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German Pages XXIV, 360 [373] Year 2020
Stephanie Hartung Wolfgang Spitta
Lehrbuch der Systemaufstellungen Grundlagen, Methoden, Anwendung
Lehrbuch der Systemaufstellungen
Stephanie Hartung · Wolfgang Spitta
Lehrbuch der Systemaufstellungen Grundlagen, Methoden, Anwendung
Stephanie Hartung FELD INSTITUT Köln, Deutschland
Wolfgang Spitta FELD INSTITUT Köln, Deutschland
ISBN 978-3-662-61191-3 ISBN 978-3-662-61192-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61192-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Heiko Sawczuk Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Über das, was in der Hand des Schicksals liegt, darüber verfügst Du, doch das, was in der Deinen liegt, lässt Du Dir entgehen. Ja, wohin blickst Du eigentlich? Wohin streckst Du Deine Arme aus? Alles, was kommen soll, was kommen wird, liegt, mach es Dir nüchtern klar, im Ungewissen. Jetzt, auf der Stelle hier, erfasse das Leben, Dein Leben in seiner Einmaligkeit. Seneca (1–65 n. Chr.), römischer Philosoph Bevor es zu einer greifbaren Realität wird, ist jedes Phänomen im Keim vorhanden. Der Weise geht mit Keimen sehr sorgfältig um. Han Fei Zi, (280–233 v. Chr.), chinesischer Philosoph Im Grunde trägt jeder die ganze Welt. Christian Friedrich Hebbel (1813–1863), deutscher Dramatiker und Lyriker
Für Aaron, Arthur und Robert
Vorwort
Als wir vor einigen Jahren unsere Grundausbildungen in systemischer Aufstellung sowohl für den organisationalen als auch für den individualtherapeutischen Bereich planten, haben wir nach Anregungen, Ideen und Anleitungen gesucht. Zwar hatten wir uns bereits rund 20 Jahre im Feld der Aufstellungen bewegt, wir hatten eigene Aus- und Weiterbildungen bei verschiedenen Kollegen absolviert, und wir hatten selber mehr als 10 Jahre Workshops und Aufstellungstage geleitet. Aufsteller zu sein aber und die Methode der Aufstellung zu vermitteln, das – so wurde uns schnell klar – waren zwei ganz unterschiedliche Herausforderungen. Bei der Planung unserer eigenen Ausbildungen zeigte sich uns schnell, wie komplex und herausfordernd die Arbeit sein würde. Wir mussten uns zunächst vergegenwärtigen, was wir wussten und konnten, und wir mussten uns dann klarmachen, wodurch wir es gelernt hatten. Wir mussten außerdem verstehen, in welchen Bereichen unser Wissen für eine Weiterbildung noch nicht ausreichte und was wir noch zu recherchieren und zu lernen hatten. Wir mussten dann Strukturen und eine Didaktik wählen, die für die Vermittlung der identifizierten Inhalte fördernd sein würden. Nicht zuletzt mussten wir das zu vermittelnde Wissen in eine Form gießen, die es uns ermöglichte, unseren Teilnehmern die entsprechenden Unterlagen an die Hand zu geben. Einmal abgesehen von den organisatorischen, rechtlichen und nicht zuletzt finanziellen Aspekten standen wir vor einer Aufgabe, die im Prozess unserer Annäherung daran immer weiter zu wachsen schien. „Wir sind nicht überrascht, wenn ein zweijähriges Kleinkind einen Hund betrachtet und ‚Wauwau!‘ sagt, weil wir an das Wunder gewöhnt sind, dass Kinder lernen, Gegenstände wiederzuerkennen und zu benennen … will darauf hinaus, dass die Meisterleistungen von Experten den gleichen Charakter haben. Zu richtigen Intuitionen kommt es dann, wenn Experten gelernt haben, vertraute Elemente in einer neuen Situation wiederzuerkennen und in einer Weise zu handeln, die ihr angemessen ist. Gute intuitive Urteile tauchen mit der gleichen Unmittelbarkeit im Bewusstsein auf wie ‚Wauwau!‘“ (Kahnemann 2011)
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Vorwort
Um es mit Kahnemanns Worten zu sagen: Wir konnten (und können) Wauwau, wir wussten damals aber noch nicht, wie wir andere Menschen Wauwau lehren sollten. Zumal es sich bei der Methode der Systemaufstellung nicht nur um Handwerk und auch um mehr als nur eine Methode handelt. Mitvermittelt werden sollten spezifische Kenntnisse über die Bereiche, in denen die Methode schlussendlich angewendet werden würde. Außerdem muss das Verständnis für eine systemische Haltung gelehrt und auch das Sich-Üben in Leere und Nicht-Wissen vermittelt werden. Was uns damals fehlte, war ein Grundlagenkompendium, das die wesentlichen Aspekte einer Ausbildung in der Methode in Kombination mit dem jeweiligen Anwendungsbereich zusammenfasste – wir vermissten Beispiele für den strukturierten Aufbau der Ausbildung (jenseits der Verbands-Curricula), uns fehlten Hintergrundinformationen zu den einzelnen Lehrinhalten sowie eine Sammlung hilfreicher Übungen und Aufstellungsformate und Tipps für die Vermittlung. Obwohl in rund 30 Jahren der systemischen Aufstellungsarbeit zahlreiche Bücher und andere Beiträge zu den unterschiedlichsten Aspekten der Methode erschienen sind – ein hilfreiches Lehrbuch darüber, wie man die Arbeit mit der Methode von Grund auf vermitteln kann, war nicht dabei. Nachdem wir mit unseren Weiterbildungen genügend Erfahrung gesammelt hatten, haben wir entschieden, selber ein solches Lehrbuch über „die Kunst der Weiterbildung in Systemaufstellung zu schreiben“. Im Jahr 2018 haben wir unser Grundlagenwerk zu Theorie und Praxis der Organisationsaufstellung veröffentlicht – und nicht zuletzt die hohen Download-Zahlen bei Springer Gabler haben uns gezeigt, wie richtig wir mit unserer Vermutung über den großen Bedarf lagen (Stand Januar 2020: 32.918 Downloads – Springer 2019). Mit dem Lehrbuch der Systemaufstellung legen wir nun erstmals eine umfassende Arbeitshilfe und ein Nachschlagewerk zu allen Aspekten einer Grundausbildung in systemischer Aufstellung mit dem Fokus auf den individualtherapeutischen, psychosozialen Bereich vor. Grundlagen der systemischen Aufstellung Im 1. Kapitel finden Sie Informationen über spirituelle, geistige und therapeutische sowie über soziologische und philosophische Wurzeln der Aufstellungsarbeit ebenso wie über weitere wesentliche Aspekte und Erkenntnisse, die ihr zugrunde liegen. Vor diesem Hintergrund beschreiben wir, wie sich die Aufstellungsarbeit seit ihren Anfängen entwickelt hat. Im Rahmen der Grundlagen befassen wir uns außerdem mit Fragen der Ethik sowie mit Aspekten der therapeutischen Dimension des Helfens und schließlich mit den „Ordnungen der Liebe“, wie sie von Bert Hellinger formuliert wurden. Methodik der systemischen Aufstellung Im 2. Kapitel beschreiben wir sämtliche Aspekte, die zur Methodik der Aufstellung gehören – von der Vorbereitung über das Vorgespräch und systemische Gesprächsmethoden bis hin zum kompletten Prozess der Aufstellung inkl. der sogenannten
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„Entrollung“, dem Abschluss und einer möglicherweise notwendigen Dokumentation. Die Aufbereitung ist so detailliert wie praxisorientiert und bietet zahlreiche Übungen für das Erlernen der Methodik sowie für die Selbsterfahrung der Teilnehmer. Wahrnehmung und Erkenntnis Weil sich die systemische Aufstellung mit der Anerkennung dessen, was ist, befasst, beschreiben wir im 3. Kapitel die Dimensionen der nötigen Reflexion, die sich aus der Frage nach dem, was ist, ergeben, ebenso wie aus der Frage, wie wir das, was ist, erkennen können. Was das Wahre an der Wahrnehmung ist, kann eben nicht einfach beantwortet werden. Das Kapitel zeigt die Dimension der Thematik und verdeutlicht ihre Relevanz für die Aufstellungsarbeit. Wir informieren außerdem umfassend über die beiden Erkenntnistheorien Phänomenologie und Konstruktivismus sowie über deren Richtungsstreit im Kontext der Aufstellungsarbeit. Auch hier finden Sie wieder zahlreiche Hintergrundinformationen, Übungen und Aufstellungsformate für die Vermittlung und Selbsterfahrung. Systemordnung(en) Was meint der Begriff System? Was sollte man wissen, wenn man mit Systemen arbeitet? Das Kapitel informiert über die Ursprünge der Systemkonzeption, ebenso wie über die Grundfunktionen und Funktionsprinzipien verschiedener offener Systeme, die als soziale Konstrukte in Form von Familie oder Wahlverwandtschaft, Non-Profit- oder For-Profit-Organisation erscheinen und jeweils eigene Ordnungsprinzipien aufweisen. Wie in allen anderen Kapiteln stellen wir auch hier von uns eigens entwickelte Aufstellungsformate vor, die sich als didaktisches Mittel für die Vermittlung der Inhalte eignen. So zieht sich die Vermittlung der Kunst der Aufstellung mit dem didaktischen Mittel der Aufstellung wie ein roter Faden durch das gesamte Buch. Biografie, Selbst, Persönlichkeit Das Kap. 5 stellt den eigentlichen Kern unserer Ausbildung in individualtherapeutisch/ psychosozial ausgerichteter Aufstellungsarbeit vor. Wir beschreiben den Dreiklang aus transgenerationaler Biografiearbeit, Biografiearbeit mit der Herkunftsfamilie und schließlich Biografiearbeit mit den Gegenwartssystemen. Wir geben umfassende und vertiefte Informationen zur den zahlreichen Lebensthemen aus vorgeburtlichen Phasen und Geburtsprozess, Kindheit und Adoleszenz, die in Aufstellungen oft eine zentrale Rolle spielen. Wir haben insbesondere in diesem Kapitel zahlreiche Aufstellungsformate für die Vermittlung und die mögliche Selbsterfahrung der Teilnehmer zusammengestellt. Nicht zuletzt finden Sie eine abschließende vertiefte Betrachtung der Begriffe Ich, Selbst, Person und Persönlichkeit. Sie werden immer wieder im Aufstellungsprozess verwendet und sind nicht selten Quell von Missverständnissen aufgrund der möglicherweise unterschiedlichen Definitionen der Begriffe. Einmal geklärt, bieten sie zugleich vielerlei Möglichkeiten für die Betrachtung verschiedener Anliegen.
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Trauma und Traumafolgestörungen Untrennbarer Teil der Biografiearbeit ist der große Themenkomplex Trauma, der mit derart vielschichtigen Dimensionen und Erkenntnissen aufwartet, dass wir ihm ein eigenes Kapitel gewidmet haben. Neben dem psychologischen und neurobiologischen Grundlagenwissen über Trauma stellen wir Ihnen verschiedene traumatherapeutische Ansätze und Aufstellungsarten ebenso wie entsprechende Übungen und Formate für die Vermittlung und Selbsterfahrung vor. Aufstellungssettings und Formate In diesem Kapitel stellen wir nochmals in der Übersicht die verschiedenen Settings und Formatfamilien zusammen, die vorher themengebunden im Buch an den verschiedensten Stellen beschrieben wurden. Lehrpläne und Modulgestaltung In Kap. 8 stellen wir Ihnen alle strukturellen, organisatorischen und rechtlich relevanten Aspekte für die Gestaltung ihrer eigenen Weiterbildung vor: • das Curriculum, wie es die Deutsche Gesellschaft für Systemaufstellung als bislang in Deutschland einzige anerkennende Institution für die Weiterbildung in individualtherapeutisch/psychosozial ausgerichteter Systemaufstellung als Mindestmaß vorschreibt; • den Lehrplan, den wir auf der Basis dieses Curriculums für die insgesamt 12 Präsenzmodule unserer Weiterbildung entwickelt haben – sowie eine alternative Struktur aus der Kombination von Präsenz- und Online Lehrmodulen; • ein Beispiel für die Gestaltung des Einstiegsmoduls, das in seinem Rhythmus zwischen Input, Selbsterfahrung und praktischer Übung eine typische Struktur für die Gestaltung der drei Modultage sein kann; • sowie abschließend sämtliche organisatorischen und rechtlichen Aspekte mit einer Übersicht über nötige Formulare und Handouts. Zusätzliche Materialien für Ihre Arbeit finden Sie als kostenfreie Downloads unter https://link.springer.com/978–3–662–61191–3 den jeweiligen Kapiteln zugeordnet. Im Buch finden Sie an den thematisch relevanten Textpassagen Verlinkungen auf diese Materialien. Anhang Neben den zahlreichen für die Aufstellungsarbeit wichtigen Personen, die im Buch Erwähnung finden, beschreiben wir im Anhang ausführlich die Biografien und therapeutischen Konzepte von Jacob Moreno, Fritz Perls und Bert Hellinger. Hier finden Sie auch eine aktuell gültige Liste der gemeinnützigen Aufstellerverbände in aller Welt.
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Zusammenfassend Für unser Lehrbuch haben den Blick bewusst weit gestellt und versucht, all das zu erfassen, was im Moment für die Aufstellungsarbeit mit Menschen in ihren familiären und Wahlverwandtschaftsbezügen ebenso wie in ihrem selbstbestimmten Leben von Bedeutung sein kann. Wir haben zahlreiche Gespräche geführt und viele Veranstaltungen und Fortbildungen besucht, um uns ein Bild von den mannigfaltigen Ansätzen zu machen. Einer Verengung auf die eigene Meinung wollten wir uns – wo eben möglich – enthalten. Zugleich wollten wir bereits „gesetzte“ Wahrheiten einer erneuten Reflexion unterziehen. Bei manchen Themen sind wir dadurch in die Tiefe und in die Breite gegangen, wie dies bislang in den Weiterbildungen nach unserer Kenntnis eher unüblich ist – seien die erweiterten Dimensionen spiritueller, philosophischer oder auch wissenschaftlicher Natur. Wir wollten aufzuzeigen, wie eingebettet die Methode der Aufstellungsarbeit in die verschiedenen Gesellschaftsbereiche ist, ja sein muss. Stilistisch: Wir haben das gesamte Buch in der männlichen Form geschrieben. Uns ist bewusst, dass sich Frauen – zu Recht – darüber ärgern können. Die Verwendung aber beider Geschlechterformen erschien an vielen Stellen als deutliche Verkomplizierung des Satzes und als Hemmnis im Lesefluss. Natürlich hätten wir wiederum auch alles in der weiblichen Form schreiben können. Das erschien uns jedoch beim Lesen derart ungewohnt, dass es (jedenfalls uns) von den Inhalten abgelenkt hat. Wir meinen grundsätzlich immer Kolleginnen und Kollegen, wenn wir vom Aufsteller sprechen, und wir meinen Frauen und Männer, wenn wir vom Klienten oder vom Stellvertreter sprechen. Wir möchten Ihnen noch etwas über unsere Haltung als Aufsteller und als Ausbildende sagen Es gibt Zeiten, in denen sich die Dinge derart schnell entwickeln und verändern, dass das Schreiben eines Buchs nachgerade anachronistisch daherkommt. Während der Arbeit an unserem Buch ist Bert Hellinger am 19.09.2019 gestorben. Vor allem ihm gebührt ein besonderer Platz im Feld der Systemaufstellungen. Mit seiner großen und bisweilen auch herausfordernden, polarisierenden Arbeit hat er insbesondere in den Anfängen den Rain für das reiche Feld der Arbeit mit Verbindungen gesteckt. Dass es ihm dabei gelungen ist, Grenzen zu zeichnen, die ein Feld der scheinbar endlosen Grenzenlosigkeit eröffnet haben, das stellen wir mit großem Staunen und mit tiefem Respekt fest. Was dieses Feld allein bis heute hervorgebracht hat, ist um ein Vielfaches mannigfaltiger, differenzierter, bunter, weiser und größer, als wir es uns je vorzustellen vermocht hätten. Zumal die Anfänge ja noch gar nicht so lange her sind. Ebenfalls während der Arbeit an unserem Buch feierte Berlin eine Woche lang 30 Jahre Mauerfall, und wir erkennen gewisse Parallelen der Entwicklungen von den 1980er-Jahren bis heute, einer Zeit, in der Globalisierung voranschritt und die weltweite Bewegungsrichtung ausschließlich „Verbindung“ zu heißen schien. Die Aufstellungsarbeit erscheint wie ein Kernstück dieser Verbindungsbewegung, sie ist der Atem, ohne
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den die Verbindung nicht gelingt. Aufstellung ist auch Weltsprache. Sie wird von allen Menschen – gleich welcher Kultur – unmittelbar verstanden. Was daher wie eine erfolgreiche Welle zunächst den deutschsprachigen Raum erfasste, ergoss sich in die Weltmeere und erreichte bald jede Küste, jede Kultur. Aufstellungsarbeit ist wie Wasser. Sie findet ihren Weg überall hin. In fließendem Wasser kann man sein eigenes Bild nicht sehen. Alles, was sich darin spiegelt, wird zu einem alles verbindenden, sich andauernd bewegenden und bewegten Muster. In der jüngeren Zeit sind überall auf der Welt gemeinnützige Vereine für die Entwicklung der Aufstellungsarbeit entstanden. Ihre Mitglieder forschen, lehren und unterstützen einander, und sie treffen sich in regelmäßigen Arbeitskreisen und jährlichen Kongressen, um den Stand der Entwicklungen miteinander zu teilen, ja zu feiern. Diese Entwicklung konnte nicht einmal durch Corona gebremst werden – im Gegenteil. Kaum war der Lockdown beschlossen – und mit ihm die Möglichkeit unterbunden, Aufstellungen in Präsenzgruppen durchzuführen, sprossen weltweit die digitalen Angebote förmlich aus dem Boden und entfalteten sich in einer Pracht, dass man meinen könnte, die Aufsteller hätten nur darauf gewartet. Innerhalb kürzester Zeit erschienen die ersten Anwendungen für Online Aufstellungen eindimensional in der Imagination, zweidimensional auf dem Brett oder gar in dreidimensionalen Räumen mit eigens entwickelten Avataren. Nach wenigen Wochen waren Kongresse zu digitalen Angeboten auf die Füße gestellt, Weiterbildungen erscheinen nun vermehrt als kombiniertes Angebot aus on- und offline-Veranstaltung. Die neuen webbasierten Formen der Zusammenarbeit befördern eine deutlich intensivierte internationale Zusammenarbeit. Aufstellungen halten in jüngster Zeit immer verbreiteter Einzug an den Hochschulen – hier insbesondere im organisationalen Bereich – als Gegenstand der Forschung, als Methode für Forschung, als didaktisches Tool der Vermittlung. Sei es in Berlin (Prof. Dr. Marcus Birkenkrahe), in Bremen (Prof. Dr. Georg Müller-Christ), in Witten-Herdecke (Prof. Dr. Heiko Kleve), in Heidelberg (Dr. Jan Weinhold, Heidelberger Studie), in Fulda (Prof. Dr. Kirsten Nazarkiewicz) oder in Chemnitz (Doktorarbeit von Dr. rer. pol. Dipl. Ing. Thomas Gehlert) – die Aufstellungsarbeit findet mithilfe der wertvollen Arbeit der hier Genannten ihren Einzug in die Wissenschaft. Wir, die Autoren, unterrichten selber an der Europäischen Fachhochschule im Bereich Wirtschaft zum Thema systemische Organisations- und Personalentwicklung. Dabei setzen wir Aufstellungen als didaktisches Tool für die leichtere Verarbeitung der Lehrinhalte in unseren Vorlesungen ein und haben damit viel Erfolg bei den Studenten. Die neu entwickelten digitalen Formate für Online Workshops und andere Aufstellungsformate ergänzen neuerdings ebenfalls den wissenschaftlichen Unterricht, der in Coronazeiten digital stattfindet. Die exponentielle Ausbreitung der Aufstellungsmethode hat auch dazu geführt, dass sie nicht mehr ausschließlich an psychotherapeutische Konzepte oder an organisationales Wissen geknüpft ist. Kaum ein Bereich, in dem heute nicht mit Aufstellungen gearbeitet wird.
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Was sich durch den Mauerfall vor 30 Jahren als Bewegung der Verbindung offenbarte und feierte, scheint sich in den letzten Jahren in sein Gegenteil zu verkehren. Die nationalen Grenzen schließen sich wieder. Die Frage danach, wie es für mich an erster Stelle richtig und von Vorteil ist, wiegt offenbar schwerer als ein unbestimmbares Gefühl der weltweiten Allverbundenheit. Die Waage neigt sich wieder gen Trennung, und vielleicht können wir auch hier Parallelen zum Feld der Aufstellungsarbeit erkennen. Begleitend zur weltweit zunehmenden Vielfalt im Aufstellungsfeld – und insbesondere im Rahmen der jüngsten Entwicklungen durch Corona – entsteht nämlich Unruhe darüber, dass mit ihr der Kontrollverlust über die eigene Deutungshoheit einhergeht. Wer sagt eigentlich, was genau Aufstellungsarbeit ist? Welche Definition gilt? Und wer entscheidet, wann ein Aufsteller „gut“ bzw. als solcher qualifiziert ist und wann er anerkannt werden kann bzw. wann nicht? Was sind die Voraussetzungen, was die Bedingungen, was die bedingenden Konsequenzen? Brauchen wir eine übergeordnete Instanz des gemeinsamen Nenners, der für alle gilt? Und verneigen wir uns dann vor der Andersartigkeit des Anderen? Oder sollen wir die Grenzen wieder schließen und für jeden Anwendungsbereich – sei es in Therapie und Persönlichkeitsentwicklung, in Organisations- und Personalentwicklung, in Politik, in Kultur, Kunst, Architektur, in Ökologie, in Soziologie und in welchem anderen Bereich auch immer – jeweils eigene Definitionen und Qualitätskriterien entwickeln, die uns schließlich erlauben, zu sagen: „Du gehörst dazu, er/sie/es aber nicht“? Wir Autoren stehen für Verbindungen. Zwar können wir nicht in Verbindungen denken, Denken ist ein trennender Vorgang. Was auch immer aber wir erwägen, reflektieren und schließlich verlautbaren – entscheidend für das weltweite Aufstellungsfeld wird nicht unsere zweidimensionale „Entweder-oder“-Erkenntnis sein. Der große Systemtheoretiker Niklas Luhman hat erkannt, dass die Elemente, aus denen Systeme bestehen, nicht Menschen, sondern Kommunikationen, also die Beziehungen der Menschen zueinander sind. Als systemische Aufsteller verneigen wir uns davor in systemischer Haltung und blicken mit Freude auf die Vielfalt, die im Miteinander entstanden ist. In dieser Haltung fanden wir auch, dass es an der Zeit war, unser Buch über die systemische Aufstellungsarbeit zu schreiben. Köln im Frühjahr 2020
Stephanie Hartung Wolfgang Spitta
Literatur Kahnemann, D. (2011). Schnelles Denken, langsames Denken (Copyright Kahnemann 2011, S. 24). München: Siedler. Springer. (2019). Theorie und Praxis der Organisationsaufstellung. https://www.springer.com/gp/ book/9783662562093 (03.11.2019). Wiesbaden: Springer Gabler.
Inhaltsverzeichnis
1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Die Entwicklungsgeschichte der Aufstellungsarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2.2 Perspektive der Betrachtungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2.3 Gruppenformate und Therapieformen als Wurzel. . . . . . . . . . . . . 2 1.2.4 Erkenntnisse, Paradigmen und Haltungen als Wurzel. . . . . . . . . . 8 1.2.5 Gunthard Weber und Bert Hellinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.2.6 Anwendungsbereiche für systemische Aufstellungen. . . . . . . . . . 16 1.3 Ethik und ethische Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.3.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.3.2 Ethische Richtlinien, ethische Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.4 Grundlegende Aspekte der Systemaufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.4.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.4.2 Haltung, Verantwortung, Wahrnehmung, Präsenz, Demut. . . . . . . 22 1.4.3 Stimme und Körperhaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1.5 Ordnungen der Liebe und des Helfens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1.5.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1.5.2 Ordnungen der Liebe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1.5.3 Ordnungen des Helfens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2 Methodik der Systemischen Aufstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.2 Vorbereitung vor der Aufstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.2.1 Indikationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.2.2 Kontraindikationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.2.3 Das Genogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
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2.3 Regeln für die Aufstellungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.3.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.3.2 Vereinbarungen für die Zusammenarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.4 Vorgespräch (und Gespräch) zur Aufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.4.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.4.2 Klientenzentriert und hypnotherapeutisch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2.4.3 Aktiv zuhören. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2.5 Prozess der Aufstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.5.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.5.2 Aspekte im Aufstellungsfeld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.6 Beendigung der Aufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.6.1 Entrollung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.6.2 Nachbesprechung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2.6.3 Dokumentation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2.6.4 Nachsorge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3 Wahrnehmung und Erkenntnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.2 Wahrheit und Wirklichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.2.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.2.2 Annehmen, was ist?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3.2.3 Drei Ideen zur Wahrheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3.2.4 Von der Wahrheit zur Wirklichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.3 Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3.3.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3.3.2 Umfangreiches Wahrnehmungssensorium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3.3.3 Sinnlich – Wahrnehmung mit dem Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3.3.4 Musterhaft – intuitive Wahrnehmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3.3.5 Erweitert – Wahrnehmung mit dem Leib. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3.3.6 Sinnlich + leiblich – systemische Wahrnehmung. . . . . . . . . . . . . . 148 3.4 Phänomenologie und Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3.4.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3.4.2 Erkenntnistheoretische Antagonisten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3.4.3 Auseinandersetzungen in der systemischen Therapie. . . . . . . . . . 160 3.4.4 Ordnung ist fließendes Wasser. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 4 Systemordnung(en). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 4.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 4.2 Gestalttheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
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4.3 Systemtheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 4.3.1 Offene Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4.3.2 Selbsterhalt und Weiterentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4.3.3 Funktionsprinzipien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 4.4 Ordnungsprinzipien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 4.4.1 Ordnungsprinzipien in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 4.4.2 Ordnungsprinzipien in Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 4.5 Zusammenfassung Systemordnung(en). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 5.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 5.2 Biografie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 5.2.1 Transgenerationale Biografiearbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 5.2.2 Biografiearbeit mit der Herkunftsfamilie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 5.2.3 Biografiearbeit mit der Gegenwartsfamilie. . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 5.3 Ich, Selbst und Persönlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 5.3.1 Ich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 5.3.2 Selbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 5.3.3 Person und Persönlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 6 Trauma und Traumafolgestörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 6.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 6.2 Geschichte der Traumaforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 6.2.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 6.2.2 Von der Trauma- zur Triebtheorie zurück zur Traumatheorie. . . . 232 6.2.3 Moderne Psychotraumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 6.3 Das ist Trauma. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 6.3.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 6.3.2 Ereignis, Erfahrung, Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 6.3.3 Traumaprozess – das geschieht bei Trauma. . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 6.3.4 Ich-Grenze, Introjekt und Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 6.3.5 Traumasymptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 6.3.6 Wen Trauma betrifft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 6.3.7 Die komplexe Vielschichtigkeit von Trauma. . . . . . . . . . . . . . . . . 249 6.4 Trauma im Hirn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 6.4.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 6.4.2 Revolution des Denkens in der Hirnforschung . . . . . . . . . . . . . . . 251 6.4.3 Drei Areale und ein Verbindungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 6.5 Formen von Trauma. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 6.5.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 6.5.2 Trauma als Auslöser. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
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6.5.3 Formen von Trauma mit Blick auf die Betroffenen. . . . . . . . . . . . 260 6.5.4 Formen von Trauma im Erleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 6.6 Traumatherapeutische Ansätze für die Aufstellungsarbeit. . . . . . . . . . . . . . 271 6.6.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 6.6.2 Verbindende Ansätze und Aufstellungsformate. . . . . . . . . . . . . . . 271 6.6.3 Abgrenzende Ansätze und Aufstellungsformate . . . . . . . . . . . . . . 277 6.6.4 Trauma und somatische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 7 Aufstellungssettings, Funktionen und Formate. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 7.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 7.2 Aufstellungssettings. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 7.2.1 Aufstellung in der Gruppe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 7.2.2 Aufstellung in der Einzelarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 7.3 Aufstellungsfunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 7.3.1 Analysefokussierte Aufstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 7.3.2 Lösungsfokussierte Aufstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 7.3.3 Kontextrelevante Zielaufstellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 7.3.4 Simulierende Aufstellung, auch: Szenarioaufstellung. . . . . . . . . . 295 7.3.5 Didaktische Aufstellung, auch: Lehraufstellung. . . . . . . . . . . . . . 296 7.4 Aufstellungsarten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 7.4.1 Systemaufstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 7.4.2 Strukturaufstellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 7.4.3 Mischformen aus Struktur und System. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 7.5 Sonderformate. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 7.5.1 Verdeckte Aufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 7.5.2 Symptomaufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 7.5.3 Autopoietische Aufstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 7.6 Online Aufstellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 8 Lehrplan, Modulgestaltung, Organisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 8.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 8.2 Anerkennung der Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 8.3 Das Curriculum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 8.3.1 Basiscurriculum der DGfS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 8.3.2 Curriculum und Didaktik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 8.4 DGfS Richtlinien und eigene Kriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 8.4.1 DGfS-Richtlinien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 8.4.2 Kriterien unserer Weiterbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 8.5 Der modulare Lehrplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 8.5.1 Modul I – Grundlagen und Haltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 8.5.2 Module II, III und IV – Methodik der Systemaufstellung. . . . . . . 315
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8.5.3 Modul V – Wahrnehmung und Erkenntnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 8.5.4 Modul VI – Systemordnung(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 8.5.5 Modul VII – Biografiearbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 8.5.6 Modul VIII – Selbst und Persönlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 8.5.7 Modul IX – Trauma und Traumafolgestörungen. . . . . . . . . . . . . . 318 8.5.8 Modul X – Aufstellungs-Settings und -Formate . . . . . . . . . . . . . . 319 8.5.9 Modul XI – Wiederholung, Fallstudien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 8.5.10 Modul XII – Abschlussprüfungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 8.5.11 Kombinierte Weiterbildung aus Präsenz- und Onlinemodulen. . . 320 8.6 Referate und Vorträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 8.7 Einstieg in die Weiterbildung – das erste Modul. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 8.7.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 8.7.2 Das erste Modul: Detaillierte Planung der 3 Tage. . . . . . . . . . . . . 323 8.8 Biografieinseln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 8.9 Vorbereitung – organisatorische Aspekte und Checklisten. . . . . . . . . . . . . 328 8.9.1 Informationen und Konditionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 8.9.2 Checklisten und Handouts, Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
Über die Autoren1
Stephanie Hartung, Jahrgang 1959, hat nach einem Kunststudium an der Kunstakademie Düsseldorf mit Abschluss Meisterschülerin 13 Jahre als Malerin gearbeitet. Nach einem Postgraduierten-Studium des Internationalen Managements gründete sie ein Beratungsunternehmen für systemische Organisationsentwicklung. Daneben hat sie zahlreiche Ausund Weiterbildungen in systemischen Beratungsmethoden, Gestalttherapie und Hypnotherapie absolviert. Als Gründerin und Geschäftsführerin des FELD INSTITUTs in Köln arbeitet sie heute als Beraterin für Organisations- und Personalentwicklung, als Coach und Gestalttherapeutin für private und berufliche Anliegen. Im Rahmen des Bachelor-Studiengangs General Manage ment hält sie an der Europäischen Fachhochschule EUFH Vorlesungen in systemischer Organisationsentwick lung in Form eines experimentellen Organisationslabors, in dem System- und Strukturaufstellungen als didaktisches Tool integriert sind. Als anerkannte Weiterbilderin für Systemaufstellungen bietet Stephanie Hartung seit 2015 Weiterbildungen mit den beiden Schwerpunkten Individualpsychologie und Persönlichkeitsentwicklung sowie Personal- und Organisationsentwicklung in Deutschland und international an. Seit 2019 ist sie Vice Chair (stellvertretende Vorsitzende) der ISCA, International Systemic Constellations Association.
1Die
beiden Autoren sind Partner im Kölner FELD INSTITUT für systemische Unternehmensberatung, Coaching und Weiterbildung. XXIII
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Über die Autoren
Sie hat diverse Bücher und Essays über die Themen systemische Markenentwicklung und -führung, Marke im Rechtsmarkt, integrale Managementkonzepte, Systemund Organisationsaufstellungen sowie über Trauma in der Arbeitswelt als Autorin und als Herausgeberin veröffentlicht. Darüber hinaus verfasst sie immer wieder auch philosophische Betrachtungen zu einzelnen Lebensthemen. Stephanie Hartung ist Mutter eines erwachsenen Sohns und lebt in Köln. Wolfgang Spitta ist Facharzt für Psychiatrie und war von 1989 bis 1996 an den Rheinischen Kliniken Bonn tätig. Seit 1996 arbeitet er selbstständig als Supervisor, Teamentwickler, Führungskräftecoach und Staff Counsellor für For-Profit- und For-Purpose-Organisationen – das Spektrum reicht hier von Industrieunternehmen über Krankenhäuser und Arztpraxen bis zu Verwaltungen, dem Orden der Franziskaner und den Vereinten Nationen. Wolfgang ist außerdem als Einzel-, Paar- und Familientherapeut und Berater in eigener Praxis tätig. Als Berater und Dozent im FELD INSTITUT bietet er Schwerpunkte in der Prozessoptimierung, in Führungskräftecoachings, in Supervision und in Staff Counselling an. Wolfgang, Spitta, Jahrgang 1962, ist Vater von zwei Söhnen und lebt in Bonn.
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Grundlagen der Systemischen Aufstellung
Inhaltsverzeichnis 1.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Die Entwicklungsgeschichte der Aufstellungsarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.3 Ethik und ethische Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.4 Grundlegende Aspekte der Systemaufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.5 Ordnungen der Liebe und des Helfens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
1.1 Einführung In diesem Kapitel stellen wir Ihnen die Grundlagen der systemischen Aufstellungsarbeit vor, die wir besonders in unserem ersten Einstiegsmodul, immer wieder aber auch in den weiteren Modulen vermitteln. Wir haben die Grundlagen der Aufstellungsarbeit hier umfassend und vertieft aufbereitet, sodass sie sich auch als Hintergrundinformationen für Referate und/oder Vorträge eignen. Zu den Grundlagen gehören spirituelle, geistige und therapeutische Wurzeln der Aufstellungsarbeit sowie deren Entwicklungsgeschichte, ebenso wie weitere wesentliche Aspekte und Erkenntnisse, die ihr zugrunde liegen. Dazu gehören natürlich auch Fragen der Ethik sowie Aspekte der evtl. therapeutischen Dimension des Helfens und der Ordnungen in der Aufstellungsarbeit.
Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht. https://doi.org/10.1007/978-3662-61192-0_1 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hartung und W. Spitta, Lehrbuch der Systemaufstellungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61192-0_1
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
1.2 Die Entwicklungsgeschichte der Aufstellungsarbeit 1.2.1 Einführung Die Aufstellungsarbeit hat starke und auch „bunte“ Wurzeln, die spiritueller, geistiger und therapeutischer Natur sind. In diesem Kapitel haben wir die Entwicklungsgeschichte der Aufstellungsarbeit umfassend aufbereitet.
1.2.2 Perspektive der Betrachtungen Wenn wir über die Geschichte der Aufstellungsarbeit schreiben, dann ist uns bewusst, dass es auf die Perspektive ankommt, aus der die Geschichte beschrieben wird. Natürlich sind uns auch die verschiedentlichen Auseinandersetzungen darüber bekannt, wer eigentlich die Urheberschaft der Aufstellungsarbeit für sich beanspruchen darf. Einer Diskussion möchten wir uns nicht anschließen, weil wir von einer komplex zusammenhängenden und also interdependenten, will sagen systemischen Entwicklung überzeugt sind. Wer an der Entwicklung der Systemaufstellung bis heute beteiligt war, hat einen wichtigen Platz. Auf dem hat er dem gedient, was sich entfalten wollte. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Wir wenden also den Blick weg von Fragen nach dem vermeintlichen Recht auf einzige Urheberschaft und möchten Ihnen vielmehr grundlegende Erkenntnisse und Haltungen ebenso sowie therapeutische, metawissenschaftliche und auch kulturell-künstlerische Ansätze vorstellen, die in die Aufstellungsarbeit eingeflossen sind. Angesichts ihrer reichen Vorfahren jedenfalls wundert es nicht, dass die Aufstellungsarbeit im Verlauf ihrer inzwischen weltweiten Entwicklung so polymorph, reichhaltig und vielfältig geworden ist.
1.2.3 Gruppenformate und Therapieformen als Wurzel Mit dem Verhalten des Einzelnen innerhalb einer Gruppe, dem Zusammenwirken und der gegenseitigen Beeinflussung der Mitglieder einer Gruppe sowie dem Verhalten zwischen Gruppen befasst sich die Gruppendynamik. Und es war wohl der Psychiater und Soziologe Jacob Moreno (1889–1974), der den Begriff der Gruppendynamik („group dynamics“) als Erster prägte. Er gestaltete die angewandte Gruppendynamik zur Gruppentherapie aus und entwickelte die Soziometrie, die sich mit dem Studium sozioemotionaler Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gruppe befasste. In die Theorie und Praxis von Soziometrie und Gruppenpsychotherapie bettete Moreno das Psychodrama. Dieses betrachtete er als Tiefentherapie der Gruppe, bei der die Wahrheit der Seele durch Handeln ergründet würde.
1.2 Die Entwicklungsgeschichte der Aufstellungsarbeit
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Mehr davon Vertiefte Informationen über Jacob Moreno, Gruppendynamik und Psychodrama finden Sie im Anhang im Abschn. „Jacob Moreno und Psychodrama“.
Wichtige Wurzeln der Aufstellungsarbeit können ganz sicher auch in der Gestalttherapie verortet werden. Der Begründer der Gestalttherapie, Friedrich (später Frederick) Salomon Perls (kurz: Fritz Perls, 1893–1970) begeisterte sich schon früh für das von Max Reinhard (1873–1943) revolutionierte, expressionistische Theater. Wie viele seiner Mitschüler und Freunde war auch Perls in jungen Jahren an einem der Berliner Theater unbezahlter Statist. Wir liebten die Kostüme und dabei zu sein und auf lebendige Art mit Literatur vertraut zu werden. (Perls 1981, S. 314) Nach seinen unbezahlten Statistenrollen im konventionellen Theater, in dem gelegentlich auch der Kaiser zu Gast war, wurde Perls bezahlter Statist am Deutschen Theater, das seit 1905 von Reinhard geleitet wurde. Reinhard, der aus Wien stammte und dessen eigentlicher jüdischer Name Goldmann war, wird von Perls als der „erste kreative Genius“ (Perls 1981, S. 315) bezeichnet, dem er begegnete. Worum es Reinhard ging und was Perls aufnahm und in sein Leben wie in die Gestalttherapie auf radikalste Art und Weise integrierte, war die Forderung nach Wahrheit und Echtheit. (Bocian 2006)
In seinem Buch „Das Ich, der Hunger und die Aggression“ (Perls 1947) erwähnt Fritz Perls Jacob Moreno insofern lobend, als dieser den Missstand überwinde, dass Freud den Klienten zum passiven Objekt der Interpretation des Therapeuten mache. Nicht zuletzt ist Perls als Theaterliebhaber auch davon fasziniert, dass Moreno seine Klienten dazu auffordert, ihre ganz eigenen Dramen zu schreiben, zu inszenieren und darzustellen. Die frühen Erfahrungen am Theater Max Reinhards, die Techniken aus dem Psychodrama Morenos, die Perls in modifizierter Form speziell in seinen letzten Jahren einsetzte, und die Impulse des Living Theaters, lebten in seinen berühmt berüchtigten Demonstrationssitzungen im kalifornischen Esalen Institut weiter, die er selber seinen „Zirkus“ nannte. Hier kommunizierte er sanft oder konfrontierend und oft anleitend wie ein Regisseur mit einer Person, die sich auf einen Stuhl in die Mitte der Gruppe gesetzt hatte, und ließ die Person ihre Persönlichkeits- oder Traumpolaritäten durchspielen und durchleben. In dieser Zeit hielt Perls sich selbst für einen „guten Schauspieler und Darsteller, der sich leicht wie ein Chamäleon verwandelt“ (Perls 1981, S. 317). (Bocian 2006; Anm. der Autoren: Living Theatre ist eine postdramatische Theatergruppe, die 1947 in New York gegründet wurde.)
In Abgrenzung zur „klassischen“ Aufstellungsarbeit, bei der die Stellvertreter vergleichbar einem Reporter über Wahrnehmungen und Gefühle an ihrer Position berichten, wird in der Gestalttherapie gewollt intensiv und betont expressiv mit dem Ausleben und der Darstellung innerer Gefühle und Wahrnehmungen in den jeweiligen Rollen gearbeitet.
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
Da es bei Aufstellungsarbeit und Gestalttherapie immer aber um eine (wie auch immer ausgedrückte) Qualität der „unverfälschten“ Wiedergabe von Empfindungen und Gefühlen geht, verschwimmt die Grenze bei der Art und Intensität des Ausdrucks. Zwar gibt es darüber hinaus keinen definierten Methodenkasten für die Gestalttherapie nach Perls – eigentlich ist beinahe alles „erlaubt“, was der Gestaltentwicklung und -findung des Klienten dient. Ein klassisches Element aber ist die Positionierung innerer Anteile des Klienten im Raum, die Arbeit mit dem Klienten, der in verschiedene Aspekte seiner selbst geht bzw. sein Erleben aus deren Perspektive wahrnimmt, oder schließlich auch ein Arrangement, bei dem eine imaginäre Person oder ein imaginärer eigener Anteil auf dem Stuhl oder einem Kissen gegenüber dem Klienten sitzt.
Mehr davon Vertiefte Informationen über Fritz Perls und die Gestalttherapie finden Sie im Anhang im Abschn. „Fritz Perls und die Gestalttherapie“.
Eine wichtige Wurzel der Aufstellungsarbeit ist auch die Familienskulptur der US-amerikanischen Therapeutin Virginia Satir (1916–1988), die als Begründerin der Familientherapie gilt. Satir hatte die Familienskulptur in den 1970er-Jahren entwickelt, bei der die Familienmitglieder sich in einem (subjektiv gefühlt) passenden Abstand zueinander im Raum aufstellen und eine körperliche Haltung einnehmen, mit der sie die Beziehungen der Familienmitglieder zueinander ausdrücken. Dies begleiten sie mit Gestik und Mimik. Das so entstandene Standbild gleicht einer Skulptur, worauf die Methode schließlich ihre Namensgebung begründete. Im Unterschied zur phänomenologischen Familienaufstellung, wie sie später der deutsche Theologe und Psychotherapeut Bert Hellinger (1925–2019) entwickelte, stehen in der Familienskulptur von Satir die Protagonisten selber auf ihren Positionen. Hier könnte man einwenden, dass die Position des Beobachters 2. Ordnung (der Klient beobachtet sich in der Person des Stellvertreters) ein wichtiges Kriterium für Systemaufstellungen sei und somit nicht mit der Familienskulptur vergleichbar. Tatsächlich aber findet die Stellvertretung des Klienten ihre Anfänge bereits bei Moreno, der lange vor Satir damit gearbeitet hatte (sieht man einmal von der Kunstform des Theaters ab, die es bereits seit Jahrtausenden gibt und bei der alles Stellvertretung ist). Zudem ist die Stellvertretung des Klienten in heutigen Aufstellungen längst nicht mehr die Regel bzw. kein bedingendes Muss, sondern inzwischen eher eine von mehreren Gestaltungsmöglichkeiten. Virginia Satir, die 1916 als älteste von 4 Geschwistern in einem kulturell angespannten Geflecht als Tochter eines einfachen Landarbeiters und einer Mutter aus vornehm bürgerlichem Haus auf einer Farm in Wisconsin, USA, geboren wird, interessiert sich aufgrund ihrer familiären Erfahrungen sehr früh für familientherapeutische Ansätze. Schon mit 5 Jahren will sie aufgrund der andauernden elterlichen Auseinandersetzungen Familiendetektivin werden. Nach einem C ollege-Abschluss, einer Ausbildung in Sozialarbeit sowie einer Ausbildung in Psychoanalyse eröffnet sie ihre erste Privatpraxis.
1.2 Die Entwicklungsgeschichte der Aufstellungsarbeit
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Im Jahr 1959 gründet sie zusammen mit dem US-amerikanischen Psychiater Don D. Jackson (1920–1968) und dem US-amerikanischen Neurologen und Psychiater Jules J. Riski das berühmte Mental Research Institut (MRI) in Palo Alto, an dem unter anderem von 1960–2007 der österreichisch-amerikanische Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick forschte und lehrte. Nach 7 Jahren beendet Satir die Zusammenarbeit und widmet sich voll und ganz ihrer Lehrtätigkeit und dem Ausbau ihres Conjoint Family Therapy-Ansatzes. In den 70er-Jahren tritt sie mit verschiedenen Indianerstämmen in enge Verbindung und findet schließlich hier die Quelle der Spiritualität für ihre Arbeit. 1977 gründet Satir das Avanta Network, in dessen Zentrum die Entwicklung und Vermittlung von Verfahren zur Erhöhung des Selbstwertgefühls stehen (Satir 1977). Die Mitglieder des Netzwerkes beschäftigen sich außerdem mit der Förderung von Denkmodellen, die das persönliche Wachstum in den Mittelpunkt stellen. Und sie erarbeiten ein Konzept für die Weiterentwicklung zwischenmenschlicher Kommunikationsmuster. Satir stirbt am 10. September 1988 in ihrem Haus in Palo Alto. Vergleicht man die Arbeit von Satir und Hellinger, so finden sich diverse Parallelen in deren Engagement für das friedliche bzw. liebende Miteinander der Menschen – bei Satir ist es das Avanta Network, bei Hellinger die Sciencia. Auch in den „Fünf Freiheiten“, zu denen Virginia Satir ihren Patienten verhelfen wollte, finden sich enge Parallelen sowohl zur konstruktivistischen wie auch zur phänomenologischen Haltung der Systemaufsteller: • • • • •
Die Freiheit zu sehen und zu hören, was im Moment wirklich da ist, – und nicht das, was sein sollte, gewesen ist oder erst sein wird. Die Freiheit, das auszusprechen, was ich wirklich fühle und denke, – und nicht das, was von mir erwartet wird. Die Freiheit, zu meinen eigenen Gefühlen zu stehen, – anstatt anderen etwas vorzutäuschen. Die Freiheit, um das zu bitten/das zu beanspruchen, was ich brauche, – anstatt zu hoffen, dass es jemand merkt oder hierfür auf Erlaubnis zu warten. Die Freiheit, in eigener Verantwortung Risiken einzugehen, – anstatt immer nur „auf Nummer sicher zu gehen“ und nichts Neues zu wagen.
Die deutsche Kinder- und Jugendpsychiaterin Thea Luise Schönfelder (1925–2010) hat die Arbeit von Satirs Familienskulptur zu Beginn der 1980er-Jahre auf einem Kongress in Hamburg vorgestellt, bei dem auch Bert Hellinger zu Gast war. Für ihn, der bereits intensiv als Gruppendynamiker arbeitete und auch durch einen Aufenthalt in Amerika mit den experimentellen und expressiven Methoden, wie sie z. B. in Esalen von Perls erforscht wurden, vertraut war, empfahl sich die Methode der Aufstellung förmlich als der „Missing Link“ in seiner Arbeit. Auch zwei Schüler von Virginia Satir, Ruth Mc. Clendon und Les Kadis, arbeiteten mit Familienaufstellungen auf der Grundlage der Satir’schen Familientherapie und waren wiederholt Gastgeber für Bert Hellinger, der ihre Workshops besuchte.
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
Als weitere wichtige Inspirationsquelle für den familientherapeutischen Ansatz der Aufstellungsarbeit gilt der in Ungarn geborene und nach Amerika emigrierte Professor für Psychiatrie Ivan Boszormenyi-Nagy (1920–2007). In ihrem Nachruf schreibt Dr. Marie-Luise Conen: Dieses Buch – sein Werk (Anm.: „Unsichtbare Bindungen. Die Dynamik familiärer Systeme“, mit Geraldine Spark, 1973) sollte für viele der damals, meist noch zuerst in anderen therapeutischen Verfahren ausgebildeten Therapeuten wegweisend sein und bildete für viele psychodynamisch orientierte Kollegen ihre Grundlage, sich familientherapeutischem Denken und familientherapeutischen Methoden zuzuwenden. In Deutschland wurde sein Konzept lange Zeit mit der Göttinger Gruppe um Eckhard Sperling, Almuth Massing und Günter Reich verbunden. Diese luden ihn auch wiederholt zu Fortbildungsveranstaltungen nach Göttingen ein. In den 1980er- und teilweise 1990er-Jahren war er vielfach Gast auf den internationalen Kongressen in der ganzen Welt – und auch immer wieder bei den Kongressen der Heidelberger Gruppe Helm Stierlins, der als einer der deutschen Pioniere ebenfalls Ivan Boszormenyi-Nagy nach Heidelberg einlud. Ivan Boszormenyi-Nagy hat mit seiner Kontextuellen Familientherapie eine Therapieform entwickelt, die sich bei massiven psychischen Störungen als wirkungsvoll erwies und die die gesamte Familie eines Psychiatrie-Patienten als Unterstützende in die Behandlung einbezog. Er hat die destruktiven Muster der Familieninteraktionen, oftmals über mehrere Generationen wirkend, betrachtet. Demzufolge holte er Großeltern und Kinder sowie Geschwister der Patienten in die Therapie. (Conen 2007)
Die in diesem Zitat von Marie-Luise Conen erwähnten Eckhard Sperling, Almuth Massing und Günter Reich waren auch Autoren des 1982 erschienen Buchs „Die Mehrgenerationen-Familientherapie“, das inzwischen in 5. Auflage erschienen ist (Sperling et al. 1982). Der im Buch beschriebene therapeutische MehrgenerationenAnsatz führt mehrere – mindestens drei – Generationen zusammen und will so Strukturen aufspüren und bewusstmachen, die evtl. überkommen oder krankmachend sind. Konfliktverhalten wird wiederbelebt, ausgetragen und nach Möglichkeit verändert. Die M ehrgenerationen-Familientherapie ebenso wie die kontextuelle Familientherapie können in jedem Fall auch als therapeutische Wurzeln der Arbeit mit Familienaufstellungen erkannt werden. Auch der britische Biologe und Autor Rupert Sheldrake (*1942) beeinflusste die Aufstellungsarbeit. 1981 veröffentlichte er die These der morphischen oder morphogenetischen Felder. Das morphogenetische Feld ist, so Sheldrake, ein untrennbarer Teilbereich eines universellen Felds, in dem Formen zu Informationen kodiert werden. In dem Moment, in dem eine Form an einer Stelle erstmals auftaucht, ist sie zugleich Bestandteil eines Informationsfelds, das wiederum ein relatives Element des universalen Systems ist. Tritt eine Form an einer Stelle also erstmals auf, kann sie zeitgleich – instantan – identisch an anderen Stellen auftauchen, unabhängig davon, wie weit die Stellen voneinander entfernt sind. Eine als Information abgespeicherte Form wird nie mehr vergessen und ist jederzeit reproduzierbar.
1.2 Die Entwicklungsgeschichte der Aufstellungsarbeit
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Dasselbe gilt für Verhaltensweisen. Erstmals auftauchende Verhaltensweisen übertragen sich unmittelbar auf andere Bereiche. Ist ein Verhalten als Information im morphogenetischen Feld abgespeichert, kann es überall instantan auftreten. Auch hier spielt die Entfernung keine Rolle. Nach Sheldrake schauen wir hier deshalb auf non-lokale Verbindungen, die als Phänomen der Verschränkung zu verstehen sind. (Hartung 2014)
Am Dienstag, dem 8. Oktober 2019, veröffentliche die Hellinger Sciencia auf ihrer Facebook-Seite das Video eines Auftritts von Sheldrake mit Sophie Hellinger auf der Bühne. Hinter ihnen steht das Bild des kurz zuvor verstorbenen Bert Hellinger auf einem Stuhl. Sheldrake erzählt von seiner langen Freundschaft mit Bert, den er in den 1990er-Jahren bei einem Aufstellungsworkshop in London kennengelernt hatte. Bei diesem Workshop habe er erstmals in seinem Leben ein morphisches Familienfeld gesehen. Sheldrake und Hellinger verbindet der Glaube an ein Übergeordnetes (Bewusstsein, Geist, Ordnung) – Hellinger war ihm zeitlebens in seiner Arbeit auf der Spur. Sheldrake ist davon überzeugt, dass das Universum ein Gedächtnis hat, in dem alles gespeichert ist, und er hat seine Thesen in zahlreichen Veröffentlichungen und Auftritten untermauert – wiewohl diese bis heute von den Naturwissenschaften noch immer als nicht-wissenschaftlich abgelehnt werden. Neben dem Phänomen des Feldes, den systemisch ausgerichteten familientherapeutischen Ansätzen oder auch den gruppendynamischen Konzepten spielen in der Aufstellungsarbeit nicht nur das Stellen und die Expression der Stellvertreter, sondern insbesondere auch die besondere Art der Gesprächsführung eine zentrale Rolle. Daher müssen schließlich auch der amerikanische Psychiater Milton Hyland Erickson (1901– 1980) und der US-amerikanische Psychologe Carl Ransom Rogers (1902–1987) genannt werden, deren herausragende Arbeiten insbesondere im Rahmen der klientenzentrierten und hypnotherapeutischen Gesprächsführung ganz maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der humanistischen Therapie und eben auch der Aufstellungsarbeit hatten. Bert Hellinger schließlich beeinflusste die Entwicklung der Arbeit mit Familienaufstellungen insbesondere auch mit Blick auf deren plötzliche massive Verbreitung in ganz besonderem Maße. Zahlreiche seiner Kollegen und Schüler haben seine Arbeit vertieft, modifiziert und/oder in andere Berufs- und Anwendungsfelder übertragen. Hier alle nennen zu wollen, würde den Rahmen sprengen. Nur einige von ihnen zu nennen, würde dem Beitrag aller Nichtgenannten nicht gerecht.
Mehr davon Vertiefte Informationen über die Kunst der Gesprächsführung in Aufstellungen finden Sie in Abschn. 2.4 („Vorgespräch [und Gespräch] zur Systemaufstellung“). Umfassende Informationen über Hellingers Leben und Arbeit finden Sie im Anhang (Abschn. „Bert Hellinger und das Familienstellen“).
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
Kurz gefasst
Vor Bert Hellinger können Jacob Moreno, Max Reinhardt, Fritz Perls, Virginia Satir, Les Kadis, Ruth Mc. Clendon, Thea Schönfelder, Eckhard Sperling, Almuth Massing und Günter Reich sowie Carl Rogers und Milton Erickson und schließlich Rupert Sheldrake als Wurzel und/oder Inspiration für die Aufstellungsarbeit verstanden werden.
1.2.4 Erkenntnisse, Paradigmen und Haltungen als Wurzel Für hunderttausende von Jahren war eine, wenn nicht die wichtigste Voraussetzung für das Überleben die Zugehörigkeit zu einer Gruppe (Clan, Stamm). Aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden kam einem sicheren Todesurteil gleich. In der Gruppe gehörte man nicht nur dazu, sondern hatte auch einen klaren und bestimmten bzw. bestimmbaren Platz. Dieser definierte, wie, mit wem und worüber man kommunizieren konnte, welche Regeln für einen galten und welche Verantwortungen, Rechte und Pflichten man besaß. So haben wir über viele hunderttausend Jahre eine sehr sensible Wahrnehmung für Systemordnungen, Beziehungsgeflechte und soziale Funktionsprinzipien entwickelt. Wir können sofort und bei jeder Handlung, ja sogar bei jedem Gedanken und Gefühl wahrnehmen, ob wir uns so in unserer Gruppe verhalten, denken, fühlen, dass unsere Zugehörigkeit eher gestärkt oder gefährdet wird.
1.2.4.1 Das Gewissen als soziales Organ Die Sinneswahrnehmung für Zugehörigkeit ist das gute und/oder schlechte Gewissen. Ein gutes Gewissen ist eben deshalb „ein gutes Ruhekissen“, weil es für uns wahrnehmbar macht, dass wir ganz stimmig im Sinne der Gruppe sind und uns unserer Zugehörigkeit sicher sein können. Entsprechend zeigt uns ein schlechtes Gewissen, dass wir gegen die Gruppenregeln und Werte verstoßen. In der Weltliteratur zeigen sich zahlreiche Beispiele für die Qualität des Gewissens als Gradmesser für sozial angemessenes Verhalten. So liefern zum Beispiel die griechischen Sagen diverse Gleichnisse über das Gewissen. In der Antike existiert zwar der Begriff Gewissen noch nicht. Bekannt ist aber, dass die Griechen Begriffe für ein Bewusstsein über das eigene Versagen oder die eigene Schuld hatten. So hat das altgriechische Wort syneidäsis (griechisch = Bewusstsein, Mit-Wissen, zusammen wissen) mehrere Bedeutungen und steht u. a. für das Bewusstsein über das eigene Handeln und die Fähigkeit, dieses zu kritisieren. Allein in der Beschreibung des Mit-Wissens bzw. Zusammen-Wissens zeigt sich die soziale Dimension der antiken syneidäsis. Das Phänomen des Gewissens als moralische Selbstwahrnehmung bezeichnete bereits der griechische Philosoph Sokrates (469–399 v. Chr.) als „innere Stimme Gottes“.
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Die römische Bezeichnung conscientia hatte ebenfalls mehrere Bedeutungen wie Wahrnehmung, Mitwissen, Einverständnis oder auch Bewusstsein, Gefühl und Überzeugung. Diese Bedeutungen leiten sich aus den beiden Vokabeln ab, aus dem der Begriff conscientia zusammengefügt ist („con“ = mit, „scire“ = wissen). Auch hier ist das Gewissen als soziales Mitwissen konnotiert und kommt in dieser Betrachtung der Rolle des Gewissens in der Aufstellung sehr nahe. Der römische Politiker und Philosoph Cicero (106–43 v. Chr.) beschrieb conscientia als eine angeborene (soziale) Eigenschaft des Menschen, sich sittlichen Werten seiner Gesellschaft verpflichtet zu fühlen. Dadurch werde der Mensch an seine Tugenden und Verfehlungen erinnert. Sittliche Werte, Tugenden und Verfehlungen definieren sich dabei nicht absolut, sondern immer im Kontext ihrer kulturellen Sinnhaftigkeit und Angemessenheit. Insofern zeigen sich bereits in der Antike ein umfassendes systemisches Denken und eine damit einhergehende Definition des Gewissens als soziales Organ, das Gradmesser für adäquates Verhalten im Rahmen der Systemzugehörigkeit ist. Auch in der jüngeren Zeit der Geschichte des 19. Jahrhunderts finden sich – lange vor der Definition des Gewissens durch Hellinger – durchaus ähnlich lautende Beschreibungen. So hat zum Beispiel der deutsche Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Karl Marx (1818–1883) wiederholt über den Aspekt des Gewissens als soziales Wahrnehmungsorgan geschrieben: Das Gewissen hängt mit dem Wissen und der ganzen Daseinsweise eines Menschen zusammen. Ein Demokrat hat ein anderes Gewissen als ein Monarchist, ein Besitzender ein anderes Gewissen als ein Besitzloser, ein Denkender ein anderes als ein Gedankenloser … Das Gewissen der Privilegierten ist eben ein privilegiertes Gewissen. (Marx 1848).
Menschen haben so gesehen also seit jeher systemisch gedacht, gefühlt, gehandelt – und sie waren sich dessen auch bewusst. Der Begriff systemisch steht hier stellvertretend für soziale und kulturelle Paradigmen, Strukturen und Prinzipien von Gruppen und Gesellschaften. Bert Hellinger schließlich haben wir zu verdanken, dass er die elementare Bedeutung des Gewissens als „gradmessendes Organ für Zugehörigkeit“ hervorgehoben hat.
1.2.4.2 Gesellschaftliche Entwicklungen – von der Vertikale in die Horizontale Ein Blick in die Geschichte der westlichen Kulturen zeigt zudem, dass sich im Verlauf der Jahrhunderte rigide Gesellschaftsstrukturen und qua Geburt festgelegte Positionen mehr und mehr aufgelöst und von der Vertikale in die Horizontale geneigt haben. Mit der Renaissance (französisch „renaissance“ = Wiedergeburt) und dem ihr folgenden Zeitalter der Aufklärung rückte der Mensch – das Individuum – mehr und mehr in den Fokus der Bedeutung. Mit Volksaufständen um Egalité, Liberté, Fraternité (Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit) gegen den Feudalismus wurden die einst vertikalen Sozialstrukturen immer flacher und damit zwangsläufig auch demokratischer.
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Im Zuge der Industrialisierung wich die gesellschaftliche Standesbedeutung einmal mehr und machte Platz für persönliche Leistung und pekuniäre Potenz. Fleiß, Erfolg und Reichtum wurden zum Anlass des adelnden Ritterschlags. Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) rief schließlich angesichts des humanitären Gottesverlusts Ende des 19. Jahrhunderts den Übermenschen aus, und frei nach dem deutschen Philosophen Peter Sloterdijk (*1947) kehrte mit Nietzsches Forderung das antike Prinzip des Halbgottmenschen zum wiederholten Mal und jetzt im Mantel des liberalen Humanismus und der Demokratie zurück. Kurz: Das Miteinander geriet in vielen gesellschaftlichen Bereichen zunehmend zur (systemischen) Verhandlungssache auf humane Augenhöhe. Der Humanismus wandelte laut dem israelischen Historiker Yuval Harari (*1976) in den drei Mänteln des liberalen, des sozialen und des evolutionären Humanismus, die alle das Versprechen utopischer Weltentwürfe in ihrem Mantelfutter bargen: Sie alle waren Hoffnungen auf ein besseres Morgen für ein menschliches Miteinander (Harari 2015a, b). Angesichts der Entwicklungen bis Ende des 19. Jahrhunderts jedenfalls verwundert es nicht, dass die sich nun selbststeuernden, förmlich autopoietischen (griechisch „autos“ = selbst, „poiein“ = erschaffen; „Autopoiese“ = Selbsterschaffung) sozialen Konstrukte wie Familien, Gruppen, Organisationen und andere Systeme um die Jahrhundertwende zum Forschungsgegenstand der Wissenschaft wurden – in Biologie, Neurologie, Psychologie, Soziologie, Gestalttheorie und Systemtheorie. Kurz gefasst
Im Zuge des Humanismus bekommt die Fähigkeit des sozialen Aushandelns über Art und Qualität des Miteinanders in Systemen eine immer größere Bedeutung. Dadurch werden soziale Konstrukte im 20. Jahrhundert zum Forschungsgegenstand der Wissenschaft.
In unserem zweiten Teil der Geschichte der Aufstellungen konzentrieren wir uns auf die mit den gesellschaftlichen Veränderungen einhergehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse, Paradigmen und Haltungen, die zur Entwicklung der Aufstellungsarbeit und zu ihren unterschiedlichen Ausprägungen geführt haben. Wir glauben, dass ein gewisses theoretisches Grundverständnis der philosophischen Wurzeln der Aufstellungsarbeit für eine Weiterbildung in Systemaufstellung wichtig ist, weil sich hieraus viele Haltungen und Sichtweisen ableiten, ohne die die Arbeit heute kaum denkbar ist.
1.2.4.3 Geistige Wurzeln: Kant und Schopenhauer, Gestalt- und Systemtheorie Natürlich gilt das, was wir in einer stark verkürzten Zusammenfassung über den nahtlos kohärenten Prozess aller Geschichte geschrieben haben, auch für die Geistesgeschichte. Mit Blick auf konstruktivistische Aspekte oder Ansätze der Aufstellungsarbeit müssen
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wir demnach mindestens bis zu dem deutschen Philosophen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, Immanuel Kant (1724–1804), zurückgehen, ohne den die rund 150 Jahre später aufkommenden konstruktivistischen Ansätze wahrscheinlich nicht denkbar gewesen wären. Mit seiner kopernikanischen Wende im Denken und einer damit einhergehenden Initiierung des Zeitalters der Aufklärung hatte Kant im Kontext der Frage nach der absoluten Wahrheit erstmals den subjektiven Aspekt der Wahrnehmung erwogen. Er bezeichnete das „Durchlaufen“ einer sinnlichen Wahrnehmung durch den Menschen bis hin zu seiner Erkenntnis als transzendentale Erkenntnis (lateinisch „transcendere“ = durchschreiten, durchqueren). Mit seinem Konzept der transzendentalen Erkenntnis wollte er auch deutlich machen, dass die Frage nach der Erkenntnis der Wahrheit entscheidender sei als die Frage nach der vermeintlich objektiven Wahrheit selber, die wir – ergo – durch den Prozess der transzendentalen Erkenntnis nur subjektiv, niemals objektiv würden erfassen können. Kurz gefasst
Immanuel Kants kopernikanische Wende im Denken besagt, dass es keine absolute Wahrheit gibt. Wahrheit ist das Ergebnis eines individuellen (biochemischen und kognitiven) Wahrnehmungsprozesses und daher immer subjektiv. Einigen sich Menschen auf eine Wahrheit, wird diese intersubjektive Wahrheit zur systemischen Wirklichkeit. Deshalb ist die systemische Wirklichkeit ein soziales Konstrukt.
Mehr davon Vertiefte Informationen über Kants Erkenntnistheorie finden Sie in Abschn. 3.2 („Wahrheit und Wirklichkeit“).
Mit Blick auf die phänomenologischen Aspekte, auf die sich die Aufstellungsarbeit als geistiges Paradigma ebenfalls bezieht, können wir auch nahtlos auf den deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer (1788–1860) zurückgehen, der ein später Zeitgenosse Kants war und sich in jungen Jahren als dessen kongenialer Nachfolger, später als dessen fundamentaler Korrektor verstand, weil er – in Abgrenzung zu seiner frühen Adaption des Kant’schen Gedankenguts – später davon überzeugt war, dass es neben aller rein subjektiven, transzendentalen Erkenntnis eben doch auch die geniale Fähigkeit gebe, das übergeordnet Wahre durch reine Anschauung zu erkennen. Schopenhauer schrieb dazu: Demnach ist Genialität die Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten, sich in die Anschauung zu verlieren und die Erkenntnis, welche ursprünglich nur zum Dienste des Willens da ist, diesem Dienste zu entziehen, das heißt, sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke, ganz aus den Augen zu lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge übrig zu bleiben. (Schopenhauer 1844).
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Kurz gefasst
Schopenhauer erweitert Kants Philosophie um den übergeordneten Willen, den er als „unvernünftiges System“ beschreibt. Der übergeordnete Wille offenbare sich in unserer Existenz: „Der Leib ist der in Raum und Zeit objektivierte Wille“ (Schopenhauer 1813). Diese Erweiterung ergänzt den konstruktivistischen Ansatz von Kant um einen phänomenologischen Aspekt.
Friedrich Nietzsche, der, wie einleitend erwähnt, gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Übermenschen propagierte, hatte erkannt, welchen Anforderungen der Mensch in einer humanistischen Welt – als Folge der Abkehr von einem als unfehlbar verstandenen einzigen Gott für alle Menschen – ausgesetzt sein würde. So bekam die Frage nach dem autonomen, selbstbestimmten Individuum im Kontext des sozialen Miteinanders eine immer größere Bedeutung. Hier finden sich eindeutige Wurzeln für die nachfolgende Verbreitung des Individualismus und der maximalen Selbstoptimierung, die im 20. und im 21. Jahrhundert immer weiter fortschreitet. Kurz gefasst
Das Prinzip des sozialen Aushandelns über das Miteinander in Systemen (Familien, Gruppen, Organisationen) bekommt in Gesellschaften, deren höchstes Gut das Individuum ist, eine besondere Bedeutung.
Modernere Wurzeln der Aufstellungsarbeit aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts finden sich zunächst in der Systemtheorie, die von dem Biologen Ludwig von Bertalanffy (1901–1972) begründet wurde. Grundlegender Gedanke seiner Untersuchungen war, dass Erkenntnisse nicht durch die Beobachtung von Einzelphänomenen gewonnen werden können. Isolierte Phänomene kämen in der Natur niemals vor, weil alles zusammenhinge. Daher seien alle Phänomene nur durch ihre Beziehung zu anderen Phänomenen zu beschreiben. Mit anderen Worten, die Welt sei nur systemisch beschreibbar. Als Sozialtheorie befasst sich die Systemtheorie seit den 1940er-Jahren mit der Funktionsweise offener Systeme – wobei sie Organismen und deren soziale Konstrukte als offene Systeme definiert. Hierzu gehören demnach Lebewesen, Gruppen von Lebewesen – dazu gehören auch Familien – sowie jede Form einer organisierten Gruppe (Organisation), die von Lebewesen als ein soziales Konstrukt zum Zweck der Zielerreichung gebildet wird. Mit „offen“ ist gemeint, dass all diese Systeme auf den Austausch mit ihrem Umfeld angewiesen sind.
Mehr davon Vertiefte Informationen über die Erkenntnisse der Systemtheorie finden Sie in Abschn. 4.3 („Systemtheorie“).
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Der Austausch offener Systeme findet physisch, psychisch und geistig statt. Er ist physisch z. B. in Form von Stoffwechselprozessen wie Nahrungsaufnahme und Atmen oder auch in Form von Leistungstausch (Produkt oder Dienstleistung gegen Geld) bei Unternehmen oder Staaten. Der Austausch ist psychisch da, wo die Seele in Momenten des frühen Miteinanders geprägt wird und sich ein Leben lang in sozialen (und emotionalen) Bezügen weiterentwickelt. Der Austausch ist geistig, wenn Begriffe, Gedanken und Wertstellungen, mit Hilfe derer Systeme reflektieren und kommunizieren, ausgetauscht werden.
Organismen und deren soziale Konstrukte gelten als offene Systeme. Offen meint: Sie sind auf den physischen, psychischen und geistigen Austausch mit ihrem Umfeld angewiesen.
Auch die Gestalttheoretiker, die in der Nachfolge erkenntnistheoretischer Untersuchungen am Gehirn zu Beginn des 20. Jahrhunderts untersuchten, wie Menschen wahrnehmen, formulierten weitreichende Erkenntnisse für Systeme. Wiewohl, die Gestalttheoretiker sprachen angesichts einer zweckgerichteten organisierten Struktur nicht von System, sie sprachen von Gestalt.
Mehr davon Vertiefte Informationen über die Erkenntnisse der Gestalttheorie finden Sie in Abschn. 4.2.
Als Gestalt definierten sie das Ganze, das nicht nur mehr, sondern etwas anderes ist als die Summe seiner Teile. Einmal entstanden, bestimmt dieses übersummative Ganze als eigenständiges System – als Gestalt – die Qualität und die Beziehungsstrukturen der sie konstituierenden Elemente für ihren Selbsterhalt und ihre Weiterentwicklung. Die metatheoretischen Erkenntnisse der Gestalttheorie bieten zusammen mit denen der Systemtheorie weitreichende Erklärungen für das, womit wir es in Systemaufstellungen zu tun haben.
Die Gestalt bzw. das System ist nicht nur mehr, es ist etwas anderes als die Summe seiner Teile. Einmal entstanden, bestimmt sie bzw. es die Qualität und die Beziehungsstrukturen der Elemente, aus denen es besteht.
Kurz nachdem die Gestalttheoretiker ihre bahnbrechenden Erkenntnisse für alle Bereiche gültig formuliert hatten, mussten sie – die wie z. B. Moreno, Reinhardt oder Perls allesamt Juden waren – aus einem extrem antisemitischen Deutschland fliehen. Der Aderlass der geistigen Elite Deutschlands war gnadenlos lückenlos, unbeschreiblich das Ausmaß des Verlustes, der bis heute spürbar ist. Die Gestalttheorie ist jedenfalls nicht zuletzt deshalb in Deutschland heute bei weitem nicht so populär wie die Systemtheorie, die ihr folgte bzw. sich teilweise auch zeitgleich mit ihr entwickelte. Letztere vertraten auch nicht-jüdische Wissenschaftler.
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Nachdem die Gestalttheorie sich mit der Entstehung und dem ganzheitlich autonomen Charakter von Gestalten bzw. Systemen befasst hatte, richtete die Systemtheorie ihr Augenmerk auf die Funktionsprinzipien von offenen Systemen. Einerseits, so wussten sie, sind in jedem System die „Spielregeln“ naturgegeben anders, weil kein System dem anderen gleicht. Zugleich aber fanden sie heraus, dass es verbindliche Regeln gibt, die für alle offenen Systeme gelten. Als solche sind diese deshalb auch von fundamentaler Bedeutung für jedes Aufstellungsgeschehen. Für das offene System erkannten die Systemtheoretiker zwei Grundfunktionen: Selbsterhalt und Weiterentwicklung. Und sie formulierten 4 Prinzipien für diese beiden Grundfunktionen: Komplexität, Gleichgewicht, Rückkopplung und Selbstorganisation.
Mehr davon Vertiefte Informationen über Systeme und ihre Ordnungen lesen Sie in Kap. 4.
1.2.5 Gunthard Weber und Bert Hellinger Das vierte Funktionsprinzip, die Selbstorganisation der Systeme bzw. die Selbstorganisation der Systemelemente zum Erhalt ihres Systems, die in ihrem Kern konstruktivistisch zu verstehen ist, wurde zur entscheidenden Grundlage für die ersten Ansätze der Systemischen Therapie, wie sie – neben anderen – die Heidelberger Schule vertritt. Der Psychiater Gunthard Weber (*1940) ist einer ihrer bekannten Vertreter. Weber war wiederum zu Beginn der 1990er-Jahre Teilnehmer in den Workshops von Bert Hellinger. Hellinger hatte vor dem Hintergrund seiner Aus- und Weiterbildungen in zahlreichen Therapieverfahren seine ganz eigene System- und Familientherapie mit einer phänomenologischen Variante der Familienaufstellung entwickelt. Gunthard Weber transkribierte mehrere Kurse von Hellinger, und gemeinsam mit diesem entwickelte er daraus das Buch „Zweierlei Glück – Das klassische Familienstellen Bert Hellingers“, welches er im damals noch jungen Carl Auer Verlag veröffentlichte, der ihm wiederum selber gehörte. Das Buch avancierte zum Bestseller, und Hellinger wurde weit über die Grenzen der Therapeutenszene bekannt (Auer 2019).
Mehr davon Vertiefte Informationen über Bert Hellinger und seine besondere Entwicklung der Aufstellungsarbeit lesen Sie im Anhang (Abschn. „Bert Hellinger und das Familienstellen“).
Als prominenter Vertreter der konstruktivistisch ausgerichteten systemischen Familientherapie hatte Weber sich mit der Veröffentlichung von Hellingers Buch (und vielen weiteren Hellinger Büchern, die in seinem Verlag folgen sollten), hinter einen Therapeuten gestellt, der die systemische Therapie des Familienstellens anders verstand, als Systemische Therapie bis dahin verstanden worden war. Bert Hellinger war nämlich davon überzeugt, dass es zur seelischen Gesundheit nicht eines konstruktivistischen
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ushandelns der Mitglieder einer Familie bedurfte. Vielmehr war er von höheren A Ordnungen des Familiensystems überzeugt, die er Ordnungen der Liebe nannte. Dieses Verständnis kann mit Blick auf die oben beschriebene Definition von Gestalt als Erbe eines gestalttheoretischen Gedankenguts verstanden werden.
Mehr davon Vertiefte Informationen über die Ordnungen der Liebe finden Sie in Abschn. 1.5.
Die Auseinandersetzung „phänomenologisch oder konstruktivistisch?“ zieht sich wie ein roter Faden durch die weitere Entwicklung der Systemaufstellungen.
Mehr davon Vertiefte Informationen über Phänomenologie und Konstruktivismus lesen Sie in Abschn. 3.4.
Auf der Webseite des Wieslocher Instituts, das Gunthard Weber 1999 als Ausbildungsinstitut für Menschen aus medizinischen, therapeutischen und psychosozialen Praxisfeldern gegründet hatte, heißt es zu dieser Auseinandersetzung: Neben Seminaren mit Familien- und Organisationsaufstellungen haben wir in der Anfangszeit vor allem Fort- und Weiterbildungen für systemische Therapie und Beratung mit den Schwerpunkten systemisch-konstruktivistisch und Systemaufstellungen angeboten. Die von Gunthard Weber vertretene Auffassung, dass systemisches Denken und der Geist der Aufstellungsarbeit gar nicht so verschieden sind und dass beide Ansätze einander sogar sehr befruchten und mit ihren Fokussierungen und Vorgehensweisen gut ergänzen können, löste in den Gründerjahren des Instituts heftige Diskussionen und Auseinandersetzungen in der systemischen Weiterbildungslandschaft aus. Inzwischen sind die Polarisierungen weitgehend abgeebbt, und es gibt eine konstruktive Koexistenz des s ystemisch-konstruktivistischen und des systemisch-phänomenologischen Ansatzes. (WISL 2019)
Die Reibung und spätere Koexistenz bzw. auch Vermischung der beiden systemischen Verständnisansätze hatte so gesehen nicht zuletzt hier ihren Ursprung, und sie führt bis heute immer wieder zu der Frage, was nun eigentlich genau Systemische Therapie sei, und vor allem: Ob sie konstruktivistisch oder phänomenologisch zu verstehen sei. Tatsächlich aber ist den Systemen ein zugleich phänomenales wie konstruierendes Wesen zu eigen, so jedenfalls hat das die Systemtheorie zu erkennen geglaubt: Das Phänomenale verbirgt sich in den autopoietischen Systemordnungen, ohne die das System keinen Bestand haben würde, die Konstruktion der Systemwirklichkeit verbirgt sich in der autonomen Selbstorganisation der selbstreferenziellen Systemelemente, die einzig dem Zweck des Systemerhalts und dessen Weiterentwicklung zu dienen haben.
Mehr davon Über die phänomenologische und konstruktivistische Gleichzeitigkeit der Funktionsprinzipien in Systemen lesen Sie ausführlich in Abschn. 4.2 („Gestalttheorie“) und Abschn. 4.3 („Systemtheorie“).
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
1.2.6 Anwendungsbereiche für systemische Aufstellungen Seit den 1980er-Jahren, als Bert Hellinger erstmals vor großem Publikum mit seinen phänomenologischen Familienaufstellungen auftrat, hat sich die Methode der systemischen Aufstellung enorm verbreitet, weiterentwickelt und bemerkenswert ausdifferenziert. Auch wenn es lange vor Hellinger vielerlei verwandte Ansätze der Skulpturoder Aufstellungsarbeit gab – mit Hellinger und seiner Art der phänomenologisch ausgerichteten und familienzentrierten Systemaufstellung gelang der große Durchbruch der Methode in der deutschen Therapeutenszene. Mitte der 1990er-Jahre übersetzten die ersten Organisationsentwickler, unter ihnen Claude Rosselet, Dr. Thomas Siefer und Klaus Grochowiak, ebenso wie Dr. Gunthard Weber die Methode in den organisationalen Raum und schufen die Organisations- und/ oder Businessaufstellungen, die nach ihrem jüngst 20-jährigen Bestehen inzwischen weite Verbreitung im Methodenpool jeder systemischen Beratung in Organisations- und Personalentwicklung gefunden haben. Darüber hinaus kann man die Bereiche, in denen heute mit Aufstellungen gearbeitet wird, im Wesentlichen so zusammenfassen: • Familie, Partnerschaft, Freundschaft, • Persönlichkeitsentwicklung, • Gesundheit + Körper, • Organisation „for Profit“/„for Purpose“, • Politik + Gesellschaft, • Kultur, Architektur, Kunst, Film, Theater, • Informationstechnologie, • Rechtsstreit + Mediation, • Spiritualität + Religion, • Tiere + Natur. Im deutschsprachigen Raum gibt es heute drei übergeordnete Gruppen von Aufstellern, von denen einige in den entsprechenden Verbänden organisiert sind: • Die Familienaufsteller, die sich erst seit kurzer Zeit in der Regel Systemaufsteller nennen und vorrangig im familien- und individualtherapeutischen, psychosozialen und pädagogischen Kontext arbeiten. Rund 850 Systemaufsteller sind in der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen – DGfS organisiert, die als weltweit erste Organisation eigene Qualitätsrichtlinien für die Anerkennung von Systemaufstellern, Weiterbildnern und deren Weiterbildungen in Systemaufstellung entwickelt hat. Die Anzahl der Mitglieder ist im Verhältnis zu anderen Verbänden zwar beachtlich. Tatsächlich müssen wir aber von einem Vielfachen ausgehen, wenn es um die Frage geht, wie viele Menschen in helfenden und/oder beratenden Berufen mit der Methode im deutschsprachigen Raum arbeiten.
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• Die Organisationsaufsteller, die mit zahlreichen Formatabwandlungen der präsentischen Methode in „For-Profit-“ und „For-Purpose-Organisationen“ in allen Gesellschaftsbereichen in der Organisations- und Personalentwicklung arbeiten. Rund 150 Organisationsaufsteller sind Mitglied bei INFOSYON, Internationales Forum für System-Aufstellungen in Organisationen und Arbeitskontexten. • Die Systemischen Strukturaufsteller, die der SySt®-Schule der Eheleute Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd folgen. Im Unterschied zu Systemaufstellungen wird bei Systemischen Strukturaufstellungen davon ausgegangen, dass nicht Systeme, sondern nur die Strukturen von Systemen aufgestellt werden können. Grundlage der Systemischen Strukturaufstellung sind Formate, die auf typische Strukturen Bezug nehmen, wie z. B. Glaubenspolaritäten-Aufstellung oder Tetralemma. Die Systemische Strukturaufsteller sind organisiert bei SYSTCONNECT, der Vereinigung der Systemischen Strukturaufsteller mit Sitz in Österreich.
Mehr davon Vertiefte Informationen über verschiedene Aufstellungsrichtungen und -formate lesen Sie im Anhang (Kap. 7 „Aufstellungssettings und -formate“)).
Darüber hinaus gibt es unzählige verschiedene Richtungen und Kombinationsansätze, die wir hier gar nicht alle aufzählen können. Jenseits der verschiedenen Ansätze bietet einen guten Überblick über ein weites Formatrepertoire in jedem Fall das Buch „Perlen der Aufstellungsarbeit – Tools für systemisch Praktizierende“, das in 2018 von Marion Lockert herausgegeben wurde und im Carl Auer Verlag erschienen ist (Lockert 2018). Im Jahr 2007 wurde in Köln der internationale Verband der Systemaufsteller ISCA, International Systemic Constellations Association gegründet, der sich als Vertreter aller Aufsteller weltweit versteht, unabhängig von deren Gruppen- oder Formatzugehörigkeit. Auf der Website der ISCA heißt es hierzu: Zum Internationalen Kongress 2005 in Köln beriefen Heinrich Breuer, Gunthard Weber, Albrecht Mahr, Jakob Schneider und Hunter Beaumont ein Treffen ein, das alle an der Konferenz teilnehmenden Länder vertrat. Ziel war es, das Interesse an der Schaffung einer internationalen Organisation zu bewerten, zu dessen Fortsetzung die Teilnehmer einstimmig bereit waren. Bedenken hinsichtlich der Kriterien und der Notwendigkeit einer umfassenden Vision wurden geäußert und vereinbart. Heinrich Breuer hat im Juni 2006 eine zweite Sitzung in Köln einberufen. Basierend auf dem eindeutigen Nachweis des Interesses an der globalen Gemeinschaft wurde ein Lenkungsausschuss von Freiwilligen gebildet, der sich aus Hunter Beaumont (Deutschland), Heinrich Breuer (Deutschland), Gerard Fossat (Frankreich), Milena Karlinska (Polen), Annouche Katzeff (Belgien), Constanze Potschka-Lang (Frankreich), Katharina Stresius (Deutschland), Marta Thorsheim (Norwegen) und Richard Wallstein (England) mit Richard als Vorsitzendem zusammensetzt. Der entwickelte Vorschlag enthielt einen Namen für die Organisation: „International Systemic Constellations Association (ISCA)“ und enthielt Fragen der Mitgliedschaftskriterien, des Lehrplans und der Webseitenentwicklung und zeigte das Engagement der internationalen Gemeinschaft:
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung Ein integrativer Verein; Unterstützung von Exzellenz ohne Kontrolle der Mitglieder; Multikulturell und interdisziplinär; Vernetzung, Dialog und Vielfalt; Eine Infrastruktur, die das Ganze und den Einzelnen unterstützt; Unterstützung des Feldes, nicht gewinnorientiert. Im Mai 2007 wurde der Vorschlag nach Abschluss des Internationalen Kongresses in Köln der „Gründungsversammlung des ISCA“ vor 80 Praktikern aus der ganzen Welt vorgestellt. Es gab Diskussionen und Vorschläge von Mitgliedern der Versammlung, darunter ein von der Versammlung getragener Schritt, Bert Hellinger als Gründer der systemischen Aufstellungsarbeit zu ehren. Die Versammlung stimmte einstimmig für die Gründung einer Vereinigung gemäß dem Vorschlag des geänderten Ausschusses, nachfolgend bekannt als die ursprüngliche Charta des ISCA. (ISCA 2019)
Neben DGfS, INFOSYON, SYSTCONNECT und dem österreichischen Forum für Systemaufstellungen ÖFS im deutschsprachigen Raum sowie dem internationalen Verband ISCA gibt es heute zahlreiche nationale Mitgliedsverbände und/oder Organisationen in Europa, Nord- und Südamerika und Australien. Wir wissen z. B. von unserem Kollegen Dr. Klaus Peter Horn, dass in China inzwischen bis hinein in die Regierung mit systemischen Beratungsansätzen und mit Systemaufstellungen gearbeitet wird.
Mehr davon Eine Liste der weltweiten gemeinnützigen Verbände für Systemaufstellungen finden Sie im Anhang in Abschn. „Aufstellungsorganisationen weltweit“.
Heute gibt es nahezu keinen Bereich, in dem man nicht mit Aufstellungen wertvolle Erkenntnisse für ein spezifisches System, dessen Bedingungen für Selbsterhalt und dessen Potenzial zur Weiterentwicklung und Entfaltung gewinnen kann.
1.3 Ethik und ethische Grenzen 1.3.1 Einführung Aufstellungsarbeit ist eine systemisch beratende oder systemunterstützende Arbeit mit Menschen und deren sozialen Konstrukten (Familie, Beziehung, Organisation) und wird in der Regel insbesondere in Krisensituationen oder in besonderen Entwicklungsprozessen angefragt. Im sozialen Miteinander spielen ethische Aspekte naturgegeben eine zentrale Rolle – und so auch in unserer Weiterbildung. Hier stellen wir Ihnen die grundlegenden Aspekte vor. Im Anhang stellen wir Ihnen außerdem auszugweise ethische Richtlinien deutschsprachiger Aufstellervereine vor.
1.3 Ethik und ethische Grenzen
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1.3.2 Ethische Richtlinien, ethische Grenzen Als Teilbereich der Philosophie befasst sich die Ethik mit den Voraussetzungen und der Bewertung menschlichen Handelns, und bereits anhand dieser Definition wird deutlich, wie sehr die Ethik an einen spezifischen sozialen Bereich mit eigenen Paradigmen und seiner jeweiligen Kultur gebunden ist. Eine „übergeordnete“ Ethik kann es insofern nicht geben, auch wenn Menschen immer wieder – wie z. B. bei den 10 Geboten – den Versuch unternommen haben, eine universal gültige und damit allen Kulturen übergeordnete Ethik aufzustellen. Ethik ist Ansichtssache, könnte man lapidar daraus schlussfolgern. Das aber stimmt nicht. Ethik beschreibt das geistige und spirituelle Fundament eines jeden sozialen Konstrukts und ist damit das, was die systemischen Verbindungen im Kern zusammenhält. Ethik ist sozialer Klebstoff, der bis tief in spirituelle Dimensionen greift. Ethik ist nicht übergeordnet. Ethik ist der Kern von Verbindung. Dabei ist der Fokus jeder Ethik die Definition des moralischen Handelns. Die Moral des Handelns fragt danach, mit welchen Haltungen, Überzeugungen, Glaubenssätzen und Werten man das tut, was man tut.
Die Moral des Handelns fragt danach, mit welchen Haltungen, Überzeugungen, Glaubenssätzen und Werten man das tut, was man tut.
Dass Ethik und moralisches Handeln der Kern jeder beratenden oder therapierenden Tätigkeit sind, und dass sie zugleich für verschiedene Betrachtungsperspektiven von Bedeutung sind, zeigt sich angesichts der folgenden Fragen: • Welches Menschenbild hat der Beratende/Therapeut? • Wie versteht er den Klienten in Abgrenzung zu/im Kontext mit seinem Menschenbild? • Wie definiert er seine Beziehung zum Klienten? • Welche Verantwortung für den eigenen Prozess lässt er beim Klienten? • Welche Verantwortung definiert er für sich? • Wie versteht sich der Beratende/Therapeut in seiner Funktion – wie definiert er Therapie bzw. Hilfe? • Was sind die Erwartungen des Beraters/Therapeuten an den Klienten? • Was sind die Erwartungen des Klienten an den Berater/Therapeuten? • Was kann im Rahmen der Beratung geleistet werden, was nicht? • Wie ist die Art des Umgangs miteinander? • Wie ist die Verbindung mit Blick auf Nähe/Distanz gestaltet? • Welchen Grad der Sicherheit bietet der Beratende/Therapeut seinem Klienten? • Welchen Grad der Verschwiegenheit bietet der Beratende/Therapeut? • Wie sorgt der Beratende/Therapeut für seine eigene persönliche Entwicklung? • Lässt sich der Beratende/Therapeut regelmäßig selber supervidieren?
