Ein Wordtree kann auf alternativen Wegen erstellt werden. Eine Möglichkeit besteht darin, eine Gruppensitzung ähnlich dem Brainwriting bzw. Methode 6-3-5 abzuhalten, um Synonyme, Antonyme, Hyperonyme und Troponyme zu sammeln und dann in einer Baumstruktur zu organisieren. Alternativ dazu gibt es Software bzw. Web-basierte Werkzeuge, die dies automatisch erstellen. WordNet ist eine solche Plattform. Alternativ kann die Gruppenarbeit mit einem rechnerunterstützen Verfahren kombiniert werden. Es kann sinnvoll sein, Wordtrees für das gleiche Problem in verschiedenen Sprachen zu erstellen, um so weitere Analogien zu generieren.
Abb. 10.6 Wordtree Ablauf. (Nach Linsey et al. 2012)
10 Entwickeln von Wirkstrukturen
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3. Identifikation potenzieller Analogien und analoger Domänen Der geschaffene Wordtree wird nachfolgend auf passende Analogien untersucht und ggf. analoge Problembeschreibungen formuliert. Die gefundenen Analogien werden separat notiert. 4. Entwickeln von Ideen Ausgehend von den identifizierten Analogien werden alternative Lösungen gesucht. Dieser Schritt kann bei Bedarf durch andere Lösungsfindungsmethoden z. B. Brainstorming oder Methode 6-3-5 unterstützt werden. Es ist hilfreich, wenn diese Phase von einem zweiten Team begleitet wird. Dieses Team soll mit der ursprünglichen Problembeschreibung nicht vertraut sein und nicht in die Erstellung des Wordtrees eingebunden sein. So wird die Aufmerksamkeit auf andere Analogien gelenkt und andere Ideen generiert.
10.2.3.6 Produktentwicklung auf Basis von Analogiebetrachtungen Jörg Thon Eine Methode, welche in der Praxis häufig anzutreffen ist, ist die Analogiebetrachtung. Hierbei wird versucht, Erkenntnisse und Lösungen für die eigene Aufgabenstellung aus den Lösungen fremder Branchen abzuleiten. Beispielsweise stellen sich bei der Förderung von Zucker in der Lebensmittelindustrie ähnliche Probleme bezüglich Verschleiß und Staubbelastung der eingesetzten Maschinen wie in der Bauindustrie an Stellen, wo Sand gefördert werden muss. Bei dem hier vorgestellten Prozess geht es um die Entwicklung einer Knochenzementspritze. Die Verwendung von gezielt injizierbarem Knochenzement, um Zwischenräume nach bestimmten Knochenbrüchen zu füllen, ist eine etablierte Methode in der Medizin. Die dafür verfügbaren Produkte sind komplex in der Handhabung, aufwendig in der Vorbereitung, und das Resultat wird stark von menschlichen Einflussfaktoren bestimmt. Der Medizinprodukthersteller Stryker bietet einen injizierbaren Knochenzement (HydroSet®) an, der eine zweistufige Vorbereitung erfordert: a) Anmischen des Zementes, und b) Transfer des angemischten Zementes in den vorgesehenen Spritzenkörper, bevor die Applikation durch den Arzt beginnen kann. Das vom Kunden gewünschte Produkt der nächsten Generation zielt auf die Eliminierung der beschriebenen Vorbereitungsschritte ab. Dieses soll die menschlichen Einflussfaktoren minimieren und die Anwendung für den Arzt erleichtern. Dazu muss das angestrebte System zwei reagente, hochviskose Flüssigkeiten speichern, bei Bedarf homogen mischen und durch einen möglichst kleinen Hautschnitt durch eine Kanüle in den Knochenspalt applizieren können. In Abb. 10.7 ist die Applizierung von Knochenzement dargestellt. Das Ziel der Entwicklung der Knochenzementspritze ist die Realisierung einer sicheren und effektiven, aber auch wirtschaftlichen Lösung mit möglichst geringem Zeitund Ressourcenaufwand.
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K. Gericke et al.
Eine iterative Herangehensweise während der Entwicklung und die damit verbundene mehrmalige Überprüfung und Evaluierung der hergestellten Prototypen soll die stabile Aufbewahrung der gespeicherten Flüssigkeiten und die Wiederholbarkeit des Resultates sicherstellen, um den hohen Qualitätsanspruch an die Funktion zu erfüllen. Die Suche nach analogen Lösungen zur Übertragung der ausgewählten Funktionsstrukturen in ein Konzept beschränkt sich zunächst auf die Recherche in verwandten Themengebieten innerhalb der Medizintechnik. Die Analyse der Wettbewerber führt jedoch nicht zu einer, nach Maßgabe der Anforderungen, zufriedenstellenden Lösung, sodass die Suche auf die gesamte Medizintechnik, aber auch andere industrielle Zweige erweitert werden muss. Das analoge System findet sich hier also nicht zwingend, oder sogar sehr unwahrscheinlich in dem gleichen Anwendungsgebiet, sondern muss übertragen werden, da es sich um ein, für diese Anwendung, innovatives Produkt handelt. Die Recherche nach Zweikomponenten-Mischsystemen ist hauptsächlich auf dem Gebiet der Klebstoffindustrie, aber auch in fremden Gebieten der Medizintechnik erfolgreich. Bei der Recherche in anderen Anwendungsgebieten muss eine genauere Prüfung der gefundenen Lösungsoption auf Anwendbarkeit stattfinden, die das Lösungsfeld einschränkt. Dabei wird die Realisierbarkeit der ausgewählten Funktionsstruktur mit dem vermeintlich analogen technischen System bewertet. Hierbei handelt es sich nicht um die Suche nach einem analogen Komplettsystem, das als Lösung für die gesamte Funktionsstruktur dienen soll, sondern vielmehr um die Findung von Teillösungen, die auch eine
Abb. 10.7 Applikation von Knochenzement in einen Knochenspalt durch eine befüllte Spritze
10 Entwickeln von Wirkstrukturen
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Kombination ihrer selbst zulassen. So können nach funktionellen und wirtschaftlichen Kriterien die existierenden Lösungen, wie z. B. das Mischer-Element und seine Einbettung in das Mixergehäuse, realisiert werden. Dabei ist eine Adaption der Teillösungen notwendig, um die Schnittstellen aneinander anzupassen. Eine weitere Auswahl der gefundenen Lösungsoptionen erfolgt anhand der Kriterien, die später für das gesuchte System und dessen Einsatzbereich von Relevanz sind, wie beispielsweise die Strahlen-Sterilisierbarkeit des Materials. Der Zeitpunkt der Analogiebetrachtung im Entwicklungsprozess wird so gewählt, dass die Problemstellung möglichst konkret vorliegt und eine Funktionsstruktur als Lösungsansatz existiert. Damit kann die Analogiebetrachtung als effektives Werkzeug für den Transfer hin zum Wirkprinzip bzw. Lösungskonzept genutzt werden und die umfangreiche Lösungssuche anhand von Katalogen und „breiten“ diskursiven Methoden durch eine heuristische Favorisierung bestehender Lösungen verschmälert werden. Die vorangehende Erarbeitung der Funktionsstruktur und das Bewerten der heuristisch gefundenen Lösungen werden als diskursive Rahmenelemente im Entwicklungsprozess verwendet und fügen sich damit adäquat in den verwendeten iterativen Entwicklungsprozess ein. Die Entwicklung des Konzeptes der Knochenzementspritze kann mithilfe der Analogiebetrachtung erfolgreich realisiert werden. Der Aufwand an Zeit und Ressourcen kann durch die heuristische Methode verringert werden, und die Einbettung in die diskursiv betonten Entwicklungsschritte vorher und nachher wird als fördernd wahrgenommen, weil der Verlust der Struktur des Entwicklungsvorgangs gering ist. Die Vereinigung existierender Teillösungen und teilweise auch Adaption auf das Anwendungsgebiet ermöglicht eine wirtschaftliche Umsetzung und wird durch eine hohe reproduzierbare Qualität der gefundenen technischen Lösung charakterisiert, indem bekannte und etablierte Systeme zur Verwendung kommen. Das Resultat der Entwicklung ist die in Abb. 10.8 wiedergegebene Prototypenversion der Zementspritze, die die gesuchte Lösung für das geschilderte Problem darstellt. Der zeitlich und qualitativ bedeutsamste Vorteil der Analogiebetrachtung ist, dass die bestehenden Lösungen auf die Anwendbarkeit bei der vorhandenen Problemstellung überprüft werden können, darüber hinaus jedoch auch als kreativer Anstoß und später
Abb. 10.8 Finale Prototypenversion der Entwicklung der Zementspritze in befülltem Zustand
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K. Gericke et al.
auch je nach Ähnlichkeitsgrad als Bewertungsrichtlinie herangezogen werden kann. Dabei kann das entwickelte Konzept an den vorhandenen Lösungen gemessen werden. Die bereits realisierte technische Umsetzung des analogen Produktes und die Erfahrungen des Marktes birgt zudem die entscheidenden Vorteile, dass die Machbarkeit des angestrebten Produktes zumindest in Teilaspekten schon bewiesen ist, aber zum anderen auch, dass sich das Produkt auf die Sicherheit des vorhandenen Systems stützen oder zumindest in Teilaspekten stützen kann. Die Realisierung der Knochenzementspritze anhand von Analogiebetrachtungen hat gezeigt, dass diese Methode als adäquates Mittel zur Umsetzung eines schnellen und sicheren Entwicklungs-Zyklus herangezogen werden kann. Hierbei sind für den Erfolg der Entwicklung die Anwendbarkeit der analogen Produkte auf die vorhandene Problemstellung und die Existenz analoger Lösungen ausschlaggebend. Die Analogiebetrachtung muss im Entwicklungsprozess erfolgen, wenn bereits konkrete Problemstellungen und eine oder mehrere Funktionsstrukturen oder Wirkprinzipien vorliegen. Dies ermöglicht die heuristische Findung einer Lösung und deren Prüfung auf Anwendbarkeit innerhalb des insgesamt diskursiv betonten Entwicklungsvorgehens.
10.2.4 Diskursiv betonte Methoden Die diskursiv betonten Methoden unterstützen die Entwicklung von Lösungen durch bewusst schrittweises Vorgehen. Die Arbeitsschritte sind beeinflussbar und mitteilsam. Diskursives Vorgehen schließt Intuition nicht aus. Diese soll stärker für die Einzelschritte und Einzelprobleme benutzt werden, nicht aber sofort zur Lösung der Gesamtaufgabe.
10.2.4.1 Systematische Untersuchung des physikalischen Zusammenhangs Ist zur Lösung einer Aufgabe bereits der physikalische (chemische, biologische) Effekt bzw. die ihn bestimmende physikalische Gleichung bekannt, so lassen sich insbesondere bei Beteiligung von mehreren physikalischen Größen verschiedene Lösungen dadurch ableiten, dass man die Beziehung zwischen ihnen, also den Zusammenhang zwischen einer abhängigen und einer unabhängigen Veränderlichen analysiert, wobei alle übrigen Einflussgrößen konstant gehalten werden. Liegt z. B. eine Gleichung der Form y = f(u, v, w) vor, so werden nach dieser Methode Lösungsvarianten für die Beziehung y1 = f(u, v, w), y2 = f(u, v, w) und y3 = f(u, v, w) untersucht, wobei jeweils die unterstrichenen Größen konstant bleiben sollen. Rodenacker (1991) gibt Beispiele für dieses Vorgehen, wovon eines die Entwicklung eines Kapillarviskosimeters darstellt. Von dem bekannten physikalischen Gesetz einer Kapillare η ~ Δp · r4/(Q · l) ausgehend, werden vier Lösungsvarianten abgeleitet. Abb. 10.9 zeigt diese in prinzipieller Anordnung:
10 Entwickeln von Wirkstrukturen
279
Abb. 10.9 Schematische Darstellung von vier Viskosimetern (Nach Rodenacker 1991). 1 Behälter. 2 Zahnradpumpe. 3 Stellgetriebe. 4 Manometer. 5 feste Kapillare. 6 Kapillare mit veränderbarem Durchmesser. 7 Kapillare mit veränderbarer Länge
1. Eine Lösung, bei der der Differenzdruck Δp als Maß der Viskosität, Δp ~ η, ausgenutzt wird (Q, r und l = const.). 2. Eine Lösung, bei der der Kapillardurchmesser, Δr ~ η, herangezogen wird (Q, Δp und l = const.). 3. Eine Lösung unter Ausnutzung einer Längenveränderung der Kapillare, Δl ~ η(Δp, Q und r = const.). 4. Eine Lösung, bei der die Durchflussmenge verändert wird, ΔQ ~ η(Δp, r und l = const.). Eine weitere Möglichkeit, durch die Analyse physikalischer Gleichungen zu neuen oder verbesserten Lösungen zu kommen, liegt darin, bekannte physikalische Wirkungen in Einzeleffekte zu zerlegen. So hat vor allem Rodenacker (1991) eine solche Aufgliederung komplexer physikalischer Beziehungen in Einzeleffekte dazu benutzt, völlig neue Geräte zu bauen bzw. für bekannte Geräte neue Anwendungen zu entwickeln.
280
K. Gericke et al.
Zur Erläuterung eines solchen Verfahrens wird für die Entwicklung einer reibschlüssigen Schraubensicherung die bekannte physikalische Beziehung für das Lösen einer Schraube analysiert: DM d2 tan (̺G − β) + µM TL = F V (10.1) 2 2 In Gl. (Gl. 10.1) sind folgende Teildrehmomente enthalten: Reibmoment im Gewinde: d2 d2 tan ̺G = FV µG TG ∼ F V (10.2) 2 2 wobei
tan ̺G =
µ = µG cos α2
Reibmoment an der Kopf- bzw. Mutterauflage: DM DM tan ̺G = FV µM TM = F V 2 2
(10.3)
Losdrehmoment der Schraube, herrührend von der Vorspannkraft und der Gewindesteigung: P FV d2 tan (−β) = −FV TLo ∼ (10.4) 2 2π (P Gewindesteigung, β Steigungswinkel, d2 Flankendurchmesser, FV Schraubenvorspannkraft, DM mittlerer Auflagedurchmesser, μG fiktiver Reibwert im Gewinde, μ tatsächlicher Reibwert der Gewinde-Werkstoffpaarung, μM Reibwert an der Kopf- bzw. Mutterauflage, α Flankenwinkel). Zum Erkennen von Wirkprinzipien zur Verbesserung der Sicherung gegen Lösen der Schraube ist es nun sinnvoll, die aufgestellten physikalischen Beziehungen weiter nach den vorkommenden physikalischen Effekten zu analysieren. Als Einzeleffekte stecken in den Gl. (Gl. 10.2) und (Gl. 10.3): • Reibungseffekt (Coulombsche Reibkraft)
FRG = µG · FV bzw. FRM = µM · FV • Hebeleffekt
TG = FRG ·
DM d2 bzw. TM = FRM · 2 2
• Keileffekt
µG =
µ cos(α/2)
10 Entwickeln von Wirkstrukturen
281
Einzeleffekte der Gl. (Gl. 10.4): • Keileffekt
FLo ∼ FV · tan (−β) • Hebeleffekt
TLo = FLo ·
d2 2
Bei der Betrachtung der einzelnen physikalischen Effekte lassen sich z. B. folgende Wirkprinzipien zur Verbesserung der Schraubensicherung angeben: • Ausnutzung des Keileffekts zur Herabsetzung der Lösekraft durch Verkleinern des Steigungswinkels β, • Ausnutzung des Hebeleffekts zur Vergrößerung des Reibmoments an der Kopf- bzw. Mutterauflage durch Vergrößerung des Auflagedurchmessers DM, • Ausnutzung des Reibungseffekts zur Erhöhung der Reibkräfte durch Vergrößerung des Reibungskoeffizienten μ, • Ausnutzung des Keileffekts zur Vergrößerung der Reibkraft an der Auflage durch kegelförmige Auflagefläche (FV · μ/sin γ mit 2 γ Kegelwinkel), Beispiel: Kfz-Radnabenbefestigung, und • Vergrößerung des Flankenwinkels α zur Erhöhung des fiktiven Gewindereibwertes.
10.2.4.2 Systematische Suche mithilfe von Ordnungsschemata Bereits bei den allgemein anwendbaren Arbeitsmethoden (vgl. Abschn. 3.3) wurde festgestellt, dass eine Systematisierung und geordnete Darstellung von Informationen bzw. Daten in zweierlei Hinsicht sehr hilfreich sind. Einerseits regt ein Ordnungsschema zum Suchen nach weiteren Lösungen in bestimmten Richtungen an, andererseits wird das Erkennen wesentlicher Lösungsmerkmale und entsprechender Verknüpfungsmöglichkeiten erleichtert. Aufgrund dieser Vorteile sind eine Reihe von Ordnungssystemen bzw. Ordnungsschemata entstanden, die alle einen im Prinzip ähnlichen Aufbau haben. In einer Zusammenstellung hat Dreibholz (1975) über die Möglichkeiten für solche Ordnungsschemata ausführlich und umfassend berichtet. Das allgemein übliche zweidimensionale Schema besteht aus Zeilen und Spalten, denen Parameter zugeordnet werden, die unter „Ordnende Gesichtspunkte“ zusammengefasst sind. Abb. 10.10 zeigt den allgemeinen Aufbau von Ordnungsschemata, wenn für Zeilen und Spalten jeweils Parameter vorgesehen sind a) und für den anderen Fall, wenn Parameter nur für Zeilen zweckmäßig sind b), weil eine Ordnung für die Spalten nicht sichtbar wurde. Ist es zur Informationsdarstellung oder zum Erkennen möglicher Merkmalsverknüpfungen zweckmäßig, können die „Ordnenden Gesichtspunkte“ durch eine weitergehende Parameter- bzw. Merkmalsaufgliederung nach Abb. 10.11
282
K. Gericke et al.
Abb. 10.10 Allgemeiner Aufbau von Ordnungsschemata. (Nach Dreibholz 1975)
erweitert werden, was aber schnell zu einer Unübersichtlichkeit führt. Durch Zuordnen der Spaltenparameter zu den Zeilen lässt sich jedes Ordnungsschema mit Zeilen- und Spaltenparametern in ein Schema überführen, bei dem nur noch Zeilenparameter vorhanden sind und die Spalten eine Nummerierung erhalten, s. Abb. 10.12. Solche Ordnungsschemata sind beim Konstruktionsprozess recht vielfältig einsetzbar. So können sie als Lösungskataloge mit geordneter Speicherung von Lösungen je nach Art und Komplexität in allen Phasen zur Lösungssuche dienen. Zum Erarbeiten von Gesamtlösungen aus Teillösungen können sie als Kombinationshilfe eingesetzt werden (siehe Abschn. 10.3). Zwicky (1971) hat ein solches Hilfsmittel als „Morphologischen Kasten“ bezeichnet. Entscheidende Bedeutung kommt der Wahl der „Ordnenden Gesichtspunkte“ bzw. ihrer Parameter zu. Beim Aufstellen eines Ordnungsschemas geht man zweckmäßigerweise schrittweise vor:
10 Entwickeln von Wirkstrukturen
283
Abb. 10.11 Ordnungsschemata mit erweiterter Parameteraufgliederung. (Nach Dreibholz 1975)
• Zunächst wird man in die Zeilen Lösungsvorstellungen in ungeordneter Reihenfolge eintragen, • diese dann im zweiten Schritt nach kennzeichnenden Merkmalen analysieren, z. B. Energieart, Wirkgeometrie, Bewegungsart und dergleichen, und • schließlich im dritten Schritt nach solchen Merkmalen ordnen. Ist eine Analyse bekannter Lösungen oder eine Auswertung von Lösungsideen nach intuitiv betonten Methoden vorangegangen, lassen sich daraus Merkmale bzw. „Ordnende Gesichtspunkte“ für ein Ordnungsschema ebenfalls gewinnen. Dieses Vorgehen ist nicht nur zum Erkennen der Verträglichkeiten bei einer Kombination hilfreich, sondern regt vor allem an, ein möglichst reichhaltiges Lösungs-
284
K. Gericke et al.
Abb. 10.12 Modifiziertes Ordnungsschema. (Nach Dreibholz 1975)
feld zu erarbeiten. Dabei können die für technische Systeme in Abb. 10.13 und 10.14 zusammengestellten ordnenden Gesichtspunkte und Merkmale zur systematischen Lösungssuche und zur Variation eines Lösungsansatzes zweckmäßig sein. Sie beziehen sich auf Energiearten, physikalische Effekte und Erscheinungsformen, wie aber auch auf Merkmale der Wirkgeometrie, der Wirkbewegung und der prinzipiellen Stoffeigenschaften. Als einfaches Beispiel einer Lösungssuche für eine Teilfunktion diene Abb. 10.15, bei dem man durch Variation der Energieart zu unterschiedlichen Wirkprinzipien zur Erfüllung einer Funktion gekommen ist. In Abb. 10.16 ist ein Beispiel für die Variation nach den Wirkbewegungen dargestellt. Abb. 10.17 zeigt eine Variation der Wirkgeometrie bei der Verbindung von Wellen und Naben. Hierdurch kann die Lösungsvielfalt, die z. B. durch „Vorwärtsschreiten“ erreicht wird (vgl. Abschn. 3.3), geordnet und vervollständigt werden. Zusammenfassend können folgende Empfehlungen ausgesprochen werden: • Ordnungsschemata schrittweise aufbauen, korrigieren und weitgehend vervollständigen. Unverträglichkeiten beseitigen und nur lösungsträchtige Ansätze weiterverfolgen. Dabei analysieren, welche „Ordnenden Gesichtspunkte“ zur Lösungsfindung
10 Entwickeln von Wirkstrukturen
285
Abb. 10.13 Ordnende Gesichtspunkte und Merkmale zur Variation auf physikalischer Suchebene
beitragen, diese durch Parameter näher variieren, evtl. aber auch verallgemeinern oder einschränken, • mit Hilfe von Auswahlverfahren günstig erscheinende Lösungen aussuchen und kennzeichnen und • Ordnungsschemata möglichst allgemeingültig zur Wiederverwendung aufbauen, aber nicht Systematik um der Systematik willen betreiben.
10.2.4.3 Verwendung von Konstruktionskatalogen Konstruktionskataloge sind eine Sammlung bekannter und bewährter Lösungen für bestimmte konstruktive Aufgaben oder Teilfunktionen. Vor allem Roth (1996, 2000, 2001, 2002) mit seinen Mitarbeitern hat sich mit Konstruktionskatalogen beschäftigt. Er schlägt zum Erfüllen der genannten Forderungen einen grundsätzlichen Aufbau gemäß Abb. 10.18 vor. Der Gliederungsteil bestimmt den systematischen Aufbau des Katalogs. Entscheidende Bedeutung kommt auch hier den ordnenden Gesichtspunkten zu. Sie beeinflussen die Handhabbarkeit und den schnellen Zugriff. Sie richten sich nach dem Konkretisierungs-
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K. Gericke et al.
Abb. 10.14 Ordnende Gesichtspunkte und Merkmale zur Variation auf geometrischer und stofflicher Suchebene
10 Entwickeln von Wirkstrukturen
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Abb. 10.15 Unterschiedliche Wirkprinzipien zum Erfüllen der Funktion „Energie speichern“ bei Variation der Energieart
grad und der Komplexität der gespeicherten Lösungen sowie nach der Konstruktionsphase, für die der Katalog eingesetzt werden soll. Für die Konzeptphase ist es z. B. zweckmäßig, als Gliederungsgesichtspunkte die von den Lösungen zu erfüllenden Funktionen zu wählen, da die Konzepterarbeitung ja von den Teilfunktionen ausgeht. Diese Gliederungsmerkmale sollten die allgemein anwendbaren Funktionen sein, um die Lösungen möglichst produktunabhängig abrufen zu können. Weitere Gliederungsgesichtspunkte können z. B. Art und Merkmale von Energie (mechanische, elektrische, optische usw.), Stoff oder Signal, Wirkgeometrie, Wirkbewegung und prinzipielle Stoffeigenschaft sein. Bei Katalogen zur Entwurfsphase sind entsprechende Gliederungsgesichtspunkte zweckmäßig, z. B. Werkstoffeigenschaften, Schlussarten von Verbindungen, Schaltungsarten bei Kupplungen und Merkmale konkreter Maschinenelemente.
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K. Gericke et al.
Abb. 10.16 Möglichkeiten zum Beschichten von Teppichbahnen durch Kombination von Bewegungen der Teppichbahn (allg. Streifen) und der Auftragsvorrichtung
Abb. 10.17 Variation der Wirkgeometrie bei formschlüssigen Welle-Nabe-Verbindungen
10 Entwickeln von Wirkstrukturen
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Abb. 10.18 Grundsätzlicher Aufbau von Konstruktionskatalogen nach (Roth 2001)
Der Hauptteil enthält den eigentlichen Inhalt eines Konstruktionskatalogs. In ihm sind die Objekte dargestellt. Je nach Konkretisierungsgrad werden die Objekte als Strichskizze, mit oder ohne physikalische Gleichung, oder als mehr oder weniger vollständige Zeichnung bzw. Abbildung wiedergegeben. Die Art und Vollständigkeit der Darstellung richtet sich nach der Anwendungsphase. Wichtig ist, dass alle Informationen auf der gleichen Abstraktionsstufe stehen und von Nebensächlichkeiten befreit sind. Im Zugriffsteil sind die Eigenschaften der jeweiligen Objekte zusammengetragen. Nach ihnen kann im jeweiligen Einzelfall das geeignete Objekt ausgewählt werden. Ein Anhang ermöglicht die Angabe über Herkunft und von ergänzenden Anmerkungen. Die Auswahlmerkmale können unterschiedlichste Eigenschaften beinhalten wie z. B. charakteristische Abmessungen, Einfluss bzw. Auftreten bestimmter Störgrößen, Federungsverhalten, Zahl der Elemente und dergleichen. Sie dienen dem Konstrukteur zur Vorauswahl und Beurteilung von Lösungen und können bei IT-basierten Konstruktionskatalogen Kenngrößen für den Auswahl- und Bewertungsvorgang sein. Eine weitere wichtige Forderung zum Aufbau von Konstruktionskatalogen ist die Verwendung einheitlicher und eindeutiger Definitionen und Symbole zur Informationsdarstellung. Je konkreter und ins Einzelne gehend die gespeicherten Informationen sind, umso unmittelbarer, aber auch begrenzter ist der Konstruktionskatalog einsetzbar. Mit zunehmender Konkretisierung steigt die Vollständigkeit der Angaben über eine bestimmte Lösungsmöglichkeit, aber die Möglichkeit für ein vollständiges Lösungsspektrum fällt, da die Vielfalt der Details, z. B. bei den Gestaltungsvarianten, enorm wächst. So ist es möglich, die zur Erfüllung der Funktion „Leiten“ infrage kommenden physikalischen Effekte vollständig zusammenzustellen, es dürfte aber kaum möglich sein, eine Vollständigkeit aller Gestaltungsmöglichkeiten, z. B. von Lagerungen (Kraft vom rotierenden zum ruhenden System leiten), zu erreichen.
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K. Gericke et al.
Abb. 10.19 Katalog physikalischer Effekte unter Berücksichtigung von (Koller 1998; Krumhauer 1974) für die allgemein anwendbaren Funktionen „Energie wandeln“ und „Energiekomponente ändern“. Auch auf Signalfluss übertragbar
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Eine umfassende Übersicht existierender Konstruktionskataloge, die oben dargestelltem Aufbau und Anforderungen entsprechen, gibt Roth (2001). Abb. 10.19 zeigt für die allgemein anwendbaren Funktionen „Energie wandeln“ und „Energiekomponente ändern“ einen Katalog für physikalische Effekte unter Berücksichtigung von Koller (1998) und Krumhauer (1974). Für diese Funktionen können aus ihm nach den Gliederungsgesichtspunkten „Eingangs- und Ausgangsgröße“ in Frage kommende Effekte gefunden werden. Die zur Auswahl benötigten Merkmale müssen der Fachliteratur entnommen werden. Abb. 10.20 zeigt einen Ausschnitt aus einem Katalog für Welle-Nabe-Verbindungen nach Roth (1996, 2001, 2000). Im Gegensatz zum vorhergehenden Katalog sind hier die Lösungen bereits durch Angabe von Gestaltungsmerkmalen soweit konkretisiert, dass in der Entwurfsphase unmittelbar mit der Bemessung begonnen werden kann.
10.2.4.4 Theorie des erfinderischen Problemlösens TRIZ Die Theorie des erfinderischen Problemlösens (TRIZ, von russisch: Teorija Rezhenija Jzobretatelskich Zadach) wurde seit 1945 von Genrich Altschuller entwickelt und befasst sich mit der methodischen Entwicklung innovativer Ideen und Produkte (Klein 2002). Der Schwerpunkt der TRIZ liegt in der frühen Produktentwicklungsphase, in der nach einem neuen, innovativen Produkt gesucht wird. Hierbei wird sie für die Entwicklung allgemeiner technischer Systeme angewendet, insbesondere für die Entwicklung von Produkten und verfahrenstechnischen Prozessen. Hauptmerkmal der Problemlösung mit der TRIZ ist das Formulieren, Verstärken und Überwinden technischer und physikalischer Widersprüche in technischen Systemen. Im Gegensatz zu den gebräuchlichen Varianten des „Versuch-und-Irrtum“-Lösungsverfahrens, wie z. B. Brainstorming, berücksichtigt die TRIZ empirisch ermittelte Entwicklungsgesetze technischer Systeme und ermöglicht daher eine gezielte Suche nach Problemlösungen. Grundlage für diese Entwicklungsgesetzte bildete die Analyse von Patenten. Altschuller bearbeitete während seines Militärdienstes Patente und half bei der Anfertigung der Patentschriften. Da er der Überzeugung war, dass sich der Erfindungsprozess strukturieren und systematisieren ließe, begann Altschuller mit der Untersuchung von ca. 200.000 Patenten. Dabei kam er zu den folgenden Erkenntnissen, auf deren Grundlage Altschuller die Methoden und Werkzeuge der TRIZ entwickelte: • Abstrahierte Problemstellungen und deren Lösungen wiederholen sich in verschiedenen Wissenschaftszweigen und industriellen Anwendungsfällen, • die Evolution technischer Systeme verläuft immer nach ähnlichen Mustern und • jeder Erfindung liegt ein technischer oder physikalischer Widerspruch zugrunde, der überwunden wurde. Einordnung der TRIZ in die Allgemeine Konstruktionsmethodik Die Theorie des erfinderischen Problemlösens TRIZ legt ihren Schwerpunkt auf die frühen Phasen der
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Abb. 10.20 Ausschnitt aus einem Katalog für Welle-Nabe-Verbindungen nach Roth (2000, 2001, 1996)
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Produktentwicklung, dem Planen und Klären der Aufgabe sowie dem Konzipieren. Hierfür stellt sie Methoden und Werkzeuge bereit, die es ermöglichen, aus konventionellen Denkbahnen auszubrechen, um damit unkonventionelle, innovative Lösungen für Probleme zu generieren. Die TRIZ findet sich somit in dem Rahmenkonzept der Allgemeinen Konstruktionsmethodik wieder und ergänzt diese besonders um die Aspekte der widerspruchsorientierten Problemlösung und die Nutzung von Wissensspeichern, die aus umfangreichen Patentanalysen gewonnen wurden. Methoden und Werkzeuge der TRIZ Die Methoden und Werkzeuge der TRIZ werden in die Kategorien Systematik, Wissen, Analogie und Vision unterteilt (Herb et al. 2000). Abb. 10.21 zeigt diese vier grundlegenden Bereiche und die ihnen zugeordneten Methoden. Der Bereich der Systematik enthält Methoden zur vollständigen Beschreibung der Aufgabenstellung und Werkzeuge zur Analyse und Synthese von Problemen und deren Lösungen. Der Wissensbereich betrachtet Effektkataloge und die Möglichkeiten der Internet- und Patentrecherche. Im Bereich der Analogie sind sowohl der Konflikt als auch der Widerspruch zwischen zwei physikalischen Parametern beheimatet. Die Überwindung dieser Probleme mithilfe der sog. Widerspruchsmatrix führen zu einer innovativen Lösung. Der Bereich der Vision betrachtet die Entwicklung einer Technologie und gibt anhand von Evolutionsgesetzen für technische Systeme Hinweise, wie diese sich weiterentwickeln wird.
Abb. 10.21 Die vier Säulen der TRIZ (Herb et al. 2000)
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Um die Anwendung der TRIZ zu erleichtern und zu strukturieren, wurde der sog. Algorithmus des erfinderischen Problemlösens (ARIZ) geschaffen. Dieser Algorithmus ordnet die Methoden und Werkzeuge der TRIZ und bietet somit eine Handlungsanweisung zur erfinderischen Problemlösung. Aufgrund der Vielzahl an technischen Problemen haben sich zahlreiche unterschiedliche Versionen des ARIZ herausgebildet, auf deren Darstellung an dieser Stelle verzichtet werden soll. Für eine genauere Betrachtung des ARIZ sei die einschlägige Literatur empfohlen (Altschuller 1998; Herb et al. 2000; Klein 2002; Orloff 2002). Systematik Die Innovationscheckliste dient der systematischen Analyse eines Problems. Sie soll es ermöglichen, alle wesentlichen Informationen über eine Aufgabe zu sammeln und durch gezielte Fragestellungen ein klares Verständnis für die Aufgabe zu gewinnen. Hierbei wird eine präzise Beschreibung des betreffenden Systems, dessen Umfeld, der angestrebten Ziele und der hinter dem Problem steckenden Historie angestrebt. Die Fragestellungen der Innovationscheckliste sind in Abb. 10.22 aufgeführt. Die Ressourcencheckliste dient dazu, alle für die Lösungsfindung zur Verfügung stehenden Ressourcen aufzudecken. Ressourcen können Stoffe, Felder, Zeit u. a. sein. Ziel ist es, diese Ressourcen zur Lösungsfindung zu nutzen und nicht neue Objekte in den Entwicklungsprozess einzubringen. Hiermit wird auch die Verwirklichung der Idealität des Produkts angestrebt.
Abb. 10.22 Innovationscheckliste. (Nach Herb et al. 2000)
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Die Idealität soll den Blick auf die ideale, perfekte Lösung des Problems lenken. Nach Altschuller (1998) ist die ideale Maschine eine solche, die ohne zu existieren ihre Funktion erfüllt. Als praktische Umsetzung der Idealität wird versucht, „schädliche“ und Hilfsfunktionen zugunsten der Hauptfunktion zu beseitigen. Als psychologische Hilfstechniken zur Überwindung von Denkbarrieren stellt die TRIZ Methoden bereit, wie den Operator MZK (Maß-Zeit-Kosten, auch GZK: GrößeZeit-Kosten) oder das Modellieren mit „kleinen Männchen“, auch Zwergemodellierung genannt. Beim Operator MZK werden die Parameter der Maße, der Zeit und der Kosten bei einem absoluten Minimum und einem absoluten Maximum betrachtet. Ziel ist es, herauszufinden, wie sich das technische System unter diesen Extremen verhält und welche Schlüsse daraus für die Lösungsfindung gezogen werden können. Bei der Zwergemodellierung wird das technische System aufgelöst und durch eine Vielzahl „kleiner Männchen“ ersetzt, die die Aufgabe zu erfüllen haben. Auch hier geht es darum, neue Lösungsansätze zu generieren. Die Problemformulierung entspricht einer Funktionsstruktur, wobei diese nicht flussorientiert ist, wie in der Konstruktionsmethodik. Aufbauend auf der Innovationscheckliste dient sie der weiteren Analyse und Präzisierung des Problems. Die Problemformulierung wird mit der Primär Nützlichen Funktion (PNF), vgl. Zweck bzw. Hauptfunktion, und der Primär Schädlichen Funktion (PSF) begonnen. Die PNF drückt den Zweck des technischen Systems aus, dem die PSF entgegensteht. Durch die sukzessive Erweiterung zu einem Ursache-Wirkung-Diagramm wird versucht zu klären, wie die PSF auf die PNF einwirkt. Daraus können dann Ansätze zur Lösung des Problems abgeleitet werden, z. B. mithilfe der Widerspruchsmatrix. Die Objektformulierung betrachtet die bestehenden Teile eines technischen Systems und dient der Visualisierung aller Wirkungen eines Teils auf die anderen. Gehen von einem Teil besonders viele negative Wirkungen aus, kann geprüft werden, ob dieses Teil nicht modifiziert oder entfernt werden kann. Diese Vorgehensweise, auch „Trimming“ genannt, soll ein bestehendes System hinsichtlich seiner Funktionen und Kosten optimieren. Wissen Neben den methodischen Werkzeugen des Bereichs Systematik beinhaltet die TRIZ Effektkataloge für physikalische, chemische und geometrische Effekte. Aufgrund des Umfangs der Datenbanken sind diese meist in kommerzieller Software zur Anwendung der TRIZ enthalten. Innerhalb der TRIZ werden insbesondere die Internetund Patentrecherche als Informationsquellen herausgestellt. Es wird davon ausgegangen, dass für die meisten Probleme bereits Lösungen erarbeitet wurden. Statt mit hohem Ressourcenaufwand eigene Lösungen zu entwickeln, können diese Lösungen genutzt werden. In der Patentliteratur finden sich Herb zufolge über 90 % an ungeschützten Patenten, weil sie nicht rechtbeständig sind, zurückgezogen wurden oder deren Schutz abgelaufen ist (Herb et al. 2000). Analogie Den Kern der TRIZ stellen die 40 Innovativen Grundprinzipien (IGP) zum Überwinden technischer Widersprüche dar. Altschuller fand bei seinen Patentrecherchen 39 Parameter, die ein technisches System und somit dessen Widersprüche beschreiben
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Abb. 10.23 Technische Parameter. (Nach Altschuller 1998)
Abb. 10.24 Innovative Grundprinzipien (IGP). (Nach Altschuller 1998)
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können (s. Abb. 10.23). Ein technischer Widerspruch wird durch einen zu verbessernden Parameter beschrieben und einen Parameter, der sich gleichzeitig verschlechtert. Zur Überwindung von technischen Widersprüchen können die 40 Innovativen Grundprinzipien verwendet werden (s. Abb. 10.24). Aufgrund seiner empirischen Untersuchungen konnte Altschuller eine Matrix aufstellen, die den technischen Parametern, die im Widerspruch zueinander stehen, bis zu vier Grundprinzipien zuordnet, mit denen dieser Widerspruch in der Vergangenheit bereits erfolgreich gelöst wurde (s. Abb. 10.25). Die vollständige Widerspruchsmatrix ist der Literatur zu entnehmen (Altschuller 1998; Herb et al. 2000; Klein 2002; Orloff 2002). Darüber hinaus sind im Internet Datenbanken vorhanden, über die eine schnelle und komfortable Suche nach den entsprechenden Innovationsprinzipien möglich ist. Neben den technischen Widersprüchen gibt es solche, die so grundsätzlich sind, dass sie mit der Widerspruchsmatrix nicht gelöst werden können. Diese Widersprüche werden auch als Konflikt oder physikalische Widersprüche bezeichnet. Hierbei geht es z. B. um Situationen, in denen ein Körper gleichzeitig heiß und kalt sein soll, um seine Funktion zu erfüllen. Um einen Konflikt zu lösen, gibt es die vier Separationsprinzipien: • Separation im Raum: Die zu verwirklichenden Anforderungen oder Funktionen werden auf verschiedene Orte oder Teile des technischen Systems verteilt, sodass sie nicht am gleichen Ort, bzw. Raum, wirken. • Separation in der Zeit: Die zu verwirklichenden Anforderungen oder Funktionen werden zu unterschiedlichen Zeitpunkten verwirklicht.
Abb. 10.25 Auszug aus der Widerspruchsmatrix. (Nach Altschuller 1998)
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• Separation innerhalb eines Objekts und seiner Teile: Die zu verwirklichenden Anforderungen oder Funktionen werden auf verschiedene Teile des technischen Systems aufgeteilt. • Separation durch Bedingungswechsel: Die Randbedingungen, unter denen die Anforderungen oder Funktionen verwirklicht werden sollen, müssen so geändert werden, dass die Realisierung möglich ist. Dem Stoff-Feld-Modell liegt die Vorstellung zu Grunde, dass jedes technische System aus mindestens zwei Stoffen (z. B. Werkstück und Werkzeug) und einem Feld (z. B. Gravitation) besteht. Durch das Aufstellen der Stoff-Feld-Komponenten eines technischen Systems und deren Analyse können Probleme aufgedeckt und Lösungsmöglichkeiten gefunden werden. Diese Lösungsmöglichkeiten bestehen aus insgesamt 76 sog. Standards, die immer wiederkehrende Lösungsstrategien für ähnliche Problemfälle darstellen. Vision Um neue Marktpotenziale aufzudecken, bietet die TRIZ verschiedene Werkzeuge an, die unter den Evolutionsgesetzen technischer Systeme zusammengefasst sind. Altschuller stellte hierfür acht Grundmuster der technischen Evolution auf, die dazu dienen, die generelle technische Entwicklung und die Entwicklung bestimmter Produkte abzuschätzen. Diese Grundmuster sind: • Technische Systeme durchlaufen einen Lebenszyklus, der gemäß einer S-Kurve durch die Phasen Kindheit, Wachstum, Reife und Sättigung abgebildet werden kann, • technische Systeme entwickeln sich in Richtung zunehmender Idealität, d. h., nützliche Funktionen nehmen zu und schädliche Funktionen ab, • die Teile eines technischen Systems entwickeln sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, sodass jedes Teil eine eigene S-Kurve besitzt. Die potenzielle Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems wird durch den Teil begrenzt, der als erstes die Reifephase überschreitet, • technische Systeme entwickeln sich in Richtung größerer Flexibilität und Regelbarkeit, • technische Systeme werden zunächst komplexer, um dann genial einfach zu werden, • Teile technischer Systeme entwickeln sich unter gezielter Übereinstimmung oder gezielter Nichtübereinstimmung, um die Leistung des Gesamtsystems zu verbessern, • technische Systeme entwickeln sich in Richtung zunehmender Miniaturisierung und nutzen zunehmend Felder (z. B. elektrische oder magnetische) und • technische Systeme benötigen immer weniger Interaktion mit dem Menschen und agieren zunehmend autonom. Ein sehr wichtiges Evolutionsprinzip ist der Lebenszyklus eines technischen Systems, der in Form einer S-Kurve dargestellt werden kann. Der Lebenszyklus wird in die Phasen der Kindheit, des Wachstums, der Reife und der Sättigung unterteilt. Durch die Analyse charakteristischer Merkmale eines technischen Systems kann dessen entsprechende aktuelle Lebensphase identifiziert werden. Auf dieser Grundlage wird die
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Abb. 10.26 Der Lebenszyklus eines technischen Systems (Herb et al. 2000)
Entscheidung getroffen, ob das System weiterentwickelt werden soll, oder ob die eingesetzte Technologie ausgereizt ist und durch eine neue ersetzt werden muss. Als charakteristische Merkmale eines technischen Systems werden die Leistungsfähigkeit, die Anzahl der Erfindungen, das Niveau der Erfindungen und der Profit betrachtet (s. Abb. 10.26). Die Leistungsfähigkeit kann z. B. durch die Höchstgeschwindigkeit eines Automobils definiert werden. Die Anzahl der Erfindungen gibt wieder, wie dynamisch die Entwicklung einer Technologie während der Lebensphasen verläuft. Das Niveau der Erfindungen gibt an, ob die angemeldeten Patente Meilensteine in der Technologieentwicklung darstellen oder ob es sich nur um kleine Veränderungen der Technologie handelt. Der Profit schließlich bildet den Gewinn ab, der über die Lebensdauer des Produkts erzielt wurde. Diese vier Merkmale werden übereinander aufgetragen und erlauben damit die Identifikation der entsprechenden Produktlebensphase.
10.3 Kombinieren von Wirkprinzipien zu einer Wirkstruktur Zum Erfüllen der in der Aufgabenstellung geforderten Gesamtfunktion müssen nun aus dem Feld der Lösungen (Wirkprinzipien) Gesamtlösungen zu einer Wirkstruktur kombiniert werden (Systemsynthese). Dieser Arbeitsschritt kann durch spezielle Methoden zur Synthese unterstützt werden. Grundsätzlich sollen diese Methoden eine
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anschauliche und eindeutige Kombination von Wirkprinzipien unter Berücksichtigung der begleitenden physikalischen Größen und der betreffenden geometrischen und stofflichen Merkmale gestatten. Grundlage für einen solchen Verknüpfungsprozess ist die aufgestellte Funktionsstruktur, die die in logischer und/oder physikalischer Hinsicht mögliche bzw. zweckmäßige Reihenfolge und Schaltung der Teilfunktionen angibt. Hauptproblem der Kombinationsschritte ist das Erkennen von physikalischen Verträglichkeiten zwischen den zu verbindenden Wirkprinzipien zum Erreichen eines störungsfreien Energie-, Stoff- und/oder Signalflusses sowie von Kollisionsfreiheit in geometrischer Hinsicht. Ein weiteres Problem liegt bei der Auswahl technisch und wirtschaftlich günstiger Kombinationen aus dem Feld theoretisch möglicher Kombinationen. Die Kombination mithilfe mathematischer Methoden ist nur bei Wirkprinzipien möglich, deren Eigenschaften mit quantitativen Kenngrößen beschreibbar sind, was aber in der Konzeptphase selten der Fall ist. Beispiele hierfür sind Variantenkonstruktionen und Schaltungen, z. B. mit elektronischen oder hydraulischen Komponenten.
10.3.1 Systematische Kombination Zur systematischen Kombination eignet sich in besonderem Maße das von Zwicky (1971) als morphologischer Kasten bezeichnete Ordnungsschema entsprechend Abb. 10.27, wo in den Zeilen Teilfunktionen, in der Regel nur die Hauptfunktionen, und die dazugehörigen Lösungen (z. B. Wirkprinzipien) eingetragen sind. Will man dieses Schema zum Erarbeiten von Gesamtlösungen heranziehen, so wird für jede Teilfunktion eine Lösung aus dieser Zeile ausgewählt und alle Teillösungen zu einer Gesamtlösung untereinander verknüpft. Stehen m1 Lösungen für die Teilfunktion
Abb. 10.27 Kombination von Teillösungen (Einzellösungen) zu Gesamtlösungen (Prinzipkombinationen)
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F1, m2 für die Teilfunktion F2 usw. zur Verfügung, so erhält man nach einer vollständigen Kombination
N = m1 · m2 · m3 . . . mn =
n
mi
i=1
theoretisch mögliche Gesamtlösungsvarianten. Hauptproblem dieser Kombinationsmethode ist die Entscheidung, welche Lösungen miteinander verträglich und kollisionsfrei, d. h. wirklich kombinierbar sind. Das theoretisch mögliche Lösungsfeld muss also auf ein realisierbares Lösungsfeld eingeschränkt werden. Das Erkennen von Verträglichkeiten zwischen den zu verknüpfenden Teillösungen wird erleichtert, wenn • die Teilfunktionen der Kopfspalte in der Reihenfolge aufgeführt werden, in der sie auch in der Funktionsstruktur bzw. Funktionskette stehen, gegebenenfalls getrennt nach Energie-, Stoff- und Signalfluss, • die Lösungen durch zusätzliche Spaltenparameter, z. B. die Energieart, zweckmäßig geordnet werden, • die Lösungen nicht nur verbal, sondern in Prinzipskizzen dargestellt werden und • für die Lösungen die wichtigsten Merkmale und Eigenschaften mit eingetragen werden. Die Beurteilung von Verträglichkeiten wird durch Aufstellen von Ordnungsschemata erleichtert. Ordnet man zwei zu verknüpfende Teilfunktionen, beispielsweise „Energie wandeln“ und „mechanische Energiekomponente ändern“, in die Kopfspalte und Kopfzeile einer Matrix und schreibt die kennzeichnenden Merkmale in ihre Felder, so kann man die Verträglichkeit der Teillösungen untereinander leichter überprüfen, als wenn solche Überlegungen nur im Kopf des Konstrukteurs vorgenommen werden müssten. Abb. 10.28 zeigt eine solche Verträglichkeitsmatrix. Zusammenfassend ergeben sich folgende Hinweise: • nur Verträgliches miteinander kombinieren, • nur weiterverfolgen, was die Forderungen der Anforderungsliste erfüllt und zulässigen Aufwand erwarten lässt (vgl. Auswahlverfahren in Kap. 11), • günstig erscheinende Kombinationen herausheben und analysieren, warum diese im Vergleich zu den anderen weiterverfolgt werden sollen. Abschließend sei betont, dass es sich hier um eine allgemein anwendbare Methode des Kombinierens von Teillösungen zu Gesamtlösungen handelt. Sie kann sowohl zur Kombination von Wirkprinzipien in der Konzeptphase als auch von Teillösungen in der Entwurfsphase oder bereits von stark konkretisierten Bauteilen oder Baugruppen
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K. Gericke et al.
Abb. 10.28 Verträglichkeitsmatrix für Kombinationsmöglichkeiten der Teilfunktion „Energie wandeln“ und „mechanische Energiekomponente ändern“ nach (Dreibholz 1975)
angewendet werden. Da sie im Kern Informationen verarbeitet, ist sie nicht nur auf technische Probleme beschränkt.
10.3.2 Kombinieren mithlife mathematischer Methoden Den Einsatz von mathematischen, software-basierten Methoden zur Kombination von Lösungen wird man nur dann anstreben, wenn klare Vorteile aus diesem Vorgehen erkennbar sind. So sind Eigenschaften von Wirkprinzipien bei dem niedrigen Konkretisierungsgrad der Konzeptphase oft nur so unvollständig und ungenau bekannt, dass eine quantitative Bearbeitung, d. h. eine mathematische Kombination mit gleichzeitiger Optimierung, nicht durchführbar ist oder sogar zu falschen Ergebnissen führt. Ausgenommen sind hier Kombinationen bekannter Elemente und Baugruppen, wie sie z. B. bei Variantenkonstruktionen oder in Schaltungen vorkommen. Mathematische Elementverknüpfungen können bei Vorliegen rein logischer Funktionen durch Anwenden der Booleschen Algebra durchgeführt werden (Föllinger und Weber 1967; Rodenacker 1991), z. B. für das Verhalten von Sicherheitsschaltungen und für Schaltungsoptimierungen der Elektrotechnik oder Hydraulik. Grundsätzlich müssen zur Kombination von Teillösungen zu Gesamtlösungen mithilfe mathematischer Methoden diejenigen Merkmale bzw. Eigenschaften der Teil-
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lösungen bekannt sein, die mit entsprechenden Eigenschaften der zu verknüpfenden Nachbarlösung korrespondieren sollen. Dabei ist es notwendig, dass die Eigenschaften eindeutig und in Form von quantifizierbaren Größen vorliegen. Zur Bildung auch von prinzipiellen Lösungen (z. B. Wirkstruktur) reichen Angaben über physikalische Beziehungen oft nicht aus, da auch geometrische Verhältnisse einschränkend wirken können und damit unter Umständen die Verträglichkeit ausschließen. Eine Zuordnung zwischen physikalischer Gleichung und geometrischer Struktur wird dann notwendig. Solche Zuordnungen lassen sich in der Regel nur für physikalische Vorgänge und geometrische Strukturen niedriger Komplexität modellieren und speichern. Für physikalische Vorgänge höherer Komplexität werden solche Zuordnungen dagegen oft mehrdeutig, sodass doch wieder der Konstrukteur zwischen Varianten entscheiden muss. Insofern bieten sich hier Dialogsysteme an, bei denen ein Kombinationsprozess aus mathematischen und kreativen Teilschritten besteht. Hieraus wird einsichtig, dass es mit zunehmender stofflicher Verwirklichung einer Lösung einerseits einfacher wird, quantitative Verknüpfungsregeln aufzustellen, andererseits steigt die Zahl der sich gegenseitig beeinflussenden Eigenschaften und mit ihnen die Zahl der Verträglichkeitsbedingungen sowie oft auch die der Optimierungskriterien, sodass der numerische Aufwand sehr hoch wird. Da bei einem Kombinieren mithilfe mathematischer Methoden der Rechnereinsatz notwendig ist, wird auf entsprechende Möglichkeiten in Kap. 25 hingewiesen.
10.4 Praxis der Wirkstruktur Das Entwickeln von Wirkstrukturen gilt bei Neukonstruktionen als einer der wichtigsten Hauptarbeitsschritte, bei der die Kreativität des Konstrukteurs am meisten gefordert wird. Diese Kreativität wird durch denkpsychologische Prozesse zum Problemlösen, durch die Verfolgung einer allgemeinen Arbeitsmethodik sowie durch die allgemein einsetzbaren Lösungs- und Beurteilungsmethoden in besonderer Weise geprägt und beeinflusst. Entsprechend ist das Vorgehen gerade in diesem Abschnitt sehr unterschiedlich und abhängig vom Neuheitsgrad der Aufgabe bzw. dem Anteil von zu lösenden Problemen, von der Mentalität und den Fähigkeiten bzw. Erfahrungen des Konstrukteurs sowie von Vorfixierungen durch die Produktplanung oder durch den Kunden. Das zuvor beschriebene Vorgehen kann deshalb nur eine Leitlinie für zweckmäßiges, schrittweises Arbeiten sein, dessen tatsächliche Durchführung recht unterschiedlich sein kann: Bei Neuentwicklungen ohne Vorbilder sollte immer mit der Lösungssuche für diejenige Hauptfunktion begonnen werden, die offenbar für die Gesamtfunktion lösungsbestimmend ist (siehe Kap. 9). Für die lösungsbestimmende Hauptfunktion wird man dann erste grobe Vorstellungen über infrage kommende physikalische Effekte oder schon Wirkprinzipien durch intuitiv betonte Methoden, durch Literatur- und Patentrecherchen oder aus früheren Entwicklungen aufbauen. Diese Lösung oder Lösungen wird man anschließend hinsichtlich ihres Funktionszusammenhangs analysieren, um auf weitere
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wichtige Teilfunktionen zu kommen, für die dann auch Effekte oder Wirkprinzipien zu suchen sind. Diese Wirkprinzipien sollten dann nur noch auf das für die lösungsbestimmende Hauptfunktion gefundene, aussichtsreiche Wirkprinzip angepasst gesucht werden. Eine gleichzeitige, unabhängige Suche nach allen Wirkprinzipien für alle Teilfunktionen ist dagegen im Allgemeinen zu aufwendig und umfasst oft Wirkprinzipien, die dann doch nicht in ihrer Kombination infrage kommen. Es empfiehlt sich, auf einer weniger konkreten Ebene zuerst die aussichtsreichsten Lösungsprinzipien (etwa bis maximal 6) zu suchen und dann ausgehend von einer aussichtsreichen Variante auf einer konkreteren Ebene stärker zu konkretisieren und dort wiederum aussichtsreichere Varianten zu erkennen. Eine zu große Variantenvielfalt in einem Schritt zur Lösungssuche kostet zu viel Arbeitsaufwand für Varianten, die dann doch nicht in Betracht kommen (siehe Abschn. 3.2). Eine wichtige Strategie zum Aufstellen von Lösungsfeldern ist daher die systematische Variation von als wesentlich erkannten physikalischen und geometrischstofflichen Merkmalen der gefundenen Erstlösungen. Die dazu hilfreichen Ordnungsschemata werden meistens nicht auf Anhieb optimal aufgestellt, sondern erst nach mehreren Ansätzen unter Variation bzw. Korrektur (Einschränkung oder Ausweitung) der „Ordnenden Gesichtspunkte“. Etwas Erfahrung ist hierbei unerlässlich. Bei Vorliegen schon konkreter Produktideen mit ersten Lösungsansätzen aus einer Produktplanung oder Ideensammlung wird man diese auf ihre wesentlichen, lösungsbestimmenden Merkmale hin untersuchen, um dann mit deren systematischer Variation und Kombination schnell zu einem Lösungsfeld zu kommen. Bei Weiterentwicklungen wird man die bereits bekannten Wirkprinzipien und Wirkstrukturen überprüfen, ob sie noch dem technischen Erkenntnisstand oder sich verändernden Zielsetzungen genügen. Bei stärker intuitiv betontem Vorgehen und bei Vorliegen großer Erfahrungen werden häufiger gleich Wirkstrukturen zur Erfüllung der Gesamtfunktion gefunden, ohne erst eine getrennte Lösungssuche für die Teilfunktionen (Wirkprinzipien) vorzunehmen. Insbesondere das schrittweise Erarbeiten von Wirkprinzipien über das Suchen physikalischer Effekte und anschließende Realisieren mit geometrisch stofflichen Festlegungen wird oft gedanklich integriert mit Lösungsskizzen durchgeführt, da der Konstrukteur mehr in Anordnungen und prinzipiellen Darstellungen denkt als in physikalischen Gleichungen. Über intuitiv betonte und diskursiv-systematische Methoden werden, in der Regel schnell umfangreiche Lösungsfelder gefunden. Diese sollten bereits beim Entstehen auf verfolgungswürdige Wirkprinzipien durch Beachten der Forderungen aus der Anforderungsliste reduziert werden, um den weiteren Konkretisierungsaufwand in Grenzen zu halten. Oft können die Eigenschaften von prinzipiellen Lösungen, insbesondere deren Fertigungskonsequenzen und Kosten, noch nicht mit quantitativen Kenngrößen beurteilt werden. Daher sollte bei Vorliegen aussichtsreicher Wirkprinzipien die Auswahl durch interdisziplinäre Diskussion erfolgen (z. B. in einem Team unterschiedlicher Fach-
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zusammensetzung), um die qualitativen Auswahlentscheidungen auf breiten Erfahrungen abzustützen.
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Auswahl- und Bewertungsmethoden
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Sandro Wartzack
Im Lösungsfindungsprozess wird eine große Anzahl möglicher Lösungen erarbeitet. Damit wird der Lösungsraum erweitert. Bei der Bewertung hingegen wird eine Fokussierung auf eine oder einige wenige Alternativen herbeigeführt. Entscheidungen über die zu verfolgenden Alternativen, die eine zentrale Bedeutung im Hinblick auf den Fortschritt im Produktentwicklungsprozess einnehmen, müssen systematisch und nachvollziehbar getroffen werden. Entscheidungsaufgaben weisen nach Bauer (2010); Sen und Yang (1998) folgende Charakteristika auf: • Es existiert eine Reihe möglicher Handlungsalternativen bzw. Lösungsalternativen, • jede Handlungsalternative ist durch eine Reihe von Konsequenzen charakterisiert, von denen einige vorteilhaft bzw. erwünscht sind, andere jedoch nachteilig bzw. unerwünscht. • Aufgabe des Entscheiders ist es, vor der Auswahl einer oder mehrerer Alternativen deren vorteilhafte und nachteilige Konsequenzen abzuwägen. Dies erfolgt mittels Anwendung bestimmter Vorgehensweisen zur Bestimmung bzw. Kommunikation von Präferenzen. Diese Charakteristika prägen den Prozess der Entscheidungsfindung: Es muss also zunächst die Synthese einer Reihe konkurrierender Lösungskonzepte bzw. Lösungsentwürfe erfolgen, der sich eine Auswahl bevorzugter Varianten anschließt (Sen 2001). Auswahl- und Bewertungsmethoden unterstützen diesen Prozess.