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
• Wie sorgt der Beratende/Therapeut für seine kontinuierliche professionelle Weiterbildung? • Welche Beziehung hat der Beratende/Therapeut zu seinen Kollegen? • Welche Haltung hat der Beratende/Therapeut zu anderen Varianten der beratenden/ therapierenden Tätigkeit? • Wie sorgt der Beratende/Therapeut für die Weiterentwicklung des Beratungsfelds, in dem er aktiv ist? • Stellt der Beratende/Therapeut sein Wissen und/oder seine Unterstützung seinen Kollegen bereit? Aufgrund der fundamentalen Bedeutung des ethischen Aspektes in der Aufstellungsarbeit gibt es heute daher wohl keinen Aufstellerverband bzw. -verein, der nicht eigene ethische oder zumindest mit ethischen Setzungen durchwobene Qualitätsrichtlinien veröffentlicht hätte. Bei der DGfS gilt die Vermittlung der eigenen Ethik-Richtlinien zudem als verbindlicher Bestandteil des Weiterbildungs-Curriculums. Bert Hellinger ist noch heute in manchen ethischen Richtlinien ein wichtiges Thema – s. hierzu die Ethik-Richtlinien der ISCA, die wir im Anhang des Buchs (Abschn. „Ethik-Richtlinien ISCA“) veröffentlicht haben. Manche Vereine beziehen zum Thema Hellinger eine neutrale Position, und es gibt wiederum Berufsverbände (deren Mitglieder auch mit Aufstellungen arbeiten), die sich in ihren ethischen Äußerungen eindeutig auf bzw. gegen die Arbeit von Hellinger beziehen, wie zum Beispiel die systemische Gesellschaft, die im Jahr 2004 auf ihrer Mitgliederversammlung die sogenannte „Potsdamer Erklärung“ veröffentlicht hat. Die Arbeit mit szenischen Darstellungen und Aufstellungen hat in der Familientherapie und der systemischen Therapie eine lange Tradition. Hellingers Verdienst bleibt es, dazu beigetragen zu haben, die Aufstellungsarbeit zu verdichten. Vor allem was die mögliche Auflösung von Verstrickungsdynamiken anbetrifft, hat er neue und innovative Vorgehensweisen entwickelt. Heute sehen wir jedoch den Punkt gekommen, an dem nicht nur wesentliche Teile der Praxis von Bert Hellinger – und vieler seiner Anhänger –, sondern auch viele seiner Aussagen und Vorgehensweisen explizit als unvereinbar mit grundlegenden Prämissen systemischer Therapie anzusehen sind, etwa • die Vernachlässigung von Auftragsklärung und Anliegenorientierung • die Verwendung mystifizierender und selbstimmunisierender Beschreibungen („etwas Größeres“, „in den Dienst genommen“ u. Ä.) • die Nutzung uneingeschränkt generalisierter Formulierungen und dogmatischer Deutungen („immer, wenn“, „schlimme Wirkung“, „mit dem Tode bestraft“, „der einzige Weg“, „das Recht verwirkt“ u. Ä.). • der Einsatz potentiell demütigender Interventionen und Unterwerfungsrituale • die angeblich zwingende Verknüpfung der Interventionen mit bestimmten Formen des Menschen- und Weltbildes (etwa in Bezug auf Genderfragen, Elternschaft, Binationalität u. a.) • die Vorstellung, über eine Wahrheit verfügen zu können, an der eine Person mehr teilhaftig ist als eine andere. Dies führt zu der Verwendung verabsolutierender Beschreibungsformen und impliziert, dass keine partnerschaftliche Kooperationsbeziehung angestrebt wird. (Systemische Gesellschaft 2014).
1.4 Grundlegende Aspekte der Systemaufstellung
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Mit Blick auf die Entwicklung des Aufstellungsmarkts können wir aus unserer eigenen Erfahrung sagen, dass insbesondere die hier aufgeführten Aspekte auch zur Abwehr der Aufstellungsarbeit geführt haben – sowohl auf Seiten potenzieller Klienten („etwa nach Hellinger …?) als auch bei Therapeuten und Beratern. Und auch in den Aufsteller-Kollegenkreisen gibt es bis heute Dissens bezüglich der Anerkennung und des Umgangs mit Hellinger respektive mit der ethischen Qualität seiner Arbeit. In diesem Kontext präsentiert sich wiederum die DGfS (inzwischen) komplett „neutralisiert“, will sagen, auf ihrer Website bleiben direkte Bezüge zu Hellinger unerwähnt. Als Mitglieder des Vereins wissen wir, dass diese Distanzierung bzw. klare Positionierung unter anderem auch eine Voraussetzung dafür war, als Mitglied im Forum Werteorientierung in der Weiterbildung e. V. aufgenommen zu werden, sodass heute DGfS-Mitglieder das Weiterbildungssiegel nutzen können. Zwar ist der deutsche Verein aus einer Gruppe um Hellingen entstanden. Gibt man jedoch das Suchwort Hellinger auf der Website der DGfS ein, stößt man gleich im ersten angebotenen Beitrag auf den oben erwähnten Hellinger-Dissens: Zudem versucht der Vorstand, sich mit anderen Verbänden zu vernetzen, stößt dabei aber immer an die Grenze Bert Hellinger, der bei vielen anderen Verbänden immer noch einen schlechten Ruf besitzt … Auf dieses Stichwort hin entspann sich eine kleine Diskussion über Bert Hellinger … und andere vertraten die Meinung, dass ein Ausschließen von Bert Hellinger, also Verleugnen der Wurzel, der Methode Systemaufstellung grundsätzlich widerspräche. Diese Grundlagenarbeit und Verbreitung der Methode soll auch weiter gewürdigt werden. Zugleich sollte man durchaus kritisch mit der persönlichen Arbeitsweise Hellingers umgehen, also die Methode von der Person trennen … merkte an, dass der Tenor der Aussagen vieler Aufsteller sei, dass man Hellinger als Grundlagengeber würdige, sich aber von einigen bis vielen seiner Umgehensweisen mit Klienten distanziere. Es wurde der Wunsch geäußert, dass dies im Verband endgültig diskutiert und dann auch in einer offiziellen Stellungnahme geäußert werden sollte. (DGfS 2019 1).
Mehr davon Die Ethik-Richtlinien der Verbände DGfS, ISCA, SYSTCONNECT und INFOSYON finden Sie im Anhang (Abschn. „Ethik-Richtlinien von DGfS, ISCA, SYSTCONNECT, INFOSYON“).
1.4 Grundlegende Aspekte der Systemaufstellung 1.4.1 Einführung Wer mit Aufstellungen arbeitet, sieht sich grundlegenden Aspekten gegenüber, ohne die eine Arbeit mit Aufstellungen undenkbar wäre. Wenn man eine gewisse Erfahrung in der Leitung von Systemaufstellung hat, dann sind einem möglicherweise diese Grundlagen derart „in Fleisch und Blut“ übergegangen, dass man sie vielleicht als notwendige Inhalte einer Weiterbildung nicht präsent hat. Wir stellen Ihnen hier die Grundlagen für die Arbeit mit ihren wesentlichen Aspekten vor.
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
1.4.2 Haltung, Verantwortung, Wahrnehmung, Präsenz, Demut Zu den Grundlagen für die Arbeit gehören neben den im vorigen Abschnitt beschriebenen ethischen Fragen die Aspekte der Haltung, der Verantwortung, der Wahrnehmung und der Präsenz (Abschn. 1.3).
1.4.2.1 Haltung und Verantwortung Wenn wir uns bewusstmachen, dass der Begriff der Haltung zwei Perspektiven birgt – zum einen bezeichnet Haltung die Gesinnung und die Grundanschauung und zum anderen die Körperhaltung und den Habitus –, dann wird deutlich, dass unsere Bewegungen und Handlungen das Resultat bzw. der gelebte Ausdruck unserer Überzeugungen sind und dass also systemischer Aufsteller nur werden und sein kann, wer eine systemische Grundanschauung und innere Haltung hat.
Haltung hat einen geistigen und einen physischen Aspekt. Sie beschreibt Gesinnung bzw. Grundanschauung einerseits und Körperpräsenz und Habitus andererseits.
Wie sich die systemische Grundanschauung durch das Verhalten als Aufsteller äußert, wird dann – neben einigen basalen Techniken – höchst individuell sein, wie das internationale Feld der Aufsteller verdeutlicht: Es gibt so viele Arten aufzustellen, wie es Aufsteller gibt, weil jeder menschliche Ausdruck zutiefst individuell ist. Wenn aber jeder Aufsteller anders arbeitet, was genau meinen wir dann, wenn wir von einer systemischen Grundanschauung sprechen?
Es gibt so viele Arten aufzustellen, wie es Aufsteller gibt, weil jeder menschliche Ausdruck zutiefst individuell ist.
Mit systemisch meinen wir, dass alles (alle) miteinander verbunden, mithin im größeren Kontext Eins ist (sind). Der größere Kontext – das Eine – ist ein übersummatives System mit der Tendenz zur Geschlossenheit (Prinzip der Gestalt). Als System hat der größere Kontext wiederum seine eigenen Ordnungen und Prinzipien. Werden diese im sozialen Miteinander einzelner Subsysteme beachtet, kann die Systemenergie (die Liebe) in den guten Verbindungen fließen.
Mehr davon Dem Thema der Systemordnungen haben wir das Kap. 4 gewidmet.
Diese systemische Grundanschauung, die den Wesenskern der Aufstellungsarbeit bildet, hat Konsequenzen für jedes Miteinander:
1.4 Grundlegende Aspekte der Systemaufstellung
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• Sie besagt, dass jeder Mensch zu einem größeren Einen gehört. Jeder hat deshalb dasselbe Recht und dieselbe Pflicht, dazuzugehören. • Sie besagt daraus folgend, dass es gilt, Achtung vor jedem Einzelnen zu haben. Die Achtung vor jedem Einzelnen ist die Achtung vor sich selbst. Der Einzelne (man selbst) ist untrennbarer Teil des Ganzen, und jeder ist der individuelle Ausdruck des größeren Ganzen. Als Ausdruck des größeren Ganzen ist er dasselbe wie das Größere. Deshalb ist jeder Einzelne derselbe; • Sie besagt schließlich, dass jeder Mensch sich im andauernd resonanten Schwingen des verbundenen Miteinanders befindet. Daraus folgt, dass jeder Mensch im Kontext seiner jeweils systemischen Verbindungen verstanden werden muss.
Die systemische Grundanschauung sagt, dass alles Eins ist, mithin wir alle Eins, also dasselbe bzw. dieselben sind.
Hier wird insbesondere die spirituelle Dimension der systemischen Grundhaltung deutlich, und es wird auch verständlich, in welchem Umfang die Methode der Systemaufstellung sich im großen Rahmen der Grundüberzeugungen der humanistischen Psychologie entwickelt hat. Dazu heißt es in einem Essay der Zeitschrift Spektrum (Kriz 2019): Humanistische Psychologie meint einen eher lockeren Verbund unterschiedlichster Ansätze, die weniger durch eine gemeinsame Theorie als durch ein hinreichend gleichartiges Menschenbild und einige grundsätzliche Übereinstimmungen in den Prinzipien therapeutischer Arbeit verbunden sind. Typisch ist die Orientierung an einer holistischen Sichtweise. Beeinflußt von der Sichtweise der sog. Organismischen und der Gestaltpsychologie wird der Tatsache Rechnung getragen, daß viele Phänomene, die gerade für den Menschen und seine Lebenswelt wesentlich sind, sich nicht als Summe von Einzelelementen erklären lassen, sondern als Aspekte eines ganzheitlichen, organisch-dynamischen Geschehens begriffen werden müssen. Die Hauptvertreter – u.a. Charlotte Bühler, Abraham Maslow, Carl Rogers – gründeten erst 1962 in den USA die Gesellschaft für Humanistische Psychologie. Dies geschah nicht zuletzt deshalb, um sich explizit gegen das (eher) monokausale, mechanistische und deterministische Verständnis des Menschen auf biologistischer (Psychoanalyse) oder Reiz-Reaktions-mechanistischer (Behaviorismus) Basis abzugrenzen. Zu den therapeutischen Hauptrichtungen der Humanistischen Psychologie gehören die Gestalttherapie (Fritz Perls) und die Gesprächspsychotherapie bzw. klientzentrierte Psychotherapie (Carl Rogers), aber auch das Psychodrama (Iacov Moreno) und die Logotherapie und Existenzanalyse (Viktor Frankl u. Alfried Längle) werden hier öfter genannt. Neben der Ganzheit sind Autonomie und soziale Interdependenz, Selbstverwirklichung sowie Ziel- und Sinnorientierung zentrale gemeinsame Kennzeichen des Menschenbildes in der Humanistischen Psychologie. 1) Nicht-Beliebigkeit der Form: Man kann Lebendigem auf die Dauer nichts gegen seine Natur aufzwingen; man kann nur zur Entfaltung bringen, was schon in dem „Material“ selbst an Möglichkeiten angelegt ist. 2) Gestaltung aus inneren Kräften: Die Kräfte und Antriebe, die die angestrebte Form verwirklichen, haben wesentlich in dem betreuenden Wesen selbst ihren Ursprung.
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung 3) Nicht-Beliebigkeit der Arbeitszeiten: Man kann nicht beliebig mit der Pflege warten; Lebendiges hat eigene fruchtbare Zeiten und Augenblicke, in denen es bestimmten Arten der Beeinflussung, der Lenkung oder der Festlegung zugänglich ist. 4) Nicht-Beliebigkeit der Arbeitsgeschwindigkeit: Prozesse des Wachsens, Reifens etc. haben ihnen jeweils eigentümliche Ablaufgeschwindigkeiten. 5) Die Duldung von Umwegen und 6) Die Wechselseitigkeit des Geschehens. (Zitatpunkte 1–6 nach Metzger 1962)
Mehr davon Weitere Informationen über die verschiedenen Strömungen der Humanistischen Psychotherapie lesen Sie in Abschn. 2.4.3 (Klientenzentrierte Gesprächsführung nach Carl Rogers), sowie im Anhang (Abschn. „Jacob Moreno und das Psychodrama“ und Abschn. „Fritz Perls und die Gestalttherapie“). Kurz gefasst
Die systemische Grundanschauung: • Jeder Mensch gehört zu einem größeren Einen und hat deshalb dasselbe Recht und dieselbe Pflicht, dazuzugehören. • Es gilt, Achtung vor jedem Einzelnen zu haben. Sie ist zugleich Achtung vor sich selbst. • Der Einzelne ist untrennbarer Teil und zugleich individueller Ausdruck des größeren Ganzen. Als Ausdruck des größeren Ganzen ist er dasselbe wie das Größere. Deshalb ist jeder Einzelne derselbe. • Jeder Mensch befindet sich im andauernd resonanten Schwingen des verbundenen Miteinanders und muss deshalb im Kontext seiner jeweils systemischen Verbindungen verstanden werden.
Wesentliche Aspekte der systemischen Grundhaltung, wie wir sie oben beschrieben haben, sind neben der Achtung des Menschen die Ernsthaftigkeit, die Furchtlosigkeit und die Absichtslosigkeit.
1.4.2.2 Ernsthaftigkeit Die Ernsthaftigkeit des Aufstellers ist zwingender Bestandteil seiner Achtung vor dem Klienten und dessen Anliegen. Selbst dann, wenn ein Anliegen für die Ohren des Aufstellers merkwürdig klingen mag – der Klient soll immer ernst genommen werden. Es ist nicht Sache des Aufstellers zu entscheiden, ob das Anliegen des Klienten ein ernstzunehmendes ist. Hier gilt als einzige Ausnahme, wenn sich sein Anliegen auf eine andere Person und nicht auf ihn selber bezieht – „ich möchte, dass mein Partner endlich mal …“. Ausnahme
1.4 Grundlegende Aspekte der Systemaufstellung
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hierbei ist wiederum, wenn Eltern eine Aufstellung für ihre Kinder machen möchten. Das können sie tun, bis das Kind volljährig ist. Danach können sie ausschließlich ihre eigene Beziehung zum Kind aufstellen. Für den Klienten gilt die Regel: Jedes ernsthafte Anliegen kann aufgestellt werden. Das schließt im Gegenzug in der Regel jede Spielerei oder ein „ich wollte nur mal wissen; ist gar nicht wichtig.“ aus.
Jedes ernsthafte Anliegen kann aufgestellt werden. Die Anliegen Dritter können nicht aufgestellt werden. Die Ausnahme: Eltern können stellvertretend Anliegen für ihre Kinder bis zu deren Volljährigkeit aufstellen.
Aus unserer Sicht gilt diese „Spiel“-Regel nicht, wenn Experimentelles, Untersuchungen und innovative Fragestellungen (in aller Ernsthaftigkeit) im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Allerdings ist unsere Erfahrung, dass sich solche Settings eher in Intervisionsgruppen unter Kollegen empfehlen. Ernsthaftigkeit bezieht sich aus unserer Erfahrung auch darauf, dass es wesentlich ist, das, was ein Klient sagt, wirklich ernst – im Sinne von wörtlich – zu nehmen. Als Aufsteller, der erfahrungsgemäß nicht selten einen Hang zum Helfen hat, neigt man vielleicht dazu, etwas, was der Klient über sich selbst äußert, zu relativieren. Sagt ein Klient z. B. „Ich kann das bestimmt nicht (gut genug)“, dann besteht die Ernsthaftigkeit des Aufstellers eben darin, das Gesagte genau so gelten zu lassen und nicht eine Abschwächung oder andere Einschätzung anzubieten, wie z. B.: „Ich bin sicher, dass Du das viel besser kannst, als Du glaubst“. Was in Freundschaften ein Zeichen von Zuneigung und gegenseitiger Unterstützung sein will, führt im Aufstellungssetting leicht zum Ungleichgewicht zwischen Aufsteller und Klient. Nach unserer Erfahrung ist es für den Moment hilfreicher, die Verantwortung für sich selbst ganz beim Klienten zu lassen – langfristig ist diese Augenhöhe ein bedingender Garant für die Nachhaltigkeit seiner Persönlichkeitsentwicklung. Möglich wäre bei dem gewählten Beispiel natürlich eine Frage wie: „Ist das wirklich so?“.
Augenhöhe zwischen Berater und Klient ist ein Garant für die Nachhaltigkeit der Persönlichkeitsentwicklung des Klienten.
Natürlich obliegt es der Kunst der Gesprächsführung durch den Aufsteller, mit dem Klienten herauszufinden, ob das geäußerte Anliegen tatsächlich das ist, worum es geht. Hierfür gibt es keine inhaltliche Anleitung für das „Richtig-Machen“, weil es auf die Feinfühligkeit und die Achtsamkeit des Aufstellers ankommt und nicht auf ein inhaltlich objektives „Richtig-Machen“.
Mehr davon Vertiefte Informationen zum Aspekt der Ernsthaftigkeit und der Furchtlosigkeit in der Kunst der Gesprächsführung im Rahmen einer Aufstellung lesen Sie in Abschn. 2.4 („Vorgespräch und Gespräch zur Systemaufstellung“).
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
1.4.2.3 Furchtlosigkeit Auch die Furchtlosigkeit gilt als bedingend für beide Seiten – für den Aufsteller wie für den Klienten. Und für beide hat der Aspekt der Furchtlosigkeit mehrere Dimensionen, die wiederum alle den Aspekt der absichtslosen Präsenz bergen. Da ist zunächst die Dimension des Umgangs mit heftigen Emotionen, der Begegnung mit geballter Energie. Unsere Stammhirnreaktionen kennen hier nur drei Möglichkeiten: Kampf, Flucht, Totes-Tier-Stellung. Die Stammhirnreaktionen eignen sich also nicht wirklich für die Begegnung von Aufsteller und Klient in emotional konzentrierten Situationen. Gefragt ist vielmehr furchtlose Präsenz. Als Aufsteller machen wir gute Erfahrungen damit, uns regelmäßig und intensiv in solchen Situationen zu üben, die mit heftigen Emotionen und Aggressionen einhergehen – als Lehrende sehen wir es deshalb als einen wichtigen Anteil unserer Weiterbildungen, solche Situationen zu benennen und den Umgang damit zu schulen. Wie soll man reagieren, wenn ein Klient eine Panikattacke bekommt? Was geschieht, wenn der Klient plötzlich schreit? Wie soll man einer unvermuteten Aggressivität des Klienten begegnen? Für den Umgang mit energiegeladenen Situationen gibt es zahlreiche Übungen. Bei unserem Kollegen Klaus Peter Horn haben wir in einer seiner Weiterbildungen erlebt, wie er (als Samurai gekleidet) uns in den Schwertkampf schickte – natürlich mit ungefährlichen Pappschwertern. Der Effekt war verblüffend: Ungeübt im Umgang mit Aggression gab es diverse Ausbrüche von Verzweiflung beim Versuch, einander anzugreifen. Nur wenige konnten beherzt auf den Gegner zugehen, ihre Angst vor Angriff und Gegenangriff lähmte sie förmlich. Andere konnten nur nach vorne treten, wenn sie ihre Angst vor der eigenen Aggression und der des Gegenübers in Zerstörungswut wandelten und „nach vorne flüchteten“. Es brauchte diverse Übungen der Präsenz, um achtsam und konzentriert kämpfen zu können bzw. derart aufmerksam und präsent zu sein, dass Kampf verhindert wird. Denn natürlich geht es bei der Arbeit von Aufsteller und Klient nicht um die Kunst des aktiven Kampfes. Es geht – nach der asiatischen Tradition des Kampfes – vielmehr darum, derart konzentriert präsent zu sein, dass man die nächsten Schritte/Verhaltensweisen des Gegenübers vorher zu erkennen vermag und so den Kampf als solchen unnötig macht. So wird der Klient den Aufsteller nicht angreifen, der Aufsteller muss sich nicht wehren. Die Schwertkampf-Erfahrung hat uns die Relevanz des Themas verdeutlicht, daher haben wir sie in unsere eigenen Weiterbildungen integriert und stellen hier drei Übungen vor, mit denen wir gute Erfahrungen gemacht haben. Furchtlosigkeit – Übung 1: Hahnenkampf Der Hahnenkampf hat das Ziel, die Teilnehmer mit Varianten von Aggression vertraut zu machen, bei der das Verhalten konzentriert bleibt. Zwei Teilnehmer stehen einander an einer Grenze (Seil auf dem Boden) gegenüber auf einem Bein und versuchen mit verschränkten Armen, den anderen nach hinten in sein Feld zu drängen (Phase 1). Wer dabei am längsten auf einem Bein stehen bleibt,
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„gewinnt“. Nach dem Körpereinsatz tauschen sich die beiden Teilnehmer über ihre Erfahrungen und Gefühle aus (Phase 2); (s. Abb. 1.1). Furchtlosigkeit – Übung 2: Spiegelkampf Der Spiegelkampf vermittelt die Erkenntnis, dass es zum Kampf immer zwei braucht. Zwei Teilnehmer stehen einander gegenüber. A beginnt mit einer kurzen Sequenz einer Kampfbewegung, B macht dieselbe Bewegung als spiegelbildliche Gegenbewegung. Das wiederholen sie 10-mal. Die beiden Teilnehmer dürfen einander nicht berühren. Danach tauschen sie die Rollen. Im Anschluss tauschen sie sich über ihre Erfahrungen aus (s. Abb. 1.2). Furchtlosigkeit Übung 3: Anbrüllen + Panzerglas Die Panzerglasübung lehrt die Erfahrung, dass furchtlose Präsenz ein guter Schutz von möglichen Übergriffen ist.
Furchtlose Präsenz ist ein guter Schutz vor möglichen Übergriffen.
Zwei Teilnehmer stehen einander gegenüber an einer Grenze. A bringt sich gegenüber B in Rage und beschimpft B gestenreich und in einer Kauderwelsch-Sprache (ohne sinnvolle Worte; Bild 1 in Abb. 1.3). Dabei darf er B nicht berühren. B bleibt 3 min lang stehen und beobachtet, was zunächst in ihm vorgeht. Dann lässt er eine imaginäre Panzerglasscheibe vom Boden aus komplett vor seinen Körper bis über den Kopf hochfahren (Bild 2 in Abb. 1.3. Durch diese imaginäre Panzerglasscheibe bleibt er in seinem so entstandenen Sicherheitsraum mit dem Blick weiterhin in Kontakt mit A und nimmt nun den Unterschied wahr. Abb. 1.1 Furchtlosigkeit – Übung 1: Hahnenkampf
Abb. 1.2 Furchtlosigkeit – Übung 2: Spiegelkampf
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
Abb. 1.3 Furchtlosigkeit Übung 3: Anbrüllen + Panzerglas
Nach insgesamt 5 min tauschen die Partner die Rollen. Anschließend tauschen sie sich über ihre Erfahrungen aus (Bild 3 in Abb. 1.3).
Präsenz ist das Wesen der Furchtlosigkeit, und Furchtlosigkeit ist das Wesen der Präsenz.
Es gibt viele Übungen in asiatischen Schulen, die sich auf Achtsamkeit, Präsenz und Absichtslosigkeit fokussieren. Wir empfehlen, verschiedene Meditationen, Achtsamkeitsund Präsenzübungen in alle Module, ja beinahe in jeden Tag der Weiterbildung zu flechten. Ob es sich dabei um bewusstes Atmen, bewusstes Gehen oder angeleitete Phantasiereisen handelt: Jede Form der präsenten Selbstbewusstheit stärkt die Furchtlosigkeit – die hier für Mut und die Bereitschaft steht, „Ja“ zu dem zu sagen, womit uns das Leben begegnet. Der Unterschied ist hier entscheidend – in der Regel ist es nämlich nicht die Furcht, die uns zu schaffen macht, sondern die Furcht vor der Furcht. Das deckt sich jedenfalls mit unserer eigenen Erfahrung: Je bewusster wir in der offenen Präsenz sind, desto furchtloser sind wir bzw. desto unwesentlicher wird der Aspekt einer möglichen Furcht.
Oftmals macht uns die Furcht vor der Furcht – die Befürchtung – mehr zu schaffen als die eigentliche Furcht.
Im Zustand des „Ja“ sind wir „ein-fach“ offen für das, was uns begegnen will, jenseits der Bewertung. Geschieht dann etwas, das uns in einen kurzen Moment des Schreckens und der Furcht versetzt, dann stellen wir fest, dass dieser Zustand lediglich gleich einer konzentrierten Energiewelle unseren Körper „durchwogt“, die bei furchtloser Betrachtung wieder abebbt und schließlich vorbeigeht. Die Voraussetzung hierfür ist, dass wir uns nicht mit der Energiewelle identifizieren, die durch Furcht oder Schrecken hervorgerufen wird, sondern ihr gleichsam aus einem Raum der offenen Präsenz mit einem inneren „ja, so ist es“ begegnen.
1.4 Grundlegende Aspekte der Systemaufstellung
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1.4.2.4 Der Wunsch nach Veränderung, die Angst vor Veränderung Eine weitere Dimension ist die Furcht vor Veränderung und damit einhergehend die Furchtlosigkeit angesichts dessen, was sich entwickeln will. In unserer Weiterbildung spielt die Übung darin, dem Klienten die Furcht vor möglicher Verhaltensveränderung zu nehmen, eine wichtige Rolle. Der übliche Auftrag eines Klienten klingt nicht selten so: „Ich möchte eine Veränderung in meinem Leben erreichen, was soll ich tun? Bitte sagen Sie mir aber nicht, dass ich etwas anderes tun soll als bisher, sorgen Sie einfach dafür, dass es sich ändert.“ Die systemisch begründete Angst vor Identitätsverlust bei Verhaltensänderung („ich habe das immer so gemacht, ich bin so“) ist der übliche Begleiter in Aufstellungsprozessen, und natürlich stellt sich die Frage für noch junge Aufsteller, wie sie diesem therapeutischen Paradox – dem Wunsch nach Veränderung und der gleichzeitigen Angst vor Selbstverlust durch Verhaltensänderung – begegnen können. Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert. (Quelle unbekannt, Info 2019)
Man würde die weisen Worte unbekannter Herkunft hier falsch interpretieren, wenn man denkt, hier seien andere neue Taten gefordert, damit Veränderung eintritt. Im Zitat geht es eher darum, dass man die vergangenen Handlungen oder Taten unterlässt. Bereits das Unterlassen, das Nicht-mehr-Tun sei ein anderes, ein entscheidendes Verhalten. Nur dadurch ändere sich etwas. Im Kontext von Veränderung besteht also ein elementarer Unterschied zwischen Nicht-mehr-Tun und Anderes-Tun. Im Kontext von Veränderung besteht ein elementarer Unterschied
zwischen Nicht-mehr-Tun und Anderes-Tun. Veränderung geschieht durch „Nicht-mehr-Tun“, nicht durch „Anders-Tun“. Fritz Perls, Begründer der Gestalttherapie, hat dem therapeutischen Paradox („wasch mich, aber mach mir den Pelz nicht nass“) das Paradoxon der Veränderung an die Seite gestellt und betont, dass Veränderung nur dann stattfinde, wenn man nichts tut und stattdessen „Ja“ zu dem sagt, was ist. Veränderung geschehe nicht durch den Versuch, etwas zu ändern. Erst durch das „Ja“ zu dem Zustand, den man ändern wolle, beginne die eigentliche Transformation. Perls entspricht damit den Worten des wiederum zeitgenössischen indischen Philosophen Jiddu Krishnamurti (1895–1986): If you begin to understand what you are without trying to change it, then what you are undergoes a transformation/Wenn Du verstehst, wer Du bist, ohne zu versuchen, dieses „Du“ zu ändern, dann wird sich Dein „Du“ verändern. (Krisnamurti 2000).
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
Wir wissen nicht, ob Perls und Krishnamurti einander kannten.
Das therapeutische Paradox besagt, dass ein Klient Veränderung will, ohne sein Verhalten ändern zu wollen. Das Paradox der Veränderung besagt, dass Veränderung nicht geschieht, wenn wir versuchen etwas zu ändern. Sie geschieht nur dann, wenn wir „ja“ zu dem Zustand sagen, den wir verändern wollen.
„Ja“ zu etwas zu sagen, was man verändern möchte, bricht mit allen logischen Regeln unseres Verstandes – und es erfordert Furchtlosigkeit, Mut. Im Gespräch über die Furchtlosigkeit mit unserem Kollegen Dr. Robert Doetsch, Leiter der Uta Akademie in Köln, verwies dieser auf die sinngemäßen Worte des indischen Philosophen Uppaluri Gopala (U.G.) Krishnamurti (1918–2007), der von 1947–1953 die öffentlichen Unterweisungen des oben erwähnten, gleichnamigen Jiddu Krishnamurti besucht hatte: Courage is not an instrument or quality you can use to get somewhere. The stopping of doing is courage. The ending of tradition in you is courage./Mut ist weder Werkzeug noch Mittel, das wir nutzen können, um etwas zu erreichen. Der wahre Mut ist es, nichts zu tun. Mut ist, wenn Du mit der Tradition in Dir brichst.
Mit Blick auf gewünschte Veränderung und Beibehaltung des bisherigen Verhaltens geben wir den Teilnehmern unserer Weiterbildung verschiedene Möglichkeiten an die Hand. So können Sie zum Beispiel den Klienten fragen, welchen Vorteil es hat, ein Verhalten beizubehalten („die Lösung scheint beängstigender zu sein als das Problem“). Der Klient hat dadurch die Möglichkeit, sich bewusst zu machen, in welchem Umfang sein Verhalten zu seinem eigenen Gleichgewicht beiträgt. Aus der provokativen Therapie stammt die Variante, gemeinsam mit dem Klienten hochzurechnen, wie er sein Verhalten noch intensivieren könnte – so lange, bis dem Klienten deutlich wird, worum es ihm eigentlich bei dem Verhalten geht. Wichtig ist dabei immer, dem Klienten zu jedem Moment ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Das kann in Momenten, in denen die Angst bei ihm aufsteigt, mit Sätzen geschehen wie „Dir kann hier gar nichts geschehen, ich bin da“ oder „Du kannst es ja mal ausprobieren, wie es sich anfühlt“. Was wir zur Furchtlosigkeit ganz grundsätzlich anmerken möchten: Furchtlosigkeit ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern vielmehr ein Zustand des Muts, des Vertrauens (in sich) oder der Bereitschaft, sich (s)einer Angst zu stellen, bzw. diese als solche sein zu lassen. Wir lassen unsere Teilnehmer mit Blick auf die Furchtlosigkeit darüber hinaus diese Fragen beantworten und nutzen beim Fragen hypnotherapeutische Elemente, die bereits einen ersten Zugang zur Ressource der Furchtlosigkeit erlauben, die jedem Menschen innewohnt.
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Was müsste ich tun, um Furchtlosigkeit zu entwickeln? Angenommen, ich will furchtlos sein, wie würde ich das tun? Angenommen, ich wäre furchtlos, wie würde sich das bemerkbar machen? Angenommen, ein Wunder würde geschehen, und ich würde morgen aufwachen und feststellen: Ich habe Furchtlosigkeit erreicht – was hätte sich geändert? Wie würde ich fühlen? Wie würde ich denken? Wie würde ich handeln? Woran würde ich es merken?
Auch diese Frage- und Antwortrunde eignet sich für eine Partnerübung.
Mehr davon Vertiefte Informationen über hypnotherapeutische Elemente in der Gesprächsführung finden Sie in Abschn. 2.4. („Vorgespräch [und Gespräch] zur Systemaufstellung“).
Furchtlosigkeit meint nicht die Abwesenheit von Angst. Furchtlosigkeit bezeichnet den Mut oder die vertrauende Bereitschaft, sich einer Angst/einer Herausforderung zu stellen. Kurz gefasst
Furcht und Furchtlosigkeit haben mehrere Dimensionen. Sie beschreiben • die Angst vor starken Emotionen und die Bereitschaft, dem Leben mit einem „Ja“ zu begegnen, wie es einem begegnet; • die Furcht vor Veränderungen und die Bereitschaft, mit dem zu gehen, was sich entwickeln will; • den Zustand, in dem man sich mutig der Angst stellt.
1.4.2.5 Absichtslosigkeit „Wie kann man absichtslos sein, wenn man die Absicht hat, eine Aufstellung für einen Klienten zu machen, der wiederum ein Anliegen hat (und damit eine Absicht,) welches er mit der Aufstellung zu einer Lösung führen will?“ So oder so ähnlich werden wir immer wieder von unseren Teilnehmern gefragt – und natürlich ist die Frage berechtigt. Wir kann man bei so viel Absicht von Absichtslosigkeit sprechen? Aufsteller sagen gerne, dass sie mit einer absichtslosen Haltung arbeiten – aus der Quantenphysik wissen wir aber, dass das gar nicht möglich ist. Ohne Absicht könnten wir keine Aufstellung machen, und wir könnten auch nichts erkennen.
Ohne die Absicht, etwas anschauen bzw. erkennen zu wollen, können wir nichts sehen.
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
Warum das so ist, darüber hat Stephanie Hartung in dem Buch „Warum funktionieren Aufstellungen?“ geschrieben (Hartung 2014). Es würde hier den Rahmen sprengen, näher auf die Aspekte von Absicht, Superposition der Möglichkeiten und systemsicher Verschränkung einzugehen. Wir finden aber, dass es sich in jedem Fall lohnt, sich mit dem Thema der Erkenntnis im Kontext von Beobachtungsabsicht zu befassen. Die Absichtslosigkeit im Kontext der Aufstellung aber hat noch eine weitere Dimension, die berührt wird, wenn wir davon sprechen, dass wir uns als Aufsteller in Absichtslosigkeit üben. In diesem Zusammenhang muss möglicherweise der Begriff der Absichtslosigkeit eigens definiert werden. Die Absicht hinter der Absichtslosigkeit Handeln in Absichtslosigkeit, so sagen die östlichen spirituellen Schulen, ist rechtes Handeln. Es ist ein Handeln aus dem Moment heraus im Moment. Es ist die Begegnung mit dem, was ist. Es ist das Handeln in der Situation, so wie sie ist, ohne damit eine bestimmte Absicht zu verknüpfen, ohne ein bestimmtes Ergebnis zu erwarten und ohne einen Gewinn zu erhoffen. Es ist kein zweckgebundenes Handeln, kein Handeln, „um zu.“ Dann, und nur dann, so heißt es, ist das Handeln absichtslos und frei. Unser rationaler Verstand kann nicht nachvollziehen, wie es möglich sein kann, ohne Absicht zu handeln, denn er denkt in Kontexten von „um zu“, er denkt in Kategorien von Wollen, Zielen, Ergebnissen. Er zielt auf Erfolg und versucht, Misserfolge durch seine Planung der Handlungen zu verhindern. Außerdem – so kennen wir es aus der Organisationslehre – steht hinter jeder Handlung eine Vision von einem Zustand, den wir durch unser Handeln erreichen wollen. Jede unserer Handlungen ist also Ausdruck der Mission, mit der wir unsere Vision verwirklichen wollen. Würde sich ein Aufsteller so verstanden von seinem rationalen „Wenn-dann“- bzw. „Um-zu“-Verstand leiten lassen, dann ginge es bei all seinen Handlungen immer um sein Ego, seine Absichten, seine Vision, Wünsche oder seine Ziele. Dann glichen seine Handlungen einer Mission. Und genau das sollen sie in der Aufstellung nicht sein. Vielmehr dient der Aufsteller nur dann dem Klienten, wenn er absichtslos bleibt, absichtslos handelt. Davon ausgehend, dass es die reine Absichtslosigkeit nicht geben kann, muss demnach hinter der Absichtslosigkeit des Aufstellers eine übergeordnete, von seiner Absicht befreite, größere Absicht wirken. Diese größere Absicht kann vergleichbar der Absicht verstanden werden, von der der indische Philosoph Atisha (982–1054) spricht, wenn er sinngemäß sagt: Lass eine Absicht alles durchdringen. Im Moment der absichtslosen Präsenz ebenso wie der absichtslosen Handlung geht es ausschließlich darum wahrzunehmen, was ist, und mit dem zu gehen, was sich zeigt. Absichtslosigkeit ist dementsprechend eine Haltung und schließlich ein Zustand, der sich dem Feld und damit der größeren Absicht anvertraut und mit dem geht, was sich zeigt – wie die Aufsteller sagen. In einer Übung aus Atishas Geistestrainings gilt es, den Schmerz, der einem (beim Klienten) begegnet, einzuatmen und zugleich alles, was an Freude, Frieden und Glück in
1.4 Grundlegende Aspekte der Systemaufstellung
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einem selbst ist, auszuatmen. Das geschieht in der einen Absicht, die alles durchdringt. Zugleich ist dabei absolute Absichtslosigkeit entscheidend, weil es nicht darum geht, dass es dem Klienten anschließend bessergeht. Die Absicht hinter der Absichtslosigkeit stellt sich in den Dienst der Eins-Gerichtetheit (des Eins-Seins), in der die Dualität aus Klient und Aufsteller zugunsten eines verbundenen und unteilbaren Miteinanders aufgelöst ist.
Hinter der Absichtslosigkeit des Aufstellers wirkt eine größere Absicht, die alles durchdringt.
Ich und mein Gegenüber werden zu einem resonanten Schwingen, bei dem wir nicht wissen, was sein wird und wer wir sein werden. Wir können uns die Absicht hinter der Absichtslosigkeit wie einen konzentrierten Pfeil vorstellen, der seine Herkunft kennt, nicht aber sein Ziel. Die Grundhaltung der Absichtslosigkeit ist die des Verbunden-Seins, des Nicht-Wissens und des uneigennützigen Dienens.
Die Absichtslosigkeit des Aufstellers beschreibt das Verbunden-Sein, das Nicht-Wissen und das uneigennützige Dienen.
Damit kommt die Haltung der Absichtslosigkeit in der Praxis der Systemaufstellung sehr nah an die Schule des Karma Yoga. Hier ist die Absichtslosigkeit die Grundhaltung und meint ein Handeln ohne Zweckgebundenheit. Karma Yoga ist eine der 6 Schulen des Yoga. Es wird auch als „Yoga der Tat“ oder „Yoga des selbstlosen Dienens“ bezeichnet. Übung Doppelte Wahrnehmung Um in den Zustand der nicht wissenden Absichtslosigkeit zu gelangen, bedarf es konzentrierter Präsenz, wie wir sie mit unseren Teilnehmern in der Übung der doppelten Wahrnehmung praktizieren. Doppelte Wahrnehmung heißt: Wir nehmen in uns die resonante Schwingung dessen wahr, was wir wahrnehmen. Wir schauen auf unser Gegenüber mit einem weitgestellten Blick. Wir beobachten ihn nicht detailliert, sondern erfassen ihn in seiner Präsenz. Zugleich nehmen wir uns selber wahr. Wir horchen in uns und machen uns bewusst, dass wir unser Gegenüber aus unserem Innenraum heraus beobachten. Diese Übung wiederholen wir im Verlauf unserer Weiterbildungen dreimal. Das Ziel der Übung ist die absichtslose Präsenz und zugleich die bewusste Wahrnehmung des eigenen Innenraums und des Außen (siehe Abb. 1.4). Die Übung besteht aus 4 Phasen: In Phase 1 sitzen sich die beiden Teilnehmer A und B gegenüber und beobachten einander genau. Wie sieht sie/er aus? Wie sind die Gesichtskonturen, hat sie/er eine große, kleine, fleischige oder Hakennase? Hängen die Mundwinkel? Wie ist der Blick in ihren/seinen Augen – kalt, freundlich, traurig? Kann ich Zu- oder Abneigung bei mir bemerken? Wie bewerte ich, was ich sehe? Woran erinnert es mich? Was trägt mein Gegenüber?
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
Abb. 1.4 Doppelte Wahrnehmung
Es geht im ersten Teil der Übung also darum, die Art und Weise, mit der wir gemeinhin unsere Umwelt beobachten, ein bisschen zu übertreiben, sehr detailliert zu beobachten und bewusst kritisch zu bewerten. Die erste Phase dauert 7 min. Phase 2 ist eine Meditation mit geschlossenen Augen, bei der zunächst die Aufmerksamkeit auf den Körper, von den Füßen bis hinauf zum Kopf, gelenkt wird. Die Aufmerksamkeit wird nach innen gelenkt, und die Teilnehmer sollen sich vorstellen, wie sie mit jedem Atemzug ihren Innenraum erweitern. Dabei sollen sie durch zirkuläres Atmen unterstützt werden. Sie stellen sich vor, durch den Kopf ein- und durch die Füße auszuatmen. Anschließend wechseln sie die Richtung und atmen durch die Füße ein und durch den Scheitelpunkt aus. Die Richtungsänderung des Atems wird mehrmals wiederholt, während die Aufmerksamkeit dabei weiter auf die Ausdehnung des Innenraums gerichtet bleibt. Phase 2 dauert mindestens 15, maximal 30 min (je nachdem, wie geschult die Teilnehmer in der Meditation sind). Phase 3 beginnt damit, dass die Teilnehmer die Augen wieder öffnen und nun absichtslos und bewusst aus ihrem weiten Innenraum schauen (nicht mehr beobachten). Sie blicken nicht mehr direkt in die Augen ihres Gegenübers, sondern richten den Blick etwas unscharf auf dessen Nasenwurzel. Dabei machen sie sich bewusst, dass sie immer ihre eigene Nase sehen. Sie richten die Konzentration auf ihre Präsenz und ihre inneren Wahrnehmungen. Eventuelle Gedanken lassen sie vorbeifließen. Phase 3 dauert 7 min. In Phase 4 tauschen sich A und B über ihre Erfahrungen aus. Phase 4 dauert insgesamt 15–20 min.
Doppelte Wahrnehmung heißt: Wir nehmen in uns die resonante Schwingung dessen wahr, was wir wahrnehmen.
1.4.2.6 Selbstverantwortung Wir haben bereits im Abschnitt über Ethik den Aspekt der Selbstverantwortung des Klienten angesprochen, und auch im Rahmen der humanistischen Psychotherapie(en) – ebenso in den Ordnungen des Helfens, wie sie Bert Hellinger formuliert hat – ist die Selbstverantwortung des Klienten ein zentrales Thema. Im Kern sagen die verschiedenen Betrachtungen übereinstimmend: Der Klient ist für sich selbst verantwortlich. Er ist (in der Regel) erwachsen. Er braucht keine Hilfe im Sinne eines „Nicht-Könnens“.
1.4 Grundlegende Aspekte der Systemaufstellung
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Selbstverantwortung wird häufig missverstanden als „selbst schuld“. Wenn wir fragen, wer die Verantwortung für einen Zustand trägt, dann fragen wir in der Regel danach, wer die Situation verursacht hat und demnach die Schuld trägt. Würden wir die Verantwortung begrifflich von der Schuld trennen, wäre es leichter. Dann wäre die Schuld die Frage nach dem Verursacherprinzip. Die Frage nach der Verantwortung bezöge sich auf die Herausforderung, eine Antwort auf das zu finden, was ist. Jenseits von Vorgaben für Recht und Ordnung in Gesellschaften ist die Frage nach der Schuld in gewisser Hinsicht irrelevant, weil das Wissen um den Schuldigen das, was ist, nicht ändern kann. Um das, was ist, geht es jedoch in Aufstellungen. Im Miteinander von Aufsteller und Klient stellt sich daher ausschließlich die Frage nach der Verantwortung bzw. der Selbstverantwortung des Klienten. Die Frage an ihn lautet: „Welche Antwort möchtest Du finden?“.
Selbstverantwortung beschreibt nicht die Schuld an dem, was ist, sondern die Fähigkeit, eine Antwort auf das, was ist, zu formulieren. Selbstverantwortung ist Selbstbestimmung in Freiheit.
Selbstoptimierung ist das unerbittliche Credo einer narzisstischen Kultur, sie sucht nach bzw. fordert Veränderung dessen, was ist. Selbstverantwortung meint nicht Selbstoptimierung, in dem Sinne, dass wir dafür verantwortlich wären, aus uns das „Optimum“ herauszuholen (was auch immer das Optimum sein soll). Selbstverantwortung meint, mit unserem Sosein entsprechend so zu sein. In der Selbstverantwortung begegnet der Mensch seinen Umständen und Bedingungen, ohne diese ändern zu wollen. Es gibt Klienten, die Aufstellungsarbeit in diesem Sinn als Raum für selbstverantwortliche Persönlichkeitsentwicklung begreifen und sich in diesem Rahmen furchtlos dem, was ist – und damit ihrer Selbsterfahrung und -entwicklung – widmen.
Mehr davon Über die Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung durch die Aufstellungsarbeit lesen Sie in Kap. 5 („Biografie, Selbst, Persönlichkeit“).
Nicht selten aber ist es so, dass ein Klient Beratung sucht, wenn er das Gefühl hat, seine Probleme nicht meistern zu können, oder wenn er glaubt, seine Lebensumstände nicht im Griff zu haben und/oder sie nicht ändern zu können. Bewusst oder unbewusst sucht er dann nach einem Therapeuten, der sein Problem löst – weil er genau das eben nicht selber kann (so ist er überzeugt). Eine solche Herangehensweise des Klienten schließt in gewisser Form seine selbstverantwortliche Haltung aus. Die Kunst des Systemaufstellers wird es dann sein, den Klienten zunächst wieder zu seiner Selbstverantwortung zurückzuführen. Er erweist ihm damit zugleich den benötigten Respekt und die Achtung, die eine Begegnung auf Augenhöhe voraussetzt. Und er gibt ihm Selbstbestimmung in Freiheit.
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
Mehr davon Welche Möglichkeiten der Gesprächsführung es für die Rückführung zur Selbstverantwortung gibt, darüber lesen Sie mehr in Abschn. 2.4 („Vorgespräch [und Gespräch] zur Systemaufstellung“).
Rechtliche Aspekte der Selbstverantwortung Selbstverantwortung birgt auch einen rechtlichen Aspekt. In Deutschland darf nur psychotherapeutisch arbeiten, wer eine Heilerlaubnis hat. Wer mit Aufstellungen – insbesondere im individualen Bereich – arbeitet, bewegt sich daher unter rechtlichen Aspekten möglicherweise in einer therapeutischen Grauzone. Im Kontext der holistischen Betrachtung des Menschen, wie sie die humanistische Psychotherapie und mit ihr eben auch die Methode der Systemaufstellung vertritt, kommt der aufstellende Therapeut gar nicht umhin, eben auch mit der Psyche des Klienten zu arbeiten – denn Körper, Seele und Geist gelten hier aus holistischer Perspektive als untrennbare Einheit. In Abgrenzung zur Psychotherapie könnte man bei der individualtherapeutischen/psychosozialen Aufstellungsarbeit also eher von organismischer, holistischer oder eben systemischer Therapie sprechen. Allerdings ist letztere Bezeichnung bereits durch konstruktivistische Ansätze der Familientherapie besetzt. Zunächst gilt jedenfalls: Der Begriff Therapeut ist nicht geschützt. Das Landgericht Kiel und das Oberlandesgericht Schleswig haben 2008–2009 diese Entscheidung entsprechend bestätigt (LG/OLG 2008–2009). Ein Aufsteller darf sich also Therapeut, Aufstellungstherapeut, Systemtherapeut, Gestalttherapeut o. Ä. nennen. Er darf sich in keinem Fall Psychotherapeut nennen und auch nicht behaupten, dass er psychotherapeutisch arbeite – es sei denn, er hat die entsprechende Heilerlaubnis. Wann genau er diese hat, beschreibt das folgende Zitat. Welche gesetzlichen Regelungen gibt es für die Ausübung von Psychotherapie? In dem 1999 in Kraft getretenen Psychotherapeutengesetz (PsychThG) sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Psychotherapeuten festgelegt. Die Titel Psychotherapeut, Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut sind gesetzlich geschützt und heißen Approbation. Nur wer über die entsprechende Ausbildung verfügt, darf sich so nennen. Die Ausbildung zum Psychotherapeuten dauert ganztags 3 und berufsbegleitend 5 Jahre und muss an einem anerkannten Ausbildungsinstitut in einem wissenschaftlich anerkannten Verfahren absolviert werden. Erlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz (HeilprG) Voraussetzung für diese Zulassung ist eine vom Gesundheitsamt verliehene Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde, manchmal auch beschränkt auf Psychotherapie (§ 1 HeilprG). In vielen Fällen verlangen die Gesundheitsämter einen Nachweis über ein Psychologiestudium und eine Therapieausbildung oder sie setzen eine mündliche Prüfung an. Leider sagt diese Erlaubniserteilung wenig über die zugrundeliegende Ausbildung aus, da neben Diplom-Psychologen und Psychotherapeuten auch andere Berufsgruppen wie Sozialpädagogen, Heilpraktiker oder sogar Ungelernte mit dieser Erlaubnis praktizieren. Die Gesundheitsämter handhaben die Erteilung der Berufszulassung nach dem HPG unterschiedlich. Es empfiehlt sich daher nachzufragen, welche Ausbildung der Erlaubnis zugrunde liegt. (Psychotherapie Informations-Dienst 2019).
1.4 Grundlegende Aspekte der Systemaufstellung
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Um im Rahmen der beschriebenen Grauzone im rechtlich korrekten und damit auch geschützten Rahmen arbeiten zu können, empfehlen wir unseren Teilnehmern, dass sie ihre Klienten und auch Stellvertreter im Aufstellungsgeschehen in jedem Fall immer vor der Zusammenarbeit per Unterschrift bestätigen lassen, dass diese wissen, dass es sich bei der therapeutischen Arbeit mit Systemaufstellung nicht um eine psychotherapeutische Leistung handelt und die Klienten und Stellvertreter für alles, was in der Aufstellung geschieht, selbst verantwortlich sind. Sie bestätigen auch ihr Wissen darum, dass die Aufstellungsarbeit keine psychotherapeutischen Maßnahmen ersetzen, vielmehr solche Maßnahmen – wenn überhaupt – ergänzen kann. Es ist auch wichtig, die Klienten zu fragen, ob sie sich aktuell in psychotherapeutischer Behandlung befinden. Wenn ja, empfiehlt es sich, die Zustimmung des behandelnden Psychotherapeuten zu einer Aufstellung einzuholen. Der Text, den Teilnehmer einer Weiterbildung – und in abgewandelter Form auch Klienten – vor der Zusammenarbeit unterschreiben sollte, liegt als PDF „Erklärung der Eigenverantwortung“ bei www.springer.com zum Download bereit.
1.4.2.7 Wahrnehmung, Sammlung und Präsenz Der Wahrnehmung haben wir in diesem Buch ein ganzes Kapitel mit den unterschiedlichsten Perspektiven auf das Thema gewidmet, deshalb weisen wir an dieser Stelle lediglich darauf hin, dass Wahrnehmung, Sammlung und Präsenz die Grundvoraussetzungen für die Arbeit sind. Als zentrale Qualitäten wollen sie immer wieder geübt, verfeinert und erweitert werden. Wir können insofern in unseren Weiterbildungen unseren Teilnehmern immer nur eine erste Idee davon geben, welche mannigfaltigen Möglichkeiten es zur Übung der Präsenz und Wahrnehmung gibt.
Mehr davon Umfassende und weitgehende Informationen zur Wahrnehmung geben wir Ihnen in Kap. 3.
Sammlung ist der Vorgang der Konzentration auf sich und seinen Innenraum – und sie ist zugleich der Zustand der Konzentriertheit, der den Kern der Präsenz ausmacht. In diesem Zustand sind Bewusstheit, Achtsamkeit und Atem auf den Innenraum fokussiert.
Sammlung ist der Vorgang der Konzentration auf sich und seinen Innenraum. Sie ist zugleich der Zustand der Konzentriertheit, der den Kern der Präsenz ausmacht. In diesem Zustand sind Bewusstheit, Achtsamkeit und Atem auf den Innenraum fokussiert.
Das Wort Präsenz stammt aus dem Lateinischen und heißt hier als Substantiv „praesentia“ = Gegenwart, und als Adjektiv „praesens“ = gegenwärtig. Präsenz beschreibt demnach einen Zustand der Gegenwärtigkeit in der Gegenwart, einer Anwesenheit im Hier und Jetzt.
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
Gegenwärtigkeit im Hier und Jetzt ist der zentrale Fokus vieler spirituellen Schulen und Religionen. So ist zum Beispiel das Ziel des Zen-Buddhismus, zu einer absoluten und uneingeschränkten Gegenwärtigkeit der wertfreien Wahrnehmung zu gelangen. Nur dann gebe es weder Leiden noch Probleme. Auch in den Evangelien der Bibel findet man Hinweise und Ratschläge für das Leben im gegenwärtigen Augenblick. Der zentrale Aspekt von Sammlung und Präsenz ist der Atem. Das Bewusstsein der Geschöpfe ist durch das Atemholen bedingt. Ist der Atem nicht reichlich, so ist das nicht die Schuld des Himmels; denn der Himmel entsendet ihn Tag und Nacht ohne Aufhören, und nur der Mensch selber ist es, der darauf bedacht ist, seine Zugänge zu verstopfen. Der Mensch hat in seinem Leibe genügenden Raum (um Atem zu holen). Seine Seele hat ein natürliches Vermögen sich zu ergehen. (Zi, 400 v. Chr.)
Und so sind es denn auch die zahlreichen Atemübungen und Atemmeditationen, die den Zustand der Gegenwärtigkeit in der Gegenwart, die authentische Präsenz möglich machen. Aufstellungsformat: absichtslose Präsenz Neben der Übung der doppelten Wahrnehmung, die wir hier im Kapitel weiter oben beschrieben haben, möchten wir Ihnen noch ein Aufstellungsformat vorstellen, das in seiner Schlichtheit die Einfachheit der absichtslosen Präsenz und die damit verbundene Stille abbildet. Bei dem Format stehen A und B einander gegenüber. Dabei bleiben sie absichtslos, wertfrei, wahrnehmend, präsent. Sie atmen bewusst, sie atmen zirkulär und dehnen dabei ihren Innenraum aus (Abb. 1.5). Den Zustand der bewussten und absichtslosen Präsenz erreicht man durch: Übung, Übung, Übung. Die Stille ist ein guter Gradmesser für die eigene Präsenz: Je bewusster man die Stille hört, in die Geräusche fallen, desto präsenter ist man.
Die Stille ist ein guter Gradmesser für die eigene Präsenz. Sie ist hörbar.
1.4.2.8 Demut und Hingabe Demut ist die zentrale Haltung (nicht nur) der humanistischen Psychotherapie, und so sehr sie förmlich das Herzstück der Präsenz im Aufstellungsgeschehen ist (ebenso wie Abb. 1.5 Aufstellungsformat Präsenz
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im Miteinander von Berater und Klient), so schwierig ist es für uns Menschen immer wieder, demütig zu sein. Das mag darin begründet sein, dass wir tagtäglich versuchen, das Leben zu gestalten und dabei natürlich glauben (oder zumindest hoffen), wir hätten Kontrolle, wenn wir über „richtig“ und „falsch“ nachdenken und wenn wir Entscheidungen treffen. Die Lebenserfahrung zeigt: Wir haben keine Kontrolle. Es gibt kein Richtig und kein Falsch. Und: Wir müssen andauernd Entscheidungen treffen. Wir müssen trennen – die eine Möglichkeit von der anderen. Es gibt immer Konsequenzen. Wir können nur annehmen, was ist, ohne Wertung, ohne Kategorisierung. Erst die Kombination aus bedingungsloser Annahme ohne Wertung ermöglich uns die Hingabe in Demut, verstanden als Hingabe in tiefem Respekt vor der Größe der Wirklichkeit des Seins. Die Demut birgt die Anerkennung und Akzeptanz der eigenen Grenzen. Sie offenbart zugleich das dem Menschen innewohnende Größere, jenseits der Ich-Beschränktheit. Demut in der Aufstellungsarbeit heißt, sich in den Dienst des Ganzen zu stellen, sich dem Leben des Klienten zuzuwenden und ihn zu sich selbst zu ermutigen. Der demütige Berater nimmt sich da zurück, wo dies die Chancen auf Verwirklichung und Entfaltung des Anderen stärkt. In der Hingabe findet die Demut ihre Vollendung. Als Willensakt der „absoluten Willenslosigkeit“ vertraut sie darauf, dass alles Sein auf eine universale Weise zusammenhängt, mithin eins ist. Die Leidenschaft, die in solch einer momenthaften Ichvergessenheit lebt, hebt alle konstruierten Grenzlinien auf. Und so ist die spirituelle Bedeutung der Hingabe in Demut unermesslich.
In der Hingabe findet die Demut ihre Vollendung. Sie vertraut darauf, dass alles Sein auf eine universale Weise zusammenhängt und eins ist.
Das ist das Größte, was wir (eben auch als Aufsteller) erreichen können. Wenn wir in diesem Zustand, in dieser Haltung als Aufsteller dem Klienten begegnen, können wir von Liebe sprechen. Wie aber sollen wir unseren Teilnehmern diese beinahe unfassbaren Dimensionen vermitteln? Wie können wir Demut und Hingabe lehren? Unsere Erfahrung sagt: Es braucht eine grundlegende Bereitschaft der Teilnehmer. Sie müssen schon offen dafür sein, sich einem Feld des Nichtwissens zu überlassen, in dem sie Erfahrungen machen können, die so viel größer sind als das, was mit dem Alltagsverstand zu erfassen, zu kategorisieren, zu plausibilisieren wäre. Für uns Ausbilder gilt es zugleich, in dieser Haltung des Nichtwissens alle Aspekte der Methode der Aufstellungsarbeit zu vermitteln – und dieser Spagat wird (auch in diesem Buch) wiederholt Thema sein. Alle Wahrnehmungsübungen und die diversen philosophischen und spirituellen Betrachtungen in unserem Buch dienen nicht zuletzt auch der Übung in multiplem Perspektivenwechsel, Nichtwissen, Wahrnehmung und Annehmen. Sie dienen so gesehen der Übung von Hingabe in Demut.
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
1.4.3 Stimme und Körperhaltung Die Stimme und die Körperhaltung sind – neben dem, was ein Klient sagt, wertvolle Informationsquellen, die ihre eigenen, vom Verstand unkontrollierbaren Geschichten erzählen. Alles was ist, drückt sich in der physisch-akustischen Präsenz des Klienten aus. Die Achtsamkeitsschulung in Bezug auf Klang und Form spielt deshalb eine wichtige Rolle in unserer Weiterbildung. So lenken wir immer wieder die Aufmerksamkeit unserer Teilnehmer auf Körperbewegungen, unvermittelte Zuckungen, schnelle Augenbewegungen, unterbrochenes Atmen, Räuspern, kurzes Lächeln oder Aufleuchten der Augen, Vergrößerung oder Verengung der Pupillen und, und, und. Je geübter unsere Teilnehmer in der Wahrnehmung von Körperausdruck und Stimme werden, desto weniger lassen sie sich auf das Glatteis der Worte des Klienten führen. Wir sprechen von Glatteis, weil es nicht selten geschieht, dass der Aufsteller in dem Bemühen, inhaltlich nachzuvollziehen, was der Klient ihm erzählt, in die Logik oder auch die Verwirrung des Klienten hineingezogen wird. Es ist daher hilfreicher, darauf zu achten, wie „der ganze“ Klient seine Geschichte erzählt. So erfasst der Aufsteller leichter die Dimension des Anliegens und das, worum es im Kern geht. Um geübter in der Wahrnehmung von Stimme und Ausdruck zu werden gibt es neben der Übung der doppelten Wahrnehmung zahlreiche Übungen, und wir stellen hier drei davon vor. Übung 1: Was die Stimme erzählt Die Übung dient der Schärfung der Wahrnehmung des Stimmklangs und der Vermittlung der Fähigkeit, jenseits von Worten Informationen zu erfassen. Die Übung besteht aus 2 Phasen und wird mit 2 Teilnehmern, A und B gemacht. In Phase 1 denkt A an ein Erlebnis, dass ihn in besonderer Weise berührt hat. Der Eindruck kann für ihn sowohl sehr leidvoll als auch besonders freudvoll gewesen sein. Nun beginnt er, B von diesem Erlebnis in Kauderwelsch/Gibberish zu erzählen. Damit meinen wir, dass keine konkrete Sprache, sondern eine Lautmalerei für die Erzählung verwendet werden soll. Erfahrungsgemäß dauert es für die Teilnehmer eine kurze Zeit, bis sie die Scheu vor der ungewohnten Art des Ausdrucks überwinden und angemessen expressiv betonen, was sie erzählen wollen. Anschließend tauschen A und B die Rollen. Phase 1 dauert 2-mal 5 min. In Phase 2 tauschen sich A und B 10 min über ihre Erfahrungen aus (Übung 1 in Abb. 1.6). Übung 2: Was der Körper erzählt Übung 2 gleicht der ersten Übung im Ablauf und richtet nun die Wahrnehmung auf den Körperausdruck. Auch sie dient der Schärfung der Wahrnehmung der Physis in Haltung und Bewegung und auch hier der Vermittlung der Fähigkeit, jenseits von Worten Informationen zu erfassen.
1.4 Grundlegende Aspekte der Systemaufstellung
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Abb. 1.6 Übung 1: Was die Stimme erzählt
Die Übung besteht ebenfalls aus 2 Phasen und wird wieder mit 2 Teilnehmern, A und B, gemacht. In Phase 1 denkt A an ein Erlebnis, das ihn in besonderer Weise – leidvoll oder freudvoll – berührt hat. Nun beginnt er, B von diesem Erlebnis ausschließlich durch Körperbewegungen zu „erzählen“. Dabei darf er unterstützende Geräusche machen, aber nicht sprechen (auch nicht Kauderwelsch) und keine konkreten Wörter verwenden. Anschließend tauschen A und B die Rollen. Phase 1 dauert 2-mal 5 min. In Phase 2 der 2. Übung tauschen sich A und B 10 min über ihre Erfahrungen aus (Übung 2 in Abb. 1.7). Übung 3: Wie die Körperhaltung die Stimme beeinflusst Der Körper ist der Resonanzraum der Stimme – und natürlich hat die Körperhaltung deshalb einen entscheidenden Einfluss auf die Stimme und damit auch auf die gesamte Präsenz. Übung 3 schärft die Wahrnehmung für die Körperhaltung des Klienten, seine Stimme und seine Präsenz. Auch diese Übung wird zu zweit von A und B durchgeführt, und sie hat 2 Phasen. In Phase 1 sagt A 3–4 Sätze über sich: „Mein Name ist … Ich bin eine Frau/ein Mann und … Jahre alt. Meine besondere Stärke ist … Meine Schwäche, ist …“.
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
Abb. 1.7 Übung 2: Was der Körper erzählt einfügen
Die Sätze sagt A • zuerst in einer aufrechten Haltung, der Kopf befindet sich in Verlängerung der Wirbelsäule in Neutralposition, der Blick ist direkt, die Arme hängen entspannt am Körper, die Füße stehen hüftbreit leicht nach außen gerichtet; • anschließend in einer gebückten Haltung, aus der ein Blick in die Augen von B mühsam oder gar unmöglich ist, mit schützenden, gekreuzten Armen vor dem Körper, geschlossenen Knien und nach innen gerichteten Füßen; • und schließlich in einer aufrechten Haltung mit betont geschwellter Brust, leicht nach hinten geneigtem Kopf, von oben geneigtem Blick, zur Seite geöffneten Armen, überhüftbreit gestellten Beinen mit betont nach außen gedrehten Füßen. Während A die Sätze in den verschiedenen Positionen sagt, bleibt B in der Präsenz und schaut auf A. Anschließend tauschen A und B die Positionen, B sagt die Sätze in den drei Positionen. Phase 1 dauert 2-mal 5 min. In Phase 2 tauschen sich A und B 10 min aus (Übung 3 in Abb. 1.8). In Vorgesprächen zur Aufstellung sind Klienten oft angespannt und nervös. Wenn sie dann beginnen, über für sie belastende Themen zu sprechen, verkrampfen sie einmal mehr, um die damit verbundenen Emotionen zu halten. Wir lenken die Aufmerksamkeit unserer Teilnehmer auf diesen Moment und regen an, dem Klienten vorzuschlagen, für einen Moment zu schweigen, beide Füße auf den Boden zu stellen und sich vorzustellen, dass er durch die Füße in den Boden aus- und durch den Scheitelpunkt am Kopf einatmet. Häufig ist die Unterstützung darin, Entspannung im Körper zu finden, ein entscheidender Schritt zur veränderten Wahrnehmung der eigenen Problematik, bisweilen wirkt sie so weniger bedrohlich. Insgesamt vermittelt diese Art der Atmung auch ein Gefühl von Sicherheit als verbindende Grundlage der Begegnung zwischen Aufsteller und Klient.
1.5 Ordnungen der Liebe und des Helfens
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Abb. 1.8 Übung 3: Körperhaltung und Ausdruck
1.5 Ordnungen der Liebe und des Helfens 1.5.1 Einführung Ordnungen der Liebe und des Helfens sind von Bert Hellinger geprägte Begriffe, die insbesondere in psychotherapeutisch ausgerichteten Familien- und Systemaufstellungen eine besondere Bedeutung haben und zu den Grundlagen gehören. Wir haben den beiden Aspekten daher eigene Abschnitte gewidmet.
1.5.2 Ordnungen der Liebe Es gibt Ordnungen in Systemen. Das ist sicher. Unsicher ist, ob sie als Teil der natürlichen Gegebenheiten oder als kulturelle Errungenschaften des Menschen zu verstehen sind. Unabhängig aber davon, ob sie natürlicher oder kultureller Herkunft sind – die Ordnungen gibt es, und sie haben eine entscheidende Bedeutung für unser Miteinander.
Mehr davon Vertiefte Darstellungen zu Systemordnungen finden Sie in Kap. 4.
Die Bedeutung der Ordnung zeigt sich in Beziehungssystemen, bei Paaren, und sie zeigt sich in Familien, die sozusagen die „Urform“ der Systeme sind, weil es sich hier um
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
eine Mischung aus Paar-, Generationen- und Bindungsliebe handelt, sobald die Familie als solches entstanden ist. Bindungsliebe meint: genetische Verwandtschaft und die Verbundenheit, die durch die genetische Verbindung entsteht. Wir sagen, dass „Blut dicker als Wasser“ ist, und damit meinen wir, dass sich in der Bindungsliebe das Phänomen der tiefen (genetischen) Verbundenheit zeigt – unabhängig von der jeweiligen Sympathie bzw. freundschaftlichen oder erotischen Liebe bzw. Nächstenliebe füreinander. Nur wenn familiäre Systemordnungen eingehalten werden, kann die Nächstenliebe durch die Bindungsliebe fließen. Aufsteller sprechen deshalb von den Ordnungen der Liebe, eine Bezeichnung, die auf Bert Hellinger zurückzuführen ist. Er hat sich intensiv mit den Ordnungen der Liebe befasst und diese als gegeben angenommen. Dabei hat er bewusst offengelassen, ob die Gegebenheit eine natürliche oder eine über die Jahrtausende kulturell gewachsene sei. Für Hellinger steht die Tatsache der Gegebenheit als solche – jenseits ihrer Quelle – im Vordergrund, und damit gilt für sein Verständnis, dass die Ordnungen der Liebe in Paarsystemen und in Familiensystemen phänomenologisch erscheinen und wahrnehmbar sind.
Bindungsliebe bezeichnet die Verbundenheit, die aus der genetischen Verbindung entsteht.
Wenn die Liebe in der Partnerschaft oder im Familiensystem nicht fließen kann, weil sie durch verschiedentliches Verhalten gestört wird, dann – so sind die Systemaufsteller nach Hellinger überzeugt – wurde die Ordnung nicht eingehalten. Systemisch könnten wir sozusagen von „ordnungswidrigem Verhalten“ sprechen. Wird die Ordnung durch entsprechendes Verhalten wiederhergestellt, kann die Liebe in der Bindung wieder fließen. Viele meinen, sie seien in ihrer Liebe frei. Doch die Liebe folgt Ordnungen. So wie das Leben Ordnungen folgt, denen wir uns fügen müssen, damit es gelingt, geht es uns auch mit der Liebe. Vielen Ordnungen der Liebe folgen wir unwillkürlich. Sie sind uns bewusst. Wir wissen, wenn wir gegen sie verstoßen, leidet unsere Liebe. Die Ordnungen der Liebe bestehen unabhängig von unseren Wünschen oder Ängsten. Sie werden uns offenbart durch die Folgen, wenn wir gegen sie verstoßen. Über die Bewegungen der Stellvertreter bei einer Aufstellung und über die Ergebnisse, zu denen sie führen, kommen sowohl die Unordnungen ans Licht, die zu Problemen und zu Krankheiten führen, als auch jene Ordnungen, die beachtet und wiederhergestellt werden müssen. Alle diese Ordnungen sind Ordnungen der Liebe und des Lebens. (Hellinger 2019)
Der Gestalttherapeut und Systemaufsteller Hunter Beaumont (*1943), der zunächst eng mit Bert Hellinger zusammengearbeitet hatte, äußert sich zu Hellingers Ordnungen der Liebe in einem Interview mit Judith Hemming im Jahr 1999:
1.5 Ordnungen der Liebe und des Helfens
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Hellinger hat erkannt, welchen störenden Einfluß Turbulenzen im System auf die Selbstorganisation haben und wie andererseits die systemische Ordnung mit der Komplettierung von Gestalten zusammenhängt. Ich kenne niemanden, der auf diese Zusammenhänge schon einmal hingewiesen hätte. Gordon Wheeler schrieb 1991 über die Strukturiertheit des Feldes. Er sagt, das Feld ist weder leer noch zufällig geprägt, es hat eine Struktur, aber er sagt nicht, wie diese Struktur aussieht. Eine allen Gestalttherapeuten wohlbekannte Struktur ist die Tendenz der Gestalt, sich selbst zu schließen. Das bringt die Existenz mit sich; eine Gestalt offen zu halten, erfordert Energie. Das ist ein Gesetz des Seins, es ist dem Feld immanent. Auch Jungs Archetypen sind Strukturen des psychologischen Feldes, die unsere Erfahrung prägen. Sie verleihen unserer Erfahrung eine Form. Hellinger wollte wissen, was Liebe und Intimität fördert. Es ist völlig klar, daß die Liebe welkt und stirbt, wenn wir sie verletzen. Was aber müssen wir tun, damit sie blühen, wachsen und reifen kann? Wie müssen wir uns verhalten? Welche Entscheidungen müssen wir treffen? Bert Hellinger war der erste, den ich darüber habe sprechen hören. Was z.B. die Beziehung zwischen Eltern und Kindern betrifft, bemerkte er, daß die Liebe besser funktioniert, wenn die Eltern sich wie Eltern verhalten und die Kinder wie Kinder. Alles andere macht die Liebe kaputt. Das spezielle Verhalten mag sich von Kultur zu Kultur unterscheiden, aber die Struktur bleibt dieselbe – über alle kulturellen Unterschiede hinweg: Der Liebe ist dann am besten gedient, wenn die Eltern die Funktion und Verantwortung von Eltern übernehmen und die Kinder sich wie Kinder verhalten. In manchen Familien müssen die Kinder, um zu überleben, das übernehmen, was die Eltern nicht fertigbringen. Das ist eine Last für die Kinder, aber wenn es einen guten Grund dafür gibt, geht es normalerweise gut. In allen Kulturen nimmt die Liebe Schaden, wenn Eltern ohne guten Grund in ihrer Aufgabe versagen und die Kinder mit einer gewissen Überheblichkeit die Verantwortung und Privilegien ihrer Eltern übernehmen. Das ist ein Beispiel dafür, was Hellinger als Ordnungen der Liebe bezeichnet. Wenn man das einmal erkannt hat, ist es so offensichtlich und einfach, als ob wir es schon immer gewußt hätten. Es ist eine Feldstruktur, die über Erfolg oder Scheitern der Liebe bestimmt. Wenn wir diese Ordnung kennen, dann können wir feststellen, ob wir in Übereinstimmung mit ihr leben oder nicht, indem wir auf unsere Körpererfahrung achten. Wenn wir so tun, als gäbe es diese Ordnung nicht, dann verlieren wir die Unterstützung, die aus der Übereinstimmung mit dem Sein resultiert, und wir müssen uns sehr anstrengen. (Beaumont 1999)
Hunter Beaumont hat gemeinsam mit Bert Hellinger und Gunthard Weber das überhaupt erste englischsprachige Buch über Hellingers Ordnungen der Liebe geschrieben: „Love’s hidden symmetry“ (Beaumont et al. 1999).
1.5.2.1 Die vier Ordnungsprinzipien Zu Hellingers Ordnungen der Liebe im Familiensystem gehören 4 Grundprinzipien: • Rangordnung, • Recht auf Zugehörigkeit, • Bindung, • Ausgleich.
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
Mehr davon In Kap. 4 („Systemordnung[en]“) finden sie eine umfassende Beschreibung der Ordnungsprinzipien in Familien sowie eine Übertragung ihrer Bedeutung in Organisationen.
1.5.3 Ordnungen des Helfens „Ordnungen des Helfens“ ist der Titel eines Buchs von Bert Hellinger, das 2003 im Carl Auer Verlag erschienen ist (Hellinger 2006). Die Frage danach, ob die Leitung einer Systemaufstellung eigentlich mit (therapeutischer) „Hilfe“ gleichgesetzt werden kann, ist so zentral wie umstritten. Wir erachten ihre Erörterung als wesentlich für die Weiterbildung in Systemaufstellung. In der Regel ist es wohl so, dass Menschen nach einer Aufstellung – und damit nach einem Aufsteller – suchen, wenn sie Hilfe wollen, weil sie mit einem Thema in ihrem Leben nicht weiterkommen. Die Verführung für Aufsteller liegt daher nicht selten in einem Gefühl der „therapeutischen Macht“. Sie neigen bisweilen dazu, dem Irrglauben zu verfallen, weil sie etwas getan haben, habe sich beim Klienten dieses oder jenes Ergebnis eingestellt. Dieser Irrglaube gilt natürlich nicht nur für Systemaufsteller, er gilt für jede Art der therapeutischen und beratenden Maßnahme. Ist Therapie = Hilfe? Ist eine Aufstellung = Therapie und also = Hilfe? Und brauchen wir demnach Regeln für die Hilfe? Als gesichert kann gelten, dass jede Form der schlechten Behandlung eines Menschen zu nachvollziehbaren Folgen führen kann, ebenso wie jeder zugewandte und liebevolle Umgang. Was darüber hinaus hingegen nicht stimmt, ist die Annahme, dass ein Aufsteller der Verursacher von Entwicklungen im Leben eines Klienten ist. Was sein kann: dass der Aufsteller Auslöser oder Wegbereiter für eine Entwicklung ist, die – bereits in Wartestellung – lediglich ihren „Startknopf“ braucht. Wie also verhält es sich mit dem Helfen beim Aufsteller respektive beim Therapeuten, der mit Aufstellungen arbeitet? In einem (von uns transkribierten und übersetzten) Interview zu seiner Methode der „compassionate inquiry“ (mitfühlende Befragung) sagt der ungarische Arzt und Traumaexperte Dr. Gabor Maté: … there is a man, whose work has taught me a lot and he said that relationship is therapy … this is very different from the western idea of therapy, which is more about the insight of the therapist, let alone the psychiatric model which is about diagnosing somebody, having a model of a disease and trying to treat … whereas another way to look at it is that inside all of us there is a healing force … a healing capacity … which is true of all creatures, of all organisms actually … it is not infinite, in other words, we can wound people so badly that they never recover – but there is still a healing force inside that attempt to heal, so the question is: how do we promote that in a healing process? … The most important aspect of the healing process by far is the degree of safety that the individual experiences with you./… es gibt einen Mann, von dem ich viel gelernt habe. Er sagt, dass Beziehung Therapie ist … dieses Verständnis ist konträr zur westlichen Idee der Therapie, bei der es
1.5 Ordnungen der Liebe und des Helfens
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mehr um die Einsicht (das Wissen) des Therapeuten geht, oder gar beim psychiatrischen Modell, bei dem es darum geht, eine Diagnose zu erstellen, eine Definition für Krankheit zu haben und zu behandeln … in der Erwägung, dass es in uns allen einen heilenden Teil, eine Heilkraft gibt … was für alle Lebewesen, ja tatsächlich für alle Organismen gilt … die Heilkraft ist nicht unendlich, mit anderen Worten, wir können Menschen so schwer verwunden, dass sie sich nie davon erholen, aber es gibt immer noch einen Teil in uns, der versucht zu heilen … Deshalb müssen wir uns fragen: Wie fördern wir das in einem Heilungsprozess? … Der mit Abstand wichtigste Aspekt des Heilungsprozesses ist der Grad an Sicherheit, den der Einzelne mit dir (als Therapeut) erlebt. (Maté 2018)
Die Definition von Therapie = Beziehung entspricht den als sicher anzunehmenden Folgen durch die Art, wie wir als Aufsteller unseren Klienten begegnen, und genau hier wandelt sich die Frage nach den Ordnungen des Helfens in die Frage nach der Haltung des Aufstellers/Therapeuten in der Beziehung zu (s)einem Gegenüber. Kurz: Es geht um die Frage der Gestaltung von Beziehung, es geht nicht um die Heilkompetenz als Therapeut. Es geht weder um Analyse noch um Diagnose, es geht nicht um Bewertung und auch nicht um Besserwisserei als vermeintlicher Experte. Den Aspekt der Beziehungsgestaltung haben wir in Abschn. 1.4.2 („Haltung, Verantwortung, Wahrnehmung, Präsenz, Demut“) näher betrachtet.
Bei der Heilung geht es um die Qualität der Verbindung zwischen Berater und Klient; es geht nicht um die „Heil-Macher-Kompetenz“ des Beraters.
Entsprechend regen wir an, die Ordnungen des Helfens nach Hellinger in diesem Sinn zu lesen. Wir weisen zugleich darauf hin, dass Hellinger sich in seinen Formulierungen eng an seiner Idee des Familienstellens mit der vorrangigen Idee der Versöhnung mit den Eltern orientiert. Wenn auch im Erleben der Kindheit und in der Beziehung zu den Eltern in der Regel der Schlüssel für viele weitere Entwicklungsschritte zu finden ist, so weisen die Ordnungen des Helfens weit über das Familienstellen hinaus und können unseres Erachtens für alle beratenden Settings (evtl. in Abwandlung/Anpassung) angewendet werden. Der Ausschnitt aus Hellingers oben erwähntem Buch „Ordnungen des Helfens“ wurde in der Verbandszeitschrift des VFP, Verband Freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater e. V. im Jahr 2004 veröffentlicht. Wir geben diesen Ausschnitt hier wiederum in Auszügen wieder: Die erste Ordnung des Helfens Die erste Ordnung des Helfens ist also, dass man nur das gibt, was man hat, und nur erwartet und nimmt, was man auch braucht. Die erste Unordnung des Helfens beginnt damit, dass einer geben will, was er nicht hat, und einer nehmen will, was er nicht braucht. Oder wenn einer von einem anderen etwas erwartet und verlangt, was dieser nicht geben kann, weil er es selbst nicht hat. Aber auch, wenn einer etwas nicht geben darf, weil er damit dem anderen etwas abnehmen würde, was dieser allein tragen kann oder muss und tun kann oder darf.
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung Dem Geben und Nehmen sind also Grenzen gesetzt. Es gehört zur Kunst des Helfens, diese Grenzen wahrzunehmen und sich ihnen zu fügen. Die zweite Ordnung des Helfens Das Helfen dient einerseits dem Überleben, andererseits der Entwicklung und dem Wachstum. Überleben, Entwicklung und Wachstum hängen von besonderen Umständen ab, äußeren wie inneren. Die zweite Ordnung des Helfens ist also, dass es sich den Umständen fügt und nur so weit unterstützend eingreift, wie es die Umstände gestatten. Dieses Helfen ist zurückhaltend, es hat Kraft. Die Unordnung des Helfens wäre hier, wenn es die Umstände verleugnet oder zudeckt, statt dass es ihnen gemeinsam mit dem, der Hilfe sucht, ins Auge schaut. Helfen-Wollen gegen die Umstände schwächt sowohl den Helfer als auch den, der hier Hilfe erwartet oder dem sie angeboten oder sogar aufgedrängt wird. Die dritte Ordnung des Helfens Viele Helfer, zum Beispiel in der Psychotherapie und in der Sozialarbeit, meinen, sie müssten denen, die bei ihnen Hilfe suchen, helfen wie Eltern ihren kleinen Kindern. Umgekehrt erwarten viele, die Hilfe suchen, dass die Helfer sich ihnen zuwenden wie Eltern ihren Kindern, um von ihnen nachträglich das zu bekommen, was sie von ihren Eltern noch erwarten und fordern. Die dritte Ordnung des Helfens wäre also, dass der Helfer einem Erwachsenen, der Hilfe sucht, auch als Erwachsener gegenübertritt. Damit weist er dessen Versuche, ihn in eine Elternrolle zu drängen, zurück. Dass dies von vielen als Härte empfunden und kritisiert wird, ist verständlich. Paradoxerweise wird diese „Härte“ von vielen als Anmaßung kritisiert, obwohl bei genauem Hinsehen der Helfer in einer Kind-Eltern-Übertragung um vieles anmaßender ist. Die Unordnung des Helfens ist hier, wenn man einem Erwachsenen gestattet, an den Helfer Ansprüche zu stellen wie ein Kind an seine Eltern, und dem Helfer, den Klienten zu behandeln wie ein Kind und ihm etwas abzunehmen, für das er allein die Verantwortung und die Folgen tragen kann und muss. Es ist diese dritte Ordnung des Helfens, durch deren Anerkennung sich das Familien-Stellen und die Arbeit mit den Bewegungen der Seele am tief greifendsten von der gängigen Psychotherapie unterscheiden. Die vierte Ordnung des Helfens Unter dem Einfluss der klassischen Psychotherapie begegnen viele Helfer dem Klienten oft als isoliertem Einzelnen. Auch dadurch kommen sie leicht in die Gefahr einer Kind-Eltern-Übertragung. Doch der Einzelne ist Teil einer Familie. Das heißt, dass das Einfühlen des Helfers weniger persönlich, sondern vor allem systemisch sein muss. Er geht mit dem Klienten keine persönliche Beziehung ein. Dies ist die vierte Ordnung des Helfens. Die Unordnung des Helfens wäre hier, wenn wesentliche andere Personen, die gleichsam den Schlüssel zur Lösung in den Händen halten, nicht angeschaut und gewürdigt werden. Die fünfte Ordnung des Helfens Das Familien-Stellen führt zusammen, was vorher getrennt war. In diesem Sinne steht es im Dienst der Versöhnung, vor allem zu den Eltern. Ihr steht die Unterscheidung von guten und bösen Familienmitgliedern im Weg, wie sie viele Helfer unter dem Einfluss ihres Gewissens und einer in den Grenzen dieses Gewissens befangenen öffentlichen Meinung treffen.
1.5 Ordnungen der Liebe und des Helfens Die fünfte Ordnung des Helfens ist also die Liebe zu jedem Menschen, wie er ist, so sehr er sich auch von mir unterscheiden mag. Auf diese Weise öffnet der Helfer ihm sein Herz. Er wird Teil von ihm. Was sich in seinem Herzen versöhnt hat, kann sich auch im System des Klienten versöhnen. Die Unordnung des Helfens wäre hier das Urteil über andere, das ja meistens eine Verurteilung ist, und die damit verbundene moralische Entrüstung. Wer wirklich hilft, urteilt nicht. Die besondere Wahrnehmung Um gemäß den Ordnungen des Helfens handeln zu können, bedarf es einer besonderen Wahrnehmung. Bei dieser Wahrnehmung richte ich mich aus auf eine Person, doch ohne etwas Bestimmtes zu wollen, außer dass ich sie in umfassender Weise und in Hinblick auf nächstes fälliges Tun von innen her erfasse. Diese Wahrnehmung kommt aus der inneren Sammlung heraus. In ihr verlasse ich die Ebene der Überlegungen, der Absichten, der Unterscheidungen und der Ängste. Ich öffne mich für etwas, das mich unmittelbar von innen her bewegt. Wer einmal als Stellvertreter in einer Aufstellung sich den Bewegungen der Seele überlassen hat und von innen in einer ihn völlig überraschenden Weise geführt und getrieben wurde, der weiß, wovon ich rede. Er nimmt etwas wahr, was ihn jenseits seiner gewohnten Vorstellungen zu präzisen Bewegungen, inneren Bildern, innerem Hören und ungewohnten Gefühlen befähigt. Sie steuern ihn gleichsam von außen und zugleich auch von innen. Wahrnehmen und Handeln fallen hier zusammen. Dieses Wahrnehmen ist also weniger rezeptiv und abbildend, es ist produktiv. Es führt zum Handeln und weitet und vertieft sich im Tun. Die Zeitspanne des Helfens aus solcher Wahrnehmung heraus ist in der Regel kurz. Es bleibt beim Wesentlichen, zeigt den nächsten Schritt, zieht sich schnell zurück und entlässt den anderen sogleich in seine Freiheit. Es ist ein Helfen im Vorübergehen. Man begegnet sich, gibt einen Hinweis, und jeder geht wieder seinen eigenen Weg. Diese Wahrnehmung erkennt, wann Helfen angebracht ist und wann es eher schadet, wann es eher entmündigt als fordert, wann es eher der Linderung der eigenen Not statt der des anderen dient. Und es ist bescheiden. Beobachtung, Wahrnehmung, Einsicht, Intuition, Einklang Beobachtung ist scharf und genau und auf Details gerichtet. Weil sie so genau ist, ist sie auch eingeschränkt. Ihr entgeht das Umfeld, das nähere wie das weitere. Weil sie so genau ist, ist sie nahe, zupackend, auch eindringend, sowie in gewisser Weise unbarmherzig und aggressiv. Sie ist Voraussetzung für die exakte Wissenschaft und für die aus ihr erwachsene moderne Technik. Wahrnehmung ist distanziert. Sie braucht den Abstand. Sie nimmt mehreres gleichzeitig wahr, überblickt, gewinnt einen Gesamteindruck, sieht die Details in ihrem Umfeld und an ihrem Platz. Doch sie ist, was die Details betrifft, ungenau. Das ist die eine Seite der Wahrnehmung. Die andere ist, dass sie das Beobachtete und das Wahrgenommene versteht. Sie versteht die Bedeutung einer Sache oder eines beobachteten und wahrgenommenen Vorgangs. Sie sieht gleichsam hinter das Beobachtete und Wahrgenommene, versteht seinen Sinn. Zur äußeren Beobachtung und Wahrnehmung kommt also eine Einsicht hinzu. Einsicht setzt Beobachtung und Wahrnehmung voraus. Ohne Beobachtung und Wahrnehmung erwächst auch keine Einsicht. Umgekehrt: Ohne Einsicht bleibt das Beobachtete
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung und Wahrgenommene ohne Bezug. Beobachtung, Wahrnehmung und Einsicht bilden ein Ganzes. Nur wenn sie zusammenwirken, nehmen wir so wahr, dass wir sinnvoll handeln können; vor allem auch sinnvoll helfen können. Im Vollzug und im Handeln kommt oft noch ein Viertes hinzu: Intuition. Sie ist mit der Einsicht verwandt, ähnelt ihr, ist aber nicht dasselbe. Die Intuition ist die plötzliche Einsicht in das nächstfällige Tun. Die Einsicht ist oft allgemein, versteht den gesamten Zusammenhang und den gesamten Vorgang. Die Intuition dagegen erkennt den nächsten Schritt und ist daher genau. Intuition und Einsicht verhalten sich zueinander ähnlich wie die Beobachtung zur Wahrnehmung. Einklang ist Wahrnehmung von innen in einem umfassenden Sinn. Auch der Einklang ist auf Handeln ausgerichtet, ähnlich wie die Intuition, vor allem auf helfendes Handeln. Der Einklang verlangt, dass ich mich in den anderen einschwinge, mit ihm auf gleiche Wellenlänge komme, mit ihm mitschwinge und ihn so verstehe. Um ihn zu verstehen, muss ich auch mit seiner Herkunft in Einklang kommen, vor allem mit seinen Eltern, aber auch mit seinem Schicksal, seinen Möglichkeiten, seinen Grenzen – auch mit den Folgen seines Verhaltens, seiner Schuld und letztlich mit seinem Tod. Im Einklang nehme ich also Abschied von eigenen Absichten, eigenem Urteil, von meinem Über-lch und dem, was es will, dass ich soll und muss. Das heißt: Ich komme in den gleichen Einklang mit mir wie mit dem anderen. Auf diese Weise kann auch der andere mit mir in Einklang kommen, ohne sich zu verlieren, ohne mich fürchten zu müssen. Ebenso kann ich im Einklang mit ihm auch bei mir bleiben. ich liefere mich ihm nicht aus, halte im Einklang mit ihm den Abstand und kann gerade dadurch genau wahrnehmen, was ich, wenn ich ihm helfe, tun kann und tun darf. Daher ist der Einklang auch vorübergehend. Er dauert nur so lange, wie das helfende Handeln dauert. Danach schwingt jeder wieder auf seine besondere Weise. Daher gibt es im Einklang auch keine Übertragung oder Gegenübertragung, keine so genannte therapeutische Beziehung, also auch keine Übernahme von Verantwortung für den anderen. (VFP 2004)
Wir wissen, dass manche Formulierungen von Hellinger umstritten sind, zumal sich natürlich immer auch die berechtigte Frage stellt, woran man seine Einsichten und Intuitionen messen soll. Unsere ehrliche Antwort ist: Das wissen wir auch nicht. In unserer Funktion als Ausbildende sehen wir es keinesfalls als unsere Aufgabe, zu bewerten oder zu analysieren, vielmehr unseren Teilnehmern die verschiedenen Sichtweisen und Verständnisansätze im breiten Feld der Systemaufstellungen darzulegen und ihnen zu überlassen, welche für sie hilfreich und anregend sein können. Zugleich haben wir natürlich selber eine Haltung als Aufsteller/Therapeuten/Berater – Neutralität wäre natürlich menschenunmöglich. Wir betonen jedoch immer, dass unsere spezifisch gefärbte Sichtweise eine von vielen möglichen ist, dass es zugleich eine gewisse Basis gibt, die alle Systemaufsteller verbindet. Diese Basis haben wir in diesem 1. Kapitel darzustellen gesucht.
Literatur
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Literatur Literatur zu Abschn. 1.2 (Geschichte der Aufstellungsarbeit) Auer. (2019). Zweierlei Glück – Das klassische Familienstellen Bert Hellingers. Carl Auer. https:// www.carl-auer.de/programm/artikel/titel/zweierlei-glueck/. Bocian, B. (2006). Die Suche nach der Gefühlswahrheit – Fritz Perls’ Theatererfahrungen. Gestaltkritik, Zeitschrift für Gestalttherapie, Gestaltinstitut Köln und Kasse, 2. http://www.gestalt.de/ bocian_theatererfahrungen.html. Conen, M.-K. (2007). Nachruf – Zum Tod von Ivan Boszormenyi–Nagy. Context/Berlin 2007. https://www.dgsf.org/aktuell/news/ivan-boszormenyi-nagy-ist-tot. Zugegriffen: 11. Okt. 2019. Harari, Y. N. (2015a). Eine kleine Geschichte der Menschheit. München: Beck. Harari, Y. N. (2015b). Homo Deus. München: Beck. Hartung, S. (2014a). Warum funktionieren Aufstellungen? Eine Betrachtung in 14 Thesen (S. 109– 110). Baden-Baden: Deutscher Wissenschafts-Verlag. International Systemic Constellation Association (ISCA). (2019). About/How ISCA came to be. https://isca-network.org/how-isca-came-to-be-a-short-history. Zugegriffen: 4. Juni 2019. Lockert, M. (2018). Perlen der Aufstellungsarbeit – Tools für systemisch Praktizierende. Heidelberg: Carl Auer. Marx, K. (1848). Artikel aus der ‚Neuen Rheinischen Zeitung‘. In: M. E. Werke (Hrsg.), Prozess gegen Gottschalk und Genossen (Bd. 6, S. 130). Berlin: Dietz. Perls, F. S. (genannt Fritz). (1947). Ego, Hunger and Aggression. London: Allen & Unwin Ltd. Perls, F. S. (genannt Fritz). (1981). Gestalt–Wahrnehmung. Verworfenes und Wiedergefundenes aus meiner Mülltonne (S. 314, 315, 317). Frankfurt: Verlag für humanistische Psychologie. Satir, V. (1977). The Satir Global Network. https://satirglobal.org/. Zugegriffen: 3. Juni 2019 Schopenhauer, A. (1813). Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde/Wille, Leib und Seele. https://www.textlog.de/schopenhauer-7.html. Schopenhauer, A. (1844). Die Welt als Wille und Vorstellung (S. 210). Leipzig: Brockhaus (Erstveröffentlichung 1819). https://books.google.de/books/about/Die_Welt_als_Wille_und_Vorstellung.html?id=FbEJAAAAQAAJ&printsec=frontcover#v=onepage&q&f=false. Sperling, E., Massing, A., Reich, G. (1982/2006). Die Mehrgenerationen–Familientherapie (5. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Wieslocher Institut für Systemische Lösungen (WISL). (2019). Über uns/wie fing es an? https:// www.wieslocher-institut.com/institut/ueberuns.aspx.
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1 Grundlagen der Systemischen Aufstellung
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Literatur zu Abschn. 1.5 (Ordnungen der Liebe und des Helfens) Beaumont, H. (1999). Hunter Beaumont – Das Interview, Teil II. Ordnungen der Liebe. Gestaltkritik, Zeitschrift der GIK Gestaltinstitute in Köln und Kassel, 2. (Bd. 7). http://www.gestalt.de/ beaumont_interview_teil2.html Beaumont, H., Hellinger, B., & Weber G. (1999). Love’s hidden symmetry: What makes love work in relationships. Phoenix: Zeig Tucker & Theisen Inc. Hellinger, B. (2006). Ordnungen des Helfens. Heidelberg: Carl-Auer. Hellinger, B. (2019). Wie uns die Liebe gelingt. https://www.hellinger.com/home/familienstellen/ grundordnungen-des-lebens/1-ordnungen-der-liebe/. Maté, G. (2018). Compassionate Inquiry. Veröffentlicht bei Youtube am 04.01.2018. https://www. youtube.com/watch?v=JrSUpJSfxRs&fbclid=IwAR1T3UHYiIZYvvvoP1h2omv6qA10– KrXQkENiMGQF2Ka9Pgte2Vmg7q–vAc. VFP. (2004). Verband Freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater e. V., Ordnungen des Helfens. Verbandszeitschrift, 4.
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Methodik der Systemischen Aufstellung
Inhaltsverzeichnis 2.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Vorbereitung vor der Aufstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Regeln für die Aufstellungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Vorgespräch (und Gespräch) zur Aufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Prozess der Aufstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Beendigung der Aufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.1 Einführung In diesem Kapitel beschreiben wir sämtliche Aspekte, die zur Methodik der Aufstellung gehören, von der Vorbereitung über das Vorgespräch und systemische Gesprächsmethoden bis hin zum kompletten Prozess der Aufstellung inkl. sogenannter „Entrollung“, Abschluss und Dokumentation.
lektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält E Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht. https://doi.org/10.1007/978-3662-61192-0_2 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hartung und W. Spitta, Lehrbuch der Systemaufstellungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61192-0_2
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung
2.2 Vorbereitung vor der Aufstellung Bevor eine Aufstellung mit einem Klienten gemacht wird, muss die Frage beantwortet sein, welche Indikationen oder Kontraindikationen für den Einsatz der Methode sprechen – ein notwendiges Wissen, das allen angehenden Aufstellern an die Hand gegeben werden sollte. Bei Aufstellungen mit einer eher psychotherapeutischen Ausrichtung kann es außerdem hilfreich sein, vor der Aufstellung mit dem Klienten ein Genogramm zu erstellen, eine Methode der therapeutischen Befragung, zu der Sie für Ihre Vermittlung hier vertiefende Informationen finden. Entsprechend unseren Hinweisen auf die rechtliche Situation, die wir im Grundlagenkapitel (Kap. 1) beschrieben haben, sollen vor der Aufstellung in jedem Fall Verantwortlichkeiten für den Prozess und mögliche Folgen schriftlich geregelt sein.
2.2.1 Indikationen Wir haben einige grundlegende Indikationen zusammengefasst, die als Orientierung verstanden werden können. Jenseits der eindeutigen Kontraindikationen ist es nach unserer Erfahrung nicht einfach, übergeordnet gültige Regeln für die Indikation zu formulieren. Im Einzelfall ist – wie immer im beratenden Setting – ein hohes Maß an Sensibilität, Beobachtungsgabe und Empathie gefragt, wenn über die Sinnhaftigkeit einer Aufstellung entschieden werden soll.
2.2.1.1 Die soziale bzw. systemische Dimension eines Anliegens Ganz grundsätzlich gilt, dass Systemaufstellungen immer und nur dann indiziert sind, wenn der Klient den Wunsch hat, • die eigene Position in einem System zu verstehen; • die Qualität seiner Beziehungen zu oder in einem System zu verbessern; • die Qualität seiner Beziehung zu sich selbst bzw. die Beziehungen seiner inneren Anteile zu verbessern. Der indizierende Aspekt des Anliegens ist die Qualität von Beziehungen zu oder in einem System – unabhängig davon, ob es sich um einen einzelnen Menschen oder um ein von Menschen gebildetes soziales Konstrukt (System) handelt.
Die Indikation für eine Aufstellung ist die Frage nach der Qualität von Beziehungen zu oder in einem System – unabhängig davon, ob es sich um einen einzelnen Menschen oder um ein von Menschen gebildetes soziales Konstrukt (System) handelt.
2.2 Vorbereitung vor der Aufstellung
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2.2.1.2 Die Dimension der systemischen Komplexität Eine weitere Indikation ist die Dimension der systemischen Komplexität eines Anliegens. Gemeint ist, dass die Einflüsse, denen eine bestimmte (innere/äußere) Beziehung unterliegt, derart zahlreich, vielschichtig und interdependent sein können, dass der zweidimensional strukturierte und immer trennend denkende Verstand keinen Zugang zu möglichen Lösungen und/oder Verbesserungen finden kann. Systemaufstellen bilden diese Komplexität in einfacher Verständlichkeit ab und erlauben vieldimensionale Erkenntnisse. • Der Aspekt der Komplexität gilt für den Einzelnen, z. B. dann, wenn innere Konflikte mit vielschichtigen individuellen Aspekten (Biografie, Glaubenssätze, Ängste) und zugleich äußeren Einflüssen (Abhängigkeit, Treue etc.) verbunden sind. • Komplexität gilt für Paarbeziehungen, weil hier nicht nur zwei komplexe Individuen, sondern auch die Kulturen zweier Familien- und evtl. sogar zweier Gesellschaftssysteme (verschiedene gesellschaftliche Schichten) zusammentreffen, ebenso wie eventuell weitere Aspekte verschiedener Lebensumstände, seien es z. B. beruflicher Erfolg oder anderweitige Verpflichtungen und/oder Belastungen. • Komplexität gilt in Familien, in denen nicht nur alle Aspekte der Paarbeziehung, sondern außerdem die Aspekte der gleichzeitigen Beziehungsqualität mehrerer Familienmitglieder, der Bindungsliebe oder z. B. auch der Funktionsgerechtigkeit bezüglich der jeweiligen Rollen Einfluss haben. • Komplexität gilt auch für jede Art der Organisation – sei sie „for purpose“ oder „for profit“ – weil hier komplexe Individuen in Aufbau- und Ablauforganisation auf vielerlei Ebenen interagieren, weil die gleichzeitigen Anforderungen der Organisation und ihres Umfeldes die Interaktion und Kommunikation beeinflussen, und weil schließlich Menschen im Kontext von Weisungsbefugnis und Weisungsgebundenheit dazu tendieren, ihre familiären Erfahrungen auf die Organisation zu projizieren, wenn sie z. B. den Chef mit dem Vater verwechseln u. a. • Komplexität gilt schließlich für alle genannten offenen Systeme auch noch mit Blick auf die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die im Sinn von Erfahrung (gestern), Fazit (heute) und Plan/Hoffnung (morgen) eine vielschichtige Herausforderung für die Bewältigung von Selbsterhalt und Weiterentwicklung darstellt.
Die Indikation für eine Aufstellung ist die Komplexität eines Anliegens.
2.2.1.3 Die Dimension der Unbewusstheit In Verbindung mit der Dimension der Komplexität steht ein weiterer Aspekt für die Indikation: Aufstellungen eignen sich bei Fragestellungen, bei denen das Unbewusste eine wesentliche Rolle spielt – sie offenbaren Einflüsse des Unbewussten auf das Beziehungsgeschehen, die dem Alltagsbewusstsein nicht zugängig sind.
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung
2.2.1.4 Die transgenerationale Dimension Ebenfalls in Verbindung mit dem Aspekt der Komplexität gilt nicht zuletzt die transgenerationale Dimension als Indikator für die Sinnhaftigkeit einer Systemaufstellung – bislang ist sie die einzige Methode, mit der 1. verschiedene Zeiten und mehrere Generationen (Lebende und Verstorbene) zeitgleich betrachtet werden können, und mit der 2. Verstrickungen von Familienmitgliedern oder transgenerational wirkende traumatische Schocks gelöst werden können. Kurz gefasst
• Die erste Indikation für eine Systemaufstellung ist die soziale bzw. die systemische Dimension des Anliegens. • Die zweite Indikation für eine Systemaufstellung ist die Komplexität des betroffenen Systems. • Die dritte Indikation für eine Systemaufstellung ist der Grad der Unbewusstheit. • Die vierte Indikation ist die transgenerationale Dimension und die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitebenen.
2.2.1.5 Geeignete Themen für Aufstellungen Systemaufstellungen können im individualen Kontext (Individuum, Paarbeziehung, Freundschaft, Familie) im Rahmen der nachfolgenden Themen bei der Problembewältigung und der Verbesserungen der Beziehungsqualitäten hilfreich und/oder für die Persönlichkeitsentwicklung förderlich sein: • Selbstwert, Selbstliebe, • Bewältigung innerer Konflikte, • Abgrenzung und Autonomie, • Lösung aus familiären Verstrickungen, • problematische Paarbeziehungen, • unerfüllter Beziehungswunsch, • Bewältigung einer (großen) Entscheidung, • Bewältigung äußerer Konflikte, • Erziehungsprobleme, • Fehlgeburt, Totgeburt, früher Kindstod, • Tod, • berufliche Probleme/beruflicher Erfolg, • Mobbing, • Verlust des Arbeitsplatzes/Stellenwechsel/Beförderung.
2.2 Vorbereitung vor der Aufstellung
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Im organisationalen Kontext können Systemaufstellungen in diesen Bereichen Erkenntnisse ermöglichen und/oder Lösungen befördern: • Analyse und Szenario, • Strategieentwicklung, • Markenentwicklung und -führung, • Entwicklung von Aufbaustrukturen, • Gestaltung der Abläufe/Prozesse, • Stakeholder-Beziehungsmanagement, • Shareholder-Beziehungsmanagement, • Portfolio- und Preisgestaltung, • Personalentwicklung, • Kommunikation, interkulturelle Kommunikation, • Führung, • Vertrieb, • Diagnostik/Assessment.
2.2.2 Kontraindikationen Weil Systemaufstellungen bisweilen sehr tief berühren, manchmal lange verborgene Konflikte oder Geheimnisse ans Licht bringen, zutiefst aufwühlen oder je nach Erscheinen auch hochgradig verstörend wirken können, wird grundsätzlichen bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung, einer akuten psychischen Störung oder einer – insbesondere dissoziativen – Persönlichkeitsstörung vom Einsatz der Methode abgeraten.
2.2.2.1 Keine Aufstellung bei psychischer Erkrankung oder psychischen Störungen Es ist daher nicht nur sinnvoll, sondern für die rechtliche Absicherung des Systemaufstellers notwendig, dass ein Klient bezüglich möglicher psychischer Erkrankungen oder (auch akuter) Störungen gefragt wird. Dazu gehört auch die Frage nach einer aktuellen Behandlung bei einem Psychologen, Psychotherapeuten oder Psychiater. Liegt eine solche vor, sollte der Klient eine Unbedenklichkeitsbescheinigung des behandelnden Therapeuten vorlegen.
Psychische Erkrankungen gelten prinzipiell als Kontraindikation für Aufstellungen. Ausnahmen sollen mit behandelnden Ärzten besprochen werden.
Dieser Sachverhalt bzw. die Kontraindikation (wie auch die folgenden) gilt im Übrigen auch für die Teilnehmer Ihrer Weiterbildungen. Auch sie sind als Klienten zu verstehen, da die Weiterbildungen immer auch ein „Lernen am eigenen Leib“ umfassen. Sichern Sie sich also immer wie oben beschrieben ab und dokumentieren Sie alles schriftlich.
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung
Mehr dazu Siehe hierzu auch Abschn. 1.4.2 („Rechtliche Aspekte der Selbstverantwortung“). Bei Springer finden Sie sowie das Download-PDF „Erklärung zur Eigenverantwortung“.
2.2.2.2 Keine Aufstellung bei Medikamenten-, Drogen-, Alkoholmissbrauch Jede Form des Suchmittelmissbrauchs gilt als Kontraindikation für Aufstellungen – hier gilt die Regel ähnlich den Psychotherapien: Erst wenn die körperliche Abstinenz gegeben ist, kann die Arbeit an der psychischen Dimension der Sucht beginnen.
Als Faustregel gilt: Suchtmittelmissbrauch ist eine Kontraindikation für Aufstellungen.
Wiewohl: Ab wann spricht man eigentlich von Missbrauch? Gilt die jeweils rein medizinisch definierte Dosis als Orientierung? Und geht es ausschließlich um die Höhe der Dosierung des Suchtmittels, oder geht es auch um die Tiefe der psychischen Dimension von Sucht? Es gibt zum Beispiel Menschen, die nur eine einzige Zigarette am Tag oder gar in der Woche rauchen. Ganz sicher kein Missbrauch der Droge, möglicherweise aber ein Hinweis auf eine tiefliegende Suchtstruktur. Andererseits gibt es Gewohnheitsalkoholiker, die täglich erstaunliche Mengen zu sich nehmen, ohne ihre soziale Kompetenz zu verlieren oder gar die Fähigkeit, ihr Leben zu meistern. Das ist natürlich ein abhängiger Gebrauch der Droge – die Erfahrung zeigt zugleich, dass mit der Frage danach, was sich hinter der Sucht verbirgt, in Aufstellungen arbeiten lässt. Zumal: Die westlichen Kulturen sind in ihrer Grundstruktur von der Sucht gefärbte Gesellschaften. Das liegt einerseits an Weltkriegen mit generationenübergreifender Täter- und Opfertraumatisierung – und je weiter die Entfremdung von sich selbst durch Ökonomisierung und damit verbundene höchste Leistungsanforderung sowie durch zeitgleiche Ablenkung und Dauerberieselung andererseits voranschreitet, desto intensiver die Suche nach dem Sinn, nach Zugehörigkeit, einem guten Platz und nach Liebe. In der Regel also haben die allermeisten Klienten ein Suchtthema – und der Umfang der Suchtbefriedigung ist auf der Skala von unbedenklich bis missbräuchlich-kritisch als fließend zu beschreiben und erst im individuellen Fall wirklich greifbar. Hier ist in Bezug auf eine mögliche Kontraindikation also die jeweilige Fähigkeit zur Einschätzung ebenso wie die therapeutische Kompetenz des Aufstellers gefragt. Sind beide nicht – oder noch nicht – vorhanden, sollten Sie in Ihren Grundausbildungen in jedem Fall die oben genannte Faustregel zur grundsätzlichen Regel erklären. Interessant in diesem Zusammenhang auch eine Beschlussfassung des Bundesausschusses aus dem Jahr 2011:
2.2 Vorbereitung vor der Aufstellung
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Eine ambulante Psychotherapie für von Alkohol, Drogen oder Medikamenten abhängige Patientinnen und Patienten ist künftig ausnahmsweise auch dann möglich, wenn noch keine Suchtmittelfreiheit vorliegt. Diese Ausnahme von der weiterhin bestehenden Regelung, dass Suchtkranke vor Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung abstinent sein müssen, beschloss der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) heute in Berlin. Allerdings greift die Ausnahmeregelung nur dann, wenn die Patientin oder der Patient bereits Schritte unternommen hat, die eine baldige Abstinenz herbeiführen. Die psychotherapeutische Behandlung ist zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung bei noch bestehender Abhängigkeit nur dann zulässig, wenn die Suchtmittelfreiheit parallel zur Behandlung bis zum Ende von maximal 10 Behandlungsstunden erreicht werden kann. Zudem sieht der G-BA-Beschluss vor, dass bei einem Rückfall die ambulante Psychotherapie nur dann fortgesetzt werden kann, wenn unverzüglich geeignete Behandlungsmaßnahmen zur Wiederherstellung der Suchtmittelfreiheit ergriffen werden. Für opiatabhängige Menschen, die sich in einer substitutionsgestützten Behandlung befinden, ist eine ambulante Psychotherapie künftig dann möglich, wenn ein Beigebrauch ausgeschlossen und die regelmäßige Zusammenarbeit mit den substituierenden Ärztinnen und Ärzten und den weiteren zuständigen Stellen sichergestellt ist. Die nun beschlossenen Änderungen gehen auf eine Anfrage der früheren Drogenbeauftragten Sabine Bätzing aus dem Jahr 2009 zurück, die den G-BA darum gebeten hatte zu prüfen, ob eine psychotherapeutische Behandlung von alkohol-, drogen- und medikamentenabhängigen Patientinnen und Patienten sowohl bei bereits bestehender Abstinenz als auch mit dem Ziel der Abstinenz begonnen werden könne. (G-BA 2011)
2.2.2.3 Keine Aufstellung ohne Auftrag des Betroffenen Der Klient kann grundsätzlich immer nur seine eigenen Belange zum Thema einer Aufstellung machen. Die entsprechende Kontraindikation ist demnach dann gegeben, wenn ein Klient z. B. eine Aufstellung mit der Begründung machen wollte, „ich möchte wissen, was ich tun muss, damit mein Partner mit dem Trinken aufhört“. Ein angemessener Auftrag in einem solchen Fall ist eher: „Ich möchte mir meine Ko-Abhängigkeit ansehen“.
Ohne Auftrag des Klienten sollte keine Aufstellung stattfinden.
Die Ausnahme von dieser Regel sind eigene Kinder bis zur Volljährigkeit – Eltern können die Themen oder Probleme ihrer Kinder aufstellen. Hierüber haben wir bereits in Grandlagenkapitel (Abschn. 1.4.2) im Kontext der Betrachtungen zur Ernsthaftigkeit informiert.
2.2.2.4 Keine Aufstellung bei Missachtung der humanistischen Werte Weiter oben haben wir ausführlich über die Ethik der Systemaufstellung gesprochen und verdeutlicht, wie wesentlich das humanistische Menschenbild die Methode in ihren Grundfesten definiert. Als Kontraindikation gelten demnach alle Versuche, mit Hilfe von Aufstellungen gegen diese Werte vorgehen zu wollen.
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung
Kurz gefasst
• Die erste Kontraindikation für eine Systemaufstellung ist eine psychisch akute Instabilität oder psychische Erkrankung. • Die zweite Kontraindikation für eine Systemaufstellung ist Medikamenten-, Drogen-, Alkoholmissbrauch. • Die dritte Kontraindikation für eine Systemaufstellung ist der fehlende Auftrag des Betroffenen – für einen anderen Menschen kann ohne dessen Auftrag keine Systemaufstellung stattfinden. • Die vierte Kontraindikation ist schließlich die Missachtung humanistischer Werte.
2.2.3 Das Genogramm Zur üblichen Vorbereitung einer klassischen Psychotherapie gehört das Abfragen wichtiger Aspekte im Leben eines Klienten. In den Anfängen der Aufstellungsarbeit wurde dieses Vorgehen als Prinzip beibehalten, zumal die ersten Systemaufsteller in der Regel aus psychotherapeutischen oder psychosozialen Berufen kamen – und noch heute erfragen zahlreiche Aufsteller Informationen über die Herkunftsfamilien von ihren Klienten, bevor sie in die eigentliche Aufstellungspraxis übergehen. Natürlich entspringt das Genogramm so gesehen der Selbstdefinition des Beraters als Heilender, der analysiert, diagnostiziert und therapiert. Und so sind es im Wesentlichen auch heute beinahe ausschließlich die psychotherapeutisch und psychosozial arbeitenden Aufsteller – und wie immer gibt es natürlich Ausnahmen auch von dieser Regel. So oder so – in jedem Fall sollte das Genogramm Bestandteil der Weiterbildung sein. Das Geflecht eines Familiensystems ist immer komplex, weil es sich über mehrere Generationen erstreckt und durch Heirat und/oder Fortpflanzung mannigfaltige Einflüsse aus verschiedenen Familien, Zeiten und Ereignissen birgt. Die Einflüsse sind physischer, psychischer und kognitiver Natur. Sie vermitteln sich auf physischen Wegen über das Erbgut und durch den körperlichen Umgang miteinander. Sie vermitteln sich auf psychischen Wegen durch die soziale und emotionale Interaktion und auf kognitiven Wegen durch die kulturellen Räume mit ihren Regeln, Gebräuchen und Überzeugungen. Bei der vorbereitenden Biografiearbeit geht es für den Aufsteller darum, sich ein umfassend detailliertes Bild vom Familiensystem seines Klienten zu machen und daraus möglicherweise erste Hypothesen (Diagnosen/Therapien) abzuleiten. Teilabsicht der Vorarbeit ist außerdem, dass durch die Beantwortung der Fragen diverse Prozesse der Erinnerung und des Wiedererlebens beim Klienten gefördert werden und bereits dadurch der therapeutische Prozess beginnt. In der Praxis sieht diese Vorbereitung individuell sehr unterschiedlich aus. Manche Aufsteller arbeiten mit dem biografischen Fragebogen, wie man ihn auch aus der klassischen Psychotherapie kennt.
2.2 Vorbereitung vor der Aufstellung
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Bei Springer finden Sie einen Fragebogen für die Biografiearbeit zum Download. Andere nutzen wie gesagt das sogenannte Genogramm, das seinen Ursprung tatsächlich in der Organisationslehre hat, wo es heute als Organigramm die Strukturen einer Organisation mit Weisungsbefugnis und Weisungsgebundenheit abbildet. Die Genogrammarbeit wird seit rund 25 Jahren in Therapie und Beratung angewendet. Als Begründer der Methode werden verschiedene Namen genannt wie: Murray Bowen, USA, Monica McGoldrick und Randy Gerson. McGoldrick und Gerson veröffentlichten 1985 das erste Buch hierzu: „Genograms in family assessment“ (McGoldrick und Gerson 1985). Das Genogramm ist eine stammbaumgleiche grafische Darstellung, deren spezifische Ikonografie zusätzliche systemrelevante Informationen innerhalb der Generationenebenen erlaubt. Für diese Ikonografie haben sich über die Jahre der Anwendungspraxis bestimmte Symbole verfestigt, die zu einer übergeordneten systemischen Zeichensprache geworden sind. Zunächst gibt es die einfache Symbolsprache für männliche und weibliche Familienmitglieder (s. Abb. 2.1). Darüber hinaus gibt es eine umfassende Zeichensprache, die detaillierte Informationen erfasst. In Abb. 2.2 finden Sie eine erweiterte Übersicht von Symbolen (frei nach McGoldrick und Gerson sowie durch praxiserprobte Motive von verschiedenen Aufstellerkollegen ergänzt). Es gibt außerdem Symbole, die für Aussagen über eine Person oder über Paarbeziehungen verwendet werden (s. Abb. 2.3). Mithilfe des Genogramms lassen sich Fakten zuordnen und Zusammenhänge sichtbar machen. Es kann jederzeit ergänzt oder abgeändert werden. Unsere dargestellten Symbole sollen hier lediglich als Anregung für die individuelle Weiterentwicklung verstanden werden. Der Varianzbreite sind tatsächlich keine Grenzen gesetzt. Übung zum Genogramm In unserer Weiterbildung erstellen die Teilnehmer jeweils zu zweit ein Genogramm (je 30 min). Unsere Teilnehmer arbeiten bei der Erstellung des Genogramms gleichzeitig Abb. 2.1 Drei-GenerationenGenogramm nach McGoldrick/ Gerson/Petry
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung
Abb. 2.2 Genogrammsymbole Familienbeziehung (frei nach McGoldrick und Gerson, ergänzt durch praxiserprobte Symbole von Aufstellerkollegen)
2.3 Regeln für die Aufstellungsarbeit
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Abb. 2.3 Genogrammsymbole Person und Beziehung
auch mögliche Themen für eine Aufstellung heraus. Die dann folgende Aufstellung wird jeweils vom Genogrammpartner mit unserer Unterstützung geleitet.
2.3 Regeln für die Aufstellungsarbeit 2.3.1 Einführung So selbstverständlich für uns als Aufsteller die Regeln für eine bevorstehende Aufstellung zu sein scheinen – in den Kanon einer Weiterbildung gehören sie in jedem Fall, damit ihnen die notwendige Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Wir stellen hier die Regeln noch einmal zusammen.
2.3.2 Vereinbarungen für die Zusammenarbeit In einer Gruppe sollten zu Beginn der gemeinsamen Aufstellungsarbeit diese Regeln genannt und kurz erläutert werden. Wir lassen unsere Teilnehmer per Handzeichen
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung
signalisieren, dass sie die Regeln verstanden haben und sich an diese halten werden. In unseren Aufstellungsveranstaltungen wiederholen wir in manchen Fällen von besonderer Nervosität beim Klienten manche Regeln bzw. Zusicherungen mehrmals – so zum Beispiel die Regel der Verschwiegenheit, die für manche Klienten eine besondere Bedeutung hat. Den Teilnehmern sollte vor oder während der Aufstellung gesagt werden, ob sie sich frei bewegen dürfen, oder ob sie ausschließlich der Weisung des Aufstellungsleiters folgen sollen. Für Ungeübte kann es besonders wichtig sein, sie vor dem Start darauf hinzuweisen.
2.3.2.1 Die erste Regel: Verschwiegenheit In unseren Weiterbildungen signalisieren alle Anwesenden per Handzeichen, dass alle Themen, Inhalte und Ereignisse der absoluten Verschwiegenheit unterliegen. Damit unsere Teilnehmer verstehen, was damit gemeint ist, haben wir uns die Erläuterung unseres Kölner Kollegen Thomas Hafer zu eigen gemacht, weil sie nach unserer Beobachtung den Teilnehmern leicht einleuchten: Es geht nicht darum, dass hinterher zu Hause oder bei Freunden nicht über die Aufstellung gesprochen werden darf – Aufstellungen sind beeindruckend, sie bewegen und sie beschäftigen Menschen, und deshalb wollen die Teilnehmer auch darüber sprechen. Die Verschwiegenheitsregel bezieht sich vor allem auf die maximal anonymisierte Beschreibung der Person des Klienten. Weder sollten Herkunftsort noch Name, Alter oder auch Geschlecht (wenn möglich) genannt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand die Person „Gabi aus Wuppertal, die sich gerade von ihrem Mann getrennt hat und jetzt an Krebs erkrankt ist“ kennt, ist viel zu groß. 2.3.2.2 Die zweite Regel: Wahrnehmen, was ist – nicht spekulieren, was sein müsste/könnte Für die Aufsteller gilt die Kunst, sich in einen Zustand des Nichtwissens zu bringen, bevor sie mit der Aufstellung beginnen. Für die Stellvertreter gilt, dass sie sich ausschließlich auf ihre Empfindungen konzentrieren und von eigenen Interpretationen und Bewertungen absehen sollen.
Mehr davon Über den Aspekt der Wahrnehmung und Fragen zu Wahrheit und Wirklichkeit finden Sie ausführliche Informationen in Kap. 3 („Wahrnehmung und Erkenntnis“).
2.3.2.3 Die dritte Regel: Jedes Verständnis ist eine Hypothese Natürlich ergibt sich beim Aufsteller wie bei den Stellvertretern die Interpretation dessen, was sich zeigt, automatisch – wir können gar nicht anders, als ein Verständnis über das, was sich uns zeigt, zu entwickeln. Das macht unser Verstandesorgan quasi automatisch. Die Kunst für den Aufsteller ist es dabei, sein eigenes Denken, Bewerten und Interpretieren in einer interessierten Haltung – quasi von einem imaginären Platz neben sich – anzuschauen.
2.3 Regeln für die Aufstellungsarbeit
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Was er betrachtet, soll er als eine Hypothese verstehen, die bedacht werden kann, aber eben nur als Hypothese. Für diese meditative Haltung finden Sie zahlreiche Übungen hier im Buch. Grundsätzlich geben wir unseren Teilnehmern als Faustregel mit, dass jeder im Feld dafür offenbleiben sollte, dass sich etwas anderes zeigt, als er selber erwartet hätte.
2.3.2.4 Die vierte Regel: Nicht mit der Stellvertreterposition identifizieren oder verwechseln Manchmal sagen wir unseren Teilnehmern, dass es hilfreich ist, wenn sie quasi wie ein Reporter über das berichteten, was sie am eigenen Platz spüren. Andere Kollegen regen an, die Intensität mancher Wahrnehmung auf 70, 50 oder gar 30 % herunterzudimmen, insbesondere da, wo es um ein emotional konzentriertes Erleben der Energie geht. Das hilft den Stellvertretern dabei, sich nicht mit dem zu identifizieren (zu verwechseln), für den oder für das man steht. Gerade für ungeübte Aufsteller kann es wichtig sein, diese Regel zu beherzigen, damit sie nicht von der dichten Energie, die bisweilen auf den Plätzen der Stellvertreter entstehen kann, überfordert werden. 2.3.2.5 Die fünfte Regel: Wenig sprechen Wäre viel reden hilfreich, bräuchten wir keine Aufstellungen zu machen. Wir könnten auch sagen: Aufstellungen sind eine eigene Sprache, bzw. sie sind das Medium der Systeme. Durch Aufstellungen „sprechen“ Systeme zu uns, und das tun sie eben nicht mit Worten. Sie haben eine eigene Grammatik, und ihr Vokabular besteht z. B. aus kleinen oder großen Bewegungen, Blickrichtungen, Gesichtsausdrücken, Wärme- und Kälteempfindungen oder anderen Wahrnehmungen. Schwachstellen im System vermitteln sie durch spezifische „Un-Ordnungen“ und/oder Verstrickungen, geschwächte Positionen, Desinteresse etc. Dabei gilt natürlich auch, dass Sprechen als Ausdruck eines trennenden Denkens leicht vom Wahrnehmen und Spüren des zusammenhängenden Ganzen ablenkt. Ein weiterer wesentlicher Aspekt für das Wenig-Sprechen ist, dass durch das Schauen, Wahrnehmen und Erleben neue Synapsen (neue Erfahrungen) im Hirn des Klienten (und auch im Hirn der Teilnehmer) geschaltet werden, die noch eine fragile Verbindung bilden. Die Stärkung dieser neuen Verbindungen geschieht nicht durch kognitive, analytisch-rationale Denkprozesse, sondern durch die Wiederholung solcher und/oder ähnlicher Erfahrungen.
Mehr davon Vertiefte Informationen zu den Erfahrungsprozessen in Hirn finden Sie in Abschn. 6.4 („Trauma im Hirn“).
2.3.2.6 Die sechste Regel: Störungen sind Symptome Grundlegend wichtig ist zu Beginn die Information, dass es bei der systemischen Betrachtung niemals um eine Schuld- oder Verursacherfrage geht, sondern dass jede
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung
Abb. 2.4 Aufstellungsregeln
„Störung“ und jeder „Störer“ als ein Symptom im Sinne eines Hinweises auf bestimmte Beziehungsstrukturen verstanden wird. Diese Information wird von manchen Menschen zwar erst verstanden, nachdem sie an einer Aufstellung teilgenommen haben, dennoch kann sie vorher für eine gewisse Entspannung unter den Teilnehmern sorgen. Das gilt zwar insbesondere für Organisationsaufstellungen; unserer Erfahrung nach spielt aber die Schuldfrage generell eine häufige Rolle in Aufstellungen – besonders, wenn die Klienten oder die Stellvertreter dem christlichen Glauben angehören. Wir haben die Regeln, die vor Beginn einer Aufstellung bzw. vor der Zusammenarbeit in der Weiterbildungsgruppe benannt werden sollen, noch einmal in einer Grafik zusammengefasst (s. Abb. 2.4).
2.3.2.7 Ausdruck von Wahrnehmungen Inwieweit die Stellvertreter im Feld ihre Wahrnehmungen ausagieren sollen oder auch dürfen, ist keine Frage, für die es eine festgelegte Antwort geben kann (sieht man einmal von körperlicher Gewalt ab, die tabu ist). Vielmehr ist der mögliche Intensitätsgrad des Ausdrucks eng an die persönlichen wie professionellen Möglichkeiten des Aufstellers gebunden. Manche Menschen (und so auch Aufsteller) halten es nicht so gut aus, wenn geschrien wird. Für andere kann der Schrei zur Unterstützung des Energieflusses ein unabdingbares Moment für die Entwicklung sein – z. B. dann, wenn der Einsatz von Aufstellungen in einen psychotherapeutischen Prozess eingebunden ist. Über die Stärke des Ausdrucks von Wahrnehmungen durch die Stellvertreter entscheidet zusammengefasst die Frage, welche persönlichen Möglichkeiten und welche professionellen Erfahrungen der jeweilige Aufsteller im Umgang mit intensiven Gefühlsausbrüchen hat.
2.4 Vorgespräch (und Gespräch) zur Aufstellung 2.4.1 Einführung Die Kunst der Gesprächsführung sollte in jedem Fall Teil der Weiterbildung sein. Neben den Regeln der klientenzentrierten Gesprächsführung, wie sie Carl Rogers entwickelt hat, gibt es aus der hypnotherapeutischen Therapie nach Milton Erickson weitere Grundlagen
2.4 Vorgespräch (und Gespräch) zur Aufstellung
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und Anregungen für die systemische Gesprächsführung, die wir Ihnen in diesem Abschnitt vorstellen. In unseren Weiterbildungen spielt die Vermittlung dieser Fähigkeiten eine zentrale Rolle.
2.4.2 Klientenzentriert und hypnotherapeutisch Als „Urväter“ der systemischen Gesprächsführung können der US-amerikanische Psychologe Carl Ransom Rogers (1902–1978) und der US-amerikanische Psychiater und Psychotherapeut Milton Hyland Erickson (1901–1980) genannt werden.
2.4.2.1 Klientenzentrierte Gesprächsführung nach Carl Rogers Carl Rogers, der einer kinderreichen Familie mit fundamentalistischer Einstellung aus Illinois entstammte, lernt in seiner Zeit als Assistent am Institute for Child Guidance die Psychoanalyse Freuds kennen. In den nachfolgenden Jahren seiner Tätigkeit als klinischer Psychologe stellte er – in zunehmender Abgrenzung zu Freud – fest, dass „der Klient derjenige ist, der weiß, wo der Schuh drückt, welche Richtung einzuschlagen, welche Probleme entscheidend, welche Erfahrungen tief begraben gewesen sind“ (Rogers 1973, S. 27). Er entwickelte aus dieser Erkenntnis in den 1940er-Jahren eine für die damalige Zeit beinahe revolutionär zu nennende Definition der therapeutischen Begegnung zwischen Klient und Therapeut, die er als „klientenzentrierte Gesprächstherapie“ bezeichnete und als Gegengewicht zu Psychoanalyse und Behaviorismus verstand, weil sie sich ausschließlich am Klienten und an dessen Ressourcen und Veränderungspotential orientiert. Der Kerngedanke von Rogers’ klientenzentrierter Gesprächstherapie ist die „nichtdirektive Beratung“ – Patient und Therapeut begeben sich gemeinsam in eine Situation, die dem Patienten ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Der Therapeut diagnostiziert nicht, bricht keinen Widerstand und greift nicht direktiv in das Gespräch ein. Er schafft vielmehr eine Atmosphäre, die von Wärme, Anteilnahme und Akzeptanz dem Patienten gegenüber geprägt ist. In diesem Zug ersetzt Rogers auch den Begriff des „Patienten“ durch den des „Klienten“ – er will so eine neutrale Basis für die Begegnung schaffen, bei der der Klient nicht mehr ein „zu behandelndes Objekt“ ist. Seinen Klienten bietet er an, zusammen mit ihm auf die Entdeckungsreise von Defiziten in der Wahrnehmung zu gehen. Damit definiert Rogers die Störungen des Klienten nicht als Krankheit, sondern als ein Defizit an Bewusstsein, welches für ihn die Voraussetzung für persönliches Wachstum ist. Nach Rogers’ Verständnis besitzt der Mensch eine angeborene Selbstverwirklichungsund Vervollkommnungstendenz. Er trägt alles zu seiner Heilung Notwendige in sich und kann selbst am besten seine persönliche Situation analysieren und Lösungen für seine Probleme erarbeiten. Mit diesem humanistisch geprägten Menschenbild folgerte Rogers, der Therapeut müsse ein günstiges Klima für den Wachstumsprozess des Klienten schaffen, bei dem er sich jedwedes wertenden Kommentars enthält und durch eine zugewandte Gesprächsführung den Prozess der Selbsterkenntnis fördert.
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung
Während sich Rogers in den Anfängen mit der Formulierung der Grundlagen für seine nichtdirektive Therapie befasst, wendet er sich ab den 1950er-Jahren der sogenannten gefühlsverbalisierenden Phase zu, bei der die gemeinsame Erforschung der Gefühlswelt des Klienten im Mittelpunkt der Arbeit steht. Diese Gefühlswelt ist so individuell wie einzigartig und somit der Schlüssel zum Selbstkonzept des Klienten, welches wiederum zum zentralen Gedanken in der Persönlichkeitstheorie von Rogers wird. Im folgenden Jahrzehnt tritt er in die Phase der Erlebniszentrierung ein. Er konzentriert sich zunehmend auf die eigentliche Beziehung zwischen Berater und Klient, die er als eine echte zwischenmenschliche Beziehung definiert, in der der Therapeut als Mensch seine Gefühle zeigt. Es ist ein tranceartiges Sich-Fühlen in der Beziehung, aus dem sowohl der Klient wie ich am Ende der Stunde wie aus einem tiefen Brunnen oder Tunnel auftauchen. In diesem Augenblick existiert … eine wirkliche Ich-Du-Beziehung, ein zeitloses Leben in der Erfahrung zwischen dem Klienten und mir. (Rogers 1973, S. 200)
Das Zitat beschreibt das Herzstück der Klientenzentrierung, mit dem Rogers über das eigentliche Therapiegeschehen hinaus seine Gedanken zu einem generell menschlichen Miteinander beschreibt. Die Klientenzentrierung kann daher als Philosophie der interpersonalen Beziehung verstanden werden. Und ein weiteres Mal nutzt Rogers einen neuen Begriff für den Klienten, den er – ebenso wie übrigens auch den Therapeuten – fortan nur noch als Person bezeichnen wird. So wandelt sich sein Konzept von der nichtdirektiven über die klientenzentrierte hin zur personenzentrierten Therapie, die in diesem Prozess zur Begegnung bzw. Beziehung wird. Die klientenzentrierte Orientierung ist eine sich ständig weiterentwickelnde Form der zwischenmenschlichen Beziehung, die Wachstum und Veränderung fördert. Sie geht von folgender Grundhypothese aus: Jedem Menschen ist ein Wachstumspotential zu eigen, das in der Beziehung zu einer anderen Person (etwa einem Therapeuten) freigesetzt werden kann. Voraussetzung ist, dass diese Person ihr eigenes reales Sein, ihre emotionale Zuwendung und ein höchst sensibles, nicht urteilendes Verstehen in sich selbst erfährt, zugleich aber dem Klienten mitteilt. Das Einzigartige dieses therapeutischen Ansatzes besteht darin, dass sein Schwerpunkt mehr auf dem Prozess der Beziehung selbst als auf den Symptomen oder ihrer Behandlung liegt; dass seine Hypothesen sich auf Material stützen, das aus therapeutischen und anderen zwischenmenschlichen Beziehungen gewonnen wurde … (Rogers 1977)
Auch wenn Rogers sein Vokabular im Verlauf seiner Arbeit änderte – in der Welt der humanistischen Therapie verfestigte sich über die Jahre der Terminus „klientenzentrierte Gesprächsführung nach Rogers“ nicht zuletzt vielleicht auch deshalb, weil es sich hierbei um eine Methodik der Gesprächsführung handelt, die Schritt für Schritt erlernt werden kann. Rogers befand sich in seiner Beschreibung des tranceartigen Sich-Fühlens in unmittelbarer Nähe zur Arbeit von Milton Erickson, und die von beiden entwickelten Gesprächstechniken und Methoden überschneiden sich zum Teil.
2.4 Vorgespräch (und Gespräch) zur Aufstellung
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Mehr davon! Welcher Methoden sich die klientenzentrierte Gesprächsführung nach Rogers bedient, lesen sie weiten unten in Abschn. 2.4.3 („Aktiv zuhören“).
Kurz gefasst
Carl Rogers verstand persönliche Störungen nicht als Krankheit, sonders als einen Zustand der Unbewusstheit bzw. als fehlendes Bewusstsein. Im Rahmen seiner nichtdirektiven Therapie entwickelte er seine Arbeit von der klientenzentrierten Gesprächstherapie über die gefühlsverbalisierende Phase hin zur Erlebniszentrierung. Dabei wandelte sich auch sein Vokabular. Der Patient wurde zum Klienten und gleich dem Berater schließlich zur Person.
2.4.2.2 Hypnotherapeutische Kommunikation nach Milton Erickson Milton Erickson, der ebenfalls aus einer kinderreichen Familie mit väterlicherseits norwegischen Vorfahren stammte, fällt im Jahr 1919, kurz nach Abschluss seiner Highschool in Wisconsin infolge einer schweren Kinderlähmung ins Koma, aus dem er 3 Tage später – zunächst vollkommen gelähmt – wiedererwacht. Tatsächlich gelingt es ihm, sich in tranceähnlichen Zuständen im leicht wiegenden Schaukelstuhl in eine Phantasie zu vertiefen, bei der seine gelähmten Muskeln wieder funktionstüchtig werden. Nach nur einem Jahr geht er bereits an Krücken, später wird er nach intensivem Sporttraining lediglich das rechte Bein etwas nachziehen. Diese Erfahrung gilt als Quelle für Ericksons Interesse und Experimentierlust mit Trancezuständen, die er nach einem Studium der Psychologie und Medizin zu einer hohen Kunst entwickelt. Bereits zu Lebzeiten gilt er schließlich als „Meister der Hypnose“, und seine zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen revolutionieren das Verständnis über die Hypnose. Bei der hypnotherapeutischen Kommunikation hilft der Therapeut dem Klienten, in einen tranceähnlichen Zustand zu gelangen und diesen für seine eigene Veränderungsarbeit zu nutzen. Dabei ist die Trance keinesfalls ein Zustand der Unbewusstheit – vielmehr bleiben die Klienten hochgradig bewusst, während sie gleichzeitig aus ihrem Unbewussten heraus kommunizieren und so ein inneres Wissen an die Oberfläche und in ihr Bewusstsein bringen. Trance wird gemeinhin definiert als ein Zustand der höchsten Konzentration auf einen Vorgang, bei dem gleichzeitig Entspannung eintritt und (lediglich) der logisch reflektierende Teil des Denkens ausgeschaltet wird. Der Tiefengrad einer Trance bemisst sich dabei an der Frequenz der Hirnwellen, die in Hertz gemessen wird. Dabei entspricht der Alpha-Bereich (8–12 Hz) dem Zustand leichter Entspannung. Der Theta-Zustand (3–8 Hz) ist oft bei Meditation und Tiefenentspannung messbar. Die niedrigste Frequenz hat der Delta-Zustand (0,4–3 Hz), der zugleich auch im Schlaf gemessen werden kann. Unabhängig vom Grad der Entspannung ist jedoch der Aspekt der gleichzeitigen hohen Konzentration entscheidend für den Zustand der Bewusstheit.
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung
Trance ist kein Zustand der Unbewusstheit. Es ist ein Zustand höchster Konzentration auf ein Geschehen bei gleichzeitig tiefer Entspannung. In der Trance spricht der Klient aus seinem Unbewussten, während er bei Bewusstsein ist.
Für Erickson war das Unbewusste eine unerschöpfliche Ressource zur kreativen Selbstheilung – und er stellte sich damit neben Rogers und gegen den damals so übermächtigen österreichischen Neurologen und Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud (1856–1939), der die Hypnose in der Psychotherapie ablehnte. Freud verstand das Unbewusste, das er das Unterbewusste nannte, als den Hort allen Verdrängten, als ein System, das aus Erlebnissen, Gefühlen und Wünschen besteht, die von der bewussten Wahrnehmung ausgeschlossen wurden. Erickson hingegen verstand das Unbewusste wie Rogers – als den Raum des so wertvollen Selbstheilungspotenzials des Menschen. Mit seinem hypnotherapeutischen Ansatz beanspruchte er, die durch starre Denkmuster begrenzte Fähigkeit des Bewusstseins zu erweitern und dem Unbewussten zu ermöglichen, die führende Rolle einzunehmen und die kreative und selbstheilende Ressource dem Bewusstsein zugänglich und damit verwertbar bzw. umsetzbar zu machen.
Für Milton Erickson und Carl Rogers ist das Unbewusste der Ort der „Weisheit“ des Organismus (des Systems). Im Unbewussten „wohnt“ das Selbstheilungspotenzial.
Alle Methoden der klientenzentrierten, hypnotherapeutischen und in der Folge weiterentwickelten systemischen Gesprächsführung haben wir im Folgenden unter der Überschrift „Aktiv zuhören“ zusammengefasst.
2.4.3 Aktiv zuhören Eine Aufstellung beginnt nicht erst, wenn die Stellvertreter vom Klienten auf ihren Platz gestellt werden. Aus der Erfahrung zahlreicher Aufsteller (und wahrscheinlich auch Ihrer eigenen) beginnt eine Aufstellung in dem Moment, in der ein Klient darüber nachdenkt, eine Aufstellung für ein bestimmtes Anliegen zu machen. Nicht selten macht sich bereits mit einer solchen Entscheidung eine gewisse psychische und bisweilen auch physische Unruhe beim Klienten breit – die Entscheidung für die Bereitschaft, möglicherweise aus einem gewohnten Muster auszusteigen oder sich mit einer gewissen Unvoreingenommenheit anschauen zu wollen, was in einem bestimmten System wirkt, hat einen starken Effekt auf seinen gesamten Organismus. Das gilt aus unserer Erfahrung auch dann, wenn die Erwartungshaltung des Klienten sich weniger auf die Eigenverantwortung fokussiert, sondern vielmehr auf den Wunsch, durch eine Aufstellung „repariert“ oder geheilt werden zu wollen. Auch diese Vorstellung
2.4 Vorgespräch (und Gespräch) zur Aufstellung
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bringt sein System in Unruhe, nicht selten macht sich eine gewisse Angst breit. Ist der Klient dann schließlich im Aufstellungssetting angekommen und wird dann tatsächlich vom Aufsteller „drangenommen“, dann geschieht es immer wieder, dass die Mischung aus Angst und Aufregung den Klienten in einen tranceähnlichen Zustand versetzt, in dem er dann die sinngemäße Frage „Worum geht’s?“ gestellt bekommt. Die Kunst, die angesichts dessen einem werdenden Aufsteller nun vermittelt werden will, ist die, das Vorgespräch zu führen – oder anders ausgedrückt, den Klienten durch dessen individuelles Feld auf sein spezifisches Thema hin zu führen. Die Fähigkeit, dabei durch die Augen des Klienten auf das vor ihm liegende Themenfeld zu blicken und zugleich verbunden und in der Präsenz der doppelten Wahrnehmung zu sein, erfordert bewusstes Können, das gelernt und zu einer gewissen „Meisterschaft“ gebracht werden will. Bei professionellen Aufstellern, die die Kunst der Gesprächsführung in besonderem Maß beherrschen, ersetzt das Gespräch nicht selten die Aufstellung, weil die wesentlichen Prozesse bereits in der Imagination des Klienten vollzogen sind. Ob dennoch eine Aufstellung gemacht wird, entscheiden Aufsteller und Klient. Die Kunst der Gesprächsführung ist in gewisser Hinsicht die Kunst des aktiven Zuhörens. Die einzelnen Aspekte und Techniken beschreiben wir im Folgenden.
2.4.3.1 Anliegen im ersten Satz Der Klient benennt das, worum es geht, oft im ersten Satz des Gesprächs. Das entspricht unserer Erfahrung. Sie klingt vielleicht frappierend – wir machen sie tatsächlich immer wieder und achten daher besonders auf den ersten Satz. Seitdem wir darauf achten, erkennen wir auch die offensichtliche Häufigkeit dieses Geschehens und behaupten damit eine gewisse Regel. Für diese erste Regel gilt die zweite: Der Klient weiß nicht, dass er das tut, und er weiß auch nicht, dass er, bzw. sein System, bereits weiß, was genau sein Anliegen ist. Seinem Bewusstsein ist dieses „Systemwissen“ noch nicht zugänglich – es befindet sich noch im Reich seines Unbewussten. Hier deckt sich unsere Erfahrung mit dem, was Rogers meinte, als er vom „Defizit an Bewusstsein“ beim Klienten sprach. Nach dem ersten Satz verhält es sich im weiteren Gesprächsverlauf hingegen oft so: Je länger der Klient spricht, und je mehr er versucht, sein Anliegen sprachlich zu fassen, desto verworrener scheint er zu werden. Manche Klienten beginnen dann, ungeordnet zu reden bis zu einem Grad, dass ihr Redefluss versiegt. Andere beginnen, viel zu reden – und nicht selten dient dieses Viel-Reden (wiederum unbewusst) auch der Verschleierung des eigentlichen Anliegens, der Selbstberuhigung oder anderen, ähnlichen Aspekten. Warum auch immer ein Klient viel oder gar nicht mehr redet, und wie verworren er auch sein mag, für die Weiterbildung gilt es nun, den Teilnehmern Methoden an die Hand zu geben, die es ihnen ermöglichen, die sichere Führung im Gespräch zu übernehmen, zu behalten und das Anliegen gemeinsam mit Klienten behutsam herauszuschälen und auf den Punkt zu bringen.
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung
Mehr davon Worauf es bei der Formulierung des Anliegens zu achten gilt, dazu finden Sie weiter unten (Abschn. 2.4.3.16) eine ausführlichere Beschreibung.
2.4.3.2 Papageien Unabhängig davon, ob das Anliegen bereits im ersten Satz geäußert wird oder nicht: Dem Klienten hilft es sehr, wenn der Aufsteller dessen Worte wortwörtlich und verlangsamt wiederholt. Diese Art des aktiven Zuhörens, die Papageien genannt wird, eignet sich nicht nur für den ersten Satz – die Zuhörtechnik des zitierenden „Nachplapperns“ empfiehlt sich aus unserer Erfahrung insbesondere für die, die in der Anwendung der Aufstellungsmethode und der systemischen Gesprächsführung noch „neu“ und/oder unerfahren, unsicher sind. Mit dem Papageien hat der „junge“ Aufsteller ein sicheres „aktives Zuhörwerkzeug“ mit starker Wirkung.
Dem Klienten hilft es, wenn der Aufsteller dessen Worte wortwörtlich und langsam wiederholt.
Beim Papageien geschieht Folgendes: Der Klient bejaht entweder die Wiederholung und rutscht gleichzeitig förmlich automatisch in einen tranceartigen Zustand. In diesem Fall kann es helfen, die Worte des Klienten mehrmals hintereinander zu wiederholen. Es geschieht auch, dass der Klient angesichts der Wiederholung seiner Worte behauptet, er habe das nicht gesagt, oder jedenfalls nicht so. Diese durchaus häufige Reaktion zeigt dem Aufsteller, dass der Klient sich seiner eigenen Worte nicht bewusst ist und auch keine Kontrolle über diese hat. In einem gewissen Ausmaß gilt dieser erstaunliche Umstand ja für die meisten unserer Gespräche, auch wenn wir denken, das Sprechen sei unser bewusst kontrollierter Ausdruck dessen, was wir denken. Beim Vorgespräch zur Aufstellung wird die Unbewusstheit noch dadurch verstärkt, dass der Klient wie oben beschrieben in einen tranceähnlichen Zustand verfällt. Wenn er nun bestreitet, dass er einen wörtlich wiederholten Satz gesagt habe, dann gelten für die Gesprächsführung ausschließlich die Anerkennung der Behauptung und die Frage: „Was genau hast Du denn gesagt?“.
2.4.3.3 Wiederholen mit eigenen Worten Eine Weiterentwicklung des Papageiens ist die Wiederholung mit eigenen Worten, die sinngemäß so eingeleitet werden kann: „Wenn ich Dich jetzt richtig verstanden habe, dann hast Du gerade gesagt, dass …“ oder „ich versuche mal mit eigenen Worten wiederzugeben, was Du gerade gesagt hast, um sicher zu gehen, dass ich Dich verstanden habe“. Die Wiederholung mit eigenen Worten hat für den Klienten den Effekt, dass er sich „von außen hört“. Er wird dadurch – analog zum Beobachter zweiter Ordnung – zum Zuhörer zweiter Ordnung: Er hört sich zu, wie er spricht, dieses Mal in anderen Worten. Der dadurch eingeleitete Reflexionsprozess kann den weiteren Verlauf des Gesprächs stärken.
2.4 Vorgespräch (und Gespräch) zur Aufstellung
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Bei der Wiederholung mit eigenen Worten gilt dann dasselbe wie für das Papageien: Wenn der Klient sich missverstanden fühlt, dann gilt das für den weiteren Gesprächsverlauf als Tatsache und nicht als zu diskutierende Ansichtssache. Ein „Du hast doch eben wortwörtlich gesagt … und das habe ich nur wiederholt“ seitens des Aufstellers verbietet sich förmlich. Im Zweifel kann das den Klienten in eine Situation bringen, in der er sich nun zu rechtfertigen beginnt.
2.4.3.4 Reframing, minimale strategische Veränderung, Umdeutung Die englische Vokabel „reframe“ bedeutet: um-rahmen, in einen anderen Rahmen stellen. Hat eine Mutter zum Beispiel Sorge, weil ihr Kind nur im Zusammensein mit ihr besonders aggressiv auftritt, während es sich bei anderen freundlich und friedvoll zeigt, könnte im Zuge des Reframings darauf hingewiesen werden, dass das Kind der Mutter vielleicht besonders vertraut und daher nur bei ihr wagt, so aggressiv zu sein. Bei der aktiven Zuhörtechnik des Reframings wird eine unbestreitbare Tatsache in einen neuen Kontext gestellt oder aus einer anderen Perspektive beschrieben. Das kann den Klienten darin unterstützen, seine Betrachtungsmuster zu verlassen und einen neuen Zugang zu seinem Anliegen zu gewinnen. Aus der provokativen Gestalttherapie gibt es auch die Variante, das, was als störend empfunden wird, in sein Gegenteil zu verkehren und dem Klienten als vorteilhaft und gewinnbringend in allen Details zu beschreiben – so lange, bis er eigene Vorschläge zur Veränderung oder sogar zur Lösung einbringt. Die Vorgehensweise beruht auf der Erkenntnis, dass das beklagte Problem tatsächlich oft als weniger bedrohlich als eine mögliche Lösung angesehen wird. (Hartung 2018)
Erickson bezeichnete das Reframing als minimale strategische Veränderung oder Umdeutung.
2.4.3.5 Utilisation, Metaphern und Analogien Der Therapeut nutzt Sprache und Bilder des Klienten für den Therapieprozess. Er passt seine Sprache an die Sprache des Klienten an und nutzt dessen Weltbild(er), um Veränderung zu erleichtern. Diese Methode nannte Erickson Utilisation. Möglich ist außerdem der Einsatz von entsprechenden Metaphern, Sprachbildern, Analogien oder Wortspielen. Sie erweitern bestenfalls die Weltbilder des Klienten, sodass er sich nun in einem für ihn vertrauten Gesprächsumfeld bewegt. Er fühlt sich verstanden und bekommt das so nötige Gefühl der Sicherheit, das seine Bereitschaft fördern kann, sich mehr auf den für ihn unkontrollierbaren Prozess einzulassen. Die Möglichkeiten der Utilisation, ebenso wie die mögliche Verwendung von Metaphern u. a. machen auch deutlich, welch feines Sprachgefühl und welch hohen Aufmerksamkeitsgrad der Therapeut beim Zuhören braucht: Insbesondere die Verwendung bestimmter Vokabeln kann schon ein Hinweis auf das Thema sein, um das es geht. Es gilt also auch, im Zuge der Weiterbildung eine besondere Sensibilität für Sprache und die Bedeutung einzelner Wörter zu vermitteln.
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung
2.4.3.6 Das Ich im Spiegel In der Regel ergeben sich Probleme im Miteinander mit anderen – in Familie, Paarbeziehung, Freundschaft oder im Arbeitsumfeld. Und in derselben Regel sprechen Klienten deshalb über andere, wenn sie ihre eigenen Anliegen formulieren. Strukturell klingen die Anliegen dann meist so: „Wenn er/sie anders wäre/sich anders verhielte, hätten wir auch kein Problem und dann ginge es mir gut. Deshalb will ich wissen, was ich tun muss, damit er sich ändert“. Andere Anliegen beziehen sich auf Vergangenes. Diese lauten strukturell so: „Weil mir das damals angetan wurde, habe ich heute Probleme/bin ich heute so/mache ich das heute so“. Wenn wir solche Sätze hören, laden wir den Klienten zu einem Experiment ein, das wir auch in unseren Weiterbildungen durchführen. Im ersten Fall („Der andere soll anders sein“) soll sich der Klient vorstellen, dass alles, was im Außen geschieht, gesagt oder getan wird, sein Spiegel ist. Das bedeutet, dass das, was er erlebt, er selber sei. „Natürlich“, so sagen wir dem Klienten, „ist diese Annahme rein hypothetisch“. Nun soll er die Sätze, die er über den Anderen gesagt hat, in der Ich-Form wiederholen. Aus „Er geht schlecht mit mir um“ wird dann „Ich gehe schlecht mit mir um“, aus „Ich kann ihm/ihr nicht vertrauen“ wird „Ich kann mir nicht vertrauen“. Im zweiten Fall (ich bin Opfer meiner Vergangenheit) lauten die Ich-Sätze dann so: Aus „Ich konnte es meiner Mutter/meinem Vater nie recht machen, und deshalb bin ich heute …“ wird dann „Ich kann es mir heute nicht recht machen“. Solche Ich-Sätze irritieren den Klienten in der Regel, zugleich ermöglichen sie ihm den ersten Schritt durch das Tor heraus aus der Welt der (an-)klagenden Opfer. Im zweiten Fall („Weil mir das damals angetan wurde, habe ich heute Probleme“) regen wir an, dass der Klient sich vorstellt, dass derjenige, der ihm etwas angetan hat, jetzt (als Introjekt) in ihm drin ist und in der Ich-Form zu ihm spricht. Seine Ich-Sätze klingen dann z.B. so: „Ich habe keine Zeit für mich“ oder „Ich mag mich nicht“ oder „Ich bin nicht brav/gehorsam/angepasst genug“ zu sagen. Ähnlich wie beim ersten Fall kann sich dadurch die Wahrnehmung verschieben. Es kann auch sein, dass sich automatisch Widerspruch in ihm regt. Unsere Satz-Umkehrregel „vom Du zum Ich“ führt jedenfalls häufig zu erstaunlichen Ergebnissen beim Klienten. Bisweilen scheinen wir regelrecht „hören“ zu können, wie die Zahnräder der eingefahrenen Sichtweisen in seinem Hirn aus dem Rund springen und mit einem knarzenden Geräusch kurz stoppen oder gar zum Stilstand kommen. Die Umkehrsätze haben also eine gewisse reorganisierende Wirkung auf das Hirn, die für das Bewusstsein irritierend ist und damit wiederum die hypnotherapeutische Wirkung ermöglicht oder verstärkt. Das gilt im selben Maß für die provokativen „Hochrechnungen“ bestimmter Haltungen, Ängste, Glaubenssätze oder Bewertungen des Klienten, wie sie der Gestalttherapeut Frank Farrelly (1921–2013) in seiner Provokativen Therapie entwickelt hat – in der Regel eröffnen sich durch die Umkehrungen und/oder die Hochrechnungen neue Perspektiven für den Klienten. Durch die Umformulierung oder Verzerrung beginnt
2.4 Vorgespräch (und Gespräch) zur Aufstellung
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der Klient außerdem auch, sich von außen zu betrachten – er hört sich selber zu oder betrachtet sich in einer gewissen Verzerrung. Die daraufhin folgende Desidentifikation, die sinngemäß oft so klingt: „So will ich es ganz bestimmt nicht“ oder „In der extremen Konsequenz will ich das auf keinen Fall“, ist nicht selten ein entscheidender erster Schritt zur Lösung. Eine Reaktion auf Umkehrsätze oder Hochrechnungsszenarien kann auch sein, dass der Klient äußert, „irgendwie im Nebel“ zu sein, und genau an dieser Stelle wissen wir – in Anlehnung an Fritz Perls – dass wir nahe dem eigentlichen Thema sind. Fritz Perls bezeichnete den Nebel als das Tor zur Neurose, wobei er die Neurose als Wiederholungsmuster der Überlebensstrategie im Kontakt (in der Regel zu den Eltern) erkannt hat. Das neurotische Verhalten verstand er als ein Überlebensmuster, das immer wieder eingesetzt wird, auch es gar keinen Anlass mehr dafür gibt – es soll prinzipiell dem schützenden Selbsterhalt dienen, auch wenn es keinen Anlass für Schutz mehr gibt („Das haben wir hier immer so gemacht.“). Die Äußerung, im Nebel zu sein, gilt für den Aufsteller in jedem Fall als Signal, besonders behutsam mit dem Klienten weiter zu reden, weil sich dieser am Tor zur Neurose häufig in einem regredierten Zustand befindet. Für die weitere Gestaltung des Gesprächs gelten dann wieder die Erkenntnisse von Carl Rogers, die wir oben beschrieben haben.
2.4.3.7 Vom nicht Können zum nicht Wollen Klienten beschreiben ihre Anliegen in der Regel in einer Sprache des „Ich kann nicht“. Sie können sich nicht wehren, sie können sich nicht beherrschen, sie können ihren Partner nicht verlassen o. Ä. Wir üben mit unseren Teilnehmern den Transfer in der Sprache von „Ich kann nicht“ zu „Ich will nicht“, und wir bereiten auch darauf vor, dass damit oft Widerstände bei Klienten ausgelöst werden. Der Widerstand soll keinesfalls gebrochen werden. Er ist ein wirksamer Selbstschutz, dem jeder Respekt gilt. Zugleich ist Widerstand immer auch als Nahtstelle zu einer möglichen Veränderung zu verstehen.
Der Widerstand des Klienten ist sein Selbstschutz und muss respektiert werden. Er kann die Nahtstelle zu einer möglichen Veränderung sein.
Wir ermutigen unsere Teilnehmer daher, den Klienten einzuladen, den Satz versuchsweise zu verwenden und ihn in einen ergänzenden Zusammenhang zu stellen, der etwa so lautet: (Ich will das nicht, weil dann Folgendes geschehen könnte …/weil ich befürchte, dass …/weil ich Angst davor habe, dass …). Die Umkehr in die „Täterperspektive“ soll behutsam und immer wieder angewendet werden, weil sich das Bewusstsein nur langsam daran gewöhnt, kein Opfer mehr zu sein (sein zu müssen). Unterstützend kann auch der Vorschlag wirken, der Klient solle die Vorteile seines Nicht-Wollens formulieren: „Was genau ist der Vorteil, wenn Du es weiter so wie bisher machst?“
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung
Nicht selten beginnen Klienten bei dieser oder ähnlichen Fragen zu verstehen, dass es (im Moment) noch sinnvoll erscheint, so oder so zu handeln bzw. zu entscheiden, und dass sie die Wahl haben, sich anders zu verhalten oder zu entscheiden, wenn es für sie passt.
2.4.3.8 Destabilisierung Wenn der Klient in destruktiven Gedankenmustern absorbiert ist, sollte er leicht verwirrt werden. Ziel der Verwirrung ist es, die eingefahrenen Muster zu durchbrechen, kreative Problemlösungen anzustoßen und die Aufnahme neuer Informationen und Perspektiven zu ermöglichen. Wie wir unsere Klienten verwirren, haben Sie oben gelesen, und die Methoden der Bahnung, der Rekonstruktion und der Reorientierung in der Zeit, die wir im Folgenden beschreiben, eignen sich dann gut, die Aufmerksamkeit des Klienten in andere Richtungen zu lenken. 2.4.3.9 Beiläufigkeit Suggestionen gibt man in der hypnotherapeutischen Gesprächsführung beiläufig. Sie geschehen durch Metaphern oder therapeutische Geschichten. Die Annahme dahinter ist, dass die Suggestionen auch dann (und in der Regel sogar besser) aufgenommen werden können, wenn sie nicht bewusst registriert werden. Eine beiläufige Suggestion geschieht z. B. durch den Satz: „Und in dieser Situation war niemand, der gesagt hätte: ‚Du bist in Ordnung, so wie du bist‘.“ Diese Suggestion sagt: „Du bist in Ordnung, so wie du bist“. 2.4.3.10 Bahnung Die Richtung meiner Aufmerksamkeit erzeugt von Moment zu Moment mein Erleben und mein Erkennen. Worauf meine Aufmerksamkeit im Moment gerichtet ist, hat also Auswirkungen auf meine Gefühle, meine Stimmung und meine Gedanken. Beim Bahnen geht es darum, die Aufmerksamkeit in eine Bahn zu einem gewünschten Aspekt zu bringen. In der hypnotherapeutischen Gesprächsführung werden hilfreiche emotionale Zustände dadurch gebahnt, dass die Aufmerksamkeit auf damit verbundene Assoziationen gelenkt wird. In den 1980er-Jahren fanden Psychologen dann heraus, dass die Darbietung eines Wortes sofort messbare Veränderungen in der Leichtigkeit verursacht, mit der verwandte Wörter ins Gedächtnis gerufen werden können. Wenn Sie vor Kurzem das Wort eat („Essen“) gesehen oder gehört haben, werden Sie vorübergehend das Wortfragment so_p als soup („Suppe“) denn als soap („Seife“) vervollständigen [Anmerkung: Anstelle von „denn als“ müsste es hier heißen: „und nicht als“]. Das Umgekehrte wäre der Fall, wenn Sie gerade wash („Waschen“) gesehen hätten. Wir nennen dies einen „Priming-Effekt“ („Bahnungs-Effekt“) und sprechen davon, dass die Vorstellung „essen“ die Vorstellung „Suppe“ bahnt, während „waschen“ die Vorstellung „Seife“ bahnt. Ein weiterer großer Fortschritt im Verständnis der Arbeitsweise des Gedächtnisses war die Entdeckung, dass Priming nicht auf Konzepte und Wörter beschränkt ist. Auch wenn sich dies nicht mit unserem bewussten Erleben deckt, müssen wir uns mit der befremdlichen Vorstellung abfinden, dass unsere Handlungen und Emotionen durch Ereignisse geprimt werden können, deren wir uns nicht einmal bewusst sind. (Kahnemann 2011, S. 72–73)
2.4 Vorgespräch (und Gespräch) zur Aufstellung
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Heute wissen wir, dass wir in unserer Aufmerksamkeit immer gebahnt sind, auch wenn wir das nicht wahrnehmen. Es gibt zahlreiche Bahnungsexperimente wie das hier genannte, die belegen, wie leicht und auch maximal manipulierbar die menschliche Wahrnehmung ist. Der Klient soll sich eine für ihn positive Situation vorstellen und sich dann auf Fragen konzentrieren wie z. B.: Wie ist meine Körperhaltung, wenn ich selbstsicher auftrete? Wie atme ich, wenn ich in meiner Mitte bin? Bahnen kann direkt mit Embodiment (Verkörperung, Verankerung im Körper) verknüpft werden, wenn der Klient eine entsprechende Haltung einnimmt, oder es kann indirekt durch beiläufige Suggestionen, Bilder etc. erfolgen, die es dem Klienten erleichtern sollen, kreative Lösungen zu finden. In einem Experiment, das auf Anhieb zu einem Klassiker wurde, baten der Psychologe John Bargh und seine Mitarbeiter Studenten der Universität von New York – die größtenteils zwischen 18 und 23 Jahre alt waren –, aus einer Menge von fünf Wörtern (zum Beispiel „findet er es gelb sofort“) Vier-Wort-Sätze zu bilden. Bei einer Gruppe von Studenten enthielt die Hälfte der ungeordneten Sätze Wörter, die – in den Vereinigten Staaten – mit älteren Menschen assoziiert werden, wie „Florida“, „vergesslich“, „glatzköpfig“, „grau“ oder „Falte“. Als sie diese Aufgabe beendet hatten, wurden die jungen Versuchsteilnehmer für ein weiteres Experiment in ein Büro geschickt, das am Ende desselben Flurs lag. Dieser kurze Spaziergang war der entscheidende Punkt in diesem Experiment. Die Forscher maßen unauffällig die Zeit, die die Probanden benötigten, um von einem Ende des Flurs ans andere zu gelangen. Wie von Bargh erwartet, gingen die jungen Leute, die einen Satz aus „altersbezogenen“ Wörtern gebildet hatten, erheblich langsamer durch den Flur als die anderen. Der „Florida-Effekt“ umfasst zwei Priming Phasen. Zunächst primt die Menge der Wörter Gedanken an hohes Alter, obwohl das Wort „alt“ nie erwähnt wird; anschließend primen die Gedanken ein Verhalten, langsames Gehen, das mit Betagtheit assoziiert ist. All dies geschieht unbewusst. (Kahnemann 2011 2)
2.4.3.11 Rekonstruktion Belastende Erinnerungen oder Lebenserfahrungen können in der hypnotherapeutischen Kommunikation durch fiktive Ergänzungen abgemildert oder sogar neutralisiert werden. Der Trancezustand fördert den Umstand, dass der Klient sich voll auf die fiktiven Ergänzungen konzentriert, die für sein Gehirn zu einer realen Nervenzellenverbindung führen – und damit wie eine tatsächlich gemachte Erfahrung wirken können. Die Annahme dahinter ist, dass unser Gehirn schwer zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden kann. Indem Ressourcen in belastende Lebenserfahrungen eingefügt werden, wird Erleichterung geschaffen. In der neueren Traumaforschung spricht man diesbezüglich von Gedächtnisrekonsolidierung.
Mehr davon Über die Möglichkeiten des Rekonstruktionsgeschehens im Hirn (Gedächtnisrekonsolidierung) finden Sie vertiefte Informationen in Abschn. 6.4 („Trauma im Hirn“).
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung
2.4.3.12 Reorientierung in der Zeit Für eine Lösungsorientierung beim Klienten kann es hilfreich sein, ihn imaginativ in die Vergangenheit oder Zukunft reisen zu lassen. Aus der Perspektive eines vergangenen Ichs bzw. zukünftigen Ichs können neue kreative Lösungswege gefunden werden. Wir haben bei dieser Art der Kommunikation eine weitere Erfahrung gemacht: Je tiefer wir in einem hypnotherapeutischen Prozess als Therapeuten in der Gesprächsführung resonant „mitschwingen“, desto mehr bekommen wir selber Zugang zu unseren eigenen tieferen Schichten des Wissens, die sich der Kontrolle unseres Bewusstseins und unserer Interpretationsansätze entziehen. Voraussetzung hierfür ist in jedem Fall aber auch der Zustand der doppelten Wahrnehmung, wie wir sie weiter oben bereits beschrieben haben. 2.4.3.13 Zeit und Zugehörigkeit Für manche gibt die Faustregel, dass man in einer Aufstellung Vergangenheits- und Gegenwartssysteme nicht vermischen sollte. Wir halten es nicht so, aber natürlich informieren wir unsere Teilnehmer in den Weiterbildungen über die verschiedenen Positionen mit Blick auf die Gleichzeitigkeit von Herkunfts- und Gegenwartssystemen. Hinweis für eine Übung Das Thema Vergangenheits-/Gegenwartssystem eignet sich im Übrigen gut für experimentelle Übungen mit den Teilnehmern, indem man zuerst zwei getrennte und dann eine kombinierte Aufstellung macht und sich im Anschluss gemeinsam über die Erfahrungen, die man dabei gemacht hat, austauscht. Für das Vorgespräch der Aufstellung ist es in jedem Fall wichtig, dem Klienten bewusst zu machen, auf welcher Zeitschiene er mit seinem Thema unterwegs ist, die Weiterbildungsteilnehmer sollten daher dafür sensibilisiert werden. Zur Frage, wer zum System gehört, gibt es in der Regel selten Missverständnisse. Zugleich sollten die Teilnehmer der Weiterbildung darauf achten, dass Klienten häufig Schlüsselfiguren und nicht zuletzt (und das nicht selten) sich selber vergessen, wenn sie die wichtigsten Teilnehmer ihres Systems, um das es geht, benennen wollen bzw. sollen. Hingegen gibt es für die Frage, was aufgestellt werden soll/kann, vielleicht so viele verschiedene Ansätze, wie es Aufsteller gibt. Egal wie viele es tatsächlich gibt, wesentlich ist hierbei die Vermittlung, dass es kein Richtig oder Falsch, sondern vielmehr ein Kaleidoskop der Möglichkeiten gibt, für das die Teilnehmer sensibilisiert werden sollen, weil jede Entscheidung darüber, was genau aufgestellt wird, die Perspektive – und wenn auch nur minimal – verschiebt. In unseren Weiterbildungen ermutigen wir deshalb die Teilnehmer immer wieder, Varianten ihrer Entscheidungen und Vorgehensweisen auszuprobieren und sich darüber auszutauschen, ob sie jeweils – und wenn, welche – Unterschiede erfahren haben.
2.4 Vorgespräch (und Gespräch) zur Aufstellung
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2.4.3.14 Die eigenen Wahrnehmungen spiegeln In der Regel sagen wir unseren Klienten, was wir im Gespräch beobachten, insbesondere dann, wenn es wiederholte oder ungewöhnliche Körperregungen im Kontext einer Beschreibung oder Erzählung gibt. Unsere Hinweise lauten ungefähr so: „Mir fällt auf, dass Deine rechte Hand immer eine schnelle Drehung nach rechts macht, wenn Du von xy sprichst, merkst Du das auch?“ Wenn der Klient bestätigt, dass er das auch merkt, ermuntern wir ihn, die Bewegung zu verstärken und in eine innere Haltung des Zuhörens zu gehen: „Was will mir meine Hand sagen?“. Mit unseren Teilnehmern üben wir diese bewusste Beobachtung bzw. die zeitgleiche Wahrnehmung der Körperregungen, während sie dem Klienten zuhören – und wir bestärken sie darin, alles zu benennen, was sie sehen bzw. was ihnen auffällt. Das gilt zum einen der eigenen Bewusstwerdung darüber, wie viel mehr sie wahrnehmen, als ihnen das aus dem Alltagsgeschehen geläufig ist. Wir hören oft Reaktionen wie: „Stimmt, das war mir auch aufgefallen, aber ich habe das nicht weiter verfolgt/ich habe gedacht, es sei vielleicht nicht wichtig“. Damit die Teilnehmer Schritt für Schritt an eine erweiterte Wahrnehmung und an das bewusste Zur-Kenntnis-Nehmen ihrer Wahrnehmungen herangeführt werden, lohnen sich bei den Übungen zu Vorgesprächen in unseren Weiterbildungen immer wieder Fragen wie: „Was habt Ihr wahrgenommen?“ oder „An welchen Stellen habt Ihr innerlich aufgemerkt?“. 2.4.3.15 Information über die eigene Hypothesenbildung Grundsätzlich regen wir unsere Teilnehmer dazu an, immer wieder ihre Hypothesenbildung zu formulieren und sich dabei zu verdeutlichen, dass es sich nicht um die vermeintlich „richtige Wahrheit“, sondern eben um eine individuelle Hypothese handelt. Im Gespräch sollte diese dem Klienten auch genau so benannt werden – das unterstützt in jedem Fall den Aspekt der Augenhöhe und lässt ihm die Möglichkeit, dazu nein zu sagen. Allerdings gilt hier eine besondere Achtsamkeit mit Blick auf möglicherweise vorliegende Traumata, die dem Klienten noch nicht bewusst sind. Wir halten es mit der Faustregel, nur das zu benennen, was dem Klienten mehr oder weniger bewusst ist. Aus der wissenschaftlichen Forschung wissen wir heute, dass wir ohne andauernde Kausalitätskonstruktion, Assoziation und Hypothesenbildung gar nicht auskommen. Diese Erkenntnis hat eine maßgebliche Bedeutung im Gespräch zwischen Berater/Aufsteller und Klient und sollte immer wieder Thema sein. Der aristokratische belgische Psychologe Albert Michotte veröffentlichte 1945 ein Buch, das jahrhundertealte Kausalitätskonzeptionen, die zumindest bis auf Humes Studie über die Mechanismen der Ideenassoziation zurückgingen, über den Haufen warf. Nach gängiger Auffassung schlossen wir aus wiederholten Beobachtungen von Korrelationen zwischen Ereignissen auf physikalische Kausalität. Wir hatten unzählige Erlebnisse, bei denen wir sahen, wie ein bewegter Gegenstand einen anderen berührte, der sofort anfing sich zu bewegen, oftmals (aber nicht immer) in die gleiche Richtung. Dies geschieht,
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung wenn eine Billardkugel gegen eine andere stößt. Michotte … behauptete, dass wir Kausalität genauso direkt sehen, wie wir Farbe sehen. Um diese Hypothese zu beweisen, führte er ein Experiment durch, bei dem die Versuchspersonen ein gezeichnetes schwarzes Quadrat in Bewegung sehen; es berührt ein anderes Quadrat, das sich sofort zu bewegen beginnt. Die Beobachter wissen, dass es keinen realen physischen Kontakt gibt, trotzdem haben sie eine starke „Kausalitätsillusion“. Experimente haben gezeigt, dass 6 Monate alte Säuglinge die Folge von Ereignissen als ein Ursache-Wirkungs-Szenario sehen, und sie lassen Überraschung erkennen, wenn die Folge verändert wird. Wir sind offensichtlich von Geburt an darauf eingestellt, Eindrücke von Kausalität zu haben, die nicht davon abhängen, ob wir über Muster der Verursachung nachdenken. (Kahnemann 2011, S. 102)
Unsere Affinität zur kausalen Wahrnehmung begründet auch unsere andauernde Frage nach dem „Warum“. Die Sinnkonstruktion scheint existenziell notwendig. Ein typischerweise formuliertes Anliegen lautet daher häufig: „Ich möchte wissen, warum es so ist“. Wir regen unsere Teilnehmer an, einem solcherart formulierten Anliegen mit der Frage zu begegnen: „Und was ist anders, wenn Du es weißt?“. In der Regel lautet die Antwort: „Ich könnte es dann besser verstehen“. Auch dann lautet wiederum die Gegenfrage: „Was ist anders, wenn Du es besser verstehst?“ Sie kann sich nicht damit abfinden, dass sie einfach Pech hatte; sie muss unbedingt eine Ursache finden. Zu guter Letzt wird sie noch glauben, dass jemand ihre Arbeit absichtlich sabotiert. (Kahnemann 2011, S. 104)
Mehr davon Zu Wahrnehmung, Erkenntnis, Hypothesenbildung und Wahrheit finden sie vertiefende Darstellungen in Kap. 3.
2.4.3.16 Das Anliegen auf den Punkt bringen So, wie wir in unseren Weiterbildungen in alle Module das Einüben der Gesprächsführung einflechten, so gilt dabei insbesondere der Kunst, das Anliegen des Klienten auf den Punkt zu bringen, die größte Aufmerksamkeit. Dabei bildet nicht zuletzt die präzise Formulierung des Anliegens – jedenfalls in den westlichen Kulturkreisen, in denen Vokabeln, Verbalisierung und Formulierung oft eine ganz wichtige Rolle spielen – den Kern. Franz Ruppert, über dessen Arbeit Sie weitere Informationen in Kap. 6 („Trauma und Traumafolgestörungen“) finden, stellt sogar die einzelnen Worte des Anliegensatzes auf und erreicht damit erstaunlich weitgehende Erkenntnisse und tiefgehende therapeutische Wirkungen bei Klienten. Grundsätzlich gibt es keine wissenschaftliche fundierte Erkenntnis darüber, wann der Aufsteller weiß, ob das Anliegen auf den Punkt gebracht wurde. Wir würden sagen: Man kann es spüren, würden damit aber unseren Lehrauftrag der Weiterbildung nicht wirklich erfüllen. Wir üben deshalb mit unseren Teilnehmern immer wieder Vorgespräche und die Kunst, das Anliegen auf den Punkt zu bringen. Dabei lassen wir den Aufsteller, der das Gespräch führt, immer wieder reflektieren, wo sein Klient gerade ist, was er
2.4 Vorgespräch (und Gespräch) zur Aufstellung
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wahrgenommen hat, welche Kausalitätsillusionen der Klient präsentiert hat und welche Hypothesen er selbst hat. Die kontinuierliche Übung verfeinert über die Zeit die Wahrnehmung und die Fähigkeit, durch die resonante Verbindung zum Klienten mitzuerleben, wann ein Anliegen auf den Punkt gebracht wurde.
2.4.3.17 Erschließen von Ressourcen Die Grundannahme der klientenzentrierten und hypnotherapeutischen Gesprächsführung ist, dass jeder Mensch die nötigen Ressourcen in sich hat, um seine eigenen Herausforderungen zu lösen. Diese Annahme ergibt sich bereits aus der Definition des Unbewussten, wie sie die humanistische Psychotherapie formuliert. Die Aufgabe beim aktiven Zuhören ist es daher, die Ressourcen des Klienten ausfindig, dem Klienten bewusst und im Problemkontext zugänglich zu machen. Hinweis Übungen Alle hier beschriebenen Methoden der systemischen Gesprächsführung im Vorfeld und während der Aufstellung eignen sich für zahlreiche Partnerübungen, die wir in unsere Weiterbildungen wiederholt einbauen. Kurz gefasst
Erkenntnisse und Methoden für aktives Zuhören sind: • Das Anliegen wird im ersten Satz gesagt. • Beim Papageien wird der Klient wortwörtlich zitiert. • Das Gesagte des Klienten wird vom Berater mit eigenen Worten zitiert. • Beim Reframing wird das Gesagte in einen anderen Kontext gestellt. • Das Gesagte wird ins Gegenteil verkehrt oder provokativ hochgerechnet, Bewusstwerdung und Selbstreflexion werden gestärkt. • Bei der Utilisation wird das Vokabular des Klienten verwendet, sie kann durch Metaphern und Analogien verstärkt werden. • Der Klient spricht immer von sich – auch wenn er von anderen spricht. Die Wandlung seiner Aussagen in Ich-Sätze stärkt Bewusstwerdung und Selbstreflexion. • Der Klient wird angehalten, statt „Ich kann nicht“ „Ich will nicht“ zu sagen. Das stärkt seine Autonomie und die Fähigkeit zur Abgrenzung. • Die Unterbrechung eingefahrener Denkmuster ermöglicht Selbsterkenntnis. • Mit der beiläufigen Suggestion können das positive Erleben und das Gefühl, verstanden zu werden, beim Klienten gefördert werden. • Die aktiv eingesetzte Bahnung hilft dem Klienten bei der Richtung seiner Aufmerksamkeit – Bahnung wird auch zum Pendeln der Aufmerksamkeit eingesetzt.
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung
• In der Trance kann ein bereits geschehenes Ereignis positiv rekonstruiert und im Gehirn verankert werden. • Bei der Reorientierung in der Zeit kann der Klient neue Lösungsstrategien aus einer anderen Zeitperspektive entwickeln. • Der Berater sollte dem Klienten immer seine eigenen Wahrnehmungen mitteilen. Das unterstützt den Klienten bei der Selbstreflexion. • Der Berater kann dem Klienten seine Hypothese mitteilen (Vorsicht bei unbewussten Traumata etc.). • Kausalitätsillusionen können benannt werden. • Bevor die Aufstellung beginnt, soll das Anliegen auf den Punkt gebracht werden.
2.5 Prozess der Aufstellung 2.5.1 Einleitung Wie an so vielen Stellen in diesem Buch gilt auch für die Inhalte dieses Kapitels, dass die Gestaltung der Aufstellungsprozesse potenziell maximal vielfältig ist. Mag sich unser Text an der ein oder anderen Stelle so lesen, als wollten wir Ihnen etwas erklären – das wollen wir ganz sicher nicht. Wir haben hier lediglich das gängige „State of the Art“-Material und grundlegende Konzepte für Sie zusammengestellt, die Sie in Ihrer eigenen Weiterbildung verwenden können. Dabei beschreiben wir den Prozess der Aufstellung Schritt für Schritt und fassen zusammen, was dabei zu beachten ist.
2.5.2 Aspekte im Aufstellungsfeld Nach dem Vorgespräch, wie wir es mit seinen mannigfaltigen Möglichkeiten unter der Überschrift „Aktiv zuhören“ oben (Abschn. 2.4.3) dargelegt haben, schlägt der Aufsteller dem Klienten vor, welche Protagonisten für seine Aufstellung im Rahmen des Anliegens wichtig sein könnten.
Mehr davon In Kap. 7 haben wir die verschiedenen Settings der Aufstellungsarbeit beschrieben – von der Einzel- über die Gruppenarbeit bis hin zu Aufstellungen in der Imagination.
2.5.2.1 Direktive und non-direktive Führung Unabhängig vom Aufstellungssetting obliegt es dem Aufsteller, wie direktiv oder non-direktiv er den Klienten in die Aufstellung und in der Aufstellung führen möchte.
2.5 Prozess der Aufstellung
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Eine zu direktive Art kann den Klienten verunsichern oder gar Widerstände auslösen, eine zu non-direktive Art kann den Klienten ebenfalls verunsichern und zugleich überfordern, weil er sich bisweilen zu Beginn des Prozesses in einem regredierten Zustand der Hilflosigkeit – und damit unversehens zurückversetzt in seine Mutter- und Vaterbeziehung – befindet. Der Klient will geführt werden. Und er möchte sicher sein, dass ihm dabei nichts geschieht. Optimal ist es daher, wenn es dem Aufsteller gelingt, seinen Klienten resonant, d. h. im Einklang mit diesem zu führen, sodass dieser sich einerseits sicher fühlt (keiner macht etwas mit mir, was ich nicht will) und gleichzeitig in einer gewissen Form loslassen kann (ich kann mich anvertrauen und die Kontrolle loslassen). Diese Art der resonanten Führung beschreibt ein chinesisches Sprichwort sinngemäß so: Wenn Du führen willst, musst Du hinter den Menschen gehen.
Für die Kunst dieser resonanten Führung bieten wir die Partnerübung „Führen und folgen“ an.
Der Klient will geführt werden. Und er möchte sicher sein, dass ihm dabei nichts geschieht.