S. Wartzack (*) Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_11
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S. Wartzack
Aufbauend auf einer allgemeingültigen Vorgehensweise zur Bewertung technischer Systeme werden im Folgenden für die Entscheidungsfindung relevante Aspekte beleuchtet: Bewertungsverfahren verschiedenster Komplexität und für unterschiedlichste Entscheidungsaufgaben, Rechnerunterstützung sowie die Betrachtung von Bewertungsunsicherheiten. Dem Leser soll somit ein strukturierter Einstieg in die Entscheidungsfindung unter dem Einsatz von Bewertungsverfahren ermöglicht werden. Zweck und Zielsetzung von Bewertungsverfahren Zweck und Zielsetzung von Bewertungsverfahren ist es, eine Unterstützung für die Entscheidungsfindung bei einer Auswahl aus mehreren potenziellen Varianten oder Lösungsmöglichkeiten zu geben. Dazu müssen Bewertungsverfahren den Entscheider in die Lage versetzen, diejenigen Risiken, die bestimmte Lösungsmöglichkeiten mit sich bringen, frühzeitig zu erkennen, um ggf. geeignete Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Ein weiterer Grund für den Einsatz von Bewertungsverfahren ist die Forderung nach einer späteren Nachvollziehbarkeit der getroffenen Entscheidung: Diese wird durch geeignete Bewertungsverfahren gewährleistet, indem objektive Beurteilungen der Situation gemeinsam mit den zu erwartenden Konsequenzen der einzelnen Handlungsalternativen festgehalten werden. Wichtig ist dabei zu erwähnen, dass eine Anwendung von Bewertungsverfahren in den verschiedensten Phasen des Produktentwicklungsprozesses möglich und nötig ist: In der Planungsphase stellen sich den Entwicklern z. B. Bewertungsaufgaben hinsichtlich der grundsätzlichen Ausrichtung und Positionierung des zu entwickelnden Produktes, während in der Konzeptfindung eher die vergleichende Bewertung mehrerer Konzepte bzw. Entwürfe und eine anschließende Auswahl der besten Lösung im Fokus stehen. Daher gibt es eine Vielzahl an Bewertungsverfahren, die auf bestimmte Anwendungen maßgeschneidert sind und somit für den Einsatz zu bestimmten Zeitpunkten im Entwicklungsprozess prädestiniert sind. Unterschieden werden dabei – in Analogie zur Auswahl von Berechnungsverfahren nach Mertens (1998); N. N. (2003) – einfache (C-), aufwendige (B-) und komplexe (A-) Verfahren, die sich hinsichtlich ihrer Eignung für die verschiedenen Entscheidungsaufgaben und des Zeitaufwands erheblich unterscheiden. Der Einsatz bestimmter Bewertungsverfahren ist jedoch nicht immer auf einen bestimmten Abschnitt des Entwicklungsprozesses begrenzt: Wird ein bestimmter Indikator, der Aufschluss über die Ausprägung einer bestimmten Produkteigenschaft gibt, über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder mit demselben Bewertungsverfahren gemessen, so kann dadurch ein Monitoring der zeitlichen Entwicklung dieses Kennwertes über den Verlauf des Produktentwicklungsprozesses hinweg erreicht werden. Auch wenn der Fokus im Folgenden mehr auf der Bewertung mehrerer Lösungsvarianten zur anschließenden Auswahl der besten Variante liegen soll, erlauben Bewertungsverfahren damit auch die Überwachung des Produktreifegrads über die Projektlaufzeit hinweg. Weiterhin sei darauf hingewiesen, dass im Folgenden der Fokus auf Bewertungsverfahren und dem zugehörigen Vorgehen und nicht auf Systemanalyseverfahren, wie z. B. der Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse (FMEA), liegt.
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Allgemeine Vorgehensweise bei der Bewertung und Überblick Eine Bewertung soll den Wert bzw. Nutzen oder die Stärken/Schwächen einer Lösung bzw. eines Produktes in Bezug auf das vorher definierte Zielsystem ermitteln. Somit stellt eine Bewertung nach DIN EN ISO 9000 ff. eine „Tätigkeit zur Ermittlung der Eignung, Angemessenheit und Wirksamkeit der Betrachtungseinheit, festgelegte Ziele zu erreichen“ dar (DIN EN ISO 9000 2005). Dieses Zielsystem repräsentiert Anforderungen an das Produkt sowie allgemeine Rahmenbedingungen, unter denen das Produkt entwickelt und eingesetzt werden soll. Um die Eignung einer Lösung bezüglich des erstellten Zielsystems zu bewerten, sind dabei „für eine endliche Menge von Lösungen beliebiger Art aus beliebigen Fachgebieten und in beliebigen Reifegraden jedoch gleichen Informationsgehaltes“ gemeinsame Bewertungskriterien aufzustellen, diese mit einheitlich erfassbaren und vergleichbaren Werten zu versehen (Wertungszahlen) und deren Summen (Wertigkeiten) als Wertvergleich gegenüberzustellen (Breiing und Knosala 1997). So kann durch den höchsten Wert die beste und durch den niedrigsten Wert die schlechteste Lösung ermittelt werden. Zur Durchführung dieser Tätigkeitsschritte sind Verfahren notwendig, die eine umfassende Bewertung komplexer Produkte erlauben. Um in den unterschiedlichen Phasen des Produktentwicklungsprozesses einsetzbar zu sein, müssen diese Verfahren nicht nur quantitativ vorliegende Eigenschaften der Varianten (z. B. Verformung unter Last) verarbeiten können, sondern auch qualitative Eigenschaften (z. B. ästhetisches Erscheinungsbild), wie sie beispielsweise in der frühen Konzeptphase mit dem entsprechend geringen Konkretisierungsgrad vorhanden sind. Dabei folgen diese Methoden nach Breiing und Knosala alle einem prinzipiell ähnlichem Ablauf (s. Abb. 11.1: (Adunka 2003)).
Abb. 11.1 Generischer Ablauf einer Bewertung (Adunka 2003)
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S. Wartzack
Vor allem bei Bewertungsverfahren, welche auf rein subjektiven Abschätzungen beruhen, ist eine Bewertergruppe unerlässlich. Um die Subjektivität weitgehend zu eliminieren, sollte die Gruppe aus mehreren Personen bestehen, die aus unterschiedlichen Konstruktions- und Betriebsbereichen kommen, um ein weitgefächertes und interdisziplinäres Meinungs- und Expertenbild zu gewährleisten. Anschließend müssen die Lösungsalternativen auf ein vergleichbares Niveau gebracht werden, um einer Fehlbewertung aufgrund eines unterschiedlichen Detaillierungsgrades entgegenzuwirken. Als Umsetzung der Anforderungen bei einer Bewertung dienen Bewertungskriterien, die quantitative oder qualitative Größen darstellen und objektiv oder subjektiv ermittelt bzw. gemessen und beurteilt werden können. Bei dieser Spezifikation kann zwischen einem Top-down- und einem Bottom-up-Vorgehen unterschieden werden. Während bei der Top-down-Zielableitung Anforderungen auf Gesamtproduktebene im Laufe der Entwicklung zu Bewertungskriterien detailliert werden, werden bei einem Bottomup-Vorgehen die Bewertungskriterien aus der Komponentensicht heraus definiert. Bei der Definition der Bewertungskriterien gilt es außerdem, alle Anforderungen, die das Produkt während seines Produktlebenszyklus erfüllen muss, zu berücksichtigen. Weiterhin sollten die Bewertungskriterien folgende Voraussetzungen weitgehend erfüllen (Breiing und Knosala 1997; Maletz 2008; Bachmann 2007): 1. Bewertungskriterien müssen gleicher Natur sein, d. h. K.O.-Kriterien dürfen nicht mit unkritischeren Aspekten gemischt werden. 2. Es dürfen nur Kriterien aufgestellt werden, die für alle Varianten gültig sind. 3. Kriterien müssen frei von Dopplungen und Gleichläufigkeit sein. 4. Kriterien müssen frei von Widersprüchen sein. 5. Kriterien müssen auf Gegenläufigkeit geprüft sein. 6. Mehrere Kriterien sind, wenn möglich, zu einem mehrdimensionalen Wert zusammenzusetzen, um die Komplexität der Bewertung zu reduzieren. 7. Die aufgestellten Kriterien müssen die Anforderungen vollständig erfassen. Sind die Kriterien gemäß obiger Arbeitsschritte aufgestellt, geprüft und zueinander gewichtet, so muss für jedes Bewertungskriterium je Lösungsvariante ein entsprechender Wert ermittelt werden (Beispiel Fahrzeugtüre: Kriterium: Türabsenkung – Wert: 7 mm). Diese können nun in diskrete Maßzahlen mij umgewandelt werden. Dabei muss der zunächst frei wählbare Maßzahlbereich während des Bewertungsprozesses durchgängig beibehalten werden (Adunka 2003) (z. B. auf einer Skala von 0 bis 10). Hilfreich bei der konsistenten Ermittlung/Verwendung einer Punkteskala können Wertfunktionen sein. Für die Zuordnung von Punkten zu den Eigenschaftsgrößen der Varianten ist es notwendig, dass der Beurteiler sich über die Beurteilungsspanne (Spanne der Eigenschaftsgrößen) und über den qualitativen Verlauf der sog. „Wertfunktion“ im Klaren wird. In Abb. 11.2 werden verschiedene Wertfunktionen aufgezeigt. Eine Wertfunktion bildet einen Zusammenhang zwischen Werten und Eigenschaftsgrößen. Beim Aufstellen solcher Wertfunktionen ergibt sich der gesuchte Wertverlauf entweder aus
11 Auswahl- und Bewertungsmethoden
311
Abb. 11.2 Gebräuchliche Wertfunktionen (nach Zangemeister 2014)
einem bekannten mathematischen Zusammenhang zwischen Wert und Eigenschaftsgröße oder als geschätzter Verlauf, der häufiger vorliegt (Herrmann 1970). Eine Hilfe für Produktentwickler ist es, hierzu ein Urteilsschema aufzustellen, in dem die verbal oder zahlenmäßig angegebenen Eigenschaftsgrößen für die Bewertungskriterien durch Punktvergabe stufenweise den Wertvorstellungen des Bewertenden zugeordnet werden. Um die unterschiedliche Bedeutung einzelner Bewertungskriterien für eine Lösung zu berücksichtigen, sehen die meisten Bewertungsverfahren eine Gewichtung der einzelnen Bewertungskriterien vor. Diese Gewichtungsfaktoren gj bestimmen somit die Wertigkeit der Bewertungskriterien und ergeben zusammen mit den Bewertungskriterien das zu untersuchende Zielsystem. Durch die Multiplikation von Maßzahl mij und Gewichtung gj entsteht eine Wertungszahl wij für jede Variante i und jedes Bewertungskriterium j. Durch eine Summation der Wertungszahlen einer Variante wird die Bewertung einer Lösung (Gwi) erreicht. Somit errechnet sich dann der Gesamtwert einer Variante zu:
Gwi =
n;k
gj · mij
i=1;j=1
n Anzahl der zu bewertenden Lösungen; k Anzahl der Kriterien; i Alternative; j Kriterium; gj Gewichtungsfaktor (zumeist in %); mij Maßzahl. Nach der Bestimmung der Wertungszahlen können anschließend die Bewertungsergebnisse graphisch (Bedeutungsprofile, Eigenschaftsspinnen, usw.) oder numerisch dargestellt werden. Dabei kann entweder anhand des Gesamtwertes ein relativer
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S. Wartzack
Vergleich der Varianten untereinander und somit die „beste“ Lösung ermittelt oder eine Abschätzung der Varianten gegen eine gedachte Ideallösung mit einem maximalen Gesamtwert durchgeführt werden. Im Zusammenhang mit dem generischen Bewertungsablauf sind folgende Empfehlungen, die einen praxisnahen Einsatz der Verfahren erleichtern, festzuhalten: 8. Die Analyse bzw. Informationsbeschaffung muss korrekt und mit vertretbarem Aufwand erfolgen. 9. Spezifikation und Dokumentation der Bewertungskriterien und der eingesetzten Bewertungsmethode dienen der besseren Nachvollziehbarkeit. 10. Haben alle Varianten denselben Wert, kann dieser gelöscht werden. 11. Eine Untergliederung der Kriterienliste nach Teilsystemen ist sinnvoll. 12. Kriterien sollten unabhängig sein bzw. bei der Bewertung der Lösung muss die Abhängigkeit der Kriterien bekannt sein. 13. Es ist empfehlenswert, je Bewertungsrunde die maßgeblichen Kriterien zu kennzeichnen, um den Bewertungsverlauf zu dokumentieren. Dieses allgemeine Vorgehen findet sich in einer Vielzahl von Bewertungsverfahren wieder, die allerdings je nach Komplexität und Zielsetzung bestimmte Schritte betonen bzw. straffen. Daher sollen im Folgenden die unterschiedlichen Bewertungsverfahren auf Basis der Komplexität und des notwendigen Zeitaufwandes klassifiziert werden. Diese Untergliederung soll einen Hinweis darauf geben, welches Verfahren für die anstehende Bewertungsaufgabe am besten geeignet ist. Da es nicht sinnvoll ist, generell komplexe und zeitaufwändige Verfahren zu verwenden, sollte sich die Komplexität eines Bewertungsverfahrens unmittelbar an der Komplexität der vorliegenden Aufgabenstellung orientieren. Zusätzlich muss bei der Wahl des Bewertungsverfahrens berücksichtigt werden, wie dringlich eine Entscheidung ist und wie schnell eine Bewertung mit Hilfe des Verfahrens herbeigeführt werden kann. Als Maßstab für die Komplexität als auch für den Zeitaufwand können die Methoden zur Kriteriengruppierung und -bereinigung, Ermittlung der Kriteriengewichtung, der Maßzahlumsetzung sowie der Schärfe bzw. Unschärfe der Zahlen herangezogen werden (s. Abb. 11.3). Die Vorgehensweise bei der Durchführung der Bewertungsmethoden der Kategorien C (einfach) und B (umfassend) wird einheitlich am Beispiel der Evaluierung verschiedener PKW-Türrohbaukonzepte erläutert. Das Beispiel findet hierbei Anlehnung an eine Benchmarkstudie von Hilfrich et al. (2007). Im Rahmen der Studie wurden dabei eingesetzte Türen verschiedenster Hersteller beschafft, analysiert und im Sinne einer Bewertung gegenübergestellt. Dadurch liegen belastbare Daten über die Türkonzepte vor, die einer Bewertung zugrunde gelegt werden können. Im Folgenden werden jeweils vier unterschiedliche Konzepte herangezogen, um die Anwendung der Bewertungsverfahren beispielhaft zu demonstrieren.
11 Auswahl- und Bewertungsmethoden
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Abb. 11.3 Überblick und Klassifizierung etablierter Bewertungsverfahren (in Anlehnung an Adunka 2003)
Die grundlegenden Schritte sind bei den meisten Bewertungsverfahren ähnlich und orientieren sich am generischen Vorgehen, wie in Abb. 3.1 beschrieben. Im Folgenden wird demnach bei der Vorgehensbeschreibung nur auf Besonderheiten bzw. Abweichungen vom generischen Vorgehen detailliert eingegangen.
11.1 Einfache Bewertungsverfahren zur Vorauswahl von Lösungsvarianten Im Folgenden werden beispielhaft einfache Bewertungsverfahren (Kategorie C) zur Vorauswahl von Lösungsvarianten beschrieben. Argumentenbilanz Ein sehr einfaches qualitatives Entscheidungsinstrument stellt die Argumentenbilanz dar: Hierbei werden Vor- und Nachteile einzelner Lösungsalternativen tabellarisch aufgelistet und gegenübergestellt (s. Abb. 11.4). Die Stärken und Schwächen der einzelnen Varianten werden nicht näher beschrieben, wobei die Argumente nicht bei allen Lösungsalternativen verwendet werden müssen (Haberfellner et al. 1994). Vorteil dieser universell einsetzbaren Methode ist ihre einfache Durchführbarkeit, die nur geringen Aufwand nach sich zieht (Wartzack et al. 2000). Die Argumentenbilanz ist auf Grund ihrer fehlenden linguistischen Präzision und der gegenseitigen Gewichtung der Argumente nur für einfache Fragestellungen einsetzbar. Durch diese Methode kann keine eindeutig schlechteste und beste Lösung identifiziert werden. Sie ist geeignet, sich schnell Klarheit über eine Entscheidungsaufgabe zu schaffen oder für Teilaspekte zu sensibilisieren. Für Entscheidungen mit hohem Risiko und weitreichenden Konsequenzen sind A- oder B-Methoden zu empfehlen.
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S. Wartzack
Abb. 11.4 Argumentenbilanz für verschiedene Türkonzepte (in Anlehnung an Herrmann 1970; Fiedler 2010)
Punktbewertung Ziel der Methode ist die Ermittlung einer Rangfolge für Lösungsalternativen (Adunka und Wartzack 1999). Von dieser Methode sind zwei Varianten zu unterscheiden, die gewichtete und die ungewichtete Punktbewertung (Ehrlenspiel und Meerkamm 2017). Bei der gewichteten Punktbewertung werden die identifizierten Kriterien entsprechend ihrer Bedeutung für den Erfolg des neuen Produktes gewichtet (Lindemann 2007). Das Vorgehen bei einer gewichteten Punktbewertung lässt sich in sechs Schritte gliedern: 1. Bewertungskriterien festlegen Die Bewertungskriterien werden aus Anforderungen abgeleitet, die in der Anforderungsliste aufgeführt sind, wobei diese auf die aktuelle Entscheidungsaufgabe zugeschnitten sein müssen. 2. Gewichtung der Bewertungskriterien bestimmen Die Gewichtung der Kriterien zueinander wird üblicherweise mit Zahlen zwischen 0 und 1 festgelegt, wobei die Summe aller Kriteriengewichte 1 ergeben muss. 3. Eigenschaften der Varianten beschreiben In diesem Schritt werden die qualitativen und quantitativen Eigenschaften der zu bewertenden Varianten in Bezug auf die Kriterien beschrieben. 4. Eigenschaften mit Punkten bewerten Die zuvor festgelegten Eigenschaften der Lösungsalternativen werden nach einer festgelegten Punkteskala (z. B. 1–4) bewertet.
11 Auswahl- und Bewertungsmethoden
315
5. Punkte mit Gewichtung multiplizieren Durch die Multiplikation der vergebenen Punkte der Varianten mit den Kriteriengewichten werden die gewichteten Punktzahlen berechnet. 6. Aufsummieren der Resultate aus der Multiplikation von Kriteriengewichten mit den Punktzahlen für jede Variante Durch die Summation der Punkte für jede Lösungsalternative entsteht eine Rangfolge der einzelnen Varianten. Die Lösung mit der höchsten Punktzahl ist die am besten bewertete Alternative für die vorliegende Aufgabe. Bei einer ungewichteten Punktbewertung entfallen die Schritte 2 und 5. Wie aus Abb. 11.5 ersichtlich, ist das Verfahren der ungewichteten Punktbewertung nicht so aussagekräftig wie das Verfahren mit gewichteten Kriterien, mit dem die besseren Lösungen eindeutiger gefunden werden können. Das Verfahren der gewichteten Punktbewertung wird beispielsweise bei der Präferenzmatrix und Nutzwertanalyse zum Bewerten von Produktideen bzw. -konzepten eingesetzt (Adunka 2003). Vorteil dieses Verfahrens ist seine universell einsetzbare und einfache Nutzung, die innerhalb kurzer Zeit durchführbar ist. Zur erfolgreichen Durchführung der Punktbewertung muss ein ausreichender Kenntnisstand der Eigenschaften einer Lösungsvariante vorhanden sein (Adunka und Wartzack 1999). Die Bewertung sollte in einem Team durchgeführt werden. Paarweiser Vergleich Der paarweise Vergleich ist eine universell einsetzbare und einfach durchzuführende Methode, bei der jeweils zwei Lösungsvarianten paarweise mit-
Abb. 11.5 Punktbewertung für Türkonzepte
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einander verglichen werden. Hierzu müssen zunächst die Lösungsalternativen, die verglichen werden sollen, zusammengetragen werden. Zur übersichtlichen Darstellung werden die Lösungsvarianten in die Spalten und Zeilen einer Matrix eingetragen (s. Abb. 11.6). Bei der paarweisen Gegenüberstellung wird geprüft, welche Lösung als besser eingestuft wird (direkter Vergleich). Bei einem Unentschieden wird das Feld freigelassen. Die Entscheidungen werden oberhalb der Diagonalen in der symmetrischen Matrix festgehalten. Über Abzählen der Einträge z. B. von A in Zeilenrichtung der Spalte A wird eine Punktesumme gebildet, d. h., es wird die Anzahl der Buchstaben des jeweiligen Kriteriums in der entsprechenden Zeile und in der dazugehörigen Spalte ermittelt. Die Zahlen aus Zeilen und Spalten werden lösungsspezifisch addiert und aus den Zahlenwerten eine Rangfolge gebildet. Abb. 11.6 zeigt den paarweisen Vergleich für das Kriterium Crash-Performanz des FahrzeugTürenbenchmarks. Dieser systematische Bewertungsprozess lässt sich gut im Team bewerkstelligen. Jedoch besteht die Gefahr, dass dominierende Gruppenmitglieder einen starken Einfluss auf andere Mitglieder ausüben. Die Identifikation der zu präferierenden Lösung kann je nach zu bewertender Situation schwierig sein. Deswegen sollte im Bewertungsteam genügend Know-how über den jeweiligen Sachverhalt vorhanden sein. Der Entscheidungsprozess wird dokumentiert und ist somit im Nachhinein transparent nachvollziehbar; insbesondere dann, wenn die Einträge der Matrix aij kommentiert abgelegt werden. Wenn eine große Anzahl an Lösungen vorliegt, ist diese Methode allerdings zeitaufwendig und komplex in der Durchführung, da der Aufwand, jede Lösung mit jeder anderen zu vergleichen, quadratisch zunimmt.
Abb. 11.6 Paarweiser Vergleich für Kriterien
11 Auswahl- und Bewertungsmethoden
317
11.2 Aufwendige Bewertungsverfahren zur Lösung von Entscheidungsaufgaben Zur Bearbeitung komplexerer Problemstellungen, bei denen die o. g. Verfahren schnell an ihre Grenzen stoßen, wurden universelle Bewertungsmethoden entwickelt. Während die einfachen Bewertungsverfahren (C-Verfahren) nur für wenig weitreichende Entscheidungen eingesetzt werden sollen, eignen sich die Verfahren Nutzwertanalyse und technisch-wirtschaftliche Bewertung in Verbindung mit der Präferenzmatrix hervorragend für komplexere Entscheidungsaufgaben. Nutzwertanalyse Die Nutzwertanalyse (NWA) geht auf Zangemeister (2014) zurück und wurde 1970 erstmals vorgestellt. Sie stellt eine Vorgehensweise zur Analyse einer Menge komplexer Handlungsalternativen dar. Einsatz findet die Nutzwertanalyse vor allem bei komplexen Produkten mit einer großen Anzahl relevanter Bewertungskriterien. Voraussetzung für den Einsatz ist ein ausreichender Kenntnisstand der Merkmalsausprägungen der zu bewertenden Lösungsalternativen (Lindemann 2007). Die Nutzwertanalyse dient auch der Projektauswahl im Rahmen des strategischen Projektcontrollings, da mit ihr alle wesentlichen Einflussfaktoren auf den Projekterfolg untersucht werden können (Fiedler 2010). Charakteristisch für die Nutzwertanalyse ist das strukturierte Aufstellen der Bewertungskriterien. Dieser Arbeitsschritt wird systematisiert durch Aufstellen eines Zielsystems, das die einzelnen Ziele als Teilziele Zi vertikal in mehrere Zielstufen abnehmender Komplexität und horizontal in unterschiedliche Zielbereiche, z. B. in technische und wirtschaftliche oder in solche unterschiedlicher Bedeutung (Haupt- und Nebenziele), hierarchisch gliedert: Wegen der gewollten Unabhängigkeit sollten Teilziele einer höheren Zielstufe nur mit einem Ziel der nächst niedrigeren Zielstufe verbunden sein. Diese hierarchische Ordnung vereinfacht die Abschätzung der Bedeutung der Teilziele für den Gesamtwert. Als Bewertungskriterien werden die Knoten herangezogen, die nicht weiter unterteilt werden (Blätter des hierarchischen Zielsystem-Baumes, s. Abb. 11.7). Diese werden bei der Nutzwertanalyse auch Zielkriterien genannt. In Abb. 11.7 ist ein möglicher Ausschnitt eines Zielsystems für den Demonstrator PKW-Türe dargestellt. Das Hauptziel „Strukturperformanz“, d. h. das statische und dynamische Verhalten der Tragstruktur, kann um weitere Ziele auf der obersten Hierarchiestufe ergänzt werden. Soll jede Lösungsvariante mit genau einem Nutzwert beschrieben werden, so ist die höchste Zielstufe nur durch ein Ziel (Hauptziel) zu besetzen. Die Kriterien für die eigentliche Bewertung befinden sich im gezeigten Beispiel auf der dritten sowie der vierten Zielstufe (Z1111, Z1112, Z112, Z1211, Z1212, Z1213, Z122). Die Gewichtung der Bewertungskriterien erfolgt anhand des aufgestellten Zielsystems. Bei der Nutzwertanalyse wird mit Faktoren zwischen 0 und 1 gewichtet. Dabei soll die Summe der Faktoren aller Bewertungskriterien (Teilziele der niedrigsten Komplexitätsstufe) gleich 1 sein, um eine prozentuale Gewichtung der Teilziele
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Abb. 11.7 Struktur eines Zielsystems inklusive Gewichtung
u ntereinander zu erreichen. Die Aufstellung eines Zielsystems erleichtert eine solche Gewichtung. Eine exemplarische Gewichtung ist ebenfalls Abb. 11.7 zu entnehmen. Bei der Nutzwertanalyse wird je Teilziel Zi in eine Knotengewichtung gK sowie in eine Stufengewichtung gS unterschieden. Dabei geben die Knotengewichte gK den Bedeutungsgrad hinsichtlich des direkt übergeordneten Teilziels an, wodurch die Knotengewichte zu einem Überziel zugehöriger Unterziele (z. B. Z111 und Z112) stets in Summe den Wert 1 ergeben. Die Stufengewichte errechnen sich aus dem Produkt der Ketten an Knotengewichten vom betrachteten Teilziel bis hin zum Hauptziel. Im Beispiel aus Abb. 11.7 ergibt sich das Stufengewicht des Teilziels „Betriebsfestigkeit“gK(Z1111) aus dem Produkt von gK(Z1111) selbst und gK(Z111), gK(Z11) sowie gK(Z1). Beim Aufstellen der Gewichtung sind deshalb im ersten Schritt die Knotengewichte zu ermitteln und anschließend die Stufengewichte abzuleiten. Nach Aufstellen der Bewertungskriterien und Festlegen ihrer Bedeutung werden im nächsten Arbeitsschritt für die zu bewertenden Lösungsvarianten die bekannten bzw. durch Analyse ermittelten Eigenschaftsgrößen den jeweiligen Bewertungskriterien zugeordnet. Die Eigenschaftsgrößen können zahlenmäßige Kennwerte sein oder – wo dies nicht möglich ist – verbale, möglichst konkrete Aussagen. Anschließend wird durch Vergeben von Wertungszahlen mi für die jeweiligen Bewertungskriterien Zi die eigentliche Bewertung durchgeführt. Die Wertungszahlen erstrecken sich im Rahmen der Nutzwertanalyse von 0 bis 10, wobei 0 für eine unbrauchbare Funktionserfüllung und 10 für eine ideale Lösung steht. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, im Vorfeld ein Urteilsschema aufzustellen, in dem die verbal oder zahlenmäßig angegebenen
11 Auswahl- und Bewertungsmethoden
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Eigenschaftsgrößen für die Bewertungskriterien durch Punktvergabe stufenweise den Wertvorstellungen zugeordnet werden. Den Nutzwert Gwi (Gesamtwert) der jeweiligen Lösungen erhält man durch Multiplizieren der Maßzahlen mit der jeweiligen Gewichtung und anschließende Summation über alle Bewertungskriterien. Der Bewertungsverlauf wird übersichtlich in der Nutzwertmatrix dargestellt (vgl. Tab. 11.1). Die Stärke der Nutzwertanalyse liegt in der systematischen Strukturierung der Bewertungskriterien, welche die stufenweise Ableitung der Gewichtung ermöglicht. Dieses Gewichtungsverfahren erlaubt in der Regel eine realitätsgetreue Einstufung, da es leichter ist, zwei oder drei Teilziele gegenüber einem höher geordneten Ziel abzuwägen, als alle Kriterien gleichzeitig gegeneinander abzuwägen. Technisch-wirtschaftliche Bewertung Das Verfahren der technisch-wirtschaftlichen Bewertung geht maßgeblich auf Kesselring (1951) zurück und wird in der VDI Richtlinie 2225 detailliert beschrieben. Die technisch-wirtschaftliche Bewertung wird vornehmlich am Ende der Konzeptphase zur Eingrenzung des Lösungsraums verwendet (N. N. 1977). Zu Beginn der technisch-wirtschaftlichen Bewertung sind anhand der Anforderungsliste die Bewertungskriterien abzuleiten, wobei eine gezielte Aufteilung in technische sowie wirtschaftliche Aspekte erfolgt. Im Gegensatz zur Nutzwertanalyse bildet die VDI Richtlinie 2225 keine hierarchische Ordnung der Bewertungskriterien. Es wird versucht, in erster Linie ohne Gewichtung auszukommen, indem annähernd gleichbedeutende Bewertungskriterien aufgestellt werden. Den Einfluss von Gewichtungsfaktoren auf den Gesamtwert einer Lösung haben Kesselring (1951), Lowka (1975), und Stahl (1976) näher untersucht. Sie kamen zum Ergebnis, dass dann ein merklicher Einfluss besteht, wenn die zu bewertenden Varianten stark unterschiedliche Eigenschaften und die betreffenden Bewertungskriterien hohe Bedeutung haben. In vielen praktischen Anwendungen erweist sich die Vergabe von Gewichtungsfaktoren jedoch
Tab. 11.1 Auszug einer Nutzwertmatrix Bewertungskriterium ID
Benennung
Eigenschaftsgrößen Variante V1 Gew Benennung
Z1111 Betriebsfestig- 0,1 keit
Einheit
Ertragbare – Lastspiele
… Vn
Eigenschafts- Maß- Wertungsgröße zahl zahl 900.000
9
0,9
Z1112 Schwingungs- 0,23 Erste verhalten Eigenfrequenz
Hz
88
8
1,84
…
…
…
…
…
e 1n
m1n
W1n
Zn
…
… gKn
…
Nutzwert GW1 = Ʃw1i
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S. Wartzack
als zweckmäßig. Der eigentliche Bewertungsvorgang erfolgt analog dem generischen Vorgehen durch Vergabe von Maßzahlen für die jeweiligen Bewertungskriterien. Im Rahmen der technisch-wirtschaftlichen Bewertung wird eine Punkteskala von 0 bis 4 vorgeschlagen, wobei 0 unbefriedigende bzw. 4 eine ideale Erfüllung des Bewertungskriteriums darstellt. Das Vorgehen der Maßzahlverteilung kann weiter systematisiert werden, indem jedes Bewertungskriterium durch sog. Treiber beschrieben wird. Darunter werden diejenigen Indikatoren verstanden, die in Summe ein Bewertungskriterium beschreiben (s. Abb. 11.8). Bei der Maßzahlvergabe sind sequenziell die Treiber der einzelnen Kriterien zu bewerten und auf Basis der Teilergebnisse die entsprechende Maßzahl für das jeweilige Kriterium zu vergeben. Ein Beispiel für eine mögliche Lösung der wirtschaftlichen Bewertung des Beispiels Rohbau einer Fahrzeugtüre ist Abb. 11.8 zu entnehmen. Über Aufsummieren der vergebenen Maßzahlen für die verschiedenen Bewertungskriterien ergeben sich abschließend die Wertungszahlen der Varianten für die wirtschaftliche Betrachtung. Die explizite wirtschaftliche Wertigkeit y ergibt sich durch Normieren der Wertungszahlen, wobei die maximal erreichbare Punktzahl dem Wert 1 entspricht. Die in Abb. 11.8 dargestellte Wirtschaftlichkeitsbetrachtung ist in gleicher Weise auch
Abb. 11.8 Wirtschaftliche Bewertung anhand des Beispiels Tür-Rohbau
11 Auswahl- und Bewertungsmethoden
321
für die technische Wertigkeit x durchzuführen. Um die zu bewertenden Lösungsvarianten gegenüberzustellen, ist abschließend aus technischer und wirtschaftlicher Wertigkeit eine Gesamtwertigkeit – die sog. Stärke S – zu ermitteln. Hierzu werden die zu vergleichenden Konstruktionen abhängig von ihren Werten für technische Wertigkeit x und wirtschaftliche Wertigkeit y in ein Auswertungsdiagramm eingetragen. Die Verteilung der Stärke innerhalb des Auswertungsdiagramms lässt sich nach Baatz (1971) über die zwei Verfahren Geraden- und Hyperbelverfahren bestimmen. Abb. 11.9 zeigt beide Verfahren im Vergleich. • Geradenverfahren: arithmetisches Mittel aus technischer Wertigkeit x und wirtschaftlicher Wertigkeit y:
S=
x+y 2
• Hyperbelverfahren: geometrisches Mittel aus technischer Wertigkeit x und wirtschaftlicher Wertigkeit y: √ S = x·y Das Geradenverfahren kann bei großen Unterschieden zwischen technischer und wirtschaftlicher Wertigkeit eine höhere Gesamtwertigkeit errechnen als bei niedrigeren, aber ausgewogeneren Einzelwertigkeiten. Da aber in der Regel ausgeglichenen Lösungen der Vorzug gegeben werden soll, ist das Hyperbelverfahren geeigneter, da
Abb. 11.9 Auswertungsdiagramm zur Ermittlung der Stärke
322
S. Wartzack
es große Wertigkeitsunterschiede durch seinen progressiv wirkenden Reduzierungscharakter ausgleicht. Je größer die Unausgeglichenheit, umso größer ist der Reduzierungseffekt auf den Gesamtwert. Die technisch-wirtschaftliche Analyse stellt eine Methode dar, welche den Entwickler beim gezielten Auffinden technischer sowie wirtschaftlicher Schwachstellen unterstützt. Als Nachteil ist, wie bei der Nutzwertanalyse, ebenfalls der erhöhte Durchführungsaufwand zu nennen. Rangfolgeverfahren und Präferenzmatrix Beim Rangfolgeverfahren (Gutsch 1972; Wenzel und Müller 1971) sowie bei der Bewertung mittels Präferenzmatrix handelt es sich um sehr ähnliche Verfahren, welche bevorzugt bei der Evaluierung einfacher Systeme eingesetzt werden (Adunka 2003). Sie entsprechen dem paarweisen Vergleich (s. Abschn. 11.1), können aber insbesondere herangezogen werden, um eine Gewichtung der Kriterien herbeizuführen. Sie eignen sich daher insbesondere im Kontext der Verfahren aus Kategorie B. Hierzu werden die aus der Anforderungsliste abgeleiteten Bewertungskriterien in einer Matrix gesammelt. Über den paarweisen Vergleich (s. Abschn. 11.1) der Bewertungskriterien wird geprüft, ob ein Kriterium wichtiger („+“), gleich wichtig („0“) oder weniger wichtig („−“) ist, und dies in der Matrix festgehalten. Über Abzählen der „+“-Zeichen wird eine Rangfolge der Bewertungskriterien aufgestellt, welche als Anhaltspunkt für die Gewichtungsfaktoren dienen. Abb. 11.10 zeigt die Präferenzmatrix für Bewertungskriterien zur Evaluierung der Strukturperformanz des Fahrzeugtürenbenchmarks. Basierend auf der ermittelten Rangfolge wird so die Gewichtung der Bewertungskriterien abgeleitet. Abb. 11.10 Gewichtung nach dem Rangfolgeverfahren
11 Auswahl- und Bewertungsmethoden
323
Der wesentliche Unterschied zwischen den Verfahren Präferenzmatrix und Rangfolgeverfahren liegt darin, dass im Rahmen der Bewertung mittels Präferenzmatrix beim paarweisen Vergleichen die Möglichkeit „gleich wichtiger Kriterien“ explizit ausgeschlossen wird (Siemens 1974). Somit ergibt sich eine geringere Anzahl an möglichen Gewichtungskonstellationen.
11.3 Komplexe Bewertungsverfahren zur Entscheidungsfindung Gewichtete Bewertung mittels scharfen, unscharfen und frei abgeschätzten Bewertungsgrößen nach Breiing und Knosala Zwei engverwandte, komplexe Bewertungsverfahren stellen die „anforderungsorientierte gewichtete Bewertung mittels scharfer Zahlen“ nach Breiing sowie die „objektivierte gewichtete Bewertung mittels unscharfer Zahlen und Mengen“ nach Knosala dar. Breiing betrachtet in seinem Vorgehen nur scharfe Zahlen für die Maßzahlumsetzung und Gewichtung und generiert somit absolut konsistente Entscheidungsmatrizen. Daher ist dieses Bewertungsverfahren sowohl für einfache als auch komplexe Konstruktionen zu empfehlen. Knosala hingegen berücksichtigt zusätzlich die Streuung der Einschätzungen der Bewerter und erzeugt dadurch inkonsistente Entscheidungsmatrizen, deren Formulierung mit einem erheblichen Mehraufwand verbunden und somit nur für komplexe Konstruktionen zu empfehlen ist (Breiing und Knosala 1997). Nach der Aufstellung der Bewertergruppe sowie der Ableitung, Bereinigung und Gruppierung der Bewertungskriterien aus expliziten und impliziten Anforderungen werden die Werte dieser Kriterien bestimmt und eingetragen. Auf Basis dieser Werte wird anschließend die Rangfolge der Lösungen bestimmt (s. Abb. 11.11). Die
Abb. 11.11 Vorgehen bei der Berechnung einer konsistenten Entscheidungsmatrix (Adunka 2003)
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Maßzahlumsetzung erfolgt nun auf Basis der Rangfolge sowie der vorher definierten Wertfunktionen oder eines paarweisen Vergleiches. Bei der Ermittlung der Gewichtungsfaktoren werden die jeweiligen Kriterien in die jeweils erste Zeile und Spalte der Tafelmatrix eingetragen. Daraufhin wird die Wichtigkeit eines Kriteriums gegenüber den anderen eingetragen und anschließend die Wichtigkeiten der übrigen Kriterien analog Abb. 11.11 berechnet. Anschließend werden die Gewichtungen pro Kriteriengruppe berechnet, normiert und zusammen mit den Maßzahlen in die Bewertungstabellen der jeweiligen Kriteriengruppe übertragen. In einem weiteren Schritt werden Gruppenwertigkeiten ebenfalls in einer konsistenten Entscheidungsmatrix ermittelt. Dabei schlägt Breiing eine Untergliederung der Gewichtungsfaktoren in technische, wirtschaftliche und psychologische Kriterien vor. Diese werden mit den Bewertungsergebnissen zu einer Gesamtbewertung verrechnet. Eine Normierung der Gesamtwertigkeit wird vor der abschließenden Darstellung der Bewertungsergebnisse empfohlen. Um die Meinung der beteiligten Bewerter zu berücksichtigen, fordert Knosala frei abgeschätzte Entscheidungsmatrizen sowohl für die Maßzahlermittlung als auch für die Ermittlung der Gewichtungsfaktoren (Zadeh et al. 1975). Dabei beschreibt er zunächst ein äquivalentes Vorgehen zu Breiing, berechnet jedoch bei den Maßzahlen der Kriterien als auch bei den Gewichtungsfaktoren jeweils den Minimal-, Mittel- und Maximalwert. Somit entsteht eine trianguläre Zugehörigkeitsfunktion in Form eines Dreiecks, dessen Spreizung (α + β) die Streuung und dessen Spitze den Mittelwert der Meinungen der Bewerter widerspiegelt, s. Abb. 11.12. Daher entspricht ein Dreieck mit einer geringen Spreizung einem sehr sicheren Meinungsbild, während die horizontale Lage der Spitze des Dreiecks (Mittelwert) ein Maß für die Erfüllung einer Variante bzw. die Wichtigkeit eines Kriteriums beschreibt. Zusätzlich kann der Erfüllungsgrad einer Lösung durch eine unscharfe Menge oder eine Verteilung beschrieben werden. Dabei wird für jedes Kriterium der Erfüllungsgrad zweier Varianten verglichen und durch eine Menge beschrieben. Erfüllt beispielsweise die Variante A nach Meinung eines Bewerters ein Kriterium mehr als die Variante B, so
Abb. 11.12 Unscharfe Erfassung des Erfüllungsgrades anhand triangulärer Zugehörigkeitsfunktion (Adunka 2003)
11 Auswahl- und Bewertungsmethoden
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Abb. 11.13 Mengentheoretische Erfassung des Erfüllungsgrades (Adunka 2003; Zadeh et al. 1975; Bothe 1995)
ordnet er dieser die Menge rx zu. Ist ein anderer Bewerter der Meinung, dass die Variante A das Kriterium weniger erfüllt als eine Variante B, so ordnet er dieser beispielsweise die Menge 1 − rx zu. (Eine Übersicht dieser mengentheoretischen Erfassung des Erfüllungsgrades ist in Abb. 11.13 dargestellt.). Durch mengentheoretische Operationen wird anschließend eine Überlagerung der Einschätzungen (Mengen) der einzelnen Bewerter erreicht und so der Erfüllungsgrad als unscharfe Menge modelliert und die Maßzahlen ermittelt. Falls Werte scharf erfasst werden können, werden sie dennoch als unscharfe Zahl mit einer Streuung von Null betrachtet, wodurch nach Adunka eine Überhöhung der Objektivität erreicht wird (Adunka 2003). Die nachfolgenden Schritte erfolgen wieder analog zu dem Vorgehen nach Breiing und Knosala (1997).
11.4 Rechnerunterstützung Im methodischen Entwicklungsprozess ist der Entwickler mit einer Vielzahl von Entscheidungsaufgaben, deren Komplexität infolge eines gestiegenen Individualisierungsbedarfs zunimmt, konfrontiert. Dabei besteht das Bedürfnis, die Ergebnisse transparent zu dokumentieren und die erstellten Daten wieder zu verwenden, um sie in späteren Phasen erneut zu bewerten und so detailliertere Resultate zu erhalten. Die Rechnerunterstützung leistet einen wesentlichen Beitrag dazu, den Bewertungsprozess (vgl. Abb. 11.1) strukturiert und effektiv zu gestalten, konsistente Bewertungsergebnisse zu erzeugen und die Informationen in weiterverarbeitbarer Form bereitzustellen. Die oben gezeigten Verfahren können sehr einfach über Tabellenkalkulationsprogramme abgebildet werden. Ebenso ist in verschiedenen kommerziellen Tools eine Umsetzung der Vorgehensweisen (vgl. Abb. 11.3) erfolgt. Auf eine Darstellung der Vielzahl verfügbarer Werkzeuge, die unterschiedliche Bewertungsschritte (z. B. Zusammenstellen einer Bewertergruppe in der WeDecide App (Luft et al. 2017)) in den Fokus
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stellen, wird hier verzichtet. Stellvertretend für die rechnerunterstützte Bewertung technischer Systeme werden hier zwei Applikationen vorgestellt: das Konzept des Software-Werkzeugs „Evaluator“ (Adunka 2003) und das Werkzeug Balance3D (Bauer 2010). Evaluator Intention des Bewertungsframeworks „Evaluator“ ist es, das nach Breiing und Knosala (1997) entwickelte allgemeine Vorgehen, das modular auf methodische Komponenten von Bewertungsverfahren zurückgreift, in eine Software umzusetzen. Der Einsatz modularer Bewertungsprozessbausteine erlaubt es dabei – zugeschnitten auf den Anwendungsfall – rechnergestützt Bewertungen durchzuführen. Wesentliche Merkmale der Software sind die Workflow-Gebundenheit, die verfahrensübergreifende Implementierung, ein Berechnungskern für die Ergebnisberechnung aller unterstützter Verfahren, Funktionen zur Sensitivitätsanalyse und die automatische Reportfunktion. Die Workflow-Gebundenheit des Systems orientiert sich dabei an einem generischen Phasenkonzept, das die Schritte Initialisierungsphase, Definitionsphase, Bereinigungsphase (optional), Definitionsphase II und Auswertungsphase unterstützt (s. Abb. 11.14).
Abb. 11.14 (a) Phasenorientiertes Workflowkonzept des Softwarewerkzeugs nach Adunka (2003) und (b) Bedienoberfläche am Beispiel der Maßzahlumsetzung für eine technisch-wirtschaftliche Bewertung (Stockinger 2007; Stockinger und Wittmann 2007)
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Der Bewerter wird dabei aktiv durch den Bewertungsprozess geleitet, womit ein strukturiertes Vorgehen begünstigt wird. Wird dabei von einer Phase in eine vorherige zurückgesprungen, so werden die Daten nachfolgender, bereits durchgeführter Prozessschritte verworfen. Dies ist zur Sicherstellung eines konsistenten, verfälschungsfreien Bewertungsresultats wichtig. Weiterhin liegt der Software ein Rollenkonzept zugrunde: Während der Hauptbewerter das Projekt anlegen, das Bewertungsverfahren, die zur Auswahl stehenden Varianten sowie die Kriterien und zugehörige Maßzahlumsetzung bestimmen kann, können ab dem Start der eigentlichen Bewertung – auch in Form der verteilten Bewertung – mehrere Bewerter die Evaluierung der Aufgabenstellung vornehmen. Abschließend kann nach optionaler Durchführung einer Sensitivitätsanalyse ein Bericht generiert werden, der organisatorische (Projektdaten, Teilnehmer, …) und inhaltliche (Kriterien, Maßzahlumsetzungen, …) Informationen enthält. Wichtig festzuhalten ist, dass im Berechnungskern die verfahrensabhängigen Rechenvorschriften enthalten sind, die damit zu verlässlichen Ergebnissen führen und gleichzeitig für die Sensitivitätsanalyse herangezogen werden. Balance3D Zumeist deckt eine ganzheitlich und detailliert bearbeitete Bewertungsaufgabe Zielkonflikte auf. Am Beispiel der Fahrzeugtüren lässt sich etwa erkennen, dass die Leichtbaukenngrößen Masse, Kosten und Qualität ein Spannungsfeld bilden: Die Masse kann oftmals nur zu Lasten der Kosten reduziert werden. An dieser Stelle setzt das Verfahren Balance3D an. Es bietet Produktentwicklern eine umfassende Unterstützung für Entscheidungsaufgaben mit deutlichen Abhängigkeiten zwischen den Entscheidungsvariablen (Produktanforderungen). Im Fokus stehen dabei die frühen Entwicklungsphasen, insbesondere die Aufgaben der strategischen Analyse incl. Gewichtung von Anforderungen sowie die Bewertung und Auswahl von Produktkonzepten. Eine ausführliche Beschreibung von Balance3D incl. eines Praxisbeispiels ist in Bauer (2010) zu finden. Zentraler Ansatz von Balance3D ist es dabei, komplexe Entscheidungsaufgaben mit abhängigen Entscheidungsvariablen durch eine intuitive, rechnergestützte Visualisierung transparent darzustellen. Diese Darstellung erlaubt dem Anwender zudem, interaktiv und visuell zwischen den dargestellten abhängigen Entscheidungsvariablen strategisch abzuwägen und somit auf einfache Art und Weise unter korrekter Berücksichtigung der Abhängigkeiten Gewichtungsfaktoren festzulegen. Balance3D unterscheidet grundlegend zwischen Produkteigenschaften und Produktmerkmalen. Merkmale kann der Entwickler dabei beeinflussen, sind also somit Festlegungen hinsichtlich Geometrie und Werkstoff, während hingegen Eigenschaften aus der Merkmals-Festlegung resultieren und somit nicht direkt beeinflusst werden können.
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Eine Produktanforderung wird in diesem Sinne als erwünschte Produkteigenschaft (wie z. B. die Steifigkeit) verstanden und entspricht damit einem Bewertungskriterium. In der Praxis besteht nun zwischen einem Paar erwünschter Produkteigenschaften E1 und E2 sehr häufig eine Abhängigkeit. Konkurrenz (Komplementarität) zwischen E1 und E2 entsteht dabei genau dann, wenn die zum Erreichen von E1 notwendige Ausprägung eines Merkmals gleichzeitig dem Erreichen von E2 abträglich (zuträglich) ist. Für die angestrebte Visualisierung der Abhängigkeiten erwünschter Eigenschaften zueinander und zu den zugrunde liegenden Produktmerkmalen nimmt Balance3D Anleihen aus dem strukturentdeckenden Verfahren „Multidimensionale Skalierung“ (beschrieben beispielsweise in Backhaus et al. (2000)). Als Eingangsdaten sind paarweise Bewertungen erwünschter Produkteigenschaften hinsichtlich ihrer Abhängigkeiten erforderlich. Diese können direkt vom Nutzer durchgeführt oder durch Balance3D auf Basis einer qualitativen Bewertung der Auswirkungen von Merkmalsausprägungen auf das Erreichen oder Nichterreichen erwünschter Produkteigenschaften generiert werden. Der Algorithmus des strukturentdeckenden Verfahrens (beschrieben in Bauer 2010) stellt nun die erwünschten Eigenschaften als Punkte in einem dreidimensionalen Raum derart dar, mit der Folge, dass die repräsentierenden Punkte komplementärer (konkurrierender) Eigenschaften eine geringe (große) Distanz zueinander aufweisen. Die zugrunde liegenden Produktmerkmale können als Dimensionen in diesem Raum identifiziert werden. Die große Stärke dieser Darstellung liegt darin, dass komplexe Entscheidungsaufgaben mit einer Vielzahl abhängiger Entscheidungsvariablen transparent und intuitiv verständlich gemacht werden. Das Abwägen zwischen den einzelnen erwünschten Eigenschaften, also das Gewichten, erfolgt interaktiv durch die Festlegung eines Punktes (Strategiepunkt) in der Visualisierung. Dieser ist vom Entscheider derart zu wählen, dass die repräsentierenden Punkte eher wichtiger (eher unwichtiger) Eigenschaften eine geringe (große) Distanz zum Strategiepunkt aufweisen. Balance3D ist schließlich in der Lage, mittels einer in Bauer (2010) dargestellten Logik aus der Positionierung des Strategiepunktes korrespondierende Gewichtungsfaktoren der erwünschten Produkteigenschaften abzuleiten. Das Verfahren stellt damit ein Hilfsmittel bei der Bewertung dar, welches das Finden einer konsistenten Kriteriengewichtung erlaubt. Die Vorgehensweise mit Balance3D und die Aussagekraft des Ergebnisses ist anhand eines einfachen Beispiels (Fahrrad) in Abb. 11.15 gezeigt.
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Abb. 11.15 Aufbereitung einer Entscheidungsaufgabe mit Balance3D am Beispiel eines Fahrrades (Bauer 2010)
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11.5 Überprüfung der Bewertungsergebnisse Bei der Anwendung von Bewertungsverfahren kann es zu einer Vielzahl an Fehlern kommen, deren Auswirkungen sich in Art, Schwere und Umfang stark unterscheiden können. Daher ist das Ergebnis einer jeden Bewertung im Anschluss kritisch zu prüfen und Möglichkeiten zu suchen, wie der Bewertungsprozess verbessert werden kann. Hierzu ist die Bewertung vor allem bezüglich Objektivität, Plausibilität und Sensitivität zu hinterfragen: Objektivität: Bei jeder Durchführung einer Bewertung ist darauf zu achten, dass subjektive Einflüsse auf den Ausgang der Bewertung minimiert werden. Dies kann durch Berücksichtigung einiger Aspekte unterstützt werden, welche im Folgenden aufgezählt werden. So ist die Bewertung eines jeden Kriteriums mit gleichen Maßstäben für die Erreichung eines objektiven Ergebnisses unerlässlich. Um Voreingenommenheit zu vermeiden, ist eine neutrale Bezeichnung und Beschreibung der Bewertungsgegenstände förderlich. Zudem hilft dies, eine Beeinflussung durch starke Emotionen zu vermeiden. Eine Bewertung in Gruppen verhindert eine Überbewertung des eigenen Lösungsvorschlags und vermeidet so zusätzlich Verzerrungen innerhalb der Teilbewertungen. Soweit möglich sollten zur Bewertung nur quantifizierbare Indikatoren herangezogen werden. Um dabei die gebotene Objektivität sicherzustellen, sind Messfehler bei solchen quantitativen Bewertungskriterien soweit wie möglich auszuschließen. Sind die gewählten Indikatoren gar nicht oder zumindest nicht mit hinreichender Genauigkeit messbar, ist zu prüfen, ob eine qualitative Bewertung ausreicht. Hier kann eine Verwendung von verbalen Schätzangaben in der Form „hoch“, „mittel“, „tief“ hilfreich sein. Kommen dennoch und trotz Berücksichtigung der bisher genannten Aspekte Zweifel an der Objektivität einer Bewertung auf, so sind besonders aus Kundenanforderungen übersetzte Bewertungskriterien auf fehlerhafte Annahmen bei deren Ableitung hin zu überprüfen. Plausibilität: Nach der Durchführung der Bewertung ist das Ergebnis stets auf Plausibilität zu überprüfen. Zudem ist eine Analyse hinsichtlich der erreichbaren Aussagesicherheit durchzuführen. Die Plausibilität der Bewertung kann u. U. durch die Beachtung folgender Gesichtspunkte sichergestellt bzw. erhöht werden: Um eine plausible Bewertung zu erreichen, muss sichergestellt sein, dass alle relevanten Kriterien berücksichtigt worden sind. Dies kann dadurch erreicht werden, dass die Bewertung unter Berücksichtigung verschiedener Blickwinkel vorgenommen und eine Entscheidung nicht einseitig getroffen wird. Häufig kann eine Bewertung nur auf Basis unsicherer Eingangsdaten durchgeführt werden. Vor allem in frühen Phasen der Produktentwicklung existiert nicht genug oder nicht hinreichend abgesichertes Wissen über das Produkt. Daher ist darauf zu achten, dass Bewertungen möglichst robust gegenüber solchen Unsicherheiten in den Eingangsinformationen gestaltet werden, indem z. B. vergleichende Bewertungen zur Vor-
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bereitung einer späteren Lösungsauswahl vorgenommen werden. Insgesamt ist bei unplausiblen Bewertungsergebnissen zu beachten, dass eine Bewertung zu festen Zeitpunkten nur Momentaufnahmen erlaubt und keine gesicherte Aussage zum Verlauf eines Indikators gibt. Sensitivität: Sensitivitätsanalysen sind bei komplexen, schwer überschaubaren Zusammenhängen zwischen den Bewertungskriterien anzuwenden. Ihr Ziel ist es, zu ermitteln, wie sensitiv das Bewertungsergebnis auf Variation der Randbedingungen (z. B. Gewichtung, Maßzahl, usw.) reagiert. Im Falle von unerwarteten/unplausiblen Bewertungsergebnissen sind gezielt diejenigen Randbedingungen zu untersuchen, welche im Rahmen des Bewertungsvorgangs zu Unstimmigkeiten führten. Eine Möglichkeit hierzu stellt die Ermittlung der jeweiligen Sensitivität der Kriterien dar. Dadurch kann ein detaillierter Überblick über den Einfluss und die Auswirkungen bestimmter Indikatoren gewonnen werden. Zudem kann es helfen, eine Abschätzung der Streuung der Werte vorzunehmen. Eine genauere Analyse der Bewertung hinsichtlich der erreichbaren Aussagesicherheit sowie einen Vergleich der Verfahren führen Feldmann und Stabe durch (Feldmann 1974; Stabe und Gerhard 1974). Schwachstellenanalyse: Ein wichtiges Hilfsmittel, um die Plausibilität und Sensitivität von Bewertungsergebnissen zu untersuchen, ist eine Schwachstellenanalyse. Schwachstellen werden durch unterdurchschnittliche Werte bezüglich einzelner Bewertungskriterien erkennbar. Sie sind besonders bei günstigen Varianten mit guten Gesamtwerten sorgfältig zu beachten und möglichst bei der Weiterentwicklung des Produktes zu beseitigen. Zum Erkennen von Schwachstellen bei den Lösungsvarianten können graphische Darstellungen der Teilwerte herangezogen werden. Man benutzt hier sog. Wertprofile gemäß Abb. 11.16. Während die Balkenlängen der Werthöhe mij
Abb. 11.16 Werteprofil zum Vergleich von Varianten
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entsprechen, sind die Balkendicken ein Maß für die Gewichtung gi. Die Flächeninhalte der Balken geben die gewichteten Teilwerte und die graue Fläche den Gesamtwert einer Lösungsvariante an. Es ist einsichtig, dass es für die Verbesserung einer Lösung vor allem wichtig ist, denjenigen Teilwert zu verbessern, der einen größeren Beitrag zum Gesamtwert liefert. Das trifft bei vorliegender Darstellung für solche Bewertungskriterien zu, die eine große Balkendicke (große Bedeutung) besitzen. Neben einem hohen Gesamtwert ist es darüber hinaus wichtig, ein ausgeglichenes Wertprofil zu erreichen, bei dem keine gravierenden Schwachstellen auftreten. So ist in Abb. 11.16 Variante 2 günstiger als Variante 1, obwohl beide denselben Gesamtwert aufweisen. Die Kriterien g4 und g5 bei Variante 1 schneiden stark unterdurchschnittlich ab und können somit als Schwachstellen angesehen werden. Das Wesen eines Bewertungsvorgangs ist auf der Grundlage einer generischen Vorgehensweise dargestellt worden. Insbesondere wird die Auswahl der Methoden durch die eingeführte Kategorisierung in A-, B- und C-Bewertungsverfahren erleichtert. Dadurch wird eine dem Umfang der Bewertungsaufgabe angepasste Anwendung der Methoden ermöglicht. Abschließend soll darauf hingewiesen werden, dass für einen effektiven Einsatz der vorgestellten Methoden der Anwender über ausreichend Erfahrung verfügen sollte.
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Produktarchitektur
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Dieter Krause, Thomas Vietor, David Inkermann, Michael Hanna, Timo Richter und Nadine Wortmann
Die Gestaltung der Produktarchitektur fokussiert die Analyse und Synthese der Zusammenhänge funktionaler und physischer Produktbeschreibungen in unterschiedlichen Entwicklungsphasen. Ziel ist es dabei, Produkteigenschaften, wie Gewicht, Anpassbarkeit oder Montageaufwand, gezielt zu beeinflussen. Darüber hinaus ist die Gestaltung der Produktarchitektur die Grundlage für die Beherrschung von Variantenvielfalt, indem modulare Produktstrukturen realisiert werden. Dieses Kapitels vermittelt, ein grundlegendes Verständnis für die Relevanz der Produktarchitektur und gibt einen Überblick über etablierte Bauweisen, Strategien und Methoden zur Gestaltung der Produktarchitektur. Dazu werden in Abschn. 12.1 relevante Grundlagen und Begriffe im Kontext der Produktarchitektur eingeführt. In Abschn. 12.2 werden typische Bauweisen technischer Systeme vorgestellt, die aus einer Gestaltung der Produktarchitektur hervorgehen. Einen Überblick über mögliche Zielstellungen, für die Gestaltung der Produktarchitektur, gibt Abschn. 12.3. In Abschn. 12.4 wird die Variantenvielfalt im Unternehmen als ein zentrales Anwendungsfeld betrachtet und Strategien zur modularen Produktstrukturierung und Realisierung von Baureihen beschrieben, um die externe Vielfalt zu bedienen und zeitgleich die produkt- und
D. Krause (*) · M. Hanna · N. Wortmann Technische Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland T. Vietor · T. Richter Technische Universität Braunschweig, Braunschweig, Deutschland D. Inkermann (*) Technische Universität Clausthal, Clausthal, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_12
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D. Krause et al.
prozessbasierte interne Komplexität im Unternehmen zu verringern. In Abschn. 12.5 werden ausgewählte Methoden und ihre unterschiedlichen Zielsetzungen und Schwerpunkte bei der Gestaltung der Produktarchitektur vorgestellt. Abschließend werden in Abschn. 12.6 zwei Beispiele für die Gestaltung der Produktarchitektur beschrieben.