Partnerübung „Führen und folgen“ Die Partnerübung wird zu zweit im Wechsel gemacht. Zuerst schließt A die Augen. B stellt sich hinter A, legt diesem die Hände auf die Schultern/Oberarme und führt ihn bei geschlossenen gehaltenen Augen durch den Raum. Danach wechseln A und B ihre Rollen (Abb. 2.5). Die Übung dauert je 3 min. Anschließend tauschen sich A und B 10 min über ihre Erfahrungen aus. Abb. 2.5 Führen und folgen
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung
Das Ziel der Übung Die Teilnehmer erkennen, welche Gefühle und Assoziationen sie haben, wenn sie sich der Führung eines anderen „blind“ überlassen. Den weiteren Aufstellungsverlauf beschreiben wir hier entlang einer Aufstellung in der Gruppe mit Stellvertretern. Auf folgende Aspekte können Sie Ihre Teilnehmer hinweisen:
2.5.2.2 Auswahl und Aufstellung der Stellvertreter Es obliegt dem Aufsteller zu entscheiden, wer die Stellvertreter aussucht. In der Regel macht das zu Beginn der Aufstellung der Klient selbst. Im Verlauf stellt manchmal der Aufsteller eine weitere Person dazu, ohne sich mit dem Klienten abzusprechen. Die Stellvertreter sollten darüber informiert werden, dass sie einer Bitte zur Stellvertretung nicht zwingend nachkommen müssen. Weisen Sie Ihre Teilnehmer auch auf die verschiedenen Möglichkeiten hin, einen Stellvertreter ins Feld zu führen – hinter dem Klienten gehend mit den Händen an dessen Schulter oder Oberarmen, oder vor ihm hergehend, mit dem Blick auf den Stellvertreter gerichtet. Der Klient kann nur die Positionen und Blickrichtungen der Stellvertreter festlegen, er kann ihnen keine spezifische Körperhaltung (hocken, liegen) vorschreiben. 2.5.2.3 Blickrichtungen, Blicke Der Blick auf einen bestimmten Punkt auf den Boden kann der Hinweis auf einen Toten/ Verstorbenen sein. Man kann die Hypothese überprüfen, indem man einen Stellvertreter bittet, sich dorthin zu setzen (wenn man ein abgetriebenes oder totes Geschwisterkind vermutet) oder zu legen (wenn man einen verstorbenen Erwachsenen – Mutter, Vater, nahe Verwandte vermutet). Blickt eine Frau unverwandt nach oben (in den Himmel), kann das ein Hinweis darauf sein, dass sie ein Kind abgetrieben und den Schock darüber noch immer nicht überwunden hat. Der wiederholte Blick über die Schulter nach hinten kann ein Hinweis darauf sein, dass jemand im Feld fehlt. Die Tendenz, die Augen zu schließen, kann ein Hinweis auf einen Hang zur Dissoziation sein. Im Zuge des „Annehmen, was ist“ kann es helfen, den Stellvertreter anzuweisen, die Augen zu öffnen und hinzuschauen bzw. jemanden anzuschauen. Das Augenschließen kann in diesem Zusammenhang auch der Versuch sein, Emotionen nicht spüren zu wollen, die hochkämen, würde man sich einer Situation stellen. Kann der Stellvertreter den Blick nicht halten und weicht mit den Augen wiederholt nach oben rechts oder links aus, kann auch das ein Hinweis auf Dissoziation sein. 2.5.2.4 Stellvertretung und repräsentierende Wahrnehmung In der Weiterbildung nehmen die Stellvertretung und die stellvertretende Wahrnehmung einen größeren Raum ein. Die zu betrachtenden Aspekte können hier sein: • Was genau ist mit Stellvertretung gemeint? • Was geschieht, wenn ein Feld mit Stellvertretern aufgebaut wird?
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• Was ist der Unterschied zwischen subjektiver Wahrnehmung und stellvertretender Wahrnehmung? • Welche Hinweise sind für werdende Aufsteller in diesem Zusammenhang wichtig? Was genau ist mit Stellvertretung gemeint? Die in unserem Alltag gebräuchliche Definition für Stellvertreter kommt aus dem Organisationsumfeld und lautet: Der Stellvertreter ist derjenige, der die Funktion einer Person in einer Organisation übernimmt – er tut etwas stellvertretend für eine andere Person. Sein Tun in der Organisation ist funktionsgebunden und zielgerichtet. Das organisationale Verständnis eines Stellvertreters ist also funktions- und zielzentriert. In der Aufstellungsarbeit ist der Begriff anders konnotiert. Hier sprechen wir von Stellvertretung, wenn eine Person auf der Position einer anderen (ihr meistens fremden) Person in einem bestimmten System steht. Hierbei geht es jedoch nicht darum, stellvertretend eine zielorientierte Funktion auszuüben. Es geht vielmehr darum wahrzunehmen, wie es sich auf der Position der stellvertretenden Person in diesem speziellen System und in dieser spezifischen Konstellation, nicht zuletzt in diesem speziellen Moment anfühlt. Die Aufgabe des Stellvertreters ist also die stellvertretende Wahrnehmung.
Die Aufgabe des Stellvertreters ist die stellvertretende Wahrnehmung.
Diese spezielle Aufgabe spielt auch eine Rolle für den Aufsteller, der sich durch das Feld der Stellvertreter bewegt. So wie er die Stellvertreter als wahrnehmende Medien versteht – manche sprechen von kommunizierenden Röhren, durch die Energien hindurchlaufen, die dann geäußert werden – genau so wird er selber zu einem wahrnehmenden Medium, als Stellvertreter aller Stellvertreter. Er erfasst deren Wahrnehmungen, deren Verbindungen und deren eventuelle Veränderungsmöglichkeiten. Er ist so gesehen – und das ist bisweilen der sensibelste Aspekt in der Weiterbildung – ein nichtwissender Alles-Wahrnehmender. Für diejenigen, die Aufstellungsarbeit lernen, ist es immer wieder eine Herausforderung, die Ideen von „Können“ und „Richtig-Machen“ loszulassen und sich dem Feld als Nichtwissender hinzugeben, es zugleich zu halten und die Stellvertreter zu führen.
Der Aufsteller ist der Stellvertreter aller Stellvertreter. Er ist ein nichtwissender Alles-Wahrnehmender.
Mehr davon Zur Haltung des Nicht-Wissens finden Sie vertiefte Betrachtungen in Kap. 1 („Grundlagen der Systemischen Aufstellung“).
Als Weiterbildner haben wir die Erfahrung gemacht, dass es insbesondere den lernenden Aufstellern hilft, wenn sie in der inneren Haltung eines Stellvertreters im Feld präsent sind, unabhängig davon, ob sie stehen oder sich bewegen. Dabei regen wir sie immer wieder an, nur mit dem zu arbeiten, was sie wahrnehmen. Das heißt für sie auch, dass wir sie ermutigen, nichts zu tun, wenn sie nichts wahrnehmen, und zu warten.
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Bei der Stellvertretung in Aufstellungen stehen Personen nicht nur für andere Menschen, sie stehen auch stellvertretend für Werte, Energien, Dinge o. Ä. Die Stellvertreter müssen außerdem nicht unbedingt Personen sein, die Positionen können auch mit Figuren stellvertreten werden. Weil die Figuren wiederum ihre Wahrnehmungen nicht äußern können, müssen sie allerdings eher als Platzhalter verstanden werden, denn eng mit der Stellvertretung ist die stellvertretende Wahrnehmung verbunden. Wir kommen hierauf weiter unten zurück. Was geschieht, wenn ein Feld mit Stellvertretern aufgebaut wird? Die mögliche Anzahl der Stellvertreter variiert von 1 bis unendlich. Und unabhängig von der Anzahl der Stellvertreter, ebenso wie ungeachtet der Frage, was genau das Anliegen ist oder aus welchem Bereich es kommen mag – für die Stellvertreterkonfiguration in einem Feld gilt immer, dass ein energetisches Feld von Beziehungsqualitäten erzeugt wird. Wird zum Beispiel nur ein einziger Stellvertreter aufgestellt, werden mindestens zwei Beziehungsstrukturen erzeugt. Der erste Aspekt ist die Beziehung des Stellvertreters zu sich selbst (Ich-System). Die zweite Beziehung ist die des Stellvertreters zu seinem Umfeld bzw. zu dem Feld, in dem er steht. Manchmal entsteht noch eine dritte, vierte, fünfte Beziehung, nämlich die zwischen dem Stellvertreter und seinen Beobachtern (dem Aufsteller, dem Klient und den Zuschauern). In Stellvertretung für den Klienten oder auch für einen Aspekt des Klienten (z. B. ein Symptom, das innere Kind etc.) nimmt der Stellvertreter nun die genannten Beziehungsqualitäten wahr (Abb. 2.6). Werden mehrere Stellvertreter aufgestellt, zeigen sich komplexere Beziehungsstrukturen. Auch hier gilt grundsätzlich und unabhängig von Komplexität oder Themenfeld: Es geht immer um die Qualität der Beziehungen einzelner Elemente zu sich selbst, zum Aufstellungsfeld, untereinander in einem System sowie schließlich zu einem System. Gegebenenfalls entstehen auch hier Beziehungen zu den nicht aktiven Teilnehmern/den Zuschauern der Aufstellung. Die Beziehungsqualitäten – zu sich selbst/zum Feld/zueinander/zum System – werden von den Stellvertretern wahrgenommen. Sie äußern, wie sie sich mit anderen Stellvertretern fühlen, manchmal sagen sie auch, dass sie wahrnehmen können, dass im System noch jemand fehlt (Abb. 2.7). Was ist der Unterschied zwischen subjektiver Wahrnehmung und stellvertretender Wahrnehmung? Die Wahrnehmung der Stellvertreter wird als stellvertretende Wahrnehmung bezeichnet. Um den Teilnehmern einer Weiterbildung den Unterschied zwischen ihrer eigenen, subjektiven und der stellvertretenden Wahrnehmung zu verdeutlichen, braucht es möglicherweise einen etwas umfangreicheren Diskurs, denn die subjektiven Wahrnehmungen unterscheiden sich wesentlich von den stellvertretenden Wahrnehmungen, und das hat etwas mit ihrer Bedeutung für den Wahrnehmenden zu tun.
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Abb. 2.6 Einfache Beziehungsstrukturen (Stvtr = Stellvertreter)
Welche Formen der eigenen Wahrnehmungen es gibt, das haben wir ausführlich in Abschn. 3.2.2 („Annehmen, was ist?!“) beschrieben. Entscheidend ist die Funktion der subjektiven Wahrnehmung: Sie dient der Orientierung in Bezug auf das eigene Ich. In der Regel nutzen wir die subjektiv sinnlichen Wahrnehmungen dazu, uns in einem Umfeld zu verorten, zwischen „in uns“ und „außerhalb von uns“, zwischen „ich“ und „nicht ich“ zu unterscheiden, Richtungen und Entfernungen abzuschätzen oder auch Temperaturen zu fühlen. Alles, was wir sinnlich wahrnehmen, setzen wir in eine unmittelbare Beziehung zu uns selbst. Unsere sinnlichen und fühlenden Wahrnehmungen dienen also erstens der Identifikation von Ich und damit der Identifikation von Nicht ich, also von Du. Ihre Funktion ist dadurch zweitens die Abgrenzung – inklusive der Definition der Kontaktlinie für die Begegnung bzw. für die Verbindung von Ich und Du. Drittens spielt die Frage nach einer als objektiv erkannten Wahrheit eine entscheidende Rolle für unsere Bewertung und damit auch für unsere Akzeptanz der Wahrnehmungen. (Hartung 2014, S. 28–29)
Alles, was wir darüber hinaus fühlend und „nicht-sinnlich“ oder auch „energetisch“ wahrnehmen, setzen wir ebenfalls in einen direkten Bezug zu uns, und in der Regel dient diese Wahrnehmung der Verortung, der Identifizierung, der Abgrenzung und der Zuordnung von Sinn.
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Abb. 2.7 Komplexe Beziehungsstrukturen
Unsere alltägliche Notwendigkeit zu Identifikation und Abgrenzung erklärt vielleicht, warum es für uns gemeinhin so schwer zu erkennen ist, dass wir systemisch leben. Weil wir uns aber Zeit unseres Lebens in Systemen bewegen, ist es uns unmöglich, nicht systemisch zu leben. Es wäre wider unsere Natur. Tatsächlich aber werden uns der systemische Blick und das systemische Erleben oft erst durch die Sprache der Systeme ermöglicht, die wir mit Aufstellungen offenbaren. (Hartung 2014, S. 28–29)
Während unsere eigenen Wahrnehmungen also uns selber dienen (sollen – denken Sie an die oben beschriebene Kausalitätsillusion) und daher in gewisser Form immer passend zur eigenen Biografie und Ich-Identifikation geschliffen werden (ohne dass uns das in der Regel bewusst ist), verhält es sich mit der stellvertretenden Wahrnehmung anders. Die Stellvertreter sind von dem, was sie wahrnehmen, nicht subjektiv betroffen. Was im Feld geschieht, hat nicht unmittelbar etwas mit ihrer Biografie oder mit ihrer Ich-Identifikation zu tun, auch wenn ihnen einige Themen vertraut erscheinen oder sie sich gar mit demselben Thema belastet fühlen. Darüber hinaus sind den Stellvertretern ihre allermeisten Wahrnehmungen im Feld bewusst, eben weil sie sich beinahe ausschließlich auf diese konzentrieren. Ihre Aufmerksamkeit ist ganz auf ihre Wahrnehmungen fokussiert, und sie werden vom Leiter der Aufstellung ermutigt, diese zu benennen – ohne Analyse oder Interpretation, Assoziation oder Kausalitätskonstruktion. Systemische Wahrnehmung in Aufstellungen In Aufstellungen begegnen wir unseren Wahrnehmungen grundlegend anders. Für die sinnlichen Wahrnehmungen wie für die Gefühle gilt uns hier: Sie haben innerhalb der Systeme keine wirkliche Bedeutung für unsere persönliche Identifikation. In Aufstellungen ist ihre primäre Funktion die Auskunft über die Qualität der Beziehungen. Hierbei geht es uns nicht darum, zu identifizieren, wo ich aufhöre und wo Du anfängst.
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Es geht uns ausschließlich darum, wahrzunehmen, welche Qualität die Beziehung von A und B hat, und wie sich diese durch Veränderungen in der Position oder durch bestimmte Sätze ändert. Und anders als im Alltag ist hierbei für uns von keinerlei Bedeutung, ob unsere Wahrnehmungen subjektiv oder objektiv sind – ob sie also ausschließlich für uns, die wir sie haben, gelten, oder ob sie grundsätzlich gelten, weil wir sie haben. Unser fundamental anderer Umgang mit unseren Wahrnehmungen – seien sie sinnlicher oder energetischer Natur – wird in Aufstellungen besonders dann offensichtlich, wenn wir als Stellvertreter nicht für Personen, sondern wenn wir für Aspekte, Qualitäten oder gar Dinge stehen. Als Stellvertreter haben wir dabei Wahrnehmungen, die wir als Auskunft über die Qualität der Beziehungen im Feld unhinterfragt und unwidersprochen akzeptieren. Systeme sprechen eine andere Sprache der Verständigung und diese systemische Sprache wird in Aufstellungen abgebildet und angenommen: Mit dem, was wir in Aufstellungen aussprechen, sagen wir etwas über die Beziehungswirklichkeit. Wir offenbaren das Wirkgefüge im System. So sehr wir auf Identität und Identifikation in unserem Alltag angewiesen und andauernd damit beschäftigt sind, so zweitrangig und manchmal sogar unwichtig wird genau dieser Aspekt für uns in Aufstellungen. Hier wandelt sich das individuelle Subjekt zum systemischen Element im Muster der Beziehungsgeflechte. Zwar spielt die Abgrenzung für uns auch hier eine Rolle – denn schließlich bleiben wir als Systemelement als solches erhalten. In Aufstellungen dient die Abgrenzung aber nicht unserer Identifikation, sie dient ausschließlich unserer Beziehungsverbindung. Auch wenn wir uns einzelnen Menschen und deren inneren Beziehungen widmen, gilt unser Blick in Aufstellungen weniger der individuellen Biografie mit ihren faktischen Ereignissen als vielmehr dem Qualitätsmanagement der inneren Beziehungen. Für unser System ist es zweitrangig, warum wir etwas auf eine bestimmte Art tun. Entscheidend für unser System ist der Blick auf das systeminnere Zusammenspiel seiner Aspekte oder Elemente. Und was für uns und unser inneres System gilt, gilt dann eben auch für uns und unsere äußeren Systeme. (Hartung 2014, S. 28–29)
Damit Stellvertreter die Funktion der Stellvertretung ausüben können, sollen sie sich nicht mit der Person verwechseln, für die sie stehen. Die Verwechslung zeigt sich durch die Identifikation, bei der die Stellvertreter davon überzeugt sind, „reale“, „eigene“ Gefühle zu fühlen. Das kann bei Gefühlen wie z. B. einer Panikattacke dazu führen, dass der Stellvertreter seine Position nicht mehr halten kann. Er glaubt dann, die Angst oder das, wovor er Angst hat, sei real, sie sei eine ihm eigene Wahrnehmung. Zwar ist die Wahrnehmung des Stellvertreters wirklich – weil sie auf das System des Stellvertreters wirkt – die Überzeugung aber, man sei von dieser Wahrnehmung selbst betroffen, ist ein Irrtum. Für die Beherrschung der stellvertretenden Wahrnehmung zeigen wir unseren Teilnehmern, wie sie mit den Stellvertretern üben können, Empfindungen zu regulieren – etwa auf einer Skala von 10–100 %. Manchmal reicht es schon, die Stellvertreter darauf hinzuweisen, dass sie sich nicht zu sehr mit der Rolle identifizieren sollen. Auch den umgekehrten Fall gibt es bekanntlich: Die Stellvertreter sind unsicher, ob sie überhaupt in der Rolle sind, oder ob es ihre eigenen Gefühle sind, die sie wahrnehmen – weil ihnen das, was sie fühlen, so vertraut erscheint. Wahrscheinlich teilen Sie unsere Erfahrung – meistens haben die Klienten ihre Stellvertreter so unbewusst wie zielsicher ausgesucht, und das Thema der Person, die stellvertreten wird, ist identisch
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mit dem Thema des Stellvertreters. Hier überlagern sich also die eigene und die stellvertretende Wahrnehmung, und wir regen unsere Teilnehmer an, diese Möglichkeit immer wieder ins Kalkül zu ziehen. Manche Stellvertreter schließlich äußern, dass sie nichts fühlen – eine hilfreiche Frage des Aufstellers wäre hier: „Wie fühlt es sich an, nichts zu fühlen?“ In der Regel können die Stellvertreter diese Frage sehr präzise beantworten. Kurz gefasst
Subjektive Wahrnehmung dient der individuellen Orientierung und der Identifikation bzw. Bestätigung der Ich-Identifikation. Stellvertretende Wahrnehmung dient dem Beziehungsgeschehen. Sie geschieht jenseits subjektiver Zuordnung zur eigenen Biografie sowie jenseits subjektiver (unmittelbarer) Betroffenheit.
Welche Hinweise sind für werdende Aufsteller in Bezug auf die stellvertretende Wahrnehmung wichtig? Für „junge Aufsteller“ ist die Bewusstheit über den Unterschied zwischen subjektiver und stellvertretender Wahrnehmung wichtig. Hier können ihnen Übungen für die Schärfung der Wahrnehmung an die Hand gegeben werden. In Abschn. 3.3 („Wahrnehmung“) finden Sie einige Anregungen hierzu. Auch das Verständnis der Position des Aufstellungsleiters ist von Bedeutung und stellt nach unserer Erfahrung die höchste Hürde im Rahmen der Weiterbildung dar. Wie wird man zum nicht-wissenden Alles-Wahrnehmer? Versteht sich der Aufstellungsleiter selber wie ein stellvertretender Wahrnehmender, fällt es ihm insbesondere in der Anfangszeit leichter, Abstand zu nehmen von seinem inneren Stress, der so oder so ähnlich klingen mag: „Ich muss das hier hinkriegen“, „Ich muss wissen, was hier Sache ist“, „Ich muss es gut machen“, „Ich muss den Klienten von seinem Leid erlösen“. Für unseren Weiterbildner-Verstand ergibt sich in gewisser Hinsicht ein Knoten, wenn wir die Gleichzeitigkeit erfassen (und vermitteln) wollen, die sich aus der Kombination aus a) starker Persönlichkeit, b) umfassender Kenntnis in Psychologie und/oder Individualtherapie, c) umfassenden Kenntnissen in Bezug auf die Möglichkeiten und einzelne Aspekte der Aufstellungsarbeit sowie schließlich d) Nichtwissen, Wahrnehmen und Raum halten ergibt. Genau aber um diese Aspekte und deren Verbindung geht es bei einer Weiterbildung in Systemaufstellung, und das gilt insbesondere für den Bereich der stellvertretenden Wahrnehmung. Ein letzter Hinweis noch zur stellvertretenden Wahrnehmung: Es gibt wahrscheinlich keinen Aufsteller, der nicht schon von seinen Teilnehmern verblüfft gefragt wurde, wie eine stellvertretende Wahrnehmung überhaupt möglich ist. Es gibt zahlreiche Vermutungen hierzu, und die Antwort – da, wo sie überhaupt gegeben werden kann – ist ein
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komplexes Konvolut aus verschiedenen geistes- und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Stephanie Hartung hat zur Frage „Warum funktionieren Aufstellungen?“ ein Buch mit gleichlautendem Titel veröffentlicht, in dem sie 14 Thesen aufstellt. Das Buch ist in 2014 erschienen, und inzwischen konnte die These einer systemischen Verschränkung, die sie hierin aufgestellt hatte, wissenschaftlich untermauert werden (Hartung 2014). In diesem Zusammenhang verweisen wir gerne auf die Dissertation unseres Kollegen Dr. rer. pol. Thomas Gehlert mit dem Titel „System-Aufstellungen als Instrument zur Unternehmensführung im Rahmen komplexer Entscheidungsprozesse sowie ein naturwissenschaftlich begründetes Erklärungsmodell für den dahinterliegenden Prozess“ (Gehlert 2019). In der Dissertation schreibt er in der Zusammenfassung: Nach Sichtung der Literatur ließ sich feststellen, dass die formal nicht gegebene Akzeptanz von Intuition und SyA [Anmerkung: gemeint sind Systemaufstellungen] allein auf der Abwesenheit einer fundierten Theorie basiert. Dies ist umso bedeutsamer, als sich die Notwendigkeit einer zu entwickelnden Theorie für Intuition im Allgemeinen und für SyA im Speziellen aus dem Umstand ableitet, dass die wissenschaftlichen Gütekriterien – Objektivität, Reliabilität und Validität – bereits klar erfüllt sind; wenngleich dies wenig bekannt ist. (Gehlert 2019)
Mehr davon Die hier zitierte Aussage von Thomas Gehlert spielt eine zentrale Rolle bei der Betrachtung des Themenkomplexes Wahrnehmung und Erkenntnis, über den Sie in Kap. 3 umfassende Informationen finden. Thomas Gehlert bietet das Buch seiner Dissertation als PDF auf seiner Website zum kostenfreien Download an. (Gehlert 2020)
2.5.2.5 In Verbindung gehen Wir weisen unsere Teilnehmer darauf hin, dass Stellvertreter dazu tendieren, über die anderen Stellvertreter mit dem Aufsteller in der dritten Person zu sprechen. Sie sagen z. B. „Der macht mich wütend, der soll da weggehen“. Wir regen an, den anderen Stellvertreter direkt anzusprechen, und wir weisen auch darauf hin, dass der Aufsteller eigentlich nicht da sei (als Ansprechpartner). Sobald eine Botschaft direkt adressiert wird, entsteht eine Verbindung da, wo es vorher evtl. keine gab. Das kann eine starke Wirkung für das weitere Geschehen haben. Der Hinweis auf die direkte Ansprache anstelle des Übereinander-Sprechens ist erfahrungsgemäß immer wieder nötig. Das gilt nicht nur im Aufstellungsgeschehen für die Stellvertreter, es gilt auch für unsere Weiterbildungsteilnehmer, die wir kontinuierlich darauf aufmerksam machen, dass sich die Kommunikation wieder aus der Verbindung gelöst hat. Möglicherweise ist das indirekte Übereinander-Reden in unserer Kultur üblicher als das direkte Miteinander-Reden. 2.5.2.6 Probehandeln Auf Systemaufsteller mit wenig Erfahrung können Situationen, in denen die Positionen/ Standpunkte festgefahren sind und sich nichts bewegt, verunsichernd wirken. Wir regen
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die Teilnehmer daher immer wieder an, sich im Probehandeln zu üben und das auch zu adressieren, indem sie ihre Sätze z. B. so beginnen: „Ich weiß nicht, ob es so oder so ist, wir probieren es einfach mal aus und …“ Insgesamt wirkt die Anregung zum Probehandeln in vielen Momenten der Aufstellung für Unerfahrene (und natürlich auch für Erfahrene) als Erleichterung und in gewisser Hinsicht wie ein Sicherheitsnetz: Es kann nichts geschehen, wenn man es einfach mal ausprobiert. So können auch die Stellvertreter immer wieder zu Probehandlungen angeregt werden, insbesondere dann, wenn sie im Brustton der Überzeugung behaupten, dass etwas gar nicht möglich sei, dass sie etwas ganz sicher nicht tun oder sie es sich gar nicht vorstellen können.
Das Probehandeln wirkt für den unerfahrenen Aufsteller wie ein Sicherheitsnetz.
Ein Beispiel ist die Aufstellung einer Klientin, deren Thema Selbstkontrolle und gehaltene Wut war. Ihre Stellvertreterin stand auf einer Position und behauptete, ihre Füße seien festgenagelt, sie könne sich, selbst wenn sie wolle, nicht bewegen. Alle Versuche, sie zum Probehandeln anzuregen, scheiterten. Diese Situation zeigte sich im Rahmen unserer Weiterbildung, und die Teilnehmerin, die als noch unerfahrene Aufstellerin die Aufstellung leitete, wusste nicht weiter. Wir haben ihr daraufhin gezeigt, dass die Probehandlung auch sein kann, die Stellvertreterin zu schubsen – nicht zu stark, aber immerhin doch so beherzt, dass sie das Gleichgewicht verliert. Das haben wir vorher als Probehandeln angekündigt: „Wir probieren jetzt mal was aus“. In dem Moment, in dem die Stellvertreterin taumelte und das Gleichgewicht verlor, brach ein Sturm der Wut aus ihr heraus. Nun mag diese Art der probehandelnden Intervention einem geübten Aufsteller möglich sein, ein ungeübter Aufsteller könnte wiederum von dem Wutausbruch der Klientin überfordert sein. Hier gibt es insofern kein Richtig oder Falsch – entscheidend ist, in der Haltung des Nichtwissens zu bleiben und sich bewusst zu sein, dass alle Handlung Probehandlung ist und Konsequenzen hat.
2.5.2.7 Verstrickung, Überlagerung, Verwechslung und Projektion Immer wieder stehen Stellvertreter nicht nur für die Person, für die sie ursprünglich stehen sollten, sondern auch für eine weitere. Für dieses Phänomen gibt es verschiedene Formen und Gründe, auf die wir unsere Teilnehmer hinweisen. Verstrickung Bei der Verstrickung ist der Klient mit einer anderen Person verbunden, für die er etwas trägt. Vielleicht sorgt er dafür, dass ein totgeschwiegenes Familienmitglied gesehen wird, vielleicht trägt er aus tiefer Verbundenheit die Symptome eines Traumas aus seiner Vorgängergeneration. Der englische Begriff für Verstrickung lautet „entanglement“, und das bedeutet wiederum auch „Verschränkung“. Letzterer Begriff aus der Quantenphysik
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bezeichnet den Zustand einer non-lokalen Verbindung, und genau die ist im Fall der Verstrickung gegeben.
Mehr davon Auf den Umstand der non-lokalen Verbindung gehen wir im Kap. 3 („Wahrnehmung und Erkenntnis“) vertieft ein.
Überlagerung Von Überlagerung spricht man, wenn Stellvertreter sich in der Aufstellung unversehens in Beziehungsqualitäten, Strukturen oder Themen wiederfinden, die denen in ihrem eigenen Leben sehr ähnlich sind – und dann dazu neigen, ihre eigenen Muster in die Aufstellung zu übertragen. Hierdurch kann eine Überlagerung der Wahrnehmungen in der Aufstellung entstehen. In der Ausbildung ist die Vermittlung einer entsprechenden Wahrnehmung durch den Aufstellungsleiter nicht leicht – zumal sich oft schwer artikulieren lässt, wodurch man die entsprechende Ahnung bekommen oder woran man es gemerkt hat. Erfahrene Aufsteller werden jedenfalls den Stellvertreter austauschen, um ihre Ahnung gegebenenfalls durch Probehandeln zu verifizieren.
Bei der Überlagerung vermischen sich das Anliegen des Klienten und das subjektive Thema des Stellvertreters.
Verwechslung Bei der Verwechslung schaut ein Stellvertreter auf einen anderen Stellvertreter, und seine Reaktionen gelten nicht seinem Gegenüber, sondern jemand anderem. Damit zeigt der erste Stellvertreter genau das Verhalten der Person, für die er steht. Verwechslung findet häufig statt. In der oft herrschenden emotionalen Abhängigkeit in Paarbeziehungen werden Partner nicht selten mit dem eigenen Elternteil verwechselt – Frauen mit Müttern, Männer mit Vätern. In Familien geschieht es, dass z. B. ein Vater seine Tochter mit einer früheren Geliebten verwechselt, die verstorben ist. Oder eine Mutter sieht in ihrem Sohn ihren einstmals vestorbenen Bruder und schaut dann mit den Augen einer Schwester und nicht mit denen einer Mutter auf ihr Kind. In Organisationen wird in der Beziehung von Weisungsbefugten zu Weisungsgebundenem ersterer nicht selten mit dem eigenen Vater verwechselt. Solche Verwechslungen geschehen unbewusst und haben auf das System eine große Wirkung. Bei den Teilnehmern muss für das Phänomen der Verwechslung eine besondere Aufmerksamkeit geschaffen werden. Was im „richtigen Leben“ geschieht, geschieht auch in Aufstellungen mit den Stellvertretern: Sie verwechseln ihr Gegenüber mit jemand anderem. Vermutet der Aufsteller das, kann er durch Probehandeln mit einem zweiten Stellvertreter oder mit der kataleptischen Hand seine Hypothese prüfen. Bei ersterer Variante stellt er einen zweiten Stellvertreter hinter die Person, die mit diesem verwechselt wird, und lässt ihn nach einem kurzen Moment links oder rechts heraustreten. Folgen die Augen dessen, der sein Gegenüber evtl. verwechselt hat, nun dem zweiten Stellvertreter, wird die Verwechslung offenbar.
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Bei der Verwechslung wird ein Stellvertreter mit einer Person verwechselt, für die er nicht aufgestellt wurde.
Projektion Bei der Projektion, die im Volksmund lapidar als „von sich auf andere schließen“ bezeichnet wird, projiziert der Klient eigene Anteile und/oder Emotionen wie Ärger oder Ängste auf sein Gegenüber, das so zur Leinwand seiner inneren Filme wird. Wird dem Aufsteller im Aufstellungsgeschehen deutlich, oder nimmt er zumindest an, dass eine Projektion vorliegt, kann er dem Stellvertreter solche oder ähnliche Fragen stellen: • • • •
Was hat das, was Du über Dein Gegenüber sagst, mit Dir zu tun? Kann es sein, dass er etwas hat, was Du gerne hättest? Kann es sein, dass er etwas tut, das Du dir verbietest? Kann es sein, dass er ein Verhalten zeigt, das Du bei dir selbst nicht magst?
Es gibt im Fall der Projektion eigener Anteile auf andere außerdem die Möglichkeit, mit den oben beschrieben „Vom-Du-zum-Ich“-Sätzen zu arbeiten. In der Literatur wird außerdem das Projektionsthema bei vermuteter VerlorenerZwilling-Thematik angesprochen. Gesagt wird, dass der verstorbene Zwilling bisweilen auf eine lebende Person projiziert wird. Wir würden in dem Fall eher von einer Verwechslung oder einer Verstrickungskonstruktion sprechen und nicht von Projektion, die im psychologischen Kontext eindeutig definiert ist. Der von Sigmund Freud geprägte Begriff beschreibt einen Abwehrmechanismus, der dazu dient, eigene abgelehnte Anteile anderen zuzuschreiben. Die „Abwehr“ besteht darin, dass durch die Projektion vermieden wird, sich mit Inhalten bei sich selbst auseinanderzusetzen. Projektion, so heißt es in der Analytischen Psychologie nach Carl Gustav Jung sinngemäß, ist die Hinausverlagerung eines subjektiven Vorgangs in ein Objekt, indem ein subjektiver Inhalt dem Subjekt entfremdet und gewissermaßen dem Objekt einverleibt wird.
Bei der Projektion projiziert der Klient eigene Anteile auf einen anderen, damit er sich nicht selbst mit ihnen auseinandersetzen muss.
Was die Erlebenswirklichkeit des projizierenden Klienten betrifft, sind die Erkenntnisse über die projektive Identifikation erhellend. Die projektive Identifikation oder Identifizierung besagt, dass derjenige, auf den projiziert wird, beginnt, sich dem auf ihn projizierten Bild anzugleichen. Behauptet der Klient also, dass sein Partner so oder so sei, dann kann es sein, dass es sich hierbei um eine erfolgreiche Projektion mit Identifikationsergebnis handelt.
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Bei der projektiven Identifikation identifiziert sich ein Mensch mit dem auf ihn projizierten Bild. Projektive Identifikationen führen zu Gegenübertragung von Gefühlen.
Insbesondere auch in der Arbeit mit psychisch gestörten, z. B. Borderline Klienten können solche Phänomene auftauchen – sie haben nicht selten die Fähigkeit, andere in ihre Konfliktkonstellationen einzubeziehen, und erzeugen dadurch bei ihren Therapeuten (und anderen) Gegenübertragungsgefühle. Wir weisen hier deshalb darauf hin, weil es ja mitnichten so ist, dass Menschen mit Borderline oder anderen Persönlichkeits-Störungen zwangsläufig als Therapiepatienten bekannt sind. Bereits die passive Aggressivität, mit der manche Klienten ihre Berater konfrontieren und nicht selten zu einer Emotion verleiten, ist Beispiel für eine Gegenübertragung der projektiven Identifikation. Im Zuge der zunehmend sich verbreitenden Depressionen in der Bevölkerung zeigt sich das Phänomen der passiven Aggression immer häufiger auch in Aufstellungssettings. Daher weisen wir unsere Teilnehmer besonders auf das Thema hin.
Die mit Depressionen häufig einhergehende passive Aggressivität kann zur Gegenübertragung beim Aufsteller führen.
2.5.2.8 Der kataleptische Finger, die kataleptische Hand Das Wort Katalepsie beschreibt einen Zustand, in dem sich die Körpermuskeln nicht mehr willentlich bewegen lassen. Der Begriff wird auch mit Starrsucht übersetzt. Diese Bedeutung wurde in die Aufstellungssprache übernommen und galt zunächst dem kataleptischen Finger. Insa Sparrer beschreibt in ihrem Buch „Wunder, Lösung und System“ eine einfache Übung, in deren Verlauf der eigene Finger zu einem kataleptischen Finger werden kann. Dieser steht durch die Wandlung nicht mehr unter der direkten Kontrolle des Klienten, sondern wird von seiner Intuition und den Empfindungen im Finger geleitet. Die Starre bezieht sich auf die erhöhte Muskelspannung, in welcher der Patient über längere Zeit verweilt und die zu einer Verlangsamung der Bewegungen führt … Der kataleptische Finger lässt sich auf das Prinzip der Übertragung in der Psychoanalyse zurückführen. Im ursprünglichen Sinn handelt es sich bei der Übertragung um einen so genannten Abwehrmechanismus, bei dem der Klient verdrängte (das heißt nicht erlaubte oder erwünschte) Triebe, Wünsche oder Erwartungen auf eine ähnliche Situation überträgt. Ebenso kann es zu einer Übertragung von einer zu einer anderen Person kommen, beispielsweise wenn der Klient durch eine Person A verletzt wurde, können diese negativen Gefühle und Erwartungen auf eine Person B übertragen werden. Beim kataleptischen Finger werden die Empfindungen, Wünsche und Erwartungen einer Person auf den Prozess der Arbeit mit dem Finger übertragen und können so wahrgenommen werden. (Universität Köln 2019; Sparrer 2001).
Wie oben beschrieben, kann man bei einer vermuteten Verwechslung einen Stellvertreter hinter einem anderen Stellvertreter hervortreten lassen. Die kataleptische Hand ist die
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zweite Variante für das Probehandeln bei einer vermuteten Verwechslung – sie ist die vom Aufsteller herausgehaltene Hand, die den Kopf und die Blickrichtung (vom Handteller ausgehend) einer vermuteten Person symbolisiert. Die Hand wird also anstelle eines zweiten Stellvertreters eingesetzt. Hier hat der Begriff kataleptisch eine andere Konnotation: Die antike Philosophenschule der Stoiker bezeichnete als kataleptische Phantasie eben solche Vorstellungen, die von einem wirklichen Objekt erzeugt werden. Im Fall der kataleptischen Hand wird demnach die Vorstellung, auf einen wirklichen Menschen zu schauen, von der Hand des Aufstellers erzeugt.
Die kataleptische Hand wird stellvertretend/symbolisierend für eine Person eingesetzt. Der Aufsteller hält seine Hand bei leicht ausgestrecktem Arm mit dem Handteller zum Klienten gerichtet auf Augenhöhe. Folgt der Klient der Hand mit seinen Augen, hat die Person, die von der kataleptischen Hand symbolisiert wird, eine besondere Bedeutung in Bezug auf das Anliegen.
2.5.2.9 Systemische Filter- und Ankerfragen Systemische Filter- und Ankerfragen (nach Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd) dienen der Verfeinerung der Wahrnehmung der Stellvertreter sowie der Verankerung von Erlebtem im Körper. Zwei typische Filterfragen lauten: • Ist es jetzt besser oder schlechter/gleich oder anders? • Ist es angenehm (weich, kühl o. Ä.), unangenehm (weich, kühl o. Ä.) oder einfach (weich, kühl o. Ä.)? Die Ankerfrage ist: • Wie fühlt sich angenehm, unangenehm oder „einfach so“ im Körper an, woran/wo merkst Du das?
Systemische Filter- und Ankerfragen dienen der Verfeinerung der Wahrnehmung und der Verankerung von Erlebtem im Körper.
2.5.2.10 Rituelle Handlungen und Sätze Rituelle Handlungen In allen Kulturen sind Riten genormte Handlungen und Gesten mit Symbolcharakter, mit denen Menschen auf die unverfügbare Welt des Geistigen (Götter, Dämonen, höhere Energien) Einfluss erlangen möchten. In ihrer Ausprägung dienen sie daher der Sichtbarmachung einer tieferen symbolischen Bedeutung, der Orientierung im Beziehungsgeschehen und der Vertiefung von Erfahrungen im Beziehungsgeschehen. Manche Menschen betrachten rituelle Handlungen gar als Signale, die automatisch eine Veränderung im (metaphysischen) Zustand der Welt auslösen.
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Eine häufige rituelle Handlung im Aufstellungsgeschehen ist die Verneigung, z. B. vor den Ahnen, den Eltern oder dem (ehemaligen) Partner. Hat man die Belastung von jemandem getragen, kann man sie ihm in einem Ritual – etwa in Form eines schweren Steins – zurückgeben. Der Einsatz von Trommeln bei der Begleitung eines Verstorbenen in das Reich der Toten ist ein wirksames Ritual ebenso wie die rituelle Einbeziehung einer Person (z. B. eines abgetriebenen Kindes) oder die rituelle Würdigung. Auch im Anschluss an Aufstellungen können begonnene Bewegungen durch Rituale unterstützt werden. Ein typisches Beispiel ist das Aufstellen eines Objekts als Symbol für ein verstorbenes Kind. Der Entwicklung eigener Rituale sind keine Grenzen gesetzt – wir regen unsere Teilnehmer an, zu experimentieren und auch sich selbst zu fragen, welche rituellen Handlungen ihnen entsprechen. Im Sinne der Entwicklung nutzen wir z. B. in unseren Aufstellungen die schrittweise Bewegung nach rechts oder vorne als ritualisiertes Wachstum, wobei jeder Schritt für 1 Jahr oder für eine Anzahl von Jahren stehen kann. Das schrittweise Wachsen kann helfen, wenn Klienten regrediert sind und Schwierigkeiten haben, in ihrem Bewusstsein wieder ins Jetzt zurückzukehren. So hilft es z. B. bei Panikattacken, die auf frühe Traumata zurückzuführen sind, den Klienten anzuregen, den Augenkontakt zu halten und ritualisiert Schritt für Schritt ins Jetzt zurückzukommen. Dabei muss dem Klienten mit jedem Schritt gesagt werden, dass er sich gerade von dem traumatisierenden Ereignis wegbewegt, und dass es für ihn sicher ist, mit dem Aufsteller zu gehen. Wir nutzen dieses ritualisierte Vorgehen in unserer Arbeit und vermitteln sie auch unseren Teilnehmern als wirklich hilfreiche Intervention. Innerhalb der Rituale wird häufig mit Symbolen gearbeitet. Dabei sind alle möglichen Objekte erlaubt, und auch hier ist der Gestaltungskraft des Einzelnen keine Grenze gesetzt. So können z. B. Verbindungen mit einem Seil visualisiert werden. Auch um zu verdeutlichen, dass jemand auf die Vergangenheit schaut, kann man mithilfe eines Seils arbeiten. Der Psychiater Ero Langlotz arbeitet zum Beispiel mit bunten Schals, die er wahlweise um seinen Hals trägt oder in verschiedenen Funktionen auf den Boden legt. Symbolisierte Grenzen erleichtern die Wahrnehmung des Unterschieds von Vergangenheit und Gegenwart. Bei der Rückgabe von Lasten können Steine ebenso zum Einsatz kommen wie Wasserkästen – solange das Objekt symbolgleich schwer ist, erfüllt es seine Aufgabe im Ritual.
Rituelle Handlungen sind genormte Handlungen und Gesten mit Symbolcharakter, die der Vertiefung des Erlebten – nicht zuletzt auch durch das Embodiment – dienen.
Rituelle Sätze Rituelle Sätze haben oft eine hypnotherapeutische Wirkung und können der Vertiefung einer begonnenen Bewegung dienen. Sie lassen sich nach Sparrer und Varga von Kibéd in verschiedene Kategorien ordnen:
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• Beziehungsbeschreibungen sind einfache Beschreibungen dessen, was offensichtlich ist. Das auszusprechen kann eine Wirkung auf das Miteinander haben. Eine Beziehungsbeschreibung ist zum Beispiel: „Du bist meine Mutter, und ich bin Dein Sohn/Deine Tochter“. • Ordnungsbeschreibungen sind Beschreibungen der Rangordnung bzw. der Hierarchie. Eine Ordnungsbeschreibung im Geschwisterverhältnis ist zum Beispiel: „Du warst vor mir, und ich komme nach Dir“. Eine Ordnungsbeschreibung in einer Organisation kann lauten „Du bist mir vorgesetzt, ich bin Dir gegenüber weisungsgebunden“ oder auch „Ich habe Deine Position eingenommen. Deshalb verdanke ich meine Position Deinem Ausscheiden/Weggang“. • Anordnungsbeschreibungen sind ebenfalls einfache Beschreibungen dessen, was offensichtlich ist. Eine Anordnungsbeschreibung ist zum Beispiel: „Er steht hinter mir“ oder „Wir stehen Seite an Seite“. • Quasi-Tautologien sind quasi Aussagen, die aus logischen Gründen immer wahr sind – quasi deshalb, weil manche dieser Aussagen eher einem Glaubensbekenntnis oder einer ethischen Setzung gleichen. Typische Quasi-Tautologien in Aufstellungen sind z. B. „Du bist Du, und ich bin ich“/„Dein Leben ist Dein Leben; mein Leben ist mein Leben“/„Ich sehe Dich jetzt als die, die Du bist/Ich erkenne jetzt, dass es so ist, wie es ist“/„Ich gebe Dir einen guten Platz“/„Ich begegne Dir auf Augenhöhe und respektiere Dich“. • Quasi-Kontraindikationen sind quasi Widersprüche – quasi deshalb, weil sie höhere Wahrheiten beinhalten, die (rational) nicht überprüfbar sind. Der libanesisch-amerikanische Maler und Dichter Khalil Gibran (1883–1931) hat solche Sätze formuliert, und sie können im Aufstellungsgeschehen insbesondere für die Persönlichkeitsentwicklung eine besondere Wirkung entfalten: „Deine Gedanken sind nicht Deine Gedanken“ oder auch „Meine Leistungen sind nicht meine Leistungen, und wenn sie am besten sind, sind sie wie ein Geschenk“. • Reframing-Paraphrasierungen beschreiben die Wiederholung mit eigenen Worten bei gleichzeitiger marginaler Perspektivenverschiebung, wie wir es weiter oben bei Reframing/Umdeutung beschrieben haben. Gebraucht jemand den Begriff „vielleicht“, kann dieser z. B. geteilt werden, der Satz könnte sein: „Vielleicht ist es viel und zugleich ganz leicht, sodass es vielleicht gar nicht schwer sein muss, wenn Du ja sagst“. Auch mit der englischen Vokabel „understand“ lässt sich beinahe poetisch paraphrasieren und verschieben. Sagt einer „Ich kann das einfach nicht verstehen“, kann der rituelle Satz lauten: „Beim Under-Standing stehst Du darunter und schaust auf das Größere und verstehst jetzt, dass Du es nicht verstehen kannst, weil es so viel größer ist als Du, also gibst Du Dich hin und sagst einfach ‚ja‘“.
Rituelle Sätze haben oft eine hypnotherapeutische Wirkung und können der Vertiefung einer begonnenen Bewegung dienen.
2.6 Beendigung der Aufstellung
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2.6 Beendigung der Aufstellung Die Frage danach, wann eine Aufstellung beendet ist, kann nicht mit „Eine Aufstellung ist dann beendet, wenn …“ beantwortet werden. Manche Aufsteller neigen dazu, die Aufstellung einer Lösung zuführen zu wollen. Sie tendieren dann zu entsprechenden Anregungen und Probehandlungen, wenn aus dem Aufstellungsfeld selber keine Impulse mehr kommen. Andere beenden eine Aufstellung dann, wenn das Bild im Feld die Frage des Anliegens beantwortet. Wieder andere beenden eine Aufstellung, wenn aus dem Feld keine weiteren Impulse für Bewegungen kommen. Manche beenden die Aufstellung an einer Stelle, die vielleicht keiner der anderen teilnehmenden Personen einleuchtet. Dennoch ergeben sich aus dem Prozess bisweilen gewaltige Bewegungen. Was also ist richtig, was falsch? Wie kann man die korrekte Beendigung der Aufstellung vermitteln? Keiner dieser Ansätze ist falsch, keiner ist richtig. Wesentlich ist nur die Frage der Stimmigkeit der Entscheidung, und die folgt der feinen Wahrnehmung. Unsere Weiterbildung hat also immer auch den Charakter der Bestärkung der besonderen und immer einzigartigen Persönlichkeit unserer Teilnehmer, zumal – und das ist ganz sicher eine große Bereicherung – durch die Migrationsströme der vergangenen Jahre zunehmend Menschen mit einem uns nicht vertrauten kulturellen Hintergrund in unsere Weiterbildungen kommen. Sie bringen Aspekte und Eigenheiten mit, die sich zunächst außerhalb unserer Vorstellungen bewegen und unsere Arbeit so entscheidend bereichern. Der korrekte Satz heißt daher bei uns: „Die Aufstellung ist beendet, wenn der Aufsteller die Aufstellung beendet“. Und weil sich alles im Prozess befindet und andauernd ändert, empfehlen wir unseren Teilnehmern den so offenen wie abschließenden Satz „Hier lassen wir es für den Moment“.
2.6.1 Entrollung Wir persönlich entrollen die Stellvertreter nicht automatisch bzw. ritualisiert, es sei denn, sie bitten uns ausdrücklich darum. Das ist genauso möglich wie die übliche ritualisierte Entrollung, die manche Kollegen pflegen. Wir vermitteln beide Möglichkeiten und regen wie so oft an, sich auf Dauer mit dem einzurichten, was einem persönlich am ehesten entspricht. Um die Stellvertreter aus ihren Rollen zu entlassen, eignet sich der ritualisierte Dank „Danke, dass Du für X gestanden hast, Y“. Auch jeder andere Satz ist denkbar, der dem Stellvertreter den Unterschied zwischen seiner Person und seiner stellvertretenden Funktion noch einmal verdeutlicht. Um sich der Energien, die mit einer Stellvertreterposition verbunden sind, wieder zu entledigen, sind schüttelnde Bewegungen der Arme und Beine, große Schritte oder gar Sprünge hilfreich. Schließlich hilft auch das Abklopfen des Körpers und in ganz hartnäckigen Fällen eine anschließende heiße und dann kalte Dusche.
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2 Methodik der Systemischen Aufstellung
2.6.2 Nachbesprechung In unseren Weiterbildungen bitten wir im Anschluss an die Präsentation der ritualisierten Entrollung alle noch einmal ins Plenum. Wir fragen, ob es noch etwas aus den Rollen zu berichten gibt, was für den Klienten von Bedeutung sein kann. Auch dieser Schritt hilft dem Stellvertreter noch einmal, sich bewusst zu machen, dass er wieder er selbst ist. Wir bitten dann den Klienten, dem Aufsteller (der lernender Teilnehmer ist) ein Feedback darüber zu geben, wie er sich bei seinem Kollegen als Klient gefühlt hat. Und schließlich geben wir unseren Teilnehmern noch evtl. Hinweise für die Weiterentwicklung ihrer Arbeit. Hierbei handelt es sich seltener um Kritik, im Wesentlichen um Ermutigung.
2.6.3 Dokumentation Im Rahmen der Weiterbildung ist die Dokumentation der Aufstellungen durch die Teilnehmer sinnvoll, zumal hier bisweilen in den ersten Versuchen Fehler gemacht werden, die besonders wertvoll für das Lernen sind. Für die Dokumentation eignet sich das Protokoll mit einer eigenen Ikonografie, wie wir sie zum Beispiel im Genogramm gezeigt haben. Der Gestaltungsfreiheit sind auch hier keine Grenzen gesetzt. Im Wesentlichen erfasst das Protokoll das Anliegen und die Stellvertreterpositionen, das Eingangsbild, maximal 1–2 Stellungsbilder mit wesentlicher Änderungswirkung sowie das Abschlussbild. Wir haben für unsere Teilnehmer einfache Vordrucke entwickelt, mit denen sie ein Protokoll erstellen können. Das Formular für die Erstellung eines Protokolls finden Sie zum Download bei Springer.
2.6.4 Nachsorge Es ist für uns eine Selbstverständlichkeit, dass ein Aufsteller seinem Klienten (und ein Lehrtrainer seinen Teilnehmern) immer die Nachsorge anbietet. Wir weisen unsere Teilnehmer darauf besonders hin, weil wir aus der Erfahrung eben auch wissen, dass es nicht alle Kollegen so halten. Rechtlich gesehen übernimmt zwar der Klient die Verantwortung für sich und auch für die Aufstellung und deren Nachwirkungen, wenn er Entsprechendes unterschrieben hat. Wir haben hierzu einiges in Kap. 1 geschrieben. Wir sind jedoch davon überzeugt, dass wir die Verantwortung mindestens mit den Klienten teilen, sodass wir ihm bei Bedarf nach einer Aufstellung selbstverständlich auch kurzfristig zur Seite stehen.
Literatur
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Auch in den Weiterbildungen ergeben sich immer wieder solche Situationen: Die Teilnehmer geben eigene Themen ins Feld des Lernens, und ungeübte Teilnehmer versuchen sich im Aufstellen. Da kann es natürlich passieren, dass beim Klienten ein Prozess ausgelöst wird, der die Kompetenzen eines Teilnehmer-Aufstellers überfordert. Nicht nur während der Weiterbildungstage selber, sondern auch danach stehen wir für solche Momente immer bereit, (für uns) selbstverständlich, ohne weitere finanzielle Forderungen zu erheben.
Literatur Gehlert, T. (2019). System–Aufstellungen als Instrument zur Unternehmensführung im Rahmen komplexer Entscheidungsprozesse sowie ein naturwissenschaftlich begründetes Erklärungsmodell für den dahinterliegenden Prozess. Dissertation, Technische Universität Chemnitz. https://gehlert-cooperation.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Diss._Gehlert_Zusammenfassung_190731.pdf. Zugegriffen: 28. Nov. 2019. Gehlert, T. (2020). Systemaufstellungen und ihre naturwissenschaftliche Begründung. https:// gehlert-cooperation.de/buch-download/. Zugegriffen: 25. Mai 2020. Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA). (2011). Pressemitteilung: Ambulante Psychotherapie bei Suchterkrankungen künftig ausnahmsweise auch ohne Abstinenz möglich. https:// www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen/392/. Die Beschlussfassung Psychotherapie–Richtlinie (Präzisierung zur Indikation Abhängigkeit von Alkohol, Drogen und Medikamenten) ist im Internet abrufbar unter https://www.g-ba.de/downloads/39-261-1310/2011-04-14_ Pr%C3%A4zisierung%20zur%20Indikation%20Sucht_BAnz.pdf. Zugegriffen: 3. Sept. 2019. Hartung, S. (2014). Warum funktionieren Aufstellungen? Eine Betrachtung in 14 Thesen (S. 24, 28–29). Baden-Baden: DWD Deutscher Wissenschafts. Hartung, S. (2018). Theorie und Praxis der Organisationsaufstellung (S. 119). Wiesbaden: Springer Gabler. Kahnemann, D. (2011). Schnelles Denken, langsames Denken (Thinking, fast and slow) (S. 72–73, 102, 104). München: Siedler (Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2012). McGoldrick, M., & Gerson, R. (1985). Genograms in Family Assessment. New York: W.W. Norton & Company (Titel der zweiten und dritten Auflage 1998/2008: Genograms: Assessment and Intervention). Rogers, C. R. (1973). Entwicklung der Persönlichkeit (S. 27, 200). Stuttgart: Cotta’sche Buchhandlung. Rogers, C. R. (1977). Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie (2. Aufl., S. 11–24). München: Kindler. Sparrer, I. (2001). Wunder, Lösung und System (S. 110). Heidelberg: Carl Auer (Erstveröffentlichung). Universität Köln. (2019). Methodenpool: 4.1 Darstellung der Grundlagen der Lösungsfokussierten Systemischen Strukturaufstellungen. http://methodenpool.uni-koeln.de/systemaufstellung/darstellung.html#4.1.1. Zugegriffen: 13. Sept. 2019.
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Wahrnehmung und Erkenntnis
Inhaltsverzeichnis 3.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.2 Wahrheit und Wirklichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.3 Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3.4 Phänomenologie und Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
3.1 Einführung In Aufstellungen geht es um die Anerkenntnis dessen, was ist. Was aber ist das, was ist? Ist es? Was können wir erkennen? Und warum erkennen wir in Aufstellungen oft andere Zusammenhänge als gemeinhin in unserem Alltag? Die drei Abschnitte über Wahrheit, Wirklichkeit und Wahrnehmung sowie über Phänomenologie und Konstruktivismus betrachten deren physische, seelische und geistige Dimensionen und setzen sie in einen praktischen Bezug zur Aufstellungsarbeit und deren Vermittlung.
3.2 Wahrheit und Wirklichkeit 3.2.1 Einführung Aufstellungsarbeit ist eng mit Wahrnehmung verknüpft. Wenn wir von Wahrnehmung sprechen, schwingt unausgesprochen die Idee einer Wahrheit mit – wir nehmen das Wahre. Von welcher Wahrheit aber sprechen wir in Aufstellungen? Der Abschnitt
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hartung und W. Spitta, Lehrbuch der Systemaufstellungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61192-0_3
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
beschreibt verschiedene Ideen über die Wahrheit und unseren Umgang damit. Er verdeutlicht auch den Unterschied von Wahrheit und Wirklichkeit und beschreibt damit Grundlegendes für die Vermittlung von Aufstellungsarbeit.
3.2.2 Annehmen, was ist? In der Regel sprengt die Arbeit mit Systemaufstellungen das Fassungsvermögen unseres Verstands. Das, was sich in einer Aufstellung als die Wirklichkeit eines Systems zeigt, ist gemeinhin etwas völlig anderes als das, was wir mit unserem Verstand zu erfassen vermögen. Das Multidimensionale einer jeden Systemaufstellung übersteigt die zwei Dimensionen unseres rationalen Verstandes. Hier kommen Individuen, Geschichten, Bewegungen, Entwicklungen und Begegnungen zusammen, die in ihren multidimensionalen und interdependenten Verbindungen derart viele Aspekte bergen, dass die logische Abteilung unseres Verstands mit deren Komplexität überfordert ist. Wir müssten die Gesamtheit der Verbindungen und Aspekte reduzieren und selektieren, um eine zweidimensionale Logik des „Wenn-dann“ oder eine Entscheidungsgrundlage für „Das, aber das nicht“ entwickeln zu können. Vielleicht würden wir dabei das komplexe System auf ein kompliziertes System der linearen Nachvollziehbarkeit zu reduzieren suchen. Genau damit aber würden wir die nichtlineare, multidimensionale Komplexität zerstören und eben keine systemischen Erkenntnisse über Beziehungsqualitäten erreichen. Mit unserem logischen Verstand können wir zu Beziehungen nur kausallogische Wenn-dann-Aussagen machen. Kausallogisch meint: Es gibt eine Ursache und eine Wirkung, die sich aufeinander beziehen. Die Wirkung folgt der Ursache, nicht umgekehrt. Es gibt nur eine Richtung. Das denken wir. Damit aber erliegt unser Verstand im systemischen Resonanzraum der Beziehungen einer Kausalitätsillusion, die mit der komplexen Wirklichkeit eines Beziehungssystems nichts zu tun hat. Hier ist die Ursache nicht nur zugleich die Wirkung und die Wirkung wiederum auch die Ursache. Das System hat außerdem beinahe unzählige Ursache-Wirkungs-Elemente, die einander zeitgleich beeinflussen. Systembeziehungen sind immer interdependent. Zugleich stimmt natürlich: Wir haben nur diesen einen Verstand. Er ist unser einziges Organ für die Bewusstwerdung und das in Worte-Fassen dessen, was uns in Aufstellungen begegnet. Und wenn wir als Lehrtrainer Aufstellungen lehren wollen, brauchen wir ihn natürlich auch. Die im Rahmen der Aufstellungsarbeit nicht selten gehörte Aufforderung „Schalte einfach mal Deinen Verstand aus“ sollte insofern mit zwei Ohren gehört werden. Die gemeinte Botschaft lautet: „Versuche nicht, es zweidimensional zu verstehen – es ist nicht logisch. Bewerte es nicht. Assoziiere nicht. Mach keine sinnvolle Geschichte daraus“, und dieser Rat ist klug, denn wie gesagt, kommen wir mit einem auf Logik ausgerichteten Wenn-dann-Denken, das trennt, um einen Unterschied zu machen und
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ntscheidungen zwischen „richtig“ und „nicht richtig“, „sinnvoll“ und „sinnlos“, „gut“ E und „schlecht“ zu treffen, nicht weiter in Aufstellungen. Denn Aufstellungen befassen sich mit der kohärenten Komplexität von Systemen bzw. deren Strukturen, die vieldimensional, zugleich direkt und indirekt zusammenhängend und dadurch maximal interdependent sind. Ausschalten aber sollten wir unseren Verstand ganz sicher nicht. Er ist ein lebenswichtiges Organ, das im Dauerdienst unserer Existenz arbeitet. Für die Aufstellungsarbeit müssen wir vielmehr lernen, ihn auf eine andere Art zu nutzen, als wir das bisher gewohnt sind. Diese andere Art hat mit der Schulung der Wahrnehmung und damit mit der Schulung unseres Bewusstseins zu tun. Wir werden zunehmend auf Algorithmen bauen, damit sie Entscheidungen für uns treffen, aber es ist eher unwahrscheinlich, dass die Algorithmen uns bewusst manipulieren werden. Sie werden über keinerlei Bewusstsein verfügen. Science-Fiction verwechselt gerne Intelligenz mit Bewusstsein und geht davon aus, dass Computer Bewusstsein entwickeln müssen, um an menschliche Intelligenz heranzureichen oder sie zu übertreffen. In fast allen Filmen und Romanen über künstliche Intelligenz geht es im Kern um den magischen Moment, in dem ein Computer oder ein Roboter Bewusstsein erlangt. Sobald das geschieht, verliebt sich entweder der menschliche Protagonist in den Roboter, oder der Roboter versucht, alle Menschen zu töten, oder beides geschieht gleichzeitig. In Wirklichkeit gibt es jedoch keinerlei Grund zu der Annahme, künstliche Intelligenz werde Bewusstsein erlangen, denn Intelligenz und Bewusstsein sind völlig unterschiedliche Dinge. Intelligenz ist die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Bewusstsein ist die Fähigkeit, Dinge wie Schmerz, Freude, Liebe und Wut zu empfinden. (Harari 2018)
Die Empfindung, von der Harari hier spricht, ist die Bewusstheit über die leibliche Wahrnehmung im Feld der Aufstellung. Welcher Qualität diese Wahrnehmung sein kann, darüber hat sich der deutsche Philosoph Hermann Schmitz (*1928) mit seiner Neuen Phänomenologie Gedanken gemacht.
Mehr davon Weitere Informationen über die Neue Phänomenologie finden Sie in Abschn. 3.3 („Wahrnehmung“) und in 3.4 („Phänomenologie und Konstruktivismus“).
„Annehmen, was ist“, lautet die geflügelte Parole der Aufsteller. Sie impliziert einerseits, dass wir unsere Wirklichkeit – das, was für uns oder in uns wirkt – annehmen sollen. Wenn wir z. B. kleinlich sind, dann geht es nicht darum, die kleinliche Haltung loszuwerden, sondern sich ihr zuzuwenden und wahrzunehmen, was geschieht, wenn wir wertfrei feststellen „Ja, ich bin kleinlich“. Und wenn wir beispielsweise eine Panikattacke haben, gilt es nicht, die Panik schnellstmöglich loswerden zu wollen (so verständlich dieser Wunsch auch sein mag), es gilt vielmehr, in eine innere Haltung des Annehmens zu gehen und die Panik sozusagen aus einer Beobachterposition anzuschauen: „Ich schaue auf meine Panikattacke und nehme wahr, wie stark die energetischen Wellen sind, die durch mich hindurch gehen“.
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
Mehr davon Die beschriebene Betrachtungshaltung bei einer Panikattacke stellt keinesfalls eine therapeutische Maßnahme dar, sie dient nur der Verdeutlichung dessen, was mit Annehmen gemeint ist. Über die Arbeit mit Panik und Trauma finden Sie ausführliche Informationen in Kap. 5 („Biografie, Selbst, Persönlichkeit“) und 6 („Trauma und Traumafolgestörungen“).
Die Aufforderung anzunehmen impliziert andererseits, dass sich phänomenologisch übergeordnet Wahres zeigt. Wahr meint: Es zeigt sich das, was ist. Hier offenbart sich eine zugrunde liegende Überzeugung, die sagt: Es gibt etwas, das ist. Damit man das, was ist, unvoreingenommen wahrnehmen und annehmen kann, gibt es wiederum zahlreiche Übungen rund um Meditation, Achtsamkeit und Wahrnehmung, die alle zum Ziel haben, sich in den Zustand der nicht-denkenden Absichtslosigkeit zu versetzen und – nach Arthur Schopenhauer (1788–1869) – einfach nur auf das zu schauen, was ist, und es zu benennen. Dieses Schopenhauer’sche Schauen entspricht wiederum der leiblichen Wahrnehmung, wie sie in der Neuen Phänomenologie beschrieben wird (Abschn. 3.3).
Mehr davon Über die Haltung der Absichtslosigkeit lesen Sie mehr in Abschn. 1.4.2 („Absichtslosigkeit“).
Manche beschreiben das so: Wir stellen den Verstand in den Dienst des Bewusstseins, anstatt uns von ihm beherrschen zu lassen. Der Verstand wird zum Diener unserer bewussten Wahrnehmungen und kleidet diese in beschreibende (nicht bewertende) Worte. Selbst wenn wir nicht aussprechen, was wir wahrnehmen, so nehmen wir es erst bewusst wahr, wenn wir das, was wir wahrnehmen, auch sprachlich bzw. begrifflich zuordnen können – „transzendentale Erkenntnis“ nannte der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) diesen Vorgang. Zuordnen aber wozu? Fassen wir nämlich in Worte, was wir da vermeintlich so absichtslos und „nicht kalkulierend“, „nicht assoziierend“ oder „bewertend“ wahrgenommen haben, befinden wir uns unversehens im kulturgefärbten Reich der jeweils intersubjektiven Übereinkunft darüber, was die Bedeutung dessen ist, was wir ausdrücken. Willkommen also in der Welt der Übereinkunft darüber, was wahr und was wirklich ist. Auch Systemaufsteller pflegen gewisse Übereinkünfte darüber, was wahr bzw. unzweifelhaft ist. Zugleich arbeiten wir nach eigenem Bekunden im Zustand des sogenannten Nicht-Wissens, und je länger wir über Absichtslosigkeit, die Grenzen unseres Verstandes und den Zustand des Nicht-Wissens nachdenken, desto verworrener scheint alles zu werden.
Mehr davon Vertiefte Informationen über den Zustand des Nicht-Wissens lesen Sie in Abschn. 1.4 („Grundlegende Aspekte der Systemaufstellung“).
3.2 Wahrheit und Wirklichkeit
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Ganz bestimmt also lohnt es sich daher, eine reflektierte Klarheit darüber zu bekommen, wie wir wahrnehmen, in welchen kulturellen Räumen der Wahrheitskonstruktion wir uns bewegen und welchen möglichen Einfluss diese auf das Aufstellungsgeschehen haben. Tatsächlich ist es ja so, dass die Menschheit von Anbeginn an die Frage beschäftigt: Was ist die Wahrheit? Die Menschen stellten durch die Jahrtausende im Wesentlichen drei Fragen, um die „einzig wahre“ Wahrheit zu finden. • Wer sind wir? • Was ist die Welt? • Warum und wie sind wir in dieser Welt? Unsere Antworten auf diese Fragen waren und sind spiritueller (und religiöser) und mentaler (rationaler) Natur. Nach Harari (s. oben) könnten wir sagen: Sie sind das kombinierte Ergebnis aus unseren Denkalgorithmen und unserem wahrnehmenden Bewusstsein. Wir formulieren sie dementsprechend in physischen und metaphysischen Kontexten. Dabei sind sie immer Ausdruck unserer kulturell gewachsenen Überzeugungen und werden – einmal gegeben – zugleich zum Humus für unser weiteres soziales Verhalten in der Welt. So entsteht und entwickelt sich unsere Kultur, mithin unsere zweite Haut, die wir als beinahe biologisch-natürlich vorhandene Wahrheit empfinden und erleben. Nach einer kurzen Phase der Gewöhnung glauben wir selber, dass unsere Antworten die einzig richtigen, die einzig wahren sind. In diesem Glauben entstehen auch unsere Religionen, die im Mantel einer „jenseitigen“ Metaphysik im Wesentlichen dazu angetan sind, unser diesseitiges soziales Miteinander unzweideutig zu regeln. Dieses intersubjektiv vereinbarte Unzweideutige etikettieren wir daher nicht selten als objektiv und somit als einzig verbindliche Antwort für alle. So entsteht Kultur als sozialer Klebstoff. Wir haben uns z. B. gemeinhin (im Alltag) darauf geeinigt, dass eine normale (und damit meinen wir: richtige, objektive) Wahrnehmung mit den Sinnen, also mit dem Körper geschieht. Die körperliche Wahrnehmung geschieht über die fünf Sinne, durch Sehen, Hören, Riechen, Schmecken oder Berühren.
Mehr davon Ausführliche Erläuterungen über unsere Art der Wahrnehmung finden Sie im folgenden Abschn. 3.3.
Wenn wir einen direkten Zugang über die Sinne haben – und wenn wir Begriffe für das haben, was wir sinnlich wahrnehmen – dann sind wir uns meistens einig, dass wir die Realität wahrnehmen. Mit Realität meinen wir: Das, was wir sinnlich wahrzunehmen vermögen, ist objektiv wahr. „Bleiben wir mal realistisch“ ist ein gerne genutztes, den anderen in die Schranken der vermeintlichen Irrationalität verweisendes Machtinstrument im Kommunikationsprozess.
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Zwar mag die Eine oder der Andere bestimmte Sinne besonders fein ausgebildet haben – an der Wahrnehmung der objektiven Wahrheit aber zweifelt keiner, wenn sie über die Sinne geschieht und mit für uns sinnvollen Begriffen verknüpft werden kann („stimmt, das hatte ich gar nicht gesehen, aber jetzt sehe ich es auch“). Aussagen wie: „Das ist ein Tisch“ (kann man anfassen, man kann etwas darauf abstellen oder seine Füße drauf legen), „Draußen scheint die Sonne“ (kann man sehen), „Morgen ist Dienstag“ (steht auf dem Kalender, man muss nur hinschauen), stehen – trotz der hier folgenden, offensichtlichen Interpretationen des sinnlich Wahrgenommenen – gleichwertig neben solchen Aussagen: „Du bist sauer“ (das sehe ich an der Art, wie du die Brauen zusammenkneifst, also streite es nicht ab), „Herr Meier ist arrogant“ (das ist nicht zu überhören bei der Art, wie er spricht, der müsste sich nur selber mal hören) oder auch „Die Nachbarin will unseren Hausfrieden stören, sie hat schon wieder die Mülltüte neben den Mülleimer gestellt“ (davon kann sich jeder selber überzeugen, einfach mal in den Müllkeller gehen – außerdem: wenn, ich schon sehe, wie die rumläuft …).
Mehr davon Interpretationen des sinnlich Wahrgenommenen funktionieren nach dem Prinzip der automatischen Kausalitätsbildung, wie wir sie in Abschn. 2.4.3 unter „Information über die eigene Hypothesenbildung“ beschrieben haben.
Sprache – als medialer Ausdruck der kulturellen Entwicklung gemeinsamen Denkens – und sinnliche Wahrnehmung in Kombination mit der Kausalitätsillusion sind deshalb in unserer Alltagskultur in Bezug auf mit absoluter Überzeugung behauptete Objektivität auf das Engste miteinander verknüpft – „Erzähl’ mir nichts, ich sehe, was ich sehe und höre, was ich höre – außerdem ist es so offensichtlich, dass man dranfassen kann, das riecht und schmeckt förmlich danach.“ Wenn wir den Begriff „Wahrheit“ verwenden, gehen wir unbewusst davon aus, dass es nur eine einzige Wahrheit gibt, was das Objektive und Absolute betrifft – es kann schließlich nicht zwei verschiedene oder gar einander widersprechende Wahrheiten geben. Deshalb gibt es keine Pluralform für Wahrheit. Wir sagen nicht: „Das sind die Wahrheiten“. Und auch, wenn wir immer wieder von verschiedenen Wahrheiten sprechen – die Grundidee von Wahrheit ist ihr singulärer, absoluter Charakter. Eine zweite Wahrheit gibt es nicht. So aufgeklärt, wie wir uns wähnen, sind wir irgendwie doch überzeugt davon, dass es Wahrheit gibt. Objektiv. Wissenschaftlich fundiert. Bei mehreren „Wahrheiten“ akzeptieren wir höchstens eine andere Perspektive auf die einzig wahre Wahrheit („So kann man es natürlich auch sehen“). In Anbetracht dessen scheint es offensichtlich zu sein, dass, wenn wir von Wahrnehmung sprechen, wir an die Wahrnehmung der Wahrheit glauben. Dabei ist Wahrheit niemals eine Angelegenheit von einzelnen Fakten, sondern immer ein Ergebnis der Kombination von einzelnen Fakten zu einem Satz, zu einem Zusammenhang, der Sinn macht. Wenn etwas keinen Sinn ergibt, ist es für uns ohne Bedeutung und hat in Bezug auf die Frage nach Wahrheit keinerlei Relevanz.
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Mehr davon Über unsere Art wahrzunehmen finden Sie vertiefte Informationen hier in Kap. 3 unter „Wahrnehmung in Mustern“ (Abschn. 3.3.3) und in Abschn. 4.2 „Gestalttheorie“.
3.2.3 Drei Ideen zur Wahrheit Im Rahmen einer Weiterbildung zum Systemaufsteller ist es empfehlenswert, eigene Ideen bzw. Überzeugungen über die Wahrheit reflektieren zu können und sie auch beim Gegenüber erkennen und einordnen zu können. Genau hier wollen wir Ihnen drei Ideen zur Wahrheit vorstellen, wie sie – gleichzeitig – in unserer westlichen Kultur vorherrschen. Die Grundüberzeugungen haben einen nicht unwesentlichen Einfluss auf unsere Wahrnehmungen und damit auch auf das Aufstellungsgeschehen (Abb. 3.1).
3.2.3.1 Die erste Idee über die Wahrheit Die erste Überzeugung über die Wahrheit lautet: Wahr ist, dass es eine absolute und objektive Wahrheit gibt – und wahr ist auch, dass wir diese Wahrheit erkennen können (Abb. 3.2). In unserer westlichen Kultur waren die Menschen jahrtausendelang – bis zur Aufklärung – von der Idee der absoluten und objektiven Wahrheit überzeugt. Allerdings haben sie andauernd über die einzig wahre Wahrheit gestritten, diskutiert, verhandelt., weil jeder mit einem anderen Verständnis von ihr aufwartete. Das führte dazu, dass (erst) im 16. Jahrhundert die epistemologische Frage aufkam: „Welche Voraussetzungen braucht es eigentlich, um die Wahrheit erkennen zu können?“
Abb. 3.1 Drei Ideen zur Wahrheit
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
Abb. 3.2 Drei Ideen zur Wahrheit, Idee 1
Dieser Frage widmeten sich im 16. und 17. Jahrhundert die Empiristen und die Rationalisten. In ihren jeweiligen Erkenntnistheorien formulierten sie Bedingungen dafür, die Wahrheit erkennen zu können. Empirismus Der Empirismus sagt: Unser Wissen um die Wahrheit basiert ausschließlich auf unseren sinnlichen Wahrnehmungen. Nur wenn wir etwas mit unseren Sinnen wahrnehmen können, kann es wahr sein. Um zu erkennen, ob das, was wir sinnlich wahrnehmen, wirklich wahr ist, muss unsere Wahrnehmung sich mehrmals genauso wiederholen („ich habe die immer selbe Erfahrung gemacht“). Als induktiver Weg zur Erkenntnis der Wahrheit schließt der Empirismus also von einer wiederholbaren, subjektiven Wahrnehmung eines Einzelnen auf eine allgemeine, für alle objektiv wahre Aussage: Ich habe eine sinnliche Wahrnehmung, die unter bestimmten Umständen immer dieselbe und deshalb wahr ist. Die Erkenntnis der Wahrheit rechnet sich vom Subjektiven (Einzelnen) durch Wiederholbarkeit zum Objektiven (allgemein Gültigen) hoch. Alle Phantasien, Ideen und Vorstellungen, die nicht sinnlich erfahrbar sind, werden vom Empirismus als bloße Produkte der Einbildungskraft erklärt. Jegliche Wahrnehmung jenseits der Sinne gilt als nicht objektiv. Empirisch verstanden kann deshalb keine wahre Aussage über Gott getroffen werden. Wir können Gott weder sehen noch hören oder riechen, wir können ihn weder schmecken noch anfassen. Im Verständnis des Empirismus spiegeln unsere sinnlichen Wahrnehmungen die Erscheinung des Gegebenen, das sinnlich wahrnehmbar ist. Der Empirismus sagt: Es ist wahr, dass das, was sinnlich wahrnehmbar ist, so da ist, wie wir es wahrnehmen. Empirische Wissenschaften haben bis heute Gültigkeit. So wurde z. B. die Wirksamkeit von Aufstellungen in der Heidelberger Studie empirisch bestätigt – man hatte in
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Versuchen immer gleiche Erfahrungen mit der Wirkung der Aufstellungen gemacht. Die Studie wurde am Universitätsklinikum Heidelberg im Fachbereich Medizinische Psychologie von 2009–2013 durchgeführt. Im Carl Auer Verlag ist in 2014 ein Buch über die Ergebnisse der Studie erschienen (Weinhold et al. 2014). Spannend im Zusammenhang der Studie finden wir, dass in Aufstellungen in der Mehrheit mit Wahrnehmungen gearbeitet wird, die nicht sinnlicher Natur sind – somit müsste also die grundlegende Beurteilung der Wahrnehmungen im Aufstellungsfeld durch die empirische Wissenschaft „nicht wahr“ lauten. Wahr wiederum ist für dieselben Empiriker, dass Aufstellungen wirken. Rationalismus Der Rationalismus ist der erkenntnistheoretische Antagonist des Empirismus und sagt: Weil unsere Sinne uns täuschen können, ist ausschließlich unser rationaler Verstand die Quelle für unsere Erkenntnis der Wahrheit. Rationalistische Wahrheitsfindung ist deshalb intellektueller und deduktiver Natur – die einzelne wahre Tatsache wird von einer generellen logischen Theorie abgeleitet. Rationalisten sind davon überzeugt, dass die Wahrheit eine logische Struktur hat. Die Logik ist deshalb der Gradmesser für richtige oder falsche Erkenntnis. Ausgehend von solchen Denkstrukturen haben Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd ihre Strukturaufstellungen entwickelt. Bekanntester Vertreter des Rationalismus war René Descartes, dessen Ich-Beweis in der verkürzten Form berühmt wurde: Cogito ergo sum = Ich denke, also bin ich. Was Descartes meinte: Selbst dann, wenn ich an allem zweifle, so bleibt doch eines sicher: Es gibt einen, der zweifelt. Der Beweis dafür, dass die Aussage „Ich bin“ logisch abgeleitet werden kann, war erbracht. Die Aussage „Ich bin“ ist demnach wahr. Auf Descartes ist unser neuzeitlich trennendes Denken in Subjekt und Objekt, richtig und falsch zurückzuführen. Für ihn gab es eine geistige (res cognitans) und eine materielle (res extensa) Welt. Die geistige Welt beschreibt alle Formen des Denkens, wozu auch Fühlen und Begehren gehören (die in diesem Kontext sich ebenfalls einer rational logischen Überprüfung unterziehen lassen müssten – „es ist nicht logisch, dass Du so empfindest“). Die materielle Welt beschreibt die Ausdehnung und das Erscheinen alles Körperlichen. Aus dieser Differenzierung ist unsere heutige Trennung in Geistesund Naturwissenschaften entstanden. Das Wahre, so Descartes, unterliegt logischen Grundprinzipien, die nicht hinterfragt werden können. Zu ihnen gehört das Ursache-Wirkungs-Prinzip. Nach diesem liest sich Descartes’ Gottesbeweis wie folgt: Gott ist gegeben, es muss ihn geben. Denn ER ist die Ursache unserer Idee von ihm. Als Ursache ist ER so groß, dass wir ihn in unserem kleinen Kopf nicht hätten denken können. Deshalb hat ER unsere Idee von IHM durch seine Existenz verursacht. Gäbe es Gott als Ursache nicht, könnten wir IHN nicht denken, weil er zu groß ist, um in unserem kleinen Verstand zu entstehen – das ist der rationale Beweis dafür, dass die Existenz Gottes die Wahrheit ist. Nach dem israelisch-US-amerikanischen Psychologen und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Daniel Kahnemann (*1934), würden wir angesichts von
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Descartes‘ Gottesbeweis heute möglicherweise von einer verblüffend argumentierten Kausalitätsillusion sprechen.
Mehr davon In Kap. 5 („Biografie, Selbst, Persönlichkeit“) finden Sie weitere Informationen zu Descartes‘ rational-logische Herleitung seines Ich-Beweises „Cogito ergo sum“.
Im Verständnis des Rationalismus sind unsere logischen Ideen die Wirkung auf die Ursache gegebener Erscheinungen. Die gegebene Erscheinung ist die Ursache, unsere Ideen darüber deren Wirkung. Das fußt gewissermaßen auf einem phänomenologischen Verständnis, obwohl die Sinne hier nicht im Spiel sein dürfen. Selbst wenn wir denken könnten, Logik sei eine Sache der scharfen Verstandeskonstruktion, mithin eher konstruktivistisch zu verstehen – das Phänomenologische offenbart sich darin, dass unsere Ideen als Wirkung das Wesentliche einer Ursache (Gott) zu erfassen vermögen. Es geht also im Rationalismus um die logische Folgerichtigkeit, mit der wir mit unseren Ideen die wahren Phänomene, mithin die gegebene Wahrheit als größeren Zusammenhang erkennen können.
Mehr davon Mehr über Konstruktivismus und Phänomenologie lesen Sie in Abschn. 3.4.
Vor dem Zeitalter der Aufklärung hatten alle Philosophen (als Oberbegriff für alle Wissenschaftler) – und so auch die Vertreter dieser beiden Erkenntnistheorien – ein phänomenologisches Verständnis der Welt. Sie alle gingen davon aus, dass es etwas Wahres gibt, das wir unter den jeweils genannten Bedingungen erkennen können. Die einen wollen es sinnlich wahrnehmen können, die anderen logisch herleiten. Hier wird die Existenz als Ausdruck von etwas Höherem bzw. objektiv Gegebenem verstanden. Das gegebene Phänomen ist die Erscheinung der Wahrheit, es muss nur in den richtigen Zusammenhang gebracht werden. So ist die Überzeugung, dass es Ordnungen der Liebe gibt, phänomenologisch. Es hat sich herausgestellt, dass meine Einsichten über die Ordnungen der Liebe in allen unseren Beziehungen gelten, weit über uns persönlich und über unsere Familie hinaus. Sie sind eine eigene Wissenschaft, eine schöpferische Wissenschaft in Bewegung. Diese Wissenschaft kommt beim Familienstellen ans Licht. Sie wird in ihm erfahrbar. Diese Wissenschaft sprengt die Grenzen des früheren Familienstellens und die Grenzen der Psychotherapie. (Hellinger 2019)
Jedes phänomenologische Verständnis der Welt (der Zusammenhänge) sagt: Es gibt eine übergeordnete Wahrheit (Ordnung o. Ä.), die sich in der Existenz zeigt, und wir können sie, auf welchem Weg auch immer, in ihrer Sinnhaftigkeit wahrnehmen. Die Befürworter des Empirismus würden vielleicht über Aufstellungen sagen, dass sie wahr sind, weil sie (immer wieder gleich) erfahrbar sind – wie die oben erwähnte Heidel-
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berger Studie. Sie würden den Weg der Aufstellung allerdings als unwahr verurteilen, weil nicht-sinnliche Wahrnehmungen im Spiel sind. Befürworter des Rationalismus würden versuchen, die Aufstellung als Wirkung einer Ursache zu verstehen. Diesen zweiten Weg hat Stephanie Hartung (wiewohl keine Vertreterin des Rationalismus) mit ihrem Buch „Warum funktionieren Aufstellungen“ im Jahr 2014 beschritten (Hartung 2014). In 2019 hat unser Kollege Thomas Gehlert in seiner Dissertation ebenfalls einen rationalen Beweis für die naturwissenschaftliche Erklärbarkeit von Aufstellungen angetreten, von dem er in einem Mailwechsel mit uns schreibt: Sieht so aus, als ob wir eine belastbare Erklärung für die Phänomene bei SyA (Anmerkung: SyA steht für Systemaufstellung) haben. In jedem Fall sind sie so akzeptabel, dass Quantenphysiker und Biophysiker ihr o.k. gegeben haben. (Gehlert 2019) Kurz gefasst
Empirismus Wir können die Wahrheit nur mit den Sinnen wahrnehmen. Wenn unsere Sinneseindrücke die immer selben sind, können wir davon ausgehen, dass wir die Wahrheit erkennen. Rationalismus Unser rationaler Verstand ist die ausschließliche Quelle für unsere Erkenntnis der Wahrheit. Deshalb ist die Logik der Gradmesser für Wahrheit.
3.2.3.2 Die zweite Idee über die Wahrheit Die zweite Überzeugung über die Wahrheit lautet: Es ist wahr, dass es eine absolute und objektive Wahrheit gibt. Wir können sie aber nicht erkennen (Abb. 3.3). Der erste Philosoph, der diese Theorie vertrat, war Immanuel Kant (1724–1804). In seinem Hauptwerk „Kritik der reinen Vernunft“ (was soviel heißen soll wie kritische Hinterfragung der reinen Vernunft) beschrieb er sein Verständnis einer transzendentalen Erkenntnis, die sich aus Erfahrung, Verstand und Vernunft zusammensetze. Mit seiner Theorie wollte er die erkenntnistheoretischen Ansätze der Empiristen und der Rationalisten vereinen und zugleich die – in Bezug auf die Frage nach der Wahrheit – vorhandenen Schwächen der traditionellen Philosophie und Metaphysik überwinden. Zwar war Kant ebenfalls von der Existenz einer absoluten Wahrheit überzeugt. Er sprach in diesem Zusammenhang auch vom „Ding an sich“. Damit meinte er ein Phänomen oder einen Gegenstand, der – jenseits aller subjektiven Bedingungen der Anschauung und Gesetze des Erkennens – objektiv ist. Kant glaubte, dass es uns unmöglich sei, das Ding an sich, also die Wahrheit als solche wahrzunehmen. Zwar gäbe es die Wahrheit, wir könnten sie aber nicht erkennen. Unsere Erkenntnisse seien durch die zugrunde liegenden Strukturen unseres Verstandes und unserer Vernunft gekennzeichnet.
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
Abb. 3.3 Drei Ideen zur Wahrheit, Idee 2
Seine Philosophie bezeichnete Kant als kopernikanische Wende im Denken, bei der die Erforschung der Welt über den bloßen Augenschein hinausginge, um durch konstruktive Vernunft zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Den transzendentalen Erkenntnisprozess beschrieb er so: • Mit unseren Sinnen nehmen wir einzelne Fakten wahr. (Anmerkung der Autoren: Heute wissen wir, dass wir nicht einmal einzelne Fakten wahrnehmen können, sondern dass ausschließlich elektrische und chemische Impulse ausgelöst werden, aus denen wir die Wirklichkeit in unserem wahrnehmenden Bewusstsein konstruieren.) • Wir sehen, hören, riechen, schmecken oder berühren mit unseren Sinnen etwas, das unzweifelhaft da ist, aber zunächst keine weitere Bedeutung hat. • In unserem Verstand verbinden wir die sinnlich wahrgenommenen Fakten mit Begriffen, die wir gelernt haben. • Unsere Sprache ist Ausdruck unserer Kultur und unseres Denkens. Wenn wir also den Dingen einen Namen geben, dann ist das ein kultureller Akt. Aus den einzelnen Begriffen bilden wir Wortkategorien wie zum Beispiel Möbel (Tisch, Stuhl, Bett etc.) oder Obst (Orange, Banane, Apfel). Die Kategorien geben uns eine erste Idee davon, wo unsere sinnlichen Wahrnehmungen einzuordnen sind. • Mit unserer Vernunft konstruieren wir einen Sinn für die Kombination der wahrgenommenen und benannten Fakten (Kausalitätsbildung, Interpretation, Assoziation, Übereinkunft). • Unsere Vernunft ist ein soziales Organ. Mit ihr entscheiden wir, wann eine Faktenkombination als Aussage sinnvoll für uns und unser Zusammenleben ist. Deshalb ist unsere Vernunft die Quelle unserer Moral, sie ist ein systemisches Organ. • Raum und Zeit sind absolute Größen – sie sind immer wahr, denn ohne Raum hätten wir keinen Platz zu sein, und ohne Zeit bliebe uns keine Zeit zu sein.
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• Wir können nur als wahr annehmen, was wir sinnlich wahrnehmen können. • Deshalb können wir nicht wissen, ob Gott existiert. Um aber unserem Leben einen höheren Sinn zu geben, brauchen wir Gott als regulative Idee – als solche sorgt sie dafür, dass unser Dasein einen höheren Zweck hat. Die regulative Idee von Gott regelt durch die Behauptung göttlicher Regeln unser Miteinander. Wie der Vorgang der Erkenntnis nach Kant zu verstehen ist, lässt sich einfach an den Zeilen von Stephen Hawking demonstrieren (Abb. 3.4). Wir sehen hier eine Aneinanderreihung von Zahlen und Buchstaben, die in dieser Konstellation für uns zunächst keinen Sinn zu machen scheinen. Wir glauben aber schnell, dass es sich hier um eine Aussage handeln könnte, weil es sich – durch die kleineren Buchstaben der letzten Zeile nach dem Punkt – um ein Zitat handeln könnte. Diese Annahme ist durch Usancen der Schriftsetzung gelernt. Wir sind darin geübt. Weil wir zunächst also heuristisch von einer Aussage ausgehen, suchen wir nun (bewusst oder unbewusst) nach einem Muster, nach dem wir die Komposition dekodieren können. Mustererkennung ist ein Akt der Intelligenz (lateinisch „intellegere“ = einsehen, verstehen begreifen/eigentlich: dazwischen lesen, deshalb meint Intelligenz die Fähigkeit, die Verbindungen zu erkennen). Wir brauchen also unseren intelligenten Verstand und unsere Vernunft, um eine Erkenntnis zu produzieren, die Sinn macht. Nach der Dechiffrierung der Zeichen lautet unsere Aussage jetzt: INTELLIGENCE IS THE ABILITY TO ADAPT TO CHANGE. -STEPHEN HAWKING/ INTELLIGENZ IST DIE FÄHIGKEIT, SICH DEM WANDEL ANZUPASSEN. -STEPHEN HAWKING. Wir haben also wirklich etwas erkannt, was da so nicht steht, tatsächlich aber das einzige zu sein scheint, was einen Sinn ergibt (und damit bestätigen wir die von uns vermutete Aufgabe und wähnen uns intelligent). Nun zeigen wir es anderen Personen (wir testen, ob sie auch so intelligent sind wie wir), und auch für sie scheint die gefundene Lösung sinnvoll zu sein (natürlich nur für die Intelligenten).
Abb. 3.4 Stephen Hawking
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
Unsere automatische intersubjektive Vereinbarung darüber, was da geschrieben steht (obwohl es da nicht steht), führt nun zu einer Art Intelligenztest – wir prüfen, ob andere auch in der Lage sind, den Text zu dekodieren, und wenn ja, bekommen sie eine höhere Intelligenzbewertung als jene, die es nicht lesen können. So kreieren wir gemeinsam (intersubjektiv) eine Wirklichkeit, die es eigentlich nicht gibt, die jetzt aber als wahr gilt, weil sie verbindlich bei allen wirkt (jedenfalls bei denen, die intelligent sind). Diesen Vorgang bauen wir jetzt zu normativen Intelligenztests aus, die schließlich mit definierten Intelligenzquotienten aufwarten, mit denen wir alle messbar sind. Der Satz, der da nicht steht, den aber alle lesen können, wird so zu den neuen Kleidern des Kaisers. So können wir uns in unserer Klugheit präsentieren. Kurz gefasst
Kant sagt: Das Ding an sich – die Wahrheit – muss erst durch uns hindurchgehen (uns transzendieren), um zu unserer ganz persönlichen (subjektiven) und später dann durch Übereinkunft zu unserer sozialen (intersubjektiven) Wahrheit zu werden. Wir können die (objektive) Wahrheit zwar nicht erkennen. Wir können uns aber vernünftig – im Sinne eines guten Miteinanders – auf eine Wirklichkeit einigen, die wir gemeinsam als Wahrheit anerkennen.
Kants Wahrheitsverständnis war sozial (systemisch) konnotiert und kulminierte in seinem kategorischen Imperativ: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. (Kant 1900)
Er selbst stellte die Zeit der Aufklärung unter das lateinische Motto: sapere aude = wage es, weise zu sein. Damit meinte er, wir sollten autonom und frei von Autoritäten denken. Unsere Vernunft – vernünftig gebraucht – würde uns auf den richtigen Weg und vor allem: zueinander bringen. Mit Blick auf die Aufstellungsarbeit zeigt sich hier ein interessanter Aspekt: Für Kant ist die soziale Vernunft unser gradmessendes Organ für Zugehörigkeit und zugleich Wegweiser für intersubjektive Wahrheit, welche die wesentliche Qualität einer regulativen Idee hat. Hellinger bezeichnete das schlechte Gewissen als Hinweisgeber für Regeln der Zugehörigkeit. Im Abgleich beider Verständnisse erscheint hier das Gewissen als „soziales Wahrnehmungstentakel“ unserer Vernunft. Kant steht für das Zeitalter der Aufklärung, und interessanterweise ist das englische Wort für Aufklärung „enlightment“, was zurückübersetzt wiederum Erleuchtung bedeutet. Seit Kant jedenfalls verstehen wir uns als aufgeklärt, und das impliziert: Unsere Wahrnehmung ist immer subjektiv, und unsere intersubjektive Wahrheit muss in jedem Fall sinnvoll für unser Miteinander sein. Wie die Dinge und Zusammenhänge an sich sind, können wir nicht erkennen – bzw. wir können nicht wissen, ob wir sie erkennen können,
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weil sie immer erst durch unseren Erkenntnisapparat wandern müssen, bevor wir sie erkennen. Kant nannte das: „transzendentale Erkenntnis“ (Abb. 3.5). Eigentlich ist die Theorie der transzendentalen Erkenntnis in Bezug auf Wahrheit in sich widersprüchlich: Wenn wir nur transzendental erkennen können, dann können wir keine Aussage machen, derer wir uns 100 % sicher sind. Genau das aber beanspruchte Kant für sich: Er war sicher, die Wahrheit über die Erkenntnis der Wahrheit erkannt zu haben. Und wir? Wir erklären uns für aufgeklärt, während wir irgendwo in unserem Hinterkopf noch immer davon überzeugt sind, dass wir die objektive Wahrheit erkennen können – und debattieren lustig weiter. Es ist spannend, unter diesem Aspekt noch einmal über das Aufstellungsgeschehen und phänomenologische und konstruktivistische Ansätze nachzudenken.
Mehr davon In Abschn. 3.4 („Phänomenologie und Konstruktivismus“) finden Sie weitere Ausführungen zu Wahrheit und Erkenntnis.
3.2.3.3 Die dritte Idee über die Wahrheit Die dritte Überzeugung über die Wahrheit lautet: Es ist wahr, dass wir nicht wissen, ob es eine absolute Wahrheit gibt, weil wir sie nicht erkennen können (Abb. 3.6). Wie immer in der Geschichte hat sich die dritte Überzeugung über die Wahrheit förmlich nahtlos aus der zweiten herausgeschält und ist noch einen Schritt weitergegangen. Nachdem Albert Einstein zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Beweis antrat, dass auch
Abb. 3.5 Wie man die Wahrheit erkennt
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
Abb. 3.6 Drei Ideen zur Wahrheit, Idee 3
Zeit und Raum keineswegs absolute, sondern vielmehr relative Größen sind (anders, als Kant das noch vermutete), kulminierten Kants transzendentale Erkenntnis und Einsteins Relativitätserkenntnisse in der Theorie des Konstruktivismus, der alle unsere Erkenntnisse als alternativ radikal subjektive (Radikaler Konstruktivismus) oder maximal intersubjektive Konstruktion (Methodischer Konstruktivismus) versteht. Der Begründer des Radikalen Konstruktivismus war der deutsche und später irisch-US-amerikanische Philosoph Ernst von Glasersfeld (1917–2010). Er sagte, das Kernproblem der abendländischen Erkenntnistheorien sei es, „erkennen zu wollen, was außerhalb der Erkenntniswelt liegt“ (von Glasersfeld 1992) Mit dieser Einschätzung folgte von Glasersfeld unter anderem dem Psychologen und Erkenntnistheoretiker Jean Piaget, der davon überzeugt war, … dass die kognitiven Strukturen, die wir „Wissen“ nennen, nicht als „Kopie der Wirklichkeit“ verstanden werden dürfen, sondern vielmehr als Ergebnis der Anpassung. (von Glasersfeld 1992, S. 29).
Mehr davon In Abschn. 3.3 („Wahrnehmung“) und Abschn. 3.4 („Phänomenologie und Konstruktivismus“) lesen Sie mehr über die Frage, wie der radikale Konstruktivismus zu seinen Erkenntnissen gekommen ist.
Die radikalen Konstruktivisten sind als Vertreter einer Theorie zu verstehen, die jede Form von Wahrnehmung und Erkenntnis als radikale Wirklichkeitskonstruktion des Subjekts versteht. Und natürlich ist auch diese Wahrheitstheorie gewissermaßen ein Widerspruch in sich: Wenn wir alles radikal konstruieren, dann können wir nicht wissen, ob diese Theorie an die Wahrheit rührt.
3.2 Wahrheit und Wirklichkeit
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Kurz gefasst
Es gibt drei Überzeugungen über die Wahrheit: • Es gibt eine objektive Wahrheit, die wir erkennen können. Wir müssen nur herausfinden, welche die einzig wahre Wahrheit ist. • Es gibt eine objektive Wahrheit, aber wir können sie nicht erkennen, Wahrheitsfindung ist ein sozialer Akt der Vernunft. • Wir wissen nicht, ob es die eine Wahrheit gibt, weil wir sie nicht erkennen können. Alle unsere Wahrnehmungen und Erkenntnisse sind (radikal) konstruiert.
3.2.4 Von der Wahrheit zur Wirklichkeit Vielleicht haben Sie beim Lesen gemerkt, dass Ihnen einiges bekannt vorkommt, und dass wir – meist unbewusst und unreflektiert – von diesen Wahrheitsideen dominiert sind – je nachdem, wie sie uns gerade „in den Kram“ passen. Sie widersprechen einander und sind zum Teil auch in sich selbst widersprüchlich. Sie beherrschen in Summe dennoch unser abendländisches Denken und damit natürlich auch unsere Wahrnehmungen. Dass wir einen ausschließlich gedachten Zugang zur Wahrheit haben, scheint irgendwie klar zu sein. Dass auch Wahrheit als solche nur gedacht ist, will sagen eine menschliche Phantasie, ist – zumindest an dieser Stelle – nicht als falsche oder richtige Aussage zu definieren. Was wir sicher sagen können: Die jeweiligen Perspektive auf eine vermeintliche Wahrheit macht den Reichtum einer jeden Kultur aus. Oft aber sprechen wir über Aufstellungsarbeit so, als sei sie „übernatürlich“, allem Irdischen und Organismischen übergeordnet, beinahe heilig und jenseits kultureller Setzungen, was wiederum mit der Art der Wahrnehmung zu tun hat, in der wir uns im Aufstellungsgeschehen üben.
Mehr davon Über die Wahrnehmung in Aufstellungen finden Sie umfassende Betrachtungen im nächsten Abschn. 3.3.
Mit unseren Ausführungen über die verschiedenen Wahrheitstheorien möchten wir eine Offenheit bei unseren Teilnehmern gegenüber den verschiedenen Verständnisansätzen bewirken. Wir möchten auch deutlich machen, dass immer wir es sind, die aus dem Meer der unendlichen Möglichkeiten eine dieser Möglichkeiten herausnehmen und dann sagen: „So ist das jetzt. Das ist meine Wahrheit.“ Denn genau in diesem Moment wird die subjektive Wahrheit zur Wirklichkeit, und das ist das eigentlich machtvolle Phänomen, dem wir in Aufstellungen begegnen: Wir schauen und nehmen wahr, was wir dann benennen: „So ist das“. Das, was wir wahrnehmen, wird zu dem, was wirkt. Und das, was wirkt, wird für uns zur Wirklichkeit. Ihr haben wir uns dann zu stellen.
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
Der deutsche Quantenphysiker Werner Heisenberg (1901–1976) sagte dazu: Die Naturwissenschaft steht nicht mehr als Beschauer von der Natur, sondern erkennt sich selbst als Teil dieses Wechselspiels zwischen Mensch und Natur. Die wissenschaftliche Methode des Aussonderns, Erklärens und Ordnens wird sich der Grenzen bewusst, die ihr dadurch gesetzt sind, dass der Zugriff der Methode ihren Gegenstand verändert und umgestaltet, dass sich die Methode also nicht mehr vom Gegenstand distanzieren kann. Das naturwissenschaftliche Weltbild hört damit auf, ein eigentlich naturwissenschaftliches zu sein. (Heisenberg 1956)
Das, was wir in einem transzendenten Erkenntnisprozess wahrnehmen, wird für uns zu dem, was wirkt. Das, was wirkt, wird für uns zur Wirklichkeit.
Hier gilt so gesehen das bekannte Thomas-Theorem der US-amerikanischen Soziologen Dorothy Swaine Thomas (1899–1977) und William Isaac Thomas (1863–1947): If men define situations as real, they are real in their consequences./Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren, erzeugen sie wirkliche Konsequenzen. (Thomas 1928)
In diesem Kontext möchten wir Ihnen von einem Aufstellungsexperiment erzählen, das unser portugiesischer Kollege Cecilio Fernandez Regojo auf einem ISCA-Kongress in Kroatien im Jahr 2018 vorgestellt hat. Seine Klientin arbeitete mit ihrem Mann in einer gemeinsamen Firma, und sie überlegte, ob sie aus dieser Zusammenarbeit aussteigen solle. Cecilio bat die Klientin, 4 Personen auszusuchen, ohne ihnen zu sagen, für wen sie stehen. Die 4 Personen wussten nur, dass sie Stellvertreter für das Paar, einmal in privater Konstellation und einmal in beruflicher Konstellation waren. Sie wussten nicht, für welche der 4 Positionen sie standen. Zugleich lud Cecilio die Zuschauer mit einer ähnlichen privat-beruflichen Konstellation ein, bei der Aufstellung mitzumachen. Er bat sie, still für sich zu entscheiden, welche beiden Stellvertreter für ihr privates und ihr berufliches Ich und welche beiden für den privaten und den beruflichen Partner stünden. Dann forderte er alle auf, die Aufstellung zu beobachten, die er nun für die Klientin leitete. Nach einer gewissen Zeit beendete Cecilio die Aufstellung und startete eine Fragerunde. Jeder Zuschauer, der an der Aufstellung teilgenommen und die Stellvertreterpositionen verdeckt für sich definiert hatte, bestätigte, eine für sich stimmige Aufstellung gesehen zu haben, in der sich für ihn entscheidende Erkenntnisse ergeben hatten. Jeder hatte also eine eigene verdeckte Stellvertreterbesetzung und eine eigene Geschichte mit eigenen Lösungsansätzen oder zumindest Erkenntnissen gesehen. Dann fragte Cecilio nach der Einschätzung über die Dauer der Aufstellung, und die Antworten rangierten zwischen 20 und 30 min. Tatsächlich hatte die Aufstellung ganze 7 min gedauert. Dieses Experiment zeigt eindrücklich das Prinzip der Entstehung von Wirklichkeit. Es zeigt damit auch, dass das Anliegen des Klienten darüber entscheidet, was die Aufstellung zeigt – was u. a. quantenphysikalischen Experimenten zur Entstehung der Wirklichkeit aus der Überlagerung von Möglichkeiten entspricht (s. auch das oben erwähnte Buch „Warum funktionieren Aufstellungen?“ von Stephanie Hartung).
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Der Klient sieht das, was für ihn wichtig ist, und solange sich die Zuschauer dem Anliegen dieses einen Klienten widmen, sehen sie durch seinen intentionalen Blick dasselbe. In dem Moment aber, wo sie mit eigenen Intentionen oder Anliegen auf das Aufstellungsgeschehen blicken, erkennen sie etwas anderes. Die Quantenphysik sagt, dass es einen (konsistenten) Urzustand der Überlagerung sämtlicher Möglichkeiten gibt, die sogenannte Superposition. Erst im Moment der Begegnung (Betrachtung) kollabieren die Wellen, und eine der unzähligen Möglichkeiten zeigt sich als existent (Abb. 3.7). In der Konsistenz sind alle Möglichkeiten zugleich enthalten, ihre Menge ist endlos, ebenso wie die Zahl ihrer möglichen Betrachter. Erst im Moment der Betrachtung (der Herstellung einer Verbindung) zeigt sich beim Heraustreten eine der unzähligen Möglichkeiten als das, was wahrzunehmen ist und somit wirklich wird.
Erst im Moment der Begegnung entsteht das sich offenbarende Ergebnis. Und erst mit diesem entstehen Wahrheit und Wirklichkeit.
… die sogenannte Schrödingergleichung … ist eine mathematische Differentialgleichung für eine gesuchte Funktion von einer oder mehreren Variablen, die seitdem einen wichtigen Stellenwert in der Quantenmechanik hat. Mit ihr können viele sogenannte Supereigenschaften von Elementarteilchen, die diese vor einer Messung haben, errechnet und erklärt werden. Die Supereigenschaften beinhalten immer ein es ist sowohl als auch möglich. Sie beschreiben den Zustand der einander überlagernden Wahrscheinlichkeiten vor einer intentionalen Beobachtung. Für die Erklärung, warum ein Elementarteilchen nach seiner Messung keinen wahrscheinlichen, sondern einen ganz bestimmten Zustand annimmt, entwickelte sich in jüngerer Zeit in Abgrenzung zur Kopenhagener Deutung die Vermutung, dass nicht die Messung durch den Beobachter, sondern vielmehr die Beziehung zwischen Beobachter und Beobachtetem dafür sorgt, dass sich ein bestimmtes Ergebnis zeigt. Die Theorie, die sich aus dieser Vermutung entwickelt hat, heißt: Koheränztheorie. (Hartung 2014, S. 22–24)
Abb. 3.7 Konsistenz – Existenz
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
3.3 Wahrnehmung 3.3.1 Einführung Dass unsere Wahrnehmungen eng mit unserer Vorstellung von Wahrheit verbunden sind, haben wir in Abschn. 3.2 („Wahrheit und Wirklichkeit“) dargelegt. In diesem Abschnitt betrachten wir die verschiedenen Formen und Tendenzen unserer Wahrnehmung, die in Aufstellungen eine wesentliche Rolle haben. Wir stellen außerdem verschiedene Wahrnehmungsübungen vor, die die Lehrinhalte in eine praktische Erfahrbarkeit übersetzen.
3.3.2 Umfangreiches Wahrnehmungssensorium Die Frage angesichts unserer verschiedenen Wahrheitstheorien ist: Wie nehmen wir eigentlich wahr? Welches Instrumentarium steht uns dafür zur Verfügung? Müssen wir Wahrnehmung rein physisch/mental verstehen, so wie die Erkenntnistheorien und Kant das zu beschreiben versucht haben? Oder gibt es Dimensionen der Wahrnehmung, die sich einem körperlichen Zugriff in gewisser Hinsicht entziehen, für die man aber dennoch einen Körper als Resonanzraum und ein Bewusstsein braucht? Für die Lehre der Aufstellungsarbeit ist das eine wesentliche Frage, denn das zentrale Element einer jeden Aufstellung ist ja der Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozess. Wie genau dieser abläuft und was genau dabei geschieht, ist – was die fundierten Begründungen hierfür betrifft – bis heute tatsächlich nur in Teilen bekannt. Zunächst können wir festhalten, dass wir für alle Formen der Wahrnehmung unseren Körper – als Verbindungselement und/oder als Resonanzraum – brauchen. Dabei verfügen wir über verschiedene Möglichkeiten wahrzunehmen. Wir kennen die sinnliche Wahrnehmung. Und wir kennen die Wahrnehmung, die über die Sinne hinausgeht. Wir nennen sie hier in Anlehnung an die Neue Phänomenologie leibliche Wahrnehmung. Und schließlich gibt es die intuitive Wahrnehmung – oft auch einfach Intuition genannt (lateinisch „intuitio“ = unmittelbare Anschauung). Sie bezeichnet die Fähigkeit, Einsichten in Sachverhalte oder Gesetzmäßigkeiten ohne diskursiven Gebrauch des Verstandes zu erlangen. Intuition wäre also die heuristische Wahrnehmung von Zusammenhängen und Mustern – und hier ist offengelassen, ob der Erkenntnis eines Musters eine sinnliche (körperliche) oder eine leibliche Wahrnehmung als Auslöser vorangeht. Für die intuitive Wahrnehmung gilt: Sie vollzieht sich in Musterstrukturen. Mit der sinnlichen Wahrnehmung sind wir (gedanklich) vertrauter als mit der leiblichen, wobei letztere im Aufstellungsgeschehen eine zentrale Bedeutung hat. Bevor wir die verschiedenen Wege der Wahrnehmung näher betrachten, stellen wir Ihnen eine Wahrnehmungsübung vor, durch die Ihre Teilnehmer Erkenntnisse über ihre Bewusstseinsprozesse, Wahrnehmungen und Assoziationen gewinnen können.
3.3 Wahrnehmung
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Wahrnehmungsübung 1: „Von mir zum Ziel“ Das Ziel der Wahrnehmungsübung ist es, Erkenntnisse über Bewusstseinsprozesse, Wahrnehmungen und Assoziationen zu gewinnen und dabei zu erfahren, wie der Körper Themen und Dynamiken ausdrückt. Ausgangssituation Die Übung wird in Paaren gemacht. A und B einigen sich darauf, wer A ist und beginnt. A sucht sich einen Gegenstand als Symbol für sein Ziel, das benannt werden kann – aber nicht muss. Intuitiv positioniert A sein Ziel im Raum. Prozess/Struktur/Zeit Zunächst blickt A auf sein Ziel. Wenn er einen Impuls verspürt, beginnt er, sich dem Ziel ganz langsam, Schritt für Schritt zu nähern (Abb. 3.8). B stellt Fragen wie: • • • • •
Was spürst Du, wenn Du auf Dein Ziel blickst? Verspürst Du einen Impuls, Dich auf das Ziel zuzubewegen? Wie reagiert Dein Körper auf die Annäherung? Beobachte Deinen Gedankenfluss und lass ihn weiterziehen. Atme Dein Ziel in Dein Herz ein … was geschieht?
Abb. 3.8 Wahrnehmungsübung „Von mir zum Ziel“
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
B begleitet A auf seinem Weg. Nach der etwa 10-minütigen Annäherung setzen sich beide für ca. 10 min zum Austausch zusammen. A erzählt, was er auf seinem Weg zum Ziel erlebt hat. Anschließend erzählt B, was er bei A wahrgenommen hat. Reflexion A und B benennen jeweils 3 Erkenntnisse, die sie aus dem eigenen Erleben und aus der Beobachtung des anderen gewonnen haben.
3.3.3 Sinnlich – Wahrnehmung mit dem Körper Als Definition für Wahrnehmung finden wir sinngemäß folgende Beschreibung: Wahrnehmung geschieht über die Sinne und bezeichnet gleichermaßen sowohl den Prozess als auch das Ergebnis einer Informationsgewinnung und -verarbeitung von äußeren und inneren Reizen. Die so beschriebene Wahrnehmung der äußeren Reize der Außenwelt wird mit Exterozeption bezeichnet, die Wahrnehmung der inneren Reize des eigenen Köpers mit Interozeption. Innerhalb der Interozeption bezieht sich die Propriozeption auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner Bewegung im Raum, die Viszerozeption auf die Wahrnehmung der Vorgänge im Körper, insbesondere von Organtätigkeiten (Abb. 3.9). Sinnliche Wahrnehmung ist kein einzelner Moment. Sinnliche Wahrnehmung ist ein Prozess, der durch ein teils unbewusstes, teils bewusstes Filtern und anschließendes Komponieren von Teilinformationen zu subjektiv sinnvollen Gesamteindrücken beschrieben werden kann. In Biologie und Neurobiologie wird Wahrnehmung als organismische Fähigkeit definiert, über die Sinnesorgane Reize und Informationen aufzunehmen und im Hirn zu verarbeiten. Dem wissenschaftlichen Ansatz folgend, werden hierbei ausschließlich biochemische und neurobiologische Prozesse des Körpers beschrieben. Eine Erläuterung, die verstehen lässt, wie spezifische Inhalte zustande kommen, bleibt aus (neuro-)biologischer Sicht aus. Das folgt unserer konsequenten Trennung von Physis und Psyche ebenso wie der Trennung in Natur- und Geisteswissenschaft. Es trägt schließlich der Tatsache Rechnung, dass wir bis heute keine wissenschaftliche Aussage über das Bewusstsein machen können. Ohne Bewusstsein, soviel zumindest scheint klar, gäbe es keine Wahrnehmung, denn diese ist eng an das Ich-Bewusstsein gebunden. Wie dieses Ich im Laufe der Menschheitsgeschichte entstanden ist, ob es eine Art unzerstörbaren Kern darstellt oder nur eine flüchtige Illusion und ob es sich jemals gänzlich wird entschlüsseln lassen – über all diese Fragen streiten die Gelehrten auch heute noch, trotz (oder gerade wegen) der rasanten Fortschritte der Neurowissenschaft. Die Konfliktlinie verläuft zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, geht aber mitunter auch quer durch die Disziplinen. In einem hellen Büro in den modernen Institutsräumen philosophiert sein Chef Michael Tomasello [Anmerkung: Child Lab des Leipziger Max-Planck-Instituts (MPI) für evolutionäre Anthropologie]. Menschliches Selbstbewusstsein, sagt der gebürtige
3.3 Wahrnehmung
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Abb. 3.9 Sinnliche Wahrnehmung Amerikaner, sei weniger ein Ausdruck individueller geistiger Fähigkeiten, sondern vor allem das Talent, ein kulturelles System aufzusaugen, mit anderen Menschen zu kommunizieren, zusammenzuarbeiten und von anderen zu lernen … die Menschen stechen als „ultrasoziale Wesen“ hervor. Ihr Bewusstsein entsteht durch spezielle und hoch entwickelte Formen sozialer Fähigkeiten, bei der Interaktion mit anderen – etwas, das Tomasello „kulturelle Intelligenz“ nennt. Der Philosoph Jürgen Habermas lobte Tomasellos Forschung als „ingeniös“. Nur der Mensch, so Habermas’ Subtext, habe einen freien Willen – und könne auch wider seine eigenen Interessen handeln. Wie Hirnforschung und Psychologie zeigen, wird der Mensch häufig von seinen (oft unbewussten) Interessen gesteuert und entscheidet alles andere als bewusst. Viele Neurowissenschaftler bezweifeln daher, dass er einen freien Willen habe; sie beschreiben ihn eher als biologische Maschine, die nach einem festen Regelwerk ablaufe. Wie sehr das Bewusstsein an die Arbeit bestimmter Hirnzentren gebunden ist, bestätigte vor wenigen Jahren ein heikles Experiment in einer New Yorker Klinik. Dort versuchten Ärzte, das verloren geglaubte Bewusstsein eines Menschen einfach wieder anzuknipsen. Durch ein Loch in seinem Kopf schob das Team von Nicholas Schiff feine Elektroden unter die Schädeldecke eines 38-jährigen Mannes. In einer tief gelegenen Region namens Thalamus wurden die Drähte verankert. Nach schweren Hirnverletzungen hatte der Patient sechs Jahre lang im Wachkoma gelegen, die Ärzte hatten alle Hoffnung aufgegeben, dass er von selbst erwachen könnte. Dennoch schienen Teile seines Großhirns unverletzt und
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
intakt. Und tatsächlich: Als die Mediziner Strom auf die Elektroden leiteten, erwachte der Komatöse; zumindest ein Teil seines Bewusstseins kehrte zurück. Doch diese Art von Wachheit ist nur die erste Stufe auf dem Weg zum Ich … So zeigte der spektakuläre Versuch vor allem, … wie sehr die Entstehung des Bewusstseins von der knapp 1,5 Kilogramm schweren Neuronenmasse in unserem Schädel abhängt. Der Thalamus im Mittelhirn ist eine Schlüsselstelle. Er reguliert nicht nur Schlaf und Erwachen, sondern dient auch als Eintrittspforte ins Großhirn. Er filtert alle äußeren Informationen und vermittelt sie höheren Hirnzentren in den Stirn- und Scheitellappen, wo sie zu bewusstem Erleben werden. Mit dieser Art von Erleben hat sich der 72-jährige amerikanische Hirnforscher Michael Gazzaniga zeit seines Lebens beschäftigt. Ähnlich wie für Tomasello ist für ihn unser Ich ein „Produkt der Evolution“. Allerdings stellt er im Gegensatz zu Habermas fest: Das Gefühl, dass wir selbstbestimmt handeln und Entscheidungen treffen, sei nur eine Illusion; eine Illusion, die unser Gehirn selbst hervorbringe und mit der es uns „permanent in die Irre“ führe. Daraus folgert Gazzaniga: In der linken, sprachbegabten Gehirnhälfte sitze „eine Art Geschichtenerzähler“, der ständig eine schlüssige Interpretation der Wirklichkeit liefere – auch wenn diese Interpretation auf purer Erfindung beruhe. Und genauso verhalte es sich mit unserer Vorstellung eines bewussten Ich, das zeitlich konstant bleibe. Auch diese Vorstellung sei nichts anderes als eine gute Erzählung des Gehirns, das all unsere Erfahrungen … in die stimmige Story eines Ich verwandele. Dabei ist dieses Ich alles andere als konstant. Schon biologisch sind wir in ständiger Wandlung begriffen … Dass wir trotz dieser unaufhörlichen Vergänglichkeit den Eindruck haben, stets dasselbe Ich zu sein, gehört für Gazzaniga zu den Meisterleistungen unseres Gehirns. Einen Einblick in diese Konstruktionsleistung des Gehirns liefert auch die Forschung von Olaf Blanke. Der groß gewachsene, schlaksige Deutsche leitet an der École Polytechnique in Lausanne das Labor für kognitive Neurowissenschaften und erkundet mithilfe von trickreichen Videoaufnahmen und virtueller Realität die körperliche Basis unseres Selbstbewusstseins. Denn für Blanke beginnt die Erforschung des Ich nicht mit dem klassischen Philosophenproblem „Wer bin ich?“, sondern mit der viel fundamentaleren Frage „Wo bin ich?“. Am Anfang des Selbstbewusstseins stehe zunächst einmal das existenzielle Gefühl, „einen Körper zu haben und zu wissen, dass unser Körper zu uns gehört, dass er eine räumliche Einheit bildet, aus deren Innerem heraus wir sehen, hören und empfinden“, sagt Blanke. Das klingt selbstverständlich. Doch seine Erfahrung hat den Neurologen gelehrt, dass dies alles andere als banal ist. Und dann war da noch jene Epilepsie-Patientin, bei der Blanke vor einigen Jahren mit feinen Elektroden verschiedene Hirnareale stimulierte – und dadurch eine unerwartete Körpererfahrung auslöste: Plötzlich hatte die Frau das Gefühl, ihren Körper zu verlassen. „Ich fühle mich leicht und schwebe in etwa zwei Meter Höhe“, berichtete die 43-jährige Patientin. „Unten sehe ich meinen Körper auf dem Bett liegen.“ Als Blanke die Elektrode deaktivierte, hörte das Phänomen schlagartig auf; als er den Stromfluss wieder einschaltete, meinte die Frau prompt wieder abzuheben. Ohne es zu wollen, hatte der Neurologe eine Out-of-Body-Erfahrung ausgelöst. Jahrhundertelang galten solche „außerkörperlichen“ Erlebnisse als Hinweis auf die Existenz einer Seele. Zugleich schienen sie ein schlagender Beweis für den sogenannten Dualismus zu sein, dem zufolge Körper und Geist getrennten Sphären angehören. Am deutlichsten hat
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diese These im 17. Jahrhundert der Philosoph René Descartes formuliert: Für ihn war die res extensa, die „ausgedehnte Körpersubstanz“, streng verschieden von der res cogitans, der „ausdehnungslosen denkenden Substanz“ – eine Theorie, die ihn zu seinem berühmten Diktum „cogito, ergo sum“ (Ich denke, also bin ich) führte. „Video, ergo sum“, hält Olaf Blanke heute Descartes entgegen. „Ich sehe, also bin ich.“ Dem Neurologen zufolge sind Out-of-Body-Erfahrungen nämlich kein Beleg für die Dualität von Geist und Körper, sondern eher ein Hinweis auf den permanenten Konstruktionsprozess unseres Gehirns. „Es entwirft aus allen Inputs, die es bekommt, ein möglichst konsistentes Bild des Körpers und des Selbst“, sagt Blanke. „Und wir können zeigen, wie leicht sich dieses Bild stören und manipulieren lässt.“ (Bahnsen und Schnabel 2012)
Das ausführliche Zitat von Ausschnitten einer Wissenschaftsreportage über den Stand der Forschungen zu Wahrnehmung und Bewusstsein zeigt: Es ist nicht leicht, eine fundierte Aussage über sinnliche Wahrnehmung und Bewusstsein zu machen – wir wissen noch immer zu wenig. So können wir hier nur den Stand des heutigen divergenten Wissens wiedergeben.
Bis heute gibt es keine wissenschaftliche Erklärung zum Phänomen des Bewusstseins. Als sicher und „State of the Art-Wissen“ gilt: Wahrnehmung ist an die Sinne des Körpers gebunden und kann maßgeblich beeinflusst werden.
Wir wissen immerhin, dass unsere sinnliche Wahrnehmung an unseren Körper gebunden ist und durch elektrische Impulse maßgeblich beeinflusst werden kann. Und wir wissen durch Experimente mit Drogen außerdem, dass eine veränderte Sauerstoffkonzentration im Hirn veränderte Wahrnehmung und – mit dieser – ein verändertes Bewusstsein mit sich bringt. Mit dem Entstehen von Inhalten im sinnlichen Wahrnehmungsprozess befasst sich die allgemeine Psychologie. Natürlich bietet sie keine kausallogische Erklärung dazu, wie aus Impulsen Denkinhalte werden. Sie konzentriert sich auf das Deskriptive und beschreibt Wahrnehmung als einen mentalen Prozess der Aufnahme und subjektiven Interpretation von Sinneseindrücken. Nicht gleich jeder Reiz wird zu einer Wahrnehmung, zu dieser kommt es laut psychologischer Definition nur, wenn der Sinneseindruck anschließend kognitiv verarbeitet wird. Dabei sind dem Wahrnehmenden nur solche Informationen wichtig, die er in Bezug zu seinem eigenen Verhalten verstehen und/oder seinen Bedürfnissen angleichen kann. Durch die konsequent starke Filterung der Eindrücke wird das Ergebnis des Wahrnehmungsprozesses – unsere jeweilige Erkenntnis – so höchst subjektiv. Ähnlich wie oben in der allgemein gültigen Definition beschreibt auch die Psychologie die sinnliche Wahrnehmung als Gewinn äußerer und Verarbeitung innerer Reize. Die äußere Wahrnehmung umfasst dabei die Umweltinformationsverarbeitung. Die innere Wahrnehmung beschreibt die Gesamtheit der intern ablaufenden Prozesse, zu denen auch die Gefühlsregulation gehört. Die sinnliche äußere und innere Wahrnehmung hat verschiedene Formen bzw. sie geschieht über verschiedene Kanäle:
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
Visuelle Wahrnehmung Bei der visuellen Wahrnehmung geht die Reizaufnahme durch das Auge. Hierbei können Gestalt, Größe, Farbe, Helligkeit, Kontrast oder kurze Entfernungen und Räumlichkeiten wahrgenommen werden. Auditive/akustische Wahrnehmung Bei der auditiven Wahrnehmung geht die Reizaufnahme über das Gehör. Hierbei können Geräusche, Laute, Töne, Wörter und Rhythmen wahrgenommen werden. Gustatorische Wahrnehmung Bei der gustatorischen Wahrnehmung geht die Reizaufnahme über die Zunge. Dabei kann zwischen süß und sauer, bitter und salzig sowie umami (herzhaft-intensiv, fleischig) unterschiedenen werden. Zwar können wir mit der Zunge und dem gesamten Mundraum auch heiß und kalt voneinander entscheiden. Diese beiden Qualitäten gehören jedoch nicht zum Geschmackssinn, sondern werden vielmehr der taktilen Wahrnehmung zugerechnet. Olfaktorische Wahrnehmung Bei der olfaktorischen Wahrnehmung geht die Reizaufnahme über den Geruchssinn. Das Wahrnehmungsorgan Nase kann unzählige Gerüche identifizieren. Taktile Wahrnehmung Bei der taktilen Wahrnehmung geht die Reizaufnahme über das größte Wahrnehmungsorgan – die Haut. Über sie nehmen wir die Qualität von Berührung unter den Aspekten Weich- bzw. Härtegrad, Druckintensität, spitz oder flach sowie Temperatur – heiß bis kalt – wahr. Kinästhetische Wahrnehmung Hier ist der Bewegungs-, Kraft- und Stellungssinn gemeint. Kinästhesie beschreibt die Wahrnehmung der Empfindung von Bewegungen in Muskeln und Gelenken. Vestibuläre Wahrnehmung Diese Wahrnehmung beschreibt den Gleichgewichtssinn, der im Innenohr liegt und für Lageänderung und Bewegungskoordination zuständig ist.
3.3.3.1 Der sinnlichen Wahrnehmung einen Sinn geben Wir sehen, hören, riechen, tasten und schmecken mit unseren Sinnen. Die sinnliche Wahrnehmung gibt uns selten Anlass zu Meinungsverschiedenheiten, solange sie sich – jenseits von Bewertung und Assoziation – auf einzelne Fakten beschränkt. Wir sehen ein Gebäude, hören ein Gespräch, riechen eine Blume, schmecken etwas Saures oder ertasten ein Fell. Die Fakten sind jedoch lediglich der Ausgangspunkt für unsere Inter-
3.3 Wahrnehmung
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pretation dessen, was wir sinnlich wahrnehmen. In der Regel sehen wir nicht nur einfach ein Gebäude oder hören ein Gespräch – wir sehen vielmehr z. B. ein imposantes, modernes Gebäude, wir hören ein emotional erregtes, unangenehm lautes Gespräch oder riechen den betörenden Duft einer wunderschönen Blume. Wir kombinieren die Fakten mit einem bewertenden Adjektiv, wir kategorisieren automatisch das, was wir über die Sinne wahrnehmen. Ohne Bewertungskategorie scheinen die Wahrnehmungen für uns keinen Sinn zu ergeben. Außerdem wollen wir die wahrgenommenen Fakten auch begreifen können. Begreifen bedeutet einerseits neurobiologisch synaptische Verbindungen aus den Reizen bilden – und andererseits psychologisch inhaltlich verstehen. Warum sagen wir begreifen? Warum sagen wir nicht verstehen? Begreifen ist ein viel körperlicherer Begriff als verstehen, er klingt irgendwie diesseitiger. Begreifen bedeutet auch: „anfassen“ oder „mit der Hand berühren“. Damit wir etwas anfassen können, müssen wir wissen, wo genau es sich in Bezug zu uns befindet. Wo wir uns befinden, darüber denken wir nicht nach, denn für uns gibt es nur unseren Platz. Wir haben nur diesen einen Platz, an dem wir gerade sind. Wir sind immer da, wo wir sind. Wäre das nicht so, wären wir schließlich nicht da. Deshalb denken wir selten oder gar nicht darüber nach, dass wir in diesem einen Moment eine von Abermillionen möglichen Perspektiven einnehmen. Damit wir von unserem Platz etwas begreifen können, darf es nur so weit von uns entfernt sein, wie unser Arm lang ist. Maximal. Sonst wird es förmlich nichts mit dem Begreifen. Wenn wir die Welt begreifen wollen, dann muss sie uns zum Greifen nah sein. Dann können wir sie verstehen. Wie könnten wir die Welt verstehen, wenn wir sie nicht begreifen könnten? Also rücken wir die Welt auf eine „mentale Armlänge“ an uns heran. Dieses Heranrücken gleicht einer Selbstverortung: Hier ist mein Platz, an dem ich stehe, mein Standpunkt. Von dem aus blicke ich auf die Welt. Ich rücke sie nah genug an mich heran und mache sie mir dadurch begreifbar. Ich erkenne und benenne sie. Ich stehe fest auf meinen Standpunkt. Ich verbinde mich mit der Welt durch Begreifen, damit ich sie verstehe. Sie soll mir nah sein und ich will ihr nah sein. Wenn ich schon mal da bin. Begreifen ist auch: eine Verbindung herstellen. Wir bringen uns die Fakten nahe, indem wir sie zu einem für uns sinnvollen Zusammenhang komponieren und im Zweifel sogar etwas ergänzen, indem wir es dazu phantasieren. Dabei setzen wir das, was wir sinnlich wahrnehmen, in eine Beziehung zu uns selbst – in greifbarer Nähe. Unsere Synapsen erschaffen unsere Welt. Wir sehen Stuhl, Tisch, Essen und nehmen dann z. B. wahr: Da hat einer aufgetischt, weil er seine Freunde zum Essen eingeladen hat. Den gesamten Prozess nennen wir: sinnliche Wahrnehmung. Tatsächlich aber ist unsere sinnliche Wahrnehmung der einzelnen Fakten lediglich der Anlass für unsere subjektiven Assoziationen und Bewertungen. Möglicherweise nennen wir die Sinne deshalb auch so: Sie sind Teil eines Prozesses, an dessen Ende ein für uns sinnvolles Ergebnis steht.
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Unsere Wahrnehmungen sind der Anlass für die Entwicklung unseres Verständnisses von und unseres Zugangs zur Welt. Sinnliche Wahrnehmung ist sinnorientiertes individuelles Welterleben. Genau das meint auch der Terminus sinnliche Wahrnehmung: Wir nehmen mit Hilfe unserer Sinne etwas als wahr an, was wir in einen für uns sinnvollen – und deshalb für uns wahren – Zusammenhang gebracht haben. Dieser innere Zusammenhang ist ein denkbar maximal komplexes Gebilde aus unseren lebenslangen Erfahrungen und Begegnungen, das es in dieser Ausprägung kein zweites Mal gibt. Wir sind einzigartig und begreifen unsere Welt einzigartig. (Hartung 2014, S. 22–24)
Und schließlich sind wir davon beseelt, von den anderen verstanden zu werden. Denn im Moment des Verstehens entsteht eine Verbindung, die wir körperlich fühlen können. Beim Verstehen bildet sich eine synaptische Verbindung zwischen Zellen, deren Potenzial sich erst in der Vernetzung – an der Synapse – entfaltet.
Wahrnehmung ist ein Prozess, der die Fähigkeit umschreibt, Informationen aufzunehmen, sie zu einem kohärenten Muster zu verarbeiten und ihnen dadurch einen subjektiven Sinn zu geben.
Wahrnehmung ist demnach die Fähigkeit, Informationen aufzunehmen, sie zu begreifen und ihnen dadurch einen Sinn zu geben. Sie ist eine Kombination aus sinnlicher Reizaufnahme und psychisch-mentaler Verarbeitung. Die allgemeine Psychologie beschreibt den Wahrnehmungsprozess mit den folgenden Phasen: Reizübertragung/Auswahl Die Wahrnehmung und Aufnahme des Reizes geschehen durch ein Sinnesorgan. Über die Nerven wird der Reiz mit elektrischen Impulsen an die Großhirnrinde zur Verarbeitung geschickt. Globalauswertung/Organisation In der Großhirnrinde entsteht zunächst ein Gesamteindruck. Dieser Vorgang entspricht der groben Zuordnung des Wahrgenommenen zu Bedeutungskategorien (z. B. Haus, Natur, Nahrung etc.). Hierbei spielt die Synergie eine wichtige Rolle, denn es geht nicht darum, einzelne Reize, sondern ein Gesamtbild wahrzunehmen. Den Gestaltprinzipien entsprechend erfolgt die Organisation der Reize nicht zufällig, sondern nach ganz bestimmten Kriterien.
Mehr davon Details über die Gestaltprinzipien der Wahrnehmung finden Sie in Abschn. 3.3.4 „Musterhaft – intuitive Wahrnehmung“.
Detailauswertung Im nächsten Schritt werden Details realisiert. Sogenannte Sinnessprünge (wiederholte Wahrnehmungsprüfungen) lassen einen vertieften Eindruck entstehen. Einprägsame Auffälligkeiten spielen dabei eine wichtige Rolle.
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Elaboratorische Auswertung/Interpretation In der letzten Wahrnehmungsphase beginnt der eigentliche Verarbeitungs- und Erkenntnisprozess. Hier werden Wahrnehmungen mit Erinnerungen und Erfahrungen abgeglichen, sinnvolle Zusammenhänge konstruiert und für die eigene Zuneigung oder Ablehnung bewertet. Es werden differenzierte Kategorisierungen entwickelt. Dabei werden vermeintlich unwichtige Aspekte von wichtigen Details getrennt und der abschließenden Erkenntnis als Resultat des Wahrnehmungsprozesses entzogen. Das Ergebnis der Wahrnehmung ist also eine zutiefst subjektive sinnorientierte Selektion, die der Aufrechterhaltung des Ich-Bewusstseins im Kontext der Identifizierung dient. Dabei gibt es bei aller Subjektivität der Wahrnehmung verbindende Wahrnehmungsprinzipien, die für alle gelten. Reizabhängigkeit Die Intensität des äußeren Reizes beeinflusst die Wahrnehmung, die sich nur einstellt, wenn die individuelle Reizschwelle überschritten und wenn ein spezifisches Sinnesorgan direkt angesprochen wird. Kontextabhängigkeit Wahrnehmungen sind keine kontextunabhängigen singulären Details – Dinge werden immer in Einheit mit ihrer Umgebung, das heißt: systemisch wahrgenommen. Erfahrungsabhängigkeit Die Erkenntnis, die als Ergebnis untrennbarer Teil des Wahrnehmungsprozesses ist, geschieht immer vor dem Hintergrund des Abgleichs mit individuellen Erfahrungen und Erinnerungen. Aus der jeweiligen Perspektive entstehen dann höchst unterschiedliche subjektive Interpretationen derselben Wahrnehmung. Jenseits dieser Prinzipien, ebenso wie jenseits unserer Tendenz in übergeordneten Mustern wahrzunehmen, bleibt die Tatsache der Einzigartigkeit jeder Wahrnehmung. Das macht die Methode des Systemaufstellens genau so reich, wie sie eben ist. Mit jedem neuen Aufsteller, jeder neuen subjektiven Perspektive entwickelt sich ein weiterer Aspekt in der Arbeit. Für die Weiterbildung ist das ein so entscheidender wie herausfordernder Aspekt: Wie nämlich sollen wir andere Wahrnehmung lehren, wenn jeder eine ureigene Wahrnehmung hat? Woran können wir erkennen, dass Wahrnehmung geglückt ist? Die Erfahrung zeigt, wie wenig wir uns im Alltag unser Wahrnehmungsinstrumentarium bewusst und zunutze machen – obwohl wir andauernd wahrnehmen und ununterbrochen assoziieren, Kausalitäten herstellen. Dieses Zunutzemachen können und müssen wir vermitteln, wenn wir Aufstellungsarbeit lehren. Hier hilft jede Aufmerksamkeits- und Achtsamkeitsübung, von denen wir Ihnen zahlreiche in Kap. 2 vorgestellt haben. Wir stellen unseren Weiterbildungsteilnehmern außerdem die Methode der Visual Thinking Strategies (VTS) vor, eine Methode, die in den USA entwickelt wurde und inzwischen weltweit in den unterschiedlichsten Bereichen – von der Teamentwicklung
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über die Schulpädagogik bis hin zu Arbeit mit Demenzkranken – Anwendung findet. Im Wesentlichen bildet die Methode den mentalen Wahrnehmungsprozess mit Mitteln der Bildbetrachtung ab. Die drei Fragen lauten: • Was geschieht auf diesem Bild? (sinnvolle Verbindungen herstellen) • Was genau siehst Du, dass Du das annimmst? (Reflexion der eigenen Synapsen) • Was siehst Du noch? (kontinuierliche Detailauswertung) Für eine VTS-Einheit kalkulieren wir ca. 1 Stunde mit allen Teilnehmern. Es besteht die Möglichkeit, ein geeignetes Bild an die Wand zu projizieren oder mehrere Ausdrucke eines Bildes in der Gruppe zu verteilen. Weitere Informationen über die Wahrnehmungsübung VTS in deutscher Sprache finden Sie auf der Seite des Instituts für Visuelle Bildung der österreichischen Kunsthistorikerin Angelika Jung, die in Köln und Innsbruck arbeitet (VTS 2019). Wir können in unseren Weiterbildungen vermitteln, wie man sich immer mehr selbst vertraut und immer bewusster und differenzierter wahrnimmt. Wir lehren das Wie der Wahrnehmung, nicht das Was. Wahrnehmung glückt, wenn etwas wahrgenommen wird. Wahrnehmung glückt auch, wenn wir wahrnehmen, dass wir nichts wahrnehmen. Inhaltlich können wir in Bezug auf Wahrnehmung kaum etwas lehren, jedenfalls nicht kausallogisch unmittelbar, sondern nur mittelbar. Die Entwicklung der Wahrnehmungsinhalte können wir nicht auf ein Wenn-dann zurückführen. Was wir wissen: Lernen und Wahrnehmen werden erst mit dem Körper ernst. Das Was – als Ergebnis des kognitiven Erkenntnisprozesses – ist subjektiv. Im Rahmen der Weiterbildung bleibt uns als Lehrenden, einen Raum des Vertrauens in die eigenen Wahrnehmungen zu bilden und diesen über den gesamten Weiterbildungsprozess zu halten und auszubauen. Insofern ist die Wahrnehmungsschulung auf das Engste mit dem Selbstvertrauen verknüpft, und wie in so vielen anderen Momenten dient deshalb auch hier die Weiterbildung in Systemaufstellung wesentlich der Persönlichkeitsentwicklung der Teilnehmer. Unser Kollege Cecilio hat auf die Frage, wie man ein guter Aufsteller werden kann, denn auch geantwortet: indem man ganz man selbst wird. Die Kunst der Wahrnehmung wird zur Kunst des Selbstwerdens. Wahrnehmungsübung 2: „Scheinbar aus dem Nichts“ Der portugiesische Neurowissenschaftler António Rosa Damásio, der sich intensiv mit dem Verhältnis von Gefühl, Emotion und Vernunft befasst hat, sagt, dass Gefühle Körperwahrnehmungen sind. Beim Fühlen ist der gesamte Körper eingebunden, und würden wir als Aufsteller nicht das Wahrnehmungsinstrumentarium unseres ganzen Körpers nutzen, könnten wir keine Erkenntnis formulieren oder gar eine Entscheidung treffen. Das Ziel der Wahrnehmungsübung ist es, die spürende Präsenz als Aufstellungsleiter zu üben, eine feinere Körperwahrnehmung zu bekommen und das Verhältnis zum eigenen Körper zu erkunden.
3.3 Wahrnehmung
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Ausgangssituation Die Übung wird mit 3 Stühlen und 2 Personen durchgeführt. Sie einigen sich darauf, wer A ist und beginnt. A sitzt auf einem Stuhl gegenüber einem leeren Stuhl, der seinen Körper repräsentiert (Abb. 3.10). Prozess/Struktur/Zeit A blickt auf seinen Körper und erkundet die Gefühle und Gedanken, die in ihm hochkommen. Seine Gefühle und Gedanken teilt er seinem Körper mit. B begleitet den Prozess respektvoll und annehmend. Reflexion A und B tauschen sich über den Prozess aus. Danach macht B die Übung, A begleitet ihn.
3.3.4 Musterhaft – intuitive Wahrnehmung Das Was der sinnlichen Wahrnehmung ist zutiefst persönlich. Zum Wie haben die Gestalttheoretiker des beginnenden 20. Jahrhunderts herausgefunden, dass unsere intuitive Wahrnehmung neben den oben genannten Prinzipien übergeordneten Mustern folgt, die für jeden Wahrnehmungsvorgang – ob sinnlich oder leiblich – gelten. Diese Muster beziehen sich auf vorgefundene Strukturen und daraus assoziierte Bedeutungszusammenhänge, die wir automatisch (oder die sich autopoietisch) im Hirn bilden. Vorrangig hierbei ist die Erkenntnis, dass unser intuitives Denken stark zu Vereinfachung tendiert – so beschreibt es auch der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann in seinen Untersuchungen über das schnelle und langsame Denken:
Abb. 3.10 Wahrnehmungsübung „Scheinbar aus dem Nichts“
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
Das Erfolgskriterium von System 1 ist die Koheränz der Geschichte, die es erschafft. Die Menge und Qualität der Daten, auf denen die Geschichte beruht, ist weitgehend belanglos. Wenn Informationen knapp sind – was häufig der Fall ist – fungiert System 1 als eine Maschine für Urteilssprünge (Anmerkung: gemeint sind voreilige Schlussfolgerungen). (Kahnemann 2011, S. 112)
Die Tendenz zur Vereinfachung und zur strukturierten Musterorganisation der Eindrücke in unserer intuitiven Wahrnehmung spielt für unser Verständnis dessen, was in der Aufstellung geschieht, eine durchaus wichtige Rolle – sie verrät uns einiges darüber, wie wir uns gemeinhin im Aufstellungsgeschehen orientieren und unsere Wahrnehmungen psychisch-mental organisieren. Wir stellen Bezüge her, vervollständigen Informationen zu einer „guten Gestalt“, erliegen unseren Kausalitätsillusionen und erkennen Kontinuität, wo möglicherweise gar keine vorliegt. Ein bemerkenswerter Aspekt unseres geistigen Lebens besteht darin, dass wir nur selten überfragt sind. Unser Geist funktioniert so, dass wir intuitive Gefühle und Meinungen über fast alles haben, was uns begegnet. Wenn eine befriedigende Antwort auf eine schwierige Frage nicht schnell gefunden wird, findet System 1 eine ähnliche Frage, die leichter ist, und beantwortet diese. Die Zielfrage liefert die Beurteilung, nach der man strebt. Die heuristische Frage ist die einfachere Frage, die man stattdessen beantwortet. (Kahnemann 2011, S. 127)
Wir stellen Ihnen die Wahrnehmungsmuster, die von der Gestalttheorie erkannt wurden, hier nur kurz vor und konzentrieren uns auf solche Muster, die wir als die Grundlage für diverse Varianten verstehen. Im Netz finden Sie zahlreiche Darstellungen. Anders als heute gemeinhin dargestellt, beziehen sich die Wahrnehmungsmuster nicht ausschließlich auf die visuelle Wahrnehmung. Sie entspringen unserer psychischen Disposition, und sie beziehen sich auf unser gesamtes Wahrnehmungssensorium. Sie gelten grundsätzlich für unsere Art, uns immer und überall in der Welt zu orientieren und zu verorten. So hat zum Beispiel der deutsche Komponist Johann Sebastian Bach (1685–1750) Klavierfugen komponiert, die so klingen, als würden 2 Melodien gleichzeitig tönen. Auch der US-amerikanische Jazzpianist Count Basie (1904–1984) hat meisterhaft die Kunst beherrscht, so Klavier zu spielen, dass die Zuhörer Töne hörten, die tatsächlich gar nicht gespielt wurden. Im Netz kursieren immer wieder Grafiken, die durch ein bestimmtes Zusammenspiel der Flächen die Illusion der Bewegung hervorrufen. Unsere mustergleiche Ergänzung von Wahrgenommenem gilt nicht nur für die Ohren und die Augen, sondern für viele Bereiche. Die Gestalttheorie gilt mit ihren Erkenntnissen deshalb auch als Metatheorie. Sie geht z. B. der Frage nach, warum wir dazu tendieren, etwas als eine Einheit – eine Gestalt – wahrzunehmen. Oder warum wir – wie hier konkret in Abb. 3.11 – zwei aufeinanderliegende Quadrate erkennen und nicht z. B. acht Dreiecke, ein Achteck oder ein unregelmäßiges Vieleck. Nach Kahnemann zeigt sich hier ein Symptom des ersten Denkens, der heuristischen Vereinfachung in der intuitiven Wahrnehmung.
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Abb. 3.11 Zwei Quadrate
Den Gestaltpsychologen zufolge beschreibt der Wahrnehmungsprozess die Organisation von Einzelteilen zu einer einfachen, kohärenten Gestalt, bei der das Ganze mehr bzw. etwas anderes als die Summe seiner Teile ist. Das kann durchaus in geistiger Nähe zu Kants transzendentaler Erkenntnis gelesen werden. Die Gestalttheoretiker aber gehen einen Schritt weiter und sagen, dass der Wahrnehmungsprozess gesetzmäßigen Prinzipien folgt. Deshalb sprechen sie auch von Gestalt- bzw. Wahrnehmungsgesetzen. Das erste Gesetz der Wahrnehmung ist das Gesetz der Prägnanz, und es besagt, dass wir bevorzugt prägnante Formen wahrnehmen, also einfache Formen vor schwierigen Formen, z. B. Dreiecke vor Vielecken. Abb. 3.12 zeigt, was das Gesetz der Prägnanz meint. Insbesondere da, wo alternative Wahrnehmungen möglich sind, verweist das Gesetz der Prägnanz und der guten Gestalt auf unsere Tendenz, optische Reize in möglichst einfachen Gestalten abzubilden. Daher erkennen wir in Abb. 3.12 kein abstraktes Polygon, sondern ein Dreieck und ein Rechteck, die übereinanderliegen. Das Gesetz der Prägnanz, auch Gesetz der Einfachheit genannt, bewirkt, dass wir aus einer Vielzahl an Möglichkeiten zur Wahrnehmung diejenige auswählen, mit der unser Verstand die geringste Arbeit hat. Tatsächliche befindet er sich ja im Dauermodus der Kontrolle, um unser Überleben zu sichern. In einem Aufstellungssetting kann es deshalb hilfreich sein, ein komplexes Interaktionsgeschehen, das ein Klient schildert, auf zunächst einfache Beziehungen zu reduzieren. Die Vereinfachung „beruhigt“ den Verstand und erlaubt die entspannte Konzentration auf Wesentliches.
Aufgrund des Wahrnehmungsgesetzes der guten Gestalt und der Prägnanz kann es in Aufstellungen hilfreich sein, sich auf einen wesentlichen Aspekt zu konzentrieren.
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
Abb. 3.12 Gesetz der Prägnanz und guten Gestalt
Wir blicken auch immer auf eine Figur-Grund-Komposition, d. h. wir sehen die schwarze Figur vor einem weißen Hintergrund. Das Bewusstsein hierüber hilft, im Aufstellungsgeschehen darauf zu achten, was wir als „Hintergrundsetting“ und was wir als sich in den Fokus unserer Aufmerksamkeit schiebende Figur/Form wahrnehmen. Die Figur-Grund Komposition spielt auch eine entscheidende Rolle, wenn wir unsere Wahrnehmungen nach unseren vorherrschenden Bedürfnissen organisieren. Diese Erkenntnis formulierte der Gestalttheoretiker Kurt Lewin (1890–1947) in seiner Feldtheorie. Als Wahrnehmungsfeld bezeichnete er die im Bewusstsein des Menschen anschaulich angetroffene Welt im Unterschied zur bewusstseinsunabhängigen physikalischen Welt (von der demnach niemand weiß, wie sie aussieht). Sein hierfür veranschaulichendes Beispiel war das Bild einer Landschaft mit einer Scheune. Ein Bauer würde in der Scheune einen Schuppen für seine landwirtschaftlichen Geräte erkennen. Ein aus dem Krieg heimgekehrter Soldat nimmt den Schuppen als mögliches Versteck des Kriegsgegners wahr. Lewin formulierte folgend die Theorie, dass aus einer gegebenen Anordnung psychologisch relevanter Kräfte (Vektorkräfte) das individuelle Verhalten in der jeweiligen Situation hervorgehe – Wahrnehmung sei immer eine Figur-Grund-Konstellation, Verhalten sei demnach immer Feldverhalten und Handlung immer Feldhandlung. Aufgrund der Feldwahrnehmung ist es in Aufstellungen hilfreich, den
Kontext zu erfragen, in dem eine Wahrnehmung stattfindet. Beim Gesetz der Nähe nehmen wir Zusammengehörigkeit wahr, wenn die Elemente nah beieinanderliegen. Aufgrund des Wahrnehmungsprinzips gruppieren wir bei Abb. 3.13a die Punkte zu waagerechten Zeilen, bei Abb. 3.13b zu senkrechten Reihen. In Aufstellungen geschieht es nicht selten, dass Klienten nicht ihr inneres Bild, sondern ihr Wunschbild von einer Beziehung aufstellen. Dabei spielt Nähe (natürlich)
3.3 Wahrnehmung
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Abb. 3.13 Gesetz der Nähe
eine wesentliche Rolle. Oder sie stellen einen Stellvertreter auffallend nah an einen anderen Stellvertreter und drücken damit unbewusst ein gestörtes Verhältnis aus.
Aufgrund des Wahrnehmungsgesetzes der Nähe kann es in Aufstellungen hilfreich sein, eine besondere Aufmerksamkeit auf besonders nah gestellte Stellvertreter zu lenken.
In einem Feld von identischen Abständen gilt wiederum das Gesetz der Ähnlichkeit, bei dem wir identisch aussehende Elemente als zueinander gehörend wahrnehmen, unabhängig von ihrer Entfernung zueinander (Abb. 3.14).
Abb. 3.14 Gesetz der Ähnlichkeit
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
In Aufstellungen beobachten wir nicht selten die Folgen eines Ausschlusses aus einem System, weil nicht genügend Ähnlichkeiten wahrgenommen wurden. Liegt eine Identifikation eines Systemteilnehmers als „denkt nicht so wie wir, verhält sich nicht so wie wir, sieht anders aus, hat eine andere Hautfarbe – ist keinesfalls einer von uns“ vor, hat das erfahrungsgemäß Folgen, die bis zur Spaltung von Gesellschaften und Nationen reichen können.
Aufgrund der Wahrnehmungsgesetzes der Ähnlichkeit kann es hilfreich sein, bei einem Ausschluss aus einem System zu fragen, an welcher Ähnlichkeit es fehlte.
Bei der Begegnung mit komplexeren Informationen versuchen wir immer, eine Kontinuität von Linien und Formen herzustellen, damit das Gesehene für uns eine sinnvolle Form ergibt – so wie hier in Abb. 3.15, auf der wir dazu tendieren, das Gerüst einer Kiste zu erkennen. Zu unserer Tendenz, in Kontinuitäten wahrzunehmen, gehört auch, dass wir hierfür eindeutige Richtungen präferieren. Abrupte Richtungsänderungen nehmen wir eher nicht wahr, bzw. wir vermuten sie nicht – wie hier in Abb. 3.16 zum Gesetz der fortlaufenden Linie, bei der wir die Verbindung der Endpunkte als diagonal verlaufend wahrnehmen. Wir würden nicht davon ausgehen, dass sich die Richtung im Mittelpunkt rechtwinklig ändern könnte. Diese Kontinuitätstendenz kann zur Folge haben, dass die Wahrnehmung zugunsten einer für uns sinnhaften Konstruktion eingeschränkt wird. Wir weisen daher unsere Teilnehmer darauf hin, dass die wiederholte Nachfrage und das mögliche In-Frage-Stellen einer geäußerten Wahrnehmung im Aufstellungsprozess hilfreich sein können – da, wo Abb. 3.15 Gesetz der Kontinuität
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Abb. 3.16 Gesetz der fortlaufenden Linie
eine solche Einschränkung vermutet wird. So kann es zum Beispiel sein, dass im Aufstellungsfeld deutlich zu beobachten ist, dass Person B einer anderen Person A nicht wohlgesonnen ist. Ist A der Klient, kann nun die Tendenz, sich das Gegenüber B „schönzureden“, um z. B. eine Verbindung um jeden Preis aufrechtzuerhalten, dazu führen, dass das Nicht-Wohlgesonnen-Sein entsprechend nicht wahrgenommen wird.
Aufgrund des Wahrnehmungsgesetzes der Kontinuität kann es hilfreich sein, sich als Aufstellungsleiter zu fragen, ob eine Stellvertreterwahrnehmung einem Wunsch entsprechen könnte oder ob eine Nichtwahrnehmung auf ein „Das war immer so“ zurückzuführen sein kann.
Linien, die eine Fläche umschließen, ordnen wir in unserer Wahrnehmung automatisch zu einer Gruppe – wir nehmen sie als Einheit wahr. Im Gegensatz dazu werden Dinge, die durch Linien getrennt sind, als nicht zusammengehörig empfunden. Dabei ist das „Gesetz der Geschlossenheit“ besonders stark bei den uns bekannten Mustern (Kreise, Quadrate usw.) ausgeprägt. Das Gesetz der Geschlossenheit ist wichtig, um Informationen zu ordnen. Um die Orientierung des Betrachters zu erleichtern, findet dieses Gesetz oft Anwendung im Web- und Logodesign. Durch unsere Wahrnehmungstendenz ist es möglich, eine Zusammengehörigkeit zu unterstreichen oder Informationen zu separieren. Das Gesetz der Geschlossenheit ist in der Praxis besonders hilfreich, wenn viele Informationen übersichtlich dargestellt werden sollen. Damit die Wirkung erzielt wird, ist eine vollständige Geschlossenheit gar nicht mal erforderlich. Es genügt bereits, wenn eine geschlossene Figur angedeutet wird. Da unser Auge und unser Gehirn sehr schnell in der Verarbeitung der Wahrnehmung agieren – und, Sie erinnern sich – zur Vereinfachung tendieren, kann in diesem Fall eine unvollständige Form blitzschnell als eine ganze erkannt werden.
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Vor dem Hintergrund unserer eigenen Unteilbarkeit (Individualität) tendieren wir grundsätzlich zu geschlossenen Einheiten. Das besagt auch das Gesetz der guten Gestalt. Wir machen aus Nase, Ohren, Körper, Wörtern und Gerüchen „Hans von nebenan“, und aus Fließbändern, Schrauben, Büros und Werkstätten machen wir das Unternehmen der Automobilindustrie. Im Aufstellungsgeschehen kann die Wahrnehmung von Geschlossenheit durch Linien auf dem Boden oder den Einsatz von Seilen erreicht werden. Umgekehrt kann man beobachten, dass Klienten dazu tendieren, Geschlossenheit herstellen zu wollen, wo keine vom Gegenüber gewünscht wird. In der Anfangskonstellation zeigt sich das dann darin, dass Stellvertreter so aufgestellt werden, dass sie sich zwangsläufig berühren. Geschlossenheit kann also in der Wahrnehmung erzeugt und sie kann als Illusion durch Trennung einer Verbindung aufgehoben werden.
Aufgrund der Wahrnehmungsgesetzes der Geschlossenheit können Linien im Feld oder Seile eine evtl. gewünschte Wahrnehmung fördern. Besonders hilfreich kann das bei der Arbeit mit dem inneren Kind sein, wenn eine frühe Traumatisierung vorliegt, die eine dissoziative Symptomatik zur Folge hat (Abb. 3.17).
Das Gesetz der Verbundenheit beschreibt einen der Geschlossenheit ähnlichen Umstand. Es besagt, dass wir miteinander verbundene Formen als Einheit wahrnehmen, und das tun wir mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass es beinahe unmöglich scheint, es nicht zu tun. Abb. 3.18 zeigt das: • Bei Abb. 3.18a wirken Verbindungslinien stärker als das Gesetz der Nähe. • Bei Abb. 3.18b wirken sie stärker als das Gesetz der Ähnlichkeit. • Bei Abb. 3.18c und d wirken sie stärker als Nähe und Ähnlichkeit. Abb. 3.17 17 Gesetz der Geschlossenheit
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Abb. 3.18 Gesetz der Verbundenheit
Dieses Wahrnehmungsphänomen kann in Aufstellungen ebenfalls mithilfe von Seilen oder Tüchern umgesetzt werden. Insbesondere in der Traumaaufstellungsarbeit können Verbindungslinien zwischen einzelnen abgespaltenen Identitätsteilen hilfreich sein.
3.3.5 Erweitert – Wahrnehmung mit dem Leib Gefühle sind oft Quasi-Wahrnehmungen im Zwischenreich – sie sind die Folge unserer Bewertungen im Wahrnehmungsprozess und insofern untrennbarer, wiewohl mittelbarer Teil desselben. Gefühle – so definieren wir es in unseren Weiterbildungen in Abgrenzung zur leiblichen Wahrnehmung – sind das Resultat unserer bewertenden Gedanken. Der Prozess der assoziierenden Gefühlsentwicklung ist dabei denkbar einfach. Angenommen, es regnet. Wir kommen nicht umhin, diesen Umstand, der so ist, wie er ist, zu bewerten. In der Regel fällt das Urteil negativ aus, angesichts des Regens erinnern wir uns vielleicht an unangenehm nasskühle Erlebnisse in der Vergangenheit. Das negative Urteil evoziert bestimmte Gefühle, in unserem Beispiel Ärger, Traurigkeit o. Ä. Wir ärgern uns jetzt, weil es regnet – und wir projizieren die Ursache für unser Gefühl ins Außen. Wir sagen: „Der Regen macht mich sauer“. Fakt ist: Nicht der Regen macht uns sauer. Er macht unsere Gefühle nicht. Wir machen die Gefühle selber. Sie sind der Spiegel unserer beurteilenden Gedanken. Insofern definieren wir für unsere Weiterbildungen den Unterschied zwischen Gefühlen und leiblichen Wahrnehmungen: Gefühle sind subjektiv und an ein urteilendes Individuum (mit Biografie, Erfahrung, Bewertungskategorien) gebunden (zu den leiblichen Wahrnehmungen kommen wir weiter unten). So erinnern wir uns z. B. an traurige Momente aus unserer Vergangenheit und haben dann ein Gefühl von Traurigkeit. Wir lassen nochmal das Gespräch mit unserem
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
Kollegen gedanklich Revue passieren und sind unversehens wieder mit Gefühlen von Ärger und Wut konfrontiert. Umgekehrt funktioniert das bisweilen auch: Wir denken etwas Positives und haben entsprechende Gefühle. Dass die Gedanken Quelle unserer Gefühle sind, wird nicht selten auch als möglicher Schlüssel zum Glück verstanden. Man müsse sich eben glücklich denken („think positive!“), heißt es bisweilen, und mit dem Versprechen, dass das wirklich funktioniert, lässt sich offenbar eine Menge Geld verdienen. Anders verhält es sich mit Empfindungen. Wenn wir etwas als kalt empfinden, dann ist diese Empfindung sinnlicher Natur – wir haben vielleicht etwas angefasst, was kalt ist, oder wir können fühlen, dass wir eiskalte Hände haben. Empfindungen sind auch subjektiv, nicht aber – wie auch die leiblichen Wahrnehmungen – an das Individuum gebunden. Die Empfindung als solche unterziehen wir – zwar nicht notwendigerweise, dennoch ziemlich häufig – einer Beurteilung und lassen dadurch wieder Gefühle entstehen. Dadurch machen wir unsere Empfindungen, die nicht an uns gebunden sind, zu unseren ureigenen. Wir empfinden so zum Beispiel die Kälte ungemütlich, die Härte beeindruckend, die Helligkeit als unangenehm. Allerdings zeigt sich in Aufstellungen etwas, das unser gemeingültiges Konzept von „meine Gefühle und Empfindungen gehören mir (weil sie in meinem Körper sind)“ in Frage stellt. Bei der stellvertretenden Wahrnehmung offenbart sich nämlich, dass jeder beliebige Stellvertreter auf einer Position Gefühle oder Empfindungen haben kann, die er zwar subjektiv wahrnimmt, die aber mit seinem Leben nichts zu tun haben und insofern nicht „seine eigenen“ Gefühle und Empfindungen sind. Ihm fehlen die Beurteilungskategorien, die er aus seinen biografischen Erfahrungen schöpfen könnte. Anders als der Klient, ist er aus der Verbindung seiner Wahrnehmungen mit einer Geschichte, die den Klienten persönlich betrifft, selber nicht betroffen. Er hat seine leiblichen Wahrnehmungen, die nicht sinnlicher Natur sind, quasi in einem aus seiner Sicht „neutralen“ Feld. Gewöhnlich sprechen wir davon, dass Gefühle Privatsachen sind, d.h. dass kein Fremder Zugang zu den Gefühlen eines anderen hat. Die naturwissenschaftliche Tendenz, Gefühle lediglich als neuronales Feuern von Gehirnarealen zu verstehen, verstärkt diese Tendenz zur Lokalisierung der Gefühle im abschließbaren Inneren eines Menschen. Zwar wird zugestanden, dass Gefühle häufig auch einen körperlichen Ausdruck haben, von dem man auf das Gefühl schließen könnte, aber die meisten Wissenschaften sind sich einig, dass es sich bei Gefühlen um objektivierbare Neuronenfeuer im physisch lokalisierten Gehirn handelt, die lediglich mittels technischer Hilfsmittel wie bildgebender Verfahren sichtbar gemacht werden können. Gefühle sind als neuronale Zustände letztlich im Inneren des Menschen abgeschlossen, worauf auch die neurokonstruktivistische Erkenntnistheorie beruht, die in zahlreichen Fortbildungen zu systemischen Therapieverfahren immer noch als unhinterfragte Erkenntnistheorie angeboten wird (Anmerkung: Der Neurokonstruktivismus versucht, mit naturwissenschaftlichen Fakten eine erkenntnistheoretische Position zu begründen).
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Offensichtlich verfügt diese Sichtweise eines abgeschlossenen inneren Erlebens über ausreichende und unhinterfragte Plausibilität auch unter systemischen Therapeuten, vielleicht nicht zuletzt, um die damit hochgehaltene Autonomie des subjektiven Erlebens zu begründen. Auch wenn dies gut gemeint sein mag, bleibt es logisch jedoch ein Kategorienfehler, denn eine Erkenntnistheorie kann nun mal nicht naturwissenschaftlich begründet werden … die Abgeschlossenheit des inneren Erlebens bezeichnet die Neue Phänomenologie als Irrweg des philosophischen Denkens und kritisiert sie als introjektionistische und psychologistische Verfehlung der abendländischen Philosophie. Gefühle seien zwar subjektiv, insofern sie am eigenen Leib gefühlt werden, aber keineswegs Privatsache einer abgeschlossenen Psyche, so die neophänomenologische Gegenthese. (Latka 2019, S. 155–156)
Der deutsche Philosoph, Soziologe und Psychologe Dr. Thomas Latka bezieht sich in seiner hier zitierten Beschreibung auf die stellvertretende Wahrnehmung, die besagt, dass ein Stellvertreter stellvertretend dieselben Gefühle wahrnehmen kann wie der Betroffene, für den er in einer bestimmten Konstellation steht. Das lässt „formaljuristisch“ schließen: Wir sind zwar die Besitzer unserer Gefühle, nicht aber die Eigentümer – wir haben sie, sie gehören uns aber nicht. Vielmehr sind die Gefühle, die wir (nicht nur als Stellvertreter) wahrnehmen können, außerhalb von uns – so die These der Neuen Phänomenologie. Gefühle sind schon da und wahrnehmbar. Gefühle im außen werden im Inneren wahrgenommen. Sie liegen nicht im Inneren des Wahrnehmenden, sondern in einem Feld um ihn herum. Dazu passt ein Zitat von Guido Rappe, der ein Schüler des Begründers der Neuen Phänomenologie, Herrmann Schmitz, ist, auf das sich auch Latka in seinem Text bezieht: Man kann keine Gefühle besitzen. Wenn wir etwas fühlen oder „gestimmt“ sind, dann haben wir nicht eigentlich eine Stimmung oder ein Gefühl, sondern im Gegenteil, die Stimmung oder das Gefühl hat uns. Wir sind das Gefühl, das uns hat, und das wir nur insofern haben, als wir es uns gezwungenermaßen zuschreiben. Denn das Gefühl ist es, was uns „stimmt“ oder fühlen lässt. Die Rede davon, dass wir ein Gefühl haben, ist also – ähnlich wie die von den Schmerzen, die man hat – irreführend, denn Gefühl, Stimmung, aber auch Schmerz halten uns in ihrem Bann und nicht wir sie in unserem. (Rappe 2012)
Diese Einschätzung entspricht unserer eigenen Erfahrung aus zahlreichen Aufstellungen: Gefühle sind Felder, in die der Stellvertreter eintritt. Verändert er seine Position, verändert sich sein Gefühl. Die Neue Phänomenologie nennt die Gefühlsfelder „halbdingliche Atmosphären“, in die wir uns begeben und die uns – am „richtigen“ Platz – ergreifen, bis wir einen anderen Platz einnehmen und in ein neues Gefühlsfeld eintauchen. Halbdinglich deshalb, weil Gefühle auftauchen und wieder verschwinden können. Unsere Erfahrungen aus zahlreichen Aufstellungen zeigen, dass bisweilen eine minimale Bewegung ausreicht, um einem „Gefühlsfeld zu entkommen“. Das Fühlen, die Wahrnehmung des Gefühls also, ist subjektiv, weil es an den Körper des Fühlenden gebunden ist und in diesem stattfindet. Die Gefühle sind als Atmosphären halbdinglicher Natur und liegen außerhalb des Körpers. Bei der Wahrnehmung der halbdinglichen Gefühle wird auch der Unterschied zwischen sinnlicher (körperlicher) und leiblicher Wahrnehmung deutlich. Die leibliche Wahrnehmung bezeichnet unsere Fähigkeit, die Atmosphäre um uns herum
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
ohne sinnlichen Kontakt zu erfassen. Die Sinne können dabei eine Rolle spielen, sie müssen es aber nicht unbedingt. Es gibt demnach eine weitaus umfassendere Wahrnehmungs-„Apparatur“, die uns für unsere leiblichen Wahrnehmungen zur Verfügung steht, als dies gemeinhin in der natur- und geisteswissenschaftlich gängigen Literatur beschrieben wird (s. oben). Die Wahrnehmung von Halbdingen geschieht als Einleibung, d.h., nicht als vereinzelte Reizungen der körperlichen Sinneskanäle, sondern als gesamtleibliches situatives Spüren, was los ist. Das leibliche In-der-Welt-Sein ist damit eine grundlegend andere Art des Weltzugangs als der eines Körpers, welcher sich entweder von Außenreizen affizieren lässt oder nur noch selbstreferenziell und grenzbildend vor sich hin prozessiert. Die Selbstverständlichkeit, mit der diese Phänomene in Aufstellungen stattfinden und von jedermann am eigenen Leib erlebt werden können, lässt darauf deuten, dass das situative Fühlen fremder Gefühle für Lebewesen überhaupt nichts Ungewöhnliches ist, dass diese Phänomene es nur angesichts eines jahrtausendealten Subjekt-Objekt-Denkens bislang nicht geschafft haben, wissenschaftlich und philosophisch ernst genommen zu werden. Das dominante naturwissenschaftliche Weltbild ist geprägt von zum Teil historisch, sprachlich und kulturell geprägten Einseitigkeiten, die erst noch aufgelöst und ergänzt werden müssen, bevor eine angemessene Berücksichtigung der Aufstellungsarbeit möglich zu sein scheint. (Latka 2019, S. 157–158)
Wenn uns die Atmosphäre im Raum schaudern lässt, ohne dass wir in sinnliche Berührung mit etwas Wahrzunehmenden kommen, ist diese Wahrnehmung leiblicher Natur, sie ist eine leibliche Wahrnehmung, die über die Sinnlichkeit des Körpers hinausgeht. Dabei nehmen wir förmlich „durch die Luft“ und scheinbar „aus dem Nichts“ die Energie auf, die im Raum herrscht. Wir nehmen dann zum Beispiel wahr, dass die Luft „eiskalt“ oder „zum Schneiden“ ist. Diese Wahrnehmung bezeichnen wir als „leibliches Fühlen“ oder auch als „leibliche Wahrnehmung“, um sie von den gedanklich erzeugten Gefühlen abzugrenzen. Das leibliche Fühlen (die leibliche Wahrnehmung) konzentriert sich – in Abgrenzung zum Fühlen – auf die wertneutralen Qualitäten der Energien, ohne sie in eine direkte Beziehung zu sich selbst zu bringen. Anders ausgedrückt: Die Gefühlsfelder sind für uns wahrnehmbar, wir fühlen uns aber von der Wahrnehmung nicht im Sinn einer direkten Verbindung mit uns betroffen. Wir identifizieren uns nicht mit den Gefühlen, die wir wahrnehmen können. Wir könnten fragen: „Was haben die Gefühle, die ich hier wahrnehme, mit mir zu tun?“ Wir bewegen uns innerlich so in die Position des Betrachters der inneren Vorgänge und steigern dadurch unsere bewusste Wahrnehmung dessen, was ist. Gleich einem interessierten Reporter können wir so über die inneren Vorgänge berichten. Das leibliche Fühlen ist dergestalt frei von Betroffenheit (nicht mit einer biografischen, erzählbaren Geschichte verknüpft). Unsere Erfahrung und auch die vieler Kollegen zeigen dabei: Je öfter und intensiver wir uns in Aufstellungsfeldern bewegen, desto einfacher lassen wir von einer Identifikation mit unseren Gefühlen ab. Wir hören auf, uns mit unseren Gefühlen zu identifizieren, und werden förmlich zum meditativ wahrnehmenden Beobachter dessen, was
3.3 Wahrnehmung
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ist. Das macht die Gefühle selber nicht angenehmer oder unangenehmer. Es macht sie intensiver erlebbar. Wir lernen außerdem zu unterscheiden, ob die Gefühle das Ergebnis unserer eigenen Beurteilungen dessen, was ist, sind, oder ob wir sie leiblich wahrnehmen. Das lässt uns im Moment sein. Und auch hier zeigt sich wieder, warum eine Weiterbildung in Systemaufstellung der Persönlichkeitsentwicklung und Reife dient. Was für unseren Verstand oft nicht begreifbar zu sein scheint, zeigt sich regelmäßig in Aufstellungen: Wir nehmen etwas wahr, was weder sichtbar, noch hör- oder berührbar ist. Wir haben Zugang zu Informationen, die vermeintlich „aus dem Nichts“ plötzlich und unvermittelt auftauchen. Manche sprechen davon, zu einer kommunizierenden Röhre zu werden, welche die quasi-dinglichen Feldgefühle und -energien in Worte fasst, die an der jeweiligen Position durch sie hindurchgehen. Das Bild der Röhre gleicht dem englischen Begriff Channel (Kanal), der auch für das Channeling, das mediale Übertragen von Informationen aus einer anderen Dimension gewählt wird. Wir wissen nicht, woher oder aus welchen Dimensionen die Informationen kommen, die wir in Aufstellungen bekommen, Tatsache aber ist, dass wir sie vergleichbar dem Channeling leiblich wahrnehmen und förmlich durch uns durchfließen lassen. Wir verwenden den Begriff der leiblichen Wahrnehmung gemeinhin als Sammelbegriff für verschiedene Formen. Die leibliche Wahrnehmung von dem, was jetzt ist, heißt Paragnosie (griechisch „gnosis“ = Erkenntnis, „para“ = jenseits). Zu ihr gehört auch die Telepathie (griechisch „tele“ = fern, „pathos“ = Erfahrung, Einwirkung), eine Fähigkeit, mit der wir die Gedanken anderer „lesen“ können. Als Kinder beherrschten wir diese Form der Wahrnehmung noch mit einer gewissen Leichtigkeit, ohne dass uns das überhaupt bewusst war. Im Verlauf des Erwachsenwerdens ist uns die Fähigkeit meist abhandengekommen, und wenn uns im Alltag jemand begegnet, der von sich behauptet, Gedanken lesen zu können, kommen wir in der Regel nicht umhin, diesen Menschen innerlich zu belächeln. Für unseren Verstand nämlich klingt das absurd. Was wir jedoch im Alltag vielleicht belächeln, finden wir in Aufstellungen nachgerade selbstverständlich: Wir hören jenseits unserer Sinne ungesagte Sätze, und in dem Moment, in dem wir sie aussprechen, haben sie eine große Wirkung auf das Aufstellungsgeschehen. In Aufstellungen nutzen wir unsere Fähigkeit zu diesen Formen der leiblichen Wahrnehmung andauernd. Wahrgenommen werden können aber auch sogenannte spirituelle (geistige oder göttliche) Botschaften, die – schaut man auf unsere geltenden Bedingungen für den Beweis dafür, dass etwas wahr ist – nicht bewiesen werden können: Das Göttliche und das Geistige können nämlich nicht befragt werden. Und: Würde man sie befragen können, sie würden nicht antworten oder vielleicht doch, jedenfalls nicht hörbar, nicht mit einer sinnlich wahrnehmbaren Stimme. Die Antwort könnte insofern, wenn überhaupt, wiederum nur übersinnlich (telepathisch) wahrgenommen werden. Ist diese übersinnliche Wahrnehmung aber nur einigen und nicht allen Menschen gegeben, und können wir weder durch logische Stringenz noch mittels eigener sinnlicher Wahrnehmungen einen Beweis herbeiführen, befinden wir uns unvermittelt an der Grenze zwischen Wissen und Glauben. Wir glauben dem, der eine übersinnliche spirituelle Wahrnehmung hat – oder wir glauben ihm nicht. So einfach (bzw. hier: zweifach) ist das. (Hartung 2014, S. 26, 27)
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
Neben den beschriebenen leiblichen Gegenwartswahrnehmungen gibt es auch solche, die sich auf die Vergangenheit beziehen. Wir nennen sie Retro- oder Postkognition (lateinisch „retro“ = rückwärts, „post“ = hinter, nach; griechisch „gnosis“ = Erkenntnis). Besonders im Aufstellungsgeschehen spielen solche Wahrnehmungen eine wichtige Rolle da, wo Verstrickungen mit früheren Familienangehörigen bestehen, Familienmitglieder in Vergessenheit geraten sind oder absichtlich verheimlicht werden. Weil transgenerationale Störungen in Familienaufstellungen als Phänomen durchaus die Regel sind, braucht es insbesondere hier die Fähigkeit, Vergangenes leiblich wahrnehmen zu können. Das offenbart sich oft dadurch, dass einer der Stellvertreter oder der Aufstellungsleiter selber die leibliche Wahrnehmung hat, dass an einer bestimmten Stelle jemand steht oder stehen sollte, der sich dann als ein Systemmitglied aus vergangenen Zeiten herausstellt. Die Wahrnehmung ist halb sinnlicher, halb leiblicher Natur. Sie ist sinnlich da, wo der Aufstellungsleiter beobachtet, dass einer oder mehrere Stellvertreter unverwandt in eine Richtung schauen, wo zunächst niemand steht. Sie ist leiblich, wenn der Aufstellungsleiter – ohne etwas bei den Stellvertretern beobachten zu können – das sichere Gefühl hat, dass an einer bestimmten Stelle jemand steht. Sie ist auch leiblicher Natur, wenn die Stellvertreter einfach nur in eine Richtung oder auf eine bestimmte Stelle am Boden schauen und sicher sind, dass dort jemand sei. Für dieses Sicher-Sein gibt es jedoch keine sinnlich wahrzunehmenden Grundlagen oder Hinweise (es kann niemand gesehen, gehört, gerochen oder angefasst werden). Dennoch aber wird etwas leiblich wahrgenommen – und es wird als wahr angenommen, als (in Wahrheit) tatsächlich existent. Schließlich umfasst die leibliche Wahrnehmung auch noch unsere übersinnliche Fähigkeit der Präkognition (lateinisch „prae“ = vor, „gnosis“ = Erkenntnis). Damit meinen wir das Empfangen von Visionen oder die Wahrnehmung von Botschaften darüber, wie etwas in der Zukunft sein wird. Hier gilt der Hinweis auf die Erkenntnisse der Quantenphysik, die besagen, dass die von uns gemessene, vermeintlich objektive Zeit eine Illusion ist, weil sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus quantenphysikalischer Perspektive übereinander gelagert im Jetzt befinden. Man kann sich den kohärenten Zeitzustand wie ein geschlossenes Buch vorstellen, das bereits geschrieben ist. Um die Geschichte des Buches verstehen zu können, müssen wir es Seite für Seite lesen und erzeugen dadurch die Illusion einer Zeitspanne für die Geschichte. Wir brauchen Zeit, um bis zur letzten Seite zu kommen, und wir sagen: „Gestern ist das in der Geschichte passiert, und ich bin gespannt, wie es morgen weitergehen wird.“ Was uns betrifft, stimmt das. Die Geschichte aber kennt diese Zeiteinteilung nicht. Die komplette Geschichte ist bereits geschrieben und vollständig vorhanden. Zeit ist eine Hilfskonstruktion für unsere Erfahrung und für unsere Bewegung von A nach B. Davon ausgehend findet also auch die Zukunft jetzt im Feld statt und ist entsprechend leiblich wahrnehmbar. Die Erfahrungen aus Aufstellungen scheinen diese These, für die es bislang keine wissenschaftlich anerkannte Begründung gibt, eindeutig (empirisch) zu
3.3 Wahrnehmung
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bestätigen: Wir können die Zukunft – bzw. das, was wir Zukunft nennen – leiblich wahrnehmen. In systemischen Aufstellungen kann außerdem eine Sonderform der Präkognition beobachtet werden: Wird ein System stellvertretend aufgestellt und zeigt zunächst den Zustand, den es aktuell tatsächlich hat, zeigt sich nun das autopoietische Phänomen, dass sich das System mithilfe der Stellvertreter automatisch (eben autopoietisch) weiterentwickelt (griechisch „autos“ = selbst, „poiein“ = erschaffen). Eine Entwicklungsbewegung, die es „in der realen Welt da draußen“ also noch gar nicht gegeben hat (jedenfalls nicht in unserer Erfahrung), wird in der Aufstellung vor-vollzogen und wirkt dann häufig zeitnah auf das reale System, das vertreten wurde. Das stellvertretende Aufstellungssystem hat die Entwicklung des realen Systems vorweggesehen und vollzogen. Wir möchten betonen, dass wir hier beschreiben, was wir in Aufstellungen – übereinstimmend mit allen Kollegen – beobachten können. Zwar gibt es insbesondere in jüngerer Zeit Anstrengungen, die Beobachtungen wissenschaftlich zu fundieren. Einen wirklichen Durchbruch aber hat es noch nicht gegeben. Davon bleiben die übereinstimmenden Beobachtungen und Erfahrungen natürlich gänzlich unberührt. In diesem Zusammenhang verweisen wir gerne noch einmal auf die Dissertation unseres Kollegen Dr. Thomas Gehlert mit dem Arbeitstitel „System-Aufstellungen und ihre naturwissenschaftliche Begründung“, die 2020 bei Springer Nature erschienen ist. Bei der leiblichen Wahrnehmung spielen offensichtlich auch die Orte und die bewusst installierten Settings eine Rolle. Wir können beobachten, dass Stellvertreter im Aufstellungsfeld eine hohe leibliche Wahrnehmungssensibilität haben, die ihnen im Alltag gemeinhin verborgen bleibt. Unsere Erfahrung ist: Je intensiver und je öfter wir uns in Aufstellungsfeldern bewegen, desto sensibler wird unser Wahrnehmungsvermögen im Alltag – so weit, dass es schließlich kein besonderes Setting mehr für die als besonders angesehene Fähigkeit braucht. Ob es dabei so ist, dass wir uns durch die intensivere Bewegung in Aufstellungen einfach nur daran gewöhnen, unsere Wahrnehmungen ernst zu nehmen und ihnen zu vertrauen, oder ob unsere Fähigkeit zur Wahrnehmung wächst, wissen wir nicht. Die Bezweiflung der Fähigkeit, jenseits der sinnlichen Erfassung das leiblich wahrzunehmen, was war, ist und sein wird, hat einen bemerkenswerten Stammbaum. Die Akzeptanz und die Ablehnung dieser Art der Erkenntnisgewinnung standen und stehen immer in direkter Verbindung zur jeweils herrschenden Kultur. Was und wie wahrgenommen werden darf, ist Ergebnis der kulturellen Vereinbarungen vor dem Hintergrund gemeinsamer Glaubenssätze und natürlich auch gemeinsamer Absichten darüber, wie die Welt sein soll(te). Unseren westlichen Gesellschaften gemein ist jedenfalls die Bezeichnung leiblich wahrnehmender Fähigkeiten als paranormal (griechisch „para“ = neben, gegen, im Vergleich mit; lateinisch „norma“ = Winkelmaß, Maßstab, Regel, Vorschrift). Damit erklärt man die leibliche Wahrnehmung zu einer Fähigkeit jenseits der Normalität (jenseits der kulturell entwickelten Vorschrift) und legt zugleich fest, was als „normal“ (und gemeint ist dabei meistens: was als richtig, geistig gesund) zu gelten hat. Die leibliche
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
Wahrnehmung jenseits der Sinne ist demnach jedenfalls nicht normal (in weiten Kreisen unserer Kultur), und insofern verwundert auch das Erstaunen nicht, wenn man ihm zum ersten Mal in einer Aufstellung begegnet (Abb. 3.19).