12.1 Definition der Produktarchitektur Für die Analyse- und Synthesetätigkeiten während der Produktentwicklung werden unterschiedliche Beschreibungen des Produkts zugrunde gelegt. Einerseits wird häufig eine lösungsneutrale, zweckangebende funktionale Beschreibung des Produkts – die Funktionsstruktur – für die Produktkonzipierung erarbeitet. Andererseits erfolgt eine physische Definition des Produkts in Form der Produktstruktur. Durch die Produktarchitektur werden die funktionale und physische Beschreibung des Produkts verknüpft und damit der Übergang zwischen beiden Sichtweisen bei der Entwicklung unterstützt. u Definition Die Produktarchitektur fasst die Produktstruktur als physischen Aufbau und die Funktionsstruktur als funktionale Beschreibung eines Produkts zusammen und stellt deren Elemente miteinander in Beziehung. Definition in Anlehnung an (Ulrich 1995; Krause and Gebhardt 2018). In Abb. 12.1 ist das Konzept der Produktarchitektur als Zuordnung von Teilfunktionen zu Komponenten eines Produkts und deren Strukturierung vereinfacht dargestellt. Je nach Zweck der Analyse- oder Syntheseaktivität wird die Produktarchitektur auf Gesamtproduktebene oder Ebene einzelner Teilsysteme und -funktionen betrachtet. Hierfür wird die Funktions- beziehungsweise Produktstruktur in unterschiedlichen Detaillierungen abgebildet. Die Funktionsstruktur des Produkts kann hierarchisch gegliedert werden und beispielsweise auf den Aggregationsebenen Gesamtfunktion, Teilfunktionen (vgl. TFA, Abb. 12.1) sowie untergeordneten Teilfunktionen (vgl. TFA1) beschrieben werden. Ziel ist es hierbei, die geforderten Funktionen und ihre Verknüpfungen abzubilden. Die Produktstruktur beschreibt die physischen Bestandteile und ihre hierarchische Gliederung in Produkt, Baugruppen (vgl. BGA) und Bauteilen (vgl. BTA1) und bildet deren physischen Beziehungen zueinander ab. Häufig erfolgt auch eine Dekomposition der Produktstruktur in Komponenten, die spezifisch für den vorliegenden Anwendungsfall definiert werden. Je nach Betrachtungsebene können Komponenten einzelne Bauteile (vgl. K3) oder mehrere Bauteile (vgl. K2) umfassen, die für diesen Anwendungsfall die kleinsten zu betrachtenden Einheiten der Produkt-
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Abb. 12.1 Schematische Darstellung der Produktarchitektur als Verknüpfung der Funktions- und der Produktstruktur
struktur bilden. Zudem kann auch eine gesamte Baugruppe (vgl. BGA) als Komponente (vgl. K1) definiert werden. In den folgenden Abschnitten wird vereinfachend nur von Komponenten gesprochen, die entsprechend dieser Definition Bauteile oder Baugruppen umfassen können.
12.2 Bauweisen technischer Systeme Ergebnis der gezielten Gestaltung der Produktarchitektur ist eine Bauweise, die technische und/oder wirtschaftliche Anforderungen der vorliegenden Entwicklungsaufgabe bestmöglich erfüllt. Mit der Integral-, Differential-, Verbund- und Modulbauweise sowie der integrierenden und Multifunktionalbauweise werden in diesem Abschnitt typische Bauweisen beschrieben. In der praktischen Anwendung zeigt sich, dass diese Bauweisen häufig miteinander kombiniert werden. Die Kombination erfolgt durch Anwendung der Bauweisen auf unterschiedlichen Aggregationsebenen. Beispielsweise kann ein Produkt in Modulbauweise ausgeführt werden, während einzelne Module des Produkts in Integralbauweise gestaltet werden, um die Vorteile beider Bauweisen zu nutzen.
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Im Folgenden werden die einzelnen Bauweisen als häufig vorzufindende Realisierungen von Produktarchitekturen beschrieben. Für die einzelnen Bauweisen werden die zugrunde liegenden Konstruktionsprinzipien erläutert, um damit Gestaltungshinweise für die Realisierung der Produktarchitektur gegeben.
12.2.1 Integral- und Differentialbauweise Integral- und Differentialbauweise basieren auf unterschiedlichen Konstruktionsprinzipien, die als Idealformen jeweils einen Gestaltungsbereich zur Festlegung der gewünschten Bauweise definieren. Die Integralbauweise zielt primär darauf ab, die Anzahl der Komponenten zu reduzieren, um Vorteile bei der Komponentenbeanspruchung, -fertigung, -beschaffung und -handhabung zu realisieren, vgl. (Pahl und Beitz 1997). Aus Sicht der Produktarchitektur steht damit die Zusammenfassung mehrerer gleicher oder verschiedener Teilfunktionen in einer Komponente im Vordergrund. Die Differentialbauweise entspricht der Umkehrung dieses Konstruktionsprinzips und zielt darauf ab, eine Komponente oder ein Produkt in mehrere Komponenten zu zergliedern. Im Fokus steht die Zerlegung von Komponenten in mehrere Komponenten und die Zuordnung verschiedener Funktionen zu unterschiedlichen Komponenten. In Abb. 12.2 sind die Konstruktionsprinzipien der Integral- und Differentialbauweise schematisch dargestellt. Hierbei entsprechen die Komponenten den einzelnen Bauteilen. Ausgangssituation für die Anwendung der Integralbauweise ist in der Regel eine initial erarbeitete oder bestehende Produktstruktur, welche für die Realisierung eines bestimmten Funktionsumfangs eine höhere Anzahl unterschiedlicher Komponenten vorgibt. Durch das Konstruktionsprinzip der Integralbauweise werden einzelne Komponenten zusammengefasst beziehungsweise integriert, um diese als eine Komponente zu realisieren.
Abb. 12.2 Gegenüberstellung der Konstruktionsprinzipien und exemplarische Treiber für Integral- und Differentialbauweisen. Abbildung in Anlehnung an (Krause and Gebhardt 2018)
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u Definition Die Integralbauweise beschreibt das Konstruktionsprinzip, mehrere Komponenten mit gleichen oder unterschiedlichen Funktionen zu einer neuen Komponente mit gleichbleibendem Funktionsumfang zu vereinen. Definition in Anlehnung an (Pahl und Beitz 1997; Ziebart 2012). Ziele bei der Anwendung der Integralbauweise können Verbesserungen einzelner Produkteigenschaften, wie Gewicht, Steifigkeit oder Robustheit, durch den Entfall von Schnittstellen sein. Weiterhin können Kosten reduziert werden, indem beispielsweise Montageaufwände verringert oder Fertigungsmittel eingespart werden. Zusätzlich kann die Anzahl der Bauteile reduziert werden, wenn mehrere Funktionen in einer Komponente zusammengefasst werden. Die Anwendung der Integralbauweise erfolgt daher oftmals bei Serienprodukten oder bei restriktiven Leichtbau-Anforderungen. Bei Anwendung einer Differentialbauweise wird die Anzahl der Komponenten einer Produktstruktur erhöht, indem die bestehenden Komponenten weiter zergliedert werden. u Definition Die Differentialbauweise beschreibt das Konstruktionsprinzip, ein Produkt oder eine Komponente bei gleichbleibendem Funktionsumfang in mehrere neue Komponenten zu zergliedern. Definition in Anlehnung an (Pahl und Beitz 1997). Durch die Zergliederung können Produkteigenschaften verbessert werden, indem Materialauswahl und Bauteilgestaltung der einzelnen Komponenten an die vorliegenden Anforderungen angepasst werden. Prozessvorteile können sich dadurch ergeben, dass kleine Bauteile in der Fertigung oder während des Transports einfacher gehandhabt werden können. Zudem kann die Differentialbauweise dazu beitragen, die Anzahl von Gleichteilen oder Wiederholteilen innerhalb eines Produkts zu erhöhen. Die höheren Stückzahlen führen in der Regel zu reduzierten Fertigungskosten. Weitere Vorteile können sich bei der Beschaffung ergeben, da Normteile oder beschaffungsgünstige Halbzeuge häufiger verwendet werden können. Die beschriebenen Vorteile und Ziele der Integral- und Differentialbauweisen sind in der Regel stark stückzahlabhängig. Vereinfachend kann daher angenommen werden, dass die Vorteile der Differentialbauweise, insbesondere bei Produkten in Einzelfertigung oder Kleinserien, erzielt werden. Bei großen Stückzahlen hingegen ist die Integralbauweise häufig besonders geeignet, da die Komponenten in Integralbauweise durch geeignete Fertigungsverfahren, wie Druckguss oder Spritzguss, kostengünstig hergestellt werden können. Die grundsätzliche Stückzahleignung beider Bauweisen ist schematisch in Abb. 12.3 dargestellt. Die Verläufe zeigen qualitativ die Eignung integraler und differentialer Bauweisen auf.
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Abb. 12.3 Grundsätzliche Stückzahleignung von Integral- und Differentialbauweise. Abbildung in Anlehnung an (Franke 2002)
12.2.2 Modulbauweise Integral- und Differentialbauweise verfolgen vorrangig das Ziel, wirtschaftliche und technische Eigenschaften einzelner Komponenten zu verbessern. Die Modulbauweise zielt darauf ab, Module zu definieren die eine effiziente Entwicklung und Herstellung mehrerer Produktvarianten einer Produktfamilie unter Berücksichtigung technischfunktionaler und produktstrategischer Kriterien ermöglichen. Die einzelnen Module bestehen dabei aus einzelnen oder mehreren Komponenten, siehe Abschn. 12.1. u Definition Die Modulbauweise beschreibt das Konstruktionsprinzip, Produkte in Module zu gliedern, die untereinander möglichst stark entkoppelt sind, während die Komponenten innerhalb der einzelnen Module starke Beziehungen aufweisen. Durch die Kombination der Module wird eine effiziente Bildung von Produktvarianten ermöglicht. Definition in Anlehnung an (Krause und Gebhardt 2018). Die Entkopplung der einzelnen Module spiegelt sich im Maschinenbau in einer physischen Trennung wider (physische Modularität). Diese physische Trennung ist Grundlage dafür, dass die Module beispielsweise weitgehend unabhängig voneinander entwickelt und hergestellt, in unterschiedlichen Produktfamilien (wieder-)verwendet oder ausgetauscht werden können, siehe Abschn. 12.4.2. Ergänzend werden bei der Modulbildung funktionale Kriterien für die Entkopplung (funktionale Modularität) zugrunde gelegt. Eine funktionale Entkopplung kann beispielsweise bei mechatronischen Systemen angewendet werden, um Module unabhängig voneinander abzusichern oder zu testen. Die funktionale Modularität, auch als Funktionsbindung bezeichnet, ist dabei
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eine von fünf wesentlichen Eigenschaften der Modularität nach Salvador (Salvador 2007), siehe Abb. 12.4. Diese Eigenschaften können genutzt werden, um grundlegende Ziele und Prinzipien zur Entwicklung modularer Produktarchitekturen aufzuzeigen und zu erkennen. Die Eigenschaft Entkopplung definiert die Interaktion der Komponenten innerhalb eines Moduls sowie zwischen Modulen. Die Analyse der Entkopplung trägt beispielsweise dazu bei, Komponenten mit starken Interaktionen innerhalb eines Moduls zusammenzufassen (vgl. Komponenten K1 bis K4 in Modul M1) und die Interaktionen mit Komponenten weiterer Module zu reduzieren (vgl. K5 in M2 und K4 in M1). Eine kommunale Verwendung der Module hingegen bedeutet, dass innerhalb einer Produktfamilie einzelne Module (vgl. M1) gemeinsam von Produktvarianten (vgl. P1, P2) verwendet werden können. Durch die Kombinierbarkeit der Module können Produktvarianten (vgl. P1, P2) durch Kombination von Komponenten beziehungsweise Modulen (vgl. M1–M4) konfiguriert werden. Eine Schnittstellenstandardisierung sorgt dafür, dass die Verbindungen zwischen den Modulen einheitlich gestaltet sind, sodass die Module (vgl. M3, M4) mit geringem Aufwand kombiniert werden können. Mit der Funktionsbindung wird eine feste Zuordnung zwischen den Funktionen (vgl. F1–F3) und Modulen (vgl. M1, M2) erzielt. Die genannten Eigenschaften der Modularität sind je nach Entwicklungsaufgabe unterschiedlich stark gewichtet. Die Modularität einer Produktarchitektur ist damit als graduelle Eigenschaft anzusehen, die sehr grob bis sehr fein ausgeprägt sein kann. Zielsetzung der Modularisierung ist nicht zwingend, eine möglichst hohe Modularität zu erreichen. Vielmehr wird die Entwicklung einer strategisch, unternehmensspezifisch und produktspezifisch ausgerichteten modularen Produktarchitektur beabsichtigt, durch die möglichst viele Vorteile in allen Produktlebensphasen erzielt werden können, siehe Abschn. 12.4. Dies führt zu einer vergleichsweise offenen Definition und einer breiten Verwendung der Begriffe des modularen Produkts oder der modularen Produktfamilie (Ulrich und Tung 1991). Die genannten Eigenschaften sind Stellhebel bei der Definition
Abb. 12.4 Fünf grundlegende Eigenschaften der Modularität. Abbildung in Anlehnung an (Salvador 2007; Krause and Gebhardt 2018)
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von Modulen und der Entwicklung von Modulbauweisen, um die übergeordneten Ziele Kosten, Qualität und Zeit zu erreichen. Beispielsweise können Module so festgelegt werden, dass sie weitgehend unabhängig voneinander und parallel entwickelt werden können, um zeitliche Vorteile zu erzielen. Zudem können sich in anderen Produktlebensphasen Vorteile ergeben, da Module beispielsweise separat voneinander abgesichert und getestet oder an unterschiedlichen Standorten produziert werden können. In der Nutzungsphase können sich Vorteile dadurch ergeben, dass eine Produkterweiterung oder der Austausch defekter Module vereinfacht wird, siehe Abschn. 12.4. Ein Beispiel für die Modulbauweise stellt der in Abschn. 12.6.1 beschriebene modularisierte Aufzug dar. Neben den grundlegenden Konstruktionsprinzipien der Integral- und Differentialbauweise sowie der Modulbauweise sind weitere Bauweisen für die Realisierung der Produktarchitektur etabliert. Mit der Verbundbauweise, der integrierenden und multifunktionalen Bauweise werden in den folgenden Abschnitten weitere häufig verwendete Konstruktionsprinzipien aufgezeigt.
12.2.3 Verbundbauweise Bei der Verbundbauweise werden durch unterschiedliche Fertigungsverfahren erzeugte Komponenten oder Komponenten unterschiedlicher Werkstoffe unlösbar miteinander verbunden (Pahl und Beitz 1997). Beispiele für Verbundbauweisen sind das Anschweißen von Komponenten an eine gegossene Komponente aus gleichem Material oder die unlösbare Verbindung einer Stahlbuchse mit einem Kunststoffteil. Die Verbundbauweise zielt somit darauf ab, Eigenschaften unterschiedlicher Materialien in einer Komponente zu vereinen. Zielstellungen können beispielsweise Gewichtsminimierung, Erhöhung des Funktionsumfangs von Komponenten oder eine wirtschaftlichere Produktion durch höhere Stückzahlen sein. Bei Faser-Kunststoffverbünden werden Fasern in spezifischer Ausrichtung zur Erhöhung der Bauteilsteifigkeit mit Harz umgossen und fixiert. Weitere Anwendungen zielen auf die irreversible Verbindung unterschiedlicher Werkstoffe ab, wie beispielsweise Stahl und Kunststoffe durch urund umformende Verfahren. In diesen Fällen wird die Verbundbauweise auch als MultiMaterial-Bauweise bezeichnet (Nestler 2014; Kleemann et al. 2017). Abb. 12.5 zeigt als Beispiel einer Verbundbauweise, hier als Multi-Material-Bauweise bezeichnet, den Trägerquerschnitt eines PKW-Karosseriebauteils. Die Stahlblechschale wird in diesem Fall durch eine faserverstärkte Kunststoffeinlage und faserverstärkte Kunststoffrippen verstärkt, um eine höhere Torsions- und Biegesteifigkeit sowie Knicksicherheit bei minimalem Bauteilgewicht zu realisieren.
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Abb. 12.5 Aufbau einer anwendungsnahen Profilgeometrie in Multi-Material-Bauweise
12.2.4 Integrierende Bauweise Die integrierende Bauweise stellt eine Kombination der Konstruktionsprinzipien der Integral- und Differentialbauweise dar (Klein 2013). Die Vorteile der Integral- und Differentialbauweise werden verknüpft, indem gezielt Schnittstellen zwischen den Komponenten eingefügt werden, um beispielsweise Rissausbreitung, Korrosion oder Kerbprobleme zu vermeiden. Hierbei wird die Anzahl der Trennungen je Komponente auf ein sinnvolles Maß begrenzt, um eine gute Austauschbarkeit zu gewährleisten. Zudem werden häufig (leichtbau-)optimale Werkstoffe eingesetzt. Abb. 12.6 verdeutlicht die Unterscheidung zwischen Integral- und Differential- sowie intergierender Bauweise. Das Konstruktionsprinzip der integrierenden Bauweise fokussiert somit das gezielte Einbringen von Trennungen in Komponenten unter besonderer Berücksichtigung von Leichtbauanforderungen.
12.2.5 Multifunktionalbauweise Das Konstruktionsprinzip der Multifunktionalbauweise verfolgt das Ziel, zusätzliche Funktionen durch eine Komponente oder ein Bauteil zu realisieren, indem bestehende geometrische oder stoffliche Eigenschaften einer Komponente genutzt werden (Koller 1994). Dabei wird eine Funktionsintegration realisiert, indem entweder der Gesamtfunktionsumfang des Produkts durch zusätzliche Funktionen, sogenannte Gratisfunktionen, erhöht wird oder der Gesamtfunktionsumfang bei verringerter Anzahl an Komponenten erhalten bleibt. Im Vergleich zur Integralbauweise fokussiert das Konstruktionsprinzip der Multifunktionalbauweise die Erhöhung der
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Abb. 12.6 Charakterisierung und Unterscheidung von Differential-, Integralbauweise und integrierender Bauweise. Abbildung in Anlehnung an (Klein 2013)
genutzten Funktionen der Komponente, während die Integralbauweise vorrangig auf die Reduzierung der Anzahl der Komponenten abzielt. Beispiele für die Realisierung einer Multifunktionalbauweise sind die Nutzung eines Lampenkabels zur Energieleitung und zur Aufnahme der Gewichtskraft der Lampe (Nutzung vorhandener Eigenschaften des eingesetzten Werkstoffs) oder die Verwendung eines Hohlprofils als Lastträger und Luftleiter (Erfüllung weiterer Funktionen durch geeignete Gestaltung). Darüber hinaus kann eine Multifunktionalbauweise durch eine zeitlich gestaffelte Mehrfachnutzung von Funktionen bei geeigneter Baugruppengestaltung realisiert werden. Abb. 12.7 zeigt die Umsetzung der Multifunktionalbauweise am Beispiel einer Linearführung mit zusätzlicher Klemmfunktion (Lommatzsch et al. 2011). Hierbei wird die elastische Deformation einzelner Segmente des Grundkörpers genutzt, um durch pneumatischen Innen druck den Grundkörper gezielt zu verformen und den Führungsschlitten zu fixieren. Der Grundkörper realisiert somit Stütz- und Führungsfunktionen für die Wälzkörper und dient gleichzeitig als Aktor für die Klemmung. Obwohl die Funktionen jeweils durch unterschiedliche Wirkflächen realisiert werden, handelt es sich hierbei um eine Multifunktionalbauweise, bei der die unterschiedlichen Werkstoffeigenschaften durch geeignete Formgebung genutzt werden. Aufgrund der unterschiedlichen Konstruktionsprinzipien tragen die beschriebenen Bauweisen zur Erreichung verschiedener Zielstellungen bei. Die Auswahl und Anwendung der Bauweisen erfolgt in der Regel ausgehend von bestehenden Produktstrukturen oder vorhandenen Produkten.
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Abb. 12.7 Linearführung mit zusätzlicher Klemmfunktion als Beispiel für eine Multifunktionalbauweise. Abbildung in Anlehnung an (Lommatzsch et al. 2011)
12.3 Zielstellungen für die Gestaltung der Produktarchitektur Die Analyse und Gestaltung der Produktarchitektur kann unterschiedliche Zielstellungen verfolgen. Die verfolgten Zielstellungen haben in der Regel Auswirkungen auf die gewünschten Eigenschaften des Produkts während der Nutzungsphase und weiterer Produktlebensphasen, wie der Produktabsicherung oder Produktion. Es ist daher zweckmäßig, die Zielstellungen im Rahmen der vorliegenden Entwicklungsaufgabe explizit zu klären. Da sich durch die zugrunde gelegte Bauweise in der Regel Abhängigkeiten zwischen einzelnen Zielstellungen ergeben, sind neben den unmittelbar verfolgten Zielen auch gegebenenfalls negative Auswirkungen der gewählten Bauweise zu beurteilen. Dieser Abschnitt gibt einen Überblick über mögliche Zielstellungen für die Analyse und Gestaltung der Produktarchitektur. Dabei beschränkt sich die Beschreibung auf eine Auswahl in der Literatur genannter Zielstellungen, die in der dargestellten Form keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat, vgl. beispielsweise (Ulrich 1995; Yassine und Wissmann 2007; Bonvoisin et al. 2016). Zur Gliederung wird nachfolgend zwischen Zielstellungen aus Sichtweise des Unternehmens und des Kunden sowie zwischen der Produkt- und Prozessperspektive unterschieden. Hieraus ergibt sich der in Abb. 12.8 dargestellte Orientierungsrahmen. Durch die Quadranten werden Zielfelder aufgezeigt, in die Beispiele für Zielstellungen für die Gestaltung der Produktarchitektur eingeordnet sind. In realen Entwicklungssituationen tritt in der Regel eine Kombination mehrerer Zielstellungen auf, die untereinander priorisiert werden müssen. Als übergeordnete Ziele sind hierbei immer Zeit, Qualität, Kosten und Flexibilität zu berücksichtigen (Business Advisory 2018). Beispielsweise sind Maßnahmen zur Gleichteileverwendung immer hinsichtlich initialer Kostenaufwände sowie langfristig erzielbarer Kostenreduzierungen, Qualitätssteigerungen
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Abb. 12.8 Exemplarische Zielstellungen bei der Gestaltung der Produktarchitektur
und gegebenenfalls Zeitersparnissen während der Produktentwicklung und Fertigung zu bewerten. Auch bei Maßnahmen zur Gewichtsreduzierung müssen Kosten und beispielsweise die erzielbare Fertigungsflexibilität überprüft werden. Die dargestellten Quadranten legen jeweils exemplarische Schwerpunkte für die Analyse und Gestaltung der Produktarchitektur fest, indem sie einzelne Sichten hervorheben. Die folgende Beschreibung möglicher Zielstellungen zeigt deren Vielfalt auf und verdeutlicht damit, dass eine Klärung der Zielstellungen zu Beginn der Gestaltung der Produktarchitektur erforderlich ist. Gleichzeitig können die Zielstellungen genutzt werden, um die Auswahl der in den Abschn. 12.4 und 12.5 beschriebenen Strategien und Methoden zu erleichtern.
12.3.1 Planung und Entwicklung des Produktprogramms Unternehmen müssen ihr Produktprogramm stetig weiterentwickeln, um wettbewerbsfähig am Markt zu agieren. Neben technologischen Neuerungen müssen Produkte beispielsweise durch funktionale, ästhetische oder wirtschaftliche Eigenschaften differenziert werden, um Kundenwünsche bestmöglich zu erfüllen. Der Quadrant Planung und Entwicklung des Produktprogramms zeigt produktbezogene Zielstellungen
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der Produktarchitektur aus Sicht des Unternehmens auf, siehe Abb. 12.8. Die Weiterentwicklung und Differenzierung der Produkte spiegeln sich dabei im Produktprogramm eines Unternehmens wider. Zentrale Herausforderung der Realisierung einer großen externen Produktvielfalt ist die Vermeidung und Reduzierung interner Vielfalt von Komponenten. Eine Gestaltung der Produktarchitektur, die zu einer Reduzierung der internen Vielfalt führt, kann dazu beitragen, höhere Kosten zu vermeiden, vgl. Abschn. 12.4. Ein Beispiel hierfür ist die Modulbauweise, bei der Produktvarianten durch zweckmäßige Kombination einer möglichst geringen Anzahl an Modulen realisiert werden (Franke und Schill 1987). Des Weiteren kann die Gestaltung der Produktarchitektur einen Beitrag zur Ermöglichung von Flexibilität und Zukunftsrobustheit von Produkten leisten (Greve und Krause 2018). Ziel der Anpassung der Produktarchitektur ist es in diesem Fall, zukünftige Änderungen der Marktanforderungen und eingesetzter Technologien vorherzusehen, um diese effizient in den angebotenen Produkten umsetzen zu können. Hierzu können beispielsweise technologisch schnelllebige Komponenten austauschbar oder nachrüstbar als Module in die Produktstruktur integriert werden (Bauer 2016).
12.3.2 Wertschöpfungsprozesse im Unternehmen Während der Produktentwicklung sind sämtliche Produktlebensphasen von der Produktplanung über die Entwicklung und Fertigung bis hin zur Nutzung und Rückführung des Produkts zu berücksichtigen. Die Gestaltung der Produktarchitektur wirkt sich auf alle Lebensphasen aus, da durch Anwendung verschiedener Bauweisen beispielsweise Fertigungs-, Montage- und Testeigenschaften bestimmt werden (Erixon 1998; Krause und Gebhardt 2018). Der Quadrant Wertschöpfungsprozesse im Unternehmen stellt die Zielstellungen im Hinblick auf unternehmensinterne und -übergreifende Prozesse dar, um die Entwicklung, Herstellung und Montage des Produkts kosten- und zeiteffizient zu gestalten. Insbesondere bei der Entwicklung von Produkten mit Lösungselementen verschiedener Entwicklungsdomänen, wie mechatronischen Produkten, oder bei standortübergreifenden Entwicklungsprojekten ist es zweckmäßig, Entwicklungs-, Produktions- und Testaufgaben durch eine geeignete Produktstruktur zu gliedern. Durch eine Parallelisierung von Prozessen können diese einzelnen Lösungselemente unabhängig voneinander entwickelt, hergestellt und getestet werden, bevor sie zu einem Gesamtsystem integriert werden. Durch eine modulare Bauweise können hierbei Zeitersparnisse im Produktentstehungsprozess erreicht werden (Vietor et al. 2015). Ein weiteres Beispiel für eine Zielstellung in diesem Quadranten ist die Reduzierung von Fertigungs- und Montageaufwand. Eine Gestaltung von Komponenten in Integralbauweisen kann dazu beitragen, dass die Anzahl der Fertigungs- und Montageschritte reduziert wird. Vorteile können dadurch insbesondere bei Komponenten in hohen Stückzahlen erreicht werden (Franke 2002).
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12.3.3 Produktnutzen für den Kunden Die Erfüllung kundenspezifischer Anforderungen steht im Mittelpunkt der Produktentwicklung und -realisierung und ist zwingende Voraussetzung für erfolgreiche Produkte. Der Quadrant Produktnutzen für den Kunden hebt die kundenspezifische Sicht auf das Produkt hervor. Im Fokus stehen dabei häufig die Erfüllung kundenindividueller Anforderungen oder das Angebot zusätzlicher Produktfunktionen während der Nutzungsphase. Beispielsweise können durch die Gestaltung der Produktarchitektur und die Anwendung einer geeigneten Bauweise einzelne Beschaffenheits- und Gebrauchseigenschaften, die für den Nutzer maßgebend sein können, wie Gewicht, Robustheit oder Anpassbarkeit, wesentlich beeinflusst werden. Eine Integral- oder Verbundbauweise kann beispielsweise maßgeblich zur Reduzierung des Gesamtgewichts des Produkts beitragen (Kleemann et al. 2017). Weiterhin kann die geeignete Gestaltung der Produktarchitektur Grundlage für die Ermöglichung von Nachrüstung und Produktaufwertung und somit zu einer erhöhten Kundenorientierung und -bindung beitragen. Hierzu können beispielsweise gezielt Funktionen und Komponenten vorgesehen werden, die während der Nutzung ergänzt oder ausgetauscht werden. Grundlage hierfür sind Produktarchitekturen, die eine gezielte Ergänzung oder Änderung von Modulen während der Nutzungsphase zulassen (Schuh 2005; Inkermann et al. 2018, Krause und Gebhardt 2018). Für die Anpassung der Produktarchitektur und Erreichung der exemplarisch genannten Ziele ist dabei immer eine Betrachtung von Baugruppen oder des Gesamtsystems erforderlich, um grundlegende Veränderungen vornehmen zu können.
12.3.4 Interaktion zwischen Kunden und Unternehmen Neben unternehmensinternen Prozessen und Produkteigenschaften werden durch die Produktarchitektur die Einflussmöglichkeiten des Kunden auf das Produkt sowie die Interaktion zwischen Kunden und Unternehmen während der Angebots-, Entwicklungsund Produktnutzungsphase bestimmt. Der Quadrant Interaktion zwischen Kunden und Unternehmen zeigt mögliche Zielstellungen bei der Anpassung der Produktarchitektur mit Auswirkungen auf die Prozessgestaltung aus Sicht des Kunden auf. Eine exemplarische Zielstellung ist die Unterstützung von Produktkonfiguration und -angebot. Durch die Produktarchitektur kann dabei einerseits der Umfang der für den Kunden möglichen Individualisierung des Produkts definiert werden, indem beispielsweise individualisierbare Komponenten vorgegeben werden. Andererseits wird die Produktkonfiguration beeinflusst, indem beispielsweise Konfigurations- und Kalkulationsmöglichkeiten vorgegeben werden, die potentielle Kunden als Entscheidungsgrundlage heranziehen können (Franke 2002). Weiterhin können Art und Umfang der Interaktion zwischen Kunden und Unternehmen durch die Produktarchitektur beeinflusst werden, indem eine Reduzierung des Service -und Instandhaltungsaufwandes durch austausch-
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bare Komponenten angestrebt wird. Neben den erforderlichen Maßnahmen bei der Produktarchitektur gestaltung wirken sich diese Zielstellungen auf begleitende Prozesse der Informationsbereitstellung durch und für den Kunden aus, die für das erfolgreiche Anbieten der Produkte oder ergänzender Serviceleistungen erforderlich sind (Aurich und Clement 2010). Die Erreichung der genannten Zielstellungen beeinflusst dabei immer die Produktarchitektur, da beispielsweise eine geeignete Modularisierung erfolgen muss, um eine effiziente Produktkonfiguration zu ermöglichen. Die beschriebenen Zielstellungen und deren Zuordnung zu den einzelnen Quadranten stellen Beispiele dar, die verdeutlichen, welche Ausgangspunkte bei der Gestaltung der Produktarchitektur fokussiert werden können. Hervorzuheben ist, dass die aufgezeigten Zielstellungen in der Regel nicht unabhängig voneinander sind. Beispielsweise kann sich eine gute Anpassbarkeit und Nachrüstbarkeit zur Steigerung des Kundennutzens negativ auf die Kommunalität zur Reduzierung der internen Variantenvielfalt auswirken. Diese Zielkonflikte treten bei der Auswahl geeigneter Strategien und Bauweisen für die Realisierung der Produktarchitekturen auf und können teilweise durch Kombinationen der Bauweisen oder Priorisierung der Zielstellungen entschärft werden. Die beschriebenen Quadranten in Abb. 12.8 sollen die verschiedenen Blickwinkel bei der Analyse und Gestaltung der Produktarchitektur verdeutlichen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Zielstellungen zu erheben. Im folgenden Abschnitt des Kapitels werden verschiedene Strategien zur Produktstrukturierung unter besonderer Berücksichtigung der Variantenvielfalt eingeführt.
12.4 Produktstrukturierung unter Berücksichtigung der Variantenvielfalt Eine der wesentlichen Zielstellungen der Gestaltung der Produktarchitektur ist die Handhabung und Realisierung der Produktvielfalt. Dafür werden in Unternehmen Strategien definiert, die Vorgaben für die Produktstrukturierung festlegen. Der Fokus liegt damit auf der Gestaltung der Produktstruktur (physische Sicht). Die Auswahl einer Strategie zur Produktstrukturierung kann sich auf eine Vielzahl von Zielstellungen des Unternehmens auswirken, siehe Abschn. 12.3, da unterschiedliche Produktlebensphasen der Produktentstehung und -nutzung eng mit der Produktstruktur verknüpft sind. Produktstrukturstrategien haben damit auch einen Einfluss auf die Ausgestaltung der Bauweise. u Definition Produktstrukturstrategien sind Vorgaben in einem Unternehmen bezüglich der Ausführung der Produktstrukturen zur Erreichung der Unternehmensziele. Sie sind produktübergreifend bis hin zum gesamten Produktprogramm gültig und haben eine mittel- bis langfristige Ausrichtung, die eine oder mehrere Produktgenerationen umfasst. Definition in Anlehnung an (Krause und Gebhardt 2018).
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Produktstrukturstrategien können sich entlang der unterschiedlichen Ebenen von dem Produktprogramm über die Produktlinie bis hin zur Produktfamilie auswirken. Der Zusammenhang von Produktprogramm, Produktionsprogramm, Produktlinie, Produktfamilie und Produktvarianten ist in Abb. 12.9 dargestellt. Das Produktprogramm des Unternehmens umfasst die Gesamtheit der von einem Unternehmen angebotenen Produkte und bildet somit das Produktionsprogramm einschließlich zugekaufter Produkte und Dienstleistungen ab, die ohne substanzielle Änderungen als Handelswaren am Markt angeboten werden (Rupp 1988). Das Produktionsprogramm umfasst alle Produkte, die das Unternehmen selbst herstellt. Dem Produktionsprogramm untergliedert sind die Produktlinien, welche sich aus Produktfamilien zusammensetzen, die wiederrum aus verschiedenen Produktvarianten bestehen (Krause und Gebhardt 2018). Die Beherrschung der durch die Produktvarianz verursachten Komplexität – auch als varianzinduzierte Komplexität bezeichnet – stellt Unternehmen vor eine besondere Herausforderung, der durch die Wahl einer geeigneten Produktstrukturstrategie begegnet werden kann. In Abschn. 12.4.1 werden die grundlegenden Herausforderungen der Variantenvielfalt erläutert. In Abschn. 12.4.2 wird das besondere Potenzial der modularen Produktstrukturierung zur Bewältigung der Variantenvielfalt aufgezeigt und mit der Gleichmodul-, Modulbaukasten- und Plattformstrategie drei konkrete Möglichkeiten vorgestellt. Ergänzend wird in Abschn. 12.4.3 die Baureihenstrategie erläutert, in der Produktvarianten durch die Realisierung unterschiedlicher Größenstufen erzeugt werden.
12.4.1 Herausforderungen der Variantenvielfalt Megatrends, wie Globalisierung, neue Konsummuster, neue Technologien sowie die zunehmende Individualisierung, zwingen Unternehmen zu einer stärkeren Diversifizierung ihres Produktangebots, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Diese Diversifizierung äußert sich in einer dem Kunden angebotenen, großen externen
Abb. 12.9 Schematische Einteilung eines Produktprogramms mit Produktlinien, -familien und – varianten. Abbildung in Anlehnung an (Rupp 1988)
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Produktvielfalt. Zur Beschreibung der externen Vielfalt eignen sich insbesondere die Kundenanforderungen eines Produkts. Die externe Vielfalt geht häufig mit einem Anstieg der internen Vielfalt an Komponenten und Prozessen im Unternehmen einher. Die dafür benötigten zusätzlichen Anstrengungen, zusätzlichen Ressourcen und der erhöhte Informationsbedarf wird durch die produktvarianzinduzierte Komplexität beschrieben (Abdelkafi 2008; Brosch 2014). Sie ist dann besonders ausgeprägt, wenn die Unterschiede in der Auftragsabwicklung durch die Verschiedenheit der Produktvarianten ausgelöst werden, und kann zu einem Verlust der Transparenz im Unternehmen, zusätzlichen Ausnahmen und Sonderprozessen, Mehraufwänden sowie höheren Kosten führen. Ziel eines produzierenden Unternehmens muss es daher sein, die vom Markt geforderte externe Vielfalt mit einer möglichst geringen internen Vielfalt abzubilden, siehe Abb. 12.10. Aber nicht nur die genannten externen Ursachen, die durch Unternehmen nur bedingt beeinflussbar sind, sondern auch interne Ursachen können die interne Vielfalt erhöhen. Produzierende Unternehmen stehen somit vor der Herausforderung, geeignete Produktstrukturstrategien sowie der Methoden zur Produktstrukturierung auszuwählen und anzuwenden. Durch die beschriebene Variantenvielfalt steht das Unternehmen bei der Gestaltung der Produktstruktur in der Regel vor einem Zielkonflikt zwischen Standardisierung und Differenzierung. Abb. 12.11 zeigt aus produktstrategischer Sicht wesentliche Gründe aus unterschiedlichen Lebensphasen auf, die für eine Standardisierung oder Differenzierung sprechen. Den aufgezeigten Konflikt gilt es, für alle Komponenten zu lösen. Während durch Standardisierung von Komponenten die varianzinduzierte Komplexität im Unternehmen beispielsweise durch eine verringerte Anzahl an Komponenten (weniger Sachnummern) reduziert werden kann, wird durch eine zunehmende Differenzierung eine bessere Erfüllung spezifischer Kundenwünsche möglich. Durch Standardisierung von Komponenten und der damit einhergehenden verstärkten kommunalen Verwendung von Modulen in unterschiedlichen Produktvarianten ergeben sich in der Regel Stückzahleffekte, die sich positiv auf Entwicklungszeit und -kosten auswirken. Bei einer zu geringen Differenzierung durch Verwendung standardisierter Module kann es hingegen bei einigen Produktvarianten zu einer Überdimensionierung kommen, was sich negativ
Abb. 12.10 Abbildung einer hohen externen auf eine geringe unternehmensinterne Produktvielfalt. Abbildung in Anlehnung an (Kortmann et al. 2009) und (Krause und Gebhardt 2018)
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Abb. 12.11 Zielkonflikt zwischen Standardisierung und Differenzierung bei der Festlegung einer geeigneten Produktstrukturstrategie (Krause und Gebhardt 2018)
auf die Herstellkosten auswirkt. Aus diesen Gründen ist eine auf alle wichtigen Lebensphasen abgestimmte Produktstrukturierung zu erarbeiten. Nachfolgend werden unterschiedliche Strategien für die modulare Produktstrukturierung beschrieben.
12.4.2 Strategien zur modularen Produktstrukturierung Modulare Produktstrukturstrategien sind geeignet, um der Herausforderung der Variantenvielfalt bei der Gestaltung der Produktstruktur gerecht zu werden. Die Begriffe modulare Produktstrukturierung und Modularisierung, siehe Abschn. 12.2.2, können dabei synonym verwendet werden, da durch eine Modularisierung der grundlegende Aufbau der modularen Produktstruktur festgelegt wird. Wie bei der Vorstellung der Modulbauweise bereits erläutert, beruht die modulare Produktstrukturierung auf der Bildung von Modulen und somit auf dem Zusammenfassen von Komponenten des Produkts und deren Entkopplung zum Rest des Produkts. Durch eine abgestimmte Entwicklung von Produktstrukturen mehrerer Produktfamilien und -linien können große Potenziale aufgrund von Synergien erzielt werden. Hierdurch wird eine gemeinsame Verwendung von Modulen über Produktvarianten bzw. Produktfamilien hinweg möglich, wodurch große Einsparpotenziale und Wettbewerbsvorteile resultieren können. Weitere Vorteile der Modularisierung sind in (Krause und Gebhardt 2018) unter Berücksichtigung unterschiedlicher Produktlebensphasen beschrieben. Es gibt keine einheitliche Sichtweise auf die Unterteilung der modularen Produktstrukturstrategien. Meist werden dazu die Begriffe Plattform, Baukasten, Module und leichte Abwandlungen davon zur Beschreibung ähnlicher Inhalte verwendet. Im Folgenden wird die Einteilung nach (Krause und Gebhardt 2018) vorgestellt, da sie
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die Bandbreite der Strategien produktfamilienübergreifend erläutern und die wichtigen Effekte der Mehrfachverwendung deutlich aufzeigt. Hierbei wird zwischen Gleichmodul-, Modulbaukasten- und Plattformstrategie unterschieden. Diese spannen den Lösungsraum modularer Produktstrukturen idealisiert auf und stellen gleichzeitig grundlegende Aufbauprinzipien der Produktstruktur dar. Sie sind nicht als sich gegenseitig ausschließende Alternativen zu verstehen, sondern können unternehmensspezifisch skaliert und miteinander kombiniert werden. Während die Modulbaukastenstrategie und die Plattformstrategie sich auf einzelne Produktfamilien beziehen, richtet sich die Gleichmodulstrategie auf mehrere Produktfamilien hinweg aus und kann sich auch auf das gesamte Produktprogramm beziehen. Alle Strategien zielen auf die Reduzierung der internen Vielfalt durch die Vermeidung von Neuentwicklungen sowie die Nutzung von Skaleneffekten ab. In Abb. 12.12 sind die drei Strategien einander gegenübergestellt. Die drei dargestellten Strategien haben gemein, dass sie mit vordefinierten Modulen arbeiten, die sich je nach Strategie in ihrem Umfang unterscheiden. Innerhalb der Strategien wird in der Abbildung durch die Pfeile veranschaulicht, ob eine Wiederverwendung der vordefinierten Module nur innerhalb einer Produktfamilie oder produktfamilienübergreifend möglich wird. Dabei können sowohl Standardmodule als auch Variantenmodule produktfamilienintern oder produktfamilienübergreifend eingeplant werden. Auf Ebene der Produktfamilien sind Standardmodule innerhalb einzelner Produktvarianten einer Produktfamilie vereinheitlichte Module, wohingegen Variantenmodule innerhalb einzelner Produktvarianten einer Produktfamilie variieren. Die Gleichmodulstrategie, siehe Abb. 12.12 (links), weist kleine Module (Standard- und Variantenmodule) auf, deren kommunale Verwendung produktfamilienübergreifend angestrebt wird. Bei der Plattformstrategie dagegen, siehe Abb. 12.12 (rechts), bilden große Standardmodule – die Plattform – die Basis für die Erzeugung von Produktvarianten zusammen mit
Abb. 12.12 Gegenüberstellung der drei etablierten Strategien für die Aufbauprinzipien der Produktstruktur: Gleichmodulstrategie, Modulbaukastenstrategie und Plattformstrategie. Abbildung in Anlehnung an (Krause et al. 2018) (Krause und Gebhardt 2018)
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kleineren Variantenmodulen. Die Modulbaukastenstrategie, siehe Abb. 12.12 (Mitte), ist zwischen den beiden beschriebenen Strategien angeordnet, da sie das Ziel hat, die externe Vielfalt innerhalb einer Produktfamilie mit möglichst wenigen Modulen umzusetzen. Dies führt zu Modulen mit mittlerem Umfang im Vergleich zur Gleichmodul- und Plattformstrategie, sodass eine hohe Wiederverwendung der Module innerhalb der Produktfamilie zur Konfiguration von Produktfamilien angestrebt wird. Es können dabei auch Module entstehen, die produktfamilienübergreifend einsetzbar sind. Dies ist aber nicht das vorrangige Ziel der Modulbaukastenstrategie. Nachfolgend werden die einzelnen modularen Produktstrukturstrategien ausführlicher beschrieben. Gleichmodulstrategie Unter Gleichmodulstrategie (auch Mehrfachverwendung) von Modulen wird die systematische Verwendung identischer Module über mehrere Teile des Produktprogramms beziehungsweise im gesamten Produktprogramm übergreifend in verschiedenen Produkten verstanden, siehe Abb. 12.12 (links). Der Begriff Gleichmodul ist hierbei von dem in der Literatur oft verwendeten Begriff Gleichteile abzugrenzen, der aufgrund des naheliegenden Bezugs zu Einzelteilen eher die Strategie einer Teilestandardisierung vermittelt. Ein Gleichmodul enthält hingegen mehrere Einzelteile. Daher wird hier der Begriff Gleichmodul bevorzugt. Bei zukünftigen Entwicklungsprojekten kann mithilfe der Gleichmodulstrategie auf bereits vorhandene Module zurückgegriffen und dadurch Entwicklungsaufwand und -risiko reduziert werden. Zur Anwendung und Umsetzung der Gleichmodulstrategie sind zunächst mögliche Module zur Übernahme zu identifizieren. Hierzu werden die Produktstrukturen hinsichtlich Komponenten analysiert, die über Bereiche des Produktprogramms übergreifend bzw. mittels Anpassung und Neuentwicklung zukünftig übergreifend verwendet werden können. Die Module sind zu entkoppeln sowie hinsichtlich ihrer Schnittstellen und Leistungsmerkmale so zu entwickeln, dass eine übergreifende Verwendung ermöglicht werden kann. Um die Wahrscheinlichkeit einer Übernahme zu erhöhen, sind in der Gleichmodulstrategie im Gegensatz zu den anderen Produktstrukturstrategien kleinere Modulumfänge mit einer größeren Anzahl an Modulen zu wählen, da diese eher übergreifend über die Produktlinien wiederzuverwenden sind. Modulbaukastenstrategie Ziel der Modulbaukastenstrategie ist es, mit möglichst wenigen Modulen innerhalb einer Produktfamilie sowie produktfamilienübergreifend die durch den Kunden geforderten Produktvarianten abzubilden. Hierzu wird ein Satz unterschiedlicher Module genutzt, um Produktvarianten durch Kombination der Module zu erzeugen. Einzelne austauschbare Module werden als eigenständige Einheiten gebildet, die sich stark an den Kundenbedürfnissen und deren Variationen ausrichten. Mit einer minimalen Anzahl an Modulen wird die Konfiguration verschiedener Produktvarianten ermöglicht. Module können dabei innerhalb einer Produktfamilie oder produktfamilienübergreifend ver-
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wendet werden, siehe Abb. 12.12 (Mitte). Durch die Reduktion der Anzahl verwendeter Module werden Stückzahleneffekte innerhalb einer Produktfamilie erzielt (kommunale Verwendung der Module). In neuen Produktgenerationen kann durch die Übernahme bestehender Module bereits erbrachte Entwicklungsleistung wiederverwendet werden. Die Strategie eines Modulbaukastens kann statt auf die gesamte Produktstruktur auch nur auf ausgewählte Bereiche angewendet werden, ohne dass eine vollständige Baukastensystematik für ein Gesamtsystem entwickelt werden muss. Die für einen Modulbaukasten erforderliche Kombinierbarkeit der einzelnen Module stellt besondere Anforderungen an die Schnittstellengestaltung. Um die Kombinierbarkeit zu gewährleisten, werden häufig mehr Schnittstellen vorgesehen als bei einer Einzelkonstruktion der Varianten. Dies kann zusätzliche Herstellkosten und Herausforderungen in Bezug auf Qualitäts- und Bauraumanforderungen bedingen. Um gleichzeitig an einer Schnittstelle verschiedene Module montieren zu können, müssen diese Schnittstellen unter Umständen überdimensioniert werden. Plattformstrategie Eine Plattform ist die übergreifende, gemeinsame Basis innerhalb einer Produktfamilie, mithilfe derer Produktvarianten abgeleitet und effizient produziert werden können. Hierzu werden Module, die über alle Produktvarianten einer Produktfamilie vereinheitlicht werden können und robust gegenüber erwarteten Änderungen der Kundenanforderungen angesehen werden, zu einem großen für alle Varianten der Produktfamilie standardisierten Modul, der sogenannten Plattform, zusammengefasst, siehe Abb. 12.12 (rechts). Dadurch soll sichergestellt werden, dass mit der standardisierten Plattform ein planbarer Stückzahleneffekt entsteht. Die Plattform umfasst den gemeinsamen Anteil aller Produktvarianten einer Produktfamilie. Aufgrund dieses hohen Umfanges, der übergreifenden Verwendung innerhalb einer Produktfamilie und der mittel- bis langfristigen Ausrichtung einer Plattform werden meist die Kerntechnologien und -kompetenzen des Unternehmens in der Plattform gebündelt. Der vergleichsweise hohe Anteil einer Plattform am Gesamtprodukt führt dazu, dass sie sich in der Regel für eine einzelne Produktfamilie eignet. Durch die Wiederverwendung der Plattform können insbesondere in der Fertigung Einsparungen erzielt werden. Die Vorteile der Strategie kommen besonders zum Tragen, wenn die Plattform oder zumindest große Teile daraus über mehrere Produktgenerationen verwendet werden können. Damit wird der Lebenszyklus der Plattform von denen der abgeleiteten Produktvarianten entkoppelt. Aufgrund des hohen Anteils einer Plattform am Produkt, ihrer breiten Verwendung und langfristigen Ausrichtung werden häufig andere Produktstrukturstrategien mit der Plattformstrategie kombiniert. Beispielsweise werden skalierbare Plattformen eingesetzt, bei denen nach dem Prinzip der Baureihe verschiedene Größenstufungen der Plattform vorgehalten werden, um verschiedene Leistungseigenschaften des Produkts erzeugen zu können (Simpson et al. 2006; Pirmoradi und Wang 2011). Zudem ist die Kombination einer Plattform mit einem Modulbaukasten möglich. Hierbei werden durch Kombination der Plattform mit weiteren Modulen verschiedene Produktvarianten erzeugt.
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12.4.3 Baureihenstrategie Während Strategien zur modularen Produktstrukturierung darauf abzielen, Produktvarianten durch die Kombination von Modulen zu erzeugen, werden bei der Baureihenstrategie Produktvarianten durch Realisierung unterschiedlicher Größenstufen realisiert. In Abgrenzung zu den Strategien modularer Produktstrukturierung, siehe Abschn. 12.4.2, werden Produkte und Komponenten als Baureihen bezeichnet, wenn • die Varianten dieselbe Funktion erfüllen und • mit der gleichen prinzipiellen Lösung, • in mehreren Größenstufen und • bei möglichst gleicher Fertigung realisiert werden (Jeschke 1997, Pahl und Beitz 1997). Durch die Realisierung der Lösung in verschiedenen Größenstufen können unterschiedliche Wertebereiche von Eigenschaften des Produkts realisiert und damit eine hohe externe Produktvielfalt angeboten werden. Dabei können einerseits vollständige Produkte als Baureihen realisiert werden, wodurch sich eine Produktfamilie aus den Größenstufen der Baureihe ergibt. Andererseits können einzelne Komponenten eines Produkts als Baureihe ausgeführt werden, um innerhalb eines Baukastens einzelne Module in unterschiedlichen Größenstufen einzusetzen. Beispielsweise werden unterschiedliche Leistungsstufen eines Motors innerhalb eines Baukastens für Fahrzeuge eingesetzt. Ein Produktbaukasten kann demnach ebenfalls Baureihen umfassen (Jeschke 1997). Um insbesondere gleiche Fertigungstechnologien und -prozesse anwenden zu können, wird bei Baureihen oftmals auf die gleichen Werkstoffe bzw. Fertigungsverfahren zurückgegriffen (Ehrlenspiel 1985). Die wesentlichen Merkmale von Varianten einer Baureihe verdeutlichen Strahlenfiguren, die die Verhältnisse von Größenstufen aufzeigen. Abb. 12.13 zeigt die schematische Darstellung einer Baureihe eines Getriebegehäuses als Strahlenfigur. Baureihen weisen Vor- und Nachteile sowohl aus Sicht des anbietenden Unternehmens als auch des Kundens auf (Pahl und Beitz 1997), siehe Tab. 12.1. Als wesentliche Einschränkung und Nachteil gilt, dass durch eine Baureihe die Größenstufen von Produktvarianten bei der Planung der Baureihe festgelegt werden und somit eine optimale Erfüllung spezifischer Kundenforderungen nicht immer möglich ist. Die Aufgabe des Produktentwicklers besteht somit darin, die Kundenanforderungen vor der Entwicklung einer Baureihe möglichst genau zu verstehen und zukünftige Trends
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Abb. 12.13 Strahlenfigur der Baureihe eines Getriebegehäuses. (Quelle: Flender 1972)
Tab. 12.1 Wesentliche Vorteile der Baureihenstrategie aus Unternehmens- und Kundensicht. In Anlehnung an (Pahl und Beitz 1997) Vorteile für Unternehmen
Vorteile für Kunden
• konstruktive Arbeit wird für viele Anwendungsfälle lediglich einmal unter Ordnungsprinzipien geleistet • durch Wiederholung bestimmter Losgrößen wird die Wirtschaftlichkeit gesteigert • Steigerung der Qualität
• Produkt oder Komponente ist qualitativ hochwertig • Produkt oder Komponente ist vergleichsweise günstig • Produkt oder Komponente ist schnell lieferbar • Produkt oder Komponente ist aufgrund schneller Ersatzteilbeschaffung gut reparierbar
voraus zusehen (Naefe, 2012). Aufgrund der genannten Vorteile eignen sich Baureihen insbesondere für Produkte gleicher Funktion, die in Planung und Entwicklung sehr aufwändig sind, wie beispielsweise Motoren, Turbinen und Aggregate (Schuh und Schwenk 2001). Wesentlich bei der Planung einer Baureihe ist die Festlegung einer optimalen Größenstufung, die nur bei integrierter Betrachtung von Markt, Konstruktion, Fertigung und Vertrieb möglich ist. Voraussetzungen hierfür sind aussagefähige Informationen über • Bedarfserwartungen des Marktes (Vertriebs), bezogen auf die einzelnen Baugrößen, • Marktverhalten bei Typbereinigung und den damit verbundenen Lücken, • Fertigungskosten und Fertigungszeiten bei unterschiedlichen Größenstufungen sowie eine genaue Erfassung der sich verändernden Fertigungsgemeinkosten und • gleichbleibende Eigenschaften der Baureihenglieder bei unterschiedlichen Größenstufungen (Pahl und Beitz 1997).
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Bei der Entwicklung von Baureihen wird häufig von bestehenden (Einzel-)Produkten ausgegangen, um beispielsweise aufgrund von Kundenanforderungen weitere Größenvarianten des Produkts anzubieten. Bei der Neuplanung einer Baureihe wird ein Grundentwurf als initiale Größenstufe definiert. Basierend auf festgelegten Gesetzmäßigkeiten werden weitere Folgeentwürfe abgeleitet. Die Gesetzmäßigkeiten werden aus Ähnlichkeitsgesetzen abgeleitet, die beispielsweise auf geometrischen, mechanischen und/oder physikalischen Ähnlichkeiten basieren (Jeschke 1997). Weiterhin ist die Verwendung von dezimalgeometrischen Normreihen zweckmäßig, um die Stufensprünge (Maßstäbe) zwischen Größen festzulegen. Im Folgenden werden Ähnlichkeitsgesetze und die Verwendung von Normreihen als Grundlage für die Entwicklung von Baureihen erläutert (Pahl und Beitz 1997). Von Ähnlichkeit wird gesprochen, wenn das Verhältnis mindestens einer physikalischen Größe bei einem festgelegten Grundentwurf und den Folgeentwürfen konstant bleibt. Grundgrößen für die Definition von Ähnlichkeiten sind beispielsweise Länge, Zeit, Kraft, Stromstärke, Temperatur oder Lichtstärke. Eine geometrische Ähnlichkeit ist gegeben, wenn das Verhältnis aller jeweiligen Längen bei den Folgeentwürfen der Baureihe zum Grundentwurf konstant bleibt. Die Invariante ist der Stufensprung (Längenmaßstab) und ergibt sich nach: ϕL = L1 /L0. Hierbei sind: L1 Abmessung des 1. Glieds in der Baureihe (Folgeentwurf) und L0 Abmessung des Grundentwurfs. Für den k-ten Folgeentwurf gilt demnach: ϕLk = ϕLk. Analog kann die Zeitliche, Kraft-, Elektrische-, Temperatur- und Photometrische Ähnlichkeit angegeben werden, indem jeweils die Größen des Folge- und Grundentwurfs ins Verhältnis gesetzt werden. Spezielle Ähnlichkeiten ergeben sich, wenn mehrere Grundgrößenverhältnisse konstant sind. Beispielsweise wird bei zeitgleicher Invarianz der Länge und Zeit von kinematischer Ähnlichkeit gesprochen. Sind die Verhältnisse von Länge und Kraft jeweils konstant, wird eine statische Ähnlichkeit erzielt. Bei konstantem Verhältnis von Kräften bei zeitgleicher geometrischer und zeitlicher Ähnlichkeit wird von einer dynamischen Ähnlichkeit gesprochen. Je nachdem, welche Kräfte betrachtet werden, werden verschiedene Kennzahlen, wie beispielsweise nach Hooke, Reynolds oder Froude, genutzt. Daneben ist beispielsweise die thermische Ähnlichkeit wichtig, weil thermische Vorgänge oft begleitend auftreten und ihre Ähnlichkeit mit der dynamischen Ähnlichkeit bei geometrisch ähnlichen Baureihen mit gleich hoher Werkstoffausnutzung nicht in Einklang zu bringen ist. Zur Festlegung der Stufung von Ähnlichkeitsgrößen (beispielsweise Leistung bei einem Getriebe) orientiert sich die Entwicklung von Baureihen häufig an Normzahlreihen. Ausgehend von einem Grundentwurf beispielsweise für ein Getriebe werden unterschiedliche Wertebereiche der Leistung festgelegt, indem die Getriebeparameter anhand von Ähnlichkeitskennzahlen für die neue Leistungsklasse bestimmt werden. Der Stufensprung kann dabei beispielsweise durch dezimalgeometrischen Reihen festgelegt werden (beispielsweise nach DIN 323). Die absolute Sprungweite solcher Abstufungen ist bei niedrigen Wertebereichen in der Regel klein und wächst mit dem Fortschreiten der Größenabstufung. Die Orientierung an solchen Normzahlreihen erleichtert die Festlegung der Größenstufen und verhindert, dass Größenstufen willkürlich gewählt und nicht nachgefragte Varianten erzeugt werden.
12 Produktarchitektur
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Neben Normzahlreihen werden zunehmend Optimierungsverfahren wie beispielsweise Clusteranalysen und genetische Algorithmen genutzt (Kipp und Krause 2009). Diese legen die Größenstufung unter Auswertung akzeptabler Überdimensionierungen, bestehender Verkaufszahlen oder Marktstudien so fest, dass die Kundenanforderungen mit möglichst wenigen zweckmäßigen Stufensprüngen realisiert werden. Gerade bei der Berücksichtigung von mehr als zwei Parametern bei einer Baureihenentwicklung ist eine Lösungssuche ohne derartige Algorithmen kaum sinnvoll manuell lösbar.