3.3.6 Sinnlich + leiblich – systemische Wahrnehmung Mit dem beschriebenen Wahrnehmungsinstrumentarium – sinnlich wahrnehmen, intuitiv wahrnehmen, leiblich wahrnehmen – nehmen wir in Aufstellungen wahr. Wir nennen das in Summe: Systemisch wahrnehmen. Das Vertrauen in diese natürlich gegebene Fähigkeit will behutsam und intensiv gelehrt sein. Was beim systemischen Wahrnehmen entscheidend anders ist als gemeinhin im Alltagsgeschehen: Wir nehmen nicht die Einzelheiten wahr. Wir bewerten die einzelnen Fakten nicht. Wir konstruieren aus den Einzelheiten keinen (vermeintlich) sinnvollen Zusammenhang. Bei der systemischen Wahrnehmung konzentrieren wir uns ausschließlich auf die Qualität der Beziehung zwischen den einzelnen Elementen einer Aufstellung. Wir fragen, wie sich die einzelnen Stellvertreter in dieser speziellen
Abb. 3.19 Formen der Wahrnehmung
3.3 Wahrnehmung
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Beziehungsstruktur fühlen, und wir fragen, wie sich die Qualität der Beziehung verändert, wenn sich die Stellvertreter bewegen. Systeme sind immer komplex. Ihre Elemente sind alle miteinander verflochten – sei es direkt oder indirekt. Deshalb ist die Sprache der Systeme ausschließlich beziehungsbezogen, oder anders: Sie ist systemisch. Die systemische Sprache versteht unsere Wahrnehmungen ausschließlich in Bezug auf den Resonanzraum, in dem wir uns in diesem Moment befinden. Dabei ist es irrelevant, ob unsere Wahrnehmungen sinnlich oder energetisch sind. Ebenso bedeutungslos für die Akzeptanz ist in der Sprache der Systeme auch die Frage, ob unsere Wahrnehmungen sich auf die Systemvergangenheit, seine Gegenwart oder gar seine Zukunft beziehen – dann, wenn in der Aufstellung Entwicklungen geschehen, die im realen System noch nicht stattgefunden haben. Unsere systemischen Wahrnehmungen in Aufstellungen dienen also erstens unserer Bewusstwerdung der Beziehungsqualitäten. Sie beziehen sich dabei zweitens weniger auf uns Mensch als Individuum, sondern vielmehr auf uns als Beziehungselement – weshalb wir nicht nur mit Menschen, sondern mit jedem nur denkbaren Aspekt als Systemelement in Aufstellungen arbeiten können. Sie finden hier schließlich drittens in einem Zustand der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft statt. (Hartung 2014, S. 30, 31)
3.3.6.1 Gefühlsräume mit Ladung Die Besonderheit der systemischen Wahrnehmung der Beziehungsqualitäten ist der Umstand, dass wir die Gefühle (nicht nur in Aufstellungen) präzise verorten können. Mit unserem sensiblen Wahrnehmungsinstrumentarium können wir exakt die Grenze zwischen einem Gefühl und einem Nicht-Gefühl bestimmen – „Hier ist es so, und hier ist es ganz anders“. Das ist nach unserer Einschätzung ein Hinweis darauf, dass die halbdinglichen Gefühle definierbare Felder bzw. Räume sein können. Als halbdingliche Phänomene gleichen sie dem Wind, der auftaucht und wieder verschwindet, da wo unterschiedlich erwärmte Luft einen unterschiedlichen Druck hat, und sich die Luft immer von Hoch- zu Tiefdruckgebieten bewegt. Wenn Gefühle also in definierten Feldern, Gebieten oder Räumen sind und auftauchen und wieder verschwinden, dann stellt sich (uns) die Frage, unter welchen Bedingungen Gefühle auftauchen. Hier ergibt sich möglicherweise eine Erklärung durch die immer präsenten und sich stetig wandelnden Spannungs- bzw. Magnetfelder, die durch die Plus- und Minus-Ladungen der einzelnen menschlichen Körper, der Räume zwischen den Körpern sowie der Atmosphäre im Aufstellungsfeld entstehen. Das Erdmagnetfeld entsteht durch Reibungen von Massen im äußeren Erdkern. Ohne dieses Magnetfeld wäre Leben auf der Erde unmöglich. Damit wir in der elektromagnetischen Welt existieren können, müssen unsere Körper ein Teil davon sein. Allein das menschliche Gehirn besteht aus rd. 100 Mrd. Nervenzellen, sogenannten Neuronen, zwischen denen wiederum Billionen von Verbindungen bestehen. Dieses immense neuronale Netzwerk – das mehr neuronale Verbindungen in einem Kubikzentimeter Hirn aufweist, als es Sterne in der Milchstraße gibt – ist für alles verantwortlich, was mit menschlicher Existenz zusammenhängt. Von Sinneswahrnehmungen über Gedanken
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bis hin zu sämtlichen Körperfunktionen wird alles durch den Informationsfluss des neuronalen Gehirnnetzes gesteuert. Übertragen werden die Informationsdaten dabei von Neuron zu Neuron durch Elektrizität. Wenn Millionen von Neuronen zeitgleich kommunizieren, wird also eine ungeheure Menge an elektrischer Aktivität erzeugt. Das lässt sich mit einem EEG (Elektroenzephalograph) leicht nachweisen. Die elektrische Aktivität ist allerdings keineswegs auf das Körperinnere und auch nicht ausschließlich auf das zerebrale Nervensystem im Körperinneren beschränkt. Die chemischen Reaktionen im Körper werden von der Bewegung geladener Teilchen (Ionen) begleitet. Weil die meisten Flüssigkeiten im Körper Elektrolyte, d. h. in Flüssigkeit gelöste Ionen, sind, kann unser Körper durchaus wie eine Batterie verstanden werden. Als offene Systeme liefern bzw. entladen wir unsere Energie und müssen gelegentlich wieder aufgeladen werden. Die signifikante Menge unserer elektrischen Aktivitäten erzeugt in Summe zwangsläufig eigene Magnetfelder. Denn überall, wo Strom fließt, werden Ladungen bewegt, und gemäß dem Ampere’schen Gesetz der Maxwell-Gleichungen entsteht so ein magnetisches Feld. Elektrizität und Magnetismus gehören untrennbar zusammen. Magnetische Felder beeinflussen wiederum geladene Teilchen, sodass alle Elemente oder Prozesse des menschlichen Körpers, die auf Ladung angewiesen sind, von Magnetfeldern direkt beeinflusst werden können. „Wir haben uns bisher zu sehr von den Anwendungsmöglichkeiten der Elektrizität in der Technik bestechen lassen. Wir haben darüber vergessen, daß wir selbst … elektrische Wesen sind und in einer elektrisch geladenen Umwelt existieren. Die Revolution der Elektrobiologie, die Gesundheit und Wohlbefinden der Erbauer und Herrscher über die Elektromaschinen kontrollieren und erhalten kann, ist kaum über ihre ersten Anfänge hinausgekommen.“ Zu diesen Anfängen rechnet er (Anmerkung: Dr. Jobst Gödeke) die Erfolge der Grundlagenforschung in den letzten dreißig Jahren. Sie hat in vielen einzelnen Untersuchungen entdeckt, welch ein kompliziertes Verbundsystem von Elektrizitätswerken ein lebender Organismus ist. Die stärksten elektrischen Energien produziert das Herz als kräftigster Muskel des Körpers. Aber auch das Gehirn und alle Nerven, Muskeln, Drüsen und Organe erzeugen elektrische Strom-Impulse. Bis in die einzelnen Bausteine des Körpers, die Zellen, läßt sich der elektrische Ladungsaustausch beobachten. Im Ruhezustand enthält jede Zelle in ihrem Innern elektrisch geladene Kalium-Atome, an der Wandung geladene Natrium-Atome. Wird die Zelle erregt, dann wechseln die Atome ihre Ladungen. Und auf diese Weise verändert sich die elektrische Spannung in den Zellen. Ein Mensch lebt aber nicht in einer elektrisch neutralen Umgebung. Auch die Atome der Luft wechseln ihren Spannungszustand und ihre Ladung sehr oft, meistens bei einem Witterungsumschlag. Jede Änderung der elektrischen Ladung der Luft-Atome … wirkt sich auch auf die elektrischen Ladungen der Atome im Organismus aus. (Spiegel 1953)
Ein Aufstellungsfeld ist also durch die jeweilige Konstellation der einzelnen Ladungen zueinander ein definierbares Magnetfeld mit einer eigenen Atmosphäre, die systemisch wahrgenommen werden kann. Das könnte erklären, warum systemische Wahrnehmung
3.4 Phänomenologie und Konstruktivismus
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im Feld derart präzise abgrenzbar ist. So weist denn auch der Begründer der Neuen Phänomenologie, Herrmann Schmitz darauf hin, … welche entscheidende Bedeutung ich dem qualitativen Sprung im menschlichen Selbstverständnis beimesse, der darin besteht, die Introjektion der Gefühle durch deren Räumlichkeit abzulösen. (Schmitz 2005)
3.4 Phänomenologie und Konstruktivismus 3.4.1 Einführung Die beiden erkenntnistheoretischen Ansätze der Phänomenologie und des Konstruktivismus spielen eine zentrale Rolle in systemischen Aufstellungen im Spannungsbogen von spirituellen Ansätzen bis hin zu strukturzentrierten Organisationsaufstellungen. Um zu verstehen, wobei es dabei geht, haben wir in diesem Abschnitt die wesentlichen Aspekte zusammengefasst.
3.4.2 Erkenntnistheoretische Antagonisten Mit der scheinbar entscheidenden Frage „konstruktivistisch oder phänomenologisch“ ist die Geschichte der Aufstellungsarbeit eng verbunden. Dabei haben sich bisher im Bereich der Aufstellungen der Konstruktivismus und die Phänomenologie eher als dualistische Antagonisten empfohlen: Sie gerieren sich unvereinbar, es geht nur entweder – oder, und es hat nicht nur in der deutschen Aufstellerszene diverse Auseinandersetzungen hierzu gegeben. Wir können beinahe behaupten, dass hierin das erste größere Schisma der systemischen Therapien begründet lag. Die phänomenologisch überzeugte Seite postuliert, dem systemisch konstruktivistischen Ansatz überlegen zu sein: „Diese Wissenschaft sprengt die Grenzen des früheren FamilienStellens und die Grenzen der Psychotherapie.“ (Hellinger 2019). Hellinger spricht hier über die Hellinger Sciencia®, mit der er die Ordnungen (der Liebe) in allen Gesellschaftsbereichen erforschen möchte. An anderer Stelle sagt er über die phänomenologische Wahrnehmung: Der Vorgang des Wahrnehmens ist ein ungeheuer mutiger. Denn die Wahrheit, das Richtige, erscheint blitzartig, und zwar ganz kurz. Wenn ich irgendeinen Zweifel daran äußere, wenn ich mich frage, darf ich das?, verschwindet die Wahrnehmung. (Hellinger 1995)
Die Therapeuten, die konstruktivistisch ausgerichtet sind, sprechen den phänomenologisch arbeitenden Therapeuten (auch hier wieder: insbesondere Hellinger und seinem Umfeld) bisweilen gar eine therapeutische Wirksamkeit ab, wie stellvertretend das Zitat des systemischen Familien- und Hypnotherapeuten Heribert Döring-Meijer deutlich macht:
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
Der systemisch ausgebildete Psychotherapeut/Berater, als auch Psychotherapeuten, Berater, Supervisoren mit anderem Hintergrund – können „Lösungen“ im Sinne wie sie sich bei Hellinger und der entsprechenden Aufstellungsarbeit zeigen, auch dem Klienten anbieten. Er/sie kann ihn – in guter und fachkundiger Begleitung – ebenso anregen, seine Lösungen zu finden, seine Geschichte mit seinen heutigen Ressourcen „neu“ zu schreiben. Möglicherweise ist das Ergebnis ein ähnliches und manchmal auch „fast das Gleiche“. Wenn nun aber der Weg das Ziel wäre, und der Eine lieber barfuss auf der Wiese und der Andere gut beschuht auf gepflastertem Weg liefe und ein Dritter den Weg durch den Bach wählen würde, wäre es uns vielleicht einfacher, zu den verschiedenen Wegen Ja zu sagen und nicht immer nach der guten Wahrheit zu forschen – denn die gibt es sowieso nicht. Der heutigen Sicht und Arbeit der Hellinger-Schule und Hellinger Sciencia stehe ich absolut skeptisch und mit großer Besorgnis gegenüber! (Döring-Meijer 2006)
Nun mag es sein, dass manches Mal inhaltliche Vorbehalte behauptet werden, da wo es möglicherweise eher um Varianten persönlicher Sympathien geht. Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass sich an Hellingers Person ebenso wie an seiner Arbeit so manche Geister entzündet haben. „Die Gefahr deines Denkens“, so sagt der deutsche Theologe, Philosoph und Psychologe Siegfried Essen in einem literarisch virtuellen Selbstgespräch, … liegt darin, dass du dein quasi diagnostisches Wissen zur Konstruktion autoritärer Interventionen verwendest. Also, bitte erinnere dich daran, wenn du Aufstellungen leitest: Schon das Aussprechen einer Diagnose ist eine Intervention (schon das Denken daran). Du untergräbst das Leidensmuster oder du untermauerst es. Man kann nicht nicht intervenieren. Wir stehen immer in Beziehung. Wir sind Beziehung. (Essen 2014)
Wir selber sind davon überzeugt, dass die beiden scheinbar einander widersprechenden Ansätze von Phänomenologie und Konstruktivismus eine systemische Polarität – und eben keine Dualität – bilden. Und nachdem Sie unsere Ausführungen gelesen haben, denken Sie vielleicht ähnlich. Und vielleicht auch nicht. Zunächst stellen wir Ihnen im Einzelnen verschiedene Aspekte und Denkansätze der beiden Erkenntnistheorien vor und erläutern im Anschluss, warum sie aus unserer Sicht eine Polarität bilden. Der Konstruktivismus steht für verschiedene Denkansätze in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, die eine zentrale Aussage teilen: Eine objektive Erkenntnis gibt es nicht. Erst durch den Vorgang des Erkennens konstruiert der Betrachter den Gegenstand seiner Betrachtung. Diese Überzeugung folgt der Kant’schen transzendentalen Erkenntnis, wie wir sie im Abschnitt über Wahrheit und Wirklichkeit vorgestellt haben. Die Überzeugung hat auch Einzug in alle heute geltenden wissenschaftlichen Definitionen der Wahrnehmung gehalten. Ausgehend von diesem verbindenden Grundgedanken teilen sich die konstruktivistischen Denkansätze auf. Der radikale Konstruktivismus, wie er von dem deutschen Philosophen Ernst von Glasersfeld (1917–2010) gemeinsam mit dem österreichischen Physiker, Kybernetiker und Philosophen Heinz von Foerster (1911–2002) begründet wurde, sagt, dass jede Erkenntnis radikal subjektiv ist.
3.4 Phänomenologie und Konstruktivismus
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In einem Interview sagt von Glasersfeld: Die Wahrnehmungspsychologen sprechen andauernd von Informationen, die hineinkommen in das Gehirn. Wie das vor sich geht, [darüber] haben sie keine Ahnung. Sie wissen nur, dass die Nervenzellen der Sinne gewisse Signale machen – konstruieren – und aus diesen Signalen stellt man sich dann das Weltbild zusammen. Das ist eine enorme Arbeit. Wahrheit gibt es auch für den Konstruktivisten. Das aber ist nicht die Wahrheit, die sich auf eine Wahrheit der äußeren Zustände bezieht. Der Begriff der Viabilität stammt aus der Biologie, den habe ich übernommen. weil es ein Begriff ist, der ausdrückt, dass etwas gangbar ist. Es ist im Augenblick eine gute Lösung. Der Witz ist der: Der Unterschied zwischen Gangbarkeit und Wahrheit ist, dass die Gangbarkeit nie die einzige ist, es gibt sicher andere Wege, die eine brauchbare, praktische Wirklichkeit haben. Und das ist, wo der Konstruktivismus einsetzt. der Mensch kann nur das wissen, was er selbst konstruiert hat. (von Glasersfeld 2011)
Heinz von Foerster, der eine kybernetische Epistemologie, d. h. eine Theorie des Wissenserwerbs auf der Grundlage der Kybernetik formulierte, erzählt (hochbetagt) in einem Interview über sich: In der Universität bin ich durch Zufall auf den Wiener Kreis gestoßen. Die Vorträge, die ich dort gehört habe, haben mich tief beeindruckt und richtig begeistert. (Anmerkung: Der Wiener Kreis des Logischen Empirismus war eine Gruppe Intellektueller aus den Bereichen der Philosophie, der Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, der Mathematik und Logik, die sich von 1924 bis 1936 unter der Leitung von Moritz Schlick regelmäßig in Wien traf.) Dann, durch Zufall, bin ich auf einen Wiener Philosophen gestoßen, der heißt Ludwig Wittgenstein. Wie ich den Tractatus Logico Philosophicus zum ersten Mal gelesen habe, war ich völlig hingerissen. (Anmerkung: Es handelt sich um das erste Werk von Wittgenstein, das er während des Ersten Weltkriegs geschrieben und 1918 vollendet hatte. Das Traktat beginnt mit dem 1. Kapitel: „Welt und Wirklichkeit“.) Ich habe sofort den ganzen Tractatus auswendig gekonnt. Ich habe aber niemanden gefunden, mit dem ich drüber reden kann. Das Wesentliche von Sciencia ist, dass man unterscheidet: Kamele von Elefanten, Atome von Molekülen. Der Erfolg der Unterscheidung hat sich irgendwie zu Ende gelaufen in meinem Gefühl. Die großen Geister von heute sind ja solche, die Beziehungen sehen. Man separiert nicht, man integriert. Science separiert und Systemics integriert. Das sind zwei komplementäre Haltungen, die Welt zu betrachten. Wo Science unterscheidet, fragen die Leute (bei Systemics): „Was ist ähnlich? In welcher Weise beziehen sich die Sachen?“ Ich würde das nicht mehr Wissenschaft (Science), ich würde das Systemics nennen. Die heutige Wissenschaft ist übergegangen in eine Haltung, die zusammensieht. Unlängst bin ich über das kleine Büchlein „Das Gedächtnis; eine quantenmechanische Untersuchung“ gestolpert, das ich 1948 geschrieben habe. Wie ich das damals in Wien einigen Psychologen gezeigt habe, da haben sie gesagt: „Der ist leider verrückt geworden, den müssen wir jetzt in eine Irrenanstalt schicken, weil er glaubt, die Quantenphysik habe etwas mit dem Gedächtnis zu tun“. Im Vorwort des Büchleins ist der erste Satz: „Die Zeit scheint gekommen, die verschiedenen Gedankenrichtungen fließen zusammen. Wir haben 2000 Jahre unterschieden – um heute zu vereinigen.“
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(von Foerster 2002/2013; Abriss der Kybernetik, veröffentlicht auf YouTube am 19.03.2013 (Das Interview wurde kurz vor seinem Tod im Jahr 2002 geführt; https://www.youtube. com/watch?time_continue=543&v=ANpjg7mfDq4&feature=emb_logo [zugegriffen am 13.01.2020]
Der Erlanger oder auch Methodische Konstruktivismus, der von dem deutschen Philosophen Wilhelm Kamlah (1905–1976) und dem deutschen Philosophen, Wissenschaftstheoretiker und Mathematiker Paul Lorenzen (1915–1994) gegründet wurde, spricht angesichts der Wahrheitskonstruktion von relativer Subjektivität, indem er den Kant’schen Vernunftgedanken addiert und sagt, dass wir zugunsten der Gemeinschaft auch in intersubjektiven Konsensprozessen methodisch Erkenntnis konstruieren können. Er wird daher auch Methodischer Konstruktivismus genannt. Das Ziel beim Erlanger Ansatz des methodischen Philosophierens ist es, die Erzeugung der Gegenstände einer Wissenschaft durch die Angabe der methodisch nötigen Schritte und normgebenden Regeln zu rekonstruieren. Der Fokus richtet sich dabei auf die systematische Selbstreflexion, die sich auf das methodische Handeln der Wissenschaft bezieht. Die Fragen lauten: Wie konstruieren wir unsere Handlungsprozesse, um Wissen zu generieren? Können wir daraus eine Methode ableiten? In der Mathematik wäre zum Beispiel das Zählen eine konstruierte, methodische Handlung, um zum richtigen Ergebnis zu kommen. Aus ihr lassen sich alle anderen Handlungen (Rechenmethoden) ableiten. Hierin unterscheidet sich der Erlanger Konstruktivismus fundamental von dem wahrnehmungsbiologisch ausgerichteten Radikalen Konstruktivismus: Der Methodische Konstruktivismus schaut auf den konstruierten Weg zur Erkenntnis bzw. zum intersubjektiv abgestimmten Ergebnis, der Radikale Konstruktivismus schaut auf die Autopoiese des Hirns unter der Prämisse der Viabilität (Gangbarkeit) und der Sinnhaftigkeit des Ergebnisses. Interessant an beiden konstruktivistischen Ansätzen ist das, was nicht gesagt wird: Es gibt ein Objektives bzw. es gibt etwas, das – so jedenfalls der Begründer des Radikalen Konstruktivismus – außerhalb unserer Erkenntniswelt liegt. Für uns zeigt sich hierin ein Widerspruch in sich, wenn wir „es“ nicht erkennen können, sondern immer nur autopoietisch subjektiv oder intersubjektiv methodisch konstruieren – wie können wir dann wissen, ob „es“ überhaupt existiert? Wir können nicht wirklich wissen, ob es dieses Objektive gibt, denn wir können es nicht erkennen – wir konstruieren, ja wir erfinden förmlich die Wirklichkeit im Zuge unserer konstruktiven Wahrnehmungsprozesse. Die Ergebnisse erklären wir dann zur Wissenschaft. Wir haben uns konstruktivistisch ein Wissen von dem, was wahr ist, verschafft. Die Phänomenologie, die von dem österreichisch-deutschen Philosophen und Mathematiker Edmund Husserl (1859–1938) begründet wurde, versucht, die wesentlichen Strukturen der Erfahrungen und Wahrnehmungen zu beschreiben, ohne dafür auf vorgefundene oder assoziierte Theorien, Ableitungen oder Voraussetzungen anderer Disziplinen, z. B. der Naturwissenschaften, zurückzugreifen.
3.4 Phänomenologie und Konstruktivismus
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Wie der Konstruktivismus spricht auch die Phänomenologie von einer untrennbaren Einheit aus Betrachter und Betrachtetem. Für sie entstehen alle Bewusstseinsakte durch die Beziehung zu einem Inhalt, sie sind immer auf einen – materiellen oder immateriellen, realen oder bloß vorgestellten – Gegenstand gerichtet. Der deutsche Philosoph und Psychologe Franz Brentano hob den intentionalen Charakter aller Bewusstseinsakte hervor. Damit wies er darauf hin, dass in jeder Vorstellung etwas vorgestellt, in jedem Urteil etwas anerkannt, in der Liebe etwas geliebt, im Hass etwas gehasst, im Gefühl etwas gefühlt und im Begehren etwas begehrt werde. Dieser durch eine Absicht geleitete, intentionale Charakter sei eigentümlich für psychische Phänomene – kein physikalisches Phänomen zeige diese Eigenschaft. Wenn wir also unsere subjektiven Inhalte (unsere psychischen Phänomene) auf etwas Objektives richten, dann ist unsere Erkenntnis dessen, was uns begegnet, subjektiv in dem Sinn, dass wir es in Bezug zu uns setzen. Auch wenn an dieser Stelle nicht erörtert werden soll, ob es ein Objekt überhaupt gibt, oder ob es ausschließlich durch unsere Gedanken hervorgebracht wird, so bleibt der Gedanke als solcher in diesem Zusammenhang natürlich dennoch von Bedeutung. Gehen wir hier von der allgemein herrschenden Übereinkunft aus, dass ein wahrnehmbares Objekt tatsächlich existiert, so gilt immer, dass Subjekt und Objekt (Bewusstsein und materielle Welt) miteinander verbunden sind und in dieser Verbindung eine (für uns Sinn machende) Erkenntniseinheit bilden. Tatsächlich aber empfinden wir das so nicht – wir erleben die Dinge der Welt als unabhängig von unserem Bewusstsein, als vermeintlich äußere, objektive Welt. Bis zu diesem Punkt der Erkenntnistheorie widersprechen Konstruktivismus und Phänomenologie einander nicht – beide gehen von einer subjektiven Konstruktion der Wirklichkeit aus. (Hartung 2018)
Anders als die Konstruktivisten war Husserl davon überzeugt, dass es neben der subjektiven Erkenntnis auch eine „ent-subjektivierte“ größere Erkenntnis gebe. Um vorurteilsfrei die Welt erfassen zu können, so Husserl, müssten wir lediglich von allen Vorannahmen, Theorien und Selbstverständlichkeiten absehen, damit „die Sachen selbst“ zum Vorschein kommen, so wie sie sind. Diese Überzeugung teilen auch die phänomenologisch ausgerichteten Systemaufsteller, die davon sprechen, in einer Haltung des Nicht-Wissens und Nicht-Wertens zu arbeiten, um offen zu sein für alles, was sich im Feld zeigen will – um eben dann anzunehmen, was ist (Abb. 3.20). Husserl wollte die Philosophie als strenge Wissenschaft betreiben und suchte nach einem sicheren Ausgangspunkt des Erkennens. Dieser Ausgangspunkt war für ihn das Ideal der radikal vorurteilsfreien Erkenntnis, die sich vom bloßen Meinen fundamental unterscheidet. Zur Erkenntnis soll methodisch gelangt werden, um sie nachvollziehbar und im wissenschaftlichen Sinne objektiv zu machen. Aus dem Anspruch der Objektivität ergibt sich zwangsläufig, dass eine Ferne zur jeweiligen Erlebnissituation entstehen muss, die sich dann in fehlender Sachnähe
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3 Wahrnehmung und Erkenntnis
Abb. 3.20 Konstruktivismus und Phänomenologie
a usdrückt. Ohne die Möglichkeit, eine Sache zu sehen oder zu erleben, bleibt uns die Situation aber unbekannt. So bin ich … … bei allem, was mir in meinen Erfahrungen, Erlebnissen oder Gedanken begegnen mag, verwiesen auf Situationen, in denen das Erfahrene, Erlebte, Gedachte ursprünglich – Husserl sagt: „originär“ – im Umkreis meines Erfahrens, Erlebens, Denkens aufgetaucht ist oder darin in originärer Weise auftreten könnte. (Held 1985)
Husserl nannte seinen Erkenntnisansatz Epoché – ein Begriff, der aus dem Griechischen kommt und so viel bedeutet wie „Enthaltung“, „Innehalten“. Das Hauptanliegen der Phänomenologie wird durch das Motto „zu den Sachen selbst“ verdeutlicht. Doch was ‚die Sachen selbst‘ sind, kommt originär nur durch das Subjekt zum Vorschein. Diese Subjektivität entspringt dem Bewusstsein und wird zum Forschungs- und Arbeitsgegenstand der Phänomenologie. Das Phänomen ist dabei kein isoliertes Objekt, sondern steht in einem Verweisungszusammenhang. Dadurch wird das Vorwissen bzw. dessen Aufdeckung und Absonderung vom eigentlichen Phänomen zu einem wichtigen Bestandteil der phänomenologischen Analyse. Die Sachen selbst sind also weniger, als die Wissenschaft lehrt, und sie sind mehr, als uns die sinnlichen Eindrücke glauben lassen, weil diese lediglich als Reizauslöser für einen Sinngebungsprozess (wie oben beschrieben) verstanden werden. Um zu den reinen Phänomenen vorzudringen, bedarf es einer besonderen Zugangsmethode, der „Methode der phänomenologischen Reduktion“. Die phänomenologische Reduktion, durch die den (vorgefassten) Urteilen über die äußere Welt die Geltung (und die Wirkung) entzogen wird, führt dann, so Husserl, zu Erkenntnissen über das eigentliche Wesen des betrachteten Gegenstandes, so wie er sich dem Bewusstsein originär, unmittelbar, zeigt. Das vorläufige „Einklammern“ aller Vorannahmen und Vormeinungen beschrieb Husserls als eidetische Reduktion (griechisch „eidos“ = Ansehen, Gestalt). Husserls Philosophie entwickelte sich nicht zuletzt auch im Geiste Schopenhauers, der in seinem 1819 erschienen Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ geschrieben hatte:
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Genialität ist die Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten, sich in die Anschauung zu verlieren und die Erkenntnis, welche ursprünglich nur zum Dienste des Willens da ist, diesem Dienste zu entziehen, das heißt, sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke, ganz aus den Augen zu lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge übrig zu bleiben. (Schopenhauer 1819) Kurz gefasst
Phänomenologie Es gibt eine ent-subjektivierte, höhere Erkenntnis über übergeordnete Wahrheiten. Das impliziert: Ordnungsprinzipien sind objektiv (ohne unsere Konstruktion) gegeben. Konstruktivismus Alle Wirklichkeit – und so auch Ordnungsprinzipien – wird von uns subjektiv (radikal subjektiv) oder intersubjektiv (sozial, durch Übereinkunft) konstruiert.
3.4.2.1 Neue Phänomenologie Über die Wahrnehmungserkenntnisse der Neuen Phänomenologie haben Sie bereits umfassend im letzten Abschnitt über die Wahrnehmung gelesen, und wir möchten hier nochmals die wesentlichen Aspekte und Unterschiede zur Phänomenologie von Husserl beschreiben. Die Grundlage der Neuen Phänomenologie ist die Wiederentdeckung der unwillkürlichen Lebenserfahrung. Sie geht von dem aus, was jeder Mensch vortheoretisch am eigenen Leib bzw. mit dem eigenen Leib spürt, der umfassender verstanden wird als der Körper. Deswegen ist für die Neue Phänomenologie eine Zusammenarbeit mit den Wissenschaftsgebieten Medizin und Psychologie von großer Bedeutung. Darzulegen, was neu an der Neuen in Abgrenzung zu Husserls Phänomenologie ist, gelingt vielleicht am besten durch das Zitat einer prominenten Organisation, die sich der Philosophie verschrieben hat. Auf der Homepage der Gesellschaft für Neue Phänomenologie heißt es: Die Gesellschaft für Neue Phänomenologie (GNP) ist der Auffassung, daß es an der Zeit ist, den ursprünglichen phänomenologischen Impuls zu beleben, sich aufs Neue zu den „Sachen selbst“ aufzumachen und zu den Phänomenen vorzudringen. Denn die Prägung unserer Vorstellungskraft durch naturwissenschaftliche Theorien und Konstruktionen, die weithin zu einem selbstverständlich akzeptierten Bildungsgut geworden sind, verstellt den Blick auf die Tatsachen der Lebenserfahrung. Sie aber waren es, die die philosophische Reflexion von Anfang an bewegten. Die Neue Phänomenologie möchte deshalb hinter die Schematisierungen der Naturwissenschaft zurückgehen. Der Phänomenologe kann durch geduldige philosophische Kritik die Konzepte und Konstruktionen, die unsere alltägliche Wahrnehmung gängeln und verengen,
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aufzeigen und abbauen. Das ist weit mehr als nur ein negativer Prozeß. Denn es werden dabei auch neue Erfahrungschancen freigelegt – eine offenere Haltung zur Wirklichkeit bildet sich heraus – zugleich eine solide Skepsis gegen alles voreilige Bescheidwissen. Die Neue Phänomenologie verdankt ihre begriffliche und thematische Grundlegung den philosophischen Bemühungen von Hermann Schmitz. Er hat in geduldiger Sorgfalt die unbefangene Lebenserfahrung auf breiter Front rechenschaftsfähigem Sprechen zugänglich gemacht und damit – ausgehend von dem, was wir am eigenen Leibe spüren – große Bereiche der Wirklichkeit einer methodischen Besinnung neu erschlossen: Leib, Gefühle, Atmosphären, Situationen. Zwar ist der Leib, als das, was uns sozusagen am nächsten ist und am meisten beschäftigt, ein wichtiges Thema der traditionellen Phänomenologie. Aber die Schmitzsche Analyse des leiblichen Befindens stellt eine neue Stufe in der Entwicklung des Themas dar. Sie liefert eine Konzeption zu zahlreichen leibzentrierten Verfahren. Nicht zufällig wird sie von Medizinern und Therapeuten rezipiert und diskutiert. Die GNP pflegt – vielleicht als einzige philosophische Gesellschaft – seit Jahren kontinuierlichen Kontakt mit Ärzten und Psychologen. Die Leiblichkeit ist allerdings nicht das einzige Thema, mit dem sich Neue Phänomenologie befaßt. Die GNP ist der Auffassung, daß sämtliche Themen der Philosophie – von der Erkenntnistheorie über die Rechtsphilosophie bis zur Ästhetik – einer erneuten phänomenologischen Analyse zugänglich sind und ihrer bedürfen. Von anderen philosophischen Ansätzen unterscheidet sich die Neue Phänomenologie dadurch, daß sie grundsätzlich an Erfahrung und Anwendbarkeit orientiert ist. (GNP 2019)
In einem Interview mit Andreas Brenner beschreibt der Begründer der Neuen Phänomenologie Herrmann Schmitz seine präzise Abgrenzung zur Phänomenologie von Husserl: „Herr Schmitz, was ist das Neue an der „Neuen Phänomenologie“ gegenüber der „älteren“, derjenigen Husserls? Die Neue Phänomenologie möchte den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich machen. Dies geschieht durch den Abbau geschichtlich geprägter Verkünstelungen. Damit kann sie sich an die unwillkürliche Lebenserfahrung näher herantasten – unwillkürliche Lebenserfahrung meint das, was den Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben. Die ältere Phänomenologie bleibt dahinter zurück, weil sie weitgehend in den Bahnen der Tradition verläuft. Ausnahmen finden sich zwar bei Heidegger und auch bei Sartre, aber nur ansatzweise. Es wird zwar eine Tür aufgestoßen, aber man muss hindurchgehen! Die Husserl’sche Phänomenologie leidet erstens an der metaphysischen Tradition, nicht nur in der Gestalt der Transzendentalphilosophie, sondern auch schon in der Vorstellung von einem mit lauter intentionalen Akten bevölkerten Bewusstsein. Zweitens war Husserl zu sehr Mathematiker, er rechnet nur mit numerisch Mannigfaltigem: alles ist einzeln und wird Stück für Stück irgendwie zusammengesetzt. Es gibt aber ganz andere Typen von Mannigfaltigkeit, und das ist sehr wichtig, wenn man sich an die Lebenserfahrung herantasten will.
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Der Begriff der Lebenswelt ist aber bei Husserl von großer Bedeutung. Dieser Begriff ist bei Husserl zu einfach konzipiert. Husserl stellt sich vor, man müsse nur die auf Galilei zurückgehende Idealisierung abstreifen und könne dann als natürliche Welt beschreiben, was übrig bleibt. Er übersieht, dass man immer nur von einer Abstraktionsbasis aus sprechen kann. Die Lebenserfahrung ist immer schon durch die Art des begrifflichen Zugangs, durch die Subsumtion, geprägt. Die Vorstellung bei Husserl, man könne einfach die Sache selbst zur Kenntnis nehmen, ist doch viel zu einfach gedacht. Es fragt sich dann doch, unter welchem Licht, unter welchem Gesichtspunkt man die Sachen selbst zu Gesicht bekommt. Erst dann kann man sich an die Lebenswelt oder die Lebenserfahrung heranarbeiten. Im Grunde genommen bleibt die Husserl’sche Lebenswelt eine Welt voller Objekte, die gewissermaßen begrifflich unbeleckt auf der Erde herumlaufen. Der Faktor der Subjektivität kommt bei Husserl nur als positionale Subjektivität vor. Ein Subjekt hat eine gewisse Stellung unter den Objekten, es konstituiert sie zum Beispiel. Aber Fragen wie: Wer bin ich? Was hat das zu bedeuten, dass das Ding in dieser besonderen Position ich bin? kommen bei Husserl nicht vor. Was ist demgegenüber das Neue an Ihrem Ansatz? Es ist, wie ich es nenne, die phänomenologische Revision. Sie ist unbefangener als die phänomenologische Reduktion von Husserl. Husserl wollte sich damit auf einen ausgezeichneten, aber engen Bereich zurückziehen und von da aus gewissermaßen die Welt von oben in den Griff nehmen. Die phänomenologische Revision bezieht sich dagegen zum einen auf eine Relativierung des Phänomenbegriffs. Was ist ein Phänomen? Ein Phänomen ist ein Sachverhalt für jemanden zu einer bestimmten Zeit, bei dem der Betreffende nicht im Ernst bestreiten kann, dass es sich um eine Tatsache handelt. Letzten Endes ist es eine für jemanden jeweils unhintergehbare Hypothese. Das ist aber doppelt relativiert: Ist das auch für die anderen tatsächlich unhintergehbar? Ist das für mich immer so? Man kann nie etwas endgültig mit apodiktischer Gewissheit aussagen. Man kann aber auch nicht einfach auf die Sachen zugehen. Man sieht die Sachen immer im Licht von etwas, etwa von Begriffen, oder als Fall von etwas. Dazu braucht man Sachverhalte und nicht einfach – wie bei Husserl – Sachen. Sachen sind immer vieldeutig, da kann man nur darauf zeigen und nicht ohne Weiteres sagen, was es ist.“ (Schmitz 2019)
Dass die oben beschriebenen Ansätze in unterschiedlichster Weise ihre Wirksamkeit bei der Bewegung von Klient, Aufstellungsleiter und Stellvertreter im Aufstellungsfeld entfalten können, scheint offensichtlich. Dabei geht es nicht darum, zu entscheiden, welcher Ansatz der „richtige“ für den Zugang zu dem, was ist, sei. Uns geht es bei der Vermittlung dieses Themenbereichs in unseren Weiterbildungen ausschließlich um das Wissen selbst zugunsten einer bewussteren Reflexionsmöglichkeit.
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3.4.3 Auseinandersetzungen in der systemischen Therapie Bert Hellinger entwickelte seine Form des Familienstellens in den 1980er-Jahren. Seine Art zu arbeiten hat sich zwar im Lauf der Jahrzehnte gewandelt, im Kern aber kann sie durchaus dirigistisch genannt werden, zumal seine Überzeugungen über systemische Ordnungen der Liebe unwidersprochen bleiben mussten (und in manchen Bereichen heute noch immer müssen). Durch seine Freundschaft mit Gunthard Weber, der wiederum prominenter Vertreter der Systemischen Therapie der Heidelberger Schule war (die bekanntlich konstruktivistisch ausgerichtet ist), und nicht zuletzt auch durch das erste Buch Hellingers, das Weber im Auer Verlag herausbrachte, bekam Hellinger bald große Aufmerksamkeit, insbesondere auch von Webers konstruktivistisch-systemtherapeutisch arbeitenden Kollegen.
Mehr davon Über die berufliche Entwicklung von Bert Hellinger und seine Freundschaft mit Gunthard Weber lesen Sie im Anhang (Abschn. „Bert Hellinger und das Familienstellen“).
Webers konstruktivistische Kollegen stellten sich zum Teil mit Vehemenz gegen Hellingers phänomenologische Methode der Aufstellung, weil sie davon ausgingen, dass vorschreibende Deutungen und persönliche Ansichten des Therapeuten nicht zur therapeutischen Heilung führen können. Im therapeutischen Prozess handele es sich immer und ausschließlich um die persönliche Sichtweise des Klienten und niemals um „absolute Wahrheiten“ im Sinne einer „höheren Ordnung“. Außerdem ginge es bei der Methode der Aufstellung immer auch um die lösungsorientierte Erweiterung des Handlungsrepertoires eines Klienten, es ginge also um die Ressourcen des Klienten und somit um dessen subjektive Wahrheiten im Kontext der Viabilität – und genau deshalb eben nicht um irgendwelche übergeordneten Regeln. Und es gab einen weiteren Aspekt: Die konstruktivistischen Vertreter waren davon überzeugt, dass es in Aufstellungen lediglich um Beziehungen (systemische Strukturen) aller Art und eben nicht um Systeme (und deren Ordnungen gehe). Matthias von Varga Kibéd und Insa Sparrer haben hieraus die Systemischen Strukturaufstellungen entwickelt, bei denen sich die Aufstellungsleiter in erster Linie als Gastgeber für einen Prozess verstehen. Sie arbeiten dabei weder vorausschauend, noch interpretierend. Hellinger stellte gegen dieses konstruktivistische Verständnis wiederum sein phänomenologisches Verständnis dessen, was sich in Aufstellungen zeige: Es gehe weniger darum, die eine oder die andere Sichtweise zu präferieren (die des Aufstellers oder die des Klienten), es gehe vielmehr darum, zu einer absichtslosen Haltung des Schauens zu gelangen, die es ermögliche, jenseits der selbstkonstruierten Konzepte (seien es die des Klienten oder die des Aufstellers) auf die Wirklichkeit zu schauen. In dieser Wirklichkeit erkannte er eine allgemeingültige, festgeschriebene Ordnung, die für jeden gilt, und um ihrer Wirkung willen gälte diese Ordnung in der Aufstellung als einzig richtige Wirklichkeit, weil sie sich für den Klienten in diesem Moment als hilfreich erweisen, ihm neue Erfahrungen und vielleicht sogar neue Lösungsansätze eröffnen könne. (Hartung 2014b, S. 34)
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Offensichtlich meinte Hellinger mit dem, was er als Wirklichkeit bezeichnete, die übergeordnete Wahrheit, er sprach also von etwas, das absolut und unumstößlich übergeordnet sei. Und genau hiermit reihte er sich in einen jahrhundertelangen Disput über die Wahrheit und unseren Zugang zu ihr ein, wie wir ihn im Abschnitt über Wahrheit und Wirklichkeit beschrieben haben.
3.4.4 Ordnung ist fließendes Wasser Um unseren Gedanken wiederaufzunehmen, der sich mit dem polaren Charakter der beiden Erkenntnisansätze befasst, machen wir hier nochmals einen kurzen Ausflug in die Grundlagen der Philosophie, die seit jeher aus 4 Bereichen besteht: • • • •
aus der Logik als Lehre des richtigen Denkens, aus der Ethik als Lehre des richtigen Handelns, aus der Erkenntnistheorie als Frage nach dem richtigen Zugang zur Wahrheit und schließlich der Metaphysik als Lehre des Seins und der Wirklichkeit.
Von Beginn an hat die Frage nach etwas Höherem, etwas Gesetzgebendem eine Rolle gespielt. Verbunden mit diesen Fragen waren immer auch Gedanken zu Polarität als existenziellem Ausdruck dieses Höheren. So spricht der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel von der Polarität als „von einem Unterschiede, in welchem die Unterschiedenen untrennbar sind“ (Hegel 1812). Wir könnten sagen, Hegel spricht von der Medaille, in der ihre beiden verschiedenen Seiten untrennbar ein und dasselbe sind. Mit Blick auf die Existenz herrschte dabei ein grundlegender Konsens: Alle Existenz sei polar, die Natur ein System, in dem die polaren Erscheinungen komplementär angelegt sind. Und was für die Natur gilt, gilt auch für alles, was zu ihr gehört. Es gilt auch für den Menschen – in seinem So-Sein und seinem So-Verhalten. Von der Antike bis in die Neuzeit spannt sich über die Jahrhunderte ein Bogen verschiedenster Naturbeschreibungen, die so und ähnlich klingen. Sie alle vereint der Gedanke, dass alle natürlichen Phänomene polar und in einem Gleichgewicht seien. Die Waage ist das sinnbildliche Symbol dieser natürlichen Polarität – sie zeigt deren Gleichgewicht: Erst wenn die Pole (die zwei Seiten der Waage) einander entsprechen, wenn sie gleich-wertig (oder gleich-gültig) sind, erst dann entsteht ein Gleichgewicht. Und Gleichgewicht ist wiederum eine der Grundbedingungen für den Selbsterhalt lebender Systeme. Deshalb sind die Pole aufeinander bezogen (relativ) und einander ergänzend (komplementär). Die komplementäre Polarität kann man auch anders verbildlichen, um sie deutlicher zu machen: Warm und kalt sind keine Gegensätze, sie sind graduelle Ausdrucksformen desselben. Stellen wir uns ein Thermometer vor, so gibt es zig Zustände der Temperatur auf der Skala von minimal bis maximal. Kalt wird hier der minimale Zustand von warm und umgekehrt: warm ist der maximale Zustand von kalt. Der höhere von zwei Graden gilt als
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der wärmere, während der niedrigere als der kältere gilt. Die minimale Temperatur kann als absolut kalt, die maximale als absolut warm bezeichnet werden, und nur in dieser Korrelation kann man wirklich von Polarität sprechen. So verstanden dienen die polar verwendeten Begriffe als gesetzte Begriffe, als Orientierung für ein intersubjektives Verständnis. Dabei gilt grundsätzlich, dass die Pole, die sich aus der Begriffssetzung ergeben, sich immer nur aufeinander beziehen können – eine Polarität z.B. aus kalt und hell kann es laut dieser Definition nicht geben. Dasselbe gilt für Liebe und Hass, die wir gemeinhin als unvereinbare (antagonistische) Gegensätze empfinden bzw. zu unvereinbaren Gegensätzen denken. Das ist verständlich, wenn man die Gefühle bedenkt, die damit einhergehen, sie könnten konträrer kaum sein. Im Kontext der komplementären Polarität der Natur müssen aber auch sie als Ausdruck desselben Zustands verstanden werden. Hätten wir ein Thermometer für die Qualitätsmessung von Verbundenheit, dann könnten wir etwa mehr Hass und weniger Liebe oder eben umgekehrt ablesen. Hass und Liebe sind demnach Ausdruck ein und derselben (absoluten) Qualität, und je weiter sie gegen absolut tendieren, desto deutlicher wird ihre relative Qualität, ihr aufeinander Bezogensein. Je mehr sich aber der Hass oder die Liebe dem vermeintlichen Nullpunkt nähern, je weniger Zuneigung und Abneigung also, desto weniger können die beiden voneinander unterschieden werden, und desto deutlicher wird, dass Liebe und Hass Ausprägungen derselben untrennbaren Qualität sind: Sie sind Ausprägungen der Verbundenheit. Schaut man mit diesem Verständnis auf die Frage konstruktivistisch oder phänomenologisch, wird deutlich, dass es sich hierbei nur um ein von uns so gedachtes Widerspruchspaar handelt, das in Wirklichkeit polarisierender und damit komplementärer Ausdruck des Identischen ist. Das Identische wäre dann: Erkenntnis. Und Phänomenologie und Konstruktivismus wären verschiedene Ausdrucksformen derselben (weil unteilbaren) Erkenntnis. Gemäß der Systemtheorie muss deshalb davon ausgegangen werden, dass das Gleichgewicht der beiden gleich ausgeprägten Pole Phänomenologie und Konstruktivismus als Ordnungsprinzip eine wesentliche Funktion im Aufstellungssystem (oder im Aufsteller-System) hat – die Funktion heißt Selbsterhalt. Jedem System liegt das Ordnungsprinzip Gleichgewicht als Bedingung für den Selbsterhalt zugrunde. Für das Gleichgewicht braucht es identisch starke Gewichte. Wie aber kann man die vermeintlich unvereinbaren Verständnisansätze Phänomenologie und Konstruktivismus zu einem gleichgewichtigen Einen denken? Zunächst gilt es zu verstehen, dass Gleichgewicht … ein strukturelles Grundprinzip von Systemen ist und kein inhaltliches. Es sagt nicht, dass man über die Gleichgewichtigkeit hinaus bestimmte Regeln befolgen muss. Ob es also konkrete und definierte Ordnungskriterien gibt, wie „Wer zuerst in einem System da war, hat Vorrang vor dem, der später kommt“, oder auch „Das neue System hat Vorrang vor dem alten“, das gibt das Gleichgewichtsprinzip nicht preis. Es sagt nichts anderes, als dass Gleichgewicht nur dann vorliegt, wenn Gleichgewicht vorliegt – wenn zwei oder mehrere Aspekte oder Teile in einem Gleichgewicht sind. Man könnte deshalb die Ordnungskriterien, die dem gedanklichen Ansatz der Phänomenologie zugrunde liegen, als eine gedankliche Konstruktion (nach den Kriterien des Konstruktivismus) verstehen, wobei offen bleibt, ob diese stimmt oder nicht. Für die Aufstellungspraxis erweist sich die Frage als bisher irrelevant, weil die Ordnungskriterien erfahrungsgemäß hilfreich
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wirken, und wenn etwas wirkt, dann hat es das Zeug, Wirklichkeit zu werden. Da es aber keinen Beweis jenseits des empirischen gibt (wir haben immer wieder diese Erfahrung gemacht), wird hier deutlich, dass der Phänomenologie durchaus eine gedankliche Wirklichkeitskonstruktion zugrunde liegt. Drehen wir den Blick rum und schauen auf die Konstruktivisten, die fordern, dass einzig die Sicht und die Ressourcen des Klienten hilfreich für die Arbeit seien. Zeigen sich diese Ressourcen phänomenologisch? Gehen die konstruktivistischen Aufsteller von dem aus, was sich zeigt? Wie aber können sie das tun, wenn die Kernthesen konstruktivistischer Denkansätze besagen, dass entweder erstens eine Wahrnehmung niemals das Abbild einer bewusstseinsunabhängigen Realität liefere, sondern dass Realität für jedes Individuum immer eine Konstruktion aus Sinnesreizen und Gedächtnisleistung darstellt – oder zweitens, dass es mit Hilfe einer besonderen Sprach- und Wissenschaftsmethodik möglich sei, „das naive Vorfinden der Welt“ zu überwinden und durch „methodische Erkenntnis- und Wissenschafts-Konstruktion“ zu ersetzen? Ob also erstens oder zweitens, eins wird hier deutlich: Die Möglichkeit, „die Welt so vorzufinden, wie sie ist“, gibt es laut Konstruktivismus in keinem Fall. Und das gilt dann eben auch für jeden Aufsteller und dessen Wahrnehmung der Sichtweisen und Ressourcen des Klienten. Was sich angesichts dessen offenbart: Es ist lediglich möglich, eine präzise Abgrenzung zwischen dem Phänomenologischen und dem Konstruktivistischen durch theoretische Konstruktionen zu finden. Sobald man die Grundannahmen beider Konstruktionen hinterfragt, beginnen sie, einander ähnlich zu werden. (Hartung 2014b, S. 36 ff.)
Das Phänomenologische, das als Ordnung zugrunde liegt (bzw. vermeintlich übergeordnet ist) und sich in Aufstellungen zeigt, wäre demnach die von Menschen konstruierte Wirklichkeit, die auf den Menschen real wirkt. Es ist eine über die Jahrhunderte gewachsene Kultur, die nicht objektiv, nicht statisch, sondern höchst lebendig in dauerndem Wandel begriffen ist. Sie sorgt für Selbsterhalt und Weiterentwicklung, mithin für die beiden systemischen Grundfunktionen. Hierin liegt die Verbindung der beiden Ansätze, die im Tiefsten Eins sind: Erkenntnis des Miteinanders (Abb. 3.21). Wovon reden wir also, wenn wir von Ordnungen sprechen? Ich stelle sie mir vor wie die Struktur fließenden Wassers, etwa das Bild eines Wasserfalls. Der Lebensstrom zeigt offenbar auch solche Strukturen, man kann sie allerding nur von ganz weit außen wahrnehmen oder von ganz innen … Ordnungen sind etwas Verborgenes … und sie sind etwas Gegebenes. Das heißt aber nicht automatisch, dass sie etwas Objektives oder Unveränderliches sind. Sie haben weder Substanz noch Kontinuität, sondern sie sind gesellschaftliche, vielleicht sogar in manchen Fällen menschheitliche Wirklichkeitskonstruktionen, dem Individuum allerdings vorgegebene Strukturen oder Gesetzmäßigkeiten des Systems, zu dem das Individuum gehört. Ich möchte die Ordnungen in Anlehnung an Rupert Sheldrake Gewohnheiten des Systems nennen. (Essen 2014)
Wir möchten an dieser Stelle noch auf einen Aufsatz von Insa Sparrer hinweisen, in dem sie sich intensiv mit den beiden Denkansätzen unter dem Titel „Konstruktivistische Aspekte der Phänomenologie und phänomenologische Aspekte des Konstruktivismus“ auseinandergesetzt und wertvolle Erkenntnisse entwickelt hat (Sparrer 2001).
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Abb. 3.21 Intuition und Dekonstruktion
Literatur Literatur zu Abschn. 3.2 (Wahrheit und Wirklichkeit) Harari, Y. N. (2018). 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert (S. 124–125). München: Beck. Hartung, S. (2014). Warum funktionieren Aufstellungen? Eine Betrachtung in 14 Thesen (S. 86). Baden-Baden: Deutscher Wissenschafts-Verlag. Heisenberg, W. (1956). Das Naturbild der heutigen Physik (S. 21). Hanburg: Rowohlt. Hellinger, B. (2019). Bert Hellinger über das geistige Familien-Stellen: Die Anfänge. https://www. hellinger.com. Zugegriffen: 2. Nov. 2019. Kahnemann, D. (2011). Schnelles Denken, langsames Denken (Thinking, fast and slow). Copyright 2011 by Daniel Kahnemann. Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2012 (S. 112, 127). München: Siedler. Kant, I. (1900). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS). Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff., AA IV, 421/GMS, BA 52. https://korpora.zim. uni-duisburg-essen.de/Kant/aa04/421.html. Zugegriffen: 2. Nov. 2019. Thomas, W. I. (1928). The Methology of Behavior Study, Chapter 13, The Child in America: Behavior Problems and Programs, S. 553–576. https://brocku.ca/MeadProject/Thomas/ Thomas_1928_13.html. Aufgerufen am 27. Mai 2020. von Glasersfeld, E. (1992). Konstruktion der Wirklichkeit und der Begriff der Objektivität. In H. von Foerster et al. (Hrsg.), Einführung in den Konstruktivismus. Veröffentlichungen der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung (5. Aufl., S. 29). München: Piper. Weinhold, J., Bornhäuser, A., Hunger, C., & Schweitzer, J.. (2014). Dreierlei Wirksamkeit, die Heidelberger Studie zu Systemaufstellungen (S. 2014). Heidelberg: Carl Auer.
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Systemordnung(en)
Inhaltsverzeichnis 4.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Gestalttheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Systemtheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Ordnungsprinzipien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Zusammenfassung Systemordnung(en). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4.1 Einführung Wenn wir über systemische Aufstellungen sprechen, sprechen wir über die Aufstellung von Systemen oder von systemischen Strukturen. Und dabei verwenden wir möglicherweise dieselbe Vokabel für unterschiedliche Vorstellungen dessen, was ein System ist, und was es eigentlich bedeutet, wenn man sagt, man arbeite systemisch. Weil sich die grundlegenden Erkenntnisse über Systeme auf dem gedanklichen Boden von Gestalttheorie und Systemtheorie entwickelt haben, geben wir in diesem Kapitel eine Übersicht über die Erkenntnisse und Systemdefinitionen der beiden Metatheorien und die Schlussfolgerungen, die daraus für Systemaufstellungen und systemisches Denken und Handeln gezogen werden können. Für die Teilnehmer unserer Weiterbildung ist das Wissen um die gedanklichen Quellen ein Muss, zumal mit Blick auf die beobachtbare Entwicklung der Übertragung von Aufstellungsarbeit in die unterschiedlichsten Berufsbereiche – und eben damit in die unterschiedlichsten Systeme, denen einige Prinzipien und Ordnungen gemein und andere nicht gemein sind.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hartung und W. Spitta, Lehrbuch der Systemaufstellungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61192-0_4
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4 Systemordnung(en)
4.2 Gestalttheorie Dieser Abschnitt behandelt abstrakte – und zunächst nicht leicht verständliche – Themen der Gestalt- und Systemtheorie, die für die praktische Arbeit in Systemen eine große Bedeutung haben. Wir haben für die Vermittlung in der Weiterbildung zahlreiche Aufstellungsformate und Übersichtsgrafiken zusammengestellt, die die Verständlichkeit erleichtern. Gestalt- und Systemtheorie sind die beiden Metatheorien des 20. Jahrhunderts. Als solche haben sie Erkenntnisse gewonnen, die eine übergeordnete Gültigkeit einerseits für alle Wissenschaftsbereiche haben. Andererseits bereichern ihre Erkenntnisse maßgeblich die Arbeit in und mit sozialen Konstrukten – also mit allen Formen von Systemen, die von Menschen gebildet werden können. Die beiden Theorien haben deshalb einen zentralen Platz in der Weiterbildung in Systemaufstellung. Die Kenntnis ermöglicht am Ende eine Antwort auf die Frage: „Was meinen Sie eigentlich, wenn Sie sagen, dass Sie systemisch arbeiten?“. Die Gestalttheorie entstand aus den Anfängen der Psychologie, die sich erst Ende des 19. Jahrhunderts aus der Philosophie gelöst und im Kontext der Untersuchungen zu der Frage, wie Menschen wahrnehmen, zur eigenständigen Wissenschaft entwickelt hatte. Zunächst sprachen die Wissenschaftler von Gestaltpsychologie, weil sie die Wahrnehmung als einen psychischen Prozess verstanden. Bald aber änderten sie den Namen in Gestalttheorie und untermauerten damit auch ihren Anspruch, metatheoretische Erkenntnisse gewonnen zu haben, die nicht nur für die Wahrnehmung des Einzelnen, sondern für alle Systeme gelten. Die Erkenntnisse der Gestalttheorie und der Systemtheorie sind meta-
theoretisch gültig – sie gelten für den Einzelnen, und sie gelten für alle offenen Systeme. Entstanden ist die Gestalttheorie aus der Frage, wie der Mensch wahrnimmt. In ihren Ursprüngen hatte sie untersucht, wie die Ordnung in der Wahrnehmung entsteht, nach welchen grundlegenden Regeln wir eigentlich wahrnehmen, und was wir dabei berücksichtigen müssen. Denn unsere Wahrnehmung hat wesentlichen Einfluss auf unser Denken, unsere Glaubenssätze und also auf unser Verhalten. Die Frage nach den Regeln der Wahrnehmung wiederum war (und ist) entscheidend für jede Wissenschaft, der es zwangsläufig um die zentrale Frage geht, ob ihr Entwurf der Welt wahr ist und welche Konsequenzen das für uns hat. Denn auch wenn (jedenfalls die meisten) Wissenschaften für sich beanspruchen, deskriptiv zu sein, wenn sie also behaupten, dass sie nur beschreiben, was aus ihrer Sicht die Realität ist (was also ihrer Ansicht nach wahr ist), so führt doch jedes Verständnis von Welt immer auch zu einem entsprechenden Katalog möglichen Verhaltens. Insofern ist also jede Behauptung von Wahrheit in gewisser Hinsicht auch normativ (regelsetzend), weil sie zumindest die Richtung für Verhalten vorgibt. (Hartung 2014, S. 1)
4.2 Gestalttheorie
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Mehr davon Vertiefte Darlegungen über die gestalttheoretischen Erkenntnisse zur menschlichen Wahrnehmung finden Sie in Kap. 3 („Wahrnehmung und Erkenntnis“).
Im Rahmen ihrer Untersuchungen hatten die Gestaltwissenschaftler erkannt, dass der Mensch dazu tendiert, in übergeordneten Einheiten, in Entitäten wahrzunehmen. So nehmen wir zum Beispiel ein Gegenüber als ein eigenständiges Konvolut – eine individuelle Person – aus vielen einzelnen Aspekten, als „Du“ wahr. Dass wir ein unteilbares Ganzes wahrnehmen, benennen wir auch: Wir sprechen vom Individuum, vom Unteilbaren. Wir erkennen in der Summe der Einzelaspekte eine geschlossene, nicht teilbare Einheit. Die Wahrnehmungspsychologen, die das erkannt hatten, sprachen angesichts dieser übergeordneten Wahrnehmungseinheit von der „Gestalt“. Und nachdem sie einmal die Gestalt erkannt hatten, untersuchten sie diese autonome Einheit, die für ihre Erkenntnisse eine immerhin derart fundamentale Bedeutung hatte, dass sie sich schließlich nach ihr benannten und von der Wahrnehmungspsychologie über die Gestaltpsychologie schließlich zur Gestalttheorie avancierten. Der Begriff Gestalt wurde erstmals von Christian von Ehrenfels (1859–1932) verwendet, einem österreichischen Philosophen, der als „Vordenker“ der Gestalttheorie gilt. In seiner 1890 veröffentlichten Arbeit „Über Gestaltqualitäten“ definierte Ehrenfels Gestalt als das Ganze, das mehr ist, als die Summe seiner Teile. Was er damit meinte, erklärte er anhand einer Melodie: Sie besteht aus einzelnen Noten. Transponiert man diese Noten in eine andere Tonart, bleibt dennoch die Melodie erhalten. Das Ganze bleibt erhalten, auch wenn man seine Elemente komplett austauscht. (Hartung 2014, S. 3)
Das Beispiel der Melodie zeigt: Aus dem Zusammenspiel von Elementen wird ein autonomes Ganzes, eine Einheit oder eben: eine Gestalt. Entscheidend für den Erhalt dieser Gestalt – wie hier der Melodie – ist die Qualität der neuen Töne und deren Beziehung zueinander. Gestalt gilt insofern als ein übersummatives Ganzes. Das bedeutet, dass die Gestalt nicht nur mehr, sondern tatsächlich etwas anderes als die Summe der Elemente ist (Abb. 4.1). Als dieses Andere ist die Gestalt eine autonome Entität, ein eigenständiges Ganzes … • mit einer eigenen Struktur – sie bestimmt die Aufbau- und Ablauforganisation der Elemente; • mit einer spezifischen (Ganz-)Beschaffenheit – sie beschreibt die hervorstechende Qualität der Gestalt, wie z. B. Sicherheit bei einem Mercedes, Pelzigkeit bei einem Pfirsich, Stacheligkeit bei einem Kaktus; • und mit einem einzigartigen Wesen – es ist je nach System eine Mischung z. B. aus Selbst, Ich-Identität, Potenzial und Handlung beim Individuum oder aus Vision, Mission, Kultur, und Handlung in der Organisation (Abb. 4.2).
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4 Systemordnung(en)
Abb. 4.1 Das Ganze ist etwas Anderes. Dieselben Elemente – links gereiht und gestapelt zum Block, rechts zum Buchstaben G komponiert. Die Summe der Elemente formiert sich jeweils zu verschiedenen Gestalten
Abb. 4.2 Struktur, Beschaffenheit, Wesen
Im Zuge ihres Selbsterhalts wird es für die Gestalt nun entscheidend, dass ihre (konstituierenden) Elemente austauschbar werden – wie das Beispiel der Melodie gezeigt hat. Voraussetzung dafür ist, dass die jeweiligen Funktionen und Beziehungsstrukturen der Gestaltelemente weiterhin gesichert bleiben.
Die Gestalt ist ein Ganzes, das mehr bzw. etwas Anderes ist als die Summe seiner Teile. Das Ganze hat eine eigene Struktur, eine spezifische (Ganz-) Beschaffenheit und ein einzigartiges Wesen.
4.2 Gestalttheorie
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Was hier vielleicht theoretisch abstrakt scheint, hat entscheidende praktische Konsequenzen für unser Verständnis von Einheiten bzw. Systemen, die aus dem Zusammenspiel von Elementen entstehen und bestehen. Systeme entstehen, wenn einzelne Elemente mit einer gemeinsamen Ausrichtung komponiert werden. Sind Systeme einmal entstanden, benötigen sie für ihren Selbsterhalt die Elemente, aus denen sie entstanden ist, nunmehr als austauschbare Funktionsträger. Überträgt man diese Erkenntnis zum Beispiel auf Unternehmen, wird deutlich, dass die Organisationsentwicklung der Entwicklung der (Unternehmens-)Gestalt als solcher dient, während die Personalentwicklung versucht, die Menschen im Unternehmen im Interesse der Gestalt als jeweilige Funktionsträger einzusetzen, mit Funktionen zu betrauen und weiter zu entwickeln. So werden Menschen in der Organisation zum austauschbaren Funktionsträger. Dass die Mitarbeiter dabei auch unter humanen Aspekten verstanden und behandelt werden müssen, versteht sich von selbst. Zugleich ist der Spagat zwischen Person, Funktion und Rolle im Alltag immer wieder die größte Herausforderung für den Erhalt und die Weiterentwicklung der Systeme. Auch Gesellschaften bzw. Nationen entstehen durch das Zusammenwirken von Menschen. Als Gestalt besteht die Nation auch dann weiter, wenn die Menschen, die sie einst gegründet haben, sterben bzw. lange tot sind. Für ihren Erhalt entscheidend ist für die Nation, dass neue Menschen dazukommen, die sich an die nationalen Regeln halten, sich in den Strukturen einfinden und im Wertekodex der Kultur ihren Platz finden. Wir kennen die Dimension der Bedeutung des nationalen Selbsterhalts aus zahlreichen Debatten über „Leitkultur“ angesichts aktueller Migrantenströme. Zugleich ist die Nation darauf angewiesen, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln, anderenfalls kann sie sich als System nicht erhalten. Hierfür muss die nationale Identität mit ihren spezifischen Grundstrukturen und kulturellen Eigenheiten derart stabil sein, dass Veränderungen und Innovationen gleich welcher Art den nationalen Erhalt nicht gefährden. Wer sich den aktuellen Integrationsdiskurs vergegenwärtigt, versteht, wie wegweisend die Erkenntnisse der Gestaltwissenschaftler waren und noch sind. Aufstellungsformat Gestalt, Struktur, Beschaffenheit, Wesen Aus der Definition der Gestalt ergibt sich ein Aufstellungsformat, das für die Vermittlung der gestalttheoretischen Erkenntnisse aus unserer Erfahrung hilfreich ist: Das strukturelle Aufstellungsformat Gestalt, Struktur, Beschaffenheit, Wesen. Wir sprechen hier deshalb von einem strukturellen Format, weil weniger das System als vielmehr eine bestimmte Struktur aufgestellt wird, die Auskunft über das Verhältnis struktureller Aspekte innerhalb eines Systems geben kann. Ein Teilnehmer wählt ein System, z. B. seine Familie oder die Firma, in der er arbeitet. Für das System steht der Stellvertreter Gestalt, die anderen Stellvertreter stehen für die drei genannten Gestaltaspekte.
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4 Systemordnung(en)
Abb. 4.3 Aufstellungsformat Gestalt
Die 4 Positionen haben keinen festgelegten Platz im Feld. Durch die Erfahrung der jeweiligen Beziehungsqualitäten erleben die Teilnehmer die Bedeutung der Gestalt und ihrer strukturellen Aspekte am eigenen Leib (Abb. 4.3). Die Erfahrungen, die in der Aufstellung von den Stellvertretern ebenso wie bei den Zuschauenden gemacht werden, können in Anschluss an die Aufstellung im Plenum erörtert werden.
Mehr davon Im Rahmen unserer Hochschul-Vorlesungen zu systemischer Organisationsentwicklung haben wir mit den Studenten die Erkenntnisse der Gestalttheorie mithilfe dieses Aufstellungsformats untersucht und weitreichende Erkenntnisse über die jeweils betrachtete Organisation, z. B. über einen großen deutschen Automobilhersteller erhalten.
Das Phänomen des Gestaltcharakters und der Autonomie der Gestalt beschreibt einer der Hauptbegründer der Gestalttheorie, Max Wertheimer (1880–1943), so: Es gibt Zusammenhänge, bei denen nicht, was im Ganzen geschieht, sich daraus herleitet, wie die einzelnen Stücke sind und sich zusammensetzen, sondern umgekehrt, wo – im prägnanten Fall – sich das, was an einem Teil dieses Ganzen geschieht, bestimmt ist von den inneren Strukturgesetzen dieses seines Ganzen. (Wertheimer 1925)
Die Erkenntnisse der Gestalttheorie waren und sind umfassend, und sie haben bis heute fundamentale Gültigkeit für das Verständnis von organisierten Entitäten. Warum die Gestalttheorie dennoch eine aktuell eher untergeordnete Rolle in der Rezeption in
4.2 Gestalttheorie
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Deutschland hat, kann möglicherweise mit der Emigration der Juden aus Nazideutschland erklärt werden – die „Gestaltler“ waren alle Juden. In den USA hingegen, wohin viele von ihnen emigriert sind, spielt die Gestalttheorie ebenso wie die Gestalttherapie noch heute eine große Rolle, und beide sind von da aus in neuer Form zurück zu uns gekommen – so gilt z. B. die Gestalttherapie als eine der wesentlichen Wurzeln der Aufstellungsarbeit.
Mehr davon Informationen über die Gestalttherapie finden Sie im Anhang in der Biografie von Fritz Perls.
Zusammengefasst sind die aus unserer Sicht 4 wesentlichen übergeordnet gültigen Erkenntnisse der Gestalttheorie die Folgenden (s. auch Abb. 4.4): 1. Das Individuum teilt nicht – wir nehmen Ganzheiten wahr In unserer Wahrnehmung komponieren wir aus einzelnen Elementen immer ein (für uns sinnvolles) Ganzes. Das ist für uns so wichtig, dass wir sogar Fehlendes in der Phantasie zugunsten des Wahrnehmungs-Ganzen ersetzen. 2. Wir nehmen in Mustern wahr Aus der strukturellen Anordnung der Elemente einer Gestalt/eines Systems konstruieren wir für uns sinnvolle (Beziehungs-)Muster.
Mehr davon Welche Muster unsere Wahrnehmung dominieren, lesen Sie in Kap. 3 („Wahrnehmung und Erkenntnis“).
3. Bedürfnisse organisieren die Wahrnehmung Was wir als sinnvolles Ganzes erkennen, wird durch unsere Bedürfnisse bestimmt. Das ist eine der Kernthesen der psychologischen Feldtheorie, die wir oben dargelegt haben. 4. Gestalt ist übersummativ Übersummativ meint: Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile. Das Ganze ist eine autonome Ganz- bzw. Einheit. Die einzelnen Elemente werden durch die inneren Strukturgesetze des Ganzen in ihrer Qualität geprägt. Als Funktionselemente müssen sie für den Selbsterhalt und die Weiterentwicklung austauschbar sein.
Abb. 4.4 Erkenntnisse der Gestalttheorie
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4 Systemordnung(en)
4.3 Systemtheorie Während die Gestalttheoretiker sich auf die Merkmale des größeren Ganzen sowie auf die Charakteristika der menschlichen Wahrnehmung konzentrierten, befassten sich die Systemtheoretiker im Wesentlichen mit Fragen nach den Grundfunktionen und Funktionsprinzipien der übersummativen Entität, die sie nun nicht mehr Gestalt, sondern eben System nannten. Die Entwicklung der beiden Theorien überschneidet sich zeitlich, und während die Gestalttheorie sich aus der Psychologie (aus der Untersuchung der Entstehung von Ordnung in psychischen Systemen) entwickelt hat, finden sich allererste Grundlagen für systemische Sichtweisen bei Johann Gottfried Herder, der Ende des 18. Jahrhunderts Funktionsgesetze für biologische Systeme formuliert hatte. Erste systemtheoretische Gedanken tauchten dann Anfang des 20. Jahrhunderts auf. In der Kombination der beiden Theorien geht es – grob gesagt – also um die Entstehung von strukturierten Systemen (Ordnung), deren Eigenheiten und der Art, wie sie funktionieren und wie wir sie wahrnehmen. Der Oberbegriff wäre also: Sozialwissenschaft. (Hartung 2014, S. 31)
Den Systembegriff gab es bereits vor der Systemtheorie bei Johann Gottfried Herder (1744–1803). Der deutsche Theologe und Philosoph untersuchte Selbsterhalt und Selbstorganisation lebender Organismen. Er verstand sie als ein synergetisches System zahlreicher Einzelelemente zum Zweck des Selbsterhalts. Erste systemische Erkenntnisse gab es also bereits zu der Zeit von Immanuel Kant im 18. Jahrhundert, der das systemische Denken in sein 2. Hauptwerk „Kritik der praktischen Vernunft“ integrierte (Kant 1788). Den Begriff System definierten die Wissenschaftler so: Ein System ist eine zweckgerichtete Menge von Elementen und deren Beziehung zueinander. Mit Blick auf die Funktion des Systems (Systemziel) ist ihr Wesen immer organisierte Komplexität, das bedeutet auch: Die Wirklichkeit des Systems wird von den Systemelementen durch kooperative Organisation konstruiert (Abb. 4.5).
Abb. 4.5 Gestalt und System
4.3 Systemtheorie
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Hier zeigen sich auch die grundlegendenden Gedanken, aus denen sich später – im Kontext der Systemaufstellung – sowohl ein systemisch-konstruktivistisches als auch ein systemisch-phänomenologisches Verständnis entwickelt hat. • Nach konstruktivistischem Verständnis ist unsere soziale Beziehungswahrheit eine von uns konstruierte soziale Wirklichkeit. Eben diese Überzeugung wurde zum Fundament der systemischen Familientherapie, bei der es – einfach formuliert – darum geht, dass die Familienmitglieder ihr Miteinander aushandeln. Dabei wird die Beziehungswirklichkeit erst konstruiert. Dass die individuelle und soziale Wirklichkeit immer konstruiert und nicht gegeben ist, davon sind die konstruktivistisch ausgerichteten Systemaufsteller überzeugt. • Nach phänomenologischem Verständnis gilt die Wesenhaftigkeit der Gestalt/der Systems, das seinen Elementen vorschreibt, welche Qualität diese in sich und welche strukturellen und qualitativen Beziehungen sie zueinander haben müssen, damit die Energie im System ungestört fließen kann und das System erhalten bleibt. In der Aufstellungsarbeit spricht man in diesem Zusammenhang bei privaten Systemen wie Paarbeziehung oder Familie von den „Ordnungen der Liebe“, ein Begriff, der von Bert Hellinger geprägt wurde. In Organisationen würde man eher von übergeordnet gültigen Regeln sprechen.
Mehr davon Die Ordnungsprinzipien in Familien und Organisationen stellen wir Ihnen in Abschn. 4.4 („Ordnungsprinzipien“) vor. Weitere Informationen zu den Ordnungen der Liebe finden Sie auch in Abschn. 1.5.2 („Ordnungen der Liebe“).
Für das konstruktivistische Verständnis der Systemorganisation wiederum war der zentrale Gedanke der Aufklärung bedeutend: Es gibt keine objektive Wahrheit, es gibt lediglich die transzendentale, mithin die radikal subjektive Erkenntnis. Diese wird mit Blick auf den Systemzweck im sozialen Miteinander zur intersubjektiven Erkenntniswirklichkeit für die Systembeteiligten. Im Miteinander ist alles konstruiert und dient dem Systemzweck. Das entspricht der Philosophie der praktischen Vernunft von Immanuel Kant.
Mehr davon Vertiefte Informationen zur praktischen Vernunft bzw. zur konstruktivistischen Selbstorganisation finden Sie in Abschn. 3.2 („Wahrheit und Wirklichkeit“). Vertiefte Informationen zu den phänomenologischen und konstruktivistischen Aspekten von Systemen lesen Sie in Abschn. 3.4 („Phänomenologie und Konstruktivismus“).
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4 Systemordnung(en)
4.3.1 Offene Systeme Nach der Definition für den Begriff jedenfalls gelten als System entsprechend einzelne Organismen (Individuen) und überindividuelle (intersubjektive) soziale Konstrukte wie Paare, Familien, Gruppen, Gesellschaften, Nationen und Organisationen. Als Systeme sind sie offen, das meint, dass sie auf den Austausch mit ihrem Umfeld angewiesen sind. Ohne diesen Austausch können sie nicht existieren. Der Austausch ist physischer Natur – z. B. bei der Nahrungsaufnahme und dem Ausscheiden nicht benötigter Nahrungsanteile. Er ist psychischer Natur – z. B. bei allen Varianten von Zu- und Abneigung, und er ist geistiger Natur – beim Lehren und Lernen wie in allen Bereichen der Kommunikation (Abb. 4.6).
Organismen (Lebewesen) und ihre sozialen Konstrukte sind offene Systeme. Als solche sind sie auf den physischen, psychischen und geistigen Austausch mit ihrem Umfeld angewiesen.
Für alle offenen Systeme definierten die Systemtheoretiker zwei Grundfunktionen: Selbsterhalt und Weiterentwicklung.
4.3.2 Selbsterhalt und Weiterentwicklung Selbsterhalt und Weiterentwicklung sind die beiden zentralen Funktionen von Systemen – oder umgekehrt: Sind sie einmal entstanden, haben Systeme die Aufgabe, sich selbst zu erhalten und sich weiter zu entwickeln. Sind diese beiden Grundfunktionen nicht gegeben, können Systeme nicht bestehen bleiben. Das aber müssen sie, einerseits um das
Abb. 4.6 Offene Systeme
4.3 Systemtheorie
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Ziel, für das sie gebildet wurden, erreichen zu können. Andererseits vor allem deshalb, weil das System, ist es einmal entstanden, einen gewissen Selbstzweck als autonome Einheit verfolgt: Es will bestehen bleiben, weil es besteht. Existenz fordert Existenz und dient der Existenz. Die systemischen Grundfunktionen Selbsterhalt und Weiterentwicklung bilden eine polar organisierte Systemeinheit, eine Polarität, die als eine nicht-dualistische Verbindung aus zwei Polen verstanden wird. Sie sind komplementär, d. h. sie ergänzen einander zu einem Ganzen. • Der Selbsterhalt impliziert: – Wir haben es bis hierher immer so getan, deshalb sind wir noch da. Also werden wir unsere Handlungen nicht ändern. Wir würden unseren Erhalt (unsere Stabilität) bedrohen. Wir tun das hier so und werden es immer wieder so tun. • Die Weiterentwicklung sagt: – Alles ändert sich, und weil wir auf den Austausch angewiesen sind, müssen auch wir uns ändern. Außerdem werden wir automatisch älter. Auch das bringt neue Herausforderungen mit sich. Wir müssen also unsere Handlungen ändern, wenn wir dem gerecht werden wollen.
Mehr davon Wie sich die Systemidentität entlang des Selbsterhalts und der Weiterentwicklung bildet, lesen Sie im Abschn. „Entwicklung der Identität“ (s. unten).
Die beiden Pole scheinen unvereinbar, ein Widerspruch, der keine Verbindung kennt – weiter so, oder anders weiter? In der Regel geht der Wunsch hin zu den Änderungen, während gleichzeitig alles „beim Alten“ bleiben soll. Tatsächlich sind Selbsterhalt und Weiterentwicklung jedoch Ausdruck desselben, sie sind die zwei Seiten derselben Medaille. Was also wäre in dieser Polarität die Medaille? So wie heiß und kalt Ausdruck von Temperatur sind, hell und dunkel Ausdruck von Licht und Liebe und Hass Ausdruck von Verbundenheit – genau so sind Selbsterhalt und Weiterentwicklung der polare Ausdruck der Existenz offener Systeme. Polarität ist in ihrer scheinbaren Widersprüchlichkeit für den menschlichen Verstand nicht leicht nachzuvollziehen. Wie z. B. soll man sich gleichzeitig sowohl identisch als auch anders verhalten, sowohl selbstähnlich als auch nicht selbstähnlich? Tatsächlich aber muss genau diese Spagat-gleiche Herausforderung gemeistert werden, denn genau darauf kommt es bei Selbsterhalt und Weiterentwicklung an – bei Individuen, Familien, Paaren, Gruppen und Organisationen. Aufstellungsformat: System, Selbsterhalt und Weiterentwicklung Für die Vermittlung der beiden polar ausgerichteten Grundfunktionen für offene Systeme verwenden wir das strukturelle Aufstellungsformat: System, Selbsterhalt und Weiterentwicklung. Für die Selbsterfahrung der Teilnehmer regen wir zunächst an, beim
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4 Systemordnung(en)
Abb. 4.7 Selbsterhalt und Weiterentwicklung
Individuum zu starten – der Stellvertreter System steht dann für die eigene Person. Für die strukturelle Aufstellung verwenden wir eine festgelegte Polaritätenanordnung, bei der das System und seine beiden Pole ein gleichschenkliges Dreieck bilden (Abb. 4.7). Auch dieses Format verwenden wir im Rahmen unserer Vorlesungen zur systemischen Organisationsentwicklung. In diesem Bereich leuchtet der Einsatz vielleicht unmittelbarer ein, da es in Organisationen tagtäglich darum geht, das Gleichgewicht zwischen den beiden Aspekten zu gestalten. Natürlich aber eignet sich das Format auch für Familien, in denen die ununterbrochene Folge der Generation nicht nur ein Dauerthema, sondern eben auch der Garant für den familiären Erhalt und die Weiterentwicklung ist.
Mehr davon Über den Selbsterhalt in Familien und Organisationen lesen Sie mehr in Abschn. 4.3.2.2 „Grundfunktionen in Familie und Organisation“ (s. unten).
4.3.2.1 Entwicklung der Identität Die Systemtheorie hat erkannt: Die Identität des Systems entwickelt sich entlang der Systemhandlungen: „Ich bin so, weil ich es so tue“. Da, wo sich das identifizierbare Selbst des Systems durch seine Handlungen herausbildet, tendiert das System, sich dadurch zu erhalten, dass es dieselben Handlungen wiederholt „Ich bin so, weil ich es so tue. Also bleibe ich so, wenn ich es immer wieder genauso tue. Deshalb tue ich es immer wieder so“. Diese Erkenntnis über die Systemidentität könnte man auch als Systempsychologie bezeichnen. Denn ohne das identifizierbare Selbst, das entlang der Handlungen entstanden ist, könnte das System nicht zwischen Ich und Nicht-Ich unterscheiden, und das hieße, dass es sich als System nicht definieren könnte. Selbsterhalt bedeutet neben dem notwendigen Austausch mit dem Umfeld also in erster Linie: Ichbehauptung.
4.3 Systemtheorie
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Die Ichbehauptung geschieht dadurch, dass dieselben Handlungen wiederholt werden. Die Systemtheorie nennt das selbstreferenziell, also auf sich selbst (auf sein Selbst) bezogen handeln. Bliebe es aber ausschließlich bei der existenziell notwendigen Selbstbezogenheit, wäre die Existenz des Systems gefährdet. „Panta rhei“ lautet die Existenzformel der Natur, die der griechische Philosoph Heraklit (520–460 v. Chr.) so benannt hat. Organismen existieren in einem andauernden Fluss der Veränderung. Sie entstehen durch Befruchtung gleich welcher Art, treten hinaus ins Leben (das lateinische Wort „existere“ meint: heraustreten), entwickeln und entfalten sich, werden älter und schwächer und sterben irgendwann. Der Wandel der Organismen (der offenen Systeme) ist andauernd. Und ihre Existenz hat bei aller Ausrichtung auf Selbsterhalt eine mehr oder weniger präzise vorhersagbare Halbwertzeit und damit immer auch ein Ende. So sehr der Tod also Lebensbegleiter für uns alle ist, so wichtig ist uns in unserem Bemühen um Selbsterhalt die Grundhaltung, die der griechische Philosoph Epikur (341–270 v. Chr.) so poetisch in Worte gefasst hat: Ferner gewöhne Dich an den Gedanken, dass der Tod für uns ein Nichts ist. Beruht doch alles Gute und alles Üble nur auf Empfindung, der Tod aber ist Aufhebung der Empfindung. Darum macht die Erkenntnis, dass der Tod ein Nichts ist, uns das vergängliche Leben erst köstlich. So ist also der Tod, das schrecklichste der Übel, für uns ein Nichts: Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr. (Epikur 1973)
„Carpe Diem“ (lateinisch = pflücke den Tag) – so schließt der römische Dichter Horaz im Jahr 23 v. Chr. angesichts dieser Erkenntnis von Epikur. Aus systemischer Sicht liegt das Ziel eines einzelnen Organismus im Erhalt und der Entwicklung seiner Existenz. Er muss existieren und sich selbst erhalten, um sich weiterzuentwickeln. Er muss sich weiterentwickeln, um existieren und sich selbst erhalten zu können. Sonst ist er nicht. Das andauernde Werden lebt er so lange, bis sein Entwicklungsprozess angeschlossen ist und er stirbt. Dann ist er nicht mehr. Selbsterhalt bedeutet in diesem Prozess: Wiederholung der Handlung. Weiterentwicklung bedeutet: Veränderung der Handlung. Das scheint ein Widerspruch in sich, aber wie gesagt, es scheint nur ein Widerspruch und ist in Wirklichkeit die existenzbedingende Polarität eines jeden Systems. Und eben damit hat diese existenzielle Polarität eine fundamentale Bedeutung für jeden beratenden und/oder therapeutischen Prozess. Denn eben hier stellt sich nicht selten das „therapeutische Paradox“ ein, wenn der Klient etwas ändern will, weil er so, wie er sich verhält, nicht mehr zurechtkommt, zugleich aber Angst hat, sein Verhalten zu ändern, weil dadurch sein Selbsterhalt bedroht zu sein scheint (Abb. 4.8). Die Weiterentwicklung birgt noch einen weiteren paradoxen Aspekt in sich: Nach Fritz Perls, dem Begründer der Gestalttherapie, besagt das Paradoxon der Veränderung, dass Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, und nicht, wenn er versucht, zu werden, was er nicht ist.
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Abb. 4.8 Polare Existenz
Kurz gefasst
Therapeutisches Paradox: Der Klient hofft auf Veränderung, ohne sich verändern zu wollen. Paradox der Veränderung: Veränderung geschieht, wenn man ja zu dem sagt, wie es ist.
Mehr davon Über Fritz Perls und die Gestalttherapie finden Sie vertiefte Informationen im Anhang.
Im Spannungsfeld von „weiter so“ und „anders weiter“ zeigt sich auch die Herausforderung für die Weiterentwicklung der Systeme: Damit sich etwas weiterentwickelt, muss man es anders tun/sich anders verhalten, als man es bisher getan/sich bisher verhalten hat. Die Frage ist dabei: Wie kann ich mein Verhalten ändern, ohne meine Identität, mein charakteristisches Sosein zu verlieren? Was muss ich werden? Manche versuchen, den Weg aus dem scheinbaren Dilemma dadurch zu ebnen, dass sie zwischen Ego (meine gedachte Identität) und Selbst (meine Existenz) unterscheiden (werden, was man im Kern ist, und nicht werden, was man in der Phantasie sein will). Für die Selbsterfahrung in diesem Kontext verwenden wir in unseren Weiterbildungen das Aufstellungsformat Ego und Selbst in unserem ersten Modul.
Mehr davon Über das Aufstellungsmodul Selbst und Ego lesen Sie in Abschn. 8.7.2 („Das erste Modul: Detaillierte Planung der 3 Tage“).
Für das Selbst gibt es zahlreiche Bezeichnungen, und es gibt nicht wenige Strömungen, die dieser gedanklichen Konstruktion zusprechen oder davon überzeugt sind, dass der
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Dualismus aus Ego und Selbst ein menschliches Phänomen, mithin etwas objektiv Gegebenes, zumindest Natürliches sei. Für die Möglichkeit der Selbsterfahrung im Rahmen der Erweiterung von Ego und Selbst lässt sich das Aufstellungsformat Selbsterhalt und Weiterentwicklung modifizieren. Die 4 Positionen im Feld sind jetzt: • Ego, • Selbst, • Weiter-so und • Anders-weiter. Als strukturelles Format sind die Positionen vorgegeben. Selbst und Ego stehen einander gegenüber, das Weiter-so links vom Ego (Abb. 4.9). Kurz gefasst
Alle offenen Systeme haben zwei Grundfunktionen, die eine Polarität bilden: Selbsterhalt und Weiterentwicklung. Selbsterhalt wird gewährleistet durch Wiederholung derselben Handlungen/desselben Verhaltens. Weiterentwicklung wird durch neue, andere Handlungen/anderes Verhalten ermöglicht.
4.3.2.2 Grundfunktionen in Familie und Organisation Bis hierher haben wir die Polarität der beiden Grundfunktionen Selbsterhalt und Weiterentwicklung in einem Einzelorganismus (im Individuum) betrachtet, der im komplexen Abb. 4.9 Ego, Selbst, Weiter-so, Anders-weiter
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Zusammenspiel seiner vielen Elemente als organisiertes System mit dem Ziel bzw. Selbstzweck der Existenz verstanden werden kann. Was aber ist mit den überindividuellen sozialen Konstrukten, die von den Einzelorganismen mit verschiedenen Absichten gebildet werden? Im Wesentlichen kann man für diese Betrachtung der sozialen Konstrukte zwei Gruppen unterscheiden: Familien und Organisationen. Familien Einerseits ist die Familie auf Selbsterhalt bedacht. Das tut sie dadurch, dass sie sich bestimmte Familienregeln für das Verhalten nach innen und nach außen gibt. Die Regeln beschreiben ein immer ähnliches Verhalten, das sicherstellen soll, dass die Familie so bleibt, wie sie ist. Ein solches Verhalten wird als selbstähnlich bezeichnet, und es äußert sich in typischen Sätzen wie: „Wir tun das hier so, weil wir das hier immer so getan haben“. Nun wird sich die Familie zwangsläufig verändern – die Kinder werden groß, die Eltern alt. Für den Selbsterhalt braucht es nun eine Vorsorge für die Weiterentwicklung, und die gelingt wiederum nur, wenn das Verhalten geändert wird: Die Kinder sollen nun selber Kinder in die Welt setzen (für den familiären Selbsterhalt), die Eltern werden zu Großeltern und müssen sich als solche anderes verhalten, und spätestens wenn die Eltern (jetzt Großeltern) sterben, soll bereits eine bestimmte Familienkultur weitergegeben worden sein. Das familiäre System ist in einen dauerhaften Prozess von Selbsterhalt und Weiterentwicklung eingebunden. Für die Familie gilt – ähnlich wie beim Einzelorganismus –, dass die Weiterentwicklung ein fließender Prozess ist, der nicht (nicht wirklich) geplant werden kann und daher nicht vorab organisiert werden muss. Organisiert werden müssen nur die Folgen der Veränderung, wenn ein neues Familienmitglied geboren wird, die Familie verlässt und eine eigene Familie gründet, oder wenn jemand stirbt. Familien haben ein großes Bedürfnis nach familiärer Identität und daher einen starken Trieb zum Selbsterhalt. Dieser Aspekt spielt in Familienaufstellungen z. B. auch bei Themen wie Familienname, Patchwork oder künstliche Befruchtung eine wesentliche Rolle. Organisationen Auch für Organisationen gelten Selbsterhalt und Weiterentwicklung als Existenzbedingung. Allerdings brauchen Organisationen planbare und geregelte Prozesse. Hier müssen Handlungen zum Selbsterhalt ebenso wie zur Weiterentwicklung vorausschauend geplant, budgetiert und stufenweise umgesetzt werden. Einen fließenden Wandel gibt es hier eher nicht. Insbesondere bei der Weiterentwicklung brauchen Organisationen deshalb einen Orientierungsrahmen, der dafür sorgt, dass die Identität, die durch die Handlungen entstanden ist, nicht durch veränderte Handlungen für die Weiterentwicklung gestört oder gar zerstört wird. Das Zauberwort heißt Marke, deren Funktionen Orientierung, Wiedererkennbarkeit und Verlässlichkeit (Vertrauensbildung)
4.3 Systemtheorie
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sind. Vertiefte Informationen über das Verhältnis von Selbsterhalt und Weiterentwicklung in Organisationen finden Sie in dem Buch „Theorie und Praxis der Organisationsaufstellung“ (Hartung 2018). Familienorganisation Ein spannender Bereich für Selbsterhalt und Weiterentwicklung ist die Familienorganisation – insbesondere mit Blick auf die Nachfolgethematik. Hier treffen sämtliche Aspekte aus Familien und Organisationen zusammen und stellen die Beteiligten vor multidimensional komplexe Herausforderungen, für die Systemaufstellungen eine hilfreich begleitende Methode sein können. Das Thema gehört zum Bereich der Organisationsaufstellungen, weshalb wir es hier nicht weiter vertiefen.