12.5 Ausgewählte Methoden für die Gestaltung der Produktarchitektur Es existiert eine Vielzahl an Methoden zur Unterstützung der Gestaltung der Produktarchitektur. Nicht immer wird der Bezug zur Produktarchitektur in der Beschreibung der Methoden explizit herausgestellt, was auch auf unterschiedliche Definitionen des Begriffs Produktarchitektur zurückzuführen ist. In diesem Abschnitt werden ausgewählte Methoden für die Gestaltung der Produktarchitektur vorgestellt. Die Auswahl der Methoden zeigt die Vielfalt möglicher Zielstellungen auf, siehe Abschn. 12.3, und gibt jeweils Hinweise für das operative Vorgehen zur Realisierung der vorgestellten Bauweisen und Strategien zur Gestaltung der Produktarchitektur. Tab. 12.2 gibt einen Überblick über die in diesem Abschnitt beschriebenen Methoden. Für spezielle Entwicklungsprojekte stellt sich oftmals die Frage der Eignung einzelner Methoden sowie nach dem Anwendungszeitpunkt im Produktentwicklungsprozess (Bonvoisin et al. 2016; Otto et al. 2016). Hilfestellungen können dafür die adressierten Zielstellungen der Methoden geben, wie beispielsweise Reduzierung der Bauteileanzahl, Erhöhung der Änderbarkeit der Produkte oder Beherrschung von Variantenvielfalt. Weitere Kriterien für die Auswahl einer Methode sind die erforderlichenInformationen über das Produkt, wie beispielsweise Funktionsstrukturen, prinzipielle Lösungen oder Gesamtentwürfe. Beispielsweise kann eine Methode zur Modularisierung eines Produkts auf Basis der Funktionsstruktur, vgl. Abschn. 12.5.4, bereits in frühen Phasen einer Neuentwicklung eingsetzt werden. Eine Methode zur Modularisierung auf Basis der Beschreibung der technischen Lösung in Komponenten, vgl. Abschn. 12.5.7, erfordert eine ausgearbeitete Produktstruktur und kann damit erst in späteren Entwicklungsphasen oder bei der nächsten Produktgenerationsentwicklung angewendet werden. Diese Beispiele verdeutlichen, dass eine eindeutige Einordnung der Aktivitäten zur Gestaltung der Produktarchitektur in den Entwicklungsprozess nicht möglich ist. Die Gestaltung der Produktarchitektur kann vielmehr durch unterschiedliche Methoden unterstützt werden, die in unterschiedlichen Entwicklungsphasen eingesetzt werden. Für eine zweckmäßige Auswahl von Methoden können die nachfolgenden Beschreibungen erste Hilfestellungen bieten.Eine detailliertere Auseinandersetzung mit der angeführten Literatur ist für die praktische Anwendung der Methoden jedoch unerlässlich.
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D. Krause et al.
Tab. 12.2 Übersicht ausgewählter Methoden für die Gestaltung der Produktarchitektur Methodenname
Quelle
Kurzbeschreibung der Methode
Systematisches Vorgehen (Roth 2000) bei der Funktionsintegration
Identifizierung von Potenzialen zur Funktionsintegration innerhalb von Baugruppen durch Zusammenfassung von Wirkkörpern und Wirkflächen
Strategie der einteiligen Maschine
(Ehrlenspiel 1985)
Identifizierung von Potenzialen zur Reduktion der Bauteilanzahl zur Einsparung von Herstellkosten durch Zusammenfassung von Bauteilen
Change Model & Effect Analysis
(Palani Rajan et al. 2003)
Beurteilung der Änderungsaufwände einzelner Module und Komponenten unter Berücksichtigung der Änderungsursachen und -auswirkungen
Theory of Modular Design
(Stone 1997)
Modularisierung des Produkts durch Heuristiken auf Basis der Funktionsstruktur
Integration Analysis Methodology
(Steward 1981; Pimmler Modularisierung des Produkts zur und Eppinger 1994) Reduzierung der Produktkomplexität auf Basis funktionaler und physischer Beziehungen zwischen Komponenten
Vorgehen beim Entwickeln von Baukästen
(Pahl und Beitz 1997)
Entwicklung einer Baukastensystematik für Produktfamilien auf Basis von Varianzen von Teilfunktionen
Modular Function Deployment
(Erixon 1998)
Modularisierung des Produkts durch Analyse der Auswirkungen strategischer Modultreiber auf Komponenten des Produkts
Product Family Master Plan (Mortensen 1999; Harlou 2006)
Modellierung und Handhabung der Variantenvielfalt innerhalb von Produktfamilien
Integrierter PKT-Ansatz zur Entwicklung modularer Produktfamilien
Entwicklung modularer Produktfamilien unter Berücksichtigung technischfunktionaler und produktstrategischer Aspekte zur Reduzierung der internen Varianz
(Krause und Gebhardt 2018)
12.5.1 Systematisches Vorgehen bei der Funktionsintegration Das systematische Vorgehen zur Funktionsintegration nach Roth (Roth 2000) zielt darauf ab, die unterschiedlichen Eigenschaften von Bauteilen zur Erfüllung zusätzlicher Funktionen zu überprüfen. Ziel ist es, die Gesamtzahl von Bauteilen innerhalb einer Baugruppe bei gleichbleibendem Funktionsumfang zu
12 Produktarchitektur
361
reduzieren (Integralbauweise), oder zusätzliche Funktionen zu erfüllen (Multifunktionalbauweise). Vorteile können sich hierbei durch eine höhere wirtschaftliche Wertigkeit der Lösungen ergeben, da der Umfang realisierbarer Funktionen einzelner Bauteile erhöht wird. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass gleichzeitig die technische Wirtschaftlichkeit verschlechtert wird, da durch eine Funktionsintegration einzelne Bauteileigenschaften verschlechtert werden und einzelne Funktionen weniger gut erfüllt werden. Beispielsweise kann durch eine Variation des Bauteilwerkstoffes zusätzliches Gewicht entstehen oder die Steifigkeit verringert werden. Bei einer Funktionsintegration muss somit in der Regel ein Kompromiss zwischen technischer und wirtschaftlicher Wertigkeit gefunden werden, vgl. Abschn. 12.2.1. Für die Untersuchung der Funktionsintegration schlägt Roth die Ableitung eines geometrischen Strukturbildes für eine bestehende Produktstruktur vor. Hierin werden funktionsrelevante Wirkkörper und Wirkflächen definiert und damit die Erfüllung bestehender Funktionen auf einzelne Körper, Flächen und Flächenpaare zurückgeführt, vgl. Kap. 10. Eine Funktionsintegration kann ausgehend von dieser Abstraktion grundsätzlich durch die Vereinigung von Wirkkörpern oder durch die Vereinigung von Wirkflächen erfolgen. Zur systematischen Analyse der Funktionsintegration werden sieben Arten der Funktionsintegration definiert, siehe Abb. 12.14. Die Arten 1 bis 5 stellen Möglichkeiten zur Wirkkörperintegration dar, die Arten 6 und 7 dienen der Wirkflächenintegration. Für die Identifizierung geeigneter Prinzipien ist es zweckmäßig, je nach vorgesehener Fertigungsart die verschiedenen Arten der Funktionsintegration mit unterschiedlicher Gewichtung auf ihre Anwendbarkeit hin zu überprüfen. Für spritzgegossene Kunststoffteile sind so insbesondere die Funktionsintegrationsarten 1 bis 5 relevant, wobei insbesondere die vierte Art durch die Nutzung beispielsweise von Film- und Federgelenken in Betracht gezogen werden sollte.
12.5.2 Strategie der einteiligen Maschine Die Strategie der einteiligen Maschine nach Ehrlenspiel (Ehrlenspiel 1985; Ehrlenspiel et al. 2014) hat zum Ziel, die Anzahl von Bauteilen eines Produkts oder einer Baugruppe zu reduzieren, um vorrangig Herstellkosten einzusparen. Grundannahme der Methode ist, dass bei Bauteilen, die in hoher Stückzahl gefertigt werden, eine Integralbauweise anzustreben ist, vgl. Abschn. 12.2.1. Die Methode ist insbesondere für die Entwicklung von Baugruppen als Guss- oder Blechbiegekonstruktionen anwendbar lässt sich jedoch auch auf andere Fertigungsweisen, wie Schweißbaugruppen, übertragen. Es wird davon ausgegangen, dass bei der Gestaltfindung oftmals unbewusst an bekannten Lösungen festgehalten wird. Aus diesen gewohnten Denkmustern werden die Entwickler gelöst, indem die Baugruppe oder das Produkt gedanklich und zeichnerisch als ein monolithisches Gussteil angenommen wird. Dabei werden bisherige Bauteiltrennungen
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D. Krause et al.
Abb. 12.14 Arten zur Funktionsintegration auf der Basis geometrischer Strukturbilder., Abbildung in Anlehnung an (Roth 2000)
12 Produktarchitektur
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zunächst bewusst missachtet, um vermeidlich erforderliche Trennungen, beispielsweise bei bewegten Teilen, aufzuheben. Diese sich aus dieser Integration ergebende einteilige Maschine wird anschließend schrittweise in einzelne Bauteile zerlegt. Hierzu werden erforderliche Trennungen für die Funktionserfüllung oder Sicherstellung der Montierbarkeit eingefügt. Bei der schrittweisen Auftrennung sind insbesondere folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen (Ehrlenspiel et al. 2014): • • • • • •
Wo sind unterschiedliche Werkstoffe nötig? Wo liegt eine Relativbewegung vor? Wie muss montiert/demontiert werden? Wo müssen Ersatzteile ausgetauscht werden? Wo sind Teilungen aufgrund von Transport nötig? Wo ist die Zugänglichkeit beim späteren Gebrauch notwendig?
In Abb. 12.15 ist das Vorgehen am Beispiel eines Kalibriergerüstes für die Herstellung von Rollprofile dargestellt. Im ersten Schritt werden die Baugruppen Gestell und Tischträger der prototypischen Lösung zu einer einteiligen Maschine als monolithisches Bauteil zusammengeführt. Mithilfe der Sammlung von Trennkriterien (Ziebart 2012) wird diese einteilige Maschine schrittweise wieder aufgetrennt. Wichtige Trennkriterien sind in diesem Fall beispielswiese Kostenreduktion, halbzeugnahe Gestaltung, Verwendung von Zukaufteilen, Ermöglichung der Zugänglichkeit und die Kapselung von Verschleißteilen. Ergebnis der Anwendung der Methode ist im skizzierten Beispiel eine deutliche Reduktion der Bauteile von ursprünglich 150 auf 105. Je nach Baugruppe oder Produkt können bei der Anwendung der Methode unterschiedliche Trennkriterien ausschlaggebend sein. Ziebart (Ziebart 2012) stellt eine erweiterte Übersicht von Trennkriterien bereit, die unterschiedliche Lebensphasen des Produkts, wie Entwicklung, Fertigung, Montage, Gebrauch, Transport und Demontage/ Recycling, berücksichtigen.
Abb. 12.15 Anwendung der Strategie der einteiligen Maschine am Beispiel des Seitenteils eines Kalibiergerüstes, basierend auf (Ziebart 2012)
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D. Krause et al.
12.5.3 Change Mode & Effects Analysis (CMEA) Die von Palani Rajan et al. (Palani Rajan et al.2003) vorgeschlagene Change Mode & Effects Analysis (CMEA) dient in Anlehnung an die etablierte Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse (FMEA) (Tietjen und Decker 2020) zur Ermittlung und Beurteilung potenzieller zukünftiger Änderungen eines Produkts. Ziel ist es, die Produktarchitektur flexibler zu gestalten, um mit geringem Aufwand auf veränderte Kundenanforderungen reagieren zu können oder Produktaufwertungen zu realisieren. Die Beurteilung der hierfür erforderlichen Flexibilität erfolgt mithilfe der Change Potential Number (CPN). Diese gibt an, wie einfach eine Änderung des Produkts bezogen auf eine Funktion, eine Komponente oder ein Modul umgesetzt werden kann. Analog zur Durchführung der FMEA gliedert sich das Vorgehen der CMEA in zwei Hauptschritte: Dekomposition des Produkts Hierzu wird das Produkt in geeignete Einheiten zerlegt, um diese hinsichtlich möglicher Änderungen zu beurteilen. Je nach Entwicklungskontext kann die Zerlegung des Produkts in Teilfunktionen, Komponenten oder Module zweckmäßig sein. Eine funktionale Dekomposition bietet sich beispielsweise während der Konzeptentwicklung an. Erstellung des CMEA-Formblattes Im zweiten Schritt erfolgt die Beurteilung der Change Potential Number (CPN). Um die CPN zu ermitteln, werden die inhärente Flexibilität der Produktarchitektur für eine gegebene Änderung, die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten der Änderung und die Bereitschaft des Unternehmens, auf diese Veränderung zu reagieren, als Faktoren herangezogen. Die Durchführung der CMEA umfasst nach Palani Rajan et al. insgesamt sieben Schritte: (1) Ermittlung möglicher Ursachen für Änderungen, (2) Identifikation möglicher Änderungen, (3) Beurteilung möglicher Auswirkungen von Änderungen, (4) Beurteilung der Flexibilität der (bestehenden) Produktarchitektur, (5) Beurteilung der Auftretenswahrscheinlichkeit möglicher Änderungen, (6) Beurteilung der Bereitschaft des Unternehmens zur Umsetzung der Änderungen und (7) Ermittlung der Change Potential Number (CPN). Die strukturierte Durchführung wird durch ein Formblatt unterstützt, siehe Tab. 12.3. Hierin sind die Flexibilität, das Auftreten und die Bereitschaft als Bewertungskriterien für die Change Potential Number (CNP) hervorgehoben. Die übrigen Spalten dienen zur Definition der betrachteten Funktionen, Komponenten oder Module, zur Beschreibung der potentiellen Änderungen, ihrer Auswirkungen und der Ursachen für Änderungen. Das Formblatt zeigt zwei exemplarische potentielle Änderungen am Beispiel einer Stichsäge auf. Anhand der im CMEA-Formblatt angegebenen Kriterien und Beschreibungen werden dabei folgende drei Kriterien für die Berechnung der CPN herangezogen:
Änderung erfordern Modifikationen am Gehäuse der Stichsäge
Änderung des Druckbereichs der Grundplatte
Änderung von Geometrie und Material der Stützrolle
Grundbau-gruppe
Sägeblatt- Stützrolle
Kein Einfluss auf weitere Komponenten
Mögliche Auswirkungen der Änderung
Funktion, Komponente Mögliche Änderung oder Modul
7
4
Flexibilität
Sägeblatt wird während des Betriebs nicht ausreichend geführt: Verbesserung der Sägeblattführung
Säge springt insbesondere bei Schnitten in Sperrholz: Verbesserung der Standfestigkeit der Säge; Verbesserung der Ergonomie der Stichsäge
10
10
5
Bereitschaft
10
Mögliche Ursachen für Auftreten Änderung
0,74
0,44
CPN
Tab. 12.3 Formblatt für die Change Mode & Effects Analysis in der Produktentwicklung und exemplarische Beschreibung einer Änderung für eine Stichsäge in Anlehnung an (Palani Rajan et al. 2003)
12 Produktarchitektur 365
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D. Krause et al.
1. Flexibilität der Produktarchitektur Auf Grundlage der möglichen Auswirkungen der Änderung (abgeleitet aus bestehender Funktions- oder Produktstruktur) wird der Umfang, mit dem diese Änderung das gesamte Produkt betrifft, beurteilt und auf einer Skala von 1 bis 10 bewertet. Hierbei bedeutet 1 minimal flexibel und 10 völlig flexibel. Eine hohe Flexibilität sagt dabei aus, dass die Kosten, z. B. für das Redesign, für zukünftige Änderungen gering sind. 2. Auftreten der Änderung Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Veränderung wird ebenfalls auf einer Skala 1 bis 10 beurteilt, wobei 1 keinem oder einem relativ seltenen Auftreten entspricht und 10 mit einem unvermeidbaren Auftreten gleichzusetzen ist. Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens kann basierend auf der Häufigkeit des Auftretens der Änderung beurteilt werden. 3. Bereitschaft zur Umsetzung der Änderungen Hierbei wird die Bereitschaft eines Unternehmens zur Umsetzung einer bestimmten Änderung auf einer Skala zwischen 1 und 10 beurteilt. Eine Punktzahl von 10 bedeutet, dass die Änderung umgesetzt wird, während 1 bedeutet, dass die Änderung nicht umgesetzt werden soll. Dies impliziert, dass ein Produkt mit hoher Beurteilung geringe Änderungsaufwände mit geringen Kosten für das Redesign verursachen wird. Für die einzelnen Beurteilungen werden jeweils detaillierte Skalen (Flexibilität: 1 (neues Produkt aufgrund sehr geringer Flexibilität) bis 10 (kein Effekt aufgrund ausreichender Flexibilität); Auftreten: 1 (unwahrscheinliches Auftreten) bis 10 (sehr hohe Auftretenswahrscheinlichkeit); Bereitschaft: 1 (vollständig unvorbereitet) bis 10 (vollständig vorbereitet) und Abstufungen vorgeschlagen (Palani Rajan et al. 2003). Ausgehend von den Beurteilungen der Flexibilität (Fi), des Auftretens (Oi) und der Bereitschaft (Ri) wird die Change Potential Number (CPN) nach folgendem Zusammenhang ermittelt:
CPN =
1 [(Ri + Fi) − Oi + 8] N 27
Demnach kann die CPN im Gegensatz zur Risikoprioritätszahl der FMEA einen Wert zwischen 0 und 1 annehmen. Wobei 0 bedeutet, dass das Produkt vollständig unflexibel für jegliche Änderung ist und 1 bedeutet, dass das Produkt vollständig flexibel auf zukünftige Veränderungen angepasst werden kann. Ein völlig flexibles Produkt ist damit als ein Produkt anzusehen, bei dem die Kosten für Neugestaltung oder Anpassungen der Produktarchitektur sehr gering sind. In Tab. 12.3 sind zwei exemplarische Zeilen des CMEA Formblattes für zwei Komponenten (Grundbaugruppe und Sägeblatt-Stützrolle) einer Stichsäge aufgeführt. Ausgehend von der ermittelten CPN können konkrete Maßnahmen zur Anpassung der Produktarchitektur, beispielsweise durch Änderung der Schnittstellen zwischen Modulen oder Veränderung der Zuordnung von Komponenten zu Modulen, abgeleitet werden. Gleichzeitig kann die CPN genutzt werden, um einzelne Maßnahmen zur Anpassung der
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Produktarchitektur zu priorisieren. Ausgehend von den Einzelbewertungen von Flexibilität, Auftreten und Bereitschaft kann zudem die Art der Maßnahme (beispielsweise Änderung der Produktarchitektur oder Anpassung der Organisation) spezifiziert werden.
12.5.4 Theory of Modular Design Die von Stone (Stone 1997) entwickelte Theory of Modular Design verfolgt das Ziel, zu frühen Zeitpunkten im Entwicklungsprozess unter Berücksichtigung technischfunktionaler Aspekte eine modulare Produktstruktur festzulegen. Durch die Methode wird ein funktionsorientiertes Vorgehen beschrieben, für das eine funktionale Beschreibung des Produkts die Grundlage bildet. Somit kann es angewendet werden, bevor eine Produktstruktur zur Realisierung der Funktionen erarbeitet wurde. Grundlage für die Anwendung der Methode ist die Unterscheidung von den drei Heuristiken Dominanter Fluss (Dominant Flow), Verzweigender Fluss (Branching Flow) und Wandlung und Übertragung (Conversion Transmission). Diese werden sequentiell auf das zu entwickelnde Produkt angewendet. Im ersten Schritt werden Kundenanforderungen ermittelt und auf einer Skala von 1 bis 5 gewichtet. Aufbauend darauf wird eine umsatzorientierte Funktionsstruktur erstellt, indem die Gesamtfunktion in Teilfunktionen zerlegt wird. Hierbei stellen Stone und Wood eine Übersicht (functional basis) bereit, die die Festlegung eines geeigneten Detaillierungsgrads für die Definition der Teilfunktionen unterstützt (Stone und Wood 2000). Eine geeignete Detaillierung ist gefunden, wenn die Gesamtfunktion durch die im Katalog definierten Funktionen beschrieben werden kann. Eine Priorisierung der einzelnen Umsätze der Struktur wird entsprechend derer Bedeutung zur Erfüllung der Kundenanforderungen gebildet. Im nächsten Schritt werden die genannten Heuristiken angewendet. Die erste anzuwendende Heuristik ist der Dominate Fluss. Dazu werden diejenigen Funktionen zu einem Modul zusammengefasst, die von dem am höchsten priorisierten Fluss (dominanter Fluss) durchflossen werden. Abb. 12.16 stellt die Schritte ausgehend von den gewichteten Kundenanforderungen bis zur Modulbildung anhand der Heuristik des Dominanten Flusses dar. Darauf aufbauend wird die Heuristik Verzweigender Fluss angewendet. Hierbei werden sämtliche Funktionen in ein Modul zusammengefasst, die ausgehend von einer Verzweigung parallele Funktionsketten darstellen, siehe Abb. 12.17 (links). Nach Anwendung der dritten Heuristik Umwandlung und Übertragung bilden jene Funktionen ein Modul, die einen Fluss umwandeln, wie beispielsweise die Wandlung elektrischer in mechanische Energie, siehe Abb. 12.17 (rechts). Die nach der Anwendung der drei Heuristiken ermittelten Module weisen in der Regel Überschneidungen auf, sodass die zu realisierenden Alternativen für Module ausgewählt werden müssen. Es erfolgt eine quantitative Modulbewertung, in der die ermittelten Module in Bezug auf die Erfüllung der Kundenanforderungen bewertet werden und Widersprüche in der Modulbildung gelöst werden. Module mit hoher Wertung werden für die weitere Konkretisierung des Produktkonzepts übernommen.
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D. Krause et al.
Abb. 12.16 Modulbildung durch die Heuristik Dominanter Fluss. Abbildung in Anlehnung an (Stone 1997)
Abb. 12.17 Modulbildung durch die Heuristiken Verzweigender Fluss (links) und Umwandlung und Übertragung (rechts). Abbildung in Anlehnung an (Stone 1997)
12.5.5 Integration Analysis Methodology auf Grundlage der Design Structure Matrix Eine Modularisierung ausgehend von technisch-funktionalen Aspekten wird durch die Integration Analysis Methodology nach Pimmler und Eppinger (Pimmler und Eppinger 1994) unterstützt. Hierbei werden die Abhängigkeiten zwischen den Komponenten eines existierenden Produkts oder die Funktionen eines zu entwickelnden Produkts mithilfe einer Design Structure Matrix (DSM) nach (Steward 1981) analysiert und strukturiert. Zuerst wird dabei das System in funktionale oder physische Elemente zerlegt. Anschließend werden die Abhängigkeiten zwischen diesen Elementen in der DSM dokumentiert. Bei der Analyse der Abhängigkeiten wird zwischen räumlichen Abhängigkeiten, Energieaustausch, Materialaustausch und Informationsaustausch unterschieden. Eine räumliche Abhängigkeit bedeutet, dass es nötig ist, dass zwei Elemente aneinandergrenzen oder eine spezielle Orientierung zueinander haben. Die Abhängigkeit Energietransfer beschreibt die Notwendigkeit eines Energieaustauschs zwischen den Elementen. Die Notwendigkeit eines Signal- oder Informationsaustausches zwischen zwei Elementen wird durch die Informationsabhängigkeit beschrieben.
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Die Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen Elementen (Funktionen oder Komponenten) werden innerhalb der DSM paarweise beurteilt und dokumentiert, siehe Abb. 12.18. Hierin werden die Komponente oder Funktionen gegenübergestellt und die Wechselwirkungen auf einer Skala von −2 (schädliche Abhängigkeit) bis +2 (unbedingt erforderliche Abhängigkeit) beurteilt. Die dadurch entstandene Matrix besitzt somit vier Einträge pro Zelle und ist symmetrisch. Ausgehend hiervon erfolgt eine Gruppierung der Elemente zu Modulen, die untereinander möglichst wenige Abhängigkeiten aufweisen und deren Elemente intern starke Abhängigkeiten besitzen. Dazu werden die Zellen in der Matrix so sortiert, dass die Kopplungen der Elemente in der Nähe der Diagonalen der Matrix angeordnet sind. Häufig sind dabei einige Wechselwirkungen wichtiger als andere. Oftmals ist die räumliche Abhängigkeit ein entscheidendes Kriterium und wird deswegen oft als primäre Kopplung verwendet. Die Bedeutung der einzelnen Kopplungen ist aber immer abhängig vom realen Anwendungsfall. Auf dieser Grundlage können die Elemente, welche Kopplungen aufweisen, zu Modulen gruppiert werden. In Abb. 12.19 wird beispielhaft die räumliche Kopplung verwendet, welche in der vereinfachten DSM dargestellt ist. Durch das Vertauschen von dritter und vierter Zeile können die Eintragungen näher an die Diagonale gebracht werden und die Gruppierung unterstützt werden. Im Letzten Schritt erfolgt ein Abgleich der übrigen Abhängigkeiten, um eventuelle schädliche Abhängigkeiten in einem Modul zu erkennen und gegebenenfalls Änderungen der Module vorzunehmen. Die modulare Produktstruktur besteht anschließend aus Modulen, die sich aus den gruppierten Komponenten innerhalb der Matrix zusammensetzen. Diese Gruppierungen sind als Vorschläge für die weitere Ausarbeitung von Modulen zu verstehen.
Abb. 12.18 Beispiel einer Design Structure Matrix (DSM). Abbildung in Anlehnung an (Pimmler und Eppinger 1994; Krause und Gebhardt 2018)
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D. Krause et al.
Abb. 12.19 Vorgehen der Integration Analysis Methodology (IAM). Abbildung in Anlehnung an (Lanner und Malmqvist 1996 und Pimmler und Eppinger 1994)
Ein Beispiel für die Modulbildung der DSM für ein Herbizid-Sprühgerät ist in Abb. 12.20 dargestellt. Aufbauend auf den räumlichen Kopplungen sind sechs Module entwickelt worden, in denen die Komponenten starke räumliche Beziehungen zueinander aufweisen. Das Radmodul enthält die Komponenten Welle, Achse, Rad, Ständer, Pumpe und Radrahmen, da diese miteinander gekoppelt und mit den restlichen Komponenten größtenteils entkoppelt sind.
12.5.6 Vorgehen beim Entwickeln von Baukästen Die Entwicklung von Baukästen wird von Pahl & Beitz (Pahl und Beitz 1997) als eine Rationalisierungsmöglichkeit beschrieben, mit der Produktvarianten mit unterschiedlichen Funktionen effizient entwickelt und hergestellt werden können. Um dies zu erreichen, werden Komponenten als Bausteine definiert, durch deren gezielte Kombination Varianten gebildet werden können. Der Vorteil eines Baukastens liegt somit in der großen Anzahl generierbarer Varianten, die auf einer begrenzten Anzahl von Bausteinen basiert. Bezogen auf die in Abschn. 12.4.2 eingeführten Strategien kann diese Methode dazu beitragen, sowohl Gleichmodule, Modulbaukästen oder Plattformen zu realisieren. Zentrales Element der Methode ist die Definition einer Baukastensystematik, siehe Abb. 12.21. Demnach orientiert sich die Klassifizierung von Bausteinen, siehe Abschn. 12.1 an der Klassifizierung von Teilfunktionen des Produkts, siehe Abschn. 12.1. Dafür wird die Gesamtfunktion des Produkts zerlegt und in die Klassen Grundfunktionen, Hilfsfunktionen, Sonderfunktionen, Anpassfunktionen und auftragsspezifische Funktionen eingeteilt. Die Grundfunktionen werden dabei in mehreren Produktvarianten verwendet. Hilfsfunktionen dienen dazu, Grundfunktionen zu verbinden. Sonder- und Anpassfunktionen können je nach Produktvariante optional oder in unterschiedlicher Ausprägung vorkommen. Auftragsspezifische Funktionen sind nicht vorhersehbar und werden in Einzelfällen ergänzt. Basierend auf der Einteilung der Funktionen werden entsprechende Bausteinarten definiert, wobei auch hier zwischen Grund-, Hilfs-, Sonder- und Anpassbausteinen des Baukastensystems unterschieden wird. Nicht-Bausteine (für auftragsspezifische Funktionen) stellen Ergänzungen dar, die
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371
Abb. 12.20 Ausschnitt der Modulbildung für ein Herbizid-Sprühgerät basierend auf den räumlichen Kopplungen in einer DSM
zu einem Mischsystem führen, siehe Abb. 12.21. Bei einer Erweiterung zu einem Mischsystem ist die Möglichkeit gegeben, nicht vorhersehbare auftragsspezifische Funktionen als Nicht-Baustein mit dem Baukastenprodukt zu kombinieren. Das Vorgehen der Methode zur Entwicklung von Baukästen orientiert sich an dem allgemeinen Vorgehen zum Planen und Konstruieren von Produkten, siehe Kap. 4. Hierbei wird von Neukonstruktionen oder bereits bestehenden Produkten ausgegangen, die bisher nicht durch einen Baukasten systematisiert sind. Ein zentraler Schritt des Vorgehens ist die Festlegung der zu realisierenden Gesamtfunktionsvarianten (Analyse und Strukturierung der Funktionsstrukturen). Dabei werden einzelne Varianten entsprechend ihrer marktseitig erwarteten Häufigkeit klassifiziert, um eine wirtschaftliche Optimierung des Baukastensystems zu ermöglichen. Basierend darauf werden Funktionsstrukturen
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D. Krause et al.
Abb. 12.21 Unterscheidung von Funktions- und Bausteinarten bei Baukasten und Mischsystemen. (Pahl und Beitz 1997)
aufgestellt und die darin gegliederten Teilfunktionen entsprechend der oben dargestellten Baukastensystematik klassifiziert. Dabei wird angestrebt, die geforderten Gesamtfunktionsvarianten durch die Kombination möglichst weniger und einfach zu realisierender Grundfunktionen zu ermöglichen und diese durch Hilfs-, Sonder- und Anpassfunktionen zu erweitern. Für sehr selten geforderte Funktionsvarianten sollen auftragsspezifische Funktionen definiert werden. In den darauffolgenden Schritten wird die Lösung weiter detailliert und ausgearbeitet.
12.5.7 Modular Function Deployment Das auf dem Quality Function Deployment (QFD) nach Akao (2004) aufbauende Modular Function Deployment (MFD) nach Erixon (1998) zielt darauf ab, Produkte auf Grundlage produktstrategischer Gesichtspunkte zu modularisieren. Hierdurch sollen Module identifiziert und definiert werden, die aus unternehmensspezifischen Gründen in unterschiedlichen Lebensphasen zu Vorteilen führen können, wie beispielsweise der
12 Produktarchitektur
373
Ermöglichung eines schnellen Austauschs von defekten Modulen. Das Vorgehen der Methode gliedert sich in folgende fünf Phasen: Klärung der Kundenanforderungen, Auswahl technischer Lösungen, Konzeptentwicklung, Konzeptbewertung und Verbesserung der Module. Im ersten Schritt, der Klärung der Kundenanforderungen, werden analog zum QFD Kundenanforderungen in technische Merkmale übersetzt. Ausgehend davon wird bewertet, inwieweit Modularität zur Erfüllung der Kundenanforderungen beiträgt. Im zweiten Schritt wird das Produkt in Funktionen und Teilfunktionen zerlegt, denen jeweils technische Lösungen zugeordnet werden. Die eigentliche Modularisierung wird im dritten Schritt auf Grundlage sogenannter Modultreiber durchgeführt. Hierbei handelt es sich um produktstrategische Aspekte, die mögliche Gründe für die Bildung von Modulen definieren. Die Relevanz der Modultreiber ist dabei in Abhängigkeit des jeweiligen Produkts und des Unternehmens festzulegen. Eine Auflistung der von Erixon definierten Modultreiber ist in Tab. 12.4 mit ihrer Zuordnung zu Produktlebensphasen zu entnehmen. Die Modultreiber und die technischen Lösungen werden in einer sogenannten Modular Indication Matrix (MIM) gegenübergestellt, siehe Abb. 12.22. Hierin wird die Bedeutung der Modultreiber für die einzelnen Komponenten auf einer progressiven Skala von 1, 3 bis 9 beurteilt, wobei 1 für einen schwachen Treiber und 9 für einen starken Treiber steht. Potentielle Kandidaten zur Bildung von Modulen ergeben sich bei hohen Modultreibersummen durch die Addition der Bewertungen je Komponente. Komponenten mit einer hohen Modultreibersumme sollten als eigenständige Module realisiert werden, während Komponenten mit niedriger Modultreibersumme und ähnlichem Bewertungsprofil zu einem Modul zusammengefasst werden sollen. Die Bewertung der entwickelten Modulkonzepte erfolgt im vierten Schritt. Hierbei sind insbesondere die Schnittstellen zwischen den Modulen zu analysieren und mithilfe von Kennzahlen und Regeln zu bewerten. Beispielsweise kann die Schnittstellenkomplexität als Kennzahl für die Entwicklungsdauer und der Anteil von Zukaufmodulen für Kosten in der Montage herangezogen werden. Im letzten Schritt der Methode erfolgt die Ausarbeitung der Module und Schnittstellen mithilfe gängiger Entwicklungsmethoden und Richtlinien.
12.5.8 Product Family Master Plan Der Product Family Master Plan (PFMP) nach Mortensen (1999) und Harlou (2006) verfolgt das Ziel, die Variantenvielfalt innerhalb von Produktfamilien abzubilden, um die Handhabbarkeit und Entwicklung beispielsweise von Plattformen, Modulbaukästen oder Baureihen zu unterstützen. Dabei soll einerseits die interne Variantenvielfalt reduziert werden, die keinen wesentlichen Beitrag zur marktseitig angebotenen Variantenvielfalt leistet. Andererseits soll die Komplexität bei der Entwicklung varianter Produkte abgebildet werden, um die Kommunikation zwischen Vertrieb, Entwicklung
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D. Krause et al.
Tab. 12.4 Generische Modultreiber zur Bildung von Modulen nach dem Modular Function Deployment. In Anlehnung an (Erixon 1998) Produktlebensphase Modultreiber
Erläuterung
Produktentwicklung Übernahmeteil und -gestaltung
Verwendung eines Moduls über mehrere Produktgenerationen und/oder Produktfamilien hinweg (langfristiger Effekt)
Vertrieb/ Konfiguration
Produktion
Technologische Entwicklung/ Technology Push
Wahrscheinliche Technologieänderung aufgrund neuer Entwicklungen oder stark veränderter Kundenanforderungen
Geplante Gestaltungsänderungen/Produktplanung
Wahrscheinliche oder geplante Produktpflegemaßnahmen im Laufe des Produktlebens
Technische Spezifikation
Erzeugung von Produktvarianten durch wenig entkoppelte Module
Styling
Sichtbare Styling-Module für spätere Änderungen des Produktdesigns
Gemeinsame Einheit
Mehrfach- oder Wiederverwendung von Modulen im Produktprogramm zur Erhöhung von Stückzahlen (kurzfristiger Effekt) (idealerweise in Kombination mit Modultreiber Übernahmeteil)
Prozess- und/oder Organisations- Ähnliche oder gleiche Prozessschritte in mehrfachnutzung der Produktion; passende Definition von Arbeitsumfängen für eine Organisationseinheit Qualität
Separates Testen
Frühere und einfachere Funktionstests von Modulen im Produktionsprozess vor der Montage
Beschaffung
Zulieferer-Black-Box
Zukauf eines Modules, Reduktion der Anzahl an Zulieferern und Beschaffungsvorgänge
After Sales
Service/Wartung
Austausch defekter Module statt Reparatur mit größerer Betriebsstörung
Aufrüstung
Module für die Änderung oder Erweiterung der Funktionen des Produkts in der Nutzungsphase
Recycling
Vereinfachtes Recycling durch Zusammenfassen von gleichen oder ähnlichen Materialien sowie schädlichen Stoffen in einzelnen Modulen
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Abb. 12.22 Exemplarisch ausgefüllte Module Indication Matrix (MIM) des Modular Function Deployments für einen Staubsauger. Abbildung in Anlehnung an (Erixon 1998)
und Produktion zu strukturieren und zu erleichtern. Zentraler Ansatz des PFMP ist es, dass das Produktprogramm eines Unternehmens aus drei unterschiedlichen Sichtweisen abgebildet wird. Hierzu wird zwischen folgenden Sichten unterschieden: 1. Die Kunden-Sicht (customer view) umfasst die Beschreibung aller Aspekte des Produktprogramms, die für Kunden relevant sind. Beispiele dafür sind die durch die Produkte adressierten Kundengruppen, verkaufsrelevante Unterscheidungsmerkmale der Produkte und Verkaufszahlen der Produkte. 2. Die Engineering-Sicht (engineering view) umfasst die Beschreibung der Funktionen der Produkte innerhalb der Produktfamilie als Funktionseinheiten. 3. Die Bauteil-Sicht (part view) umfasst die Beschreibung der Baustruktur und bildet damit ab, wie die Produkte durch Zusammensetzung von Komponenten aus der Perspektive der Produktion realisiert werden. Abb. 12.23 zeigt exemplarisch, dass für jede der drei Sichtweisen separate Modelle erzeugt werden, die jeweils eine hierarchische Gliederung der Elemente (part-of structure) sowie eine Übersicht über die Varianten (kind-of structure) enthält. Ein Element in der Kunden-Sicht kann so beispielsweise eine Kundenanforderung an das Produkt sein, die in unterschiedlichen Ausprägungen gefordert wird. In der Engineering-
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Abb. 12.23 Drei Sichtweisen auf ein Produkt im Product Family Master Plan (PFMP). Abbildung in Anlehnung an (Harlou 2006)
Sicht sind entsprechend Funktionen sowie deren Funktionsvarianten und in der BauteilSicht die Bauteile und deren Varianten abgebildet. Die drei Sichtweisen sind kausal miteinander verknüpft, um eine Nachverfolgbarkeit zu ermöglichen. So ist die Kunden-Sicht mit der Engineering-Sicht verknüpft, um darzustellen, wie Funktionseinheiten des Produkts zur Erfüllung von Kundenanforderungen beitragen. Die Verknüpfung zwischen der Engineering-Sicht und der Bauteil-Sicht erzeugt Transparenz darüber, wie Bauteile oder Baugruppen zur Realisierung von Funktionen beitragen. Aufgrund dieser Verknüpfungen ergeben sich zwei Leserichtungen für den PFMP. Zum einen kann aus Perspektive der Kunden überprüft werden, durch welche Funktionseinheiten der Produkte Kundenanforderungen erfüllt werden und welche Bauteile zur Realisierung dieser Funktionseinheiten beitragen. Damit wird die Frage beantwortet, wie Kundenanforderungen realisiert werden. Zum anderen kann aus Perspektive der Bauteile nachvollzogen werden, zur Erfüllung welcher Funktionen diese beitragen und inwiefern sie einen Mehrwert für den Kunden bieten. In Entwicklungsprojekten kann der PFMP unterschiedliche Unterstützungen bieten. Beispielsweise können bestehende Produktprogramme dahingehend analysiert werden, welche bestehenden Produktvarianten und Bauteile einen besonderen Kundennutzen darstellen. Da Produktprogramme oftmals historisch gewachsen sind, kann diese Analyse dazu beitragen, fehlende Verknüpfungen der Bauteil- und Engineering-Sicht mit der Kunden-Sicht zu identifizieren und eine stärkere Orientierung an die Kundenanforderungen sicherzustellen. Ein weiteres Anwendungsszenario ist es, ausgehend von der Kunden-Sicht zu bewerten, welche Komplexität in der Entwicklung und Produktion bei der Erfüllung neuer oder geänderter Kundenanforderungen resultiert. Hierbei hat eine Vielzahl von Verknüpfungen von Kundenanforderungen mit Funktionseinheiten und Bauteilen zur Folge, dass in der Entwicklung und Produktion in der Regel ebenfalls eine Vielzahl von Prozessen neu geschaffen oder angepasst werden muss.
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12.5.9 Integrierter PKT-Ansatz zur Entwicklung modularer Produktfamilien Ein Vorgehen, das sowohl technisch-funktionale als auch produktionsstrategische Aspekte bei der Modularisierung berücksichtigt, ist der Integrierte PKT-Ansatz zur Entwicklung modularer Produktfamilien nach Krause (Krause und Gebhardt 2018). Dieser Ansatz stellt einen Methodenbaukasten dar, der sich bedarfsgerecht aus unterschiedlichen, ineinandergreifenden Methoden zusammenfügen lässt, die als Methodenbausteine bereitgestellt werden. Dabei wird auf die vorhandenen Methoden, wie die Theory of Modular Design (siehe Abschn. 12.5.4), Design Structure Matrix (siehe Abschn. 12.5.5) und Modular Function Deployment (siehe Abschn. 12.5.7) zurückgegriffen. Alle Bausteine sind auf das übergeordnete Ziel ausgerichtet, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der vom Kunden am Markt geforderten externen Varianz, die unternehmensinterne Varianz zu minimieren, siehe Abb. 12.24. Dies schließt neben der Reduzierung der internen Varianz auf Produktebene (in Abb. 12.24 dargestellt als Vorderseite) ebenfalls die Reduzierung der prozessseitigen varianzinduzierten Komplexität (in Abb. 12.24 dargestellt als Oberseite) mit ein (Krause und Gebhardt 2018). Das methodische Vorgehen beim PKT-Ansatz berücksichtigt produktspezifische Fachkenntnisse, die mittels unterschiedlicher Workshops aufgenommen werden. Hierbei unterstützen die nachfolgend dargestellten Werkzeuge innerhalb der einzelnen Methodenbausteine zur Visualisierung die Lösungs- und Entscheidungsfindung.
Abb. 12.24 Zielsetzung des Integrierten PKT-Ansatzes zur Entwicklung modularer Produktfamilien. Abbildung in Anlehnung an (Krause und Gebhardt 2018)
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Die zentralen Methodenbausteine des PKT-Ansatzes sind die variantengerechte Produktgestaltung und die Lebensphasenmodularisierung (Kipp et al. 2010). Mit der variantengerechten Produktgestaltung wird das Ziel verfolgt, Komponenten so zu gestalten, dass möglichst wenige dieser abhängig von varianten Produkteigenschaften sind. Das Zielbild stellt das Idealbild einer variantengerechten Produktstruktur dar. Die sich anschließende Lebensphasenmodularisierung verfolgt das Ziel, eine konsistente modulare Produktstruktur zu entwickeln, welche die Anforderungen aller Produktlebensphasen berücksichtigt (Kipp et al. 2010). Das methodische Vorgehen ist in Abb. 12.25 dargestellt. Aufbauend auf der Definition der Ziele (Schritt 1) werden in der variantengerechten Produktgestaltung zuerst die externe Vielfalt (Schritt 2) und daraufhin die interne Vielfalt (Schritt 3) erfasst. Darauf basierend werden Konzepte für die variantengerechte Produktgestaltung entwickelt (Schritt 4) und ein Konzept ausgewählt (Schritt 5). In der darauf folgenden Lebensphasenmodularisierung werden separate Modularisierungen für die Produktlebensphasen entwickelt (Schritt 6) und abgestimmt (Schritt 7). Abschließend wird das finale Konzept vorgestellt und diskutiert (Schritt 8). Nachfolgend wird dieses Vorgehen beispielhaft anhand einer Produktfamilie von Herbizidsprühgeräten vorgestellt. Nach der Definition des Problem und der Zielsetzung erfolgt die Aufnahme der externen Vielfalt (Schritt 2) mithilfe des Vielfaltsbaums (Tree of external Variety, TeV), indem für die am Markt angebotenen Produkte die
Abb. 12.25 Vorgehen der Methodenbausteine Variantengerechte Produktgestaltung und Lebensphasenmodularisierung im integrierten PKT-Ansatz (Jonas 2013)
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differenzierenden, kundenrelevanten Eigenschaften und ihre Ausprägungen aufgenommen werden, vgl. Abb. 12.26. Die Anordnung in den Spalten erfolgt dabei in Abhängigkeit der Relevanz dieser Eigenschaften. Ein Ast im Vielfaltsbaum beschreibt somit eine Produktvariante mit den ihr zugeordneten kundenrelevanten Eigenschaftsausprägungen. In Abb. 12.26 ist ein Vielfaltsbaum für eine Produktfamilien von Herbizidsprühgeräten dargestellt, in der beispielsweise die kundenrelevante Eigenschaft Sprühbreite unter anderem durch die Ausprägungen 20–45 cm, 30–50 cm und 50 cm abgebildet werden. Für die Aufnahme der internen Vielfalt (Schritt 3) werden die Funktionen mit der Produktfamilienfunktionsstruktur (Product Family Function Structure, PFS) modelliert, siehe Abb. 12.27. Diese basiert auf einer umsatzorientierten Funktionsstruktur, in der unterschiedliche Umsätze von Material, Energie und Information sichtbar sind. Die Funktionen werden im PFS in Standard- und Variantenfunktionen eingeteilt, die darüber hinaus optional und/oder in ihrer Anzahl variant innerhalb der Produktfamilie sein können. Beispielsweise führt die standardisierte Funktion Spray zerstäuben, die in varianter Anzahl vorliegt, zu dem Zustand Sprühnebel, der wiederum durch die variante Funktion Spray richten, die in varianter Anzahl vorliegt, zu unterschiedlichen Zuständen führt. Über die Eigenschafts- und Funktionsebene hinaus wird die Varianz auch auf Ebene der Wirkprinzipien und -geometrien sowie auf Komponentenebene analysiert. Letzteres unterstützt der Module Interface Graph (MIG), der am Beispiel des Herbizidsprühgeräts in Abb. 12.28 dargestellt ist. Der MIG veranschaulicht die grobe Form und Anordnung der Komponenten zueinander sowie, ob diese in der Produktfamilie standardmäßig, variant, variant in der Anzahl oder optional ausgeführt sind. Darüber hinaus werden die Schnittstellen und Flüsse zwischen den Komponenten visualisiert. Im Beispiel für das HerbizidSprühgerät sind die Flussarten Struktur, Elektrik und Präparat vorhanden und im MIG dargestellt (Abb. 12.28). Die Komponente Laufrad (LR) ist beispielsweise grau eingefärbt, da es sich hierbei um eine variante Komponente handelt. (Gebhardt et al. 2014). Es gibt ein Laufrad für ebene Flächen und ein geländegängiges Laufrad als Variante.
Abb. 12.26 Ausschnitt aus der Aufnahme der externen Vielfalt im Vielfaltsbaum (Tree of external Variety, TeV) am Beispiel einer Produktfamilie von Herbizidsprühgeräten, nach (Kipp 2012)
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Abb. 12.27 Auszug aus der umsatzorientierten Produktfamilienfunktionsstruktur (Product Family Function Structure, PFS) am Beispiel einer Produktfamilie von Herbizidsprühgeräten, nach (Blees 2011)
Abb. 12.28 Module Interface Graph (MIG) am Beispiel einer Produktfamilie von Herbizidsprühgeräten, nach (Blees 2011)
Die auf den Ebenen der Produkteigenschaften, Funktionen, Wirkprinzipien und -geometrien sowie Komponenten gesammelten varianzbezogenen Informationen werden im Variety Allocation Model (VAM) verknüpft (Schritt 4) (siehe Abb. 12.29, links). Daraus ergeben sich die vier Ebenen kundenrelevante Eigenschaften, variante Funktionen, variante Wirkprinzipien und -geometrien und variante Komponenten. Der VAM dient
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Abb. 12.29 Ausschnitt aus dem Variety Allocation Model (VAM) am Beispiel einer Produktfamilie von Herbizidsprühgeräten vor (links) und nach (rechts) der variantengerechten Produktfamilienstruktur im VAM (in Anlehnung an Krause und Gebhardt 2018)
somit als Grundlage für die Konzeptfindung der variantengerechten Produktgestaltung. Mit dieser Visualisierung wird der Zusammenhang zwischen interner und externer Vielfalt verdeutlicht. Die interne Vielfalt, die nicht zur Bereitstellung der externen Vielfalt notwendig ist, wird identifiziert und reduziert, indem Abweichungen zum Idealbild einer variantengerechten Produktstruktur (Abb. 12.29, rechts) im VAM deutlich werden. Das Idealbild wird dabei charakterisiert durch vier Eigenschaften (Differenzierung in Standard- und Variantenkomponenten, Reduzierung der Variantenkomponenten zum Träger einer kundenrelevanten Eigenschaft, Eins-zu-eins-Zuordnung zwischen Variantenkomponenten und kundenrelevanten Eigenschaften sowie Entkopplung der Variantenkomponenten) (Kipp 2012). Im Beispiel des Herbizidsprühgerätes ist die kundenrelevante Eigenschaft Sprühbreite von den varianten Komponenten Magnetventil und Kabelbaum abhängig, die wiederum durch die kundenrelevante Eigenschaft selektives Sprühen beeinflusst wird (siehe Abb. 12.29, links). Der finale Schritt der variantengerechten Produktgestaltung stellt die Bewertung dar (Schritt 5), in der die alternativen Lösungskonzepte evaluiert und ausgewählt werden (Kipp et al. 2010; Krause und Gebhardt 2018). In dem Beispiel des Herbizidsprühgerätes wurde ein Konzept ausgewählt, dessen Produktstruktur dadurch gekennzeichnet ist, dass die Komponenten Magnetventil und Kabelbaum nur von der kundenrelevanten Eigenschaft selektives Sprühen beeinflusst wird (Abb. 12.29, rechts). Die Abhängigkeiten zur Eigenschaft Sprühbreite konnten durch das neue Konzept eliminiert werden, was zu einer Ersparnis an varianten Komponenten führt. Aufbauend auf der variantengerechten Produktgestaltung wird im Integrierten PKTAnsatz die Lebensphasenmodularisierung durchgeführt. Hierzu wird im sechsten
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Schritt des methodischen Vorgehens die Ausgangssituation mithilfe eines variantengerechten MIG aufgenommen. Auf dessen Grundlage wird eine technisch-funktionale Modularisierung beispielsweise entsprechend den Heuristiken nach Stone (vgl. Abschn. 12.5.4) angewendet. Es entstehen technisch-funktionale Module, die die Ausgangsbasis für die Modularisierung in der Lebensphase Produktentwicklung bilden. Darüber hinaus werden für alle Lebensphasen produktstrategische Gründe zur Modulbildung, die sogenannten Modultreiber nach Erixon (1998), herangezogen (vgl. Abschn. 12.5.7). Zusätzlich zu den Modultreibern werden die sogenannten ModultreiberAusprägungen ergänzt, die produktspezifisch festgelegt werden. Abb. 12.30 zeigt Modultreiber entlang der Produktlebensphasen sowie deren produktspezifische Ausprägungen am Beispiel des Herbizidsprühgerätes. Beispielsweise gibt es für die Lebensphase Produktion einen Modultreiber separates Testen mit den Modultreiberausprägungen Druck-/Saugtest und Polungstest (siehe Abb. 12.30). Die jeweiligen lebensphasenspezifischen Modularisierungskonzepte werden in Netzplänen dargestellt. Diese unterstützen die Modulbildung, indem die Komponenten über die Modultreiberausprägungen den Modultreibern zugeteilt werden. Anhand ihrer Zugehörigkeit zu den spezifischen Modultreiberausprägungen werden die Komponenten zu Modulen zusammengefasst. In Abb. 12.31 ist ein solcher Netzplan für die Lebensphase Produktion mit dem Modultreiber Separates Testen anhand des Herbizidsprühgeräts beispielhaft dargestellt. Dabei sind vier Komponenten der Modultreiberausprägung Druck-/ Saugtest zugeordnet und werden somit zu dem Modul Druck-/Saugtest zusammengefasst (Abb. 12.31). Die Ergebnisse aus den Netzplänen der jeweiligen Lebensphasen fließen in das Module Process Chart (MPC) (siehe Abb. 12.32) ein (Schritt 7). Ziel des MPC ist die Aufdeckung von Widersprüchen zwischen den unterschiedlichen Modularisierungskonzepten der einzelnen Lebensphasen sowie eine Harmonisierung dieser. Hierzu gilt
Abb. 12.30 Modultreiber und deren Ausprägungen entlang der Produktlebensphasen am Beispiel einer Produktfamilie von Herbizidsprühgeräten (nach Blees 2011, Erixon 1998)
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Abb. 12.31 Netzplan der Produktlebensphase Produktion anhand des Modultreibers Separates Testen am Beispiel einer Produktfamilie von Herbizidsprühgeräten (Blees 2011)
es, Vertreter jeder Lebensphase zusammenzubringen, um die Widersprüche aufzuzeigen, Kompromisse einzugehen und einen über alle Lebensphasen harmonisierten MPC hervorzubringen. In Abb. 12.32 (oben) ist ein Ausschnitt des MPC der Produktfamilie des Herbizidsprühgeräts vor der Harmonisierung dargestellt, anhand dessen die Widersprüche zwischen den lebensphasenspezifischen Modularisierungskonzepten deutlich werden. In der Lebensphase Einkauf soll die Komponente Schirmhalter zusammen mit weiteren Komponenten in einem Modul zugekauft werden, wobei in der späteren Lebensphase Vertrieb der Schirmhalter als variante Komponente als eigenes Modul betrachtet wird, da sie eine kundenrelevante Eigenschaft erfüllt. Um diese Inkonsistenz zu beseitigen, wurde mit den Vertretern der betroffenen Lebensphasen eine Harmonisierung vorgenommen, bei der der Schirmhalter in allen Lebensphasen als eigenständiges Modul angesehen wird. Diese Widersprüche werden in dem in Abb. 12.32 (unten) dargestellten harmonisierten MPC gelöst. Das daraus resultierende Konzept (Schritt 9) stellt die Grundlage der abschließenden Diskussion dar, vgl. (Krause und Gebhardt 2018). Weitere Methodenbausteine des integrierten PKT-Ansatzes, die sich beispielsweise auf die Planung des Produktprogramms oder einer montagegerechten Produktstrukturierung beziehen, lassen sich ergänzend zum beschriebenen Vorgehen anwenden, vgl. (Krause und Gebhardt 2018). Beispielsweise kann eine Kostenbewertung modularer Produktstrukturen durch Berücksichtigung der Komplexitätskosten erzielt werden
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Abb. 12.32 Ausschnitt eines Module Process Charts (MPC) zur Abstimmung der lebensphasenspezifischen Modularisierungskonzepte, vor der Harmonisierung (oben) und nach der Harmonisierung (unten)
(Ripperda und Krause 2017). Weiterhin kann eine Softwareunterstützung mittels Tools des Model-Based Systems Engineerings (MBSE) angewandt werden, um eine Durchgängigkeit des methodischen Vorgehens zu ermöglichen (Hanna und Krause 2017).
12.6 Beispiele Im folgenden Abschnitt werden zwei Beispiele für die Gestaltung der Produktarchitektur beschrieben. Hierbei werden jeweils unterschiedliche Produkte zugrunde gelegt und verschiedene Zielstellungen fokussiert. Die Anwendung zuvor beschriebener Methoden und Bauweisen wird dabei aufgezeigt und die angepasste Produktarchitektur sowie deren wesentliche Vorteile beschrieben. Fokus des ersten Beispiels ist die Entwicklung eines Modulbaukastens für Aufzuganlagen. Das zweite Beispiel beschreibt die Entwicklung eines funktionsintegrierten Bodenmoduls für leichte Nutzfahrzeuge.
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12.6.1 Anwendung des PKT-Ansatzes zur Modularisierung von Aufzügen Das betrachtete mittelständige Unternehmen entwickelt und fertigt individuell auf den Kunden zugeschnittene Aufzuganlagen für Gebäude und Schiffe. Die durch die hohe Nachfrage nach individualisierten Produkten entstehende interne Vielfalt an Komponenten und Prozessen bedingt kritische Durchlaufzeiten und Fehlerraten. In diesem Projekt wurde die Zielsetzung verfolgt, die Durchlaufzeiten und Fehlerraten in der Konstruktion und Fertigung um bis zu 50 % zu senken, wobei die Flexibilität für das obere Preissegment beibehalten werden sollte. Hierzu sollte die auftragsbezogene Konstruktion durch eine Konfiguration ersetzt werden, die mittels eines Modulbaukastens realisiert wird. Hierdurch lassen sich mit einer minimalen internen Vielfalt variante Kundenwünsche bedienen. Das Vorgehen im Projekt ist in Abb. 12.33 dargestellt. Methodisch wurde das Vorgehen durch den Integrierten PKT-Ansatz zur Entwicklung modularer Produktfamilien, im Speziellen der variantengerechten Produktgestaltung und der Lebensphasenmodularisierung unterstützt (siehe Abschn. 12.5.9). Zunächst wurden Hauptmodule identifiziert, die in den darauffolgenden Schritten ausgehend von den Kundenbedürfnissen variantengerecht gestaltet und anschließend modularisiert wurden. Dazu wurden die Anforderungen der Modulbildung aller Produktlebensphasen im Unternehmen mit in die Modulstruktur des neuen Baukastens einbezogen. Mittels einer Gegenüberstellung und Harmonisierung der jeweiligen Wunsch-Modularisierung aus den jeweiligen Lebensphasen kann ein effizienterer Durchlauf der Produktentstehung erreicht werden. Zunächst wurde dazu die interne Vielfalt der gesamten Aufzugsanlage im Modul Interface Graph (MIG) (vgl. Abb. 12.28) visualisiert. Zusätzlich wurden Hauptmodule auf der Grundlage technisch-funktionaler Aspekte definiert, auf die die variantengerechte Produktgestaltung und Lebensphasenmodularisierung einzeln angewendet wurden. Das Hauptmodul Gegengewicht zeichnet sich durch eine nicht-ideal variantengerechte Produktstruktur aus, wie in dem Ausschnitt des VAMs in Abb. 12.34 dargestellt. Um im Workshop mit den Unternehmensvertretern eine vereinfachte Darstellung zu nutzen, wurde in diesem Projekt anstelle der wie oben beschriebenen mittleren zwei Ebenen (Funktionen und Wirkprinzipien) die Ebene variante technische Merkmale im VAM verwendet.
Abb. 12.33 Übersicht des Vorgehens (Gebhardt et al. 2016)
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Abb. 12.34 Ausschnitt aus dem Variety Allocation Model (VAM) des Gegengewichtsmoduls
Abb. 12.35 Ausschnitt aus dem Module Interface Graph (MIG) des Gegengewichtsmoduls, links vor, rechts nach der variantengerechten Produktgestaltung
Mit Hilfe des VAM wurden die nicht variantengerechten Komponenten identifiziert und dem Idealbild einer variantengerechten Produktstruktur angenähert. In Abb. 12.35 links ist das Gegengewichtsmodul vor und rechts nach der variantengerechten Produktgestaltung dargestellt. Beispielsweise ist die Gegengewichtsverkleidung eine variante Komponente, die von mehreren kundenrelevanten Eigenschaften abhängig ist. Daher wurde sie konstruktiv dahingehend geändert, dass diese standardisiert in varianter Anzahl vorliegt.
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Durch konstruktive Maßnahmen konnte der Anteil an standardisierten Komponenten erhöht werden. Deutlich wird dieses in dem MIG in Abb. 12.35 dadurch, dass einige variante Komponenten (grau) zu standardisierten Komponenten (weiß) umgestaltet wurden. Das variantengerecht gestaltete Gegengewichtsmodul wurde anschließend mit der Lebensphasenmodularisierung zusätzlich zu technisch-funktionalen aus produktstrategischen Aspekten modularisiert. Die Modularisierung der einzelnen Lebensphasen wurde mit dem Werkzeug Module Process Chart (MPC) durchgeführt, um die verschiedenen Modulwünsche einander gegenüberzustellen. Ein Ausschnitt des MPC ist in Abb. 12.36 dargestellt. Für die acht neuen Module (z. B. Gegengewichtsmodul) gilt, dass diese die kundenrelevanten Produkteigenschaften möglichst direkt bereitstellen. Dazu wurden entkoppelte und kostengünstige Konfigurationsmodule gestaltet und in Form von Konfigurationskatalogen für den Vertrieb, Moduldatenblättern, parametrisierten CAD-Modellen und Produktionsunterlagen dokumentiert. Zu Projektende betrug der Anteil der Module bereits 60 % der ausgelieferten Baugruppen, die zu einem Bruchteil der bisherigen Durchlaufzeit durch eine reduzierte Bearbeitungszeit in der Konstruktion (70–80 % reduzierte Konfigurationszeit, 40–50 % reduzierte Zeit für die Anpassungskonstruktion) und in Fertigung (30–40 % reduzierte Konfigurationszeit, 20–30 % reduzierte Zeit für die Anpassungskonstruktion) bereitgestellt werden konnten. Zudem ist die Fehlerrate bei der Modulverwendung um 80 % reduziert. Der im Projekt entwickelte und kontinuierlich durch das Unternehmen weiterentwickelte Modulbaukasten bildet die Grundlage für die neue Unternehmensstrategie (Gebhardt et al. 2016).