4.3.3 Funktionsprinzipien Wo Selbsterhalt und Weiterentwicklung als die beiden systemischen Grundfunk tionen definiert sind, hat die Systemtheorie in der Folge auch beschrieben, welche Funktionsprinzipen für sie gelten. Formuliert wurden 4 Funktionsprinzipien, die alle ineinander verwoben sind (Abb. 4.10): • Komplexität, • Gleichgewicht, • Rückkopplung • Selbstorganisation.
4.3.3.1 Komplexität In einem System entsteht Komplexität in dem Moment, in dem die Anzahl der Elemente die kritische Menge erreicht hat, ab der es nunmehr nicht mehr nur noch direkte, sondern jetzt auch indirekte Verbindungen gibt („mit der bin ich über drei Ecken verwandt“). Dadurch, dass alle Elemente miteinander verbunden sind, wirken immer alle Elemente gleichzeitig aufeinander ein – wobei die Wirkungsbezüge durch die indirekten
Abb. 4.10 Funktionsprinzipien
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4 Systemordnung(en)
erbindungen niemals kausallogisch zu verstehen sind. Man kann sich das wie bei einem V Spinnennetz vorstellen: Berührt man es an einer Stelle, bewegt sich das ganze Netz. Die Gleichzeitigkeit der Interdependenzen auf verschiedenen Beschreibungsebenen in Systemen macht diese in der Regel unkontrollierbar. Für Organisationen stellt die Komplexität der Wirkungsbeziehungen eine große Herausforderung dar. Auch in Familienaufstellungen zeigen sich immer wieder komplexe Wirkungsbeziehungen – wie z. B. bei transgenerationalen Themen.
4.3.3.2 Gleichgewicht Gleichgewicht muss als Grundprinzip bei allem gegeben sein/erhalten bleiben. Dabei gibt es keine Formel für Gleichgewicht. Die Regel heißt: Gleichgewicht ist gegeben, wenn Gleichgewicht hergestellt ist. Das Prinzip bezieht sich auf alle Bereiche und alle Beschreibungsebenen eines Systems und hat 4 Teilziele: • Stabilität und Sicherheit – die Stabilität umfasst physische, psychische und mentale Aspekte, und nur, wenn diese drei Bereiche im Gleichgewicht sind, ist Sicherheit für das System gegeben. • Wachstum und Veränderung – Wachstum und Veränderung brauchen ein kontinuierlich auszutarierendes Gleichgewicht von Stabilität und Instabilität. • Regulation und Kontrolle – Diese beiden Aspekte spielen insbesondere in Organisationen eine zentrale Rolle. Bei einzelnen Menschen, in Paar- und Familiensystemen lauten die Fragen: Was haben wir erkannt? Was lernen wir daraus? Wie können wir dafür sorgen, dass es nicht wieder geschieht? • Sinn und Kultur – Gleichgewicht ist nur dann gegeben, wenn sich für die Systembeteiligten ein Sinn ergibt. Die Fragen lauten: Macht das System Sinn? Macht die Struktur Sinn? Sind die Handlungen sinnvoll? Zugleich spielt die Kultur des Systems für das Gleichgewicht eine wesentliche Rolle. Sie ist der Klebstoff, der die Elemente zusammenhält. Dabei gibt es in offenen Systemen niemals ein stabiles, festgelegtes Gleichgewicht, vielmehr befinden sich die Systeme in einen Dauerzustand des Austarierens, wobei das Gleichgewicht sich immer wieder neu justiert. Man spricht daher auch vom systemischen Fließgleichgewicht.
4.3.3.3 Rückkopplung Das Angewiesen-Sein auf Austausch bedingt das dritte Funktionsprinzip: Rückkopplung. Dabei wird zwischen positiver und negativer Rückkopplung unterschieden. So tendieren z. B. alle Populationen zu positiver Rückkopplung, d. h. sie haben eine sich selbstverstärkende Tendenz – sie vermehren sich exponentiell. Hätte die Natur kein Gegengewicht in Form einer negativen Rückkopplung bzw. einer Abschwächung der positiven Rückkopplung durch eine andere Population vorgesehen, würde das Natursystem schnell aus dem Gleichgewicht geraten.
4.3 Systemtheorie
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Ein Beispiel für das gleichgewichtige Spiel der Natur mit positiver und negativer Rückkopplung sind Katzen und Mäuse. Katzen essen Mäuse. Nimmt dadurch die Mäusepopulation ab, bekommen die Katzen nicht genügend zu essen und werden dadurch geschwächt und dezimiert. Gibt es weniger Katzen, kann die Mäusepopulation wieder wachsen, die dadurch den geschwächten Katzen wieder mehr Nahrung bietet, sodass diese wieder mehr werden usw., usw.
4.3.3.4 Selbstorganisation Die Selbstorganisation als viertes Prinzip besagt schließlich, dass alle Elemente das System autonom mitgestalten. Das tun sie wiederum nach 4 Prinzipen: • Komplexe Selbstorganisation – Systeme organisieren sich erstens komplex, d. h. alle wirken aufeinander ein. Durch dieses ununterbrochene Resonanzgeschehen kann der Einzelne nur als Symptom des Gesamtgeschehens verstanden werden. • Selbstreferenzielle Selbstorganisation – Systeme handeln zweitens selbstreferenziell bzw. auf sich selbst bezogen. Bei ihren Handlungen orientieren sie sich an sich selbst. Angesichts der Selbstreferenz spricht die Systemtheorie daher auch von Anschlusshandlungen. • Autonome Selbstorganisation – Systeme entscheiden drittens immer autonom, auch dann, wenn sie auf einen äußeren Umstand reagieren. Die Aussage „Die Umstände zwingen mich/uns“ ist daher falsch. Die Aussage lautet richtig: „Angesichts der Umstände entscheiden wir“. • Üppige Selbstorganisation – Systeme organisieren sich viertens immer so, dass es so viele Elemente gibt, dass die Funktionen gesichert bleiben, falls ein Element ausfällt. Werden diese 4 Funktionsprinzipien mit ihren jeweiligen Unteraspekten nicht beachtet, kann sich das System weder selbst erhalten noch sich weiterentwickeln, zumindest können die beiden Grundfunktionen empfindlich gestört werden. Aufstellungsformat Systemspiel Um die Dimensionen der Funktionsprinzipien besser verstehen zu können, eignet sich in der Weiterbildung das Aufstellungsformat Systemspiel. Ziel Das Systemspiel dient der Schärfung der systemischen Wahrnehmung. Die Teilnehmer gewinnen ein Verständnis darüber, welche Bedeutung die 4 Funktionsprinzipien für das Entstehen, den Erhalt und die Weiterentwicklung von Systemen haben. Vorbereitung Die Teilnehmer stehen im Kreis. Jeder sucht sich zwei Personen aus. Dabei nimmt er keinen Blickkontakt auf, und er lässt die beiden anderen auch nicht wissen, dass er sie ausgesucht hat. Nach dem Startsignal versucht er, einen identischen Abstand zu beiden herzustellen und diesen zu halten (Abb. 4.11 „Systemspiel“ zeigt die Übung mit 9 Personen).
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4 Systemordnung(en)
Abb. 4.11 Systemspiel
Ablauf/Struktur/Zeit Alle Teilnehmer sind in konstanter, mal schnellerer, mal langsamerer Bewegung und versuchen, ihre jeweiligen Abstände zu gestalten. Bereits nach kurzer Zeit kommt das Gesamtsystem zum Stillstand, lediglich minimale Korrekturbewegungen sind jetzt noch wahrnehmbar. Es gibt keine Zeitvorgabe. Der erste Teil des Prozesses ist beendet, wenn das System zum Stillstand kommt. Es gibt keine spezifische Zeitvorgabe für den ersten Teil, der erfahrungsgemäß nur kurz dauert (ca. 5 min). Für den zweiten Teil der Übung werden die Teilnehmer dann in 4 Gruppen aufgeteilt. Reflexion Jede Gruppe reflektiert kurz die Erfahrung mit dem gesamten Prozess und konzentriert sich dann auf die Erkenntnisse zu einem der 4 genannten Aspekte (Komplexität, Gleichgewicht, Rückkopplung, Selbstorganisation). Die Teilnehmer haben 10 min Zeit sich auszutauschen. Danach werden die Ergebnisse aus den Kleingruppen im Plenum vorgestellt und besprochen.
Mehr davon In unserer Vorlesungsreihe „Systemische Organisationsentwicklung“ haben wir eine interessante Beobachtung gemacht. Die Aufgabe war hier nicht das gleichschenklige Dreieck. Vielmehr haben wir die 4 Funktionsprinzipien und die Organisation aufgestellt. Hierbei wurde sehr schnell deutlich, dass die 4 Prinzipien sich als gleichschenklige Dreiecke formierten. Die Wiederholung mit verschiedenen Organisationen zeigte dieselbe Tendenz.
Unsere Erkenntnis: Wenn die Stellvertreter die Aufgabe haben, ein gleichschenkliges Dreieck wie oben beschrieben zu bilden, formieren sie sich mit den 4 Funktionsprinzipien. Stellt man die 4 Funktionsprinzipien auf, formieren sie sich in gleichschenkligen Bezügen zueinander.
4.4 Ordnungsprinzipien
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4.4 Ordnungsprinzipien Allen offenen Systemen sind die beiden Grundfunktionen und die 4 Funktionsprinzipien, wie wir sie oben beschrieben haben, gemein. Dabei gelten sie als Bedingung niemals inhaltlich. So gibt es z. B. für das Gleichgewicht keine Vorgabe, die sagt „Gleichgewicht ist bei einem Verhältnis von x zu y gegeben.“ Vielmehr sind die Erkenntnisse der Systemtheorie strukturell zu verstehen, und das meint: Gleichgewicht ist gegeben, wenn Gleichgewicht hergestellt ist. Das ist bei den Ordnungsprinzipien in Systemen zum Teil anders. Die Erfahrung aus vielen Aufstellungen hat gezeigt, dass insbesondere die Prinzipien Rangordnung und Zugehörigkeit nachgerade „archaisch“ gelten können. Dabei haben verschiedene Arten von Systemen verschiedene Ausprägungen der Grundprinzipien, die im Wesentlichen in 4 Beschreibungsbereiche geteilt werden können (Abb. 4.12): • Rangordnung, • Zugehörigkeit, • Bindung, • Ausgleich.
4.4.1 Ordnungsprinzipien in Organisationen Ohne Ordnungsprinzipien kann eine Organisation nicht bestehen – hier muss alles geregelt sein, was innerhalb der Organisation ebenso wie in ihrem Umfeld geschieht bzw. geschehen soll.
4.4.1.1 Organisationale Rangordnung Die Rangordnung einer Organisation ist durch die Aufbau- und Ablauforganisation definiert. Die vertikale Ordnung regelt die personale Hierarchie. Hierbei gilt: • Eigentümer/Gesellschafter/Shareholder vor Geschäftsführung; • Rolle vor Funktion; • Weisungsbefugnis vor Weisungsgebundenheit;
Abb. 4.12 Ordnungsprinzipien
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4 Systemordnung(en)
• Können und Kompetenz vor Alter und Organisationszugehörigkeit; • bei Gleichgestellten gilt der Vorrang der längeren Zugehörigkeit, erst danach der Vorrang der Älteren vor den Jüngeren. Die horizontale Ordnung regelt die sachzentrierten Prozesse.
4.4.1.2 Organisationale Zugehörigkeit Das Recht auf Zugehörigkeit wird in der Organisation durch vertraglich gesicherte Zugehörigkeit geregelt – nur wer dazugehört, hat das Recht, dazuzugehören. Scheidet er aus der Organisation aus, verfällt das Recht. Die Zugehörigkeit wird unter 3 Aspekten vertraglich geregelt – erstens durch die Zuweisung eines Platzes in der Rangordnung, zweitens durch die Zuschreibung einer Funktion und drittens durch die Regelung des Ausgleichs von Leistungen bzw. Arbeit gegen Lohn. 4.4.1.3 Organisationale Bindung Bindung heißt in Organisationen Kultur und kann als Kreisbeziehung verstanden werden (Abb. 4.13). 4.4.1.4 Organisationaler Ausgleich Ausgleich ist ein zentrales Moment in Organisationen, weil nach diesem Prinzip alle Austauschprozesse im Inneren und im Umfeld der Organisation geregelt werden. Der Ausgleich als Ordnungsprinzip entspricht dem Gleichgewicht als Funktionsprinzip.
4.4.2 Ordnungsprinzipien in Familien Dieselben Ordnungsprinzipien gelten auch in Familien, allerdings sind sie hier naturgegeben anders ausgeprägt.
Abb. 4.13 Kultur und Bindung
4.4 Ordnungsprinzipien
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4.4.2.1 Familiäre Rangordnung Die familiäre Rangordnung ist erstens durch die Funktionsebenen geprägt: Eltern vor Kindern. Zweitens wird sie durch das Alter bestimmt: Ältere vor Jüngeren. Aus der Rangordnung ergibt sich zugleich der Aspekt der Funktionsgerechtigkeit: Eltern sind Eltern und sollen sich als solche verhalten. Dasselbe gilt für Kinder. Sie sind im Familiensystem Kinder, d. h. die Kleineren, und sie sollen sich entsprechend verhalten. Daraus folgt z. B., dass sich ein Kind nicht in die Paarbeziehung der Eltern einmischt und dass die Eltern das Kind nicht als Partnerersatz in einer unglücklichen Elternbeziehung in einer Triangulierung missbrauchen. Ein Kind ist immer beiden Elternteilen gegenüber loyal und treu. Das scheint so natürlich und wie logisch, weil das Kind genetisch gesehen die Verbindung der Eltern, die Verschmelzung ihrer Ei- und Samenzellen und damit ihres Erbguts ist. Die kindliche Treue ist ein natürliches Prinzip, das spätestens bei der Trennung der Eltern eine ganz besondere Aufmerksamkeit erfahren sollte. 4.4.2.2 Familiäres Recht auf Zugehörigkeit Das Recht auf Zugehörigkeit ist in Familien naturgegeben. Unabhängig davon, ob jemand gewollt ist oder nicht, ob er abgetrieben wurde oder eine Frühgeburt war, ob er im Krieg gefallen ist, sich an anderen vergangen oder anderen das Leben genommen hat – jedes Familienmitglied hat dasselbe Recht dazuzugehören. Das Prinzip steht über allem und gilt über den Tod hinaus. Niemand kann ausgeschlossen werden. 4.4.2.3 Familiäre Bindung Die Bindung ist in Familien durch das Recht auf Zugehörigkeit ebenfalls naturgegeben – sie entsteht in erster Linie durch genetische Verwandtschaft. Ist diese nicht gegeben, wird die Bindung einerseits durch Funktionsgerechtigkeit geregelt: Eltern sind Eltern, und Kinder sind Kinder. Andererseits tendieren Familien dazu, eine eigene Familienkultur im Sinne einer Tradition aufrechtzuerhalten. Kinder erleben die Bindung als Liebe – und angesichts der genetischen Verwandtschaft spricht man auch von Bindungsliebe in Abgrenzung zur Nächstenliebe, die im familiären Miteinander gelebt wird. Die Qualität des Ausdrucks der Bindung in der Kindheit ist prägend für das weitere Leben. 4.4.2.4 Familiärer Ausgleich Der Ausgleich hat in Familien deshalb eine besondere Bedeutung, weil Eltern ihren Kindern das Leben geben. Im Zuge der Rangordnung können Kinder dieses Geschenk nicht ausgleichen, weil sie dafür auf Augenhöhe gehen müssten. Damit aber würden sie die Funktionsgerechtigkeit verlassen und die Rangordnung missachten. Der Ausgleich findet hier dadurch statt, dass Kinder das Leben annehmen und es ggf. an ihre Kinder weitergeben. Für alle anderen familiären Ausgleichsprozesse gilt die konstruktivistische Aushandlung zwischen den Beteiligten nach dem Gleichgewichtsprinzip und immer natürlich unter Berücksichtigung der Regel: Ältere vor Jüngeren.
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4 Systemordnung(en)
Abb. 4.14 Systemordnung(en)
4.5 Zusammenfassung Systemordnung(en) Wir fassen hier abschließend alle Erkenntnisse in einer Übersicht zusammen (s. auch Abb. 4.14). Kurz gefasst
Eine Einheit, die aus dem Zusammenspiel von Elementen entstanden ist, bekommt als Gestalt ein eigenes Wesen, eine eigene Struktur und eine eigene Beschaffenheit. Alle Organismen und die von ihnen gegründeten Gruppen sind offene Systeme. Als solche sind sie auf den Austausch mit dem Umfeld angewiesen. Die beiden Grundfunktionen von offenen Systemen sind Selbsterhalt und Weiterentwicklung. Diese funktionieren wiederum nach 4 Prinzipien: • Komplexität, • Gleichgewicht, • Rückkopplung, • Selbstorganisation.
Literatur
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Außerdem unterliegen alle offenen Systemen den 4 Ordnungsprinzipien: • Rangordnung, • Zugehörigkeit, • Bindung, • Ausgleich.
Literatur Epikur. (1973). Epikouros, 341–270 v. Chr. Brief an Menoikeus. Zitiert nach: Epikur. Philosophie der Freude. Eine Auswahl aus seinen Schriften übersetzt, erläutert und eingeleitet von Johannes Mewaldt (S. 40–42). Stuttgart: Kröner. Hartung, S. (2014). Gestalt im Management – eine andere Sicht auf Marken– und Unternehmensführung in komplexen Märkten (S. 1, 3, 31). Heidelberg: Springer Gabler. Hartung, S. (2018). Theorie und Praxis der Organisationsaufstellung – Grundlagen für systemische Personal– und Organisationsentwicklung. Berlin: Springer Gabler. Kant, I. (1788). Critik der practischen Vernunft. Riga: Johann Friedrich Hartknoch. Wertheimer, M. (1925). Über Gestalttheorie: Vortrag vor der Kant-Gesellschaft, Berlin am 17.12.1924. Erlangen: Philosophischen Akademie.
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Biografie, Selbst, Persönlichkeit
Inhaltsverzeichnis 5.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Biografie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Ich, Selbst und Persönlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5.1 Einführung Das Zentrum einer Weiterbildung in Systemaufstellung bilden neben der Vermittlung von Wissen rund um die individualtherapeutisch ausgerichtete Aufstellungsarbeit vor allem die Biografiearbeit, die Selbsterfahrung und die Persönlichkeitsentwicklung der Teilnehmer. Wir haben bereits an einigen Stellen im Buch über verschiedene Aspekte aus den genannten Bereichen geschrieben, zum Beispiel umfassend zum Thema Trauma im gleichnamigen Kapitel. Natürlich gehört auch das Thema Trauma in den Biografiebereich, wir haben ihm aber bewusst ein eigenes Kapitel gegeben, weil die Inhalte so umfassend sind. In diesem Kapitel befassen wir uns mit der persönlichen Biografie und möglichen Anlässen für Systemaufstellungen. Wir betrachten die Themen Ich und Selbst ebenso wie die Entwicklung der Persönlichkeit und stellen zahlreiche Übungen und Formate vor.
Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht. https://doi.org/10.1007/978-3662-61192-0_5 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hartung und W. Spitta, Lehrbuch der Systemaufstellungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61192-0_5
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
5.2 Biografie Nicht zuletzt auch durch die Aufstellungsarbeit wissen wir heute, dass die Einflüsse auf das eigene Leben bis weit vor unsere Geburt reichen können. Die Biografiearbeit, die wir im Rahmen unserer Weiterbildungen vermitteln, besteht daher im Wesentlichen aus 3 Bereichen. Sie befasst sich erstens mit familiären transgenerationalen Aspekten, geht also zurück auch vor die Geburt eines Klienten und schaut auf die Themen und Ereignisse im Leben seiner Vorfahren. Sie befasst sich zweitens mit intrauterinen, geburtlichen, frühkindlichen, kindlichen und adoleszenten Erfahrungen. Sie befasst sich schließlich drittens mit den sogenannten Gegenwartssystemen. In der Biografiearbeit verweben sich Aspekte von Ich und Ego, Person und Persönlichkeit sowie des Selbst. Kurz gefasst
Die Biografiearbeit umfasst 3 Bereiche: • transgenerationale Biografiearbeit, • Biografiearbeit in der Herkunftsfamilie, • Biografiearbeit im Gegenwartssystem.
5.2.1 Transgenerationale Biografiearbeit Erfahrungen aus Aufstellungen zeigen, dass in der Regel Vorkommnisse bis zu den Urgroßeltern einen Einfluss auf das Leben eines Klienten haben können. Wie weitreichend die Einflüsse sein können, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass beeindruckende Erlebnisse und Traumata in das Erbgut übergehen – hierzu finden Sie auch einige Betrachtungen in Kap. 6 („Trauma und Traumafolgestörungen“). Die Arbeit mit transgenerationalen Themen in der Biografie besteht aus der Vorbereitung und der evtl. folgenden transgenerationalen Biografieaufstellung, die mannigfaltige Formate haben kann.
Mehr davon Für die Vorbereitung einer transgenerationalen B iografie-Aufstellung finden Sie Informationen in Abschn. 2.2.3 („Das Genogramm“). Sie finden außerdem im Downloadbereich bei Springer einen kompletten Fragebogen, den Sie Ihren Teilnehmern an die Hand geben können. Hierin haben wir „alle“ Fragen zusammengestellt, die im Rahmen der Vorbereitung einer transgenerationalen Aufstellungsarbeit von Bedeutung sein können.
Hat man mit dem Klienten vorher ein Genogramm erstellt, eignet sich dieses dann auch als erstes Aufstellungsbild für die transgenerationale Biografieaufstellung, und je nach
5.2 Biografie
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Abb. 5.1 Transgenerationale Biografieaufstellung
Anzahl der Generationen kann es sein, dass hierfür zahlreiche Stellvertreter benötigt werden. Wir veranschaulichen die erste Aufstellung des Genogrammbildes hier an einer Drei-Generationen-Familienaufstellung (Abb. 5.1). Die Stellvertreter schauen im Anfangsbild alle in eine Richtung und sind gehalten, nicht von ihren Plätzen wegzugehen. Sie dürfen (natürlich) den Körper und die Blickrichtung drehen, sie dürfen sich hinsetzen oder auf den Boden legen. Vermutet der Klient, dass eine bestimmte Belastung in seinem Leben aus einer Vorgängergeneration in sein Leben wirkt, kann die vermutete Belastung dazugestellt werden. Weitere Aufstellungsbilder für die transgenerationale Biografiearbeit sind die beiden beinahe archaisch anmutenden Formate „Kraft der Frauen“ und „Kraft der Männer“, die wir hier der Einfachheit halber auf einer Abbildung zusammengefasst haben, auch wenn sie jeweils einzeln aufgestellt werden (Abb. 5.2). Der Klient steht seinem gleichgeschlechtlichen Elternteil gegenüber, hinter dem die ebenfalls gleichgeschlechtlichen Vorgängergenerationen stehen. Die Frau schaut so auf ihre Mutter, hinter der Groß- und Urgroßmutter stehen. Der Mann schaut auf seinen Vater, hinter dem Großvater und Urgroßvater stehen. Die Reihen lassen sich in den Vorgängergenerationen entsprechend in die Vergangenheit erweitern. Die beiden Formate eignen sich auch für die Forschungsarbeit zu bestimmten Themen. Hat eine Klientin z. B. mehrere Kinder verloren (Fehl-, Früh- und Totgeburten, Kindbetttod) und möchte wissen, ob das Thema mit ihren Ahnen in Verbindung steht, dann kann die Reihe der Frauen sowie ein Element für „das tote Kind“ aufgestellt und beobachtet werden, ob das Phänomen möglicherweise eine transgenerationale Dimension hat (Abb. 5.3). Eine solch additive Formation ist für jedes transgenerationale Forschungsthema geeignet.
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
Abb. 5.2 Kraft der Frauen und Kraft der Männer
Abb. 5.3 Reihe der Frauen und das tote Kind (TK)
In unseren Weiterbildungen behandeln wir die Themen Biografie, Selbst und Persönlichkeit vertieft ab dem 7. Modul, nachdem unsere Teilnehmer bereits umfangreiche Selbsterfahrung sowie Erfahrung mit der eigenen Leitung von Aufstellungen haben. Zwar werden persönliche Themen bereits ab dem 1. Modul aufgestellt, hier wurden die Aufstellungen jedoch in der Regel von uns geleitet oder im Fall der Aufstellungsleitung eines Teilnehmers mindestens eng begleitet. Außerdem achten wir in den ersten Modulen unserer Weiterbildung darauf, die Teilnehmer nicht dadurch zu überfordern, dass wir sie beispielsweise zu früh mit möglicherweise vorliegenden existenziellen Traumata konfrontieren (das tun wir auch dann nicht, wenn sich solche Aspekte schon früh in der Weiterbildung zeigen). Spätestens im 7. Modul aber ist ein tiefes Vertrauen in der Ausbildungsgruppe gewachsen, die Teilnehmer kennen einander tiefergehend, und sie haben erfahrungsgemäß genügend Stabilität, um sich ihren eigenen existenziellen Themen tiefer und umfassender zu widmen. Außerdem haben sie nun auch die nötige Erfahrung gesammelt, um Aufstellungen zu existenzielleren Themen zu leiten. Die Formate der transgenerationalen Aufstellung, wie wir sie oben vorgestellt haben, organisieren wir deshalb im 7. Modul der Weiterbildung in Übungsgruppen.
5.2 Biografie
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Für die Reihe der Frauen bzw. Männer besteht die Übungsgruppe aus 5 Personen – 1 Aufstellungsleiter, 1 Klient und 3 Stellvertreter für Mutter, Großmutter und Urgroßmutter/ Vater Großvater, Urgroßvater. Für die transgenerationale Themenforschung müssen die Gruppen 6 Teilnehmer haben – weil es einen weiteren Stellvertreter für das Thema braucht (wie oben im Beispiel: das tote Kind). In den transgenerationalen Biografieaufstellungen dominieren in der Regel die Themen Krieg, Krankheit, Kindstod, früher Tod, Gewalt gegen Frauen, Vergewaltigung und Missbrauch. In Verbindung mit dem Krieg zeigen sich auch oft Themen wie Mord/ Massenmord, Migration und Verlust von Heimat, Hab und Gut. Man kann also, ja muss beinahe davon ausgehen, dass man mit verschiedensten Formen von Trauma konfrontiert werden wird. Insofern flechten wir die Wissensvermittlung über Trauma in die Module der Biografiearbeit und Persönlichkeitsentwicklung mit ein. Hier im Buch betrachten wir das Thema Trauma aufgrund seiner Dimensionen in einem eigenen Kapitel.
Biografiearbeit und Trauma gehören zusammen und können nur in der Theorie, nicht aber in der Praxis losgelöst voneinander betrachtet werden.
5.2.2 Biografiearbeit mit der Herkunftsfamilie Der zweite Bereich der Biografiearbeit ist die Arbeit mit der eigenen Herkunftsfamilie. Wir sind das Ergebnis unserer frühen Beziehungserfahrungen. So alt dieses Wissen der Menschheit ist, so erstaunlich spät haben wir uns mit den damit einhergehenden Dimensionen befasst – genauer, erst mit dem Beginn der Psychologieforschung der vorletzten Jahrhundertwende. Seitdem haben wir vieles erkannt. Erst im Zug der aktuellen Traumaforschung aber haben wir wirklich verstanden, wie umfassend die Dimensionen hier sind. Im Rahmen der Weiterbildung macht es also Sinn, die Teilnehmer zunächst mit den grundlegenden Erkenntnissen über die frühkindliche, kindliche und adoleszente Entwicklung sowie deren mögliche Folgen für das spätere Leben vertraut zu machen. Für die Beschreibung der kindlichen Entwicklung gibt es verschiedene Perspektiven. So betrachtet man die frühkindliche und kindliche Entwicklung z. B. unter den Aspekten der Entwicklung der Reflexe, Sprech-, Seh- und Hörfähigkeiten, der motorischen Fähigkeiten, der kognitiven Entwicklung oder auch der Sozialisation. Mit Blick auf Selbst und Persönlichkeit und im Kontext der Verbindungsqualitäten mit sich und der Umwelt fokussieren wir in unseren Weiterbildungen auf den Aspekt der Sozialisation – verstanden als: Prozess, durch den in wechselseitiger Interdependenz zwischen der biopsychischen Grundstruktur individueller Akteure und ihrer sozialen und physischen Umwelt relativ dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen auf persönlicher wie auf kollektiver Ebene entstehen. (Hurrelmann et al. 2008).
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
Wir verbinden diesen Ansatz mit einer spirituellen Dimension, die in beinahe allen Formaten zum Thema Selbst und Person/Persönlichkeit einen zentralen Platz beansprucht. Wir kommen weiter unten darauf zurück.
5.2.2.1 Intrauterine Entwicklung und Ereignisse Die frühkindliche Entwicklung beginnt bereits in der Schwangerschaft. Als gesichert gilt, dass der Fetus bereits nach den ersten 4 Monaten Geräusche wahrnimmt und auf diese reagiert. Er hört den mütterlichen Herzschlag, das Dopplereffekt-gleiche Rauschen des Bluts in den Gefäßen, die bisweilen quietschenden oder blubbernden Geräusche der Darmtätigkeit und natürlich auch die Stimme der Mutter, auf die er ab der 28. Schwangerschaftswoche mit Lidschlägen reagiert. Jede emotionale Stimmung der Mutter – von der Freude bis zur Trauer, der Fröhlichkeit bis zur Mutlosigkeit – erlebt der Fetus ungefiltert mit. Mutter und Kind sind ein Körper, sie sind eins. Über das Blut der Mutter gelangen ebenso ungefiltert Nahrungs- und Genussstoffe in den Fetus. Daher verbietet sich jeder Genuss von Suchtmitteln – Alkohol, Nikotin, stärkere Drogen oder auch übermäßiger Zuckerkonsum. Neben der möglichen intrauterinen Schädigung müssen die Kinder von Süchtigen als Neugeborene durch einen qualvollen Entzug, wenn sie nach der Abnabelung nicht mehr mit dem Suchtstoff versorgt werden. In Aufstellungen können die Folgen von intrauteriner Vergiftung beobachtet werden. Und auch der nachgeburtliche Drogenentzug kann sich später als eine chronische Suchtmittelaffinität zeigen. Für die Begegnung des Klienten mit sich selbst als Embryo verwenden wir in unseren Weiterbildungen das Aufstellungsformat Mutter, Ich und Embryo, in dem unsere Teilnehmer etwas über die Qualität ihrer Zeit im Mutterleib erfahren können (Abb. 5.4, Bild 1). Wo sich eine Belastung zeigt oder vermutet wird, kann man diese dazu stellen (Abb. 5.4, Bild 2) – etwa den Suchtmittelkonsum der Mutter, eine mögliche Ablehnung oder versuchte Abtreibung des Kindes im Mutterleib, oder von der Mutter erlittene körperliche oder seelische Gewalt während der Schwangerschaft. In der Regel stehen unsere Teilnehmer für sich selber. Nur da, wo wir eine zu große Belastung vermuten, wählen sie für sich einen Stellvertreter.
Abb. 5.4 Mutter, Ich (Klient), Embryo/Thema
5.2 Biografie
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Erfahrungen aus zahlreichen Aufstellungen haben gezeigt, dass z. B. eine erfolglose Abtreibung gravierende Folgen auf das weitere Leben der betroffenen Kinder hat. Vom verminderten Selbstwertgefühl über das Gefühl, nirgendwo erwünscht zu sein, Panikattacken und eine dauernde Angst, angegriffen zu werden, bis hin zur erhöhten Suizidtendenz zeigen sich die Symptome im Feld. In der medizinischen Fachliteratur ebenso wie in den Berichten Betroffener finden sich darüber hinaus zahlreiche Beschreibungen der Folgen von Eingriffen oder versuchter Einflussname auf Schwangerschaft und Geburt. Invasive Verfahren der pränatalen Diagnostik wie z. B. die Fruchtwasseruntersuchung können durchaus ähnliche seelische Auswirkungen auf das Kind haben – zum Beispiel eine unspezifische, andauernde Angst vor plötzlichem Angriff oder vor gewalttätigem Einbruch (Kowalcek und Bachmann 2008). Die mütterliche Einnahme von z. B. Beruhigungs- oder Schlafmitteln oder anderen Medikamenten können nachhaltige Folgen haben, wie z. B. ständige Müdigkeit oder das Gefühl, für das eigene Leben nicht genügend Kraft zu haben (Kittias 2016). Ungewollte Schwangerschaft durch Vergewaltigung kann maßgebliche Folgen auch für das Kind haben (Gebhardt 2019). Und auch die assistierte Reproduktion, wie z. B. die In-vitro-Fertilisation (IVF) oder auch die intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) können weitreichende Folgen haben, sieht man einmal von den möglichen Fehlbildungen ab, welche die Fachliteratur insbesondere beim ICSI-Verfahren nennt (Simmank 2018; Meister et al. 2018). In Aufstellungen auftretende Symptome nach einer künstlichen Befruchtung beschreiben z. B. ein andauerndes Gefühl, fehl am Platz zu sein, oder die Unfähigkeit, erfüllende Beziehungen zu erleben. Angesichts der Aufzählungen wird die Traumadimension der möglichen Ereignisse in der vorgeburtlichen Phase deutlich. In unserer Weiterbildung informieren wir über die Bandbreite möglicher Belastungen rund um Zeugung und Geburt und gehen – außer beim Thema Zwillinge und Mehrlinge – nicht vertieft darauf ein, weil das Themengebiet mit seinen zahlreichen Aspekten und medizinischen wie psychologischen Spezifika förmlich die Dimensionen einer eigenen Weiterbildung aufweist. Das „Nicht-darauf-Eingehen“ gilt natürlich dann nicht, wenn sich im Rahmen der Arbeit mit den eigenen Themen der Teilnehmer eines der oben genannten intrauterinen Themen zeigt. In dem Fall begleiten wir unsere Teilnehmer als Klienten durch ihren Prozess. Würde das den Zeitrahmen der Weiterbildung sprengen, bieten wir ihnen hierfür einen Platz in unseren Aufstellungsveranstaltungen an.
Intrauterine Ereignisse, die den Fetus physisch oder psychisch gefährden, können in der Regel als Trauma verstanden werden. Entsprechend gilt die Aufstellungsarbeit unter den Aspekten der Traumaarbeit, wie wir sie in Kap. 6 („Trauma und Traumafolgestörungen“) beschreiben.
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
Zwillinge und Mehrlinge Einen großen Raum in der vorgeburtlichen Biografiearbeit mit der Herkunftsfamilie nimmt das Thema der Zwillings- und Mehrlingsschwangerschaften ein. Sie bringen für die Betroffenen entweder besonders wertvolle Erfahrungen von enger Verbundenheit (besonders bei eineiigen Zwillingen) mit sich, oder aber – bei intrauterinem Absterben eines Zwillings – für den Alleingeborenen ein existenziell belastendes Trauma, das weitreichende Folgen für das spätere Leben haben kann. In der Medizin besagt die sogenannte Hellin-Regel, dass bei einer natürlichen, nicht assistierten Reproduktion die Wahrscheinlichkeit einer Zwillingsgeburt 1:85 beträgt, die Chance einer Drillingsgeburt 1:85 hoch zwei, einer Vierlingsgeburt 1:85 hoch drei ist (usw.) (Feige et al. 2013). Durch die zunehmende Zahl der Hormonbehandlungen und künstlichen Befruchtungen haben sich diese Angaben in den vergangenen Jahren verändert. Die Tendenz der Mehrlingsgeburten ist weiter steigend. Die physischen wie psychischen Belastungen für Mutter und Kinder sind mannigfaltig, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass der menschliche Körper im Prinzip nicht dafür ausgelegt ist, mehr als ein Kind auszutragen. Zugleich: Die hier genannten Zahlen der Statistiken befassen sich mit den Geburten von Zwillingen und Mehrlingen. Ganz anders sehen die Zahlen bei den Zwillings- und Mehrlingsschwangerschaften aus. In der embryologischen Forschung schätzt man, dass mindestens 30–60 % aller Schwangerschaften anfangs als Mehrlingsschwangerschaften angelegt sind, andere vermuten gar 70–80 % Mehrlingsanlagen. Weil aber der menschliche Körper – wie oben erwähnt – nicht wirklich dafür ausgelegt ist, mehr als ein Kind auszutragen, sterben viele Embryonen schon in den ersten Wochen, nicht selten, bevor überhaupt eine Schwangerschaft von der Mutter bemerkt wird. Der Abgang wird dann vielleicht nur als Blutung wahrgenommen. Gesicherte Zahlen zu verlorenen Zwillingen können deshalb nicht erhoben werden. Auch wissenschaftlich fundierte Erhebungen gibt es vor diesem Hintergrund bisher nicht. Das ist der Grund, warum die Arbeit mit dem Zwillingsthema zwar einen wichtigen Bereich im Rahmen der Weiterbildung darstellt, zugleich aber sind wir bis heute auf Mutmaßung angewiesen. Wir behalten das Thema dennoch in unseren Weiterbildungen – unsere Erfahrungen aus 2 Jahrzehnten haben uns gezeigt, dass die Aufstellungsarbeit zum Thema Zwilling für Klienten sehr hilfreich sein kann. Die Medizin kennt körperliche Phänomene als Hinweis, wie zum Beispiel Fälle von frühem „Ineinander-Wachsen“ der beiden Embryonen, die zu doppelten Organanlagen, zu „dritten“ Brustwarzen oder zu anderen Verwachsungen führen können, wie z. B. zu unreifen Teratomen (organähnliche Mischgeschwulst aus pluripotenten Stammzellen) oder zu reifen Teratomen, auch Dermoidzysten genannt. Das sind Hohlräume, die von Oberhautgewebe mit Haarfollikeln ausgekleidet sind und auch Zähne und Drüsenanteile enthalten können. Unabhängig davon, ob der Mutter bewusst ist, dass eine Zwillings- oder Mehrlingsschwangerschaft vorliegt, das alleingeborene Kind erlebt die frühe Trennung in
5.2 Biografie
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der Regel als existenzielles Verlusttrauma. Und wie groß auch immer die Zahlen verlorener Geschwister tatsächlich sind, das Thema – so sehen wir es auch immer wieder in Aufstellungen – ist groß, und es betrifft viele Menschen, so viel kann entsprechend der übereinstimmenden Erfahrungen als gesichert gelten. Dem verlorenen Zwilling sollte daher im Rahmen der Biografiearbeit ein besonderer Platz in den Weiterbildungen eingeräumt werden. Wir verweisen an dieser Stelle gerne auf das Buch „Frühes Trauma“, das der Psychologe und Traumaspezialist Prof. Dr. Franz Ruppert geschrieben hat. Er gilt als einer der Experten in diesem Bereich (Ruppert 2014). Aufstellung verlorener Zwilling Der deutsche Psychiater und Systemaufsteller Ernst Robert (Ero) Langlotz (*1941), über dessen Traumaarbeit der systemischen Selbstintegration wir vertieft im Kapitel über Trauma (Kap. 6) berichten, zeigt bei YouTube ein Aufstellungsformat zum verlorenen Zwilling. Er nennt die Arbeit „Autonomie Aufstellung – Selbstbestimmung und Resilienz durch Abgrenzung“ (Langlotz 2019) und konzentriert sich in 4 Phasen auf 1. die Abgrenzung der Klientin zu ihrem verlorenen Zwilling, der als Trauma-Introjekt den Platz des Selbst der Klientin besetzt; 2. die Wiedervereinigung der Klientin mit ihrem erwachsenen Selbst sowie dem kindlichen Selbst, das hier als inneres Kind zu verstehen ist; 3. die Verabschiedung des verlorenen Zwillings ins Licht; 4. die Zuwendung zum eigenen Leben im Hier und Jetzt vereint mit den Selbstanteilen. Die Positionen in der Aufstellung sind: Klient, verlorener Zwilling, erwachsenes und kindliches Selbst des Klienten. Wir zeigen hier zunächst das Anfangsbild, in dem die Klientin sich Rücken an Rücken mit ihrem verlorenen Zwilling stellt und ihre beiden Selbst-Repräsentanten weiter weg positioniert (die sich in der Folge recht bald umdrehen und mit dem Rücken zur Klientin stehen) (Abb. 5.5). Nach der Sortierung des Aufstellungsfelds durch die Interventionen von Langlotz stehen einander dann die Klientin mit ihren Selbstanteilen sowie der verlorene Zwilling
Abb. 5.5 Ich, Zwilling, kindliches Selbst, erwachsenes Selbst
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
mit seinem kindlichen Selbst in jeweils eigens abgegrenzten Räumen gegenüber (Abb. 5.6). Abschließend begleitet Langlotz den Gang des verlorenen Zwillings mit seinem kindlichen Anteil ins Licht und bittet die Klientin, mit ihrem kindlichen und dem erwachsenen Selbst durch die Tür in das selbstbestimmte Leben im Hier und Jetzt zu treten. Die Klientin schreibt im Nachgang ihrer Aufstellung: Seit meiner Aufstellung beim Videodreh zu meinem verlorenen Zwilling ist Entscheidendes passiert. Ich habe mich vor zwei Wochen aus meiner on-off-Beziehung gelöst. Ich glaube, ich habe auf meine Partnerin abwechselnd meine Mutter und meinen verlorenen Zwilling projiziert. Jetzt scheint es ein endgültiger Entschluss zu sein. Es geht mir zunehmend besser damit. Die Aufstellung meines verlorenen Zwillings hat zu tiefen Einsichten geführt. (Langlotz 2019)
In den verschiedenen Aufstellungen, die uns im Laufe der Jahre zu diesem Themenbereich begegnet sind, geht es im Wesentlichen darum, den verlorenen Zwilling zu verabschieden, wobei Unterschiede in der Gestaltung des Wegs zum Abschied bestehen. So steht in manchen Aufstellungen die liebende Verbindung zum Zwilling im Fokus, die auch dann nicht aufgelöst wird, wenn das Geschwister willentlich und bewusst verabschiedet wird. Bei der oben beschriebenen Aufstellung von Langlotz steht die Trennung vom Trauma-Introjekt zugunsten der Verbindung mit dem eigenen Selbst im Fokus der Arbeit. Ziel beider Wege ist die Möglichkeit für den Klienten, sich geklärt und sortiert seinem Leben zuzuwenden.
Abb. 5.6 Ich, Zwilling, kindliches Selbst, erwachsenes Selbst
5.2 Biografie
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Ein verstorbenes Zwillingskind hat nicht nur möglichen Einfluss auf das weitere Leben des Alleingeborenen, es kann auch als „fehlendes Element“ in die gesamte Familie hineinwirken. Daher kann das Thema verlorener Zwilling auch im Rahmen einer klassischen Familienaufstellung angeschaut werden.
5.2.2.2 Geburt Die Geburt ist schlicht gewaltig zu nennen. Und entsprechend der existenziellen Dimensionen dieses gewaltigen Eintritts in das Leben ergeben sich dann lebensbestimmende Folgen. Die Erkenntnisse der aktuellen Perinatalpsychologie und -medizin verweisen darauf, dass der Verlauf unserer Geburt – der prozessuale Übergang von der vorgeburtlichen Existenz zum postnatalen Leben – von zentraler Bedeutung für jede Phase unserer späteren Entwicklung ist. Das Trauma der Geburt berührt unmittelbar den Kern unserer Existenz und formt maßgeblich und nachhaltig unsere psychosomatischen Grundstrukturen. Dr. William R. Emerson, emeritierter Präsident der APPPAH (Association for Prenatal and Perinatal Psychology and Health), Pionier auf dem Gebiet der prä- und perinatalen Psychologie und Autor des Buchs „Geburtstrauma, die Auswirkungen der modernen Geburtshilfe auf die Psyche des Menschen“ (Emerson 2017) geht davon aus, dass etwa 45 % der Neugeborenen ein starkes Geburtstrauma haben – „stark“ insofern, als es nach seiner Einschätzung therapeutischer Behandlung bedürfe. Bei weiteren 50 % geht er von einer geringeren traumatischen Belastung aus, die die Betroffenen noch als Kleinkind bei entsprechend liebevoller Begleitung selbst verarbeiten können. Eine Geburt an sich kann unterschiedlichste Komplikationen, wie beispielsweise Sauerstoffmangel und schlechte Herztöne des Babys, Steckenbleiben des Kindes oder auch Blutungen der Mutter, mit sich bringen, welche den Einsatz von medizinischen Hilfsmitteln notwendig machen. Zu nennen wären zum Beispiel Medikamente, welche wehenhemmend oder wehenfördernd sind. Weiterhin können ein (Not-)Kaiserschnitt mit Vollnarkose oder Epiduralanästhesie oder die Anwendung von Geburtszange oder Saugglocke den Geburtsverlauf wesentlich bestimmen und vorgeben. (Emge 2012)
Der Kanon möglicher Komplikationen ist vielseitig, die Anlässe für eventuell traumatische Erfahrungen sind entsprechend zahlreich. Im oben zitierten Text einer Hausarbeit ist z. B. nur die Rede von einem Notkaiserschnitt – er kann im Zweifel das Leben von Mutter und Kind retten. Tatsächlich aber ist die Lebensrettung inzwischen in den selteneren Fällen der Grund für den wirklich groß zu nennenden operativen Eingriff. Die Tendenz zur „kontrollierten Geburt“ nimmt zu, und mit ihr steigen die Risiken für die damit einhergehenden schwerwiegenden Folgen. Im Jahr 2017 wurden laut dem Statistischen Bundesamt deutschlandweit 232.505 Kaiserschnitte bei insgesamt 785.000 Geburten durchgeführt. Das entspricht einem prozentualen Anteil von 29,61 %. Damit setzt sich der ansteigende Trend der letzten Jahre fort: von 2007 bis 2017 hat sich die Anzahl der Kaiserschnitte um knapp 20 % erhöht. Heute kommt rund jedes dritte Kind per Kaiserschnitt zur Welt (statista 2019).
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
aiserschnitt wird so möglicherweise zu einem Dauerthema in der Biografiearbeit mit K der Herkunftsfamilie. In Hinblick auf mögliche nachteilige Langzeitfolgen für die Kinder ist das nach Einschätzung der Stiftung Kindergesundheit eine beunruhigende Entwicklung. Denn abgesehen von den diversen Gefahren für die Mutter – z. B. durch Infektions- und Thromboserisiko, Gewebeverletzungen oder Wundheilungsstörungen, abgesehen auch davon, dass ein Kaiserschnitt sehr selten dann stattfindet, wenn die natürliche Geburt stattgefunden hätte – den Kaiserschnittkindern fehlt an allererster Stelle die Möglichkeit, sich in ihr eigenes Leben pressen zu können. Auf dem Weg durch den Geburtskanal wird der Körper des Babys einem extrem starken Pressdruck ausgesetzt und bei der Vorwärtsbewegung intensiv massiert. Was nach anstrengendem „Geburtsstress“ klingen mag, hat ausschließlich und weitreichend positive Folgen: Die Lungenflüssigkeit wird wie aus einem Schwamm herausgedrückt. Dabei werden Hormone und Nervenbotenstoffe ausgeschüttet, die zur Reifung der Lungen beitragen. Im Geburtskanal werden zudem Haut, Nägel und Haare des Kindes mit Mikroben der Darm- und Vaginalflora sowie der Haut seiner Mutter besiedelt und mit ihnen gewissermaßen geimpft. So wird das kindliche Immunsystem gestärkt, eine reichhaltige Darmflora kann sich beim Baby entwickeln. Anders bei Kaiserschnittkindern – sie werden abrupt und „ohne Vorwarnung“ aus dem dunklen warmen Raum in nicht selten gleißendes OP-Licht getaucht. Viele haben unmittelbar nach der Geburt Atemprobleme, weil noch Fruchtwasser in ihren Lungen ist. Im späteren Verlauf zeigt sich bei ihnen aufgrund einer deutlich geringeren Vielfalt der Darmflora (durch fehlende „Versorgung“ mit den mütterlichen Mikroben) gehäuft eine Tendenz zu Erkrankungen, die mit einem geschwächten Immunsystem zusammenhängen. Krankheiten wie zum Beispiel Asthma oder entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa sind häufige Folgen (Stiftung Kindergesundheit 2012). Statistiken zeichnen auch eine mögliche Verbindung zwischen Kaiserschnitt und Lebensmittelallergien oder einem überdurchschnittlich sensiblen Magen-Darm-System mit unspezifischer Übelkeit und nahezu chronischen Schmerzen, späterem Übergewicht oder auch Autismus. Ob es hier aber einen direkten Zusammenhang gibt, bleibt weiter Vermutung, und wenn ja, ist nicht geklärt, wie genau sich dieser gestaltet (GINI 2012; PLOS 2018). Auch in psychischer Hinsicht kann der Kaiserschnitt weitreichende Folgen haben. Die fehlende Erfahrung des „Sich-Durchkämpfens“ durch den Geburtskanal zeigt sich später z. B. in einer schwach ausgeprägten Fähigkeit, eigene Anliegen zu verfolgen bzw. für eigene Wünsche zu „kämpfen“. Auch das Trauma des abrupten „Herausgeholt-Werdens“ aus der Mutter kann z. B. zu einer späteren Angstsymptomatik führen. Nicht zuletzt geschieht es häufig, dass die Mütter nach einer Kaiserschnittoperation gar nicht in der Lage sind, Kontakt mit ihrem Kind aufzunehmen, sodass Mutter und Kind in den ersten Stunden oder sogar in den ersten Tagen getrennt klinisch betreut werden (de Jong und Kemmler 2003; Swain et al. 2008).
5.2 Biografie
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Abb. 5.7 Mutter Geburt, Symptom, Ich
Die vielgestalten und möglichen Folgen aus einem Geburtstrauma können in Symptomaufstellungsformaten angeschaut, bearbeitet und bisweilen gar aufgelöst werden. Bei der Vermutung, dass es sich um ein Geburtstrauma handeln könnte, bietet es sich an, neben Symptom und Klient auch die Geburt und die Mutter mit aufzustellen. Wir zeigen unseren Teilnehmern hierfür ein Aufstellungsformat mit 4 Positionen: Mutter Geburt, Symptom, Ich. Der Klient kann stellvertreten werden oder für sich selbst stehen (Abb. 5.7).
5.2.2.3 Frühkindliche Entwicklung Nach der Geburt erkennen Babys ihre Mütter am Geruch. Und sie erkennen deren Stimme – ebenso wie die Stimme des Vaters. Versuchsanordnungen haben gezeigt, dass sich Neugeborene sogar an eine Geschichte erinnern, die ihnen in den letzten Wochen der Schwangerschaft vorgelesen wurde (Wilkening et al. 2013). Vorgeburtliches Lernen scheint möglich zu sein. Die frühen Fähigkeiten zur Wahrnehmung verdeutlichen, wie wesentlich die Qualität der Beziehung von Mutter und Kind bereits in der Schwangerschaft ist, und wie wesentlich es auch für das Kind ist, dass es der Mutter während und nach der Schwangerschaft gut geht – nicht zuletzt deshalb, weil das Ungeborene eine biophysische und psychische Einheit mit der Mutter ist und das Neugeborene sich noch eine Weile als Einheit mit der Mutter erlebt. Gleich nach der Geburt muss das Kind viele grundlegende Aspekte seiner Existenz auf einmal bewältigen. Dabei braucht es Unterstützung. So muss es nach der Abnabelung die existenziellen Körperfunktionen wir Atmung, Kreislauf, Verdauung und Körpertemperatur ebenso wie Anspannung und Erregung selbst regulieren und stabilisieren. Außerdem braucht es einen Rhythmus für Hunger und Sättigung, ebenso wie für Wachsein und Schlafen. Die Aufmerksamkeitsspanne von Neugeborenen ist noch sehr kurz. Zu viele Eindrücke überfordern sie. Die Babys signalisieren durch Abwenden des Kopfes, dass es ihnen jetzt zu viel wird. Oder sie suchen nach einer Möglichkeit zu saugen, weil der Saugreflex ihnen dabei hilft, sich in Erregungs- und Anspannungsmomenten selbst zu regulieren.
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
Auch der Übergang vom Wachsein zum Schlafen ist für manche Neugeborene eine Herausforderung, die sie schwer allein meistern können. Der Fall in die Bewusstlosigkeit scheint ihnen Angst zu bereiten. Da ihnen nur bleibt, ihr Unwohlsein durch Schreien zu äußern, kann es passieren, dass sie dabei in einen Erregungszustand kommen, aus dem sie allein nicht mehr herausfinden. Es gibt also zahlreiche Anlässe, bei denen das Kind auf eine liebende Zuwendung, auf sanfte Beruhigung und warme Sicherheit angewiesen ist. Werden dem Neugeborenen die nötigen Hilfestellungen und/oder liebenden Zuwendungen versagt, verfestigen sich nicht selten gleich zu Beginn des Lebens elementare Beziehungsstörungen, die eine nachhaltige Wirkung auf die weitere Entwicklung haben können (Gontard et al. 2015). Auch das Vertrauen in die eigene Fähigkeit zur Selbstregulierung kann hier nachhaltig gestört werden. Weil es sich hierbei noch um ein vorsprachliches Stadium handelt, gelingt ein bewusstmachender „Zugriff“ nur schwer. Insbesondere hierbei können Aufstellungen besonders gut unterstützen. Ein Kind versteht Sprache, bevor es selbst sprechen kann. Kleinstkinder lauschen dem Klang der Sprache und beobachten Mimik und Gestik ihres Gesprächspartners, um Zusammenhänge zu verstehen. Diese Phase der frühkindlichen Entwicklung verdeutlicht die Bedeutung der Qualität wie Kontinuität des Kontakts mit Mutter und Vater, und sie verweist auch auf das mögliche Ausmaß späterer Störungen, wenn die Entwicklung in dieser Zeit durch fehlenden oder lieblosen Kontakt gestört, gefährdet oder gar behindert wird. Unterbrochene Hinbewegung Eine der möglichen Beziehungsstörungen resultiert aus der sogenannten unterbro chenen Hinbewegung – ein wichtiges Thema (auch) in unseren Weiterbildungen, weil erfahrungsgemäß hier der Schlüssel für so viele spätere Phänomene verborgen sein kann. Die Hinbewegung zur Mutter kann sowohl vonseiten des Kindes unterbrochen werden (oder sein), dann z. B., wenn das Kind im Mutterleib ein Trauma erlebt habt und nach der Geburt keinen Kontakt zur Mutter aufnehmen will. Die Hinbewegung kann auch durch die Mutter unterbrochen werden, wenn sie sich dem Kind nicht im Moment des Bedarfs zuwendet, sondern vielleicht mit eigenen Dingen beschäftigt ist. Bert Hellinger hat über die unterbrochene Hinbewegung geschrieben: Die Mutter finden und nehmen … der nächste Erfolg ist die Bewegung zur Mutter, nun als ein gegenüber, die uns an ihre Brust nimmt und nährt. Was macht uns hier erfolgreich und bereitet uns für die späteren Erfolge in unserem Leben und in unserem Beruf vor? Sie als die Quelle unseres Lebens zu nehmen, mit allem, was von ihr zu uns überfließt. Mit ihr nehmen wir unser Leben. Wir nehmen es soweit, wie wir sie nehmen. Dieses Nehmen ist aktiv. Durch sie werden wir reich. Später im Leben zeigt sich: wem es gelang, seine Mutter auf diese Weise voll zu nehmen, der wird erfolgreich und glücklich. Denn wie jemand zu seiner Mutter steht, so steht er zu seinem Leben und zu seinem Beruf. Soweit er seine Mutter ablehnt, soweit lehnt er auch das Leben ab und seine Arbeit und seinen Beruf. Auf gleiche Weise und soweit, lehnt ihn auch das Leben ab und seine Arbeit und sein Beruf …
5.2 Biografie
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Die Hinbewegung zur Mutter Dem Nehmen der Mutter steht bei vielen eine frühe Erfahrung entgegen. Sie erlebten eine frühe Trennung von der Mutter. Zum Beispiel, wenn sie für eine Zeitlang weggegeben wurden, oder wenn die Mutter krank war und zur Erholung gehen musste, oder wenn wir krank waren und sie uns nicht besuchen durfte. Diese Erfahrung hat eine tiefgreifende Veränderung in unserem späteren Verhalten zur Folge. Der Schmerz der Trennung und die Hilflosigkeit ohne sie, die Verzweiflung, nicht zu ihr gehen zu können, wo wir sie so sehr gebraucht hätten, führt zu einer inneren Entscheidung. Zum Beispiel: „Ich gebe sie auf.“ „Ich bleibe allein.“ „Ich bleibe auf Abstand zu ihr.“ „Ich wende mich von ihr ab.“ Wenn das Kind wieder zur Mutter zurückdarf, entzieht es sich ihr oft. Es lässt sich zum Beispiel von ihr nicht mehr berühren, verschließt sich vor ihr und vor ihrer Liebe. Es wartet vergeblich auf sie und wenn sie versucht ihm näher zu kommen und es in den Arm zu nehmen, weist es sie innerlich und oft auch äußerlich zurück. Die Folgen einer unterbrochenen Hinbewegung Die früh unterbrochene Hinbewegung zur Mutter hat weittragende Folgen für das spätere Leben und für unseren Erfolg. Wie zeigt sich das im Einzelnen? Wenn solche Kinder später auf jemanden zugehen möchten, zum Beispiel auf einen Partner, erinnert ihr Körper das Trauma der frühen Trennung. Dann halten sie in ihrer Hinbewegung inne. Statt auf den Partner zuzugehen, warten sie, dass er auf sie zugeht. Wenn er wirklich näherkommt, halten sie seine Nähe oft schwer aus. Sie weisen ihn auf die eine oder andere Weise zurück, statt ihn glücklich willkommen zu heißen und zu nehmen. Sie leiden darunter und können sich dennoch nur zögernd für ihn öffnen, wenn ja, oft nur kurze Zeit. Ähnlich ergeht es ihnen mit einem eigenen Kind. Auch seine Nähe halten sie manchmal schwer aus … Was wäre für sie hier die Lösung? Dieses Trauma wird dort überwunden, wo es begann. (Hellinger 2011, S. 11)
In unseren Weiterbildungen verwenden wir ein so schlichtes wie meist tiefgreifendes Format. Als Klient suchen die Teilnehmer einen Stellvertreter für die Mutter. Klient und Stellvertreter der Mutter setzen sich an die einander gegenüberliegenden Wände des Raums. Die Aufgabe des Klienten ist es, sich auf die Mutter zuzubewegen (Abb. 5.8). Die Hinbewegung zur Mutter mit abschließendem Gehalten-Sein kann dadurch unterstützt werden, dass der Klient angehalten wird, in Blickkontakt mit der Mutter zu bleiben und wiederholt „Mama“ (Mami, Mutti) zu sagen. Weil dieser Prozess ein sehr tiefgehender und zutiefst persönlich intimer ist, empfehlen wir in jedem Fall, die Hinbewegung in einem späteren Modul der Weiterbildung zu thematisieren.
Abb. 5.8 Hinbewegung zur Mutter
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
Wie wird ein solches Trauma gelöst? Es wird in unserem Gefühl und in unserer Erinnerung gelöst, wenn wir trotz aller Angst in diese Situation zurückgehen und die damals verhinderte oder unterbrochene Hinbewegung innerlich nachholen. Was heißt das für eine früh unterbrochene Hinbewegung zur Mutter? Wir gehen noch einmal zurück in die Situation von damals, werden noch einmal das Kind von damals, schauen auf unsere Mutter von damals und gehen trotz des aufsteigenden Schmerzes und der Enttäuschung und Wut von damals einen kleinen Schritt auf sie zu – mit Liebe. Wir halten inne, schauen ihr in die Augen und warten, bis wir in uns die Kraft und den Mut für den nächsten kleinen Schritt spüren. Wir halten wieder inne, bis uns der nächste kleine Schritt gelingt und die nächsten kleinen Schritte, bis wir am Ende in die Arme unserer Mutter fallen, von ihr umarmt und festgehalten, endlich wieder ganz mit ihr eins und mit Liebe bei ihr. (Hellinger 2011, S. 16)
Im Fall einer stark belasteten oder gar traumatisierten Beziehung des Klienten zu seiner Mutter empfehlen wir, die Hinbewegung nicht zur eigenen Mutter sondern zu einem mütterlichen Prinzip zu vollziehen. Ich-Behauptung Der erste „Quantensprung“ in der kindlichen Entwicklung ist die Entstehung des Ich-Bewusstseins zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat. Das Kind erkennt sich nun selbst im Spiegel, und es kann sich jetzt in seiner Phantasie etwas vorstellen, was es danach ausführt. Es lernt auch, dass die Eltern nicht immer so wollen wie das Kind, und eben hier beginnt auch die sogenannte Trotzphase, die bis zum 6. Lebensjahr andauern kann. Ihren Höhepunkt hat die Phase in der Regel zwischen dem 2. und dem 3. Geburtstag. Was für Eltern bisweilen eine durchaus stressige Zeit sein kann, ist für die Kinder von besonderer Bedeutung: Hier lernen sie, ihr Ich zu behaupten und dabei mit sich selbst verbunden zu bleiben. Natürlich ist es dabei von entscheidender Bedeutung, welche Qualität die Verbindung zu Mutter und Vater hat und behält, wenn das Kind in die Auseinandersetzung geht, die hier wörtlich zu verstehen ist. Kinder und Eltern sitzen jetzt auseinander, einander gegenüber. Sie sind jetzt Ich und Du (aus der Perspektive des Kindes). Auch hierfür haben wir ein Aufstellungsformat für unsere Weiterbildungen entwickelt. Die 3 Positionen sind: Der Klient steht für sich als Kind, 2 Stellvertreter für Mutter und für Vater (Abb. 5.9). Die Positionen sind anfangs festgelegt. Der Stellvertreter für den Klienten soll die Eltern abwechselnd anschauen und laut „Ich“ sagen. Dabei kann er für sich selber herausfinden, welchen Abstand er zu den Eltern braucht, um sich als Ich zu behaupten. Die Aufstellung kann in Vierergruppen durchgeführt werden. Dabei werden die Positionen reihum besetzt, sodass am Ende jeder einmal geleitet hat und je einmal als Klient, als Vater und als Mutter gestanden hat (insgesamt 4 × 10 min). Danach tauschen sich die Teilnehmer über ihre Erfahrungen aus (15 min). Die Erweiterung unseres Aufstellungsformats ist die Selbsterfahrung durch den Tausch der Position Vater mit der Position Welt – und der Position Mutter mit der Position Partner. Der Klient steht nun selbst für sein Erwachsenes Ich (Abb. 5.10).
5.2 Biografie
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Abb. 5.9 Ich, Vater und Mutter
Abb. 5.10 Ich, Welt und Partner
Die Stellvertreterpositionen sind festgelegt. Der Klient kann durch experimentelles Vor- und Zurückgehen einen für sich stimmigen Abstand im Rahmen seiner Ich-Behauptung finden. Das Format kann in Vierergruppen mit anschließendem Austausch über tiefere Einsichten bearbeitet werden. Eine Alternative zum Format Ich, Welt und Partner ist das Format Vater, Welt, Ich bzw. Mutter, Liebe, Ich, das tiefe Einsichten in die früh angelegten Beziehungsqualitäten ermöglicht. Die Formate wurden von Robert Doetsch (*1950), dem Leiter der UTA Akademie in Köln entwickelt. In der Aufstellung Vater, Welt, Ich steht der Klient für sich selbst und erfährt, ob und wie seine Beziehung zum Vater – bzw. ob und wie der Vater – ihn bei der vertrauensvollen Begegnung mit der Welt unterstützt (hat) (Abb. 5.11). Auch in der Aufstellung Mutter, Liebe, Ich (Abb. 5.12) steht der Klient für sich selbst und erfährt, ob und wie seine Beziehung zur Mutter – bzw. ob und wie die Mutter – ihn bei der liebenden Begegnung mit anderen Menschen bzw. einem Partner unterstützt (hat).
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
Abb. 5.11 Vater, Welt, Ich
Abb. 5.12 Mutter, Liebe, Ich
Mehr davon Zum Thema der Ichbehauptung und dem V erbunden-Bleiben mit sich selbst in der Begegnung mit Anderen finden Sie weitere Informationen in Kap. 6 („Trauma und Traumafolgestörungen“).
Weitere wichtige wesentliche Ereignisse im Verlauf der Kindheit können sein: • • • • • • • • • • • • •
Verlust/Tod von lebenden Geschwistern, Abtreibung von Geschwistern, chronische oder plötzliche schwere Erkrankung von Geschwistern, psychische Erkrankung eines Elternteils, Alkohol- oder andere Drogensucht eines Elternteils/beider Eltern, Gewalt, psychischer und sexueller Missbrauch, parallele Partnerschaften/Familien der Eltern („Doppelleben“), Triangulierung (das Kind als Dritter in der Elternbeziehung), chronische oder plötzliche schwere Erkrankung eines Elternteils, Tod eines Elternteils, eigene schwere Erkrankung und Unfall, Trennung der Eltern, neue Partner der Eltern,
5.2 Biografie
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• neue Stiefgeschwister, • Patchwork-Familie, • Arbeitslosigkeit des Vaters/der Mutter/der Eltern, • Insolvenz/Ruin/Verarmung der Eltern/der Familie, • Umzug im Inland, Umzug ins Ausland, Flucht/Migration. Sie alle können weitreichende Folgen haben und sind nicht selten Anlass für eine Aufstellung. Bisweilen zeigen sie sich auch erst im Verlauf einer Aufstellung als (bis dahin unbekannter) Einflussfaktor für die eigene psychosoziale Entwicklung. Genau an dieser Stelle ist es für uns wichtig, unsere Teilnehmer über den Umgang mit der Frage zu informieren, ob das, was sich in Aufstellungen zeigt, als Beweis für Geschehenes betrachtet werden muss. Wir wissen, dass dieses Phänomen unter den Kollegen unterschiedlich gehandhabt wird. Für manche ist das, was sich zeigt, der Beweis für das, was in der Vergangenheit der Herkunftsfamilie wirklich geschehen ist. Für andere nicht. Ob etwas wirklich geschehen ist, kann für sie nicht als bewiesen betrachtet werden, nur, weil es sich in Aufstellungen so zeigt. Recherchiert man zu dieser Frage, findet man zahlreiche kritische Betrachtungen, die es bis hin zu den Sekten-Infos einzelner Bundesländer geschafft haben. Immer wieder melden sich in unserer Beratungsstelle verunsicherte oder auch verzweifelte Menschen, die entweder selbst oder deren Angehörige an einer Familienaufstellung teilgenommen haben. Im Anschluss an Aufstellungswochenenden werden Missbrauchsvorwürfe erhoben, Vaterschaften werden in Frage gestellt oder Verbrechen werden an die Oberfläche geholt, die angeblich vor Generationen oder sogar in früheren Leben in der Familie vorgefallen sind. Dadurch kommt es zu Schockerlebnissen und gravierenden familiären Konflikten. (Sekten-Info NRW 2017)
Wie immer, kann auch hier keine Faustregel vermittelt werden. Wir regen unsere Teilnehmer daher grundsätzlich an, bei allem, was sie beim Klienten oder bei den Stellvertretern im Feld wahrnehmen, innerlich abzuwägen, ob es ihren Klienten unterstützt, wenn ihm die Wahrnehmung eines Phänomens mitgeteilt wird. So haben wir selbst in eigenen Aufstellungen nicht nur einmal deutliche Hinweise z. B. auf Missbrauch gesehen und diese Hinweise dann unerwähnt gelassen, wenn wir das Gefühl hatten, dass es den Klienten an dieser Stelle überfordern oder seinem momentanen Zustand nicht dienen würde. Wir erwähnen es z. B. auch dann nicht, wenn es mit dem Anliegen des Klienten nicht in direktem Zusammenhang steht. Unsere Entscheidungen treffen wir intuitiv, und im Lauf der Jahre intensiver Aufstellungsarbeit sind unsere Intuitionen hierzu – jedenfalls für uns – klarer und eindeutiger geworden. Unseren Teilnehmern aber können wir nicht rezeptgleich vermitteln, anhand welcher Kriterien wir grundlegend entscheiden, wir können es nur anhand des Einzelfalls beschreiben, und wir können auch hier nur anregen, alle Überzeugungen immer wieder kritisch zu hinterfragen. Grundsätzlich zeigt sich jedenfalls auch hier wieder die Notwendigkeit einer profunden psychologischen Kenntnis.
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
Wir weisen auch noch auf einen anderen Aspekt hin, wenn sich etwas unübersehbar im Feld zeigt, von dem die Klienten keine Ahnung hatten. Auf die Frage des Klienten, „ob das denn sein könne, dass das wirklich so geschehen sei?“ stellen wir dem Klienten bisweilen die Gegenfrage, ob es in seinem jetzigen Leben eine Symptomatik gebe, die er damit in Verbindung bringen könne. Unsere Teilnehmer regen wir an, ebenso zu verfahren. Denn unabhängig davon, ob etwas wirklich geschehen ist oder nicht, wirklich ist in jedem Fall die gegenwärtige Lebensqualität des Klienten, und allein der gilt unsere gesamte Aufmerksamkeit. Grundsätzlich eignet sich die klassische Familienaufstellung für die oben aufgeführten Themen. Die Aufstellung der Herkunftsfamilie besteht in der Regel aus den Positionen Vater, Mutter, Geschwister, Klient, und sie kann im gegebenen Fall auf weitere wichtige Einflusspersonen erweitert werden – gestorbene oder abgetriebene Kinder, frühere Geliebte/Partner/Ehepartner oder z. B. auch Großeltern, die im Haus der Herkunftsfamilie lebten und direkten Einfluss hatten. Für den Start der Biografiearbeit eignet sich die Familienaufstellung mit der Herkunftsfamilie immer. Wir weisen unsere Teilnehmer dennoch auf den Aspekt hin, dass die Familienaufstellung zum Teil auch in einem psychoanalytisch ausgerichteten Denken verwurzelt ist. Auf die Beschreibung des „Jetzt“ folgt die Frage nach dem „Früher“. Gefördert wird dadurch das Verständnis des eigenen So-Seins als Folge von äußerlichen Einflüssen und Belastungen. Wir gehen auf diesen Aspekt noch im Unterkapitel über den Lebensintegrationsprozess (LIP) und in Betrachtungen zum Thema Selbst und Persönlichkeit ein (s. unten). Manchmal führt auch die Möglichkeit, in einer Aufstellung der Herkunftsfamilie etwas in der Beziehungskonstellation zu verändern, bei noch jungen Aufstellern zur irrigen Annahme, man könne rückwärts etwas „reparieren“, will sagen, durch veränderte Konfiguration posthum in die Vergangenheit hineinwirken. Das einzige aber, was man durch eine veränderte Konstellation, in der die Liebe wieder fließt, erreichen kann, ist eine neue Erfahrung beim Klienten. Die Erfahrung hat zur Folge, dass er neue Synapsen im Hirn bilden kann, die in ihrer Wirkung gleich einem realen Erlebnis sind. So kann man Jahre später im Arm der Stellvertretermutter eine Erfahrung von Gehalten- und Geliebt-Sein machen, die zur Neubildung entsprechender Synapsen im Hirn und in der Folge tatsächlich zu einer anderen Lebensqualität führen können. Entscheidend für die Verfestigung einer solchen Erfahrung ist die anschließende Wiederholung, wie wir aus der aktuellen Hirnforschung wissen.
Mehr davon Über die Neubildung Verfestigung von Synapsen finden Sie detaillierte Informationen in Abschn. 6.4 („Trauma im Hirn“).
5.2.2.4 Pubertät Steht die intrauterine Phase für das Einssein von Mutter und Kind und die Kindheit als Phase der physischen, psychischen und geistigen Persönlichkeitsentwicklung bei gleich-
5.2 Biografie
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zeitig abnehmender Abhängigkeit von den Eltern (oder auch: abnehmender Verwicklung mit den Eltern), so kann die Pubertät als zweite Geburt verstanden werden. Das Wort Pubertät kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Mannbarkeit. Im römischen Reich hatten nur Männer Bürgerrechte, weil sie von militärischem Nutzen für die Expansionsziele waren. Frauen hatten keine staatstragende Bedeutung im Moment ihrer körperlichen Reife (außer dass sie jetzt neue zukünftige Soldaten gebären konnten). Der kulturelle Hintergrund mag die Erklärung dafür sein, dass es bis heute keinen entsprechenden Begriff für „Fraubarkeit“, bzw. die weibliche sexuelle Reife gibt. Gemeint ist mit dem Begriff Pubertät aber die sexuelle Reifephase des jugendlichen Kindes beiderlei Geschlechts. Mit der sexuellen Reife beginnt der Austritt aus der elterlichen Obhut in das eigene selbstbestimmte Leben mit großen Schritten. In dieser Phase verändert sich der Körper, und das Gehirn kann nachgerade als Baustelle bezeichnet werden. War man früher davon ausgegangen, dass das Gehirn mit dem 6. Lebensjahr ausgeformt sei, so weiß man heute, dass das Gehirn – insbesondere das Großhirn – eine neoplastische Qualität hat. Das bedeutet, dass es sich lebenslang verändern kann. Der US-Psychiater und Neurowissenschaftler Jay Giedd untersuchte am National Institute of Mental Health (Behörde des US-Gesundheitsministeriums für biomedizinische Forschung) über Jahrzehnte die Entwicklung des jugendlichen Gehirns (Giedd 2019). Seine bildgebenden Arbeiten haben dabei zu bemerkenswerten Erkenntnissen geführt. Giedd fand heraus, dass in der Pubertät neue neuronale Verbindungen geknüpft werden und andere verschwinden. Von diesen Vorgängen ist in erster Linie die Hirnregion der sogenannten Stirnlappen (Frontalhirn) betroffen, in denen sich ein wichtiges (emotionales) Kontrollzentrum befindet. Möglicherweise sind die Launenhaftigkeit, die Vergesslichkeit oder auch die Unberechenbarkeit von Jugendlichen in dieser Phase Ergebnisse der neuronalen Umbaumaßnahmen.
Mehr davon Vertiefte Informationen zur Entwicklung des Gehirns finden Sie auch in Abschn. 6.4.2 („Revolution des Denkens in der Hirnforschung“).
Es geschieht nicht selten, dass Menschen im Stadium der Pubertät – oder genauer: an der Schwelle zum autonomen Erwachsenem stecken bleiben. Die essenziellen Fragen der Pubertät sind: • Wer bin ich, wenn ich nicht mehr gegen andere, sondern für mich bin? • Wer bin ich, wenn ich nicht mehr durch andere, sondern ausschließlich aus mir heraus bin? Wir kommen im Folgenden noch einmal auf diesen Aspekt zurück (Abschn. 5.3). Mit der Frage verknüpft sind jedenfalls Fragen nach dem Selbst und nach der eigenen Persönlichkeit, die aus der Perspektive der Aufstellungen zur Biografiearbeit mit den Gegenwartssystemen gehören.
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
5.2.3 Biografiearbeit mit der Gegenwartsfamilie Der dritte große Bereich der Biografiearbeit gilt der Gegenwartsfamilie, in der die Biografie alle Aspekte der Gestaltung von „Heute“ (auch) vor dem Hintergrund von „Gestern“ beschreibt. Die Beantwortung der Frage, was oder wer Familie ist, obliegt dabei einzig dem Klienten. Es können entweder reine sogenannte Wahlverwandtschaften sein, bei denen keinerlei Blutsverwandtschaft vorliegt, oder es handelt sich um Mischformen aus Familie und Wahlverwandtschaft. Nach Jahrzehnten der Auflösung herkömmlicher Strukturen der Lebensformen gelten heute jedenfalls vielerlei Varianten als Familie – und natürlich erhöht sich dadurch auch die Komplexität der modernen Familiensysteme, die auch als Patchwork-Familie bezeichnet werden. Wie komplex eine solche Patchwork-Familie bisweilen sein kann, mag das nachfolgende Beispiel verdeutlichen: Max und Klara sind ein junges Paar Ende 20. Sie sind weder verlobt noch verheiratet, leben aber seit 5 Jahren zusammen und pflegen ihre familiären Verbindungen beinahe „wie ein Ehepaar“. Sie widmen den regelmäßigen Treffen mit Eltern, Geschwistern und Nichten durchaus viel Zeit und Aufmerksamkeit. Max ist der Sohn von Maria und Theo. 2 Jahre vor Max hatten die Eltern eine Tochter, die unter der Geburt starb, sowie ein Jahr später eine weitere Fehlgeburt. Max ist außerdem ein alleingeborenes Zwillingskind – der verlorene Zwilling verstarb im 4. Monat. Max wurde per Notkaiserschnitt im 6. Monat auf die Welt geholt und lag die ersten 3 Lebensmonate im Brutkasten. Bereits vor Max’ Geburt hatte sein Vater Theo die Mutter verlassen. Maria hat Max alleine großgezogen. Sie lebt seit Max’ Auszug in einer Beziehung mit Bruno, mit dem sie nicht verheiratet ist. Bruno und Max pflegen eine Vater-Sohn-ähnliche Beziehung. Max’ Vater Theo hat nach der Ehe mit Maria noch 3 Kinder (1 Fehlgeburt, Ben und Josi) mit zwei weiteren Frauen (Gaby und Paula) gezeugt – von beiden Frauen ist er getrennt. Max hat also 2 vorgeburtlich verstorbene und 1 totgeborenes Geschwister, 1 vorgeburtlich verstorbenes Halbgeschwister und 2 lebende Halbgeschwister. Max’ Lebensgefährtin Klara ist die Tochter von Hans und Inge, die verheiratet sind. Klaras ältere Schwester Rosa entstammt der ersten Ehe der Mutter mit Klaus, sie hat also einen anderen Vater als Klara. Rosa ist seit ihrem 3. Lebensjahr mit ihrem Stiefvater aufgewachsen. Und sie ist in gleichgeschlechtlicher Ehe mit Lucille verheiratet. Lucille hat durch künstliche Befruchtung eine Tochter mit Kemal, der als biologischer Vater in die Familie des Kindes eingebunden ist. Rosa hat die Tochter Elli ihrer Ehefrau Lucille adoptiert. Was wir hier aufführen, ist ein uns bekanntes Familiensystem mit der durchaus üblichen Komplexität moderner Familiensysteme. Natürlich haben wir alle Namen geändert (Abb. 5.13). Wenn Max und Klara nun z. B. eine Aufstellung ihrer Partnerschaft machen möchten, dann kann es sein, dass diese durch die komplexen Familienstrukturen stark gefärbt ist,
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Abb. 5.13 Bluts- und Wahlverwandtschaft
und sich im Verlauf der Aufstellung ein weites Feld an beeinflussenden Verbindungen entwickelt. Sie würden dann möglicherweise verstorbene Geschwister, ihre jeweiligen Eltern und oder deren neue Partner nicht unter dem Aspekt ihrer Herkunftsfamilie (Vergangenheit), sondern unter dem Aspekt der durch die Verluste, Trennungen und neuen Paarungen veränderten Strukturen in der Gegenwart betrachten. Natürlich aber spielt nicht immer ein so hoher Grad an Komplexität die Hauptrolle, wenn Gegenwartssysteme wie Familie oder Wahlverwandtschaft aufgestellt werden. Mögliche Konstellationen sind: • Partnerschaft und Ehe, ehemalige Partner/Ehepartner, • Mutter-Kind, Vater-Kind, Vater, Mutter, Kind (alle aus der Perspektive der Eltern), • Geschwisterbeziehungen, • andere familiäre Beziehungen, • Wahlverwandtschaftsbeziehungen, • Freundschaften.
5.2.3.1 Der Lebensintegrationsprozess Wir kommen noch einmal zur Schwelle von der Pubertät zum Erwachsenenleben, vom abhängigen zum unabhängigen, freien Leben zurück und stellen an dieser Stelle eine Sonderform der Biografiearbeit vor. Gemeinhin werden in der Biografiearbeit Vergangenheit und Gegenwart dahingehend getrennt, dass entweder das Herkunfts- oder das Gegenwartssystem aufgestellt wird. Innerhalb einer Aufstellung sollen nicht zwei Zeitebenen aufgestellt werden – jedenfalls postulieren viele Aufsteller dies als Regel und raten von Mischformen ab. Der Lebensintegrationsprozess (LIP) geht einen ganz eigenen Weg, in dem er den Prozess der Übergänge aus den verschiedenen Lebensphasen bis zur Gegenwart zum
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
Abb. 5.14 Lebensintegrationsprozess (LIP)
Thema der Betrachtung macht. So verbindet der LIP in gewisser Weise die Vergangenheit mit dem „Jetzt“ als ein fortschreitendes „Fallen“ von einer Bewusstseinsstufe in die nächste, von einem Lebensraum in den nächsten. Zugleich trennt der LIP Vergangenheit und Gegenwart im Prozess der Loslösung aus der Familie und von den Eltern mit dem Ziel des wirklichen Erwachsenwerdens. Der Begründer des LIP, der deutsche Soziologe und Psychologe Dr. Wilfried Nelles (*1948), beschreibt den LIP als ein Sich-Fallen-Lassen in die Offenheit der Welt (Abb. 5.14). Im LIP sind 7 Positionen vorgegeben. Die Stellvertreter, die auf den Positionen 1, 2 und 3 stehen, können die Position nicht verlassen – so, wie der Klient als Kind nicht die Kindheit und als Jugendlicher nicht die Jugend verlassen konnte. Auf der Position 4 steht der Klient für sich und begegnet hier der Reihe nach beginnend mit Position 1 den verschiedenen Aspekten und Bewusstseinsstadien seiner Person. Im Prozess integriert er die Aspekte und inneren Anteile durch sein so bedingungsloses wie unbedingtes „Ja zu mir“. Bisweilen gelingt das nicht „beim ersten Anlauf“, und es kann sein, dass der Prozess auf einer frühen Stufe endet. Was grundsätzlich für alle Aufstellungen gilt, ist auch hier erste Regel: Bewegungen, die noch nicht vollzogen werden können, können noch nicht vollzogen werden. Erzwungen werden dürfen sie daher keinesfalls. Die Positionen im LIP von 1–7 sind: 1. Zeit im Mutterleib 2. Kindheit 3. Jugend 4. Erwachsensein
5.2 Biografie
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5. reifes Erwachsensein 6. Alter 7. Tod In einer von uns transkribierten Einführung in den LIP, der auf der Website des Nelles Instituts und bei YouTube veröffentlicht ist, sagt Wilfried Nelles zu seinem Konzept: Der LIP ist ein Lebenskreis, das sich in Stufen entwickelt, die klar voneinander abgegrenzt sind. Auf jeder Lebensstufe haben wir … ein anderes Bewusstsein. Mit Bewusstsein meine ich die Art, wie wir uns, und wie wir die Welt sehen. Die sieben Ziffern hier markieren die sieben Lebensstufen, und diesen sieben Lebensstufen entsprechen sieben Bewusstseinsstufen. Die erste Stufe unseres Lebens ist die Zeit im Mutterleib … in dieser Zeit sind wir integraler Bestandteil des mütterlichen Organismus. Das Kind hat noch kein Bewusstsein seiner selbst. Manche Empfindungen, die wir haben, und für die es keine biografischen Entsprechungen gibt, kommen aus der Zeit im Mutterleib. Dieser Symbiose mit der Mutter entspricht auch das symbiotische Einheitsbewusstsein. Das ist etwas, wonach sich viele Menschen sehnen – wir haben eine tiefe Sehnsucht nach Einheit, eine tiefe Sehnsucht nach Versorgt-Sein. Die Sehnsucht nach der Verschmelzung mit dem Liebespartner ist ein Traum aus dem Mutterleib. Wir messen manchmal das Leben an solchen Träumen – und damit komme ich auf einen entscheidenden Aspekt … um richtig Mensch zu werden, muss das Kind den Mutterleib verlassen. Die Rundumversorgung im Mutterleib müssen wir zurücklassen, sonst werden wir nicht geboren, sondern wir sterben. Nach neun Monaten heißt es: „Hier ist jetzt für Dich Ende, jetzt geht es in eine neue Welt“ … Und tatsächlich ist es eine neue Welt. Die Geburt ist ein vollkommener Weltenwechsel … Wenn wir das auf unser geistiges Dasein beziehen, dann heißt das, unsere Träume, auch dieses Versorgt-Sein, dieses Sich-um-nichts-Kümmern-Müssen, auch das müssen wir zurücklassen. Sonst sind wir geistig noch im Mutterleib. Die ganze Kindheit ist dazu da, dass wir lernen, uns geistig soweit zu entwickeln, dass wir auf eigenen Füßen stehen können. In der Kindheit sind wir körperlich fertig, aber geistig sind wir sozusagen völlig unfertig, völlig hilflos. Die Familie ist der nächste Schutzraum. im Grunde ein erweiterter Mutterleib, der uns jetzt aber nicht körperlich umhüllt und körperlich umsorgt …, sondern der uns geistig und emotional umhüllt und versorgt und schützt. Dieselbe Funktion wie der Uterus auf der körperlichen Ebene, hat die Familie auf der geistigen Ebene. Die Familie ist kein perfekter Schutz, sondern die Eltern fangen jetzt an, … ihre eigenen Ideen mitzugeben, ihre eigenen Sichtweisen, wie das Leben zu sein hat. Das Kind entwickelt sich in diesem Kontext. Das ist unvermeidlich. In der Jugend dreht sich das um. Genauso, wie wir den Mutterleib verlassen müssen, um körperlich zu uns selbst zu kommen, müssen wir die Familie verlassen, um geistig zu uns selbst zu kommen … sonst führen wir das Leben unserer Eltern weiter … Wir müssen die Familie verlassen, damit das Leben weitergehen kann. Das beginnt mit der Sexualreife, und auch dann kommt wieder alles durcheinander. Es dreht sich sozusagen alles um. Wir bleiben in der Auseinandersetzung mit den Eltern stecken, das ist so, als wenn man im Geburtskanal stecken bleibt. Man hat wirklich erst die Familie verlassen, wenn man aufhört, seiner Mutter oder seinem Vater mit Vorwürfen zu begegnen. Solange ich in der Auseinandersetzung mit den Eltern bleibe, habe ich sie nicht verlassen. Und da setzt im Grunde meine Arbeit ein. Darin, zu sehen, dass das, was in meinem Leben geschehen ist – sei es im Mutterleib, sei es in der Kindheit, sei es auch in der Jugend – für mich genau das Richtige war. Ob mir das
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
gefällt oder nicht. Ob das immer schön war oder nicht. Ob das leicht war, oder schwer oder schmerzhaft – völlig unabhängig davon. Das, was Du in Deinem Leben erlebt hast, lässt sich nicht ändern, die Vergangenheit ist völlig alternativlos … All unser Hadern mit unserer Geschichte ist völlig sinnlos … Du bist genau die Person, die Du bist, weil Du diese Geschichte hast. In jedem schmerzhaften Erlebnis ist auch eine Kraft für uns eingeschlossen, die wir damals entwickelt haben, entweder, um es auszuhalten, oder um uns dadurch zu kämpfen. Nur dann, wenn wir dem zustimmen, dass das auch zu uns gehört und gehören darf, nur dann nehmen wir unser ganzes Leben zu uns. Deshalb habe ich die Arbeit Lebensintegrationsprozess genannt. Das ist das, was für mich Integrationsprozess bedeutet: Alles das, was in meinem Leben geschehen ist, zu mir zu nehmen als etwas, was zu mir gehört. Dann kann ich dastehen als der, der ich heute bin und kann sagen: „Ja, das bin ich“. (Nelles 2019)
Ebenso wie in der Arbeit mit unseren Klienten konfrontieren wir auch unsere Teilnehmer mit dem LIP erst dann, wenn sie schon eine gewisse Routine mit Selbsterfahrung und therapeutischer Arbeit sowie einzelne biografische Themen bearbeitet haben. Denn erfahrungsgemäß ist der LIP ein Format für Menschen, die bereit sind, einen mutigen Schritt in der Persönlichkeitsreife zu machen. Das radikale „Ja“ zum eigenen Leben braucht ein gewisses Standing dessen, der es sagt und sich dabei der existenziellen, geistigen und spirituellen Dimension bewusst ist. Unsere Erfahrung mit dem LIP hat gezeigt: Auf der Position 1 des Kindes im Mutterleib können sich zwei Aspekte offenbaren. Der erste Aspekt beschreibt das, was sich im Leben des Klienten entfalten und gelebt sein will, und hier sehen wir Qualitäten wie z. B. Stille, Humor, Feinstofflichkeit, Detailgenauigkeit oder Licht. Wir begegnen Qualitäten in ihrer reinen, mit Worten kaum zu beschreibenden Dimension und ihrer tief berührenden Schönheit. Der zweite Aspekt auf dieser Position umfasst mögliche belastende Ereignisse im Mutterleib – verstorbene Geschwister, versuchte Abtreibungen, Medikamentenmissbrauch o. Ä. Zeigt sich der biografisch belastete Aspekt auf Position 1, stellen wir einen zweiten Stellvertreter rechts neben den ersten. Bisher hat sich dann in dem zweiten Stellvertreter das gezeigt, was sich entfalten will, und für den Stellvertreter, der die im Mutterleib erfahrene Belastung trägt, haben sich Entlastung und Entspannung eingestellt. In unseren Weiterbildungen ist der LIP ein zentrales Aufstellungsformat, weil sich hierin die Aspekte der Biografie, des Selbst und der Persönlichkeit begegnen. Hierzu sagt Nelles in seiner Einführung: Du bist nicht der Urheber, Du bist nicht das Subjekt Deines Lebens. Wir glauben, wir müssten unser Leben machen, wir müssten es entwerfen, und es müsste sich unserem Denken und unseren Vorstellungen und unseren Wünschen fügen. Und wenn das Leben nicht so ist, wie ich es gerne hätte, oder wie ich es mir von anderen abgucke und meine, so müsste es sein, dann bin ich enttäuscht. Oder ich meine, entweder die Anderen haben versagt, sie haben mir was angetan, und da stehen an erster Stelle die Eltern … oder ich wende die Enttäuschung auf mich selber und fühle mich falsch und sage, „Ich bin nicht richtig, weil mein Leben nicht so verläuft, wie es sein sollte“. Damit machen wir uns das Leben zur Hölle.