Abb. 12.36 Ausschnitt aus dem Module Process Chart (MPC) für das Beispiel Aufzugsanlagen (Gebhardt et al. 2016)
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12.6.2 Integrales Bodenmodul für leichte Nutzfahrzeuge Leichte Nutzfahrzeuge sind durch eine hohe Variantenvielfalt im Karosseriebau gekennzeichnet. Diese ergibt sich durch die unterschiedlichen Einsatzzwecke (Personen- und/ oder Nutzlasttransport) und wirkt sich auf Karosseriebauteile sowie die Ausführungen der Einbauten im Vorder- und Hinterwagen aus. Beispielsweise existieren Fahrzeuge in Lang- und Kurzvarianten, die im Hinterwagen mit oder ohne Sitze und unterschiedlichen Böden ausgestattet werden. Eine wesentliche Herausforderung der Entwicklung und Produktion leichter Nutzfahrzeuge ist es daher, vertretbare Einzelkosten für Fahrzeugausführungen mit geringer Stückzahl zu gewährleisten (Waltl und Wildemann 2014). Zentrale Hindernisse sind hierbei hohe Werkzeugkosten bei häufig eingesetzten Tiefziehprozessen sowie die Erfüllung teilweise restriktiver Anforderungen an die mechanischen und akustischen Eigenschaften der Bauteile und Karosserie, beispielsweise bei hochwertigen Fahrzeugen für den Personentransport. Diese Ziele gelten zunächst allgemein für die Entwicklung leichter Nutzfahrzeuge. Hieraus wurden wesentliche Ziele für die Entwicklung einer angepassten Produktarchitektur für ein Bodenmodul, siehe Abb. 12.37, eines leichten Nutzfahrzeugs abgeleitet. Der Fokus lag hierbei auf der Reduzierung der Prozesskomplexität innerhalb der Fertigung, der Vereinfachung der Montage, der Reduzierung des Gesamtgewichts und der Verbesserung der akustischen Eigenschaften im Innenraum. Grundlage für die Entwicklung war eine bestehende Produktstruktur einschließlich existierender Fertigungs- und Montageprozessen eines aktuellen Nutzfahrzeugs. Die aufgeführten Ziele wurden aus der Analyse der bestehenden Produktstruktur, nachgelagerten Fertigungs- und Montageschritten sowie Vergleichsfahrzeugen abgeleitet. Wie aus der Abb. 12.37 hervorgeht, werden in der erarbeiteten Lösung des Bodenmoduls viele einzelne Komponenten (differentiale Bauweise) verwendet. Die einzelnen Komponenten werden teilweise in unterschiedlichen Ausführungen, beispielsweise verschiedener Sitzschienen oder Bodenabdeckung, verwendet und jeweils einzeln mit dem Bodenblech verschraubt (Sitzschienen). Aufgrund dieses Aufbaus ergeben sich bei der Montage ergonomisch ungünstige und zeitaufwendige Arbeitsschritte. Ausgehend von der bestehenden Produktstruktur, den mechanischen und geometrischen Schnittstellen, beispielsweise für ein Einleitung von Belastungen der Sitzbefestigungen im Crashfall sowie den geforderten Varianten, wurden bei der Entwicklung folgende Arbeitsschritte (teilweise iterativ) durchgeführt und Methoden für die Analyse und Gestaltung der Produktarchitektur angewendet: • Im ersten Schritt erfolgten eine Analyse der bestehenden Produktstruktur und Eigenschaften des Bodenmoduls sowie die Präzisierung der Zielstellungen für die Anpassung der Produktstruktur. Hierzu wurden Anforderungen und Variantentreiber aus Kunden-, Entwicklung und Bauteilsicht mithilfe des Product Family Master Plan, vgl. Abschn. 12.5.8, identifiziert. Die abgeleiteten Unterscheidungsmerkmale, Funktionen und Randbedingungen der Fertigung und Montage wurden mit den
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Abb. 12.37 Vereinfachte Darstellung der bestehenden Produktstruktur eines Bodenmoduls für ein leichtes Nutzfahrzeug am Beispiel eines Volkswagen Transporters
bestehenden Komponenten verknüpft und auf diese Weise Entwicklungsschwerpunkte für die Anpassung der Produktarchitektur abgeleitet. Ergänzend wurden die wesentlichen Wirkflächen und Wirkkörper der bestehenden Lösung identifiziert, vgl. Funktionsintegration, Abschn. 12.5.1, um Ansatzpunkte für die Integration von Bauteilen zu ermitteln. • Im zweiten Schritt erfolgte die Erarbeitung unterschiedlicher Architekturkonzepte und Bauweisen für das Bodenmodul unter besonderer Berücksichtigung von Ansätzen der Funktionsintegration, vgl. Abschn. 12.5.1, und Ausnutzung der Potenziale von Verbundbauweisen, vgl. Abschn. 12.2.3. Die einzelnen Konzepte wurden in Form von CAD-Modellen ausgearbeitet und hinsichtlich der wesentlichen Eigenschaften (beispielsweise Gewicht, Montierbarkeit) analysiert. • Im dritten Schritt erfolgten der Vergleich und die Absicherung der Konzepte im Hinblick auf die definierten Zielsetzungen und unter Berücksichtigung der Fertigbarkeit und des Montageaufwandes. In Abb. 12.38 ist exemplarisch eines der erarbeiteten Konzepte für die Produktstrukturen des Bodenmoduls dargestellt. Hierbei wurde die Verbindungstechnik zum Bodenblech des Fahrzeugs als Verklebung ausgeführt, um den Montageaufwand zu reduzieren. Eine Funktionsintegration wurde dadurch realisiert, dass die Sitzschienen sowohl die Verbindung mit dem Bodenblech realisieren als auch die Bodenabdeckung formschlüssig
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Abb. 12.38 Schematische Darstellung des integralen Bodenmoduls in Verbundbauweise als Ausschnitt
aufnehmen und fixieren. Das gesamte Bodenmodul ist somit als eine Komponente in Verbundbauweise ausgeführt und kann durch zwei Hauptfertigungsschritte hergestellt werden. Im ersten Schritt werden Sitzschienen und Querstreben (jeweils Halbzeuge) als Schweißbaugruppe gefertigt und im zweiten Schritt durch Fließpressen faserverstärkte Polypropylen-Elemente zwischen den Sitzschienen sowie seitlich dieser ausgeformt. Hierbei gehen die Polypropylen-Elemente einen Formschluss mit den Sitzschienen ein. Als Ergebnis kann das Bodenmodul als einteilige Komponente in das Fahrzeug eingeklebt werden, vgl. Abb. 12.38. Durch die skizzierte Anpassung der Produktarchitektur und Anwendung der Verbundbauweise konnte das Gesamtgewicht des Bodenmoduls im Vergleich zur bestehenden Ausführung um etwa 30 % reduziert werden. Gleichzeitig vereinfacht sich der Zeitaufwand in der Endmontage deutlich. Die verbesserten mechanischen Eigenschaften (unter anderem erhöhte Torsionssteifigkeit) tragen zudem zur Verbesserung des akustischen Verhaltens im Fahrzeuginnenraum bei. Varianten des Bodenmoduls (geometrische Ausführung oder unterschiedliche Bodenbeläge) können durch das gewählte Fertigungsverfahren teilweise innerhalb des Werkzeugs oder durch geringe Nachbearbeitungen vor der Endmontage erzeugt werden.
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12 Produktarchitektur
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Teil IV Produktgestaltung
Gestaltung – Prozess und Methoden
13
Sven Matthiesen
13.1 Einleitung Nachdem in der Konzeptphase das Lösungskonzept zur Erfüllung des Entwicklungsauftrags erarbeitet wurde, wird im nächsten Schritt die Produktgestalt durch die Beschreibung ihrer geometrischen und stofflichen Merkmale festgelegt. Dieser Schritt, in dem aus dem Konzept der Entwurf und schließlich das herstellbare Produkt definiert wird, wird als Gestaltung bezeichnet. Zunächst werden in dem hier folgenden Kapitel Aktivitäten in der Gestaltung und Methoden zu ihrer Unterstützung beschrieben. Darauf folgend werden in den nächsten Kapiteln dieses Buchteils dann die Grundregeln der Gestaltung, Prinzipien und Richtlinien beschrieben. Die Gestaltung ist eine schwierige und langwierige Aufgabe in der Produktentwicklung. Einerseits müssen eine Vielzahl von Anforderungen und Randbedingungen gleichzeitig beachtet werden (siehe hierzu auch (Wittel et al. 2013)), andererseits entscheidet die Festlegung der konstruktiven Details über die Güte der Funktionserfüllung und die Herstellkosten des Produkts. Dadurch haben Konstruktionsingenieurinnen und –ingenieure einen erheblichen Einfluss auf den Erfolg eines Produkts, und damit eine große Verantwortung im Unternehmen (Sauer 2016, S. 4). Gut funktionierende Produkte unterscheiden sich dabei oft nicht durch das gewählte Konzept, sondern durch die Details in der Produktgestalt von solchen, die nicht so gut funktionieren. Wie diese Details festgelegt werden, hängt einerseits von den Erfahrungen der Konstruktionsingenieurinnen und –ingenieure ab, andererseits von den im Unternehmen zuvor entwickelten Produkten und dem dabei entstandenen Wissen. In der Gestaltung ist es essentiell, dass Zusammenhänge von der
S. Matthiesen (*) Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_13
397
398
S. Matthiesen
zu erfüllenden Funktion und der zu realisierenden Gestalt1 verstanden sind. Da diese Zusammenhänge oft nicht vollständig bekannt sind, entsteht die Gestalt eines Produkts typischerweise nicht in einem Schritt. Sie wird iterativ herausgearbeitet, wobei sich Phasen der Synthese und Analyse abwechseln. Synthese bedeutet dabei die Festlegung einer Gestalt, mit der Funktionen unter den gegebenen Randbedingungen überhaupt oder besser erfüllt werden können. Genügt das vorhandene Wissen für die Synthese der Gestalt nicht, ist ein Analyseschritt notwendig. Analyse bedeutet dabei, dass notwendige Erkenntnisse zu Gestalt-Funktion-Zusammenhängen auf Basis einer bereits vorhandenen oder erzeugten Gestalt aufgebaut werden. Erkenntnisse zu diesen Zusammenhängen sind der Schlüssel zu einer erfolgreichen Gestaltung und damit eine Basis für erfolgreiche Produktentwicklung.
13.2 Die Einordnung der Gestaltung in den Produktentwicklungsprozess nach VDI 2221 Wie die Gestaltung in den Prozess der Produktentwicklung eingeordnet werden kann, lässt sich anhand der VDI 2221 darstellen, in der Aktivitäten im Produktentwicklungsprozess beschrieben werden. Abb. 13.1 zeigt diese Aktivitäten (VDI 2221:2018-03 Blatt 1). Schwerpunktmäßig kann die Gestaltung den Aktivitäten „Gliedern in Module“, „Gestalten der Module“ und „Integrieren des gesamten Produktes“ zugeordnet werden. Viele Aktivitäten im Produktentwicklungsprozess wechselwirken mit der Gestaltung. Durch die Koevolution von Problem und Lösung (Dorst und Cross 2001) entstehen einerseits Ergebnisse, welche als Eingangsgrößen die Gestaltung beeinflussen, andererseits beeinflussen auch Ergebnisse aus der Gestaltung die nachfolgenden und vorhergehenden Aktivitäten im Produktentwicklungsprozess. Die Aktivitäten eines konkreten Produktentwicklungsprozesses laufen dadurch zeitlich nicht linear, sondern meist sprunghaft und iterativ ab. So können Erkenntnisse während des Gestaltens dazu führen, dass davorliegende und bereits abgeschlossene Aktivitäten erneut durchgeführt werden müssen. Die Gestaltung und der in ihr stattfindende Erkenntnisgewinn beeinflusst den tatsächlich ablaufenden Prozess der Entwicklung für konkrete Produkte maßgeblich (vergleiche auch die Phasen des Produktentwicklungsprozesses, dargestellt in Abb. 13.1 rechts). Sie darf deshalb nicht isoliert von den anderen Aktivitäten im Produktentwicklungsprozess betrachtet werden. In der Gestaltung ist es wichtig, die Ein- und Ausgangsgrößen zu kennen, um das Risiko des Entwicklungsprojekts (Abschn. 13.4) abzuschätzen und notwendige Aktivitäten rechtzeitig zu planen. Abhängig vom Detaillierungsgrad und der Datenqualität der Eingangsgrößen verändert sich der Aufwand und auch das Risiko in der Gestaltung. Die vier wichtigsten Eingangsgrößen in die Gestaltung sind:
1Als
Gestalt wird dabei die Gesamtheit der Gestaltparameter bezeichnet, die ein technisches System beschreiben und die zu seiner Herstellung notwendig sind.
13 Gestaltung – Prozess und Methoden
399
Produktplanung
Phasen Ziele Entwicklungsauftrag
verfeinerte und ergänzte Anforderungen
Ergebnisse Klären und Präzisieren des Problems bzw. der Aufgabe
Anforderungen
Ermitteln von Funktionen und deren Strukturen
Funktionsmodelle
Suchen nach Lösungsprinzipien und deren Strukturen
Prinzipielle Lösungskonzepte
Bewerten und Auswählen von Lösungskonzepten
Lösungskonzept
Gliedern in Module, Schnittstellendefinition
Systemarchitektur
Gestalten der Module
Teilentwürfe
Integrieren des gesamten Produkts
Gesamtentwurf
Ausarbeiten der Ausführungs- und Nutzungsangaben
Produktdokumentation
...
… … …
Planung
Konzept
etc. Zeit
virtuell
physisch
Absichern von Ergebnissen Freigabe Produktdokumentation
Abb. 13.1 Der Produktentwicklungsprozess nach VDI 2221 (VDI 2221:2018–03 Blatt 1)
1. Anforderungen und Randbedingungen aus dem Entwicklungsauftrag: Der Entwicklungsauftrag ist als Basis des Produktentwicklungsprozesses eine wichtige Eingangsgröße in die Gestaltung. Er kann nach der VDI2221 sowohl Ideen, Wünsche, Visionen, als auch bereits detaillierte Anwendungsfälle und Anforderungen zu Funktionen, Schnittstellen, Fertigungsverfahren usw. beinhalten (VDI 2221:2018– 03, S. 17). Anforderungen im Lastenheft sind oft Grundlage rechtlich verbindlicher Vertragsdokumente. Eine detaillierte Beschreibung von Anforderungen geben beispielsweise Ehrlenspiel und Meerkamm (2017, S. 480). In der Produktentwicklung sind sie von besonderer Bedeutung als Prüfstein, um den Reifegrad des Produkts
400
S. Matthiesen
während der Entwicklung zu beurteilen. Für die Gestaltung spielen besonders die Unterschiede in den Anforderungen an das aktuell zu entwickelnde Produkt zu denen an das Vorgänger- oder Referenzprodukt eine wichtige Rolle. Die Betrachtung dieser Unterschiede hilft, Schwierigkeiten vorherzusehen und kritische Funktionen zu erkennen. Das ist wichtig, um in der Gestaltung richtig zu priorisieren. 2. Gestaltdokumentation eines Vorgänger- oder Referenzprodukts: Liegen Gestaltdokumentationen (CAD-Daten, Zeichnungen, Materialspezifikationen) zu Vorgänger- oder Referenzprodukten vor, die bereits am Markt eingeführt wurden, sind diese für die Gestaltung extrem wertvoll, da Gestalt-Funktion-Zusammenhänge bereits im Produkt nachgewiesen wurden. In den meisten Unternehmen ist die Gestaltdokumentation kombiniert mit den Erfahrungen aus dem Vorgänger- oder Referenzprodukt am Markt die wichtigste Eingangsgröße für die Gestaltung. 3. Erfahrungen mit verwandten Produkten: Liegt die Gestaltdokumentation eines Vorgänger- oder Referenzproduktes nicht explizit vor, ist die Erfahrung der Konstruktionsingenieurinnen und –ingenieure mit einem Produkt, das ähnliche Funktionen wie das zu entwickelnde Produkt erfüllt, eine wichtige Eingangsgröße in der Gestaltung. Dabei stützt sich die Gestaltung auf implizit vorliegende Erfahrungen zu Gestalt-Funktion-Zusammenhängen ab. Durch die individuelle Erfahrung erhält jedes Produkt in der Gestaltung eine im Detail einzigartige und nicht deterministische Gestalt. Auch Ehrlenspiel und Meerkamm beschreiben die Bedeutung von Erfahrung für eine erfolgreiche Produktentwicklung (2017), S. 155. 4. Ergebnisse aus vorhergehenden Aktivitäten des Produktentwicklungsprozesses: Die Gestaltung benötigt als Basis eine prinzipielle Idee oder ein Lösungskonzept zur Umsetzung in die Produktgestalt. Da die Gestaltung auch rückwirkend Idee und Konzept beeinflusst, ist es wichtig, dass die Konstruktionsingenieurinnen und – ingenieure schon bei der Entwicklung des Produktprofils beteiligt ist. Beim Gestalten werden aus den Eingangsgrößen die Ausgangsgrößen erzeugt. Welche Ausgangsgrößen in welchem Detaillierungsgrad entstehen, ist abhängig von der Art des zu gestaltenden Produkts, das den notwendigen Ressourceneinsatz und die Vorgehensweise in der Gestaltung bestimmt. Die vier wichtigsten Ausgangsgrößen der Gestaltung sind: 1. Gestaltdokumentation des herstellbaren Produkts: Zentrales Ergebnis und damit wichtigste Ausgangsgröße der Gestaltung ist die Gestaltdokumentation des herstellbaren Produkts, das in seinen konstruktiven Details so weit definiert ist, dass es seine Funktionen erfüllt und unter den gegebenen Randbedingungen (Kosten, Fertigung, Montage usw.) hergestellt werden kann.
13 Gestaltung – Prozess und Methoden
401
2. Verfeinerte und ergänzte Anforderungen und Randbedingungen aus der Gestaltung: Die eingehenden Anforderungen und Randbedingungen werden durch die entwickelte Gestalt häufig ergänzt und verfeinert. Das geschieht besonders dann, wenn eingehende Anforderungen und Randbedingungen noch unscharf sind oder durch gewonnene Erkenntnisse verändert und angepasst werden müssen. 3. Dokumentierte Entwicklungsgenerationen: Die Dokumentationen der einzelnen Entwicklungsgenerationen2 sind ebenfalls Ausgangsgrößen der Gestaltung. Sie entstehen im Verlauf der Gestaltung und bilden Zwischenschritte auf dem Weg zur Gestaltdokumentation des eingeführten Produkts. Die Dokumentationen der Entwicklungsgenerationen enthalten viele Informationen, die in späteren Entwicklungsprojekten genutzt werden können. Werden die Entwicklungsgenerationen nicht oder unzureichend dokumentiert, geht Wissen verloren, dass in folgenden Entwicklungsprojekten dann oft erneut erarbeitet werden muss. 4. Modelle der Gestalt-Funktion-Zusammenhänge: Oft unterschätzte Ausgangsgrößen sind Erkenntnisse zu Gestalt-Funktion-Zusammenhängen, die idealerweise in expliziten Modellen dokumentiert sind. Sie dienen als Wissensbasis für die Entwicklung nachfolgender Produktgenerationen und reduzieren den Wissensabfluss, wenn Mitarbeiter das Unternehmen verlassen. Sie können auch im Fall von später auftretenden Problemen mit dem entwickelten Produkt als Basis für die Problemlösung oder in Projekten zur Herstellkostenreduktion genutzt werden. In den häufigsten Fällen liegen diese Modelle jedoch nur implizit vor, beispielsweise, wenn noch jemand im Unternehmen weiß, wie eine in der Gestaltdokumentation dokumentierte Toleranz mit der Güte der Funktionserfüllung zusammenhängt und wie sich die Güte der Funktionserfüllung ändert, wenn die Toleranz vergrößert wird. In Abb. 13.2 ist die Aktivität der Gestaltung mit ihren Ein- und Ausgangsgrößen dargestellt. Im Folgenden werden die wichtigsten Begriffe der Gestaltung im Detail erläutert und das Vorgehen näher beschrieben. Anschließend wird die Tragweite der zentralen Eingangsgrößen (siehe Abb. 13.2) bezüglich des Risikos in der Gestaltung betrachtet.
2Als
Entwicklungsgenerationen werden die im Entwicklungsprojekt entstehenden Produkte bezeichnet, die nicht reif genug sind, um am Markt eingeführt zu werden. Jede Produktgeneration beinhaltet meist viele Entwicklungsgenerationen. Vergleiche auch Albers et al. 2017b.
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Abb. 13.2 Die Gestaltung im Produktentwicklungsprozess nach (Matthiesen et al. 2018)
13.3 Vorgehen in der Gestaltung und wichtige Begriffe Im Folgenden wird exemplarisch beschrieben, wie beim Gestalten vorgegangen werden kann. Außerdem werden wichtige Begriffe der Gestaltung erläutert. Einen Überblick gibt Abb. 13.3, die Aktivitäten aus Abb. 13.2 im Detail darstellt und erläutert.
13 Gestaltung – Prozess und Methoden
403
Abb. 13.3 Vorgehen und Begriffe der Gestaltung (Matthiesen et al. 2018)
Praxisbeispiel: Vorgehen in der Gestaltung an einem Power-Tool für den Stahlbau
Größere industriell genutzte Hallen werden oft durch Stahlkonstruktionen realisiert. Die tragende Unterkonstruktion besteht aus Stahlträgern, auf denen spezielle Kassettenbleche befestigt werden, um Dach- und Wandflächen zu bilden. Eine Möglichkeit der Befestigung stellt das Nageln mit speziellen Nägeln dar. Diese werden von sogenannten Bolzensetzgeräten ohne vorzubohren durch das Kassettenblech in den Stahlträger getrieben. Innerhalb der Bolzensetzgeräte wird durch einen Pulververbrennungsprozess ein Kolben beschleunigt, der dann mit seiner kinetischen Energie einen Nagel eintreibt. Die Anwendung dieses Power-Tools und die an der Funktion beteiligten Komponenten zeigt Abb. 13.4. Ein Beispiel für ein solches Bolzensetzgerät ist in Abb. 13.5 dargestellt. Dieses Power-Tool erfüllt seine Funktion „Nägel in Stahluntergrund eintreiben“ durch viele Teilfunktionen. Es besteht aus 219 Komponenten, die 520 Funktionen erfüllen und dabei stark miteinander wechselwirken. Die einzelnen Komponenten werden durch Gestaltparameter wie Radien, Form- und Lagetoleranzen, Materialspezifikationen usw. in der Gestaltdokumentation beschrieben, wodurch das Power-Tool herstellbar wird. Was genau passiert, wenn ein Parameter dieser Gestalt verändert wird, ist aufgrund dieser Menge an Komponenten und Funktionen schwierig einzuschätzen. ◄
404
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Nagel
Brennkammer
Werkstück und Untergrund
Kolben Bolzenführung Kolbenführung
Abb. 13.4 Anwendung und prinzipielle Funktionsweise eines Bolzensetzgerätes (Matthiesen et al. 2018)
Ein Zweck für den Kunden: • Nägel in nicht vorgebohrte Stahluntergründe setzen
Viele Funktionen im Power-Tool: • 219 Komponenten • 520 Teilfunktionen • Weit über 1000 Wechselwirkungen
Abb. 13.5 Komponenten und Funktionen im Bolzensetzgerät (Matthiesen et al. 2018), nach (Matthiesen 2011)
Die Gestalt – Parameter, Eigenschaften und Merkmale Beim Gestalten wird die Gestalt eines Produkts festgelegt. Als Gestalt wird dabei die Gesamtheit der Gestaltparameter bezeichnet, die ein technisches System beschreiben und die zu seiner Herstellung notwendig sind. Die Gestaltparameter können in Gestaltmerkmale und Gestalteigenschaften unterschieden werden. Ein Gestaltmerkmal kann direkt beeinflusst werden, wie beispielsweise die Länge eines Bauteils, der Durchmesser einer Welle oder die Oberflächenhärte. Gestalteigenschaften sind von den Merkmalen abhängig und können nur indirekt beeinflusst werden (Weber 2005). Für die Gestaltung ist diese Unterscheidung extrem wichtig, da nur die Gestaltmerkmale direkt festlegbar sind. Die Gestalteigenschaften sind abhängige Gestaltparameter, die sich aus den Merkmalen ergeben. Dazu ein Beispiel: Gewicht ist eine Gestalteigenschaft und kann nur indirekt durch Merkmale wie Länge, Durchmesser, Materialwahl festgelegt werden. Funktionen können ebenfalls nur indirekt beeinflusst werden. In der Gestaltung müssen Merkmale gefunden und genutzt werden, die entweder einen direkten Zusammenhang mit einer Funktion besitzen oder aber Gestalteigenschaften beeinflussen, die für die Funktionserfüllung relevant sind. Die Menge der Merkmale und Eigenschaften werden als funktionsrelevante Gestaltparameter bezeichnet.
13 Gestaltung – Prozess und Methoden
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Oft ist das Wissen, wie welcher Gestaltparameter die Funktion beeinflusst, nicht explizit dokumentiert. In der Gestaltdokumentation (technische Zeichnungen, Fertigungsunterlagen, Toleranzberechnungen, Materialspezifikationen usw.) sind die Gestaltmerkmale explizit angegeben. Wie der Zusammenhang mit Gestalteigenschaften und Funktionen ist, wird dort nicht dokumentiert, da diese Dokumentation hauptsächlich der Herstellung des Produktes dienen. Dafür ist nur die zulässige Ausprägung eines Gestaltmerkmals notwendig, nicht aber die explizite Dokumentation seines Zusammenhangs mit der Funktion. Warum Gestaltmerkmale so gewählt wurden, ist aus einem der Herstellung dienenden Produktmodell wie einer Zeichnung meist nicht erkennbar und muss erneut erarbeitet werden, wenn dieses Wissen notwendig wird. Beispiel
Das oben vorgestellte Bolzensetzgerät soll durch einen Nachfolger mit verbesserten Funktionalitäten abgelöst werden. Eine Produktgenerationsentwicklung beginnt. Um das neue Bolzensetzgerät mit möglichst geringem Risiko gestalten zu können, ist es wichtig, Erfahrungen aus dem Vorgängerprodukt zu nutzen. Dadurch wird es einfacher, die Zusammenhänge der unzähligen Gestaltparameter in den 219 Komponenten mit den einzelnen Teilfunktionen und den in ihnen auftretenden Wechselwirkungen zu verstehen. Erschwerend kommt hinzu, dass dieses technische System mit seinen vielen inneren Wechselwirkungen zusätzlich mit Untergrund und Nutzer wechselwirkt. Die Erfüllung der Funktionen innerhalb des Gerätes hängen massiv von diesen äußeren Wechselwirkungen mit den möglichen Benutzern und den möglichen Anwendungsfällen ab. Eine Auswahl an Anwendungsfällen ist in Abb. 13.6 beispielhaft dargestellt. Die dabei auftretenden Wechselwirkungen sind weder beliebig genau messbar noch für alle Einsatzzwecke des Bolzensetzgerätes vorhersagbar. Unter diesen Randbedingungen wird die Gestaltung auch für erfahrene Konstruktionsingenieurinnen und –ingenieure zu einer Herausforderung. In der Produktgenerationsentwicklung werden häufig neue Anforderungen an die nachfolgende Generation gestellt, die aus Veränderungen am Markt, Wettbewerb und/oder dem Stand der Technik entstehen. Neue Anforderung im Beispiel des Bolzensetzgerätes sind die Reduktion der Reparaturhäufigkeit über die Lebensdauer des Gerätes und die Möglichkeit, auch auf härteren Stahluntergründen Nägel einzutreiben. Die Grundfunktion „Nagel in Stahluntergrund eintreiben“ bleibt gleich, aber die Ausprägung der Funktion verändert sich quantitativ (es wird mehr Energie am Nagel benötigt). Zudem muss das Gerät häufigere Fehlanwendungen zulassen, bevor Teile im dabei aktivierten Sicherheitsmechanismus getauscht werden müssen. Die meisten Anforderungen aus dem Vorgängerprodukt bleiben bestehen, sie werden durch die neuen Anforderungen ergänzt oder quantitativ verändert. Um das Risiko in der Gestaltung zu minimieren, gilt es, die richtigen Gestaltparameter zu übernehmen und nur solche zu ändern, die zur Realisierung neuer oder veränderter Funktionen notwendig sind. Es muss sehr genau bekannt sein, welche Funktionen durch eine Veränderung an der Gestalt verändert werden.
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Abb. 13.6 Verschiedene Anwendungsfälle des Bolzensetzgerätes (Matthiesen et al. 2018)
Abb. 13.7 zeigt das Vorgängerprodukt und das darauf aufbauende neue Bolzensetzgerät. Rein optisch sind sie sehr ähnlich, die Erfüllung der veränderten und ergänzten Anforderungen liegt in den gezielt veränderten, für den Kunden größtenteils unsichtbaren, konstruktiven Details. Trotz dieser scheinbar nur geringen Veränderung ist die Inventionshöhe von neuen Produktgenerationen meist erheblich, was in der Vielzahl von entstehenden Patenten im Verlauf der Gestalt messbar wird. ◄
Abb. 13.7 Produktgenerationen eines Bolzensetzgerätes (Matthiesen et al. 2018)
13 Gestaltung – Prozess und Methoden
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Die Funktion – Produktverhalten und Zweck für den Kunden Der Funktion kommt in der Gestaltung eine besondere Bedeutung zu. Produkte müssen viele Anforderungen und Randbedingungen erfüllen, um beispielsweise wirtschaftlich hergestellt werden zu können. Ihre Existenzberechtigung kommt aber aus der Funktionserfüllung. Der Begriff der Funktion wird in der Produktentwicklung je nach Autor und Kontext unterschiedlich definiert. Erden et al. fanden beispielsweise in einer Untersuchung 18 unterschiedliche Definitionen von Funktion (Erden et al. 2008). Allgemein kann Funktion als eine lösungsneutral beschriebene Beziehung zwischen Eingangs- und Ausgangsgrößen beschrieben werden (VDI 2221:1993-05). Wichtig für die Gestaltung ist, dass Funktion zwei unterschiedliche Aspekte hat: • Funktion als Zweck – Soll-Funktion: Die Soll-Funktion beschreibt den Zweck eines Produkts oder eines seiner Teilsysteme. Die Soll-Funktion gilt es zu erfüllen, da der Zweck die Existenzberechtigung eines technischen Systems darstellt. • Funktion als Verhalten – Ist-Funktion: Die Ist-Funktion beschreibt das tatsächliche Verhalten des Produkts oder eines seiner Teilsysteme. Das Verhalten entsteht durch die Interaktion der Gestaltparameter miteinander und auch in Wechselwirkung des Produkts zur Systemumgebung. Beispiel
Auf zwei der veränderten Anforderungen im Entwicklungsprojekt des Bolzensetzgerätes wird im Folgenden näher eingegangen. Eine der veränderten Anforderungen ist die Reduzierung der Ausfallrate über die Lebensdauer, eine weitere, auch auf härteren Stahlträgern der Stahlsorte S355J2 Nägel eintreiben zu können. Allein aus diesen Anforderungen heraus eine Gestalt zu finden, mit der die veränderten Funktionen erfüllt werden, ist schwierig, weil der Zusammenhang zwischen der Funktionserfüllung und den vorhandenen und zu verändernden Gestaltparametern nicht klar ist. Deshalb wird zunächst in einer Analyse ermittelt, welche (Teil-) Funktionen besonders häufig ausfallen und welche Gestaltparameter für diese (Teil-) Funktionen relevant sein könnten. Zugleich muss vorausgedacht werden, welchen Einfluss die erhöhten Belastungen aus dem zusätzlichen Energiebedarf zum Eintreiben des Nagels auf das Bolzensetzgerät haben könnten, und ob dadurch bislang unkritische Komponenten in ihrer Funktion beeinflusst werden oder die geforderte Lebensdauer nicht mehr erreichen. Die Aktivität der Analyse beginnt mit der Betrachtung von Rückläufern vom Markt, um die real auftretenden Belastungen ermitteln zu können. So wird die vorige Produktgeneration genutzt, um Erkenntnisse für die Gestaltung zu gewinnen. Dabei zeigt sich, dass die Nichterfüllung einer Teilfunktion der Funktion „Bolzensetzgerät repetieren“ für Ausfälle sorgt. Beim Repetieren wird der Kolben nach dem Setzen in Ausgangsstellung gebracht und die magazinierten Nägel und Kartuschen nacheladen. Die Komponente „Schiebernase“,
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die den beschleunigten Kolben nach erfolgreichem Setzen des Nagels zurückholt, versagt in manchen Power-Tools vorzeitig. Die Funktion „Rückholen des Kolbens durch die Schiebernase“ wird deshalb als kritisch identifiziert. Nachdem diese kritische Funktion identifiziert ist, geht es darum, sie zu optimieren. Dazu muss in einer Analyse zunächst verstanden werden, warum sie durch die bisherige Gestalt nicht ausreichend erfüllt wird. ◄ Analyse in der Gestaltung Ziel der Analyse ist es, Erkenntnisse zu den Zusammenhängen von Gestalt und Funktion zu erlangen. Es wird entweder analysiert, wie sich ein Produkt überhaupt verhält, oder inwiefern es gelungen ist, eine Gestalt zu synthetisieren, die in der Lage ist, die gewünschte Funktion unter den gegebenen Randbedingungen zu erfüllen. In der Gestaltung sollte jedem Syntheseschritt ein Analyseschritt folgen, um die synthetisierte Lösung zu überprüfen. Allgemein wird eine Analyse in der Gestaltung immer mit dem Ziel durchgeführt, synthesefähig zu werden. Sie wird deshalb auch als synthesegetriebene Analyse bezeichnet. Das bedeutet, dass während der Analyse Merkmale herausgearbeitet werden, die als Stellgrößen für die Synthese einen Zusammenhang zur gewünschten Funktion oder dem Systemverhalten besitzen. Mit ihnen kann die Gestalt dann in der Synthese gezielt erzeugt oder angepasst werden. Die Analyse kann dabei auf verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichem Fokus und Aufwand durchgeführt werden: • Durchdenken der Zusammenhänge im System Eine Analyse sollte zunächst im Kopf durchgeführt werden. Dabei wird versucht, zu verstehen wie sich ein System verhält und zu reflektieren, ob die im Syntheseschritt erdachte Gestalt tatsächlich in der Lage ist, die Funktion zu erfüllen. Diese Form der Analyse benötigt eine schon vorhandene Entwicklungsgeneration oder ähnliche Teilsysteme oder Produkte und es sollte angestrebt werden, möglichst früh in der Gestaltung die Analyse durch Beobachtungen zu stützen. • Analyse der Dokumentation Die Analyse von vorliegender Dokumentation ist meist eine der ersten Analyseaktivitäten in der Gestaltung. Durch das zielgerichtete Durcharbeiten von Zeichnungen, Versuchsergebnissen und weiteren Dokumenten, die Gestalt- und/oder Funktionsaspekte abbilden, wird versucht, das Modell des Gestalt-Funktion-Zusammenhangs möglichst weitgehend zu füllen. • Beobachten des Systems In der Beobachtung eines Systems können unbekannte Wechselwirkungen und Einflussgrößen aufgedeckt und erkannt werden. Diese Form der Analyse bedingt, dass zumindest ähnliche Produkte oder Teilsysteme des zu entwickelnden Produktes vorliegen. Ein Ziel in der Gestaltung sollte sein, möglichst früh eine Analyse durch Beobachtung durchführen zu können. Dadurch können früh unvorhergesehene Zusammenhänge
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aufgedeckt und kostspielige Iterationen vermieden werden. Die beobachtbaren Zusammenhänge sind dabei abhängig von der Wahl des Umgebungssystems, deshalb muss das Umgebungssystem mit Bedacht gewählt und oft auch variiert werden. • Abgleich von Ist- und Soll-Funktion Ein wichtiger Schritt in der synthesegetriebenen Analyse ist der Vergleich von tatsächlichem Verhalten (Ist-Funktion) mit der Soll-Funktion. Ziel ist es hier, Erkenntnisse bezüglich der qualitativen und quantitativen Funktionserfüllung des Produkts zu gewinnen und zu prüfen, ob ein erneuter Syntheseschritt notwendig ist. Beispiel
In der Analyse der Schiebernasen der Marktrückläufer des Vorgängergerätes wird das System von einem sehr erfahrenen Konstruktionsingenieur durchdacht. Dabei entwickelt er ein Verständnis, welche Gestaltparameter wie mit der Ausfallursache zusammenhängen. Aufgrund seiner Erfahrung gelingt ihm das durch das reine Durchdenken des Systems. Ihm ist es dadurch möglich, eine optimierte Gestalt zu synthetisieren, die in Abb. 13.8 rechts dargestellt ist. In der Repetiereinheit (Mitte links im Bild) ist auch erkennbar, dass die Schiebernase im Betrieb nicht beobachtbar ist, da sie in einer vollständig geschlossenen Führung läuft. Dieses Durchdenken des Systems ist für Außenstehende nicht einsehbar und von den erfahrenen Konstruktionsingenieurinnen und –ingenieuren oft auch nicht explizierbar. Für ihre weniger erfahrenen Kolleginnen und Kollegen ist es deshalb oft schwierig nachzuvollziehen, wie die Gestalt der Lösung entstanden ist. In schwierigen Fragestellungen der Gestaltung tritt häufig der Fall auf, dass das implizite Durchdenken des Systems auch bei erfahrenen Ingenieurinnen und Ingenieuren
F
F
F
F F
Bolzensetzgerät
Repetiereinheit
F
Schiebernase aus dem Vorgängerprodukt F
Optimierte Schiebernase
Kraft in einer Kontaktstelle Lastpfad durch das Bauteil Veränderung im Material
Abb. 13.8 Gestaltung der Schiebernase am Bolzensetzgerät nach (Matthiesen et al. 2018)
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nicht mehr ausreicht, um synthesefähig zu werden. Unterstützen kann dann zusätzlich die Analyse der Dokumentation des Vorgängerproduktes und die Beobachtung von realen Systemen. Aus der Dokumentation des Vorgängerprodukts des Bolzensetzgerätes ist erkennbar, welche Passungen definiert wurden, welche Materialien verwendet wurden, wie es in seine Umgebung eingebettet ist usw. Wichtig ist dabei, sich an bewährtes anzulehnen und nur das zu verändern, was unbedingt verändert werden muss. Um die Ursache des Versagens der Schiebernase zu finden und herauszufinden, warum die vom erfahrenen Kollegen entwickelte Lösung funktioniert, wird eine Analyse der Marktrückläufer durchgeführt. In der Aktivität „Beobachten des Systems“ kann über die realen Wirkflächenpaare auf das tatsächliche Verhalten des Systems geschlossen werden. Häufig unterscheiden sich die idealen Wirkflächenpaare aus der Dokumentation von den real auftretenden, beispielsweise sind die verschlissenen Flächen an der realen Komponente kleiner als die im CAD-Modell definierten. Am Bolzensetzgerät zeigt sich, dass die Schiebernasen charakteristische Verschleißspuren an verschiedenen Zonen aufweisen. Sie geben Hinweise darauf, wie der reale Lastpfad in der Schiebernase bei den schwierig zu durchschauenden Kraftverläufen während des Setzvorgangs durch Zündung, Rückstoß, Gegenhalten des Anwenders, mehrachsige Belastung beim Repetieren usw. verläuft. Diese Kraftangriffspunkte sind in Abb. 13.8 mittig und rechts dargestellt. Sie sind aus der Dokumentation allein nicht genau vorhersagbar und extrem schwierig zu messen (vergleiche auch Abschn. 13.6.1). Aus dem Erkennen der real auftretenden Kontaktstellen wird ersichtlich, wie der Lastpfad durch die Komponente verläuft und wo die Schiebernase überlastet wird. Eine Überprüfung der Ist-Funktion durch Berechnung/ Simulation der Kräfte in den ermittelten Kontaktstellen ist quantitativ nicht möglich, da die Höhe der Kräfte weiterhin unbekannt ist. Ein Vergleich des Vorgängers und des neu konstruierten Bauteils durch eine FE-Simulation zeigt eine deutlich reduzierte Spannung, damit bestätigt die überprüfende Analyse den Synthesevorschlag des erfahrenen Kollegen. Die Analyse ist damit abgeschlossen, dass die Versagensursache gefunden und das Problem durch eine konstruktive Änderung der Komponente behoben wurde. ◄ Synthese in der Gestaltung Ziel der Synthese ist es, eine Gestalt zu definieren, mit der die benötigten SollFunktionen unter den gegebenen Randbedingungen erfüllt werden können. Die definierte Gestalt ist dabei Mittel zum Zweck, da Funktionen nicht direkt, sondern nur über Merkmale der Gestalt beeinflusst werden können. Um synthesefähig zu werden, muss ein Zusammenhang zwischen den Merkmalen der Gestalt und der zu realisierenden Funktion hergestellt werden. Dieser Zusammenhang kann in einem geeigneten Modell beschrieben werden. Ist der Gestalt-Funktion-Zusammenhang nicht bekannt, muss ein Analyseschritt vor der Synthese erfolgen. Gestaltung beginnt immer dann mit der Aktivität Synthese, wenn bereits Erfahrungen mit ähnlichen Produkten vorliegen. Ist das nicht der Fall, beginnt die Gestaltung mit der
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Aktivität der Analyse, um ein initiales Modell zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang zu entwickeln. Auf dieser Basis kann dann die Synthese erfolgen. Erfahrene Konstruktionsingenieure und Konstruktionsingenieurinnen binden Erkenntnisse aus früheren Analysen oft unbewusst in ihre Entwicklungsprojekte ein und können dadurch direkt mit der Synthese beginnen. Beispiel
Aus der Analyse kann in einer Synthese durch Verschiebung von Bauteilvolumen eine verbesserte Gestalt erzeugt werden (siehe Abb. 13.8, rechts), mit der die Funktion „Bolzensetzgerät repetieren“ unter den Anforderungen „reduzierte Ausfallrate“ und „Setzen von Nägeln auf dem härteren Stahl“ erfüllt werden kann. Abb. 13.8 zeigt den Unterschied in konstruktiven Details der Schiebernase, die nach dem gleichen Konzept wie der Vorgänger funktioniert, aber eine deutlich höhere Lebensdauer aufweist. Retrospektiv erscheint dieser Zusammenhang zwischen Kerbe und Überlastung einfach. Das liegt daran, dass bei retrospektiv beschriebenen Entwicklungsbeispielen die Lösung und damit das Problem selbst bereits bekannt sind. In der Gestaltung müssen Erkenntnisse zu auftretenden Problemen erst in einer Analyse herausgearbeitet werden. Die Identifikation der Krafteinleitungsstellen in der realen Anwendung ist entscheidend dafür, dass die geometrischen Lagen der Kontaktstellen als entscheidende Gestaltmerkmale für eine Verbesserung der Funktionserfüllung erkannt werden können. Eine Übersicht dieses Vorgehens gibt Abb. 13.9 ◄ Das Modell des Gestalt-Funktion-Zusammenhangs In der Gestaltung wird immer eine Vorstellung davon benötigt, wie das Produkt seine Funktionen erfüllen kann und welche Gestalt dazu geeignet sein könnte. Im Zentrum der Übersichtsgrafik der Gestaltung (Abb. 13.3) steht deshalb das Modell des GestaltFunktion-Zusammenhangs, um das herum die oben beschriebenen Aktivitäten und Begriffe angeordnet sind. Ohne diese Modellvorstellung kann nicht gestaltet werden. Sie muss mindestens implizit im Kopf vorliegen, kann aber auch expliziert werden. Implizite Modelle sind individuell verschieden und oft schwer greifbar. Sie können durch verschiedene Modellsprachen expliziert werden und beinhalten dann je nach Reichweite und Fokus der Modellsprache verschiedene Aspekte des Gestalt-Funktion-Zusammenhangs. Ein Beispiel für ein solches Modell ist das Beschreibungsmodell der statistischen Versuchsplanung (vergleiche auch (Siebertz et al. 2010)), mit dem Zusammenhänge von Gestaltparametern und Funktion mathematisch dargestellt werden können. Andere Beispiele sind CAD-Animationen, mit denen kinematisches Verhalten von Komponenten visualisiert werden kann, oder FE-Modelle, in denen Belastungen auf Komponenten abgebildet sind. Auch eine Skizze, die das Verhalten eines Produkts darstellt, kann als explizites Modell betrachtet werden. Das C&C2-Modell, das speziell zur Unterstützung der Gestaltung durch Dokumentation des Gestalt-Funktion-Zusammenhangs entwickelt wurde, wird im Abschn. 13.5 detaillierter vorgestellt.
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S. Matthiesen
Erfahrung im Entwicklungsteam Vorhergehende Produktgenerationen Systemanalyse
Systemanalyse
Dokumentation Vorgängerprodukt
Synthese einer geeigneten Gestalt Synthese
Analyse
Gestalt überprüfen und evaluieren:
Synthese
Gestalt erzeugen, die eine Funktion erfüllt:
Analyse
Gestalt-FunktionZusammenhang identifizieren:
Beispielsweise FEM Simulation Prüfung
Abb. 13.9 Funktion identifizieren, umsetzen und prüfen (Matthiesen et al. 2018)
Konstruktionsingenieurinnen und –ingenieure greifen ausnahmslos auf diese implizit oder explizit vorliegenden Modelle zurück, um Funktionen in eine Produktgestalt umzusetzen. In diesen Modellen liegen Vermutungen und Erkenntnisse zu den Zusammenhängen von Gestalt und Funktion im Produkt vor. Vermutungen sind dabei Annahmen, die getroffen, aber noch nicht geprüft wurden. Sie können durch eine geeignete Überprüfung wie beispielsweise durch den Test eines Funktionsprototyps in Erkenntnisse überführt werden. Gewonnene Erkenntnisse werden wieder in den Modellen abgelegt. Um zu verstehen, warum Gestaltung ohne Modelle nicht möglich ist, hilft eine allgemeine Betrachtung des Begriffs Modell. Nach Stachowiaks „Allgemeiner Modelltheorie“ (1973) kann Erkenntnis grundsätzlich nur innerhalb eines Modells oder durch Modelle entstehen.
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u
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„[…] alle Erkenntnis [ist] Erkenntnis in Modellen oder durch Modelle, und jegliche menschliche Weltbegegnung überhaupt bedarf des Mediums ‚Modell‘“. (Stachowiak 1973), S. 56
Generell haben Modelle drei wesentliche Merkmale: das Abbildungsmerkmal, das Verkürzungsmerkmal und das pragmatische Merkmal (Stachowiak 1973). Das Abbildungsmerkmal bedeutet, dass es zu jedem Modell ein Original gibt, das durch das Modell abgebildet wird und das selbst auch wiederum ein Modell sein kann. Dieses Original kann auch erst noch erstellt werden, es muss für die Modellbildung noch nicht vorliegen. Die Herausforderung in der Gestaltung ist, dass das Original erst durch das Modell entsteht, also Modelle die relevanten Aspekte eines nicht vorhandenen Originals abbilden müssen. In der Gestaltung ist es besonders wichtig, das Modell nicht mit dem Original zu verwechseln. Beispielsweise kann es ein riskanter Trugschluss sein, aus einem kinematisch kollisionsfreien CAD-Modell auf ein ebensolches Produkt zu schließen, da in diesem Modell zumeist noch keine Fertigungs- und Umgebungseinflüsse abgebildet werden. Abb. 13.10 zeigt, wie das Verhalten eines realen Systems vom ideal konstruierten abweichen kann, wenn das Modell bestimmte Aspekte des Originals nicht berücksichtigt (in diesem Fall die Abweichung durch die Fertigung). Das in Rot dargestellte Wirkflächenpaar (Definition in Abschn. 13.5.1) zeigt eine Abweichung vom idealen Modell zum realen Produkt. Der Unterschied in der Größe des idealen Wirkflächenpaars (links) und des real gefertigten (mittig) führt über eine höhere Spannung zum verstärkten Verschleiß und verändert dadurch die Lage des Wirkflächenpaars über die Lebensdauer (rechts dargestellt).
Zweck: Übermäßigen Verschleiß in einem Wirkflächenpaar erklären F
F C1
C1
C2
F
WFP1
WFP1
LSS1
LSS1
WFP2
Konstruiertes WFP1
C2
WFP2
Gefertigtes WFP1
C1
WFP1 LSS1
C2
WFP2
Verschlissenes WFP1
Abb. 13.10 Abweichung der realen von der idealen Gestalt in einem Wirkflächenpaar (Matthiesen et al. 2018), nach Lemburg (2009)
414
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Das Verkürzungsmerkmal ist in der Gestaltung notwendig, da technische Produkte bezüglich ihrer Funktionsweise oft durch ihre Menge an Komponenten und deren Zusammenhänge nicht leicht verständlich, d. h. ihre inneren GestaltFunktion-Zusammenhänge kompliziert sind. In der Nutzung von Produkten treten zudem Wechselwirkungen zwischen Produkt und Umwelt auf. Dadurch entsteht ein komplexes3 Gesamtsystem, dessen Gestalt-Funktion-Zusammenhänge nicht mehr eindeutig beschreibbar sind. Jede Umwelt, also jeden Anwendungsfall und jede denkbare Umgebung, in der das Produkt eingesetzt wird, zu berücksichtigen, ist in der Gestaltung nicht möglich. Um mit diesem komplexen Gesamtsystem umgehen zu können, werden Modelle benötigt, die die Realität vereinfachen und dadurch handhabbar machen und durch die gleichzeitig die für die Funktionserfüllung relevanten Details der Gestalt erkennbar werden. Das berühmte Zitat von Einstein „Man soll die Dinge so einfach machen wie möglich - aber nicht einfacher“ beschreibt die dadurch entstehende Herausforderung in der Modellbildung für die Gestaltung treffend. Eine unnötige Genauigkeit beim Modellbilden verhindert ein effizientes Vorgehen. Andererseits besteht das Risiko, elementar wichtige Zusammenhänge nicht abzubilden, wenn das Modell zu stark vereinfacht wird. Das pragmatische Merkmal bedeutet in der Gestaltung, dass ein Modell immer zweckgebunden erstellt wird und nur für diesen Zweck Gültigkeit besitzt. Bei Verwendung und besonders der Wiederverwendung von Modellen muss beachtet werden, wie weit der neue Zweck des Modells von seinem ursprünglichen Zweck abweicht und wie sich die Aussagefähigkeit des Modells dadurch verändert. Ein Produkt kann nie vollständig mit Modellen beschrieben werden, da diese Modelle immer einem bestimmten Zweck dienen. Dieser Zweck kann beliebig variieren. u
Vollständigkeit sollte niemals angestrebt werden, da Modelle durch die Zweckorientierung und ihren verkürzenden Charakter nie vollständig sein können.
Die Strategie der Modellbildung der Gestalt-Funktion-Zusammenhänge sollte deshalb immer lauten: Modelliere gut genug, um synthesefähig zu werden, aber nicht detaillierter und umfangreicher als dazu notwendig. In der Gestaltung entsteht die letztendlich im Produkt umgesetzte Gestalt meist nicht in einem Syntheseschritt, sondern in vielen Wiederholungen von Analyse und Synthese. Das ist in Abb. 13.3 durch die Darstellung der Aktivitäten abgebildet. In diesem
3Kompliziertheit
bedeutet, dass viele miteinander verknüpfte Einflussfaktoren existieren, deren Zusammenhänge aber mit entsprechendem Aufwand erfassbar und Verhaltensmuster im System damit vorhersagbar sind. Komplexität bedeutet, dass Einflussfaktoren und Zusammenhänge nicht vollständig erfasst werden können. Verhaltensmuster im System können deshalb beobachtet, aber nicht vorhergesagt werden. Vgl. auch Kurtz und Snowden 2003.
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iterativen Wechselspiel von Synthese und Analyse wird neben dem Produkt auch das Modell zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang aufgebaut. u
Wird in der Analyse festgestellt, dass das Modell die benötigten Erkenntnisse noch nicht in ausreichender Güte beinhaltet, muss es in einer Iteration verfeinert werden.
Wenn festgestellt wird, dass eine Vermutung [Modellvorstellung] nicht ausreichend mit der Realität übereinstimmt, wird eine Iteration notwendig (Meboldt et al. 2012). Dieser Fall wird auch als Falsifizierung des Modells bezeichnet. Eine Falsifizierung entsteht immer aus einer Überprüfung, in der die Vermutung in eine Erkenntnis überführt wird. Auch falsifizierte Vermutungen können beim Gestalten helfen. Erfolgsentscheidend ist, möglichst früh und günstig zu iterieren, damit schnell eine zielführende Synthese durch das korrigierte und verfeinerte Modell möglich wird. Eine Strategie in der Gestaltung kann auch sein, Iterationszyklen gezielt zu provozieren, um das Modell des GestaltFunktion-Zusammenhangs zu korrigieren und zu verfeinern. Herauszufinden, wie das Modell verfeinert werden muss, oder warum die getroffene Annahme nicht zutraf, ist die zentrale Herausforderung bei auftretenden Iterationen. Diese Herausforderung kann durch geeignete Versuche, Simulationen oder auch rein gedanklich angegangen werden (vergleiche auch Abschn. 13.6.2). Das korrigierte und verfeinerte Modell der Zusammenhänge von Gestalt und Funktion hilft, das Produkt zielgerichtet zu entwickeln. So entsteht iterativ eine Entwicklungsgeneration nach der anderen, bis die Gestaltungsaufgabe erfüllt ist und das Produkt auf Basis seiner Gestaltdokumentation hergestellt werden kann.
13.3.1 Grundlegende Empfehlungen zum Vorgehen in der Gestaltung In der Gestaltung sind einige grundlegende Vorgehensweisen empfehlenswert, um erfolgreich zu sein. Diese werden hier kurz im Überblick beschrieben und in den folgenden Kapiteln näher ausgeführt. Eine initial wichtige Vorgehensweise ist der Umgang mit kritischen Funktionen. Zunächst wird anhand der Eingangsgrößen festgelegt, welche Funktionen wann im Produkt umgesetzt werden sollen. Hierbei empfiehlt es sich, die kritischen Funktionen priorisiert anzugehen, um das Risiko für gravierende Iterationen im späteren Verlauf zu reduzieren. Kritische Funktionen sind Funktionen, bei denen das Lösungskonzept verworfen werden muss, wenn sie nicht erfüllt werden können. Zu ihnen werden häufig Mindestanforderungen im Lastenheft definiert. Mit den kritischen Funktionen steht und fällt der Erfolg der Gestaltung. Wird in der Gestaltung klar, dass die kritische Funktion nicht erfüllt werden kann, gibt es drei Möglichkeiten:
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• Eine Iteration aus der Gestaltung heraus zurück in die Phase des „Suchen nach Lösungsprinzipien und deren Strukturen“ (Vgl. Abb. 13.1) • Die Aufgabe von Anforderungen, die nicht gehalten werden können • Der Abbruch des gesamten Entwicklungsprojekts. u
In der Gestaltung sollte die kritische Funktion so früh wie möglich durch einen Funktionsprototyp überprüft werden.
Die Erzeugung eines Funktionsprototyps zum Nachweis der Erfüllung der kritischen Funktion und die Entwicklung einer Analyseumgebung zu seiner Überprüfung sollten höchste Priorität haben. Es empfiehlt sich, im Funktionsprototyp zunächst möglichst nur die kritische Funktion ohne weitere Nebenfunktionen abzubilden, da mit zunehmendem Funktionsumfang in den Prototypen die Erkenntnisse zu einzelnen Gestalt-FunktionZusammenhängen schwieriger herauszuarbeiten sind. Es gibt zwei Möglichkeiten, kritische Funktionen früh zu erkennen. Das kann über Anforderungsunterschiede zum Referenzprodukt4 oder auf Basis von Erfahrungen mit den zu realisierenden Funktionen geschehen: • Anforderungsunterschiede zum Referenzprodukt: Liegt die Anforderungsliste zum Referenzprodukt vor, kann ein Vergleich der Anforderungen stattfinden. Neue oder veränderte Anforderungen können ein Indiz für den Grad der Schwierigkeit bei ihrer Realisierung sein. Kritische Funktionen können auf Basis dieses Vergleichs erkannt werden. • Erfahrung mit der zu realisierenden Funktion: Ob eine Funktion als kritische Funktion eingeschätzt wird, hängt auch von den Erfahrungen im Entwicklungsteam ab. Je mehr Erfahrung zu einer Funktion im Team vorliegt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Gestalt entwickelt werden kann, die in der Lage ist, die Funktion zu erfüllen. Abhängig von der Konfidenz, d. h. der Einschätzung, wie schwierig es wird, die Funktion umsetzen zu können, werden Funktionen als kritisch oder weniger kritisch bewertet. Sind die kritischen Funktionen identifiziert, ist es wichtig, ihre Zusammenhänge zur Produktgestalt zu verstehen. Die Bildung von expliziten, also dokumentierten Modellen zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang hilft dabei, die Gedankengänge zu strukturieren. Sie sollte schon früh in der Gestaltung erfolgen. Mit expliziten Modellen können die
4Referenzprodukte
können neben unternehmenseigenen Vorgängerprodukten auch Wettbewerbsprodukte oder branchenfremde Produkte sein. Auch unternehmenseigene Systeme, die noch nicht oder nie Marktreife erlangt haben, können als Referenzprodukt dienen. Albers et al. 2017b.
13 Gestaltung – Prozess und Methoden
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Gedankengänge in der Analyse und Synthese leichter nachvollzogen werden und Wissen zu gefundenen Zusammenhängen ist verfügbar. Abschn. 13.5.2. Dabei können Werkzeuge des Wissensmanagements unterstützen, wenn sie in Modelle der Gestaltung integriert werden und so beispielsweise Anforderungen und Randbedingungen für die Konstruktion leichter verfügbar machen (Katzwinkel et al. 2017). u
In der Gestaltung unterstützen Modelle des Gestalt-Funktion-Zusammenhangs dabei, das Produkt vorzudenken, zu verstehen und synthesefähig zu werden.
Beim Verfeinern eines Modells zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang kann es vorkommen, dass sogenannte „Beobachtungsbarrieren5“ auftreten, weil die Zusammenhänge von Funktion und funktionsrelevanten Gestaltparametern schwierig aufzudecken sind. Hier können geeignete Analysemethoden helfen, die Zusammenhänge erkennbar zu machen. Abschn. 13.6. Die Gestaltung beschränkt sich meist nicht allein auf die Synthese und Analyse des Produkts. Es empfiehlt sich, früh mit dem Aufbau geeigneter Analyseumgebungen, beispielsweise in Form von Prüfständen zu beginnen, da ohne erkannte Zusammenhänge aus der Analyse die Gestaltung schwierig wird. Mit diesen Prüfständen können quantitative Gestalt-Funktion-Zusammenhänge analysiert werden. Abschn. 13.6.5. Sind Vermutungen zu Gestalt-Funktion-Zusammenhängen für die Synthese nicht sicher genug bekannt, sollten sie überprüft werden. Dadurch werden Erkenntnisse gewonnen. Um diese Erkenntnisse zu gewinnen, werden Hypothesen zum Zusammenhang von Gestaltmerkmal und Funktion aufgestellt und überprüft. Konstruktionshypothesen bieten hier eine Hilfestellung, um aus unsicheren Vermutungen zu Erkenntnissen für die Gestaltung zu gelangen. Abschn. 13.6.2. In der synthesegetriebenen Analyse sollte der Fokus immer darauf liegen, die Erkenntnisse so schnell und günstig wie möglich und so gut wie notwendig zu erzeugen. Dabei unterstützen verschiedene Arten von Prototypen und Prüfungsmöglichkeiten, die im Testing zur Überprüfung der Gestalt-Funktion-Zusammenhänge genutzt werden. Abschn. 13.6.4. Nachdem eine neue Gestalt synthetisiert wurde, ist der Schwerpunkt der anschließenden Analyse der Abgleich von Ist-Funktion und Soll-Funktion. Ergebnis der Analysephase sind Erkenntnisse dazu, ob und in welcher Qualität die Gestalt die gewünschten Funktionen erfüllt. Aus diesen Erkenntnissen kann eine Entscheidung zum weiteren Vorgehen in der Gestaltung getroffen werden. Bei einem erfolgreichen Test wird entweder der Reifegrad der Funktionserfüllung in einer Funktionsoptimierung erhöht oder das die Funktion erfüllende Teilsystem in der Funktionsintegration in das Produkt integriert. Vgl. auch Abschn. 13.6.4.
5Die
Beobachtungsbarriere bezeichnet eine eingeschränkte Zugänglichkeit der Gestaltfunktionselemente für eine Beobachtung des Systemverhaltens.
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• Funktionsoptimierung: Die Erhöhung des Reifegrads kann darin bestehen, eine zunächst qualitative Funktionserfüllung („wird die Funktion überhaupt erfüllt“) in eine quantitative Erfüllung („wird die Funktion in p · AV Ventil o¨ ffnet gerade : FE = c · ν pG · AV Ventil o¨ ffnet voll : FE = c · (ν + h) < p · AV + pz · Az , Ventil voll offen : FE = c · (ν + h1 ) = p′ · (AV + Az ),
h≈0 h≈0 h → h1 h = h1
(neue Gleichgewichtslage). Bis zum Grenzdruck p = pG bleibt das Ventil unter der Vorspannkraft der Feder geschlossen. Wird dieser Druck überschritten, hebt der Ventilteller etwas ab. Es entsteht dadurch ein Zwischendruck pz, da der Ventilteller den Austritt nach außen drosselt. Dieser Druck pz wirkt auf die Zusatzfläche Az des Ventiltellers und erzeugt eine weitere Öffnungskraft, die die Federkraft FE so weit überwindet, dass der Ventilteller eine nicht proportionale, sondern sprunghafte Öffnungsbewegung macht. Im geöffneten Zustand stellt sich ein anderer Zwischendruck p′ ein, der das Ventil mithilfe der Wirkflächen offen hält. Zum Schließen des Ventils ist eine gegenüber dem Grenzöffnungsdruck größere Druckabsenkung nötig, weil ja eine größere Wirkfläche am Ventilteller im geöffneten Zustand vorhanden ist. Eine weitere Anwendung zeigt Abb. 15.40 für einen Druckschalter als Überwachungsgerät des Lageröldrucks. Unterschreitet der Lageröldruck einen bestimmten Wert, öffnet der das Schutzsystem abschließende Kolben schlagartig, und der Druck im Schutzsystem wird so weit erniedrigt, dass die betreffende Maschine abgeschaltet wird. Von dem Prinzip der Bistabilität machen auch Schnellschlusseinrichtungen Gebrauch, bei denen ein unter Federvorspannung stehender Schlagbolzen mit seinem Schwerpunkt eine zur Drehachse exzentrische Lage einnimmt, s. Abb. 15.41. Bei einer bestimmten Grenzdreh-
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G. Pahl und W. Beitz
Abb. 15.40 Schematische Darstellung eines Druckschalters zur Lagerölüberwachung nach Reuter (1958). 1 Hauptölsystem; 2 Blende; 3 Schutzsystem steuert Schnellschlussventile; 4 Ablauf, drucklos; 5 Lagerölleitung mit Lageröldruck
Abb. 15.41 Schnellschlussbolzen 1 in Welle 3 mit um e exzentrisch liegendem Schwerpunkt S und Feder 2, die den Bolzen in Ruhelage hält (nach Reuter 1958)
zahl beginnt der Schlagbolzen sich gegen die Federvorspannkraft nach außen zu bewegen. Dadurch wird die auf ihn wirkende Zentrifugalkraft durch Exzentrizitätsvergrößerung des Schwerpunkts größer, so dass er auch ohne weitere Drehzahlerhöhung labil nach außen fliegt. Die Bedingung dabei ist, dass bei beginnender Verlagerung x des Bolzenschwerpunkts der Kraftanstieg der Zentrifugalkraft über x größer als der der entgegenwirkenden Federkraft sein muss. Dies ist bei Kraftgleichheit im Grenzzustand (ω = ωg) mit verschiedener Kraftcharakteristik über x nach der Bedingung dFF/dx > dFE/dx oder m · · · ωg2 > c zu erreichen, s. Abb. 15.42. Der Schlagbolzen trifft im nach außen verlagerten Zustand auf eine Klinke, die ihrerseits die Schnellschlussbetätigung der Einlassorgane auslöst. Vielfach werden heute bei Produkten instabile Zustände durch eine entsprechende Regelung ausgeglichen. Dank entsprechend schneller Hard- und Software gelingt es so, im Prinzip instabile Systeme in einen stabilen Zustand zu bringen und zu halten. Ein bekanntes Beispiel für ein solches an sich instabiles System ist der „Segway“, s. Abb. 15.43.
15 Gestaltungsprinzipien
563
Abb. 15.42 Kraftcharakteristik von Federkraft und Fliehkraft über dem Weg x des Schwerpunktes des Schnellschlussbolzens nach Abb. 15.41. e Exzentrizität des Schwerpunktes; f0 Federvorspannweg; ωg Grenzdrehzahl, ab der der Schnellschlussbolzen labil abhebt
Abb. 15.43 Durch Regelung stabilisiertes System: „Segway“
15.5 Prinzip der fehlerarmen Gestaltung Vor allem bei Produkten der Feinwerktechnik eingeführt und bewährt, aber auch bei allen technischen Systemen anzustreben, ist eine Gestaltung, bei der eine Fehlerminimierung schon dadurch erreicht wird, dass
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G. Pahl und W. Beitz
• Baustruktur und Bauteile einfach sind und dadurch wenig toleranzbehaftete Abmessungen aufweisen, • eine Minimierung von Fehlereinflussgrößen durch konstruktive Maßnahmen angestrebt wird, • Wirkprinzipien und Wirkstrukturen gewählt werden, bei denen die Funktionsgrößen weitgehend unabhängig von den Störgrößen sind (Invarianz) bzw. nur eine geringe Abhängigkeit voneinander aufweisen und • auftretende Störgrößen gleichzeitig zwei sich gegenläufig verändernde Strukturparameter beeinflussen (Kompensation). Beispiele für dieses wichtige Prinzip (Krause 1986; Schilling 1991; Walczak 1986), das eine Fertigungs- und Montagevereinfachung sowie eine gleichbleibende Produktqualität unterstützt, sind: Abb. 15.44 Spielinvariante Gestaltung eines Übertragungsgliedes (nach Krause 1986)
Abb. 15.45 Kontinuierliche Einstellmöglichkeit zum einfachen Einhalten enger Abmessungstoleranzen (nach Stöferle et al. 1974)
15 Gestaltungsprinzipien
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• elastische und einstellbare Bauweise, z. B. bei Mehrweggetrieben zum Ausgleich von Verzahnungstoleranzen (s. Abb. 15.18 und 15.20); • geringe Schrauben- und Federsteifigkeiten zur Abschwächung von Fertigungstoleranzen bei vorgespannten Schraubenverbindungen und Federungssystemen; • einfache Baustrukturen mit einer geringen Anzahl von Teilen sowie wenigen Passstellen und toleranzbehafteten Fügeverbindungen; • Nachstell- und Justiermöglichkeiten, um gröbere Bauteiltoleranzen zulassen zu können; • Prinzip der Stabilität. Abb. 15.44 zeigt als einfaches Beispiel die spielinvariante Anordnung eines Druckstößels zur genauen Übertragung eines Weges. Durch die Gestaltung der Stößelendflächen als Kugelkappen einer gemeinsamen Kugel bleibt der Abstand zwischen Antriebs- und Abtriebsglied trotz Kippen des Stößels infolge Führungsspiel unverändert (Krause 1986). Das Beispiel nach Abb. 15.45 zeigt das Vorsehen kontinuierlicher Einstellmöglichkeiten, die das Einhalten einer eng tolerierten Kavität bei einer geteilten Gießform oder ähnlichem erleichtert.
Gestaltungsrichtlinien
16
Beate Bender, Kilian Gericke, Jörg Heusel, Thomas Bronnhuber, Olaf Helms, Jens Krzywinski, Christian Wölfel, Fritz Klocke, Klaus Dilger, Rainer Müller, Tobias Ehlers und Roland Lachmayer
16.1 Zuordnung und Übersicht Beate Bender und Kilian Gericke Die Grundregeln „eindeutig“, „einfach“ und „sicher“ (Kap. 14) sowie die im Kap. 15 beschriebenen Gestaltungsprinzipien sind aus den generellen Zielsetzungen an jedes zu entwickelnde Produkt abgeleitet und daher immer zu berücksichtigen. Darüber hinaus existiert eine Vielzahl spezifischer Gestaltungsrichtlinien, die jeweils auf für einen
B. Bender (*) Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland K. Gericke Universität Rostock, Rostock, Deutschland J. Heusel TRUMPF Werkzeugmaschinen GmbH + Co. KG, Ditzingen, Deutschland T. Bronnhuber Konstruktionsausbildung, TRUMPF Werkzeugmaschinen GmbH + Co. KG, Ditzingen, Deutschland O. Helms Hochschule Emden/Leer Emden, Emden, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_16
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B. Bender et al.
konkreten Entwicklungskontext geltender Zielsetzungen ausgerichtet sind. Dies können etwa die besondere Bedeutung von Leichtbauprinzipien im Flugzeugentwurf, die Korrosionsbeständigkeit in Anwendungen der Medizintechnik oder auch Prinzipien der modularen Produktgestaltung für ein Zulieferunternehmen in der Automobilbranche sein. Für jeden Anwendungsfall müssen vor dem Hintergrund des jeweiligen Entwicklungskontexts die vorrangig geltenden Gestaltungsrichtlinien identifiziert und priorisiert werden. Der Priorisierung kommt deshalb eine hohe Bedeutung zu, da die mit den Gestaltungsrichtlinien verbundenen Gestaltungsziele nicht in jedem Einzelfall zutreffend sein müssen – beispielsweise könnte die Korrosionsbeständigkeit für ein medizintechnisches Analysegerät nicht relevant sein, da es ausschließlich gekapselt zum Einsatz kommt. Vor allem aber sind die Gestaltungsrichtlinien nicht untereinander widerspruchsfrei. Beispielsweise kann eine montagegerechte Gestaltung durchaus im Zielkonflikt mit Anforderungen an die Ergonomie oder mit zu erreichenden Kostenzielen stehen. Die Entscheidung, welche Gestaltungsziele wie zu priorisieren sind, muss daher aus übergeordneter Sicht der (strategischen) Projektziele und auch im Einzelfall – wenn erforderlich auf Bauteilebene – getroffen werden.
J. Krzywinski TU Dresden, Dresden, Deutschland C. Wölfel TU Dresden, Dresden, Deutschland F. Klocke RWTH Aachen, Aachen, Deutschland K. Dilger TU Braunschweig, Braunschweig, Deutschland R. Müller ZeMa - Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik gemeinnützige GmbH, Saarbrücken, Deutschland T. Ehlers Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland R. Lachmayer Hannover, Deutschland
16 Gestaltungsrichtlinien
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Der Umgang mit einer Vielzahl von Gestaltungszielen wird unter dem Begriff „Design for X“ subsummiert. Dabei steht DfX für ein umfassendes und komplexes Wissensgebiet aus verschiedenen Fachdomänen sowie für eine geeignete methodische Vorgehensweise, die beim Treffen von Entscheidungen zwischen sich zum Teil widersprechenden Aspekten unterstützt, wobei leistungsfähige Methoden und rechnerunterstützte Werkzeuge zum Einsatz kommen (Rieg und Steinhilper 2012). In diesem Buch werden wichtige Gestaltungsrichtlinien vorgestellt. Einige davon sind noch im Original-Text der Autoren Pahl und Beitz, da deren Aussage und Inhalt bis heute gültig sind. Die Literaturverweise in diesen Kapiteln beziehen sich entsprechend auf Quellen, die zum Zeitpunkt der Erstellung der Kapitel relevant waren. Aus Gründen der Nachvollziehbarkeit wurden diese beibehalten. Für weitere wichtige Gestaltungsrichtlinien existiert an anderer Stelle bereits zusammenfassende oder spezielle Literatur, auf diese sei im Folgenden beispielhaft verwiesen. Eine zentrale Rolle kommt dem beanspruchungsgerechten Konstruieren von Maschinenelementen im Sinne ihrer Auslegung sowie dem Nachweis der Haltbarkeit im Zeit- oder Dauerfestigkeitsbereich zu. Grundlagen und elementare Zusammenhänge sind der Literatur über Maschinenelemente und deren Berechnung zu entnehmen (Sauer 2016; Schlecht 2015; Haberhauer 2018; Wittel et al. 2017; Niemann et al. 2005). Eine besondere Bedeutung kommt weiterhin der Erfassung des zeitlichen Belastungsverlaufs, der Höhe und Art der resultierenden Beanspruchung sowie der richtigen Einschätzung im Hinblick auf bekannte Festigkeitshypothesen zu. Durch Schadensakkumulationshypothesen wird versucht, die Lebensdauervorhersage zu verbessern (Rieg und Steinhilper 2012; Haibach 2006; Grote et al. 2018). Bei der Beanspruchungsermittlung müssen Kerbwirkung und/oder ein mehrachsiger Spannungszustand berücksichtigt werden (Radaj und Vormwald 2007; Künne et al. 2007). Die Beurteilung der Haltbarkeit kann dann nur in Verbindung mit den Festigkeitswerten des Werkstoffes und der sich einstellenden Bauteilfestigkeit unter Verwendung zutreffender Festigkeitshypothesen geschehen (Gross et al. 2017; Norm DIN 743–1; Schlecht 2015). Formänderungs-, stabilitäts- und resonanzgerechte Gestaltung findet ihre Grundlage der Betrachtung von Mechanik und Festigkeitsproblemen (Kabus 2017; Hibbeler et al. 2012; Böge und Böge 2017; Decker 2018), Schwingungsproblemen (Magnus et al. 2016; Jäger et al. 2016; Dresig und Holzweißig 2016) sowie Stabilitätsproblemen (Mahnken 2015), Untersuchungen mithilfe der Finite-Elemente-Methode erlauben die Analyse und bildliche Darstellung von Spannungsverläufen (Knothe und Wessels 2017; Zienkiewicz 1984) insbesondere auch für unterschiedliche Gestaltungsvarianten. In Abschn. 16.1 werden Hinweise zur verformungsgerechten Gestaltung bei Kraftleitungsproblemen gegeben. Darüber hinaus sei auf den DUBBEL als Nachschlagewerk verwiesen, der für eine Vielzahl von Anwendungsgebieten Überblickswissen und Gestaltungsbeispiele bereitstellt (Bender und Göhlich 2021). Hinweise etwa zur ausdehnungsgerechten Gestaltung
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B. Bender et al.
und Wärmedehnung von Maschinenelementen werden in Band 2, Teil I (Grundlagen der Produktentwicklung) und Teil III (Mechanische Konstruktionselemente) und dem Band 3, Teil I (Kolbenmaschinen), Teil II (Strömungsmaschinen, Teil V (Thermischer Apparatebau und Industrieöfen) und Teil VI (Kälte-, Klima- und Heizungstechnik) gegeben. Durch den Einfluss sogenannter Megatrends wie Individualisierung und Globalisierung auf die Prozesse im Unternehmen wird auch die Produktentwicklung nachhaltig beeinflusst. Vorhandene Gestaltungsrichtlinien werden fortwährend um neue ergänzt. Beispielsweise führt die zunehmende Produktvielfalt, die mit der Individualisierung von Produkten einhergeht, zum Einsatz modularer Produktstrukturstrategien. Diese sind geeignet, um die hohe geforderte Marktvielfalt (externe Vielfalt) bei einer geringen unternehmensinternen Komplexität (interne Vielfalt) abzudecken (Krause und Gebhardt 2018). Daraus lässt sich die Gestaltungsrichlinie „modularitätsgerecht“ ableiten (vgl. Kap. 12 Produktarchitektur). Somit können die hier aufgeführten Gestaltungsrichtlinien keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Sie sind als beispielhaft für die Vielfalt möglicher „Gerechtheiten“ zu verstehen, deren Auswahl und Priorisierung immer kontextspezifisch erfolgen muss.
16.2 Ausdehnungsgerecht Gerhard Pahl und Wolfgang Beitz Bei diesem Abschnitt handelt es sich um den Original-Text der Autoren Pahl und Beitz. Aussage und Inhalt sind bis heute gültig. Die Literaturverweise beziehen sich entsprechend auf Quellen, die zum Zeitpunkt der Erstellung des Kapitels relevant waren. Aus Gründen der Nachvollziehbarkeit wurden diese beibehalten.
In technischen Systemen verwendete Werkstoffe haben die Eigenschaft, sich bei Erwärmung auszudehnen. Probleme entstehen dabei nicht nur im thermischen Maschinenbau, wo von vornherein mit höheren Temperaturen gerechnet werden muss, sondern auch bei leistungsstarken Antrieben und Baugruppen, in denen bei Energiewandlung Verluste entstehen, sowie allen Reibungsvorgängen und Ventilationserscheinungen, die eine Erwärmung bedingen. So werden viele Gestaltungszonen von einer örtlichen Erwärmung betroffen. Aber auch Maschinen, Apparate und Geräte, deren Umgebungstemperatur im größeren Umfang schwankt, arbeiten nur ordnungsgemäß, wenn bei ihnen der physikalische Effekt der Ausdehnung berücksichtigt worden ist (Pahl 1973d; Pahl 1963). Neben diesem thermisch bedingten Effekt der Längenänderung treten in hochbeanspruchten Bauteilen auch durch mechanisch bedingte Dehnung Längenänderungen auf. Diese Längenänderungen müssen konstruktiv ebenfalls berücksichtigt werden, wozu die nachfolgend angeführten Hinweise prinzipiell auch gelten.
16 Gestaltungsrichtlinien
571
1. Erscheinung der Ausdehnung Die Erscheinung der Ausdehnung ist hinlänglich bekannt. Zur Beschreibung definiert man für feste Körper die Längenausdehnungszahl mit
β=
�l , l · �ϑm
Δl Längenänderung (Ausdehnung) infolge Erwärmung um Δϑm, l betrachtete Länge des Bauteils und Δϑm Temperaturdifferenz, um die sich der Körper im Mittel erwärmt. Nach DIN 1345 wird die Längenausdehnungszahl im Allgemeinen mit α bezeichnet. Wegen der Bezeichnungsgleichheit mit der Wärmeübergangszahl α, die in diesem Abschnitt ebenfalls auftritt, wird stattdessen β gewählt. Die Längenausdehnungszahl beschreibt die Ausdehnung in einer Koordinatenrichtung des festen Körpers, während die Raumausdehnungszahl, die die relative Volumenänderung pro Grad angibt, vornehmlich bei Flüssigkeiten und Gasen angewandt wird und bei festen homogenen Körpern den dreifachen Wert der Längenausdehnungszahl hat. Die Definition der Ausdehnungszahl ist weiterhin als Mittelwert über den jeweils durchlaufenen Temperaturbereich zu verstehen, denn sie ist nicht nur werkstoff- sondern auch temperaturabhängig. Mit höheren Temperaturen nimmt die Ausdehnungszahl im Allgemeinen zu. Die Übersicht in Abb. 16.1 zeigt hinsichtlich der Längenausdehnungszahl deutlich voneinander abgesetzte Gruppen von Konstruktionswerkstoffen. Häufig vorkommende Kombinationen von metallischen Werkstoffen wie ferritisch-perlitischer Stahl, z. B. C 35, mit austenitischem Stahl, z. B. X 10 Cr Ni Nb 189, Grauguss mit Bronze oder mit Aluminium müssen also Ausdehnungen mit fast doppelt so hohen Beträgen untereinander vertragen können. Bei großen Abmessungen kann aber schon der gering erscheinende Unterschied zwischen C 35 und dem 13 %igen Chromstahl X 10 Cr 13 problematisch werden. Niedrigschmelzende Metalle wie Aluminium und Magnesium haben größere Ausdehnungszahlen als Metalle mit hohem Schmelzpunkt wie Wolfram, Molybdän und Chrom. Nickel-Legierungen zeigen je nach Nickelgehalt verschieden große Werte. Sehr niedrige Werte treten im Bereich von 32 bis 40 Gewichtsprozent auf. Hierbei zeigt die 36 %-Ni–Fe-Legierung (als „Invarstahl“ bekannt) die niedrigste Ausdehnung. Kunststoffe haben eine merklich höhere Ausdehnungszahl als Metalle. 2. Ausdehnung von Bauteilen Zur Berechnung der Längenänderung Δl muss die örtliche und zeitliche Temperaturverteilung im Bauteil bekannt sein, aus der erst die jeweilige mittlere Temperaturänderung gegenüber dem Ausgangszustand bestimmt werden kann. Bleibt der Temperaturzustand zeitlich unverändert, z. B. im Beharrungszustand bei einem quasistationären Wärme-
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B. Bender et al.
Abb. 16.1 Mittlere Längenausdehnungszahl für verschiedene Werkstoffe. a Metallische Werkstoffe, b Kunststoffe
fluss, c stationärer Ausdehnung. Ändert sich die Temperaturverteilung mit der Zeit, liegt instationäre, d. h. zeitlich veränderliche, Ausdehnung vor. Beschränkt man sich zunächst auf die stationäre Ausdehnung, lassen sich unter Verwendung der Definitionsgleichung für die Längenausdehnungszahl die Einflussgrößen gewinnen, von denen die Ausdehnung der Bauteile abhängt:
�l = β · l · �ϑm ,
1 �ϑ = l
ˆl 0
�ϑ(x) · dx,
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Die für den Konstrukteur interessante Längenänderung Δl ist also • von der Längenausdehnungszahl β, • von der betrachteten Länge l des Bauteils und • von der mittleren Temperaturänderung Δϑm dieser Länge abhängig und kann entsprechend bestimmt werden. Die so ermittelte Ausdehnung hat Gestaltungsmaßnahmen zur Folge: Jedes Bauteil muss in seiner Lage eindeutig festgelegt werden und darf nur so viele Freiheitsgrade erhalten, wie es zur ordnungsgemäßen Funktionserfüllung benötigt. Im Allgemeinen bestimmt man einen Festpunkt und ordnet dann für die erwünschten Bewegungsrichtungen Translation und Rotation entsprechende Führungsflächen mit Hilfe von Gleitbahnen, Gleitsteinen, Lagern usw. an. Ein im Raum schwebender Körper (z. B. Satellit oder Hubschrauber) hat drei Freiheitsgrade der Translation in x-, y- und z-Richtung und drei Freiheitsgrade der Rotation um die x-, y- und z-Achse. Ein Schub-Drehgelenk (z. B. das Loslager einer Getriebewelle) hat je einen Freiheitsgrad der Translation und Rotation. Ein an einer Stelle eingespannter Körper (z. B. ein Balken oder eine starre Flanschverbindung) hat dagegen keinen Freiheitsgrad. Anordnungen nach solchen Überlegungen sind aber nicht von selbst auch ausdehnungsgerecht, wie nachfolgend gezeigt wird: Abb. 16.2a zeigt einen Körper mit einem Festpunkt ohne Freiheitsgrade. Bei Ausdehnung unter Temperatur kann er sich von diesem Festpunkt aus frei in die Koordinatenrichtungen ausdehnen. In Abb. 16.2b sei nun eine Platte betrachtet, die um die z-Achse drehbar, aber sonst ohne Freiheitsgrade angeschlossen ist. Nach Abb. 16.2c genügt es, an einer beliebigen Stelle, zweckmäßigerweise möglichst weit von der Drehachse entfernt, z. B. mit einer Gleitführung, diesen Freiheitsgrad aufzuheben. Würde diese Platte unter überall gleicher Temperaturerhöhung sich ausdehnen, so müsste sie dabei eine Drehung um die z-Achse vollführen, denn die Gleitführung liegt nicht in Richtung der Ausdehnung, die sich aus der Längenänderung in x- und y-Richtung ergeben würde. Lässt das Führungselement in dieser Anordnung nur eine Translationsbewegung zu und hat es nicht auch noch die Eigenschaft, als Gelenk zu wirken, dann würde es zu Klemmungen in der Führung kommen. Mit einer Anordnung der Führung in eine der Koordinatenrichtungen (s. Abb. 16.2d) lässt sich die Drehung des Bauteils vermeiden. Die Verformung unter Wärmeausdehnung ergibt nur dann geometrisch ähnliche Verformungsbilder, wenn die folgenden Bedingungen eingehalten werden: • Der Ausdehnungskoeffizient β muss in einem Bauteil überall gleich sein (Isotropie), was praktisch vorausgesetzt werden kann, sofern gleiche Werkstoffe und nicht zu große Temperaturunterschiede vorliegen, • die Dehnungsbeträge ε in den Koordinatenrichtungen x, y, z müssen der Abhängigkeit
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εx = εy = εz = β · �ϑm folgen (Melan und Parkus 1953). Da β in einem Bauteil als konstant angesehen werden kann, muss die mittlere Temperaturerhöhung in allen Koordinatenrichtungen gleich bleiben, womit
�lx = lx · β · �ϑm , �ly = ly · β · �ϑm �lz = lz · β · �ϑm wird und die Ausdehnung aus zwei Koordinatenrichtungen sich zusammensetzt nach:
tan ψx =
ly �ly = , �lx lx
Abb. 16.2 Ausdehnung unter örtlich gleicher Temperaturverteilung; ausgezogene Linie Ausgangszustand, strichpunktierte Linie Zustand mit höherer Temperatur. a Am Festpunkt eingespannter Körper, b Platte um z-Achse drehbar, sonst kein Freiheitsgrad, c Platte nach b ohne Freiheitsgrad infolge zusätzlichem Schub-Drehgelenk, d Platte nach b ohne Freiheitsgrad infolge zusätzlichem Schub-Drehgelenk ausdehnungsgerecht angeordnet, ohne eine Plattendrehung zu bewirken. Reine Schubführung wäre anwendbar, die aber auch auf x-Achse oder auf einem Strahl durch z-Achse mit Neigung tanϕ = ly/lx angeordnet sein könnte
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• das Bauteil darf nicht zusätzlichen Wärmespannungen unterliegen, was mindestens der Fall ist, wenn es eine Wärmequelle vollkommen umschließt (Melan und Parkus 1953). Im Regelfall treten aber im Bauteil unterschiedliche Temperaturen auf. Auch für den einfachen Fall, dass sich die Temperaturverteilung linear über x ändert (s. Abb. 16.3a), entsteht eine Winkeländerung, die wiederum nur von einer Führung mit Schub-DrehBewegung aufgenommen werden kann. Eine reine Schubführung, also Translationsbewegung mit einem Freiheitsgrad, ist nur anwendbar, wenn die Führungsbahn auf einer Geraden bleibt, die auf der Symmetrielinie des Verzerrungszustandes gefunden wird, s. Abb. 16.3b. Wird diese Bedingung nicht erfüllt, muss ein weiterer Freiheitsgrad zugelassen werden. Somit kann man folgende Regel ableiten: Führungen, die der Wärmeausdehnung dienen und nur einen Freiheitsgrad haben, müssen auf einem Strahl durch den Festpunkt angeordnet werden, wobei der Strahl Symmetrielinie des Verzerrungszustands sein muss. Der Verzerrungszustand kann von lastabhängigen und temperaturabhängigen Spannungen, wie aber auch infolge der Ausdehnung selbst, hervorgerufen werden. Da Spannungs- und Temperaturverteilung auch von der Form des Bauteils abhängen, ist die Symmetrielinie des Verzerrungszustands zunächst auf der Symmetrielinie des Bauteils und auf der des aufgeprägten Temperaturfeldes zu suchen. Das Beispiel in Abb. 16.3b zeigt allerdings, dass diese Symmetrielinie aus Form und Temperaturverlauf nicht immer leicht erkennbar ist, daher muss der sich schließlich einstellende Verzerrungszustand beachtet werden. Der Verzerrungszustand kann, wie eingangs erwähnt,
Abb. 16.3 Ausdehnung unter örtlich veränderlicher, hier in x-Richtung linear abnehmender Temperaturverteilung. a Platte entsprechend Abb. 16.2d, ungleichmäßige Temperaturverteilung bewirkt Verzerrungszustand gemäß strichpunktierter Linie, Schub-Drehgelenk nötig, b Anordnung der Führung auf der Symmetrielinie des Verzerrungszustands, wodurch reine Schubführung anwendbar ist
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Abb. 16.4 Draufsicht auf einen Apparat mit von innen nach außen abnehmender Temperatur. Aufstellung auf vier Füßen. a Konstruktiver Festpunkt an einem Fuß, reine Schubführung auf einer Geraden, die gleichzeitig Symmetrielinie des Temperaturfeldes ist, b fiktiver Festpunkt in der Mitte des Apparats, gebildet durch Schnittpunkt der Ausdehnungsstrahlen
auch von äußeren Lasten hervorgerufen sein. Insofern gelten die Überlegungen auch für Führungen von Bauteilen, die großen mechanischen Verformungen unterliegen. Ein Beispiel hierzu findet man in Beitz (1969). Nachfolgende Beispiele mögen diese Regel noch erläutern: Abb. 16.4 stellt die Draufsicht auf einen Apparat dar, der eine von innen nach außen abnehmende Temperatur hat. Er ist auf vier Füßen abgestützt. In Abb. 16.4a wurde der Festpunkt an einem der Füße gewählt. Eine klemmfreie Führung ohne Drehung des Apparats ist nur längs der Symmetrielinie des Temperaturfeldes gewährleistet, die Führung muss am gegenüberliegenden Fuß vorgesehen werden. Abb. 16.4b zeigt eine Möglichkeit, ebenfalls auf den Symmetrielinien Führungen anzuordnen, ohne einen Festpunkt konstruktiv vorzusehen. Der Schnittpunkt der Strahlen durch die Führungsrichtungen ergibt einen „fiktiven“ Festpunkt, von dem sich der Behälter nach allen Seiten gleichmäßig ausdehnt. Dabei können theoretisch zwei nicht auf einer Symmetrielinie liegende Führungen (z. B. Führungen 1 und 2) entfallen. Abb. 16.5 zeigt die Führung von Innengehäusen in Außengehäusen, wobei die Gehäuse zentrisch zueinander bleiben müssen, ein Problem, wie es z. B. bei Doppelmantelturbinen vorkommt. Dieselbe Aufgabenstellung ergibt sich aber auch im Apparatebau. Sind die Bauteile nicht vollkommen rotationssymmetrisch, so müssen die Führungselemente, wie in Abb. 16.5b vorgesehen, auf den Symmetrielinien angeordnet werden, damit ein Klemmen der Führungen infolge der Ovalverformung der Gehäuse vermieden wird. Die Ovalverformung resultiert aus den unterschiedlichen Temperaturen in der Gehäusewand und im Flansch, besonders während der Erwärmungsphase. Der fiktive Festpunkt liegt auf der Gehäuse- bzw. Wellenachse.
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Abb. 16.5 Führung von Innengehäusen in Außengehäusen. a Anordnung der Führungselemente nicht ausdehnungsgerecht. Ovalverformung der Gehäuse kann Klemmen in den Führungen bewirken, b ausdehnungsgerechte Anordnung, Führungen liegen auf Symmetrielinien, Klemmgefahr auch bei Ovalverformung nicht gegeben
3. Relativausdehnung zwischen Bauteilen Bisher war die Ausdehnung einzelner Elemente für sich behandelt worden. Sehr oft muss aber die relative Ausdehnung zwischen mehreren Bauteilen beachtet werden, besonders dann, wenn eine gegenseitige Verspannung besteht oder aus funktionellen Gründen bestimmte Spiele eingehalten werden müssen. Ändert sich außerdem noch der zeitliche Temperaturverlauf, ergibt sich für den Konstrukteur ein schwieriges Problem. Die Relativausdehnung zwischen zwei Bauteilen ist
δRel = β1 · l1 · �ϑm1(t) − β2 · l2 · �ϑm2(t) . Stationäre Relativausdehnung Ist im stationären Fall die jeweilige mittlere Temperaturdifferenz zeitlich unabhängig, konzentrieren sich die Maßnahmen bei gleichen Längenausdehnungszahlen auf ein Angleichen der Temperaturen oder aber bei unterschiedlichen Temperaturen auf ein Anpassen mittels Wahl von Werkstoffen unterschiedlicher Ausdehnungszahlen, wenn die Relativausdehnung klein bleiben muss. Oft ist beides nötig. Das Beispiel einer Flanschverbindung mittels Stahlschraube und einem Aluminiumflansch nach N.N. (1958) verdeutlicht dies. In Abb. 16.6a ist die Schraube wegen der höheren Ausdehnungszahl des Aluminiums auch bei gleichen Temperaturen höher belastet und damit gefährdet. Abhilfe gewinnt man einerseits durch Vergrößerung der Spannlänge mittels einer Dehnhülse und andererseits durch Aufteilen der Spannlänge in Bauteile unterschiedlicher Längenausdehnung, s. Abb. 16.6b. Soll hier eine Relativausdehnung überhaupt vermieden werden, dann gilt
δRel = 0 = β1 · l1 · �ϑm1 − β3 · l3 · �ϑm3 ;
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Abb. 16.6 Verbindung mittels Stahlschraube und Aluminiumflansch nach N.N. (1958). a Wegen größerer Ausdehnung des Aluminiumflansches Schraube gefährdet, b ausdehnungsgerechte Gestaltung mit Dehnhülse aus Invarstahl mit Ausdehnungszahl nahe Null, die die Ausdehnung des Flansches gegenüber der Schraube ausgleicht
mit l1 = l2 + l3 und λ = l2/l3 wird das Längenverhältnis Flansch/Dehnhülse:
=
β3 · �ϑm3 − β1 · �ϑm1 β1 · �ϑm1 − β2 · �ϑm2
Für den stationären Fall �ϑm1 = �ϑm2 = �ϑm3 und den gewählten Werkstoffen Stahl (β1 = 11 × 10 − 6), Invarstahl (β2 = 1 × 10 − 6) und Al.-Leg. (β3 = 20 × 10 − 6) wird λ = l2/ l3 = 0,9, so wie in Abb. 16.6b gewählt. Bekannt sind die nicht einfachen Ausdehnungsprobleme bei Kolben von Verbrennungskraftmaschinen. Hier ist auch im quasistationären Betrieb die Temperaturverteilung über und längs des Kolbens unterschiedlich. Ferner muss mit verschiedenen Ausdehnungszahlen zwischen Kolben und Zylinder gerechnet werden. Einmal versucht man mittels einer Aluminium-Silizium-Legierung mit relativ geringer Ausdehnungszahl (kleiner als 20 × 10 − 6), und ausdehnungsbehindernden Einlagen, die gleichzeitig gut wärmeleitend sind, sowie mit federnden, also nachgiebigen Kolbenschaftteilen, dem Problem beizukommen. Mit sog. Regelkolben, die mit Stahleinlagen einen Bimetalleffekt erhalten, werden weitere, die Ausdehnung beeinflussende Maßnahmen getroffen (N.N. 1964), s. Abb. 16.7. Eine weitere Möglichkeit ausdehnungsgerechter Kolbengestaltung besteht im Ovalschliff des kalten Kolbenschafts. Lässt sich dagegen die Werkstoffwahl praktisch nicht beeinflussen, muss mit entsprechender Temperaturangleichung gearbeitet werden. In Großgeneratoren z. B. sind
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Abb. 16.7 Regelkolben für Verbrennungsmotor aus Aluminium-Silizium-Legierung mit eingelegter Stahlscheibe, die ausdehnungsbehindernd in Umfangsrichtung wirkt; weiterhin verformt sie infolge des Bimetalleffekts den Kolben so, dass die tragenden Kolbenschaftsteile sich optimal der Zylindergleitfläche anpassen (Bauart Mahle, nach N.N. 1964)
auf großen Längen Kupferleiter in Stahlrotoren isoliert einzubetten. Dabei müssen auch im Hinblick auf die Isolationsbeanspruchung die absoluten und die relativen Ausdehnungen möglichst klein gehalten werden. Hier bleibt nur der Weg, das Temperaturniveau mittels Leiterkühlung möglichst niedrig zu halten (Lambrecht und Scherl 1963; Wanke 1963). Gleichzeitig können bei großen Abmessungen an solchen schnelllaufenden Rotoren sog. thermische Unwuchten entstehen, wenn die Temperaturverteilung zwar verhältnismäßig gleichmäßig, der Rotor aber wegen seines komplizierten Aufbaus und der verschiedenen Werkstoffe in seinen temperaturabhängigen Eigenschaften sich nicht immer und überall gleich verhält. Mit gezielt eingeführten Kühl- oder Heizmedien beeinflusst man erfolgreich das Ausdehnungsverhalten solcher Bauteile. Instationäre Relativausdehnung Ändert sich der Temperaturverlauf mit der Zeit, z. B. bei Aufheiz- oder Abkühlvorgängen, ergibt sich oft eine Relativausdehnung, die viel größer ist als im stationären Endzustand, weil die Temperaturen in den einzelnen Bauteilen sehr stark unterschiedlich sein können. Für den häufigen Fall, dass es sich um Bauteile gleicher Länge und gleicher Ausdehnungszahl handelt, gilt dann mit
β1 = β2 = β und l1 = l2 = l, δRel = β · l(�ϑm1(t) − �ϑm2(t) ). Die zeitliche Erwärmung von Bauteilen ist u. a. von Endres und Salm (Endres 1958; Salm und Endres 1958) für verschiedene Aufheizfälle angegeben worden. Gleichgültig, ob man einen Temperatursprung oder einen linearen Verlauf des aufheizenden Mediums annimmt, ist die Erwärmungskurve in ihrem zeitlichen Verlauf durch die sog. Aufheizzeitkonstante charakterisiert. Betrachtet man beispielsweise die Erwärmung Δϑm eines Bauteils bei einem plötzlichen Temperaturanstieg Δϑ* des aufheizenden Mediums, so ergibt sich unter der allerdings groben Annahme, dass Oberflächen- und mittlere Bauteiltemperatur gleich seien, was praktisch nur für relativ dünne Wanddicken und
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Abb. 16.8 Zeitliche Temperaturänderung bei einem Temperatursprung Δϑ* des aufheizenden Mediums in zwei Bauteilen mit unterschiedlicher Zeitkonstante
hohe Wärmeleitzahlen annähernd zutrifft, der in Abb. 16.8 gezeigte Verlauf, der der Beziehung
�ϑm = �ϑ ∗ (1 − e−t/T ). folgt. Hierbei bedeutet t die Zeit und T die Zeitkonstante mit. T = cm/αA. c = spez. Wärme des Bauteilwerkstoffs, m = Masse des Bauteils, α = Wärmeübergangszahl an der beheizten Oberfläche des Bauteils, A = beheizte Oberfläche am Bauteil. Trotz der genannten Vereinfachung ist der Ansatz für einen grundsätzlichen Hinweis tauglich. Bei unterschiedlichen Zeitkonstanten der Bauteile 1 und 2 ergeben sich verschiedene Temperaturverläufe, die zu einer bestimmten kritischen Zeit eine größte Differenz haben. Dies ist der Temperaturunterschied, der die maximale Relativausdehnung bewirkt. Hier können vorgesehene Spiele überbrückt werden, oder es treten Zwangszustände ein, bei denen z. B. die Streckgrenze überschritten wird. Eine Differenz im Temperaturverlauf wird vermieden, wenn es gelingt, die Zeitkonstanten der beteiligten Bauteile gleichzumachen. Eine Relativausdehnung findet dann nicht statt. Nicht immer wird dieses Ziel erreichbar sein, aber zur Annäherung der Zeitkonstanten, d. h. Verminderung der Relativausdehnung, bieten sich mit m = Vρ
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T =c·ρ
V 1 · , A α
V = Volumen des Bauteils, ρ = Dichte des Bauteilwerkstoffs, konstruktiv zwei Wege an: • Angleichung der Verhältnisse Volumen zur beheizten Oberfläche: V/A und • Korrektur über Beeinflussung der Wärmeübergangszahl α mit Hilfe von z. B. Schutzhemden oder anderen Anströmungsgeschwindigkeiten. In Abb. 16.9 ist das Verhältnis V/A für einige einfache, aber oft repräsentative Körper wiedergegeben. Mit entsprechender Abstimmung lässt sich die Relativausdehnung vermindern.
Abb. 16.9 Volumen-Flächen-Verhältnis verschiedener geometrischer Körper; eingesetzt ist jeweils die beheizte Oberfläche
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Abb. 16.10 Spindelabdichtung von Dampfventilen. a Feste, eingepresste Buchse erfordert relativ großes Spiel an der Spindel, da nicht ausdehnungsgerecht abgestimmt, b radial bewegliche, axial abdichtende Buchse gestattet kleines Spiel an der Spindel, da Buchse und Spindel auf gleiche Zeitkonstante abgestimmt
Ein Beispiel hierzu zeigt Abb. 16.10, bei dem es darum geht, eine in Buchsen mit möglichst geringem Spiel geführte Ventilspindel auch bei Temperaturänderung sicher und klemmfrei arbeiten zu lassen. Die im Bildteil a gezeigte Buchse ist im Gehäuse eingepasst und bildet mit ihm so eine Einheit. Bei einer Erwärmung wird sich die Spindel rasch u. a. radial ausdehnen. Die Buchse mit guter Wärmeleitung an das Gehäuse bleibt dagegen länger kalt. Es kommt zu gefährlicher Spielverengung. Im Bildteil b dichten die Buchsen nur axial ab und können sich radial frei ausdehnen. Sie sind überdies im Volumen-Flächen-Verhältnis so abgestimmt, dass Spindel und Buchsen annähernd gleiche Zeitkonstanten haben. Damit bleibt das Ventilspindelspiel in allen Aufheiz- und Abkühlzuständen annähernd gleich und kann sehr klein gewählt werden. Die Ventilspindeloberfläche und die Innenfläche der Buchse werden vom Leckagedampf aufgeheizt, infolgedessen ist
V
VA Spindel A Buchse
= 2r , =
(ra2 −ri2 ) 2ri
mit r ≈ ri und V/ASpindel = V/ABuchse wird r 2
(r 2 −r 2 )
= √a 2r , ra = 2 · r.
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Bekannt sind Maßnahmen, z. B. Wärmeschutzbleche, die die Wärmeübergangszahl am tragenden Bauteil verringern, wodurch eine langsamere, angepasste Erwärmung mit geringerer Relativausdehnung stattfindet. Die gezeigten Überlegungen haben überall da Bedeutung, wo zeitlich veränderliche Temperaturen auftreten, besonders dann, wenn mit der Relativausdehnung Spielverengungen verbunden sind, die die Funktion beträchtlich gefährden können, z. B. bei Turbomaschinen, Kolbenmaschinen, Rührwerken, Einbauten in warmgehenden Apparaten.
16.3 Kriech- und Relaxationsgerecht Gerhard Pahl und Wolfgang Beitz
Bei diesem Abschnitt handelt es sich um den Original-Text der Autoren Pahl und Beitz. Aussage und Inhalt sind bis heute gültig. Die Literaturverweise beziehen sich entsprechend auf Quellen, die zum Zeitpunkt der Erstellung des Kapitels relevant waren. Aus Gründen der Nachvollziehbarkeit wurden diese beibehalten.
1. Werkstoffverhalten unter Temperatur Bei der Gestaltung von Bauteilen unter Temperatur muss neben dem Ausdehnungseffekt das Kriechverhalten der beteiligten Werkstoffe berücksichtigt werden. Es gibt Werkstoffe, die bereits bei Temperaturen unter 100 °C ein ähnliches Verhalten wie metallische Werkstoffe bei hohen Temperaturen zeigen. Beelich (1973) hat hierzu Hinweise im Zusammenhang mit der Werkstoffwahl gegeben, die hier im Wesentlichen wiedergegeben werden. Technisch gebräuchliche Werkstoffe, sowohl die reinen Metalle als auch deren Legierungen, sind ihrem Aufbau nach vielkristallin und zeigen ein temperaturabhängiges Verhalten. Unterhalb einer Grenztemperatur ist dabei die Haltbarkeit des Kristallverbands im Wesentlichen zeitunabhängig. Entsprechend der bei Raumtemperatur geltenden Regel wird bei höheren Temperaturen bis zu dieser Grenztemperatur die Warmstreckgrenze als Werkstoffkennwert für die Auslegung berücksichtigt. Bauteile mit Temperaturen oberhalb der Grenztemperatur werden stark vom zeitabhängigen Verhalten der Werkstoffe bestimmt. Die Werkstoffe erleiden in diesem Bereich unter dem Einfluss von Beanspruchung, Temperatur und Zeit u. a. eine fortschreitende plastische Verformung, die nach einer bestimmten Zeit zum Bruch führen kann. Die sich dabei einstellende zeitabhängige Bruchgrenze liegt sehr viel niedriger als die Warmstreckgrenze aus dem Kurzzeitversuch. Die besprochenen Verhältnisse sind in Abb. 16.11 prinzipiell wiedergegeben. Grenztemperatur und Festigkeitsverlauf sind stark werkstoffabhängig und müssen jeweils beachtet werden. Bei Stählen liegt die Grenztemperatur zwischen 300–400 °C. Bei Kunststoffteilen muss der Konstrukteur bereits bei Temperaturen unter + 100 °C das viskoelastische Verhalten dieser Werkstoffe berücksichtigen.
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Abb. 16.11 Kennwerte aus dem Warmzug- und Zeitstandversuch, ermittelt mit dem Stahl 21 Cr Mo V 511 (Werkstoff-Nr. 1.8070) bei verschiedenen Temperaturen; Grenztemperatur als Schnittpunkt der Kurven der 0,2-Dehngrenze und der 0,2-Zeitdehngrenze
Generell ändert sich auch der Elastizitätsmodul in Abhängigkeit von der Temperatur, wobei der höheren Temperatur ein kleinerer Wert zugeordnet ist, s. Abb. 16.12a. Geringste Änderungen zeigen hierbei die Nickellegierungen. Mit dem Absinken des Elastizitätsmoduls sinkt die Steifigkeit der Bauteile. Der Konstrukteur muss diese Erscheinung besonders bei Kunststoffbauteilen beachten. Er muss die Temperatur kennen, bei der der Elastizitätsmodul plötzlich auf relativ niedrige Werte absinkt. 2. Kriechen Bauteile, die bei hohen Temperaturen oder nahe der Fließgrenze lange Zeit beansprucht werden, erleiden zusätzlich zu der aus dem Hookeschen Gesetz resultierenden elastischen Dehnung ε = σ/E abhängig von der Zeit plastische Verformungen εplast. Diese als Kriechen bezeichnete Eigenschaft der Werkstoffe ist von der aufgebrachten Beanspruchung, der wirkenden Temperatur und von der Zeit abhängig. Man spricht
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Abb. 16.12 Zusammenhang zwischen dem Elastizitätsmodul verschiedener Werkstoffe und der Temperatur. a Metallische Werkstoffe, b Kunststoffe
vom „Kriechen“ der Werkstoffe, wenn die Dehnungszunahme der Bauteile entweder unter konstanter Last oder unter Spannung auftritt (Beelich 1973). Die zur Werkstoffbeurteilung ermittelten Kriechkurven sind bekannt (Florin und Imgrund 1970; Hüskes und Schmidt 1972). Kriechen bei Raumtemperatur Für eine zweckmäßige Auslegung von Bauteilen in der Nähe der Fließgrenze ist die Kenntnis des Werkstoffverhaltens im Übergangsgebiet vom elastischen in den plastischen Zustand wichtig (Hüskes und Schmidt 1972). Bei lang anhaltender statischer Beanspruchung in diesem Übergangsgebiet muss mit Kriecherscheinungen auch unter Raumtemperatur bei metallischen Werkstoffen gerechnet werden. Das Kriechen verläuft dabei nach dem Gesetz des primären Kriechens, s. Abb. 16.13. Die relativ geringen plastischen Formänderungen sind nur im Hinblick auf die Formbeständigkeit eines Bauteils interessant. Im Allgemeinen kriechen aber Stähle im Bereich ≤ 0,75Rp0,2 oder ≤ 0,55Rm wenig, während bei Kunststoffen eine zuverlässige Beurteilung des mechanischen Verhaltens nur anhand von temperatur- und zeitabhängigen Kennwerten getroffen werden kann. Kriechen unterhalb der Grenztemperatur Bisherige Untersuchungen (Hüskes und Schmidt 1972; Keil et al. 1971) mit metallischen Werkstoffen bestätigen, dass im Normalfall die übliche Rechnung mit der Warmstreckgrenze als obere zulässige Spannung bei kurzzeitigen Belastungen, instationären Vorgängen, vorübergehenden thermischen Zusatzspannungen und Störungsfällen bis zur definierten Grenztemperatur ausreichend ist. Bei Bauteilen mit hohen Anforderungen an die Formbeständigkeit müssen jedoch auch für mäßig erhöhte Temperaturen die Werkstoffkennwerte des Zeitstandversuchs beachtet werden. Unlegierte und niedriglegierte Kesselbaustähle, aber auch austenitische Stähle weisen je nach Betriebsdauer und Anwendungstemperatur mehr oder weniger große Kriechdehnungen auf.
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Bei Kunststoffen finden auch schon bei leicht erhöhten Temperaturen Strukturumwandlungen statt. Diese Umwandlungen haben eine mitunter erhebliche Temperaturund Zeitabhängigkeit der Eigenschaften zur Folge, wie man sie bei metallischen Werkstoffen in demselben Temperaturbereich nicht kennt. Sie führen als sog. thermische Alterung zu irreversiblen Änderungen der physikalischen Eigenschaften von Kunststoffen (Abfall der Festigkeit) (Knappe 1969; Menges und Taprogge 1970). Kriechen oberhalb der Grenztemperatur In diesem Temperaturbereich lösen bei metallischen Werkstoffen mechanische Beanspruchungen auch weit unterhalb der Warmstreckgrenze je nach Werkstoffart laufende Verformungen aus: Der Werkstoff kriecht. Dieses Kriechen bewirkt eine allmähliche Verformung der Konstruktionsteile und führt bei entsprechender Beanspruchung und Zeit zum Bruch oder zu Funktionsstörungen. Im Allgemeinen lässt sich der Vorgang in drei Kriechphasen aufteilen (Hüskes und Schmidt 1972; Keil et al. 1971), s. Abb. 16.13. Für temperaturbeaufschlagte Bauteile ist es wichtig zu wissen, dass der Beginn des tertiären Kriechbereichs als gefährlich anzusehen ist. Der Tertiärbereich beginnt im Allgemeinen bei etwa 1 % bleibender Dehnung. Für 5 einen Überblick sind für verschiedene Stahlwerkstoffe die 105 – Zeitdehngrenzen σ1%/10 für ϑ = 500 °C in Abb. 16.14 zusammengestellt. 3. Relaxation In verspannten Systemen (Federn, Schrauben, Spanndrähten, Schrumpfverbänden) ist mit der notwendigen Vorspannung eine Gesamtdehnung ϑges (Gesamtverlängerung Δlges) aufgebracht worden. Durch Kriechen im Werkstoff und durch Setzerscheinungen infolge Fließen an den Auflageflächen und Trennfugen bedingt, wächst im Laufe der Zeit der plastische Verformungsanteil auf Kosten des elastischen Verformungsanteils. Dieser Vorgang der elastischen Dehnungsabnahme bei sonst konstanter Gesamtdehnung wird als „Relaxation“ bezeichnet (Erker und Mayer 1973; Wiegand und Beelich 1968a, b). Verspannte Bauteile werden meist bei Raumtemperatur auf die erforderliche Vorspannkraft gebracht. Bedingt durch die Temperaturabhängigkeit des Elastizitätsmoduls (s. Abb. 16.12) wird bei höheren Temperaturen diese Vorspannkraft vermindert, ohne dass eine Längenänderung im verspannten System auftritt. Die, wenn auch verminderte, Vorspannkraft führt mit dem Erreichen des Betriebszustands bei hohen Temperaturen zum Kriechen des Werkstoffs und damit zu einem weiteren Verlust der Vorspannkraft (Relaxation). Auf die Höhe der verbleibenden Restklemmkraft wirken sich außerdem fertigungs- und betriebsbedingte Parameter aus, z. B. die Höhe der Montage-Vorspannkraft, die konstruktive Gestaltung des verspannten Systems, die Art der einander berührenden Oberflächen, der Einfluss überlagerter Beanspruchungen (normal oder tangential zur Oberfläche). Aufgrund von Untersuchungen (Erker und Mayer 1973; Wiegand und Beelich 1968a, b) über das Relaxationsverhalten von Schrauben-Flansch-Verbindungen ergeben sich plastische Verformungen auch an Trennfugen und Auflageflächen (Setzen) und im Gewinde (Kriechen und Setzen). Zusammenfassend ist für Bauteile aus metallischen Werkstoffen festzustellen:
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Abb. 16.13 Änderung von Dehnung a und Kriechgeschwindigkeit b mit der Beanspruchungsdauer (schematisch), Kennzeichnung der Kriechphasen
• Der Vorspannkraftverlust ist abhängig von den Steifigkeitsverhältnissen in den miteinander verspannten Teilen. Je starrer die Verbindung ausgeführt wird, umso mehr bewirken die plastischen Verformungen (Kriechen und Setzen) einen beträchtlichen Vorspannkraftverlust. • Obwohl bereits beim Anziehen von Schrauben-Flansch-Verbindungen oder beim Fügen einer Querpressverbindung erhebliche Setzbeträge ausgeglichen werden
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Abb. 16.14 Spannungen entsprechend 1 %-Zeitdehngrenze verschiedener Werkstoffe nach 105 h bei 500 °C (N.N. 1969)
können, sind bei der Gestaltung möglichst wenige, aber gut bearbeitete Oberflächen (Trennfugen, Auflageflächen) vorzusehen. • Für jeden Werkstoff ist eine Anwendungsgrenze bezüglich der Temperatur zu berücksichtigen, über deren Wert hinaus seine Verwendung nicht mehr sinnvoll erscheint, weil oberhalb dieser Temperatur die Kriechneigung stark zunimmt. Außerdem sind für den gewünschten Anwendungsfall diejenigen Werkstoffe auszuwählen, bei denen infolge der Verspannung die Warmfließgrenze auch bei überlagerter Betriebsbeanspruchung nicht erreicht wird. • Innerhalb kurzer Zeit verbleiben bei hohen Anfangsvorspannkräften (Anfangsklemmkräften) auch höhere Restklemmkräfte. Mit zunehmender Betriebsdauer werden die Restklemmkräfte relativ unabhängig von der Anfangsvorspannkraft, indem sie sich einem relativ niedrigen gemeinsamen Niveau nähern. • Ein Nachziehen von Fügeverbindungen, die bereits einer Relaxation unterworfen waren, ist bei Beachtung der verbliebenen Zähigkeitseigenschaft des Werkstoffs möglich. In der Regel dürfen Kriechbeträge von etwa 1 %, die in den tertiären Kriechbereich führen, nicht überschritten werden. • Werden Verbindungen zusätzlich zur statischen Vorspannkraft einer schwingenden Beanspruchung unterworfen, so haben Versuche gezeigt, dass die ohne Bruch ertragenen Schwingungsamplituden bei relaxationsbedingtem Abfall der Mittelspannungen erheblich größer sind als die Schwingungsamplituden mit konstanter
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Mittelspannung. Allerdings führt der relaxationsbedingte Abfall der Mittelspannung nach entsprechender Zeit oft zu einem Lockern der Verbindung. Bei Anwendung von Schraubenverbindungen aus Kunststoff bestimmen zunächst geringe elektrische und thermische Leitfähigkeit, Widerstandsfähigkeit gegen metallkorrodierende Medien, hohe mechanische Dämpfung, geringes spezifisches Gewicht u. a. ihre Auslegung. Zusätzlich müssen diese Verbindungen aber auch gewisse Festigkeits- und Zähigkeitseigenschaften aufweisen. Durch Relaxation bedingte Vorspannkraftverluste müssen besonders in diesen Anwendungsfällen beachtet werden, damit die Funktion derartiger Verbindungen gewährleistet ist. Nach Untersuchungen (Müller 1970, 1966) kann im Vergleich zu metallischen Werkstoffen Folgendes festgestellt werden: • Die über der Zeit verbleibende Vorspannkraft wird bei Raumtemperatur vom Werkstoff selbst und dessen Neigung zur Feuchtigkeitsaufnahme bestimmt und • ständiger Wechsel von Feuchtigkeitsaufnahme und -abgabe wirkt sich besonders ungünstig aus. 4. Konstruktive Maßnahmen Für Anlagen unter Zeitbeanspruchung werden zunehmend längere Lebensdauern gefordert, die sich konstruktiv nur realisieren lassen, wenn das Werkstoffverhalten über die volle Beanspruchungsdauer bekannt ist oder mit ausreichender Genauigkeit vorhergesagt werden kann. Nach Hüskes und Schmidt (1972) ist jedoch eine Extrapolation schon dann gefährlich, wenn aus Kurzzeitwerten Richtwerte für die Auslegung bei Beanspruchungsdauern von 105 h oder mehr zu geben sind. Nicht bei allen Bauteilen kann man die thermische Beanspruchung mit besonders hochlegierten Werkstoffen abfangen. Konstruktive Abhilfen sind oft zweckmäßiger, als den Werkstoff zu verändern. Die Gestaltung ist so zu wählen, dass das Kriechen in bestimmten zulässigen Grenzen bleibt, was erreicht werden kann durch: • hohe elastische Dehnungsreserve, die Zusatzbeanspruchungen aus Temperaturänderungen klein hält, Beispiel s. Abb. 16.15, • Vermeiden von Massenanhäufungen, die bei instationären Vorgängen zu erhöhten Wärmespannungen führen, • Verhindern, dass der Werkstoff in unerwünschte Richtungen kriecht, wodurch Funktionsstörungen (z. B. Klemmen von Ventilspindeln) oder Demontageschwierigkeiten entstehen können, Beispiel s. Abb. 16.16. Bei der Ausführung a des Flanschdeckels nach Abb. 16.16 kriecht der Werkstoff in die Hinterdrehung. Der sich schneller erwärmende Deckel zwängt in der Zentrierung und kriecht ebenso an der Stelle y. Die Ausführung b des Flanschdeckels ist besser gestaltet,
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Abb. 16.15 Austenit-FerritFlanschverbindung für eine Betriebstemperatur von 600 °C (nach Steinack und Veenhoff 1960)
Abb. 16.16 Zentrierung und Dichtung eines Flanschdeckels nach Pahl (1963). a Demontage behindert, weil der Werkstoff in Hinterdrehungen kriecht, b ballige Dichtleiste erzeugt bessere Dichtwirkung bei kleineren Anpresskräften, Kriechen behindert wegen günstigerer Gestaltung die Demontage nicht
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da trotz Kriechens immer noch eine Demontage ohne Beschädigung möglich ist. Wegen der inneren Ausdrehung kann der Deckel außerdem keine nennenswerte radiale Kraft auf die Zentrierung ausüben. Daraus ergibt sich: Das bei einer Demontage zuerst bewegte Teil muss in Demontagerichtung vorstehen oder entgegen der Demontagerichtung zurückstehen (Pahl 1963).
16.4 Korrosionsgerecht Gerhard Pahl und Wolfgang Beitz Bei diesem Abschnitt handelt es sich um den Original-Text der Autoren Pahl und Beitz. Aussage und Inhalt sind bis heute gültig. Die Literaturverweise beziehen sich entsprechend auf Quellen, die zum Zeitpunkt der Erstellung des Kapitels relevant waren. Aus Gründen der Nachvollziehbarkeit wurden diese beibehalten.
Nach DIN EN ISO 8044 (DIN 8044) handelt es sich bei Korrosion um eine Reaktion eines metallischen Werkstoffes mit seiner Umgebung, die eine messbare Veränderung des Werkstoffes bewirkt und zu einer Beeinträchtigung der Funktion eines metallischen Bauteils oder eines ganzen Systems führen kann. Der Begriff der „Korrosion“ ist hier also an eine Schädigung des korrodierten Systems oder Komponenten von diesem gebunden. Liegt keine Schädigung oder Beeinträchtigung vor, so wird in diesem Sinne nicht von Korrosion gesprochen. Mit dieser Definition gewinnt der Funktionsbegriff noch einmal an Bedeutung. Wird bei einer Maschine die Funktion durch eine Korrosion von Bauteilen nicht beeinträchtigt, so liegt nach der DIN keine Korrosion vor. Korrosionserscheinungen lassen sich in vielen Fällen nicht vermeiden, sondern nur mindern. Häufig kann die Ursache der Korrosion nicht beseitigt werden, da ein Produkt in feuchter Umgebung und in Meeresnähe betrieben wird. Die Verwendung korrosionsbeständiger Werkstoffe ist in den meisten Fällen unwirtschaftlich. Diese Werkstoffe mit entsprechend hohem Chromanteil sind teuer und lassen sich schlecht bearbeiten. Deshalb erscheint eine „korrosionsverträgliche“ Konstruktion in den meisten Fällen sinnvoller als eine „korrosionsfreie“. Sind aus funktionaler Sicht Bauteile einer Maschine hinsichtlich der Korrosion kritisch, so sollten als Maßnahmen zum einen deren einfache Inspektion und Beurteilung möglich sein. Darüber hinaus sollten dann solche „Verschleißbauteile“ gezielt korrosionsgeschützt werden, z. B. durch entsprechende Werkstoffe, und einfach austauschbar sein. 1. Ursachen und Erscheinungen Während trockene Umgebung und höhere Temperaturen die chemische Korrosionsbeständigkeit durch Bildung von festhaftenden Metalloxidschichten im Allgemeinen erhöhen, bilden sich unterhalb des Taupunkts mehr oder weniger schwach saure oder
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basische Elektrolyte, die in der Regel eine elektrochemische Korrosion bewirken (Spähn und Fäßler 1972). Korrosionsfördernd wirkt der Umstand, dass jedes Bauteil unterschiedliche Oberflächen hat, z. B. infolge edlerer oder unedlerer Einschlüsse, verschiedener Gefügeausbildungen, Eigenspannungen u. a. durch Kaltumformung, Wärmebehandlung und Schweißen. Auch kann sich in konstruktiv bedingten Spalten eine örtlich unterschiedliche Konzentration des Elektrolyten bilden, sodass Lokalelemente entstehen, ohne dass ausgesprochene Potenzialunterschiede infolge unterschiedlicher Werkstoffe vorhanden sein müssen. Zum Erkennen von Korrosionsproblemen ist es zweckmäßig zu unterscheiden (DIN 50900–1; Pahl 1981) (s. Abb. 16.17): • • • •
Korrosion freier Oberflächen, berührungsabhängige Korrosion, beanspruchungsabhängige Korrosion und selektive Korrosion im Werkstoff.
Die vom Konstrukteur zu treffenden Maßnahmen hängen von den jeweiligen Ursachen und Erscheinungen ab. Beispiele zu den einzelnen Erscheinungen sind in Abschn. 16.4 und Abschn. 16.5 zusammengefasst. 2. Korrosion freier Oberflächen Bei der Korrosion freier Oberflächen kann gleichmäßige Flächenkorrosion oder örtlich begrenzte Korrosion auftreten. Letztere Korrosionsart ist besonders gefährlich, weil sie im Gegensatz zur ebenmäßig abtragenden eine hohe Kerbwirkung zur Folge hat und in manchen Fällen auch nicht leicht vorhersehbar ist. Daher muss von vornherein auf solchermaßen gefährdete Zonen besonders geachtet werden. Gleichmäßige Flächenkorrosion Ursache: Auftreten von Feuchtigkeit (schwach basischer oder saurer Elektrolyt) unter gleichzeitiger Anwesenheit von Sauerstoff aus der Luft oder dem Medium, insbesondere Taupunktunterschreitung. Erscheinung: Weitgehend gleichmäßig abtragende Korrosion an der Oberfläche, bei Stahl z. B. etwa 0,1 mm/Jahr in normaler Atmosphäre. Manchmal auch örtlich stärker, wenn an solchen Stellen infolge Taupunktunterschreitung besonders häufig höherer Feuchtigkeitsgehalt auftritt. Diese gleichmäßig abtragende Korrosion kann infolge höherer Aggressivität des Mediums, höherer Strömungsgeschwindigkeiten und örtlicher Erwärmung verstärkt werden.
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Abb. 16.17 Korrosionsarten geordnet nach prinzipiellen Erscheinungen
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Abb. 16.18 Flüssigkeitsabfluss bei korrosionsbeanspruchten Bauteilen. a Korrosionsschutzwidrige und korrosionsschutzgerechte Gestaltung von Böden, b ungünstige und günstige Anordnung von Stahlprofilen, c Konsole aus U-Profilen mit Wasserabfluss
Abhilfe: • ausreichend lange und gleiche Lebensdauer mit entsprechender Wanddickenwahl (Wanddickenzuschlag) und Werkstoffeinsatz, • Verfahrensführung mit entsprechendem Konzept, das die Korrosion vermeidet bzw. Korrosion wirtschaftlich tragbar macht (vgl. Beispiel 1), • kleine und glatte Oberflächen anstreben durch entsprechende geometrische Gestalt mit einem Maximum im Verhältnis von Inhalt zu Oberfläche oder z. B. Widerstandsmoment zu Umfang (vgl. Beispiel 2), • Vermeiden von Feuchtigkeitssammelstellen durch entsprechende Gestaltung, s. Abb. 16.18, • Vermeiden von Stellen mit Taupunktunterschreitung durch allseits gute Isolierung und Verhinderung von Wärme- bzw. Kältebrücken (vgl. Beispiel 3),
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• Vermeiden hoher Strömungsgeschwindigkeiten > 2 m/s, • Vermeiden von Zonen hoher und unterschiedlicher Wärmebelastung bei beheizten Flächen, • Anbringen eines Korrosionsschutzüberzugs (DIN 50960), auch in Verbindung mit kathodischem Schutz. Muldenkorrosion Bei der Muldenkorrosion ergeben sich örtlich unterschiedliche Abtragungsraten. Ursache: Es bestehen Korrosionselemente (DIN 50900–2) mit anodischen und kathodischen Bereichen, die unterschiedlichen Korrosionsfortschritt bewirken und im Wesentlichen aus Werkstoffinhomogenitäten, mediumseitig aus unterschiedlichen Konzentrationen oder durch zonenmäßig unterschiedlichen Bedingungen, wie Temperatur, Strahlung usw., herrühren. Abhilfe: • Inhomogenitäten und unterschiedliche Bedingungen zu beseitigen versuchen und • Korrosionsschutzüberzüge flächendeckend aufbringen. Bei Schäden in der Schutzschicht tritt dann allerdings teilweise verstärkte örtliche Korrosion (vgl. Lochkorrosion) auf. Lochkorrosion Bei der Lochkorrosion konzentriert sich der Abtrag auf sehr kleine Oberflächenbereiche mit kraterförmigen oder nadelstichartigen Vertiefungen. Die Tiefe ist in der Regel in der Größenordnung des Durchmessers. Eine Abgrenzung zwischen Muldenund Lochkorrosion ist in Grenzfällen nicht möglich. Ursache: Wie bei Muldenkorrosion. Erscheinung aber örtlich enger begrenzt. Abhilfe: Prinzipiell wie bei Muldenkorrosion, insbesondere aber Korrosionsangriff als solchen vermindern oder beseitigen. Spaltkorrosion Ursache: Meist saure Anreicherung des Elektrolyten (Feuchtigkeit, wässriges Medium) infolge Hydrolyse der Korrosionsprodukte in einem Spalt. Bei rost- und säurebeständigen Stählen Abbau der Passivität infolge Sauerstoffverarmung im Spalt. Es handelt sich um Belüftungsmangelkorrosion.
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Erscheinung: Verstärkter Korrosionsabtrag im Spalt an meist nicht sichtbaren Stellen. Vergrößerung der Kerbwirkung an ohnehin höher beanspruchten Stellen. Bruch oder Lösegefahr ohne vorheriges Erkennen. Abhilfe: • glatte, spaltlose Oberflächen auch an Übergangsstellen schaffen, • Schweißnähte ohne verbleibenden Wurzelspalt vorsehen: Stumpfnähte oder durchgeschweißte Kehlnähte verwenden, s. Abb. 16.19, • Spalte abdichten, z. B. Steckteile vor Feuchtigkeit durch Muffen oder Überzüge schützen und • Spalte so groß machen, dass infolge Durchströmung oder Austausch kein Sauerstoffmangel entsteht, d. h. Belüftung ermöglichen. 3. Berührungsabhängige Korrosion Kontaktkorrosion Ursache: Zwei Metalle mit unterschiedlichem Potenzial stehen durch Paarung oder Festkörper in leitender Verbindung unter gleichzeitiger Anwesenheit eines Elektrolyten, d. h. leitender Flüssigkeit oder Feuchtigkeit (Spähn und Fäßler 1966).
Abb. 16.19 Beispiele von Schweißverbindungen. a Spaltkorrosionsgefährdet, b korrosionsgerechte Gestaltung nach Spähn und Fäßler (1972), c spaltfreies Einschweißen von Rohren in einen Rohrboden, wodurch Spalt- und Spannungsrisskorrosion vermieden werden
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Erscheinung: Das unedlere Metall korrodiert in der Nähe der Kontaktstelle stärker, und zwar umso mehr, je kleiner die Fläche des unedleren Metalls im Vergleich zu der des edleren ist (galvanische Korrosion). Wiederum wird die Kerbwirkung vergrößert. Die Korrosionsprodukte haben Sekundärwirkungen mannigfacher Art, z. B. Ablagerungen, Fressen, Schlamm, Verunreinigungen der Medien, zur Folge. Abhilfe: • Metallkombinationen mit geringem Potenzialunterschied und daher kleinem Kontaktkorrosionsstrom verwenden, • Einwirkung des Elektrolyten auf die Kontaktstelle verhindern durch örtliches Isolieren zwischen den beiden Metallen, • Elektrolyt überhaupt vermeiden und • notfalls gesteuerte Korrosion durch gezielten Abtrag an elektrochemisch noch unedlerem „Fressmaterial“, sog. Opferanoden, vorsehen. Ablagerungskorrosion Ursache: An der Oberfläche oder in Spalten lagern sich Fremdkörper, wie Korrosionsprodukte, Rückstände aus dem geförderten Medium, Eindampfungsprodukte, Dichtungsmaterial usw. ab, die ihrerseits einen Potenzialunterschied an der betreffenden Stelle hervorrufen. Abhilfe: • Ablagerungsprodukte vermeiden, herausfiltern oder gezielt sammeln, • Totwasserzonen konstruktiv vermeiden, gleichmäßige Strömung, nicht zu geringe Geschwindigkeit und selbsttätige Entleerung anstreben (s. Abb. 16.18a) und • Anlagenteile spülen oder reinigen. Korrosion an Phasengrenzen Ursache: Infolge einer Zustandsänderung des die Metallfläche berührenden Mediums von der flüssigen in die gasförmige Phase und umgekehrt entsteht im Umschlagbereich an metallischen Oberflächen eine erhöhte Korrosionsgefahr. Diese wird u. U. durch Ankrustung im Bereich zwischen flüssiger und gasförmiger Phase verstärkt (Spähn und Fäßler 1972). Erscheinung: Die Korrosion ist auf den Umschlagbereich konzentriert und umso stärker, je schroffer der Umschlag stattfindet und je aggressiver das Medium ist (Rubo 1966).
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Abb. 16.20 Korrosion an der Grenzfläche zwischen Gas- und Flüssigkeitsphase nach Spähn und Fäßler (1972) infolge höherer Konzentration im Bereich der Wasserlinie eines stehend angeordneten Kühlers. Konstruktive Abhilfe durch Höherlegen des Wasserspiegels
Abhilfe: • allmähliche Wärmezu- bzw. -abfuhr längs einer Heiz- oder Kühlstrecke vorsehen, • Turbulenz vermindern, d. h. Wärmeübergangszahlen am Einlauf des umschlagenden Mediums vermindern, z. B. Richtbleche, Schutzhemden, • korrosionsbeständigen Schutzmantel an kritischen Stellen vorsehen (vgl. Beispiel 3 und 4), • Übergangsbereiche zwischen flüssiger und gasförmiger Phase mit entsprechender Gestaltung vermeiden, s. Abb. 16.20, und • Flüssigkeitsspiegel schwanken lassen, z. B. durch Rühren. 4. Beanspruchungsabhängige Korrosion Korrosionsgefährdete Bauteile unterliegen in der Regel einer mechanischen Beanspruchung in ruhender oder schwingender Form, die entweder durch die inneren Schnittgrößen oder durch Angriffe an der Oberfläche hervorgerufen werden. Solche zusätzlich auftretenden mechanischen Beanspruchungen bedingen eine Reihe gravierender Korrosionserscheinungen. Schwingungsrisskorrosion Ursache: Korrosiver Angriff auf ein Bauteil, das einer mechanischen Schwingungsbeanspruchung ausgesetzt ist, setzt die Festigkeit stark herab. Es gibt keine Dauerhaltbarkeit. Je höher
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die mechanische Beanspruchung und je intensiver der korrosive Angriff ist, desto kürzer ist die Lebensdauer. Erscheinung: Verformungsloser Bruch wie bei einem Dauerbruch, wobei Korrosionsprodukte besonders bei schwach korrodierenden Medien nur mikroskopisch erkennbar sind. Verwechslung mit gewöhnlichem Dauerbruch ist daher oft gegeben. Abhilfe: • mechanische oder thermische Wechselbeanspruchung klein halten, besonders Schwingungsbeanspruchung infolge Resonanzerscheinungen vermeiden, • Spannungsüberhöhung infolge von Kerben vermeiden, • Druckvorspannung als Eigenspannung durch Kugelstrahlen, Prägepolieren, Nitrieren usw. hilft Lebensdauer erhöhen, • korrosives Medium (Elektrolyt) fernhalten, • Oberflächenschutzüberzüge, z. B. Gummierung, Einbrennlackierung, galvanische Überzüge mit Druckspannung, Verzinkung oder Aluminierung vorsehen. Spannungsrisskorrosion Ursache: Bestimmte empfindliche Werkstoffe neigen nach einer gewissen Zeit zu trans- oder interkristalliner Rissbildung, wenn gleichzeitig eine ruhende Zugbeanspruchung aus äußerer Last oder Eigenspannungszustand und ein diese Rissart auslösendes, spezifisches Agens einwirken. Es genügt, eine dieser Voraussetzungen zur Bildung der Spannungsrisskorrosion zu vermeiden. Erscheinung: Je nach angreifendem Medium (Spähn und Fäßler 1972) entstehen trans- oder interkristalline Risse, die sehr fein sind und rasch vorwärtsschreiten. Dicht danebenliegende Partien bleiben unberührt. Abhilfe: • empfindliche Werkstoffe vermeiden, was aber wegen anderer Anforderungen oft nicht möglich ist. Diese Werkstoffe sind: unlegierte Kohlenstoffstähle, austenitische Stähle, Messing, Magnesium- und Aluminiumlegierungen sowie Titanlegierungen, • Zugspannung an der angegriffenen Oberfläche massiv herabsetzen oder ganz vermeiden, • Druckspannung in die Oberfläche einbringen, z. B. Schrumpfbandagen, vorgespannte Mehrschalenbauweise, Kugelstrahlen, • Eigenzugspannungen durch Spannungsarmglühen abbauen, • kathodisch wirkende Überzüge aufbringen,
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• Agenzien vermeiden oder mildern durch Erniedrigung der Konzentration und der Temperatur. Dehnungsinduzierte Korrosion Ursache: Durch wiederholte Dehnungen oder Stauchungen über kritische Beträge hinaus reißt die schützende Deckschicht immer wieder auf. Erscheinung: Es ist kein natürlicher Korrosionsschutz mehr gegeben, und dadurch tritt örtliche Korrosion auf. Abhilfe: Dehnungs- bzw. Stauchungsbeträge vermindern. Erosions- und Kavitationskorrosion Erosion und Kavitation können von Korrosion begleitet sein, wodurch der Abtragvorgang an der so beanspruchten Stelle beschleunigt wird. Primäre Abhilfe liegt in der Vermeidung bzw. Verminderung der Erosion und Kavitation mithilfe strömungstechnischer oder konstruktiver Maßnahmen. Erst wenn dies nicht gelingt, sollten harte Oberflächenüberzüge wie Auftragsschweißungen, Nickelschichten, Hartchrom oder Stellit ins Auge gefasst werden. Reibkorrosion Ursache: Reibkorrosion entsteht durch relativ geringe Bewegung unter mehr oder weniger hoher Flächenpressung an gepaarten Oberflächen. Erscheinung: Die beanspruchte Oberfläche bildet harte Oxidationsprodukte (sog. Reibrost), die u. U. den Vorgang beschleunigen. Gleichzeitig entsteht erhöhte Kerbwirkung. Abhilfe: Die wirksamste Abhilfe ist die Beseitigung der Scheuerbewegung, z. B. durch elastische Aufhängung, hydrostatische Lagerung statt reibender Führung: • Rohrschwingungen verkleinern durch Verringern der Strömungsgeschwindigkeit im Rohraußenraum und/oder Verändern der Abstände der Leitbleche, • Spalte zwischen Leitblechen und Rohren vergrößern, sodass keine Berührung mehr stattfindet, • Wanddicke der Rohre vergrößern, damit sich ihre Steifigkeit und zugleich die zulässige Korrosionsrate erhöhen, • für die Rohre Werkstoff mit besserer Haftung der Schutzschicht verwenden. Überhaupt sind Scheuerstellen zu vermeiden. Diese können z. B. durch Wärmedehnungen oder bei schwingenden Rohren an Durchführungen (z. B. Leitblechen)
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entstehen. Dort kann die oxidische Schutzschicht an den Oberflächen der einander berührenden Teile beschädigt werden. Die freigelegten metallischen Bereiche sind elektrochemisch unedler als die mit Schutzschicht bedeckten. Ist das strömende Medium ein Elektrolyt, werden diese verhältnismäßig kleinen, unedlen Bereiche elektrochemisch abgetragen, falls sich die Schutzschicht nicht regenerieren kann. Selektive Korrosion Bei der selektiven Korrosion werden nur bestimmte Gefügeteile der Werkstoffmatrix betroffen. Bedeutung haben: • interkristalline Korrosion von nichtrostenden Stählen und Aluminiumlegierungen, • die sog. Spongiose, bei der in Gusseisen die Eisenbestandteile herausgelöst werden, • die Entzinkung von Messing. Ursache: Manche Gefügebestandteile oder korngrenzennahe Bereiche sind weniger korrosionsbeständig als die Matrix. Abhilfe: Eine Abhilfe besteht im Wesentlichen in der geeigneten Wahl von Werkstoffen und deren Verarbeitung, z. B. Schweißverfahren, bei der ein so anfälliges Gefüge vermieden wird. Der Konstrukteur benötigt hier bei Auftreten dieser Korrosionserscheinung den Rat des Werkstofffachmanns. Generelle Empfehlungen Es ist so zu gestalten, dass auch unter Korrosionsangriff eine möglichst lange und gleiche Lebensdauer aller beteiligten Komponenten erreicht wird (Rubo 1966, 1985). Lässt sich diese Forderung mit entsprechender Werkstoffwahl und Auslegung wirtschaftlich nicht erreichen, muss so konstruiert werden, dass die besonders korrosionsgefährdeten Zonen und Bauteile überwacht werden können, z. B. durch Sichtkontrolle, Wanddickenmessung mechanisch oder durch Ultraschall oder/und indirekt durch Anordnung von Korrosionsproben, die nach festgelegter Betriebszeit oder nach Kontrollergebnis ausgewechselt werden können. Ein sicherheitsgefährdender Zustand infolge Korrosion sollte nicht auftreten dürfen. Schließlich sei nochmals auf das Prinzip der Aufgabenteilung aufmerksam gemacht, nach dem auch schwierige Korrosionsprobleme überwunden werden können. Hiernach würde einem Bauteil die Korrosionsabwehr und Abdichtung zufallen, dem anderen die Stütz-, Trag- oder Kraftleitungsaufgabe, wodurch das Zusammentreffen hoher mechanischer Beanspruchung und Korrosionsbeanspruchung vermieden und die Werkstoffwahl jedes Bauteils freier wird (Pahl 1973b). In Abb. 16.21 sind mögliche Korrosionsschutzmaßnahmen zusammengefasst. 5. Beispiele korrosionsgerechter Gestaltung. Beispiel 1
Mittels Waschlaugen lässt sich CO2 aus einem unter Druck befindlichen Gasgemisch weitgehend entfernen. Die CO2-angereicherte Waschlauge wird dann durch
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Abb. 16.21 Mögliche Korrosionsschutzmaßnahmen (nach Wiegand 2007)
Entspannen beträchtlich von CO2 befreit (regeneriert). Der Ort der Entspannung innerhalb des Ablaufs einer Druckgaswäsche mit Regeneration wird im Allgemeinen nach folgender Überlegung festgelegt: ◄ Würde die Waschlauge unmittelbar hinter dem Waschturm entspannt, s. Abb. 16.22, Stelle A, so wäre die anschließende Rohrleitung nach B nach dem sich einstellenden Entspannungsdruck, also mit relativ dünner Wanddicke auszulegen. Man spart also an Wanddicke. Infolge Ausscheidens von CO2 kann aber die Aggressivität der mit CO2-Blasen durchsetzten Lauge derart steigen, dass der für gewöhnlich ausreichende billige unlegierte Stahl der Rohrleitung durch wesentlich teureren rost- und säurebeständigen Werkstoff ersetzt werden müsste. Daher sollte die CO2-angereicherteWaschlauge besser bis zum Regenerationsturm, Stelle B, unter Druck verbleiben. Beispiel 2
Für die Druckgasspeicherung können nach Abb. 16.23 zwei Lösungen zur Diskussion stehen: a. 30 flaschenförmige Behälter mit je 50 l Inhalt und einer Wanddicke von 6 mm, b. 1 Kugelbehälter mit 1,5 m3 Inhalt und einer Wanddicke von 30 mm. ◄
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Abb. 16.22 Einfluss des Entspannungsortes einer CO2-angereicherten Waschlauge auf die Werkstoffwahl für eine Rohrleitung von A nach B
Abb. 16.23 Einfluss der Behälterform auf die Korrosionsgefährdung nach Rubo (1966) am Beispiel der Druckgasspeicherung bei 200 bar. a In 30 Flaschen mit je 50 l Inhalt, b in einer Kugel von 1,5 m3 Inhalt
Die Lösung b) ist vom Standpunkt der Korrosion aus aus zwei Gründen vorteilhafter: • Die der Korrosion unterliegende Oberfläche ist mit etwa 6,4 m2 rund fünfmal kleiner als bei a). Die Abtragmenge ist also bei gleicher Abtragtiefe kleiner. • Bei einer erwarteten Abtragtiefe von 2 mm in 10 Jahren ist der Abtrag festigkeitsmäßig bei a) auf keinen Fall vernachlässigbar bzw. zwingt zu einer wesentlich stärkeren Wand, nämlich 8 mm, während beim Kugelbehälter der Korrosionszuschlag von 2 mm für eine 30 mm dicke Wand fast unerheblich ist. Der Kugelbehälter kann praktisch nur nach Festigkeitsgesichtspunkten ausgelegt werden.
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Abb. 16.24 Ablassstutzen an einem Behälter mit CO2-haltigem überhitztem Dampf unter Überdruck. a Ursprüngliche Ausführung, b isolierte Ausführung vermeidet Kondensat, c andere korrosionsgerechte Varianten mit gesondertem Stutzen
Beispiel 3
In einem Behälter sei Warmgas mit H2O-Dampf enthalten. Abb. 16.24a zeigt die ursprüngliche Ausführung nach Schraft (1982). Der Ablassstutzen ist nicht isoliert. Infolge Abkühlung bis zur Taupunktunterschreitung bildet sich Kondensat mit stark elektrolytischen Eigenschaften. An der Übergangsstelle zwischen Kondensat und Gas tritt Korrosion auf, die zum Abreißen des Stutzens führen kann. Abb. 16.24 zeigt zwei Lösungen: Isolieren einerseits oder gesonderten Stutzen aus beständigerem Material andererseits. ◄
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Abb. 16.25 Korrosion an einem beheizten Rohr nach Rubo (1966). a Besonders am Einlauf wegen schroffen Übergangs gefährdet, b schroffer Übergang vermieden, c Schutzmantel deckt kritische Zone ab und mildert Übergang
Beispiel 4
In einem beheizten Rohr, das feuchtes Gas führt, ist der Einlaufbereich am Heizmantel besonders gefährdet, s. Abb. 16.25a. Ein weniger schroffer Übergang (s. Abb. 16.25b) oder ein zusätzlich eingebauter korrosionsbeständiger Schutzmantel (s. Abb. 16.25c) bringen Abhilfe. ◄
16.5 Verschleißgerecht Gerhard Pahl und Wolfgang Beitz Bei diesem Abschnitt handelt es sich um den Original-Text der Autoren Pahl und Beitz. Aussage und Inhalt sind bis heute gültig. Die Literaturverweise beziehen sich entsprechend auf Quellen, die zum Zeitpunkt der Erstellung des Kapitels relevant waren. Aus Gründen der Nachvollziehbarkeit wurden diese beibehalten.
1. Ursachen und Erscheinungen Ursachen und Erscheinungsformen bei Verschleiß sind außerordentlich vielfältig und komplex. Zur Gewinnung eines tieferen und grundlegenden Verständnisses wird auf die nachstehende Literatur (Czichos und Habig 1992; Habig 1980; Kloos 1973; Simon und Thoma 1985; Wahl 1975) verwiesen. In DIN (50.320) sind die Verschleißarten und Verschleißmechanismen definiert. Auftretender Verschleiß bedeutet genauso wie bei Korrosion eine begrenzte Bauteil-Gebrauchsdauer, eingeschränkte Funktionseigenschaften, höhere Verluste und weitere Beeinträchtigungen gegenüber dem Neuzustand eines Produktes. Am häufigsten und im Wesentlichen sind folgende Verschleißmechanismen an der Oberfläche und vornehmlich im Mikrobereich wirksam:
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Adhäsionsverschleiß Ursache ist eine hohe Belastung, unter der atomare Bindungen zwischen dem Grundkörper und dem Gegenkörper gebildet werden. Die Erscheinungen sind Mikroverschweißungen, die unter der Bewegung wieder getrennt werden. Die Oberfläche wird zerstört, abgetragen, und es bilden sich Verschleißpartikel. Abrasiver Verschleiß Ursache sind harte Partikel des Gegenkörpers oder des Zwischenmediums, die zu einer Art Mikrozerspanung der beteiligten Oberfläche führen. Erscheinungen sind Riefen, Rillen und dergleichen in Richtung der wirksamen Bewegung unter Materialabtrag. Sehr milder abrasiver Verschleiß kann zur Oberflächenglättung und -anpassung führen, stärkerer und übermäßiger zu unzulässiger Oberflächenveränderung. Verschleiß durch Oberflächenzerrüttung Ursache ist eine Wechselbeanspruchung im Bereich oberflächennaher Schichten, die zur Zerrüttung führt. Erscheinungen sind Risse, Ausbrüche, Pittings und dergleichen sowie ablösende Partikel. Verschleiß durch tribochemische Reaktion Ursache ist eine chemische Reaktion zwischen Grund- und Gegenkörper unter Mitwirkung von Bestandteilen des Schmierstoffes und/oder der Umgebung infolge einer Aktivierung (Temperaturerhöhung) durch die eingebrachte Reibarbeit. Erscheinungen sind en Veränderung der Oberfläche unter Bildung harter Zonen oder Partikel, wobei letztere wiederum zu vermehrter Verschleißbildung beitragen. 2. Konstruktive Maßnahmen Verschleißgerecht gestalten heißt, durch tribologische Maßnahmen (System: Werkstoff, Wirkgeometrie, Oberfläche, Schmiermittel/Fluid) oder durch reine werkstofftechnische Maßnahmen die für den Betrieb erforderlichen Relativbewegungen zwischen belasteten Bauteilen möglichst verschleißarm aufzunehmen. Wie auch bei anderen Beanspruchungen, z. B. Korrosion, wird man zunächst anstreben, die Ursachen für den betreffenden Verschleißmechanismus zu vermeiden (Primärmaßnahmen). Das bedeutet, z. B. Festkörperreibung (Ruhereibung, Trockenreibung) und Mischreibung durch tribologische Maßnahmen zu umgehen und nur Flüssigkeitsreibung zuzulassen. Das kann bei Gleitbewegungen durch den elastohydrodynamischen Effekt erreicht werden, der sich mit einer bestimmten Fluidviskosität, Gleitgeschwindigkeit und Wirkflächenbelastung als Flüssigkeitsreibung erzeugen lässt. Bei Vorliegen von Konstruktions- und Betriebsbedingungen, die nicht den elastohydrodynamischen Effekt ermöglichen, kommen hydrostatische Systeme oder magnetische Systeme infrage. Bei kleinen Bewegungen ist auch der Einsatz elastischer Gelenke zu erwägen. Sind Primärmaßnahmen zur Ursachenvermeidung nicht möglich, müssen werkstoffseitige und schmierungstechnische Sekundärmaßnahmen vorgenommen werden, mit denen die Verschleißrate zumindest reduziert werden kann. Zur Minderung aller Verschleißerscheinungen ist zunächst der örtliche Energieeintrag durch die Reibleistung pro Fläche p·vr·μ zu begrenzen, indem die Flächenpressung p, die Relativgeschwindigkeit vr und/oder der Reibwert μ herabgesetzt werden. In Czichos und Habig (1992) sind für zahlreiche praxisübliche Werkstoffkombinationen Reibungszahlen und Verschleißkoeffizienten für Gleitpaarungen angegeben:
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Verschleißkoeffizient = Gleitweg ×
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Verschleißvolumen Normalkraft
Verschleißgerecht Gestalten heißt aber auch, wenn Verschleiß nicht zu vermeiden ist, an folgende Maßnahmen zu denken: • Verschleißpartikel müssen aus dem Fluidstrom herausgefiltert werden, um nicht durch Anreicherung des Fluids die Verschleißrate noch zu erhöhen. • Strukturen mit verschleißgefährdeten Wirkflächen sollten möglichst nach dem „Prinzip der Aufgabenteilung“ gestaltet sein, d. h., die Verschleißzonen sollten leicht auswechselbar und aus einem verschleißfesten Werkstoff kostengünstig herstellbar sein, ohne die Gesamtstruktur zu verteuern. • Durch Verschleißmarken sollten Verschleißzustände gekennzeichnet werden, um die Betriebssicherheit zu gewährleisten und rechtzeitige Instandhaltungsmaßnahmen zu unterstützen. Unter risikogerecht sollen also technisches und wirtschaftliches Risiko in Einklang gebracht und einerseits einen für den Hersteller nützlichen Gewinn an Erfahrung, andererseits für den Anwender ein zuverlässiger, schadensfreier Betrieb sichergestellt werden.
16.6 Blechgerecht Jörg Heusel und Thomas Bronnhuber
16.6.1 Blech Als Blech wird ein flaches Halbzeug aus Eisen- oder Nichteisenwerkstoffen bezeichnet, dessen Dicke sehr gering gegenüber den anderen Abmessungen ist. Das Ausgangsprodukt für Blech sind sog. Brammen. Sie werden im Block- oder Stranggussverfahren hergestellt. In einem Warmwalzprozess werden sie bei Temperaturen weit über der Rekristallisationstemperatur zu Warmband umgeformt (vgl. Klocke 2006). Dieses Fertigungsverfahren erklärt auch das anisotrope Verhalten von Blechen. In DIN EN 10.029 sind die Eigenschaften warmgewalzter Stahlbleche definiert. So liegt die Nenndicke dieser Bleche im Bereich von 3 bis 400 mm bei einer Mindestbreite von 600 mm (vgl. Fischer 2002). Um die Maßgenauigkeiten des Halbzeugs zu erhöhen und/oder die Blechdicke weiter zu verringern, kann das Warmband in einem nachgeschalteten Kaltwalzprozess weiter verarbeitet werden. Die DIN EN 10.130 (2006) für kaltgewalzte Flacherzeugnisse ohne Überzug fasst die Eigenschaften von Blechen im Dickenbereich von mindestens 0,35–3 mm zusammen (DIN EN 10.130 2006) und bezieht sich auf eine Mindestbreite von 600 mm. Eine wichtige Eigenschaft kaltgewalzter Flacherzeugnisse ist die Vermeidung von Fließfiguren während der Tiefziehbearbeitung. Durch das Kaltwalzen
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B. Bender et al.
Abb. 16.26 Blechcoil (Trumpf 2011)
Tab. 16.1 Max. Größe Coilmaterial (Buchfink 2006)
Coilmaterial Max. Breite
Ca. 2 m
Max. Dicke
Bis 10 mm
Max. Rollendurchmesser
Bis 2,3 m
Tab. 16.2 Unterscheidung Tafelformate (Buchfink 2006) Blechtafel
Normaltafel
Mitteltafel
Großtafel
Format
2000 × 1000 mm
2500 × 1250 mm
3000 × 1500 mm
lässt sich der Anisotropiewert verändern (vgl. DIN EN 10.130 2006; Klocke 2006). Abschließende Verarbeitungsschritte für kalt- und warmgewalzte Bleche sind beispielsweise das Rekristallisationsglühen oder Beschichten. Bleche werden grundsätzlich in zwei Formen geliefert. Die eine ist das Coil. Dabei wird das Blech entsprechend Abschn. 16.5 Abb. 16.26 aufgewickelt. Die maximalen Coil-Abmessungen sind in Abschn. 16.5 Tab. 16.1 wiedergegeben. Die zweite Lieferform für Bleche sind Tafeln. Das Blech wird in ebener Form in unterschiedlichen Abmessungen geliefert. Neben verschiedenen Sondergrößen gibt es Blechtafeln in den drei entsprechend Tab. 16.2 aufgeführten Abmessungen. Für die Konstruktion von Blechbauteilen bedeutet dies, dass die Abwicklungen auf eine Normtafel passen müssen oder u. U. ein Bauteil aus mehreren Einzelteilen zusammengesetzt werden muss.
16.6.1.1 Die Blechbearbeitung Wie bei jeder Konstruktion, so sind auch beim Gestalten mit Blech die drei Haupteinflussfaktoren Funktion, Wirtschaftlichkeit und Fertigungstechnologie zu beachten. Da Blech definitionsgemäß dünn ist im Verhältnis zu seiner flächigen Ausdehnung, fehlt ohne entsprechende Maßnahmen den Blechbauteilen die Eigensteifigkeit. Die Bauteile sind z. B.
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biegeschlaff. Um blechgerechte Bauteile zu gestalten, die insbesondere ihre Festigkeitsaufgabe erfüllen können, sind bei der Konstruktion mit Blech einige Regeln zwingend zu beachten. Diese sind im Folgenden aufgeführt (vgl. Bode 1996; Trumpf 2003, 2009): Krafteinleitung • Kräfte möglichst flächig einleiten und • ist eine flächige Einleitung von Kräften nicht möglich, Abstützungen durch Verstrebungen vorsehen, um die Krafteinleitung zu begünstigen. Abb. 16.27 zeigt auf der linken Seite symbolhaft die Problematik einer Blechkonstruktion. Wie oben beschrieben, sind Blechbauteile ohne besondere Maßnahmen zur Erhöhung der Steifigkeit relativ nachgiebig. Durch das Anbringen von Winkelverstrebungen kann die Krafteinleitung in das Bauteil verbessert werden, vgl. Beispiele in der Mitte und rechts. Kraftfluss • Zugbelastungen bevorzugen, da lange Bauteile mit schmalen Querschnitten bei Druckbelastungen knicken oder ausbeulen können (s. Abb. 16.28 und Abb. 16.29) und • durch Quer- und Längsverstrebungen Bauteile in der Krafteinleitungsebene verstärken und so den Kraftfluss gezielt verteilen. Der linke Teil von Abb. 16.28 verdeutlicht, zu welchen Verformungen im Bauteil es bei falscher Auslegung ohne Beachtung des idealen Kraftflusses kommen kann. Bei Druckbelastung von Blechbauteilen ist die Steifigkeit unbedingt zu beachten.
Abb. 16.27 Gestaltung der Krafteinleitungsstellen
Abb. 16.28 Blechgerechte Gestaltung des Kraftflusses. (Quelle: TRUMPF GmbH + Co., Ditzingen) (Trumpf 2011)
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Abb. 16.29 Biegung an schmalen langen Bauteilen
Steifigkeit und Stabilität • Blechdicke an belasteten Stellen erhöhen, • Umformungen vorsehen, wie Sicken, kreuzweises Knicken, Abkantungen oder Falze (s. Abb. 16.30) (Abb. 16.31 und 16.32). • Querschnitte schließen zur Versteifung bei Torsionsbelastung (s. Abb. 16.33) und • Verbundkonstruktionen mit Rippen, Stäben, Verstrebungen und Versteifungsblechen oder Schubfeldkonstruktionen wählen, s. Abb. 16.34. Das Einbringen von Sicken ist ein bereits während des Zuschneidens realisierbares Verfahren zur Erhöhung der Steifigkeit. Durch das Einbringen der Sicke in das Bauteil wird der Querschnitt, welcher zur Berechnung des axialen Widerstandmomentes herangezogen wird, erhöht (Fischer 2002; Grote et al. 2007). Abb. 16.30 Versteifung durch Falzen und Abkanten (Trumpf 2011)
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Abb. 16.31 Umformung Versteifungssicken (Trumpf 2011)
Abb. 16.32 kreuzweises Abkanten
Abb. 16.33 Versteifung durch Profilschluss (Trumpf 2011)
Schubfelder zählen zu den bekannten Konstruktionselementen des Leichtbaus. Dabei wird auf ein Rahmenprofil aus gelenkig gelagerten dehnelastischen, aber biegestarren Stäben ein Blech kraftschlüssig angebracht. Das Fachwerk aus den Stäben wird durch
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Abb. 16.34 Versteifung durch Rippen, Stäbe, Verstrebungen und Zugseile (Trumpf 2011)
die Verbindung mit dem Blech zu einer Kraft aufnehmenden Struktur, da die Stäbe die Längskräfte aufnehmen können und das Blech die Schubkraft (Klein 2012).
16.6.1.2 Wirtschaftliche Aspekte der Gestaltung mit Blech Neben den mechanischen Eigenschaften von Blechkonstruktionen sind wirtschaftliche Aspekte zu beachten. Diese sind im Folgenden aufgeführt (vgl. Bode 1996; Trumpf 2003; Trumpf 2009): • Wahl einer geringen Blechdicke zur Reduktion von Material und Fertigungskosten, • Verwendung bei Baugruppen von möglichst nur einer Blechdicke, um den Zuschnitt aus einer Blechtafel zu ermöglichen und um den Logistikaufwand zu reduzieren, • Gleichteile mit mehreren Funktionen einsetzen, um die Stückzahl pro Teil zu erhöhen, • Zusammenfassen von mehreren Einzelteilen zu einteiligen Bauteilen, da komplizierte Blechteile in der Einzel- und Kleinserie wirtschaftlicher sind als Schweißkonstruktionen aus Halbzeugen und • Ersetzen von Schweißnähten durch Biegungen, da Schweißen ein kostenintensiver Prozess ist, der zu Wärmeeinbringung und Verzug führt und Vor- und Folgeprozesse mit sich bringt (Ausrichten, Verspannen, Richten, Verputzen). Ebenfalls zu den wirtschaftlichen Einflussgrößen lässt sich der Korrosionsschutz bei der Gestaltung des Bauteils zuordnen. Für die Auslegung zum Korrosionsschutz sind folgende Punkte zu beachten: • Vermeidung von offenen Hohlräumen, in die Feuchtigkeit eindringen kann, und • Vermeidung von Stellen, an denen sich Feuchtigkeit und Wasser sammeln können.
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Unter Beachtung der hier aufgeführten Gestaltungsregeln, die optimiert sind auf Anwendungen im Blechdickenbereich unterhalb von 10 mm (Buchfink 2006), können die Vorteile des Blechs – sein geringes Gewicht und seine gute Formbarkeit – die nachteiligen Faktoren der geringen Stabilität und Steifigkeit kompensieren.
16.6.2 Die Prozesskette Blech Eine ganzheitliche Betrachtung – von der Entwicklung bis zur Fertigstellung eines Bauteiles – ermöglicht ein tieferes Verständnis für das Wesen einer Blechkonstruktion. Durch eine enge Verknüpfung der Hauptabschnitte im Produktentstehungsprozess, den Bereichen Konstruktion und Fertigung, können alle Anforderungen an das zu entwickelnde Blechbauteil berücksichtigt werden. Dies führt zu einer Steigerung der Konstruktionsqualität. Die Problematik bei der Konstruktion mit Blech besteht in dem Umstand, dass die Qualität eines Blechbauteils von der Konstruktion und den Fertigungsparametern abhängt. Die Fertigungsparameter wiederum werden von den verwendeten Maschinen und dem Blechhalbzeug, Festigkeit und Abmessungen beeinflusst. Damit ergibt sich ein Abhängigkeitsnetzwerk dieser Parameter, das nicht ohne weiteres durchschaubar ist und in der Praxis viel Erfahrung in der Verarbeitung von Blech erfordert. Große Werkzeugmaschinenhersteller im Bereich der Blechbearbeitung stellen Datenbanken zur Verfügung, die auf Basis langjähriger Arbeit entwickelt wurden, und verknüpfen diese bereits mit dem Programm zur 3-D-Konstruktion des Bauteils. Die Werkzeugmaschinenhersteller setzen nicht mehr nur auf die ausschließliche Integration einer Erfahrungsdatenbank in das CAD-Programm, sondern liefern mit einer zusätzlichen CAM-Schnittstelle die Möglichkeit zur Simulation der weiteren Fertigungsschritte. Leitete vormals die Fertigung die Fehlermeldung und die damit verbundene Iterationsschleife zur Optimierung ein, können heute Fehler innerhalb weniger Minuten während der Simulation aufgedeckt werden. Ein weiterer Vorteil, der ebenfalls Aufwände minimiert, ist die Möglichkeit zur Generierung der NC-Daten für die Fertigung aus der CAM-Schnittstelle. Abb. 16.9 zeigt im oberen Teil eine Gegenüberstellung der klassischen Vorgehensweise bei der Blechgestaltung und unten die Blechbearbeitung mit der Fertigungstechnologie-orientierten Prozesskette Blech mit CAD/CAM-Schnittstelle. Das enorme Potenzial zur Zeitersparnis durch die Verkürzung der Iterationsschritte wird deutlich, wenn man die Zeitachse (x-Achse) betrachtet. Nachfolgend werden Fertigungsverfahren und dazugehörige Gestaltungsrichtlinien vorgestellt.
16.6.3 Gestalten mit Blech In diesem Kapitel werden Fertigungsverfahren und Gestaltungsregeln entsprechend der Fertigungstechnologien Trennen, Biegen und Fügen vorgestellt. Des Weiteren beinhalten die abschließenden Optimierungsbeispiele weitere Regeln und verdeutlichen deren Umsetzung in der Konstruktion. Aus den Fertigungsverfahren ergeben sich die fertigungs-
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technologischen Gestaltungsregeln und Rahmenbedingungen. Die hier relevanten Fertigungsverfahren der DIN 8580 für die Blechbearbeitung sind Trennen, Umformen und Fügen (vgl. DIN 8580 2003) (Abb. 16.35).
16.6.3.1 Trennen Das Verfahren Trennen wird abgebildet durch das Zerteilen (die spanfreie Trennung durch Scher- und Knabberschneiden) und die thermische Trennung (Laserschneiden) (vgl. Klocke 2006; DIN 8588 2003). Beim Knabberschneiden – auch Nibbeln – handelt es sich um einen mehrhubig fortschreitenden Scherschnitt, wobei die Abfallstücke entlang der Schnittkontur abgetrennt werden (DIN 8588 2003) (s. Abb. 16.36). In der industriellen Anwendung erfolgt das Scherschneiden auf Stanzmaschinen. Mit heutigen Maschinen lassen sich Blechdicken bis zu 8 mm verarbeiten. Vorteil der Stanzbearbeitung ist die Vereinigung von Scher- und Knabberschneidprozessen sowie die Möglichkeit zu einfachen Umformungen. So können Durchzüge und Gewinde (s. Abb. 16.37) in das Blech eingebracht werden und kleinere Biegeumformungen, wie das Einbringen von Kiemen (s. Abb. 16.36) direkt auf der Maschine erfolgen. Ebenso können Absetzungen und Ver-
Abb. 16.35 Klassisches Vorgehen bei der Blechgestaltung und -bearbeitung und die „Prozesskette Blech“
16 Gestaltungsrichtlinien
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Abb. 16.36 Umformung Kiemen (Trumpf 2011)
Abb. 16.37 Umformung Gewindedurchzüge (Trumpf 2011)
steifungssicken auf der Stanzmaschine geformt werden. Hierbei reduziert sich jedoch die Blechdicke auf ca. 2-3 mm (vgl. Trumpf 2006). Laserschneiden Verglichen mit konventionellen thermischen Trennverfahren, zeichnet sich der Laser durch eine schmale, annähernd senkrechte Schnittfuge, eine schmale Wärmeeinflusszone, eine hohe Bearbeitungsgeschwindigkeit sowie einen berührungslosen Schnitt (Verschleißfreiheit) aus. Auf das Werkstück wirken dabei keine Kräfte. s. Abb. 16.36, Abb. 16.40, Abb. 16.41. Die gebräuchlichsten Lasertypen sind längsgeströmte CO2-Gaslaser und Nd:YAGFestkörperlaser die es als Stab, Faser oder Scheibenlaser gibt(vgl. Klocke 2007).
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Abb. 16.38 Gewindeformen
Abb. 16.39 Beispiele für das Spektrum von Laserschnitten (Trumpf 2011)
Abb. 16.40 Einstechen mit voller Leistung in 12 mm Baustahl (Trumpf 2011)
Abb. 16.41 Einstechen mit geregelter Leistung in 12 mm Baustahl (Trumpf 2011)
CO2-Laser Die Vorteile des CO2-Lasers liegen in der großen Bearbeitungsbandbreite (Baustahl bis 25 mm) und den hohen Schnittgeschwindigkeiten. Nachteilig wirkt sich die aufwendige Strahlführung aus, die die Flexibilität leicht einschränkt (vgl. Buchfink 2008).
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Abb. 16.42 TruMatic 7000 Stanz-Laserschneid-Maschine (Trumpf 2011)
Nd:YAG-Festkörperlaser Die Vorteile des Nd:YAG-Lasers liegen in seiner besseren Absorption von Buntmetallen (Erweiterung des Bearbeitungsspektrums) und der hohen Flexibilität. Die flexible Strahlführung ermöglicht die Anwendung von Robotern für die 3D-Bearbeitung. Die Bearbeitungsbandbreite reicht bis zu 10 mm Materialstärke, wobei der Schwerpunkt im Bereich unter 4 mm liegt (vgl. Buchfink 2008; Trumpf 2007c) (Abb. 16.38). Stanz-Laser-Anwendungen Als erweiterte Maschinentechnologie kommen heute kombinierte Stanz-Laser-Maschinen zum Einsatz, s. Abb. 16.42. Sie vereinigen die Vorteile beider Fertigungstechnologien. Bei ihrer Anwendung können während des Stanzvorgangs Umformungen, Gewinde oder eine Vielzahl von Löchern in das Werkstück eingebracht werden. Im nächsten Schritt schneidet der Laser die Geometrien, die sehr komplex sein können, mit hoher Flexibilität frei. Durch die verschiedenen Bearbeitung in einer Aufspannung erhöht sich die Genauigkeit (vgl. Buchfink 2006; Trumpf 2007c). Gestaltungsregeln Fertigungstechnologie Trennen Die folgende Tab. 16.3 fasst die relevanten Gestaltungsregeln für Blechbauteile und das Fertigungsverfahren Trennen zusammen. Die Rahmenbedingungen (R.B.) weisen darauf hin, wann spezifische Eigenschaften der Werkzeugmaschine besonders zu beachten sind.
16.6.3.2 Umformen Die relevanten Umformverfahren für die Blechbearbeitung sind die Biegeumformung mit geradliniger und drehender Werkzeugbewegung sowie das Zugdruckumformen (Tiefziehen). Biegeumformung mit geradliniger Werkzeugbewegung, der Vorteil des Freibiegens ist die große Bandbreite an zu fertigenden Winkeln, die zwischen ca. 30°
618 Tab. 16.3 Gestaltungsregeln und Rahmenbedingungen für das Verfahren Trennen
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Abb. 16.43 Fensterwerkzeug
und 180° liegt. Aktuelle Blechbiegemaschinen mit bis zu 5 bzw. 6-achsigen Hinteranschlägen und einer Vielzahl an Werkzeugen bieten neue Anwendungsmöglichkeiten auch zur Bewältigung komplizierter Biegeaufgaben, s. Abb. 16.44, Abb. 16.45. Der 6-achsige Anschlag ermöglicht das Anlegen von nicht parallelen Kanten, und durch das Verschieben der unteren Werkzeugklemmung lassen sich Falze herstellen. Die breitgefächerte Werkzeugteilung sowie die hohe Variantenzahl an Werkzeugformen erweitern die Biegemöglichkeiten bis hin zur Schließung von Werkstücken mit Innenbiegungen im Kollisionsbereich durch Hornwerkzeuge (vgl. Trumpf 2007a) (Abb. 16.43). Abb. 16.44 Sonderwerkzeug zur Biegebearbeitung (Trumpf 2011)
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Abb. 16.45 Beachten der Werkzeugbreite für spezielle Anwendung (Trumpf 2011)
Abb. 16.46 Walzprofilieren (Klocke 2006)
Biegeumformung mit drehender Werkzeugbewegung Ein gebräuchliches Verfahren der Biegeumformung mit drehender Werkzeugbewegung ist das Walzprofilieren. Es ermöglicht bei hohen Stückzahlen eine kostengünstige Herstellung von Profilen für den Leichtbau. Durch hintereinander geschaltete Walzenpaare wird das Blechband mit Walzgeschwindigkeiten von bis zu 100 m/min zu einem Profil umgeformt, wobei die Formgebung stufenlos fortschreitet. Pro Umformstufe wird dazu ein Walzenpaar benötigt (s. Abb. 16.46) (vgl. Klocke 2006; Schuler 1996). Zugdruckumformung Durch Tiefziehen, ein Zugdruckumformungsverfahren, werden dreidimensionale Blechwerkstücke hergestellt. Das Verfahren bietet eine Vielzahl von Varianten, wie das Tiefziehen mit Wirkmedium, auf die an dieser Stelle aber nicht weiter eingegangen wird, vgl. Klocke (2006), DIN 8584 (2003). Gestaltungsregeln Fertigungstechnologie Umformen Wie bereits für die Fertigungstechnologie Trennen, werden im Anschluss alle relevanten Gestaltungsregeln den Werkstoff Blech und das Fertigungsverfahren betreffend dargestellt, s. Tab. 16.4. Zusätzlich sind die von der Maschine vorgegebenen Rahmenbedingungen für die Anwendung angegeben.
16 Gestaltungsrichtlinien Tab. 16.4 Gestaltungsregeln und Rahmenbedingungen für das Umformen
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16.6.3.3 Fügen Fügen kann stoff-, form- oder kraftschlüssig erfolgen. In der Blechbearbeitung geschieht dies durch Schweißen, Umformen, Zusammensetzen oder An- und Einpressen. Fügen durch Umformen Beim Falzen auf der Biegemaschine werden die an den Rändern vorbereitete Blechteile (auf 30° vorgebogen (s. Abb. 16.47)) durch einen zweite Hubbewegung zugedrückt. Dies ist bis zu einer Materialstärke von 3 mm im Baustahl möglich. In Edelstahl sind 2 mm machbar. Beim Falzen mit Handwerkzeugen werden Blechteile ineinandergelegt oder -geschoben und erhalten durch einen weiteren Arbeitsschritt (Schließen des Falzes, s. Abb. 16.49) eine formschlüssige Verbindung ohne Wärmeeinbringung. Durchsetzfügen, Clinchen Werkstückteile werden durch gemeinsames Verschieben (Schubumformung) gegenüber angrenzenden Werkstückflächen formschlüssig verbunden. In Verbindung mit Einschneiden und nachfolgendem Stauchen bezeichnet man dies als Durchsetzfügen, Abb. 16.49. Entfällt der Schneidanteil, spricht man vom Clinchen, s. Abb. 16.50, (vgl. DIN 8593 2003; DIN 8587 2003). Verlappen: Hervorstehende Zapfen am freien Ende eines Werkstückes werden in ein weiteres Werkstück eingesteckt und verdreht oder geknickt und bilden den Formschluss, s. Abb. 16.51. Dieses Verfahren findet vor allem im Dünnblechbereich Anwendung (vgl. DIN 8593 2003). Nieten: Durch die Stauchung eines Hilfsfügeteils, das in zuvor eingebrachte Öffnungen der zu verbindenden Werkstücke eingesetzt wird, erfolgt der Formschluss (DIN 8593 2003). Anpressen, Einpressen Schraubverbindungen führen zu kraftschlüssigen Verbindungen durch Anpressen, Abb. 16.52, Abb. 16.53. Vorteil dieses Verfahrens ist die Lösbarkeit der Verbindung, die sich allerdings bei dynamisch belasteten Teilen auch nachteilig auswirken kann (vgl. Grote et al. 2007; DIN 8593 2003). Zusammensetzen: Bei niedrig belasteten Blechkonstruktionen im Dünnblechbereich kann der Formschluss durch Aufschieben, Einschieben, Clipsen und Einrasten realisiert werden. Die Umsetzung erfolgt beispielsweise mit Zentrierwarzen (s. Abb. 16.54, Abb. 16.55), die in vorgesehene Öffnungen einrasten oder durch einen inenanderpasenden Puzzle-Teilzuschnitt (vgl. DIN 8593 2003; Trumpf 2003). Fügen durch Schweißen: Schweißen, als stoffschlüssiges Verfahren, bietet eine Vielzahl von Anwendungen. Diese umfassen konventionelle Methoden (MSG, WIG), s. Abb. 16.56 bis hin zum Laserschweißen, s. Abb. 16.57.
16 Gestaltungsrichtlinien
Abb. 16.47 Falzen Vorbiegen auf 30° und Zudrücken (Trumpf 2011)
Abb. 16.48 Verschiedene Formen von Falzen (Trumpf 2011)
Abb. 16.49 Beispiel Durchsetzfügen (Trumpf 2011)
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624 Abb. 16.50 Clinchen (Trumpf 2011)
Abb. 16.51 Verdrehzapfen (Trumpf 2011)
Abb. 16.52 Stanzformung zum stirnseitigen Verbinden dünner Bleche (Trumpf 2011)
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Abb. 16.53 Gewindeformstanzung (entsprechend einem Gewindegang einer Blechschraube) (Trumpf 2011)
Abb. 16.54 Zusammensetzen mit Schnappecken (Trumpf 2011)
Abb. 16.55 Zusammensetzen mit Zentrierwarzen (Trumpf 2011)
Laserschweißen erfolgt unter Verwendung von Schutzgas und erfordert aufgrund des geringen Strahldurchmessers im Fokus eine exakte Nahtvorbereitung sowie eine hohe Führungs- und Positioniergenauigkeit zwischen Werkstück und Strahl (Dilthey 2006).
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Abb. 16.56 Konventionell WIG geschweißt (Trumpf 2011)
Abb. 16.57 Laser-Wärmeleitschweißen (Trumpf 2011)
Gestaltungsregeln Fertigungstechnologie Fügen: Für die Fertigungstechnologie Fügen zeigt die folgende Tab. 16.5 einige relevanten Gestaltungsregeln auf. Zusätzlich sind die von der Maschine vorgegebenen Rahmenbedingungen für die Anwendung angegeben.
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16.6.3.4 Allgemeine Gestaltungsmöglichkeiten Abschließend werden Vorschläge für die Eckengestaltung dargestellt. Bei der Eckengestaltung von Blechbauteilen kann auf eine Vielzahl von unterschiedlichen Ansätzen zurückgegriffen werden. Abb. 16.58 zeigt die drei gebräuchlichsten Möglichkeiten zur Eckengestaltung. Die Anwendung dieser Möglichkeiten vereinfacht die Gestaltung von Blechbauteilen.
628 Tab. 16.5 Gestaltungsregeln und Rahmenbedingungen für das Fügen
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Abb. 16.58 Eckengestaltung an Blechbauteilen
Abb. 16.59 Fertigungsverfahren und deren anwendbare Blechdickenbereiche (vgl. Fischer 2002; Grote et al. 2007; Klocke 2006; Buchfink 2006; Dilthey 2006; Reisgen 2010; Trumpf 2007b; Schuler 1996)
16.6.4 Einsatzbereiche der Fertigungsverfahren Die meisten Fertigungsverfahren bieten eine gewisse Bandbreite bei ihrer Anwendung. Das anschließende Diagramm, s. Abb. 16.59, gibt einen Überblick über die für die Blechbearbeitung relevanten Fertigungstechnologien und die jeweils einsetzbaren Blechdickenbereiche.
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Um stärker zwischen den Einsatzbereichen der Verfahren differenzieren zu können, sind zusätzliche Fertigungsverfahren, wie das autogene Brennschneiden, das Plasmaschneiden und das Plasmaschweißen, aufgeführt. Hat der Balken im Diagramm eine rechteckige Form, ist das jeweilige Fertigungsverfahren ohne Einschränkungen anwendbar. Bei spitz zulaufenden Enden an den Balken handelt es sich um Blechdickenbereiche, auf die sich Fertiger stark spezialisiert haben, die allerdings keine breite, standardisierte Anwendung finden.
16.6.5 Beispiele Die konsequente Anwendung der oben aufgeführten Gestaltungsregeln ermöglicht es, eine aus genormten Halbzeugen gestaltete Konstruktion durch eine Blechkonstruktion zu ersetzen, die insbesondere hinsichtlich der Kosten deutliche Vorteile bietet. Häufig ist es auch möglich, das Gewicht zu reduzieren. In den folgenden Beispielen wird das Vorgehen zur Erstellung einer optimalen Blechkonstruktion schrittweise dargestellt. Bei den ersten beiden Beispielen liegt der Schwerpunkt auf einer wirtschaftlichen Optimierung. Im dritten Beispiel, bei dem ein bewegtes Bauteil betrachtet wird, steht eine Gewichtsreduzierung bei konstanter Steifigkeit im Fokus der Konstruktion.
16.6.5.1 Optimierung einfacher Bauteile Dieses Beispiel erläutert, wie durch konsequente Anwendung der oben aufgeführten Gestaltungsregeln und Nutzung moderner Fertigungstechnologien die Kosten deutlich reduziert werden können. Schon bei diesem einfachen Bauteil werden die Möglichkeiten einer konsequenten Blechkonstruktion deutlich. Im Folgenden ist das Vorgehen erläutert und in Tab. 16.6 wiedergegeben. Die Fertigungsschritte für die Ausgangskonstruktion sind • • • • • • •
Zuschnitt der Halbzeuge, Einbringen der Bohrungen, Entgraten der Bauteile, Ausrichten der Bauteile für den Schweißprozess, Spannen der Bauteile evtl. in einer Vorrichtung, Schweißen der Bauteile und Richten und Verputzen.
Unter Anwendung der Gestaltungsregel „Vorsehen von Fügehilfen“ wird der Positionieraufwand verkürzt, da die Fügehilfen das Positionieren erleichtern und die Aufgabe der Vorrichtung übernehmen. Die nächste Optimierungsstufe sieht eine Teilereduzierung vor.
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Tab. 16.6 Optimierungsschritte für die wirtschaftliche Optimierung einfacher Bauteile
• Reduktion der Teileanzahl, • einteiliges statt zweiteiliges Bauteil und • Schweißen entfällt noch nicht, dennoch liegt bereits ein hohes wirtschaftliches Optimierungspotenzial vor. Die letzte Optimierungsstufe bringt ein einteiliges Bauteil mit dem Verzicht auf den Schweißprozess hervor.
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• Durch Trennen in der Fläche können Schweißnähte in Biegungen überführt werden. Die Steifigkeit wird durch die Anbindung geschaffen, • ausreichend hohe Steifigkeit für den Einsatz und • weitere Möglichkeit der Steifigkeitserhöhung: Einbringen einer Versteifungssicke in der Biegezone während des Biegeprozess.
16.6.5.2 Optimierung komplexerer Bauteile Das zweite Beispiel zeigt den Optimierungsprozess eines etwas komplexeren Bauteils als im vorhergehenden Beispiel. Auch hierbei geht es um eine Reduktion der Kosten. Die Ursprungskonstruktion besteht in diesem Fall aus vier Einzelteilen. Folgende Ansatzpunkte zur Kostenreduktion lassen sich erkennen: • Rohr (kostenintensives Halbzeug) → großes wirtschaftliches Optimierungspotenzial • Ersetzen eines Rohres durch ein Blechteil → Kostenreduzierung, in diesem Fall, um ein Drittel Weitere Einflussgrößen sind • Länge des Rohres und • Anzahl der einzubringenden Bohrungen. Im ersten Optimierungsschritt werden unter Anwendung der Gestaltungsregel „Teileanzahl reduzieren“, die ursprünglich vier Halbzeugteile zu einem Blechbiegeteil zusammengefasst. Die Folgen sind • Reduktion der Anzahl der Bauteile und • nur noch zwei Schweißnähte statt vier Schweißnähte. Im zweiten Optimierungsschritt wird dann der Fügeprozess „Schweißen“ komplett ersetzt und die Anzahl der Biegungen reduziert, s. Tab. 16.7 oben. Die dritte Optimierungsstufe bringt zwar wieder eine Biegung mehr in das Bauteil ein, jedoch wird das Thema Verschmutzung verbessert. Im 4 Optimierungsschritt wird unter Anwendung der Gestaltungsregel „Kraftfluss optimieren“ dieser extrem verbessert, s. Tab. 16.7 unten.
16.6.5.3 Steifigkeitserhöhung und Gewichtsreduzierung eines bewegten Balkens Ziel ist eine optimierte Leichtbaukonstruktion bei gleichzeitiger Reduktion der Kosten eines bewegten Balkens, der Torsion- und Biegebelastungen ausgesetzt ist. Die klassische Halbzeugkonstruktion besteht aus zwei verschweißten Rohren, s. Abb. 16.60. An die Rohre werden die Leisten für die späteren Laufflächen angeschweißt. Würde die klassische Konstruktion mittels Halbzeugen beibehalten werden, wäre die einzige Möglichkeit, die Steifigkeit zu erhöhen, eine Erhöhung der Materialstärke der Rohre, da
16 Gestaltungsrichtlinien Tab. 16.7 Optimierungsschritte für die wirtschaftliche Optimierung komplexerer Bauteile
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Abb. 16.60 Skizze „bewegter Balken“ als Halbzeugkonstruktion
die äußeren Abmessungen gleich bleiben müssen. Unter Verwendung einer Blechblechkonstruktion und der Anwendung der Gestaltungsregel „Versteifung durch Rippen“, erfolgt eine Neukonstruktion des Bauteils. Die Neukonstruktion umfasst dabei folgende Schritte: • Äußerer Rahmen in C-Kantung, • Versteifung durch eingesteckte Querrippen, verteilt über die gesamte Länge nehmen die Torsionsbelastung auf, • Fügehilfen für eingebrachte Rippen (Reduktion des Positioniersaufwands), • Leisten für die Laufflächen weiterhin angeschweißt und • konventionelle Schweißverfahren. Im nächsten Optimierungsschritt wird die Blechdicke an weniger belasteten Stellen des Bauteils verringert. Dadurch kommt es zu einer Gewichtsreduktion, die keinen Einfluss auf die Steifigkeit hat. • Laserschweißen, da Verschweißung unterschiedlicher Blechdicken, notwendig ist • konventionelle Schweißverfahren weisen bei dieser Art der Verschweißung oft Probleme durch ihre hohe Wärmeeinbringung auf, • weitere Materialersparnis und somit Gewichtsreduktion durch Optimierung für Laserschweißprozess und • Schweißnähte im Stumpfstoß. Die „Integration von Halbzeugen“ als Gestaltungsregel bildet die Grundlage für die folgende Optimierung, s. Tab. 16.8. • • • •
Integration der Leisten in zwei Ecken des Balkens, Versteifung der Ecken, abermalige Gewichtsreduktion und Erhöhung des Trägheitsmoments durch Versteifung der beiden anderen Ecken.
16 Gestaltungsrichtlinien Tab. 16.8 Optimierung des Bauteilgewichts bei konstanter Steifigkeit
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16.7 Faserverbundgerecht: Konstruktion von Strukturbauteilen aus Faser-Kunststoff-Verbunden Olaf Helms Ein Faser-Kunststoff-Verbund (FKV) entsteht durch die Einbettung von langen oder endlosen, hochfesten Verstärkungsfasern in einer verbindenden Kunststoffmatrix (Schürmann, 2005). FKV stellen neben Stahl-, Aluminium- und Titanwerkstoffen eine weitere große und sehr vielfältige Gruppe an Strukturwerkstoffen dar, mit der dem Konstrukteur erweiterte technische und wirtschaftliche Realisierungsmöglichkeiten eröffnet werden. Besondere Eigenschaften wie etwa hohe spezifische Festigkeiten und Steifigkeiten, vielfältige Formgebungsmöglichkeiten und die vielen Optionen der Funktionsintegration sind Gründe für den zunehmenden Einsatz von FKV in der Luft- und Raumfahrttechnik, im Schienenfahrzeugbau, bei Windkraftanlagen, im Bootsbau, bei Sportfahrzeugen und Sportgeräten sowie im Sondermaschinenbau. Die mechanischen Eigenschaften und die spezifischen Verarbeitungsmöglichkeiten von FKV haben erheblichen Einfluss auf die Produktgestaltung und führen in der Regel zu deutlich anderen konstruktiven Lösungen als bei Einsatz von metallischen Werkstoffen. Daher stellt sich die Frage, mit welchen Arbeitsmethoden eine effiziente Produktentwicklung vorteilhaft unterstützt werden kann. Längst hat sich gezeigt, dass neben den klassischen Konstruktionsmethoden einige materialspezifische Methoden zu einer erfolgreichen Entwicklung von FKV-Strukturen beitragen können. Hierzu zählen etwa die funktionsorientierte Gliederung von Mischbauweisen, die tragwerksbezogene Bauteilsynthese und der interaktive Entwurfsprozess (Helms, 2006; Hufenbach & Helms, 2010, 2011).
16.7.1 Aufbau und Eigenschaften von Faser-Kunststoff-Verbunden Für die meisten höher beanspruchten Strukturen und Komponenten des Maschinenund Fahrzeugbaus haben sich bislang vor allem metallische Werkstoffe bewährt. Die Robustheit metallischer Bauteile ergibt sich nicht nur aus der tatsächlichen Festigkeit, sondern auch aus der Duktilität dieser Werkstoffe. So etwa kommt es in den Bereichen von Kerben und Fehlstellen durch plastisches Fließen zum vorteilhaften Ausgleich von Spannungsüberhöhungen. Im Unterschied dazu lässt sich die Festigkeit von spröden Werkstoffen wie z. B. von Gläsern auf Basis von Siliziumdioxyd oder von Kohlenstoff in Form von Graphit wegen der fehlenden Plastizität kaum für monolithische Strukturbauteile ausnutzen. Einzelne Fehlstellen wirken hier schnell als Keime für eine globale Rissausbreitung. Durch die Verarbeitung dieser spröden Werkstoffe zu relativ dünnen Fasern (Glasfaser: Ø 5–24 µm, Kohlenstofffaser: ∅ 5–10 µm; vgl. menschliches Haar: Ø 60 µm) kann die Fehlstellendichte in diesen Werkstoffen jedoch minimiert werden. Darüber hinaus entsteht durch die Einbettung dieser Fasern in eine Kunststoffmatrix ein FaserKunststoff-Verbund, der ein hohes Maß an Toleranz gegenüber einzelnen Fehlstellen
16 Gestaltungsrichtlinien
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Abb. 16.61 Typische Prozesskette für die Herstellung einer FKV-Strukur; Infiltration und Konsolidierung im RTM-Verfahren (Helms, 2017)
aufweist. Die nachgiebigere Matrix bietet in FKV eine effiziente Rissstopperfunktion, sodass sich einzelne Faserbrüche kaum auf die Bauteilfestigkeit auswirken können. Diese Eigenschaft führt auch zu relativ hohen Schwingfestigkeiten. Um Verstärkungsfasern wie z. B. Glas- oder Kohlenstofffasern im ingenieurtechnischen Maßstab handhaben zu können, werden in der Regel einige tausend Einzelfasern zu Garnen oder Rovings zusammengefasst. Für die Einbettung dieser Faserbündel in Kunststoffmatrizes haben sich verschiedene Urformverfahren etabliert, die je nach gewünschter Gestalt, Faserverstärkung und Stückzahl auszuwählen und anzupassen sind. Die Verarbeitung von Fasern und Kunstharzen zu FKV-Bauteilen ist in Abb. 16.61 exemplarisch anhand des Resin-Transfer-Moulding (RTM) dargestellt. Weitere Technologien sind in Abschn. 16.7.3 aufgeführt.
16.7.1.1 Verstärkungsfasern für Strukturbauteile Für Strukturbauteile kommen vor allem Glas- und Kohlenstofffasern zur Anwendung (Tab. 16.9). Bei geringen strukturmechanischen Anforderungen werden auch Naturfasern zur Verstärkung eingesetzt. Hochfeste Synthetikfasern wie z. B. Aramid-, Polyethylenoder PBO-Fasern sind für den Einsatz in biegeschlaffen Zugmitteln wie etwa Seilen oder Riemen sowie in Schutzbekleidungen geradezu prädestiniert, für Strukturbauteile haben diese Fasertypen jedoch eher geringe Bedeutung. Bei Sonderanwendungen mit speziellem thermischem oder medialem Anforderungsprofil kommen ferner Quarz- und Keramikfasern zum Einsatz. Glasfasern sind in verschiedenen Qualitäten verfügbar, wobei Bezeichnungen nach ISO 2078 genormt sind (DIN EN ISO 2078, 2016). E- und E-CR-Glasfasern weisen für die meisten Anwendungen das günstigste Preis-Leistungsverhältnis auf. R- und S-Glasfasern bieten etwas höhere Steifigkeiten und Festigkeiten, sind wegen des höheren Preises jedoch eher bei Sonderanwendungen der Luft- und Raumfahrttechnik zu finden. Glasfasern werden bei höher beanspruchten Bauteilen vor allem als Endlosfaser- oder
638
B. Bender et al.
Tab. 16.9 Ausgewählte Verstärkungsfasern und mechanischen Eigenschaften (Herstellerangaben) R-Glasfaser E-CR(3B, HiPerGlasTex H2020) faser (3B, SE2020)
Kohlenstofffaser (SGL, C T50-4.4)
Kohlenstofffaser (Toray, Torayca M40J)
Kohlenstofffaser (Mitsubishi, Dialead K13C6U)
Precursor
―
―
Polyacrylnitril
Polyacrylnitril
Pech
Filamentzahl
(580– 4.100)
(2.050/4.100) 50.000 = 50k
6k/12k
6k
Tex-Zahl
g/km 300– 4.800
1.200/2.400
(3.420)
(225/450)
(760)
Filament-Ø
µm
17
7
5
8,6
Dichte
g/cm3
2,58
2,58
1,78
1,77
2,18
Zugfestigkeit
MPa
2.400
2.800
4.400
4.400
3.600
E-Modul
GPa
73
89
255
377
900
€
€€
€€€€€ €€€
€€€€€ €€€€€ €€€€€ €€€€€
€€€€€ €€€€€ €€€€€ €€€€€ €€€€€ €€€€€ €€€€€ €€€€€
Spezifischer Preisvergleich
16–24
Textilverstärkung verarbeitet, wobei eine beanspruchungsgerechte Ausrichtung der Fasern angestrebt wird. Die Faserlängen ergeben sich bei solchen Verstärkungen aus den Bauteilabmessungen oder aus der Größe der ausgewählten textilen Halbzeuge und Vorformlinge (Preforms). Derartige glasfaserverstärkte Kunststoffe (GFK) eignen sich vor allem für die reproduzierbare Herstellung von großen Schalenstrukturen wie z. B. von Windrotorblättern oder Bootsrümpfen mit hoher Formgenauigkeit und Oberflächengüte. Im Automobilbau steht dagegen eine kostengünstige Fertigung mit hohen Taktraten im Vordergrund. Um die effiziente Verarbeitung von Glasfaserverstärkungen mittels Pressoder Schäumtechnik in der Großserienfertigung zu ermöglichen, kommen diese Verstärkungsfasern daher auch als geschnittene Langfasern mit Faserlängen von etwa 20 bis 50 mm zur Anwendung. Geringere Festigkeiten aufgrund der weniger beanspruchungsgerechten Faseranordnung werden dabei in Kauf genommen. In einigen Fällen können Lang- und Endlosfaserverstärkungen in einem Pressbauteil kombiniert werden, um höhere mechanische Eigenschaften mit großem Gestaltungsfreiraum in Einklang zu bringen. Abb. 16.62 zeigt exemplarisch eine presstechnisch gefertigte PKW-Sitzschale aus glasfaserverstärktem Polypropylen mit Gewebe- und Langfaseranteilen. Mechanische Kennwerte für ausgewählte GFK-Konfigurationen sind in Tab. 16.10 angegeben. Kohlenstofffaserverstärkte Kunststoffe (CFK) kommen nicht nur wegen ihrer guten Formgebungsmöglichkeiten, sondern vielmehr wegen ihrer hervorragenden spezifischen
16 Gestaltungsrichtlinien
639
Abb. 16.62 Stäbchengranulat zur Herstellung von Langfaser-Pressmassen (links); am Institut für Leichtbau und Kunststofftechnik (ILK) der TU Dresden entwickelte, prototypische hybride PKW-Sitzschale mit Langfaser- und Textilverstärkung (rechts) (Hufenbach et al., 2010; Hufenbach & Helms, 2011)
Festigkeiten und Steifigkeiten zunehmend für Hochleistungsbauteile zum Einsatz (vgl. Tab. 16.11). Um die mechanischen Eigenschaften vorteilhaft ausnutzen zu können, müssen die Fasern im Bauteil beanspruchungsgerecht orientiert werden. Daher werden Kohlenstofffasern bevorzugt als gerichtete Endlosfaser- oder Textilverstärkung eingesetzt. Gängige Textilhalbzeuge zeigt Abb. 16.63. Die Verkehrsflugzeuge Airbus A350 und Boeing 787 bestehen z. B. zu etwa der Hälfte aus CFK, um Leichtbaugrade gegenüber klassischen Aluminium-Bauweisen zu steigern (Plastverarbeiter, 2013; Warmuth, 2010). Weitere Einsatzgebiete für CFK sind in Sportgeräten, Sportwagen, Sportbooten, Sport- und Geschäftsflugzeugen sowie zunehmend auch im Maschinen- und Anlagenbau zu sehen. Zu den bewährten Industrieanwendungen für CFK zählen z. B. hochsteife, schnelllaufende Walzen in Papiermaschinen. Abb. 16.64 zeigt exemplarisch ein prototypisches Leichtbau-Transportfahrrad mit CFK-Rahmen und CFK-Transportbox.
16.7.1.2 Polymere Matrixwerkstoffe Polymere Matrixwerkstoffe können grob in Duroplaste und Thermoplaste gegliedert werden, wobei in beiden Gruppen teurere Hochleistungswerkstoffe und einfachere Materialien für Massenanwendungen zu finden sind (Übersicht in Tab. 16.11). Wesentliche Qualitätsmerkmale von Matrixwerkstoffen sind eine hohe Bruchdehnung, die deutlich über der Bruchdehnung der Faserverstärkung liegen sollte, hohe Schlagzähigkeit, eine hohe Schub- und Haftfestigkeit zur Gewährleistung ausreichender Zwischenfaser-Kennwerte sowie günstige Verarbeitungsparameter. Für das Infiltrieren von Endlosfaser- und Textilverstärkungen sind niedrigviskose Kunstharze prädestiniert, die in der Regel durch chemische Reaktionen zwischen mehreren Harzkomponenten (bei Epoxidharzen z. B. Harz, Härter und Beschleuniger) zu duroplastischen Kunststoffen aushärten. Im Allgemeinen kommen die hochwertigeren
km
km
Rm1/(ρ*g)
Rp0,2/(ρ*g)
Reißlänge
MPa
Rm3
km
MPa
Rm2
E1/(ρ*g)
MPa
Zugfestigkeit Rm1
Dehnlänge
MPa
Rp0,2
GPa
G12
GPa
E3
Dehngrenze
GPa
G-Modul
GPa
E1
E2
E-Modul
g/cm3
ρ
Dichte
Richtungsabhängigkeit
9
-
2.744
1.000
1.000
1.000
700
79
210
210
210
7,8
isotrop
Stahl 25CrMo4 Dicke 200
Nein
Ja
mittel
X
X 10-100 X
Ja
Nein
groß
X
X
Ja
Nein
groß
< 10
Multi-Jet Modeling
X
X 10-100 X
Ja
Ja
mittel
Zwei-Photonen-Polymerisation Digital Light Processing
X X
(X) < 1 X 10-100 X
Ja Ja
Nein Nein
klein mittel
Abb. 16.147 Konstruktionskatalog additiver Fertigungsverfahren (Lachmayer et al. 2016)
des Materials (Pulver, Strang, Folie oder Flüssigkeit) sowie dem eingesetzten Bindemechanismus (direktes thermisches Verschmelzen, Verschmelzen über Binder, Verkleben oder Aushärten mittels UV). Prinzipiell sind die auf Flüssigkeit oder Pulver basierten Verfahren sowohl mittels Pulver-/Flüssigkeitsbett als auch durch Zuführung über Düsen realisierbar. Der Konstruktionskatalog unterscheidet im Zugriffsteil über die zu verarbeitenden Materialien, die Präzision der Schichten, den Einsatz von Stützstrukturen sowie typische Verarbeitungsgeschwindigkeiten und Bauraumgrößen. Neben zahlreichen Veröffentlichungen sind die Verfahren der Additiven Fertigung auch in der VDI-Richtlinie 3405 beschrieben (VDI3405 2014). Deshalb werden im Folgenden nur exemplarisch der Aufbau und Bauprozess für das Fused Layer Modeling (FLM) zur Verarbeitung thermoplastischer Filamente sowie das Selektive Laserstrahlschmelzen (SLM) zur Erstellung metallischer Bauteile aus Pulver erklärt.
762
B. Bender et al. Materialvorrat in Drahtform Beheizte Düse Linie-für-Linie-Auftrag
Generiertes Bauteil Stützkonstruktion Bauplatte Bauplattform mit Hubtisch
Abb. 16.148 Aufbau einer Anlage zum Fused Layer Modeling (FLM) (Lachmayer et al. 2017; Lachmayer et al. 2018)
Zu erwähnen bleibt noch, dass die Verfahrensentwicklung keineswegs abgeschlossen ist, sondern neben Materialien, Effekten und Qualität auch der Aufbau von neuen Maschinenkonzepten die fortschreitende Entwicklung der Additiven Fertigung prägt. Das meistgenutzte additive Fertigungsverfahren im Jahr 2018 war das Fused Layer Modeling (FLM), auch als Fused Deposition Modelling (FDM) bezeichnet, mit dem Kunststofffilament verarbeitet werden kann. Aufgrund geringer Anschaffungsund Fertigungskosten sowie des einfachen Aufbaus und Umbaus der notwendigen Maschinen, ist dieses Verfahren beim Endkunden, insbesondere in der MakerCommunity, am weitesten verbreitet. Der Aufbau einer FDM-Anlage ist in Abb. 16.148 schematisch dargestellt. Die beheizten Düsen verfahren für den Schichtauftrag in der x–y-Ebene. Das fadenförmige Ausgangsmaterial (Filament) wird durch die beheizten Düsen aufgeschmolzen, sodass die Konturlinien nacheinander auf die Bauplattform abgelegt werden. Nachdem eine Schicht aufgetragen ist, verfährt die Bauplattform in negativer z-Richtung um die Schichtdicke h. Mitunter verfügen Anlagen zum Fused Layer Modeling über zwei Düsen, wobei eine für den Materialauftrag des Bauteils und die andere entweder für das Generieren der Stützstrukturen oder für ein zweites Material verwendet wird. Dabei können für Stützstrukturen spezielle Materialien verwendet werden, die sich leicht auswaschen lassen, um keine Rückstände am Bauteil zu hinterlassen. Im Vergleich zum Standardfilament als Stützstruktur, wird dadurch eine bessere Oberflächenqualität und vereinfachte Nachbearbeitung realisiert. Mehrere Düsen kommen auch zum Einsatz, um zum Beispiel mehrfarbige Bauteile oder Bauteile unterschiedlicher Materialqualität zu erstellen. Für viele Anwendungen von Strukturbauteilen ist die Additive Fertigung metallischer Bauteile wesentlich. In der Industrie haben sich dabei besonders das Selektive Laserstrahlschmelzen (SLM, englisch Selective Laser Melting) sowie das Elektronenstrahlschmelzen etabliert. Diese Verfahren zeichnen sich durch geringere Schichtdicken, höhere Gestaltungsfreiheit im Vergleich zu Pulverauftragsschweißen, sowie die Verarbeitungsmöglichkeit von schwierig zu schweißenden Metallen wie Aluminium und Titan aus. Das Selektive Laserstrahlschmelzen, dargestellt in Abb. 16.149, eignet sich zur Herstellung von metallischen Strukturbauteilen mit hohen Anforderungen an
16 Gestaltungsrichtlinien
763 x-y Scanner
Laser
Verfestigungszone
Bauteil Beschichter
Stützstruktur
Pulvervorratsbehälter
Überlaufbehälter z
Bauplattform Hubtisch
Abb. 16.149 Aufbau einer Anlage zum Selektiven Laserstrahlschmelzen (SLM) (Lachmayer et al. 2017; Lachmayer et al. 2018)
Oberflächengüte und Formgenauigkeit. Bei diesem pulverbettbasierten Verfahren, werden die Pulverkörner durch einen Laser thermisch aktiviert und dadurch miteinander verschmolzen. Mithilfe des x–y-Scanners wird der Laserstrahl umgelenkt, um die Kontur im Pulverbett zu belichten und aufzuschmelzen. Anschließend wird die Bauplattform um eine Schicht in z-Richtung abgesenkt. Gleichzeitig wird das Pulver aus dem Pulvervorratsbehälter nach oben befördert, sodass der Beschichter eine neue Pulverschicht auftragen kann. Charakteristisch für dieses Verfahren ist, dass für Überhänge, die einen bestimmten Winkel unterschreiten Stützstrukturen verwendet werden müssen. Diese Stützstrukturen dienen ebenfalls zur Wärmeabfuhr aus dem Bauteil und helfen Wärmeverzug vorzubeugen. Um die Oxidation des Metalls zu vermeiden wird der Bauraum mit Schutzgas wie Argon oder Stickstoff geflutet. Nach dem Bauprozess wird das Bauteil aus der Prozesskammer entnommen. Moderne Anlagen bieten dazu einen automatischen Wechsel der Bauzylinder (bestehend aus Bauplattform, Bauteil und Pulverbett) an. Der entnommene Bauzylinder wird anschließend in eine Entpackstation befördert, in der das Post-Prozess ergonomisch durchgeführt wird.
16.13.2.3 Post-Prozess und Finishing Im Post-Prozess wird das Bauteil von der Bauplattform getrennt und von überschüssigem Material gereinigt. Das überschüssige Material, wie das nichtaufgeschmolzene Pulverbett beim SLM, wird aufbereitet und für den nächsten Baujob wiederverwendet. Anschließend erfolgt per Sichtprüfung eine erste Einschätzung ob das Bauteil weiter nachbearbeitet werden kann. Kriterien sind beispielsweise Formabweichungen wie eingefallene Überhänge oder abgelöste Stützstrukturen durch Wärmeverzug. Je nach Fertigungsverfahren und Bauteilanforderung schließt sich ein mehr oder weniger aufwendiges Finishing an. Dies beinhaltet die mechanische Nachbearbeitung, wie das Entfernen der Stützstrukturen sowie in der Regel auch die spanende Aufbereitung der Funktionsflächen. Zur Homogenisierung des Materials sowie zum Abbau innerer
764
B. Bender et al.
Spannungen kann abhängig vom gewählten additiven Fertigungsverfahren das Bauteil einer Wärmebehandlung unterzogen werden. Weiterhin ist eine chemische oder optische Nachbearbeitung möglich (Lippert 2018a). Abschließend erfolgt eine Qualitätskontrolle.
16.13.3 Gestaltungsziele: Potenziale in der Produktentwicklung Durch die Additive Fertigung wird eine hohe Gestaltungsfreiheit realisiert, die zu neuen Potenzialen in der Produktentwicklung führt. Dieser Zusammenhang hat unmittelbaren Einfluss auf die Produktgestaltung und wurde erstmals von Hague et al. beschrieben (Hague et al. 2003, 2004). Aus den in unterschiedlichen Quellen genannten vielfältigen Vorteilen der Additiven Fertigung können neben der Möglichkeit Prozesse zu beschleunigen im Wesentlichen zehn Gestaltungspotenziale zusammengefasst werden. Diese sind in Tab. 16.23 strukturiert zusammengefasst (Lippert 2018a) und können als Ausgangspunkt für die Gestaltung additiv zu fertigender Bauteile verstanden werden. Sind Tab. 16.23 Gestaltungsziele für Selektives Laserstrahlschmelzen (Lippert 2018 a) #
Gestaltungsziel
Beschreibung
1
Materialersparnis
Reduzierung des Materialeinsatzes sowie Ressourceneinsparung durch Erhöhung der Materialausnutzung
2
Funktionsintegration
Umsetzung einer möglichst großen Anzahl technischer Funktionen durch einen minimalen Einsatz an Bauteilen
3
Dünnwandigkeit
Einsatz von dünnwandigen und filigranen Geometrien zur Reduzierung des Gewichts bei konstanten Rahmenbedingungen
4
Kraftflussanpassung
Materialanordnung entsprechend der Beanspruchungen zur Gewichtsreduktion oder Verbesserung der mechanischen Bauteileigenschaften
5
Integrierte Kanäle
Verwendung von innenliegenden Kanälen für die Erfüllung spezifischer Anwendungen, wie die Durchströmung mit Flüssigkeiten oder die Integration von Kabelführung
6
Mass Customization
Adaption eines Bauteils an spezifische Kundenanforderungen durch individuelle Lösungen oder der Einbeziehung des Kunden in den Produktentwicklungsprozess
7
Design
Umsetzung von Freiformflächen sowie Erhöhung der Ergonomie und Nutzbarkeit eines Bauteils
8
Net-Shape Geometrien
Umsetzung von vordefinierten, komplizierten Fertigteilflächen auf Basis von Simulationsergebnissen, wie z. B. strömungsoptimierte Flächen oder Lichtverteilungen
9
Lokale Eigenschafts- Lokale Einstellung der Eigenschaften eines Voxels durch Materialanpassung gradierung oder Parametervariation
10 Innere Effekte
Umsetzung von aktorischen oder sensorischen Eigenschaften durch Pulvereinlagerungen, Variation des Aufschmelzverhaltens oder geometrischen Maßnahmen
16 Gestaltungsrichtlinien
765
eines oder besser mehrere der genannten Gestaltungsziele für die anstehende Entwicklung signifikant, so kann gegebenenfalls ein erheblicher technischer Mehrwert im Vergleich zur konventionellen Fertigung realisiert und dadurch die Wirtschaftlichkeit der neuen Lösung gesteigert werden. Sinnvolle Lösungen ergeben sich dabei selten durch das Nachdrucken ansonsten konventionell gefertigter Bauteile, sondern meist erst wenn größere Änderungen zugelassen oder sogar völlige Neukonstruktionen durchgeführt werden. Aufbauend auf den Gestaltungszielen, muss spezifiziert werden, wie diese Ziele umgesetzt und welcher konkrete Mehrwert dadurch abgeleitet werden kann. Basis dafür bildet zum Beispiel die Potenzialsystematik, bestehend aus dem Mehrwert (Nutzenversprechen), den konstruktiven Freiheiten (Hebeln) und deren Verflechtungen (Kumke 2018). Ein Nutzenversprechen ist beispielsweise eine Gewichtsreduzierung, die durch mehrere Hebel, wie innere Strukturen, Topologieoptimierung und reduzierte Wandstärken realisiert werden kann. Den Gestaltungszielen aus Tab. 16.23 können somit eine Reihe von konstruktiven Freiheiten zugeordnet werden, die zu ihrer Umsetzung beitragen. Der Zusammenhang von konstruktiven Freiheiten, Gestaltungszielen und Nutzenversprechen ist in Abb. 16.150 von außen nach innen dargestellt. Die einzelnen Nutzenversprechen werden von den Gestaltungszielen aus mit Pfeilen verbunden. Wirtschaftliche Gesichtspunkte werden dabei nicht berücksichtigt, sind aber sicherlich neben technischen Aspekten wesentliches Bewertungskriterium bei der Lösungsauswahl (siehe dazu auch TechnischWirtschaftliche-Bewertung). Wie leicht zu erkennen ist, sind die Zusammenhänge äußerst kompliziert und bedürfen deshalb einer weiteren methodischen Durchdringung.
16.13.4 Konstruktionsmethodik für die Additive Fertigung Die vielschichtigen Aspekte der Additiven Fertigung haben unmittelbare Auswirkungen auf die Produktentwicklung und Konstruktion. Dabei kann die Konstruktionsmethodik keinen geschlossenen Lösungsansatz bieten, sondern dem Konstrukteur lediglich Unterstützung durch das Bereitstellen und Gliedern von Prozessen und Vorgehen, Heuristiken und Methoden, Werkzeugen, Spezifikationen und Geschäftsmodellen geben. Auch muss der Konstruktionsprozess für die Additive Fertigung nicht neu erfunden werden. Vielmehr können entlang eines prozessualen Vorgehens zum Beispiel nach VDI 2221 die heute schon verfügbaren Hilfsmittel allokiert werden und für zukünftige Erkenntnisse ein Rahmen bereitgestellt werden. Das Design for Additive Manufacturing (DfAM) ist ein junges Forschungsfeld, welches sich dem Konstruktionsprozess und den zugehörigen Hilfsmitteln und Methoden für die Additive Fertigung annimmt. In der Literatur ist so eine Vielzahl von Ansätzen beschrieben, die während der Bauteilgestaltung berücksichtigt werden können. Dazu zählen Ansätze zur Ausnutzung der konstruktiven Freiheiten und Potenziale zur Erweiterung des Lösungsraums sowie methodisch aufbereitete Übersichten der Fertigungsrestriktionen, mit denen der Lösungsraum eingeschränkt wird. Auch werden Ansätze aufgestellt, die sich mit der Auswahl von Anwendungsgebieten, von Bauteilen und von
Materialersparnis
Einbetten zusätzlicher Komponenten Funktionserweiterung Oberflächentexturen Kleine Abstände zwischen Features In sich bewegliche Elemente Hinterschnitte Freiformflächen Integralbauweise/ Bauteilzahlreduktion
Mass Customization
Funktionsanpassung
Montageerleichterung
Konturnahe Kühlung Oberflächentexturen Große Querschnittsänderungen Freie Radiengestaltung Hinterschnitte Freiformflächen Innere Strukturen Poröse Strukturen
Integrierte Kanäle
Durchströmungsverbesserung
Umströmungsverbesserung Wärmeübergangsverbesserung Funktionserweiterung
Isolationsverbesserung
Energieabsorptionsverbesserung
Höhere Effizienz bei der Energiewandlung und Transport
Verbesserung in Design, Optik und Ästhetik
Reduzierter Nachbearbeitungsaufwand
Zuverlässigkeitssteigerung
Nachhaltigkeitsverbesserung Gentelligente Bauteile Spannungsreduzierung Gewichtsreduzierung Dämpfungsverbesserung
Innere Effekte
Abb. 16.150 Gestaltungsziele mit zugeordneten Hebeln und technischem Mehrwert
Äußere Gitterstrukturen Oberflächentexturen Hinterschnitte Freiformflächen Kleine Abstände zwischen Features
Design
Konturnahe Kühlung In sich bewegliche Elemente Funktionsintegration Selbsttragende Überhänge Freiformflächen Innere Strukturen
Net-Shape Geometrien
Lokale Eigenschaftsanpassung
Jedem Voxel unterschiedliche Eigenschaften zuweisen Kontinuierliche Materialübergänge Variation der Bauteildichte Pulvereinlagerung Multimaterialbauweise Innere Strukturen Wandstärkenkombination
Kontinuierliche Materialübergänge Einbetten zusätzlicher Komponenten Pulvereinlagerung Multimaterialbauweise
Wandstärkenkombination Fügestellenreduktion Sandwichbauweise Kleine Abstände zwischen Features Multimaterialbauweise Dünnwandigkeit Innere Strukturen Integralbauweise / Bauteilzahlreduktion
Bionisches Design Topologie Optimierung Hinterschnitte Fügestellenreduktion Freiformflächen Innere Strukturen Wandstärkenkombination Kontinuierliche Materialübergänge
Kraftflussanpassung
Bionisches Design Innere Strukturen Kleine Abstände zwischen Features Freiformflächen
Dünnwandigkeit
Funktionsintegration
Konturnahe Kühlung In sich bewegliche Elemente Kleine Abstände zwischen Features Multimaterialbauweise Freiformflächen Innere Strukturen Einbetten zusätzlicher Komponenten Integralbauweise/ Bauteilzahlreduktion
766 B. Bender et al.
Aufgabenstellung
767
Design with X
Opportunistisches DfAM
Größe des Lösungsraums
16 Gestaltungsrichtlinien
Design for X
Lösung
Restriktives DfAM
Abb. 16.151 Kombination von Design with X und Design for X Ansätzen zur Lösungsfindung (Kumke 2018)
Herstellungsverfahren für die Additive Fertigung beschäftigen. Des Weiteren existieren konkrete Ansätze, mit denen ein für die Additive Fertigung ausgelegtes Bauteil hinsichtlich der Herstellbarkeit mittels bestimmter additiver Verfahren analysiert werden kann. Da der Mehrwert nur durch die Einhaltung der auch in Bezug auf die Additive Fertigung existierenden Restriktionen bei gleichzeitiger Ausnutzung der Potenziale erreicht wird, werden in neueren Methoden die Ansätze miteinander kombiniert – siehe Abb. 16.151. Der Grundgedanke basiert auf der Idee, den Lösungsraum in der Konzeptphase durch die Potenziale der Additiven Fertigung erst zu vergrößern (Design with X) und anschließend in der Entwurfs-/Ausarbeitungsphase einzuschränken (Design for X). Die Methoden zur Additiven Fertigung können in das allgemeine Modell des Produktentwicklungsprozesses der VDI 2221 eingeordnet werden. Dabei bietet es sich an, die Methoden den verschiedenen Aktivitäten der Produktentwicklung zuzuordnen (siehe Tab. 16.24). Damit wird keine starre Abfolge der Methoden und Prozessschritte festgelegt, sondern eine flexible Auswahl von geeigneten Methoden unterstützt, die je nach unternehmensspezifischen Entwicklungsprozess variiert. Die in Tab. 16.24 fettgedruckten Methoden und Hilfsmittel werden im Text beschrieben und sind mit Verweisen versehen. Methodeneinsatz im Entwicklungsprozess Im Folgenden wird eine Auswahl an Methoden und Hilfsmitteln, die den Konstrukteur bei seiner Arbeit unterstützen, beschrieben. Die vorgestellten Methoden zielen auf das effiziente Erreichen eines zuvor definierten Sollzustands ab und sind in den verschiedenen Aktivitäten der VDI 2221 einsetzbar. Checklisten: Checklisten sind ein einfaches Hilfsmittel, um Erfahrungswissen zu transferieren und eignen sich für alle Phasen des Entwicklungsprozesses. Sie dienen zum Beispiel zur Abfrage, ob konstruktive Freiheiten und Restriktionen berücksichtigt wurden oder ob zur Formgebung die Natur als Vorbild verwendet wurde. Da Gestaltungsregeln sehr umfangreich sein können, führt Kumke die 10 wichtigsten Gestaltungsregeln für die Additive Fertigung als Checkliste wie folgt aus (Kumke 2018):
768
B. Bender et al.
Tab. 16.24 Methodensammlung für die Additive Fertigung nach VDI 2221 Aktivitäten in der Produktent- Methoden und Hilfsmittel mit Bezug zur Additiven Fertigung wicklung nach VDI 2221 (Jahr 2018) Klären und Präzisieren des Problems bzw. der Aufgabe
Business Case der Additiven Fertigung Anwendungsbereiche identifizieren Abb. 16.144 Priorisieren von Gestaltungszielen Abb. 16.150
Ermitteln von Funktionen und deren Strukturen
Bionik und Tritz basierte Inventionsmethodik
Suchen nach LösungsMethode der einteiligen Maschine prinzipien und deren Strukturen Bionik und Tritz basierte Inventionsmethodik Anwendungsbeispiele Abschn. 16.13.6 Anschauungsobjekte und Moodboards Abb. 16.152, Abb. 16.153 Potenzialsystematik Abb. 16.150 Prozesskette der Additiven Fertigung Abb. 16.146 Additive Fertigung im Produktentstehungsprozess Abb. 16.145 Bewerten und Auswahl von Lösungskonzepten
VDI 2225
Gliedern in Module und Schnittstellendefinition
Potenzialabschätzung der AF – Einflussfaktoren auf die Bauteileignung – Bewertungskriterien zur Evaluierung der Bauteileignung Methode der einteiligen Maschine Potenzialsystematik Abb. 16.150 Konstruktionskatalog additiver Fertigungsverfahren Abb. 16.147
Gestalten der Module
Anwendungsbeispiele Abschn. 16.13.6 Anschauungsobjekte und Moodboards Abb. 16.152, Abb. 16.153 FEM-Simulation und Optimierung – Topologieoptimierung – CFD-Simulation – Lebensdauersimulation, etc. Gestaltungsrichtlinien Abschn. 16.13.5 Potenzialsystematik Abb. 16.150 Innere Strukturen Fertigungsprozesssimulation Evaluierung der Gestaltungsziele an realisierten Bauteilen Auswahl einer Entwicklungsumgebung
Ausarbeiten der Ausführungsund Nutzungsangaben
Insbesondere 3D-Modelle überwiegend in STL
Weitere kontextspezifische Aktivitäten
Checklisten
16 Gestaltungsrichtlinien
769
• Genauigkeit/Auflösung, • Stützstrukturen, • Oberflächenqualität, • anisotrope Werkstoffeigenschaften, • Pulverentfernung aus Hohlräumen/Kanälen, • maximale Bauteilgröße, • minimale Wandstärke, • Spaltmaße für Gelenke, • Eingeschränkte Materialauswahl, • Nachbearbeitungsverfahren in Konstruktion berücksichtigen wie z. B. Aufnahme fürs Fräsen Gestaltungsrichtlinien/-regeln Während des Gestaltungsprozesses müssen Gestaltungsrichtlinien kontinuierlich überprüft und eingehalten werden. Dieses notwendige Hilfsmittel trägt in hohem Maße zur fehlerfreien Herstellung von Bauteilen bei. Allgemeine Gestaltungsrichtlinien werden im Folgenden in Form eines Konstruktionskataloges ausführlich behandelt. Spezifische Gestaltungsregeln ergeben sich aus dem jeweils konkret gewählten Verfahren und der einzusetzenden Maschine. Potenzialsystematik Für die Umsetzung der Potenziale in der Additiven Fertigung müssen diese mit den konstruktiven Freiheiten bzw. Hebeln in Verbindung gebracht werden. Als Hilfestellung kann dazu Tab. 16.24 verwendet werden. Mit der Definition von Gestaltungszielen werden die Potenziale in der Additiven Fertigung verfolgt. Gleichzeitig müssen immer wieder Bewertungen zur Verdichtung des Lösungsraumes durchgeführt werden. Hierzu können spezifische Fallbasen und Lessons Learned hilfreich sein. Es kommen aber auch alle ansonsten bekannten Bewertungsverfahren zum Einsatz. Als Kriterien für Bewertung und Auswahl gelten allgemein die Anforderungen und Entwicklungsziele sowie in speziellen Fällen hier auch der Innnovationsgrad der Lösung mittels Additiver Fertigung, welcher möglichst hoch sein sollte. Anschauungsobjekte Digitale und physische Anschauungsobjekte eignen sich insbesondere, um sich an konkreten Beispielen mit den konstruktiven Potenzialen sowie Restriktionen vertraut zu machen. Durch die Visualisierung und Haptik kann sich der Konstrukteur in kurzer Zeit einen guten Überblick verschaffen, um Anregungen und Ideen für den eigenen Entwicklungsprozess zu generieren. Des Weiteren können bei physischen Objekten die Oberflächeneigenschaften besser beurteilt werden. Ebenfalls eignen sich Moodboards wie in Abb. 16.152 und Abb. 16.153 dargestellt, um neue Reize zu setzen.
770
B. Bender et al.
Abb. 16.152 Moodboard für die Additive Fertigung, Quelle: 1) Trumpf, 2) DMG Mori, 3) SLM Solutions, 4) IPeG Hannover
16 Gestaltungsrichtlinien
771
Abb. 16.153 Moodboard für die Additive Fertigung, Quelle: 1) DMG Mori, 2) SLM Solutions, 3) Prof. Kowalski, 4) EOS, 5) IPeG Hannover
772
B. Bender et al.
Fallbeispieldatenbank Fallbeispieldatenbanken für die Additive Fertigung sind in Klahn und Meboldt, Grund, Gebhard, Kumke und vielen weiteren Quellen dargestellt (Klahn et al. 2018; Grund 2015; Gebhardt 2016; Kumke 2018). Durch die Analyse der Fallbeispiele können neue Ideen für das aktuelle Entwicklungsprojekt abgeleitet werden. Im Folgenden werden auch hier zwei Anwendungsbeispiele beschrieben. Kreativitätsmethoden Grundsätzlich sind wie immer in Innovationsprozessen sowohl intuitive als auch diskursive Kreativitätsmethoden auch bei der Entwicklung additiv zu fertigender Bauteile und der zugehörigen Prozesse sinnvoll einsetzbar. Besondere Bedeutung kommt dabei bionischen Methoden zu, da wir mittels Additiver Fertigung in vielen Fällen natürliche Vorbilder besser nachempfinden können als mittels klassischer Fertigungstechnologien. Interessant ist in diesem Kontext auch die Strategie der einteiligen Maschine als Methode um eine möglichst große Funktionsintegration zu erreichen (Kumke 2018). Auch dies kann mittels additiven Verfahren in der Regel besser realisiert werden, als mittels klassischer Fertigung und wird mit der fortschreitenden Entwicklung multimaterieller Bauteile und gradierter Materialien weiter Raum greifen. Der gezielte Einsatz von Gestaltvariationsoperationen (Roth 2000) oder der Produktarchitekturvariation können ebenfalls geeignete Methoden sein, um Denkfurchen zu verlassen und Potenziale der Additiven Fertigung zu heben. Methodisch unterstützte Strukturoptimierung Die Topologieoptimierung als Möglichkeit der Gestaltlösungssuche mittels numerischer Methoden wird aktuell in vielen Bereichen der Industrie erfolgreich eingesetzt. Herausfordernd ist dabei häufig, dass die gefundenen Formen nur schwer herstellbar sind und deshalb oft stark vereinfacht werden müssen. Die Additive Fertigung bietet hier die Möglichkeit, die Form viel besser an die Lastpfade anzupassen als klassische Technologien und damit dem Prinzip der homogenen Beanspruchung sehr nahe zu gestalten und Kräfte nicht spazieren führen zu müssen. Ein weiterer systematischer Vorteil der Additiven Fertigung liegt im Einsatz innerer Strukturen, wie sie zum Beispiel bei Knochen in der Natur selbstverständlich sind. Auch durch diese Möglichkeit können Strukturen zum Beispiel ausgehend von äußeren räumlichen Begrenzungen an Lastfälle adaptiert und optimiert werden. Eine Auswahl an inneren Strukturen sind beispielsweise Waben-, Kieselalgen-, Spinnennetz- und Bambusstrukturen. Weitere Gestaltungsmethoden Neben den hier explizit diskutierten Methoden können selbstverständlich auch alle anderen Gestaltungsprinzipien (Symmetrie, Kerbfreiheit, Lastausgleich, …) im Zusammenhang mit der Additiven Fertigung sinnvoll angewandt werden. Außerdem sei darauf hingewiesen, dass sich in Bezug auf die Verfahren der Additiven Fertigung durch Parametervariation von zum Beispiel Pulverkörnung, Laserleistung und
16 Gestaltungsrichtlinien
773
Baugeschwindigkeit oft erstaunliche Unterschiede in Bezug auf Prozesszeit, Kosten, Bauteilgestalt und Bauteilqualität einstellen lassen.
16.13.5 Fertigungsgerechte Gestaltung Ein Schwerpunkt des Designs für die Additive Fertigung (DfAM) waren bisher Richtlinien zur fertigungsgerechten Gestaltung. Zwar genießt die Additive Fertigung eine hohe Gestaltungsfreiheit, jedoch existieren auch bei diesen Fertigungsverfahren fertigungstechnische Restriktionen, auf die an dieser Stelle detailliert eingegangen werden soll. Ziel des Abschnittes ist es, dem Konstrukteur eine Regelsammlung für den Konstruktionsprozess bereitzustellen. Dies erfolgt am Beispiel des Selektiven Laserstrahlschmelzens (SLM). Da sich die Gestaltungsrichtlinien zum Teil widersprechen oder stark gegenseitig beeinflussen empfiehlt es sich Gestaltungsrichtlinien nicht gleichzeitig anzuwenden, sondern in einer Abfolge zu gliedern (Lippert 2018a). • Platzieren des Bauteils • Dimensionieren • Reinigen • Abstützen
16.13.5.1 Fertigungsrestriktionen am Beispiel Selektives Laserstrahlschmelzen Die häufig zitierte völlige Freiheit beim Gestalten additiv zu fertigender Bauteile muss im konkreten Kontext relativiert werden. Je nach Verfahren und Anlagenpark sind immer Restriktionen zu berücksichtigen, die im Folgenden am Beispiel des Selektiven Laserstrahlschmelzens erläutert werden. Abb. 16.154 zeigt die so sortierten Gestaltungsrichtlinien für das Selektive Laserstrahlschmelzen. Die Zahlenwerte sind für eine konkrete Maschine validiert, stellen aber auch den heutigen Stand der Technik von Serienmaschinen für das SLM dar (Lippert 2018a). Um Spannungen während des Bauprozesses im Bauteil zu reduzieren, wird beim Selektiven Laserstrahlschmelzen meist die Bauplattform und weniger der Bauraum erwärmt. Weiterhin muss die Oxidation des Metalls beim Aufschmelzen unterbunden werden. Dazu wird der Bauraum mit einem Schutzgas z. B. Stickstoff bei Stählen oder Argon bei Aluminiumlegierungen geflutet. Wie eingangs beschrieben, erfolgt bei der Additiven Fertigung ein schichtweiser Aufbau. Dieser schichtweise Aufbau hat Auswirkungen auf die Abbildungsgenauigkeit zwischen Soll- und Ist-Geometrie in Baurichtung, die umso genauer ist, je kleiner die Schichtdicke h ist. Dieser Zusammenhang, der auch als Treppenstufeneffekt bezeichnet wird, ist in Abb. 16.155 dargestellt. Zwar wird durch eine geringe Schichtdicke die Oberflächenqualität gesteigert, allerdings erhöhen sich dadurch auch die Fertigungszeit und damit die Kosten (Gu et al. 2012). Bei Oberflächen mit flachem Aufbauwinkel β2 (siehe Abb. 16.155) tritt der Treppenstufeneffekt ausgeprägt auf, wohingegen er bei β1 = 90° kaum ersichtlich ist. Dieser Zusammenhang lässt sich durch die folgenden Größen verallgemeinern:
774
B. Bender et al.
v
1
v
Knickung
Platzieren
z
Bei geringem Upoder Downskin Winkel
z
Ø
Verzug durch Wärmeeintrag
z
b
Bohrungen
Øz ≥ 0,6 mm
Dimensionieren
z
z
z
3 Reinigen Abstützen
A3
Querschnittsangleichung A1 = A2 = A3
A1
z
s
Wandstärke
sβ= 90° ≥ 0,6 mm
β a
a
Aufmaß
a ≈ 1 mm
a
z
rBauteil ≤ rLaser
Kanäle
z
Zugänglichkeit sicherstellen
δ ≥ 45°
Kleine Überhänge δkl. ≥ 80°
Gestaltung von Kreisen
Wandstärke s ≥ 1mm
Downskin-Winkel z
z
Rundungen in Folge der Abbildungsgenauigkeit
Anzahl n → max.
δ
VBauteil ≤ VBauraum
A2
Reinigungsöffnungen
4
Bauteilgröße
z
Neigungswinkel
β
Anisotropie in Folge Schichtstruktur
Spalte
z
sβ = 90° ≥ 0,6 mm sβ = 45° ≥ 0,8 mm sβ = 0° ≥ 0,3 mm
Belastungsgerecht
b ≥ 0,5 mm
z s
F
Maßhaltigkeit
Treppenstufen
2
F
Bei dünnen Geometrien parallel zum Beschichter
z
Entfernen von Stützstrukturen
lf
Überhänge lf ≤ 3 mm
z
Abb. 16.154 Chronologie der Gestaltungsrichtlinien für SLM Bauteile (Lippert 2018a)
Downskin-Fläche D (Teil-) Fläche, deren Normalvektor ⇀ n in Bezug auf die Baurichtung z negativ ist. Downskin-Winkel δ Winkel zwischen der Bauplattform und einer Downskin-Fläche, der Werte zwischen 0° (parallel zur Bauplattform) und 90° (senkrecht zur Bauplattform) annehmen kann.
16 Gestaltungsrichtlinien
775
IstGeometrie ß2
SollGeometrie
h
z
h= 0,6
h= 1,0
ß1
Abb. 16.155 Zusammenhang zwischen Treppenstufeneffekt und Schichtdicke (Lippert 2018a)
Upskin-Flächen U (Teil-) Fläche, deren Normalvektor ⇀ n in Bezug auf die Baurichtung z positiv ist. Upskin-Winkel γ Winkel zwischen der Bauplattform und einer Upskin-Fläche, der Werte zwischen 0° (parallel zur Bauplattform) und 90° (senkrecht zur Bauplattform) annehmen kann. Durch diese Begriffe können Grenzwerte beispielsweise für Überhänge definiert werden. Da jede Oberfläche einen Normalenvektor ⇀ n aufweist, wird dieser Vektor zur Charakterisierung der Bezugsfläche verwendet. Wenn der Normalenvektor in positive z-Richtung zeigt, wird die Bezugsfläche als Upskin-Flächen U und in negativer z-Richtung als Downskin-Fläche bezeichnet (siehe Abb. 16.156). Die Oberflächenrauheit steigt, wenn die Downskin-Winkel δ bzw. Upskin-Winkel γ von Downskin-Flächen D bzw. Upskin-Flächen U reduziert werden. Bei der Bauteilplatzierung sollten deshalb relevante Oberflächen mit einem Down- bzw. Upskin-Winkel von δ ∩ γ = 0° ∩ 90° zur Bauplattform konstruiert werden, um die Oberflächenrauheit zu verbessern (Lipp18a, Buchbinder 2013).
U
D
n z
δ
Abb. 16.156 Up- und Downskin-Flächen und Winkel (Lippert 2018a)
γ
n
776
B. Bender et al.
Kritischer Bereich
Ist Soll Δz
Pulver
Bauteil
z
Bauteil Stützstruktur 1. Überhänge
2. Ceilings
3. Inseln
Abb. 16.157 Stützstrukturen bei Überhängen, Ceilings und Inseln (Lippert 2018a)
Oftmals werden bevor das Bauteil gedruckt wird einige Layer Supportstrukturen und anschließend darauf das Bauteil gedruckt. Dadurch kann das Bauteil besser von der Bauplattform entfernt werden – zum Beispiel durch Sägen. Desweitern fixieren Stützstrukturen das Bauteil mit der Bauplattform, sodass einem Mitziehen mit dem Beschichter vorgebeugt wird [ASTM52910]. Stützstrukturen dienen während des Bauprozesses zur Abstützung von Geometrien, die einen bestimmten Downskin-Winkel δ unterschreiten. Durch das Aufschmelzen wird die Dichte erhöht (Pulver - > verschmolzenes Material). Die Stützwirkung des Pulverbetts ist beim SLM begrenzt, sodass Strukturen, die sich nicht selbst tragen, ins Pulverbett einsacken können und es zu Fehlstellen kommen kann. Stützstrukturen werden bei drei Konstruktionsfeatures (Überhänge, Ceilings und Inseln benötigt (siehe Abb. 16.157)). Ein Überhang entsteht beim Unterschreiten eines verfahrensspezifischen Downskin-Winkels δ, den es mit Stützstrukturen abzustützen gilt (Buchbinder 2013; Shah13). Allerdings können kleine Überhänge von wenigen Millimetern selbsttragend sein. Ein Überhang der von beiden Seiten gestützt wird, wird Ceiling genannt. Auch hier müssen im Zwischenraum Stützstrukturen verwendet werden. In der Herstellung sind Inseln am kritischsten, da sie in den ersten Schichten mit keiner weiteren Geometrie verbunden sind. Ein Absacken in negativer Baurichtung ist damit möglich und sollte durch Stützstrukturen verhindert werden (Kruth et al. 1998). Durch den lokalen Wärmeeintrag des Lasers beim Selektiven Laserstrahlschmelzen können Spannungen ins Bauteil induziert werden, die zu Bauteilverzug führen können. Dem gilt es vorzubeugen. Neben konstruktiven Anpassungen können auch hier Stützstrukturen zur Wärmeleitung eingesetzt werden, da die Wärme nicht über das Pulverbett abgeführt werden kann (Buchbinder 2013; Mich14). Beim Selektiven Laserstrahlschmelzen werden die aufgeschmolzenen Materialbahnen neben- und übereinander positioniert, siehe Abb. 16.158. Ziel ist die Erzeugung homogener Materialvolumina, sodass die Schichtstruktur einen möglichst geringen Einfluss auf die Bauteileigenschaften hat (Thijs et al. 2010). Werden die Bahnen im späteren Bauteil in z-Richtung belastet, ist die Adhäsion in diesen Bereichen von besonderer Relevanz. Eine zu geringe Haftung führt zum Bauteilversagen. Für den Kraftfluss
16 Gestaltungsrichtlinien
777
ØIst y
ØLaser
z
x
Laserfokus
Pulverkorn Abb. 16.158 Wärmeeinflusszone des Schmelzbades (Lippert 2018a)
besser geeignet ist es, wenn der Kraftvektor in x- oder y-Richtung angreift. Dabei wird das Material entlang einer aufgetragenen Schicht beansprucht, sodass die Kohäsion des Materials den ausschlaggebenden Faktor darstellt. Aus diesem Grund sollten die anisotropen Materialeigenschaften bei der Bauteilgestaltung berücksichtigt werden, um ein frühzeitiges Bauteilversagen zu verhindern (Lippert 2018a). Beim Aufschmelzen des Materials durch den Laserstrahl entsteht eine Temperaturdifferenz ΔT im Pulverbett. Die Temperaturdifferenz, welche v. a. durch die Laserleistung und die Scangeschwindigkeit eingestellt werden kann, ergibt sich aus der Schmelztemperatur des Materials und der Bauraumtemperatur (Roberts et al. 2009; Lippert 2018a). Im Pulverbett breitet sich durch den Energieeintrag des Lasers eine Wärmeeinflusszone, die über den Fokusdurchmesser hinausgeht aus (siehe Abb. 16.158). Dadurch werden angrenzende Pulverpartikel mit aufgeschmolzen, sodass der Istdurchmesser größer als der Laserdurchmesser ist. Da dieser Effekt über die gesamte Pfadlänge und sämtliche Schichten auftritt, weicht letztlich die Istgeometrie von der Sollgeometrie ab. Dem kann durch kleinere Pulverkörner vorgebeugt werden, die jedoch durch die Rieselfähigkeit des Materials und zusätzlich durch das Herstellungsverfahren des Pulvers physikalisch limitiert ist. Eine andere Möglichkeit ist, den Laserfokus zu reduzieren, der bei SLM-Anlagen i. d. R. zwischen 50–200 µm variabel eingestellt werden kann. Allerdings steigt durch einen geringen Laserdurchmesser die Fertigungsdauer an. Die Abweichungen in der Geometrie sind durch eine erhöhte Oberflächenrauheit an den Up- und Downskin-Flächen zu erkennen. Die Qualität der Bauteiloberfläche kann durch eine Anpassung der Belichtungsstrategie an den Up- und Downskin-Flächen erzielt werden (siehe Abb. 16.159). Ebenfalls ist die notwendige Überlappung der Materialbahnen zu erkennen, um eine stoffschlüssige Verbindung zu gewährleisten. Weiterhin zeigt Abb. 16.159 die Abweichungen von der Istzur Soll-Kontur, welche durch die Belichtungsstrategie beeinflusst wird sowie den notwendige Offset des Laserstrahls zu den Konturlinien (Lippert 2018a). Weitere Abweichungen zwischen Soll- und Istgeometrie, die allerdings nicht durch eine Anpassung der Belichtungsstrategie behoben werden können, sind in Abb. 16.160 dargestellt.
778
B. Bender et al. y z
x
z
Soll-Kontur
x
Ist-Kontur
Konturlinie mit Offset
y
Δ
Downskin
ψ
Überlappung
Upskin
Laserstrahl
Überlappung
Upskin
Core
HatchLinien
Core
hs
Core h
Downskin
hs - Hatch-Abstand ψ - Fehler
ØLaser
ØIst
Δ - Offset
Abb. 16.159 Geometrische Abweichungen im In-Prozess (Lippert 2018a)
Ecken
Dünnwandige Geometrien
Ausgelassener Bereich
s1
Ausgelassener Steg
Øist > s1
Hatch-Linie
Laserstrahl
y z
Zu breiter Steg x
Abb. 16.160 Umsetzungsfehler durch den Laserstrahl (Lippert 2018a)
Abweichungen, die nicht durch eine Anpassung der Belichtungsstrategie kompensiert werden können, sind beispielsweise das Fertigen von Ecken und dünnwandigen Geometrien (siehe auch hierzu Abb. 16.160). Bei spitzen Winkel lässt der Laserstrahl einen Teil der Sollgeometrie aus. Bei dünnen Geometrien, die schmaler als der Laserdurchmesser sind, kann diese entweder nicht aufgeschmolzen werden oder der Laserstrahl schmilzt sie mit seinem Istdurchmesser auf (Kaddar 2010). Das Ergebnis ist ein zu breiter Steg, der die minimal herstellbare Stegdicke in z-Richtung definiert (Kaddar 2010; Lippert 2018a).
Anzahl
Bauteile
Kavitäten
4
5
Volumen
Höhe
3
Generell
Integrieren der Substratplatte
Größe
2
1
Art
Z t
Z
Z
Z
Z
Z
H
Günstig
Z
H
Z
Ungünstig Werte
20