5.3 Ich, Selbst und Persönlichkeit
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Alles was wir tun können, ist das, was wir am Anfang unseres Lebens körperlich getan haben … Wir sind aus der Mutter heraus- und in die Offenheit des Lebens hineingefallen – ohne dass wir damals wissen konnten, dass da jemand ist, der uns beschützt und der uns trägt und aufhebt. Und das ist das, was wir heute im Geistigen noch tun können: uns in die Offenheit des Lebens geistig hineinfallen lassen und darauf vertrauen, dass wir vom Leben selbst – wie damals von der Mutter – getragen werden. (Nelles 2019)
Nelles sagt hier, dass unser Selbst „das Leben selbst“ ist und sich unserer Kontrolle entzieht. Er spricht davon, dass wir nicht der Urheber, nicht das Subjekt unseres Lebens seien. Wenn wir nicht das Subjekt sind, bedeutet das, dass das Leben uns lebt. Wir sind dann das Objekt des Lebens. Das ist ein zutiefst spirituelles Verständnis der menschlichen Existenz. Im Kontext solcher und ähnlicher Überzeugungen stellt sich immer wieder die Frage danach, wie es sich mit der Verbindung zwischen Ich, Selbst und Persönlichkeit verhält?
5.3 Ich, Selbst und Persönlichkeit Ich, Selbst, Persönlichkeit – hinter den verschiedenen Begriffen stecken unterschiedliche Konzepte, und ihr Gebrauch ist eng an die über Jahrtausende gewachsene Kultur gebunden. So wie wir sie in unserem westlichen Kulturraum für uns konnotiert haben, so wirken sie jetzt auf uns. Und was auf uns wirkt, wird zu unserer Wirklichkeit, die wir dann als von der Natur gegeben erfahren und selten noch einmal hinterfragen. Wir sind mehr als Biologie und Umwelt – und unser Geist ist nicht nur Gehirn („the medium is not the message“). Unser Bewusstsein ist Ursprung und zugleich Realität unserer Welt.
Mehr davon Weitere Informationen zur Forschung über Geist und Bewusstsein finden Sie auch in Kap. 3 („Wahrnehmung und Erkenntnis“).
Ich, Selbst und Persönlichkeit sind keine Wörter wie Sonne, Regen oder Gummistiefel. Die Begriffe stehen für dahinterliegende Überzeugungen. Ich steht für die Idee darüber, was Ich ist. Selbst steht für die Überzeugung darüber, was Selbst ist. Persönlichkeit steht für die Überzeugung darüber, was Persönlichkeit ist. Die jeweiligen Überzeugungen entspringen den kulturellen Paradigmen mit ihren mannigfaltigen Memen. Für die Aufstellungsarbeit mit Positionen wie Ich, Selbst oder Persönlichkeit lohnt es deshalb, noch einmal zu reflektieren, was genau wir damit meinen, wenn wir von uns als Ich, von unserem Selbst und von unserer Persönlichkeit sprechen.
5.3.1 Ich „Ich“ ist unser Name. Ich ist die Identität, die wir uns selber geben. Mit „Ich“ identifizieren wir uns. Wir sprechen von „Ich“, wenn wir über uns sprechen. Wir sagen: „Ich
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
Abb. 5.15 Körper, Seele, Geist und Ich
bin ich“. Mit „Ich“ meinen wir alles, was mich betrifft, die Summe all dessen, was ich bin. „Ich“ ist der identifizierbare Container für alles, was uns ausmacht. „Ich“ umfasst unser Selbst, unsere Persönlichkeit, unser Bewusstsein und unsere innere Wirklichkeit. Ich denke, ich fühle, ich erlebe, ich meine, ich fürchte, ich liebe. „Ich“ ist die übersummative Gestalt aus Körper, Seele und Geist, Psyche, Verstand, Vernunft und Ego. Ego steht hier für das Selbstkonzept, das jeder von uns über sich hat. Ich ist unsere Identität. In der Weiterbildung eignet sich in diesem Zusammenhang das Aufstellungsformat Körper, Seele, Geist und Ich (Abb. 5.15). Bei diesem Format ergibt sich immer wieder die Frage, ob mit der Seele die Psyche gemeint sei und ob der Geist den Verstand und die Vernunft bezeichne. Tatsächlich ist in unserer dualistischen Kultur die Seele als universelle Größe konnotiert, die ewig und jenseits von Zeit und Raum (auch außerhalb unseres Körpers) existiert, und so verstehen wir in Abgrenzung zum Körper auch den Geist als eine Dimension des non-lokalen Bewusstseins. Dem entgegen stehen dann die eher körperlichen Dimensionen der Psyche sowie der Verstand und die Vernunft, die ihren Platz nach unserem Verständnis eindeutig in einem zweidimensional denkenden, lokalisierbaren Organ im Kopf haben. Unserer Erfahrung nach ist es je nach Reifegrad des Klienten tatsächlich ganz unterschiedlich, was sich zeigt: Körper-Psyche-Verstand oder Körper-Seele-Geist oder gar Mischformen wie Körper-Psyche-Geist oder Körper-Seele-Verstand. Grundsätzlich wichtig ist daher bei dieser Aufstellung, dass der Aufsteller die möglichen Dimensionen als solche berücksichtigt.
5.3.1.1 Der Ich-Beweis „Ich“ ist auch die erste Person in unserer Grammatik. Erst komme ich, dann kommst Du. Dann kommen die anderen – er, sie und es. Auch im Plural halten wir es so. Erst kommen wir, dann die, denen wir begegnen – „Ihr“ – dann alle anderen: sie. Die 1. Person können wir zwar anfassen, wir können sie spüren, sie hören, sie sehen. Tatsächlich aber ist die 1. Person, das „Ich“ das Ergebnis unseres Bewusstseins. Gibt es das „Ich“ überhaupt?
5.3 Ich, Selbst und Persönlichkeit
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Was sind wir für Wesen, die Ich sagen und Modelle von sich und der Welt machen? Schauen wir also aus der Perspektive der ersten Person den Ursprung unserer Selbst- und Welterfahrung an. Wir können alles, was wir erleben, infrage stellen, nur nicht das Erleben selbst. Sobald wir das Vorurteil einer materiellen Außenwelt loslassen, werden all unsere inneren und äußeren Erlebnisse zu Phänomenen im offenen Horizont unseres Bewusstseins. Alles, was ist, ist Bewusstsein von etwas. Alles, was geschieht, ist in uns Erlebtes, ob Gedanke, Gefühl, Mitwesen oder Ding. Die Welt ist in uns und jetzt. Alles, was es zu verstehen gibt, ist da. Unser Bewusstsein liegt allem zugrunde. Es ist nicht aus materiellen Elementen entstanden, schon diese sind gedankliche Hervorbringungen. Wir können es nicht begründen, nur beschreibend erkunden. Genau das tut die Phänomenologie, die Wissenschaft vom Bewusstsein und seinen Erscheinungen, begründet durch Edmund Husserl. Auch der Buddhismus beinhaltet eine Phänomenologie. Beide zeigen durch genaue Analysen der Bewusstseinsprozesse, dass es keine vom Erleber unabhängigen Dinge gibt. Wir leben in einem rein subjektiven Raum, und es gibt keine andere Welt außerhalb dieses Horizonts. Ich bin immer derjenige, der den ganzen Körperraum bewohnt, mit all seinen widerstrebenden Tendenzen, Gedanken, Gefühlen und Zielen. Ich bin der, der das alles erlebt und zusammenhält, ich bin der innere Zeuge, der bei allem dabei ist und immer da war. Als unteilbares Subjekt sitze ich nicht in einem Organ. Ich bin nicht das Gehirn, sondern das Ganze, das Körper, Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt einschließt. (Wenke 2019)
Seit Menschengedenken befassen wir uns mit der Frage nach dem „Ich“, und der Zweifel darüber, ob es dieses „Ich“ wirklich gibt, wenn es Ergebnis unseres Bewusstseins ist, wird (auch in dem hier zitierten Text) dadurch ausgeräumt, dass es einen gibt, der das Bewusstsein hat. Es gibt einen, der erlebt – und also gibt es das „Ich“. So hatte im Übrigen auch der französische Philosoph des Rationalismus René Descartes (1596– 1650) argumentiert, als er in seinem Werk „Meditationes de prima philosophia – in qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur“ aus dem Jahr 1641 den Ich-Beweis anführte: Cogito ergo sum – Ich denke, also bin ich. Anders formuliert lautet der Satz: Ich denke mir mein „Ich“ nicht aus, denn ich bin der, der denkt. Die logische Herleitung von Descartes’ Überzeugung war diese: Selbst, wenn ich an allem zweifle, auch an mir und meiner Existenz, wenn ich z. B. zweifle, ob es nicht so ist, dass ich mich nur denke und also eine von meinen Gedanken hervorgebrachte Illusion bin – so ist es doch unbestreitbar, dass es immer noch einen gibt, der zweifelt und denkt, und das bin ich. Also bin ich. Der komplette Buchtitel von Descartes’ philosophischen Werk heißt übrigens übersetzt „Meditationen über die Erste Philosophie, in welcher die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele bewiesen wird“. Und Descartes’ aus dem Lateinischen Original übersetzte Argumentation lautet so: Indem wir so alles nur irgend Zweifelhafte zurückweisen und für falsch gelten lassen, können wir leicht annehmen, dass es keinen Gott, keinen Himmel, keinen Körper gibt; dass wir selbst weder Hände noch Füße, überhaupt keinen Körper haben; aber wir können nicht annehmen, dass wir, die wir solches denken, nichts sind; denn es ist ein Widerspruch, dass
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
das, was denkt, in dem Zeitpunkt, wo es denkt, nicht bestehe. Deshalb ist die Erkenntnis: „Ich denke, also bin ich,“ (lat.: ego cogito, ergo sum) von allen die erste und gewisseste, welche bei einem ordnungsmäßigen Philosophieren hervortritt. (Descartes 1644)
5.3.1.2 Ich und mich Klienten sagen „Ich mag mich“ oder „Ich mag mich nicht“. In dem Fall fragt sich, wer die beiden Anteile sind, wer ist „Ich“ und wer ist „Mich“? Wer ist der Mögende und wer der Gemochte, wer Subjekt, wer Objekt? Unsere Teilnehmer stutzen, wenn wir ihnen diese Frage stellen, und wir bieten ihnen dazu ein einfaches Aufstellungsformat, das ihnen die Möglichkeit einer Selbsterfahrung in der Ich-Begegnung gibt (Abb. 5.16). Im zweiten Schritt kann die Aufstellung durch einen weiteren Stellvertreter erweitert werden – das „Mag“ kommt dazu – im dritten Schritt wird ggf. das „Nicht“ ergänzt. Das so scheinbar einfach daherkommende Format ermöglicht tiefe Prozesse der Selbsterfahrung und vermittelt den Teilnehmern auch eine erste Idee von der überraschenden inhaltlichen Vielfalt ihres „Ich“-Containers (Abb. 5.17 und 5.18). Das Aufstellungsformat bietet auch einen guten Übergang zum Verständnis des Selbst, das im Ich enthalten ist und das in der westlichen Kultur nicht selten als Gegenspieler des Egos verstanden wird.
5.3.2 Selbst Unser „Selbst“, so sind wir überzeugt, ist der wahre, der wahrhaftige Kern unseres Ich. Es ist unberührt von äußeren Einflüssen. Was aber genau ist das Unberührte? Was Abb. 5.16 Ich Mich
Abb. 5.17 Ich Mag Mich
5.3 Ich, Selbst und Persönlichkeit
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Abb. 5.18 Ich Mag Mich Nicht
meinen wir, wenn wir von einem Kern sprechen? Allein ein Blick auf die verschiedenen Verständnisse des Begriffs offenbart, wie schnell wir uns in der Wahl des Begriffs irren können bzw. wie leicht wir unsere Klienten missverstehen können, wenn sie von ihrem Selbst sprechen und z. B. das Anliegen formulieren „Ich will endlich ganz ich selbst sein“. Jeder von uns hat bei einem solchen Anliegen möglicherweise eine eigene Vorstellung von dem, was der Klient meinen kann. Der Begriff des Selbst ist in den verschiedenen Denkschulen verschiedentlich konnotiert, und wir haben hier nur einen Ausschnitt aus den psychologischen, pädagogischen, soziologischen, philosophischen oder theologischen Bedeutungsvarianten gewählt, um die mögliche Bandbreite zu verdeutlichen: • Der Buddhismus sagt, es gibt weder Selbst noch Nicht-Selbst; • bei Kant ist das Selbst das Ich, das wiederum identisch gesetzt ist mit Noumenon. Es äußert sich als Vernunft mit dem ihr innewohnenden Willen zur Entscheidung; • in der Systemtheorie ist das Selbst das identifizierbare … System, das aus Handlungen entstanden ist; • in der Gestalttheorie gleicht das Selbst der Gestalt, die sich zusammensetzt aus den sie konstituierenden Elementen, aus der Qualität ihrer interdependenten Beziehungen sowie aus der Übersummativität, die besagt, dass das Ganze größer (etwas anderes) ist, als die Summe seiner Teile; • bei Friedlaender ist das Selbst die schöpferische Indifferenz, die sich in Pole (Menschen) differenziert; • Perls schließlich bezeichnet das Selbst als Symbol der Identifikation. (Hartung 2015, S. 134–135)
Es gibt zahlreiche weitere Definitionen des Selbst. Manche unterscheiden zwischen dem beobachtenden und dem beobachteten Selbst („pure ego“, „empirical ego“; William James, 1824–1910). Andere beschreiben das Selbst als das Zentrum der Psyche (C. G. Jung), wieder andere als Atman, die innere ewige und unzerstörbare Gestalt jeden Wesens (Hinduismus).
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
Die Definitionen des deutschen Philosophen Salomo Friedlaender (1871–1946) und des Begründers der Gestalttherapie Fritz Perls (der die Philosophie von Friedlaender als spirituelle Grundlage der Gestalttherapie bezeichnet hat) kommen in Kombination mit der hinduistischen Überzeugung wohl dem am nächsten, was wir mit Selbst meinen, wenn wir „endlich ganz wir selbst“ sein wollen.
Mehr davon Vertiefende Informationen zu Fitz Perls und zur Gestalttherapie finden Sie im „Anhang“.
In seinem Hauptwerk „Schöpferische Indifferenz“ beschreibt Friedlaender die Indifferenz als das unteilbare Eine, in dem alle Möglichkeiten enthalten sind. Das unteilbare Eine existiert nicht. Zugleich enthält es alle Möglichkeiten der Existenz. Tritt das Eine heraus in die Existenz, äußert es sich polar – als Menschheit, die sich wiederum durch die einzelnen Menschen polar äußert. Der Begriff Existenz kommt aus dem Lateinischen – „existere“ bedeutet heraustreten. Das gleicht auch dem Verständnis des schweizerischen Psychoanalytikers Carl Gustav Jung (1875–1961), der das Selbst als Ganzheit und zugleich Zentrum der menschlichen Psyche beschreibt, die das menschliche Bewusstsein sowie das Unbewusstes umfasse. Jung war davon überzeugt, dass die Ganzheit des Selbst alle Gegensatzpaare beinhalte, die die Persönlichkeit ausmachten. Es sei das „unio oppositorum“, das Eine der Gegensätze mit einem paradoxen, widersprüchlichen Charakter (Driscoll 1993). Die Ideen der Zeitgenossen Friedlaender und Jung erscheinen hier förmlich wie Gleichnisse des Urknalls, bei dem aus einer Nicht-Existenz, einem nicht messbaren Zustandsmoment ohne Zeit und ohne Raum das gesamte Universum förmlich heraus „geknallt“ ist und sich seitdem ausdehnt. Ähnlichkeiten gibt es auch zur christlichen Mythologie in der Idee eines Gottes, der in uns ist und sich durch uns erfährt. Es ist ein Gott, der nicht existiert, und in dem zugleich alle Existenz enthalten ist. Er ist das Absolute, alles enthaltende Eine, das keine Beziehung zum Gegenüber, kein Du mehr kennt. Der Zustand der Unteilbarkeit, der diesen Konzepten als Gedanke zugrunde liegt, ist theologisch beinahe „heilig“ zu nennen, zumindest gleicht er einem Heil-Sein. Er beschreibt eine Ganzheit, die ist, ohne zu sein (weil sie noch nicht herausgetreten ist), fraglos, nicht bewertbar, nicht beschreibbar und zugleich der Inbegriff aller Möglichkeiten der Existenz. Schon immer sehnen sich die Menschen (zurück?) nach diesem Zustand der Unteilbarkeit, und es kommt vielleicht nicht von ungefähr, dass sie sich als Individuum, als Unteilbares bezeichnen und tatsächlich auch empfinden. Wenn sie ihre Unteilbarkeit aufheben, werden sie (in der Regel schwer) psychisch krank. Perls hat das universale Verständnis der Existenz, wie Friedlaender es formuliert hat, auf den Menschen übertragen, dessen Kern er gleich der Qualität der schöpferischen Indifferenz setzte – er sprach hier vom „mittleren Modus“ – und dessen Handlungen er als polaren Ausdruck dieses mittleren Modus verstand. In diesem verortete Perls auch das dem Menschen innewohnende Potential (Abb. 5.19).
5.3 Ich, Selbst und Persönlichkeit
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Abb. 5.19 Friedlaender und Perls
Perls hatte erkannt: 1. Das Nach-Außen-Stellen gleicht bei den meisten Menschen einer (immer identischen, also einseitig polaren) gelebten Strategie, die durch frühkindliche Erfahrungen „{nur} so kann ich gut überleben“ nach und nach eine Persönlichkeit herausbildet, mit welcher der Mensch sich dann identifiziert. Er erlebt (fühlt) seine Identität als Handelnder – er erkennt seine Handlungen nicht als differenziert, nicht als nach außen gestellte Pole seiner Mitte. 2. „Das bin ich selbst“ oder „ich bin so“ lautet in Folge die Überzeugung über das vermeintliche Ich-Selbst-Sein. Diese Überzeugung erscheint dem Menschen wie ein sicheres inneres Gefühl, tatsächlich aber ist sie Resultat seiner gedachten Gedanken. 3. Die Handlung wird mit dem Potential verwechselt, das Tun mit den Möglichkeiten. Der Mensch haftet an einer imaginierten Vorstellung von sich selbst an, die durch das einseitig polare Handeln gekennzeichnet ist. 4. Das gelebte Leben wird so eine Einbahnstraße, die realen Begegnungen werden im Kontext eines selbst-kreierten „Dramas“ interpretiert. Das bringt bekanntlich Leiden mit sich. (Hartung 2015, S. 132–133) Das Ich, das sich in der Mitte, als präzise Mitte, weiß, hat nicht nötig, einseitig zu leben und daran bankrott zu gehen. (Friedlaender 2003)
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
Abb. 5.20 Ich und Selbst
Unseren Teilnehmern stellen wir begleitend zu diesen grundlegenden Erwägungen über das eigene Selbst das Aufstellungsformat „Ich und Selbst“ vor, in dem sie sich erfahren können (Abb. 5.20). Die Teilnehmer stehen als Klient abwechselnd auf dem Platz ihres Ichs und ihres Selbst und nehmen den Unterschied wahr. Anschließend stehen die beiden Positionen nebeneinander – das Selbst steht rechts vom Ich, auch hier können die Teilnehmer beide Positionen wahrnehmen. Die Übung kann reihum zu dritt gemacht werden – der Klient und ein weiterer Stellvertreter für die beiden Positionen sowie ein Aufstellungsleiter. Anschließend tauschen die Gruppenmitglieder ihrer Erlebnisse und Erkenntnisse aus.
5.3.3 Person und Persönlichkeit Wenn wir das Ich (auch) als physischen Container des Selbst verstehen, dann lassen wir unser Selbst aus diesem Container heraus erklingen. Dieses Herausklingen beschreibt das lateinische Wort „personare“ („per“ = durch, „sonare“ = klingen), und mit unserer Selbsternennung zur Person verwirklichen wir unsere Idee des Selbstklangs. Die Person ist das klingende Selbst. Sie hat als ethische Dimension einen Körper, der das Selbst erklingen lässt – und folgen wir der zugrundeliegenden Idee des Selbst als unberührtes Ungeteilt-Sein, das sich polar äußert, so wird deutlich, warum wir erst im Lauf unseres Lebens eine starke Persönlichkeit als Konglomerat aus dem Klang des Selbst und seinen polaren Äußerungen entwickeln – wenn überhaupt. Wenn sich der Klang des Selbst in seiner ihm gegebenen Dimension entfaltet und mit einem vielgestalten Kanon der polaren Handlungen, Äußerungen, Gedanken und Ansichten heraustritt, dann werden wir zu einer Person mit einer wahren bzw. wahrhaftigen Persönlichkeit, die wir dann Schritt für Schritt weiter „entwickeln“, will sagen, von der Spule abdrehen oder aus ihren Verwicklungen lösen und zur Entfaltung führen möchten.
5.3 Ich, Selbst und Persönlichkeit
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Abb. 5.21 Ich, Selbst und Person
Für das Erleben eignen sich die beiden Aufstellungsformate Ich, Selbst und Person (Abb. 5.21) sowie die erweiterte Variante Ich, Selbst, Person und Persönlichkeit (Abb. 5.22), das wir zu diesem Thema abschließend vorstellen. Hier auf unserer Abbildung steht die Person im Fokus. Für die Selbsterfahrung des Klienten empfehlen wir unseren Teilnehmern, auf den Positionen im Uhrzeigersinn zu wechseln, sodass Ich, Selbst und Persönlichkeit jeweils im Fokus der beiden anderen stehen. Auch im erweiterten Format (Abb. 5.22) kann der Klient auf allen Positionen stehen und sich erfahren. Alternativ kann die Aufstellung mit 4 Stellvertretern gemacht werden. Wie weit man zum Thema Person und Persönlichkeit außerdem bzw. abweichend von der hier vorgeschlagenen Differenzierung noch den verschiedenen Konzepten aus differenzieller und Persönlichkeitspsychologie, Soziologie oder auch Theologie folgen möchte, sei dem einzelnen Aufsteller im Kontext seiner Arbeit mit Biografie, Ich, Selbst, Person und Persönlichkeit überlassen.
Abb. 5.22 Ich, Selbst, Person und Persönlichkeit
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5 Biografie, Selbst, Persönlichkeit
In diesem Zusammenhang verweisen wir gerne auf einen interessanten Text zu Person und Persönlichkeit des deutschen Philosophen und Pädagogen Prof. Theodor Rütter, den Sie hier veröffentlicht finden: http://www.theodor-ruetter.de/person-undpersoenlichkeit.html (06.12.2019).
Literatur De Jong, T. M., & Kemmler, G. (2003). Kaiserschnitt. Wie Narben an Bauch und Seele heilen können. München: Kösel. Descartes, R. (1644). Die Prinzipien der Philosophie. Amsterdam: Elsevier. http://www.zeno.org/ Philosophie/M/Descartes,+Ren%C3%A9/Prinzipien+der+Philosophie/1.+Ueber+die+Prinzipie n+der+menschlichen+Erkenntniss. Zugegriffen: 31. Okt. 2019 (Kap. 1, Abs. 7). Driscoll, J. P. (1993). The unfolding God of Jung and Milton, The University Press of Kentucky, Scholarly Publisher for the Commonwealth (S. 179). Emerson, W. (2017). Geburtstrauma, die Auswirkungen der modernen Geburtshilfe auf die Psyche des Menschen. Verlag: Moshammer GbR. https://www.amazon.de/Geburtstrauma-Auswirkungen-modernen-Geburtshilfe-Menschen/dp/3200051868. Zugegriffen: 21. Okt. 2019 (Möglicherweise Eigenpublikation, da es keinen gelisteten Moshammer Verlag gibt). Emge, S. (2012). Geburtstrauma – Emotionale und psychische Folgen für das Kind in der frühen Kindheit (S. 6–7). http://www.rueckhalt.de/media/fachartikel/Hausarbeit_Geburtstrauma_ Sonja%20Emge1.pdf. Feige, A., Grab, D., et al. (2013). Kreißsaal Kompendium/Vorschau auf den Inhalt. https://www. thieme-connect.de/products/ebooks/pdf/10.1055/b-0034–33187.pdf. Zugegriffen: 18. Okt. 2019. Friedlaender, S. (2003). Ich (1871–1936), Autobiographische Skizze aus dem Nachlass Hrsg. Hartmut Geerken Mit einführenden Essays von Hartmut Geerken und Detlef Thiel (S. 32). Bielefeld: Aisthesis. Gebhardt, M. (2019). Wir Kinder der Gewalt. München: Verlagsgruppe Random House. Giedd, J. (2019). Informationen zu Jay Giedd. https://www.rchsd.org/doctors/jay-giedd-md/. Zugegriffen: 31. Okt. 2019. GINI Studie, Schuller, C., et al. (2012). Stress and pain response of neonates after spintaneous birth and vacuum-assisted and cesarean delivery. American Journal of Obstetrics and Gynecology, 207(5), 416 (Eine Schweizer redaktionelle Meldung über die Studie in deutscher Sprache unter https://www.swissmom.ch/aktuell/wissen/2012/28122012-langzeitauswirkungenbei-kaiserschnittkindern/. Zugegriffen: 18. Dez. 2019). Hartung, S. (2015). Einfach beim Wort nehmen Beitrag im Buch Friedlaender/Mynona und die Gestalttherapie – Das Prinzip ‚Schöpferische Indifferenz‘. In L. Frambach & D. Thiel (Hrsg.), Edition Humanistische Psychologie (S. 132–135). Bergisch Gladbach: Andreas Kohlhage. Hellinger, B. (2011). Erfolge im Leben und im Beruf: Aus der Reihe „Ordnungen des Erfolgs“ (S. 11–16). Bischofswiesen: Hellinger Publications. Hurrelmann, K., Grundmann, M., & Walper, S. (2008). Handbuch Sotialisationsforschung (7.vollständig überarbeitete Aufl.). Weinheim: Beltz. Kittias, V. (2016). Schädliche Medikamente in der Schwangerschaft – Welche Medikamente können Schäden am Kind auslösen? https://www.chirurgie-portal.de/gynaekologie/sw/lfsw/md/ medikamente-schwangerschaft-schaedlich.html. Zugegriffen: 18. Dez. 2019.
Literatur
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Trauma und Traumafolgestörungen
Inhaltsverzeichnis 6.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 6.2 Geschichte der Traumaforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 6.3 Das ist Trauma. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 6.4 Trauma im Hirn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 6.5 Formen von Trauma. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 6.6 Traumatherapeutische Ansätze für die Aufstellungsarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
6.1 Einführung Wer die Menschheitsgeschichte kennt, weiß: Trauma und seine Folgen gibt es seit Anbeginn. Trauma ist der treue Begleiter des Lebens an der Nahtlinie zum Tod, egal, ob es plötzlich einbricht oder schleichend die Lebensqualität nimmt, bis es kaum noch auszuhalten ist. Zudem: Krieg bringt immer Trauma hervor, direkt, indirekt und transgenerational. Angesichts der Liste der weltweit geführten Kriege durch die Jahrtausende möchte man sich die entsprechenden Dimensionen kaum ausmalen. Dennoch gibt es die Traumaforschung erst seit rund 130 Jahren. Und ihre Erkenntnisse sind erst durch die Veröffentlichungen der letzten 2 Jahrzehnte wirklich in unser Bewusstsein gelangt. Für die Aufstellungsarbeit gilt: Trauma spielt beinahe immer eine Hauptrolle – kaum eine europäische Biografie, in der Trauma oder auch multiples Trauma und die posttraumatischen Folgestörungen nicht ein zentrales Thema wären. Wir räumen dem Trauma und seinen Folgestörungen deshalb einen zentralen Platz in unseren Weiterbildungen ein. In diesem Kapitel stellen wir zunächst die Entwicklungsgeschichte der Traumaforschung vor. Wir informieren über die wichtigsten psychologischen und © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hartung und W. Spitta, Lehrbuch der Systemaufstellungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61192-0_6
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
neurobiologischen Erkenntnisse in Bezug auf Trauma. Wir stellen außerdem einander ergänzende Perspektiven auf Trauma ebenso wie verschiedene Formen von Trauma sowie schließlich verschiedene therapeutische Ansätze und mögliche Aufstellungsformate für die Arbeit mit Trauma vor.
6.2 Geschichte der Traumaforschung 6.2.1 Einführung Im Rahmen der Weiterbildungen richten wir unseren Fokus bei der Vermittlung im Themenbereich Trauma zunächst auch auf die Entwicklungsgeschichte der Traumaforschung, nicht zuletzt, weil sie geschichtlich parallel zur Entwicklung von Psychologie, Psychoanalyse, Psychotherapie und Humanistischer Psychotherapie verlief.
6.2.2 Von der Trauma- zur Triebtheorie zurück zur Traumatheorie Der französische Pathologe und Neurologe Jean Martin Charcot (1825–1893) gilt als Vater der Neurologie. Gemeinsam mit seinen Studenten untersuchte er gegen Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Frage, was „Lähmungserscheinungen, Zuckungen, Ohnmachten, das unvermittelte Zusammensacken, das wahnsinnige Gelächter und die dramatischen Tränenausbrüche der an Hysterie Erkrankten auf den Stationen der Salpetrière auslöste“. Nach und nach erkannten die Wissenschaftler, dass dies „die physischen Hinterlassenschaften von Traumata waren“ (Levine 2016, S. 9–11). Angesichts der Entstehung der Psychologie als eigenständige Wissenschaft, die in dieselbe Zeit fiel, können wir heute sagen, dass die moderne Psychotherapie mit der Erkenntnis begonnen hat, dass psychische Störungen durch schädigende Erfahrungen hervorgerufen werden. Die moderne Psychotherapie hat mit der Erkenntnis begonnen, dass
psychische Störungen durch schädigende Erfahrungen hervorgerufen wurden. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856–1939) hatte die Theorie der realtraumatischen Erfahrungen als Grundlage für die Symptombildung psychischer Störungen entwickelt und schrieb in seinen Studien über Hysterie im Jahr 1895: Ich habe wiederholt von meinen Kranken, wenn ich ihnen Hilfe oder Erleichterung durch eine kathartische Kur versprach, den Einwand hören müssen: Sie sagen ja selbst, daß mein Leiden wahrscheinlich mit meinen Verhältnissen und Schicksalen zusammenhängt: daran können Sie ja nichts ändern; auf welche Weise wollen Sie mir dann helfen? Darauf habe ich antworten können: – Ich zweifle ja nicht, daß es dem Schicksale leichter fallen müßte als mir, Ihr Leiden zu beheben: aber Sie werden sich überzeugen, daß viel damit gewonnen
6.2 Geschichte der Traumaforschung
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ist, wenn es uns gelingt, Ihr hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln. Gegen letzteres werden Sie sich mit einem wiedergenesenen Seelenleben besser zur Wehre setzen können. (Freud und Breuer 1895, S. 311–312)
Und an einer anderen Stelle schreibt er über den Zusammenhang von Trauma und psychischer Störung: Streng genommen verhält sich hierbei das hysterische Symptom gar nicht anders als das Erinnerungsbild oder der reproduzierte Gedanke, den man unter dem Drucke der Hand heraufbeschwört. […] Es führt aber in Wirklichkeit eine ununterbrochene Reihe von den unveränderten Erinnerungsresten affektvoller Erlebnisse und Denkakte bis zu den hysterischen Symptomen, ihren Erinnerungssymbolen. (Freud und Breuer 1895, S. 301–302)
Es gibt in der Literatur verschiedene Darstellungen für die Gründe, die Freud veranlasst haben, von seiner Traumatheorie abzuweichen und sich fortan der Triebtheorie zuzuwenden. Als sichere Tatsache bleibt jedenfalls, dass Freud die Traumatheorie bereits im 19. Jahrhundert wieder verworfen hatte. Er hat in diesem Zuge sinngemäß geäußert, dass er angesichts der Erzählungen seiner Patienten nicht sicher sein könne, ob wirklich das geschehen sei, was die Patienten so leidvoll erinnerten. Er zweifelte, ob es sich um Erinnerungen oder um Phantasien handelte. Und so überzeugt er noch 1895 davon war, dass Hysterie als Obergriff für jede Form der psychischen Störung immer durch ein frühes belastendes Erlebnis – häufig sexueller Natur – ausgelöst würde, so sprach er nach 1897 nur mehr von Trieben und deren Befriedigung. Er kehrte damit das Verursachungsprinzip der Störung um 180 Grad herum. Nach eigenem Bekunden erreichte er außerdem auch nicht die gewünschten Erfolge mit seiner Gesprächstherapie, in der er sich auf die versprachlichte Analyse der in regrediertem Zustand erzählten Geschichten von erinnerter Kindheit konzentrierte. Aus diesem Grund wendete Freud sich in Folge dem zu, was nach seinem Dafürhalten in der Psyche der Klienten im therapeutischen Prozess der Übertragung und Gegenübertragung stattfand – er hörte auf, seine Patienten systemisch zu betrachten, und konzentrierte sich fortan auf deren psychische Innenwelt, als sei diese ein abgetrennt-geschlossenes Triebsystem. Derlei gewendet wurden aus den Opfern der traumatisierenden An- und Übergriffe nun aktive, von kindlicher Sexualität und ödipalem Begehren gesteuerte Getriebene, förmliche Triebaktivisten. Und die von Freud diagnostizierten Störungen gerieten so zur Folge nicht befriedigter Triebe. Die analytisch provozierte Wahrheit, die den Klienten im therapeutischen Gespräch freimachen sollte, bestand nicht mehr in der Erinnerung und Bewusstmachung eines vermeintlich traumatisierenden Übergriffs, der als solcher eben nicht nachgewiesen werden konnte, sondern vielmehr nun in der nicht erhörten infantilen Sexualität als ödipales Begehren. Der Blick des fragenden Therapeuten wendete sich ab von den übergriffigen oder gestörten Tätern: Was hatten die mit dem Klienten gemacht? – hin zum Klienten: Was hatte er begehrt, was phantasiert? Dahinter steckte die Idee einer zwingend objektiven Beschreibbarkeit bzw. Beweisbarkeit von Trauma. Sie schien wichtiger zu sein als die subjektive Traumatisierung. Die 180-Grad-Wende von der Traumatheorie hin zur Triebtheorie wurde zu einem Skandalon der späteren Psychoanalysekritik. (Hartung 2019, S. 1)
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
Ende des 19. Jahrhunderts, im Jahr 1885, verstand Sigmund Freud hysterische Symptome als Symbole der Erinnerung an traumatisierende („affektvolle“) Erlebnisse (Traumatheorie). Zwei Jahre später verwarf er seine Überzeugung und definierte dieselben Symptome fortan als Ausdruck nicht- oder unbefriedigter Triebe (Triebtheorie).
Eine erneute Aufmerksamkeit bekam Trauma erst in Folge des Ersten Weltkriegs. Es war Freud selber, der angesichts traumatisierter Kriegsheimkehrer im Jahr 1918 einen internationalen psychoanalytischen Kongress in Budapest initiierte, auf dem sich die Wissenschaftler mit den Folgen von bedrohtem Opfersein (Opfertrauma) und bedrohendem Tätersein (Tätertrauma) befassten – wiewohl ohne nachhaltige Wirkung. Sowohl nach dem Ersten als auch nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten die nachhaltigen Folgen der Kriegstraumatisierungen wieder in Vergessenheit. Erst nach dem Vietnam-Krieg wurden aufgrund des Engagements der Veteranenverbände in den USA großangelegte Untersuchungen zu den langfristigen Folgen des Kriegs durchgeführt. Daraus resultierte dann 1980 die Einführung einer neuen diagnostischen Kategorie „Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD)“ in die offizielle psychiatrische Nomenklatur. Diese Neuerung setzte eine intensive psychiatrische, psychologische und neurobiologische Forschung in Gang. (Bohleber 2000)
6.2.3 Moderne Psychotraumatologie Die moderne Psychotraumatologie versteht heute – nach intensiven Studien – belastende Lebenserfahrungen in der Kindheit als den entscheidenden ätiologischen Faktor für die Entstehung psychischer und physischer Erkrankungen.
Die moderne Psychotraumatologie versteht heute – nach intensiven Studien – belastende Lebenserfahrungen in der Kindheit als den entscheidenden ätiologischen Faktor für die Entstehung psychischer und physischer Erkrankungen.
Eine ganze Weile wurde im Rahmen der Forschungen noch an Kategorien vermeintlich objektiv zu beschreibender Auslöser gearbeitet. Man versuchte, eine definierte Abgrenzung zwischen traumatisierend/nicht traumatisierend zu entwickeln, um subjektive Erfahrungen mit einem Ereignis in der Einordnung objektivierbar zu machen. Das sollte die Grundlage für weitere Entscheidungen bezüglich nötiger therapeutischer Maßnahmen bilden. Heute weiß man: Entscheidend sind nicht die Ursachen bzw. die Auslöser – entscheidend sind ausschließlich die Erfahrungen der Betroffenen und die Folgen, die sie für sich erleben.
6.3 Das ist Trauma
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Bei interpersonellen Gewalterfahrungen von Kindern liegt grundsätzlich eine Verletzung notwendiger Bedingungen für deren gesunde, psychische, körperliche und soziale Entwicklung vor. Fehlen gleichzeitig protektive Faktoren wie verlässliche Beziehungen und Erfüllung von Grundbedürfnissen, entstehen kaskadenartige negative Effekte wie z.B. Zurückweisung in der Peer-Gruppe, Schulprobleme, Verhaltensauffälligkeiten. Die weitere Entwicklung der Kinder wird negativ beeinflusst und ist gefährdet. Grundlage dieser ungünstigen Entwicklung sind internale Zustände von als unkontrollierbar erlebtem Stress. Das Kind erlebt diese als Kontrollverlust. Diese Zustände treten nicht nur zusammen mit sogenannten stressorreaktiven Störungen wie Anpassungsstörung oder posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) auf, sondern stellen den grundlegenden Mechanismus bei den meisten psychischen Störungen dar. (Hensel 2017)
In diesem Zitat des deutschen Psychotherapeuten Thomas Hensel zeigt sich das heute geltende, integrative Verständnis von biografischem Trauma, das wir in der Folge in seinen vielschichtigen Aspekten darlegen.
6.3 Das ist Trauma 6.3.1 Einführung Dadurch, dass sich verschiedene Wissenschaftsbereiche und Anwendungsfelder mit dem Thema Trauma befassen, gibt es bis heute keine einheitlich gültige Definition für den Begriff. Wir geben in diesem Abschnitt einen Überblick über die bestehenden Perspektiven und Verständnisansätze.
6.3.2 Ereignis, Erfahrung, Effekt Traumatische Ereignisse tragen sich in unterschiedlicher Schwere und Häufigkeit im Leben von nahezu allen Menschen zu, angefangen bei Komplikationen im Mutterleib oder während der Geburt, über Beziehungsdefizite im Kindesalter, Verlust eines nahestehenden Menschen, chronische psychische Überforderung, medizinische Eingriffe, bis hin zu Unfällen, lebensbedrohlichen oder chronischen Erkrankungen, Gewaltakten und Katastrophen unterschiedlichster Art. Das sogenannte Monotrauma, das einzelne traumatische Ereignis, ist eher die Ausnahme. Traumatische Ereignisse setzen sich im Unterbewusstsein zu Traumasystemen zusammen, deren Verknüpfungen sich durch die empfundene Ähnlichkeit von einzelnen Aspekten der traumatischen Erfahrungen ergeben. (Brockmüller 2019, S. 2)
Der Begriff Trauma umschreibt grundsätzlich eine Erfahrung, welche die psychische Verarbeitungsfähigkeit eines Menschen, einer Gruppe oder eines Systems übersteigt. Das führt zu langfristigen Folgen, auf die wir weiter unten eingehen. Wichtig ist hier die Erkenntnis, dass es bei Trauma nicht nur um den geht, der etwas erleidet, sondern auch um den, der einem anderen etwas antut – es geht also um Opfer-, und es geht um Tätertrauma.
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
Trauma ist eine Erfahrung, die die psychische Verarbeitungsfähigkeit eines Menschen, einer Gruppe oder eines Systems übersteigt. Es gibt das Opfertrauma, und es gibt das Tätertrauma.
Dabei wird der Begriff Trauma unscharf und unter verschiedenen Perspektiven gleichlautend verwendet. Trauma steht für die drei „E“: Ereignis, Erfahrung, Effekt. • Das auslösende Ereignis – Was ist geschehen? • Die dabei gemachte Erfahrung – Wie ist es mir dabei ergangen? • Der Effekt, den es hervorgebracht hat – Was sind die Folgen? Mit Blick auf die Begleitung bei Trauma gibt es auf diese drei Umschreibungen von Trauma zwei Perspektiven – die Perspektive der dritten, nicht betroffenen Person und die Perspektive der ersten, der betroffenen Person. Die Perspektive der dritten Person ist bemüht, ein objektiv beschreibbares Ereignis mit einem diagnostizierbaren Effekt zu formulieren. Die erste Person fokussiert aus ihrer betroffenen Perspektive die subjektiv erlittene Erfahrung und den erlebten, belasteten Effekt. Nach Thomas Hensel ergibt sich daraus ein Vier-Felder Modell, das wir hier in eine Grafik transferiert haben (Abb. 6.1) (Hensel 2017, S. 48).
Abb. 6.1 Außen- und Innensicht belastender Lebenserfahrungen und ihrer Folgen nach Thomas Hensel
6.3 Das ist Trauma
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6.3.3 Traumaprozess – das geschieht bei Trauma Sieht man einmal von Kriegs- und Flüchtlingstraumata ab, die mehr oder weniger unmittelbare Folgen wie Flashbacks, Panikattacken, Aggressivität, Depression und Schlaflosigkeit etc. haben, gilt für die oben beschriebenen Traumata, dass die Erfahrung eines Traumas und dessen Folgen – das Effekterleben – zwei getrennt zu betrachtende Prozesse sind, zwischen denen in der Regel ein gewisser Zeitraum für die Manifestation psychischer Störungen liegt. Das hat nicht zuletzt mit der andauernden nervlichen Überlastung als Folge von Trauma zu tun. Nachdem die Betroffenen über einen gewissen Zeitraum die Fähigkeit zu haben scheinen, eine Erfahrung – gleich welchen Schweregrads – im systemischen Kontext des Selbsterhalts auszugleichen, kommt ihnen im Verlauf der Zeit diese Fähigkeit scheinbar abhanden. Man kann auch die Perspektive einnehmen, dass das System irgendwann stabil genug ist, sich dem traumatisch Erlebten zuzuwenden. Dadurch werden bestimmte Abspaltungsbewegungen obsolet. Das kann zur Folge haben, dass – jedenfalls im subjektiven Erleben – irgendwie alles ins Rutschen zu geraten scheint. Mit Blick auf die Entwicklung jedoch kann hier ein erster Schritt der Fähigkeit zur Rekonvaleszenz erkannt werden. Die primäre Abspaltung und der systemische Ausgleich können auf eine Spaltung der Identität zurückzuführen sein, wie sie der deutsche Psychologe Prof. Dr. Franz Ruppert (*1957) in seinem Modell der aufgespaltenen Persönlichkeit plastisch darzustellen vermag. Psychische Traumata führen prinzipiell zu einer Aufspaltung der Persönlichkeit eines Menschen in drei psychische Hauptstrukturen. (Ruppert 2019a, S. 209–210)
Nach Franz Ruppert spaltet sich die Persönlichkeit bei einem Trauma in drei psychische Identitäten: das traumatisierte Ich, das Überlebens-Ich, das gesunde Ich (Abb. 6.2).
Nach wie vor verfügen wir auch als traumatisierte Menschen noch über gesunde psychische Funktionen. Das Grundprinzip der menschlichen Psyche, dem lebendigen Organismus den Zugang zu seiner Umwelt wie seiner Innenwelt zu ermöglichen, bleibt intakt. Jedoch müssen die traumatisierenden Erfahrungen abgespalten werden, die nicht dauerhaft als real anerkannt werden können. Also z.B. die Tatsache, von den eigenen Eltern nicht gewollt, nicht geliebt und nicht geschützt zu werden. Die damit verbundenen Gefühle der Angst, Wut, Scham und des körperlichen Schmerzes sind nicht dauerhaft aushaltbar, weswegen sie blockiert werden müssen. Dies kann durch die Botenstoffe geschehen, die in einem menschlichen Organismus betäubende und narkotisierende Funktionen ausüben. Je nachdem, in welchem Alter ein Mensch zum Trauma-Opfer wird, entstehen so innere Persönlichkeitsanteile. Es kann sogar sein, dass sich manche Anteile noch wie im Mutterleib fühlen oder noch im Geburtskanal feststecken. Als Gegenspieler zu den traumatisierten Anteilen entstehen in einer gespaltenen Psyche dann die Überlebensstrategien. Diese behaupten schlicht, das Trauma wäre nicht wahr und gar nicht geschehen. Sie blenden es aus und erfinden sich in ihren Vorstellungen eine
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
Abb. 6.2 Spaltung der menschlichen Psyche nach einem Trauma nach Franz Rupper
Gegenwelt, die schön und unbelastet erscheint. Notfalls greifen sie auf Drogen und solche Verhaltensweisen zurück, welche diesen schönen Schein erzeugen können, zumindest kurzfristig. Je extremer sein Psychotrauma ist, desto extremer werden die Überlebensstrategien bei einem Menschen. (Ruppert 2019a, S. 209–210)
Zum Aspekt der Spaltung bietet der deutsche Psychiater Dr. Ernst Robert (Ero) Langlotz ein etwas anderes Verständnis. Er ist davon überzeugt, dass das (durch das erlebte Trauma) im Gedächtnis gespeicherte Trauma-Introjekt inkompatibel mit dem Selbst ist. Das führe dazu, dass das Selbst abgespalten wird. Wir kommen im Verlauf des Kapitels darauf zurück.
Nach Ernst Robert Langlotz wird das Selbst durch ein Trauma-Introjekt verdrängt bzw. abgespalten.
Das Verständnis darüber, ob es sich um ein Trauma handelt oder nicht, ist entscheidend für mögliche therapeutische Interventionen, weil man erkannt hat, dass Trauma nicht erinnert und entsprechend erzählt werden kann. Darüber hinaus spielt das Körpererleben bei Trauma eine wesentliche Rolle. Beide Aspekte gilt es in der Aufstellungsarbeit zu berücksichtigen. Möglicherweise eignet sich auch eine Kombination aus verschiedenen körpertherapeutischen und traumatherapeutischen Methoden mit Aufstellungsformaten, die diese Erkenntnisse berücksichtigen. Am Ende des Kapitels über Trauma und die Folgen gehen wir vertieft auf die körpertherapeutischen Möglichkeiten im Kontext der Aufstellungsarbeit ein. Um die Dimensionen von Trauma weiter zu verdeutlichen, skizzieren wir zunächst einen schemenhaften Ablauf eines klassischen Traumaprozesses und stellen im Anschluss die neurobiologischen Folgen dar, bevor wir uns den Traumafolgen widmen.
6.3 Das ist Trauma
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Im Falle eines akuten Traumaereignisses wie Missbrauch oder Gewalt durch einen nahestehenden Menschen kann Folgendes geschehen: Der Betroffene kann das Ereignis mit seinen psychischen Kapazitäten nicht bewältigen. Das gilt insbesondere für ein Kind, aus dessen Perspektive wir das weitere Erleben beschreiben. Üblicherweise würde ein Kind mit natürlichen Stressreaktionen versuchen, eine Bedrohung „auf Augenhöhe“ abzuwehren, es würde schlagen, weglaufen, schreien. Es sind aber genau diese Reaktionen, die nun für das Kind zur Gefahr würden, weil sie einen viel stärkeren Angreifer möglicherweise provozieren könnten. Wenn weder angreifen noch weglaufen („fight or flight“) möglich sind, bleibt dem Kind nunmehr nur noch, sich „tot“ zu stellen („freeze“).
Es gibt 3 mögliche Reaktionen bei Bedrohung: Kampf, Flucht, Totes-TierStellung („fight, flight, freeze“). Bleibt nur die Totes-Tier-Stellung, droht das System durch die Kombination aus „organismischer Vollbremsung“ und Stresshochtour zu überhitzen. Die Folge kann Dissoziation sein – das Geschehen wird aus dem Bewusstsein abgespaltet.
Hierbei drohen nun die inneren Alarmsysteme das Kind im Zustand der Nichtbewegung zu überhitzen – der Körper läuft auf Stresshochtouren, die Psyche ist maximal überfordert, die „Totes-Tier-Stellung“ verlangt eine organismische Vollbremsung. Genau das ist der Moment der inneren Spaltung von Psyche und Körper. Das Kind geht in die Dissoziation und spaltet das Geschehene, von dem es derart überfordert wird, ab. Dieser Prozess mit seinen weitreichenden Folgen gilt, wie gesagt, nicht nur Kinder, er gilt für Menschen jeden Alters. Der abgespaltene Teil – bei Ruppert das traumatisierte Ich – verbleibt in der Schockhaltung, die sich wie engrammatisch auf die organismische Festplatte brennt. Engrammatisch meint: Die traumatische Erfahrung wird so abgespeichert, als sei sie nicht in der Vergangenheit geschehen, sondern als ob sie andauernd im Jetzt bestehen bliebe (ohne dass das dem Betroffenen bewusst ist, weil er das Geschehene ins Unbewusste abgespalten hat). Das hat Folgen: Die mit dem Traumaschock einhergehende Übererregung bleibt bestehen. Die wohl wichtigste Rolle spielt dabei ein mandelförmiger Verbund von Nervenzellen im limbischen System im Hirn, der als Amygdala oder auch Mandelkern bezeichnet wird. Die Nervenzellen des Mandelkerns sind darauf spezialisiert, in (potenziell) bedrohlichen Situationen in Sekundenschnelle alle Kräfte für einen Kampf oder eine Flucht zu mobilisieren. Über Nervenbahnen regt die Amygdala dabei die Hypophyse an, über die Blutbahn die Nebennierenrinde zu aktivieren, damit diese das Stresshormon Kortisol freisetzt. Über den Weg des Bluts wird das Hormon im gesamten Organismus verteilt, um diesen in maximale Alarmbereitschaft zu versetzen. Blutdruck und Atemfrequenz steigen, das Herz schlägt schneller. In den großen Muskelgruppen weiten sich die Blutgefäße, um den Körper für Kampf, Flucht oder eine Erstarrung vorzubereiten.
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
Verharrt der Organismus nun im Traumaschock aufgrund dessen Charakter des „Immer jetzt“, schaukelt sich die Angstreaktion wie von selbst auf: Anstatt den Fehlalarm zu stoppen, registriert die Amygdala die selbst ausgelösten Stresssymptome als Gefahr und verstärkt sie. Im Kopf des Patienten dreht sich nun die teuflische Spirale. Der Körper bleibt im Dauerzustand der Erregung. Stress wird zum alltäglichen Normalzustand mit all seinen Folgen in neurobiologischer, biochemischer und psychischer Hinsicht. Allein dieser andauernd erregte Zustand macht deutlich, wie wesentlich alle Formen von Übungen, die der physischen und psychischen Entspannung und der meditativen Präsenz dienen, Bestandteil der Aufstellungsarbeit mit traumatisierten Klienten sein müssen.
Die traumatische Erfahrung wird so abgespeichert, als sei sie nicht in der Vergangenheit geschehen, sondern also ob sie andauernd im Jetzt bestehen bliebe. Der gesamte Organismus verbleibt im Dauerzustand der Erregung.
Das Wort Stress kommt vom lateinischen Wort „stringere“ = zusammendrücken. Stress bezeichnet also einen anstrengenden Zustand. In einer gefährlichen Situation veranlasst das Gehirn eine sofortige Ausschüttung von Hormonen, die die benötigten Leistungen angesichts einer möglicherweise einbrechenden Gewalt sichern sollen. Gemeinsam sorgen die Hormone dafür, dass der ganze Körper blitzschnell auf Hochspannung umschaltet: Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck schnellt empor, und die Atemfrequenz beschleunigt sich, damit der Körper mit mehr Sauerstoff versorgt wird. Die Leber stellt Zucker zur Verfügung, so dass die Muskeln und das Gehirn mehr Energie umsetzen können. Das Blut strömt vermehrt in die Skelettmuskulatur. Die Schweißdrüsen werden angeregt, um den Körper vor Überhitzung zu schützen. (Shafy 2011) Die bekanntesten ausgeschütteten Stresshormone sind: • Adrenalin (und Noradrenalin) macht fit für Kampf oder Flucht: höchste Konzentration, schneller Puls, Muskeldurchblutung, breite Atmung; • Kortisol sichert den Nachschub von Energie und blockiert die Entzündungsprozesse; • Serotonin unterstützt die Stimmung; • Endorphin betäubt Ängste und Schmerzen. Stressreaktionen sind zunächst normale Vorgänge. Unter Stress können wir Leistungen erbringen, die im normalen Zustand nicht möglich wären. Kraft, Mut, Ausdauer, Schnelligkeit, Konzentration werden massiv erhöht, Müdigkeit und Schmerz verschwinden. Stress wird dann zum Disstress, wenn eine gefährdende Situation oder ein Zustand die Qualität von Trauma hat (s.o.). Die Folge ist dann, dass der Stresszustand weiterbesteht, weil Trauma immer jetzt bleibt. Das kann z.B. zu andauerndem Bluthochdruck, zu starkem Schwitzen, Durchfall und schließlich auch – aufgrund der andauernden Überfeuerung – zu chronischer Erschöpfung führen. Durch die alternierende Stimulation des Sympathikus (Erregung für Flucht oder Kampf) und des Parasympathikus (Entspannung) wird die Person zwischen Erregung und Kollaps
6.3 Das ist Trauma
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hin- und hergeschaukelt. Langfristig kann das Kortisol, das den Nachschub von Energie in Stresssituationen sichern soll, das Immunsystem schwächen. Und die Endorphine, deren Aufgabe es ist, in einer Stresssituation Ängste und Schmerzen zu betäuben, können bei kontinuierlicher Ausschüttung eine chronische Apathie oder Gleichgültigkeit verursachen. (Hartung 2019, S. 23)
Für die schleichende Traumatisierung, die sich aus Verwahrlosung, Lieblosigkeit, Demütigung etc. ergibt, gelten dieselben Prozesse. Der Schockmoment geriert hier zu einer andauernden Fassungs- und Sprachlosigkeit, mit denen sich das Kind wegen der kindlichen Bindungsliebe zu denen gesellt (in der Regel zu den Eltern), von denen es existenziell abhängig ist und zugleich schlecht behandelt oder gar misshandelt wird. Kinder lieben ihre Peiniger, von denen sie abhängig sind. Kinder lieben die, die nicht liebevoll mit ihnen umgehen. Kampf oder Flucht sind hier nicht die Mittel der Wahl. Ein traumatisierender Umgang beginnt bereits bei alltäglichem Liebesentzug oder bei lapidarer Strafe, wenn das Kind nicht so will wie die Eltern (die Erziehungsberechtigten), oder auch damit, dass dem Kind Schuldgefühle gemacht werden: „… Sieh mal, wie traurig die Mama jetzt ist“. Schuldgefühle machen Kinder schnell gefügig. Sie lernen: Wenn ich meine Grenzen zeige, tut mir das nicht gut, weil Mama und Papa das nicht wollen. Ich habe auch die Konsequenzen zu tragen, wenn es Mama und Papa wegen mir schlecht geht. Ich brauche sie aber, also sollte es ihnen gut gehen.
6.3.4 Ich-Grenze, Introjekt und Selbst Langlotz hat erkannt, was die Folge dieses unauflöslichen Widerspruchs ist, und mit seinen Erwägungen eine wesentliche Perspektive der Betrachtung von Trauma entwickelt. Hierbei geht es um die Grenzverletzung, die traumatisierende Introjektion und schließlich um die Abspaltung vom eigenen Selbst: Das traumatisierte Kind macht dem Selbst des Peinigers in sich Platz und drückt sein eigenes Selbst maximal zur Seite bzw. hält es in Schach. Im Extremfall wirft es das eigene Selbst förmlich aus dem eigenen System. Die eigenen Grenzen lösen sich in diesem Prozess ein Stück weit auf. Eigene Bedürfnisse, Vorlieben und natürlich auch Abneigungen könnten für das Kind gefährlich sein. Das Selbst dessen, der das Kind schlecht behandelt, macht sich als Introjekt im Kind breit, alltäglich erlaubte und erlebte Grenzüberschreitung wird zum Lebensmuster und damit zum klassischen Begleiter von Traumatisierten. Später, in Beziehungen, wird sich daraus ein Symbiosemuster der gegenseitigen Übergriffigkeiten entwickeln, wie wir weiter unten erläutern. Die Abb. 6.3 zeigt links ein gesundes autonomes Ich, rechts die durchlässigen Grenzen, das Introjekt und das ausgelagerte Selbst.
Trauma löst Ich-Grenzen auf, implementiert Introjekte und schwächt das Ich in seiner Entwicklung durch die Abspaltung vom eigenen Selbst.
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
Abb. 6.3 Autonomie und Introjekt nach Ernst Robert Langlotz
6.3.5 Traumasymptomatik Unabhängig davon, ob es sich um ein akutes einmaliges Traumaereignis (die Literatur spricht vom großen T-Trauma oder vom kleinen t-Trauma) oder um einen andauernden traumatisierenden Prozess handelt, es gibt eindeutig beschreibbare Folgen von Traumaereignissen und traumatischen Prozessen.
Mehr davon Weitere Beschreibungen von T-Trauma und t-Trauma finden Sie weiter unten in Kapitel (Abschn. 6.5.2 unter „T-Trauma oder t-Trauma?“).
6.3.5.1 Hypervigilanz/erhöhte bis übermäßige Wachsamkeit Hypervigilanz bezeichnet eine erhöhte Wachsamkeit und ist die Folge einer traumatischen Erfahrung – sie gilt als Leitsymptom der posttraumatischen Belastungsstörung PTBS. Hypervigilante Menschen nehmen die Welt als einen gefährlichen Ort wahr und befinden sich entsprechend in einem andauernden Angstzustand, verbunden mit innerer Unruhe, Schreckhaftigkeit oder auch „unbegründetem“ Misstrauen. 6.3.5.2 Hyperarousal/Übererregtheit Hyperarousal beschreibt eine allgemeine Übererregtheit. Häufige Symptome sind Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, erhöhte Reizbarkeit und mangelnde Affekttoleranz. Bei traumatisierten Menschen ist meist die Emotionsregulation gestört. Das führt dazu, dass die Konnektivität zwischen der Amygdala und dem präfrontalen Kortex geschwächt wird. Durch die Schwächung können ungefährliche Situationen nicht mehr von gefährlichen unterschieden werden. Der Mensch bleibt deshalb im Dauerzustand des Bedroht-Seins, der auch eine erhöhte Reizbarkeit bedingt. 6.3.5.3 Freezing/Erstarrung Die mit dem akuten Schock oder der prozessualen Fassungslosigkeit einhergehende Erstarrung bleibt auch nach einer traumatisierenden Erfahrung bestehen. Betroffene tendieren zu emotionalem Rückzug und zur Überabgrenzung. Nähe und jede Form der Veränderung oder Erneuerung wird als bedrohlich empfunden. Es gibt wiederholt Situationen, in denen Betroffene keinen Zugang zu einer inneren Reaktion haben, sie werden plötzlich von einer Leere und einer Unfähigkeit zu reagieren „überfallen“.
6.3 Das ist Trauma
243
6.3.5.4 Flashback/wiederkehrende, zwanghaft sich aufdrängende („intrusive“) Erinnerung Traumatische Erfahrungen können leicht reaktiviert werden, wenn Betroffene durch Gerüche oder Geräusche unbewusst erinnert werden. Bildgebende Verfahren in der Hirnforschung zeigen, dass bei einem Flashback sämtliche Bereiche des Hirns aktiviert werden, die mit der Traumatisierung verbunden sind. Die Flashbacks können nicht willentlich gesteuert oder kontrolliert werden. 6.3.5.5 Dissoziative Symptome/Zustände von Ab- bzw. I chGespaltenheit, Nicht-Wahrnehmung oder Absentismus Es gibt zahlreiche Hinweise auf Dissoziation, und wir möchten an dieser Stelle deutlich machen, dass die genannten Hinweise kein Beweis, sondern lediglich ein Indikator sein können. Dies sind zum Beispiel • • • • •
häufig abgewandte/sich immer wieder abwendende Augen, ein taubes Körperempfinden, ein Empfinden von Nicht-Fühlen, eine flache Atmung, schnelles Sprechen, der Versuch, ein aufkommendes Gefühl kognitiv zu erfassen und analytisch zu kategorisieren, • geringer bis kein Kontakt der Füße zum Boden, • plötzliche Seh- und/oder Hörstörungen, Ohrgeräusche, • Gedächtnisstörung, • Verwirrung im Gespräch („Nebel“). In der medizinischen Literatur findet man Symptombeschreibungen, die bis zu zeitweiliger Bewegungsunfähigkeit, teilweiser bis totaler Amnesie oder auch multipler Persönlichkeitsstörung reichen. Es ist natürlich nicht Aufgabe des Aufstellers, Experte für sämtliche medizinischen Bereiche zu sein, die mit einer Dissoziation einhergehen können. Unsere Erfahrung hat uns aber zugleich gezeigt, dass es für die tiefgreifende Arbeit mit Aufstellungen im persönlichen Bereich in jedem Fall unabdingbar ist, ein so umfassendes psychologisch/psychoanalytisches wie profundes therapeutisches Wissen sowie die Fähigkeit zu haben, dissoziative Symptome erkennen und mit ihnen therapeutisch umgehen zu können. Bipolare Selbstorganisation/zwischen Abwehr- und Verschmelzungsverhalten Der zweite Schritt im Prozess … beschreibt die Tendenz traumatisierter Menschen, die – im Kontext ihrer psychischen Zustände von Spaltung und Fragmentierung einerseits sowie Verschmelzung und Verwirrung andererseits – zu projektiver und introjektiver Identifikation tendieren. Sie neigen zugleich einem Wiederholungszwang und einer Traumatophilie (d.h. der Liebe und dem Verlangen nach traumatischer Erfahrung) zu, um ihre schrecklichen Geisteszustände zu bekämpfen und um ihre am meisten gehassten Objekte anzugreifen
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
und sie zu kontrollieren. Diese Prozesse werden auch im Dienste der Vermittlung von Erfahrungen eingesetzt, die durch eine bewusste Erzählung nicht möglich sind. Tatsächlich fühlen sich traumatisierte Menschen unbewusst gezwungen, die Geschichten ihrer traumatischen Erfahrung auf diese Weise zu erzählen. (Hopper 2012, S. xxxvi–xxxvii; Übersetzung Stephanie Hartung)
Auch Fritz Perls beschreibt im Zusammenhang mit bipolarer Selbstorganisation eine Traumasymptomatik – allerdings ohne das Trauma selbst zu adressieren. Ausgehend von seinem fokussierten Blick auf menschliches Kontaktverhalten, dessen Polarität sich für ihn in Tendenzen zu Verschmelzung oder Distanzierung zeigt, identifizierte Perls drei wesentliche (Trauma-)Symptome: Introjektion, Projektion, Retroflektion. Über diese hat er einen Aufsatz mit dem Titel „Die Integration der Persönlichkeit“ geschrieben, aus dem wir hier zitieren (Perls 1948): Introjektion Was die Introjektion anbelangt, stimme ich mit Freud nicht überein, der nur in einer totalen Introjektion ein pathologisches Phänomen sah und eine partielle Introjektion als einen gesunden Prozess betrachtete, der die Bausteine des Ich liefert. Meine eigene Behauptung ist, dass jedes Introjekt, sei es partiell oder total, im Organismus ein Fremdkörper ist. Nur eine vollständige Zerstörung als Vorbereitung für die Assimilation wird zu der Aufrechterhaltung und Entwicklung des Organismus beitragen. Zerstörung heißt nicht Vernichtung, sondern vielmehr das Auflösen der Struktur von physischer und geistiger Nahrung. Freud sagte, es sei nicht genug, das Material ins Bewusstsein zu bringen, sondern es müsse auch durchgearbeitet werden. Entsprechend meiner Analyse der Verdauungsfunktion formuliere ich diese Einsicht folgendermaßen: Es ist nicht genug, unverdautes Material heraufzuholen, sondern es muss auch von neuem durchgekaut werden, so dass der Verdauungsprozess abgeschlossen werden kann.
Projektion Der topologische Aspekt im Hinblick auf die Projektion ist augenfällig, aber er erfordert eine besondere Sorgfalt. Wie kommt es, dass irgendein Teil der Persönlichkeit, der als der personalen Struktur zugehörig erfahren werden sollte, nicht als solcher anerkannt wird und so behandelt wird, als gehöre er zur äußeren Welt? Das Kind lebt in einer Konfluenz mit seiner Umwelt. Es hat seine Kontaktfunktionen noch nicht entwickelt; das heißt, es kann nicht unterscheiden zwischen Selbstheit und Andersheit (self-ness, other-ness), zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Projektion und Selbst-Ausdruck. Konfluenz bedeutet die Nicht-Existenz oder Nichtbewusstheit von Grenzen; sie bedeutet, das Einssein als selbstverständlich anzusehen. Beim Erwachsenen ist Konfluenz eine sado-masochistische Fixierung, getarnt als Liebe. Hass ist frustrierte Gier nach Konfluenz; Kontakt ist Anerkennung von Unterschieden. Grenze bedeutet Kontakt und Trennung; es bedeutet Individualität. Wenn sich der Zustand der Konfluenz nicht weiterentwickelt zu der Fähigkeit, Kontakt herzustellen, oder wenn durch eine spätere Desensibilisierung die Grenze zusammengebrochen ist, dann bleibt der infantile Projektionsmechanismus bestehen. Selbstausdruck
6.3 Das ist Trauma
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entwickelt sich nicht, da dieses das Anerkennen und das Handhaben der Grenze voraussetzt. Bei diesem Mangel an angemessenem Selbstausdruck kann ein Gefühl nicht zum Ausdruck gebracht und in einer emotionalen Entladung losgelassen werden, sondern das Gefühl wird projiziert und bleibt in einer emotionalen Verbindung mit der Persönlichkeit. Die Persönlichkeit wird leer und die projizierten Eigenschaften hören auf, beim Verfolgen persönlicher Ziele brauchbare Instrumente zu ein. Der Paranoiker bleibt mit seinem Verfolger durch Hass verbunden, der religiöse Mensch mit seinem Gott durch Gottesfurcht. Ob nun Aggression, Initiative oder Verantwortlichkeit projiziert wird, in jedem Fall wird das Ergebnis eine verkrüppelte Persönlichkeit sein. Viele Neurotiker projizieren ihre Neigungen, etwas anzunehmen oder abzulehnen, und somit können sie diese Funktionen nicht zu einem Unterscheidungsvermögen integrieren. Sie bleiben mit diesen projizierten Neigungen durch Gier und Furcht verbunden. Der Projektionsmechanismus ist mit dem Problem der Sprache verbunden. Durch die Projektion von Initiative und Verantwortlichkeit erfahren unsere Patienten sich permanent in einer passiven Rolle. Ein Traum wird sich bei ihnen ereignen; ein Gedanke wird sie überfallen; Spekulationen gehen ihnen durch den Sinn, durch den Kopf, oder welches Vakuum sie sonst für ihr Herumgeistern wählen. Genauer gesagt bezieht sich das auf den Patienten, der nicht bereit ist, sich mit seinen Handlungen zu identifizieren, der über sein Unglück, über das Schicksal redet, der ein Opfer der Umstände ist. Wenn in seinem Sprachgebrauch eine Es-Sprache durch eine Ich-Sprache ersetzt wird, dann kann schon mit dieser einzelnen Berichtigung eine beträchtliche Integration erreicht werden.
Retroflektion Retroflektion ist gekennzeichnet durch das Wort Selbst: Selbstliebe, Selbstkontrolle, Selbstbestrafung, Selbstzerstörung und dergleichen. In der Retroflektion wird ein Teil der Persönlichkeit vom anderen abgespalten, bleibt aber in einer aktiven Verbindung. Objektbeziehungen werden ersetzt durch eine „Ich- und Selbst-“ Beziehung. In einer aktiven Retroflektion wird eine Tendenz, z.B. Liebe, Zerstörung, Kontrolle, Genauigkeit usw. auf die eigene Person gelenkt. Bei passiver Retroflektion demgegenüber ersetzt das Ich das fehlende aktive Objekt; ich bedaure mich selbst, weil es sonst niemand tut; ich bestrafe mich selbst in Vorwegnahme irgendeines anderen, der es tun könnte. Sobald der Patient diesen Mechanismus versteht, ist er auf dem Weg zur Besserung. Anstatt dass die beiden Teile sich verklammern, wenden sie sich der Welt zu; Kontakt und Ausdrucksfähigkeit werden gefördert. Ein Selbstvorwurf wird zu Depressionen und zu ohnmächtigen Lösungen führen, während ein Objekt-Vorwurf dazu führt, dass man sich dem Objekt annähert (object-reproach, object approach), dass man eine Sache bereinigt und möglicherweise die Situation eines Vorwurfs beendet. Beim Projektionsmechanismus ist die Desensibilisierung augenfällig, bei der Retroflektion eher das schlechte Funktionieren des motorischen Systems. Tatsächlich ist die gute Reaktion auf die Behandlung darauf zurückzuführen, dass die Vorgänge der Retroflektion leicht aufgezeigt werden können. Ob der Ursprung der Muskelunterdrückung in der Reinlichkeitserziehung liegt oder, wie es häufiger der Fall ist, im Festsaugen an der Brust, ist unwesentlich. Wichtig ist, dass ein enormer Aufwand an motorischer Energie investiert wird, um eine Katharsis und Initiative zu verhindern. Die schlechte Muskelkoordination schlägt sich in Symptomen nieder, die dann ein manifestes Problem bilden: Schwerfälligkeit, Verstopfung, Asthma, Kopfschmerzen und dergleichen.
246
6 Trauma und Traumafolgestörungen
Wer sich mit modernen Ansätzen der Traumatherapie befasst, wird feststellen, dass Perls’ Ansätze in diese eingeflossen sind. Besonders die Ähnlichkeit zwischen Perls und Langlotz ist hier mit Blick auf die Beschreibung von Introjekt und Grenze hervorzuheben. Kurz gefasst
Das sind Traumasymptome: • Hypervigilanz, • Hyperarousal, • Freezing, • Flashback, • Dissoziation, • bipolare Selbstorganisation.
6.3.6 Wen Trauma betrifft Die Folgen von Trauma gelten nicht nur für den einzelnen Menschen. Betrachten wir ihn als offenes System – bei dem jegliche Umweltreize einen direkten Einfluss auf die sich ausbildenden Strukturen der Selbstorganisation haben – dann wird deutlich, dass Trauma auch für Gruppen gilt – für soziale Strukturen bzw. organisierte Systeme, die von Menschen entwickelt werden (Abb. 6.4). Menschen und Menschengruppen sind offene Systeme. Auch die von Menschen geschaffenen sozialen Strukturen, sogenannte organisierte Systeme (oder auch Organisationen), die sich auf ein gemeinsames Ziel ausrichten, sind offene Systeme. Offen meint: Ihr inneres System ist äußeren Einflüssen ausgesetzt. Menschen, Gruppen und organisierte Systeme können demnach von Trauma betroffen werden.
Mehr davon Warum Trauma Individuen, Gruppen und organisierte Systeme betreffen kann, wird deutlich, wenn wir uns die Eigenschaften offener Systeme vor Augen halten, über die wir ausführlich in Kap. 4 schreiben.
Abb. 6.4 Offene Systeme
6.3 Das ist Trauma
247
Abb. 6.5 Trauma betrifft Individuen, Gruppen, Systeme
Bei Organisationen kann das zum Beispiel dadurch geschehen, dass ihre Strukturen einen stark getrennten oder trennenden (dissoziativen) Charakter aufweisen. Als kultureller Resonanzraum können sie so eine traumatisierte Qualität aufweisen, die traumatogen (Trauma erzeugend) auf die Systemelemente in diesem Raum, die Menschen wirkt. Wir kennen diese Phänomene z. B. bei traumatisierten Nationen nach einem Krieg. Und auch im Alltag finden wir solche kulturellen „Selbstverständlichkeiten“ – da, wo zum Beispiel Grenzenlosigkeit und Übergriffigkeit im Miteinander zum normalen Alltag geworden sind und als Systemregel wirken können.
Trauma betrifft alle offenen Systeme: Menschen, Gruppen, Familiensysteme, organisierte Systeme (Abb. 6.5). Dass es aber organisationales bzw. systemisches Trauma gibt, ist offensichtlich. So kann zum Beispiel das soziale Konstrukt der deutschen Nation als ein autonomes System verstanden werden, das durch zwei Weltkriege traumatisiert ist und in diesem Zustand noch heute auf seine Gesellschaft und einzelne Bürger wirkt – sie organisieren und verhalten sich wie die Elemente eines traumatisierten Systems. Nicht nur die einzelnen Menschen und ihre Gesellschaft sind also traumatisiert, sie leben vielmehr in einer von ihnen gestalteten und kontinuierlich weiter entwickelten Organisationsgestalt namens Staat, der als offenes System die Symptome einer Traumatisierung aufweist, indem er als Resonanzraum über Generationen traumatisierend auf seine Gesellschaft und einzelne Menschen wirkt. In Systemen, Nationen und Organisationen wird erlittenes Trauma deshalb zum untrennbaren Teil der Identität von deren autonomer Gestalt und wirkt traumatogen (traumaerzeugend) auf die Menschen darin. Diese These wird nicht zuletzt auch durch die Erkenntnisse der Gestalttheorie gestützt. Sie definiert die Gestalt als das Ganze, das etwas anderes ist, als die Summe seiner Teile. Dieses Andere entsteht durch das Zusammenspiel seiner Elemente und bildet dabei eine innere Gesetzmäßigkeit aus – die Qualität einer so entstandenen Gestalt – die nun vice versa für ihren Erhalt und ihre Weiterentwicklung die jeweilige Qualität und die bedingenden Beziehungsstrukturen ihrer einzelnen Elemente bestimmt. Zugleich ist diese Gestalt im Fall einer Nation, einer Institution oder einer Organisation ein offenes System, das wie ein Organismus verstanden werden muss, der als Resonanzraum auf seine Elemente wirkt. (Hartung 2019, S. 17–18)
248
6 Trauma und Traumafolgestörungen
Mit weitreichenden Erkenntnissen über Gruppentrauma haben sich besonders zwei Psychoanalytiker hervorgetan: Wilfred Bion (1897–1979) und Earl Hopper (*1940). Bion spricht angesichts traumatisierter Gruppen von „Grundannahmegruppen“ („basic assumption groups“, BAG). BAG dienen … ausschließlich der Befriedigung der psychischen Bedürfnisse ihrer Gruppenmitglieder – zum Beispiel dann, wenn eine Arbeitsgruppe mit unkontrollierbarer Angst im Fall eines Traumas konfrontiert wird. Als BAG agiert die Gruppe als ein geschlossenes System, bei dem externe Realitäten ignoriert werden und kollektiv traumatisierte Dynamik auf der unbewussten Ebene herrscht. Aufgrund der Unbewusstheit erkennen die Gruppenmitglieder nicht, was tatsächlich passiert. Als solche sind sie Opfer des traumatisierten Kollektivs. Nach Bion gibt es außerdem die spezialisierte Arbeitsgruppe, die von der Hauptgruppe abgespalten ist. Ihre Aufgabe als Sub-BAG ist es, sich den emotionalen Bedürfnissen und den Grundannahmen zu widmen, während der Rest der Gruppe mit der Hauptaufgabe weitermacht. Hier erkennt man Ähnlichkeiten mit Rupperts Modell der Ich-Spaltung bei individuellem Trauma. Das gesunde Ich würde dabei der Hauptgruppe entsprechen, die sich der Arbeit widmet, die Sub-BAG wiederum dem Überlebensanteil. Die BAG kann zwischen den oben genannten Zuständen wechseln oder in einem einzigen Zustand verharren. Gruppen können grundsätzlich auf unterschiedlichen Grundzuständen basieren. Zum Beispiel basiert die Kirche auf Abhängigkeit, während die Armee den Kampf/Flucht Zustand stark nutzt. (Hartung 2019, S. 24–25)
Nach Bion/Hopper zeigen sich bei traumatisierten Gruppen außerdem folgende Symptome: Inhäsion Es besteht kein Zusammenhalt in der Gruppe. Als soziales Aggregat ist sie eine Ansammlung von Personen, deren Zusammenhalt per Definition nicht von sozialen Interaktionen abhängig ist. Abhängigkeit Die Gruppe richtet sich auf einen „Führer“ aus, der sie von aller Angst befreien soll. Er wird regelrecht mit Allmacht ausgestattet und soll alle Probleme lösen. Gelingt ihm das nicht, wird er angegriffen, und bald wird ein Ersatz für ihn gesucht. Dadurch entsteht ein Gruppenkreislauf von Leader-Suche, Idealisierung und Verunglimpfung. Kampf/Flucht Die Gruppe erkennt ihre Hauptaufgabe darin, gegen einen vermeintlichen Feind zu kämpfen oder vor diesem zu fliehen. Der Feind kann innerhalb oder außerhalb der Gruppe sein.
6.3 Das ist Trauma
249
Paarung Die Entwicklung der Gruppe ist eingefroren – in der Hoffnung, von zwei Mitgliedern gerettet zu werden, die sich zusammenschließen und irgendwie einen ungeborenen Führer schaffen. Natürlich ist der Übergang von Gruppentrauma zu Systemtrauma fließend und nicht immer leicht abzugrenzen. Ausgehend vom Gestaltgedanken jedoch hat jedes System ein eigenes Wesen mit einem eigenen Charakter. Natürlich wird das System in erster Linie durch die Menschen geprägt, durch die es gebildet, erhalten und weiterentwickelt wird. Wir können aber beobachten, dass traumatisierte Menschen dazu neigen, getrennte und trennende Strukturen in ihren Systemen zu implementieren. Als Resonanzraum für jedes Geschehen wirken Systeme mit solchen Strukturen und einem entsprechenden Charakter dann auf ihre Mitglieder zurück. Das von Stephanie Hartung in 2019 herausgegebene Buch Trauma in der Arbeitswelt befasst sich – erstmals im deutschsprachigen Raum – intensiv mit diesem Thema. Hierin beschreibt unter anderem der Autor Volker Hepp (2019) drei Ausprägungen einer traumatisierten Organisation als • ADHS-Organisation, • Hypervigilanzorganisation, • Schockorganisation. Marion Lockert, ebenfalls Mitautorin der Publikation, beschreibt in ihrem Beitrag eindrücklich die Verflechtung von individuellem, Familien- und Organisationstrauma (Lockert 2019). Wir möchten hier das Thema Organisationstrauma/Trauma in der Arbeitswelt nicht weiter vertiefen, weil es aus unserer Sicht seinen angemessenen Platz in Weiterbildungen zum Organisationsaufsteller bekommen sollte. Zugleich aber ist das Wissen um Systemtraumata für das Verständnis von Familiensystemen natürlich wichtig, und wir stehen hier wahrscheinlich erst am Anfang unserer Erkenntnisse. Zusammengefasst ergibt sich eine komplexe Vielschichtigkeit bei der Frage, was Trauma ist. An dieser Stelle haben wir den Aspekt, dass Trauma auch von einer anderen Person übernommen sein kann, nicht berücksichtigt. Sie finden unserer Ausführungen zu Sekundär- und transgenerationalem Trauma im Abschn. 6.5 („Formen von Trauma“).
6.3.7 Die komplexe Vielschichtigkeit von Trauma Die komplexe Vielschichtigkeit von Trauma haben wir in einer Grafik zusammengefasst (Abb. 6.6).
250
Abb. 6.6 Das ist Trauma
6 Trauma und Traumafolgestörungen
6.4 Trauma im Hirn
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6.4 Trauma im Hirn 6.4.1 Einführung Die Vermittlung der neurobiologischen Aspekte bei Trauma ist bedingend für ein ganzheitliches Verständnis von Trauma – und lässt zugleich verstehen, warum bisherige Methoden der Gesprächs- und Verhaltenstherapie oder der Psychoanalyse für Betroffene nicht ausreichen können, zumal im Zuge der Gedächtniskonsolidierung ganz andere Schlussfolgerungen vonnöten sind, als wir sie bisher als unumstößlich richtig kannten – für uns ein Muss der Lehrinhalte in einer Systemaufstellungsweiterbildung. In diesem Abschnitt informieren wir daher über die Hirnstruktur und die besonderen Charakteristiken einzelner Hirnregionen sowie deren Zusammenspiel bei Beziehungserfahrungen.
6.4.2 Revolution des Denkens in der Hirnforschung Durch die Entwicklung der bildgebenden Verfahren gegen Ende des 20. Jahrhunderts konnte sich die Hirnforschung dramatisch weiterentwickeln – manche sprechen gar von einer Revolution des Denkens in der Hirnforschung. Die entscheidende Erkenntnis war, dass das Hirn neoplastisch ist, d. h. es kann sich ein Leben lang verändern und weiterentwickeln. So hat zum Beispiel die moderne Kulturtechnik des SMS-Schreibens dazu geführt, dass der somamotorische Kortex, und hier im Besonderen die Region, die für die Bewegung des Daumens zuständig ist, durch den Gebrauch von Handys deutlich vergrößert wurde. Kulturtechniken, Erfahrungen und Tätigkeiten formen das Gehirn ein Leben lang. Die Entwicklungen neuer Möglichkeiten im Rahmen der Neurobiologie ermöglichten auch erstmals vertieftes Wissen über neurophysiologische Abläufe bei Trauma. Grundsätzlich gilt hierbei, dass alles, was die Beziehungsfähigkeit eines Menschen zu sich, zu anderen und zur Welt bzw. zur Natur verbessert, auch gut für das Hirn ist – und umgekehrt: Alles, was die Beziehungsfähigkeit eines Menschen behindert und verschlechtert, führt zu degenerativen Prozessen im Hirn. Wie genau das geschieht, erläutern wir im Folgenden. Wir lehnen uns dabei eng an Vorträge des deutschen Neurobiologen Gerald Hüther an (Hüther 2012). Bevor wir das tun, möchten wir an dieser Stelle vorwegschicken, dass es die oben beschriebene Neoplastizität ist, die so sehr für die Aufstellungsarbeit bei Trauma spricht. In einer Aufstellung können neue Erfahrungen mit Beziehung und deren Qualität gemacht werden können, die nachweislich zu neuen Verschaltungen im Gehirn führen. Das Hirn macht keinen Unterschied in Bezug auf die Quelle der Erfahrung, entscheidend ist die Erfahrung selbst. Außerdem führen Aufstellungen unserer Erfahrung nach bei regelmäßiger Anwendung (als Aufsteller, Klient oder Stellvertreter) zu einer deutlichen
252
6 Trauma und Traumafolgestörungen
Verbesserung der Beziehungsfähigkeit. Ausnahmen (die wir natürlich auch kennen) bestätigen als solche die Regel. Über das Thema der Neoplastizität und Gedächtniskonsolidierung ein Zitat von Ernst Robert Langlotz in einem Briefwechsel mit Stephanie Hartung: Auf das Phänomen Introjekt (Identifizierung mit einem ich- fremden Element) bin ich bei der Entwicklung meines Konzeptes der systemischen Selbst-Integration gestoßen. Dabei wurde deutlich, dass ein toxisches, ich-fremdes Introjekt das eigene SELBST verdrängt und Abgrenzung (Unterscheidung Ich versus Nicht-Ich) erschwert, sodass als Kompensationsversuch die Aspekte eines Symbiosemusters entstehen. Daher versuchte ich, eine Abfolge von Lösungs-Interventionen zu entwickeln (Algorithmus) welche geeignet waren, das Introjekt auf Dauer zu entfernen, um wieder Abgrenzung und Verbindung mit dem SELBST zu ermöglichen. Heute kenne ich nur Thomas Hensel, der in seiner „Stressorbasierten Psychotherapie“ ebenfalls beschreibt, wie die Identifikation mit einem Trauma nur durch einen Algorithmus gelöst werden kann. Dabei beruft er sich auf die neuere Hirnforschung zur „Gedächtnisrekonsolidierung“ – während früher als Dogma galt: „Die Amygdala vergisst nichts!“ Noch in dem 2013 erschienenen Sammelband „Komplexe Traumafolgestörungen“ (Sack et al. 2013) wird dies Dogma vorausgesetzt und der Begriff eines Trauma-Introjektes überhaupt nicht erwähnt! Als ich daher alle Autoren des Sammelbandes auf mein Konzept von einem „reversiblem Trauma-Introjekt“ hinwies, war Thomas Hensel der einzige, der antwortete.
Die Neoplastizität ist demnach der Grund dafür, warum Trauma bei gezielter Einflussnahme auf das Hirn geheilt werden kann. Wie aber können wir Neoplastizität und Konsolidierung des Gedächtnisses erklären?
6.4.3 Drei Areale und ein Verbindungssystem Das menschliche Hirn besteht im Wesentlichen aus drei Bereichen – dem Stammhirn, dem limbischen System (auch Zwischenhirn) und dem Neokortex (auch Großhirn) (Abb. 6.7).
6.4.3.1 Stammhirn – Lebenserhalt Das Stammhirn ist der älteste Teil des Hirns, der bereits vor der Geburt ausgereift ist. Hier befinden sich die Schalt- und Regelkreise für Körperfunktionen und einfache Verhaltensweisen, wie z. B. Kampf, Flucht oder der Tot-Stell-Mechanismus in Krisen („fight, flight, freeze“). Neues Verhalten und die Bewältigung von Veränderungen sind allein mit dem Stammhirn nicht möglich – das Verhaltensrepertoire mit ausschließlichem Fokus auf Selbsterhalt bleibt auf Reptilienniveau. Deshalb wird das Stammhirn auch Reptilienhirn genannt.
6.4 Trauma im Hirn
253
Abb. 6.7 Kortex, limbisches System, Stammhirn
6.4.3.2 Limbisches System – Emotion und Soziales Das entwicklungsgeschichtlich jüngere limbische System kann als Metaebene verstanden werden, auf der das, was im Stammhirn passiert, integriert, harmonisiert und zu ganzheitlichen Mustern zusammengefasst wird. Es ist das Zentrum aller Emotionen, gestaltet unsere Äußerungen von Trauer, Wut, Angst und Freude. Es hat Einfluss auf unser Sexualverhalten, auf vegetative Funktionen unseres Organismus, auf unser Gedächtnis und unsere Merkfähigkeit. 6.4.3.3 Neokortex – Persönlichkeit Der Neokortex oder auch das Großhirn ist der entwicklungsgeschichtlich jüngste Teil des Hirns. Meistens meinen wir diesen Teil, wenn wir stolz auf unseren Verstand sind oder von unserer Vernunft, Ratio oder Logik sprechen. Der Neokortex ermöglicht die Entwicklung des Hirns durch Verschaltungen (Verbindungen) der Nervenzellen und durch die Verfestigung dieser Verschaltungen im Sinne der Erfahrungsverfestigung. Er lässt uns lernen und ermöglicht uns so die Bewertung von Herausforderungen. Der Neokortex ist der Teil des Hirns, der durch äußere Reize gestaltet wird und der sich ein Leben lang neoplastisch durch neue Verschaltungen und Verfestigungen verändern kann. 6.4.3.4 Transmitter Die sogenannten globalisierenden Transmittersysteme verbinden die drei Hirnteile miteinander. Ihr Ursprung liegt in den tieferen Schichten des Stammhirns, und sie durchziehen das Hirn bis in die hohen Schichten des Kortex. Die Transmitter werden immer dann aktiviert, wenn es emotional wird. Sie schütten – je nach Emotion – Botenstoffe aus, die sich an Zellen heften und diese bis in deren Mark, das bedeutet bis in die Genexpression beeinflussen können.
254
6 Trauma und Traumafolgestörungen
Das Transmittersystem bewirkt mit der Ausschüttung der Botenstoffe genau das, was in jüngerer Zeit unter dem Begriff Epigenetik auch unser Verständnis über das Erbgut revolutioniert hat. Der Begriff Epigenetik (griechisch, „epi“ = über) beschreibt molekulare Mechanismen, die zu einem stärkeren oder schwächeren Ablesen von Genen führen, ohne dass die dort gespeicherte Information verändert wird. Zellen können so unter anderem steuern, wann sie welche Proteine produzieren – und in welchen Mengen sie das tun. Der Zellkern kann also unter dem Einfluss äußerer Faktoren regulieren, wann und in welchem Ausmaß welche Gene ein- und ausgeschaltet werden. Die alte Überzeugung, dass die Eigenschaften eines Organismus durch die vererbten Gene unveränderbar statisch seien, ist nach den neuen Erkenntnissen falsch. Die Epigenetik erlaubt den Zugriff der Umwelt auf unser Erbgut, weil wir offene Systeme sind. Das kann positive, und es kann negative Folgen haben – und natürlich ist der Zugriff der Umwelt auf das Erbgut einer der zentralen Aspekte für die Aufstellungsarbeit bei Trauma.
Weil Menschen offene Systeme sind, beeinflusst die Umwelt die Expression der Gene.
Die ausgeschütteten Botenstoffe können die Genexpression von Zellen verändern. Dadurch werden neue Verschaltungen möglich und durch die Wiederholung der Erfahrung verfestigt. Gerald Hüther bezeichnet diesen Vorgang als die Urform des Lernens, die im positiven Verlauf einen Flow bildet, der Lust und Selbstvertrauen steigert und stärkt, jedoch im ungünstigen Fall zu einem Circulus vitiosus wird, in dem die Angst und der Selbstzweifel kontinuierlich wachsen (Abb. 6.8). Von Flow-Erfolgserlebnissen, wie sie hier dargestellt sind, wird der präfrontale Kortex geprägt (das Hirnareal hinter der Stirn). Durch das Wachsen von Lust und Selbstvertrauen entstehen die Metafunktionen oder auch Schlüsselkompetenzen, die wir für die Bewältigung allgemeiner Herausforderungen brauchen. Im Frontallappen laufen förmlich die Fäden zusammen und werden zueinander in Beziehung gesetzt. Die existenzbedingenden Metafunktionen oder auch Schlüsselkompetenzen für Selbsterhalt und
Abb. 6.8 Positiver Flow nach Gerald Hüther
6.4 Trauma im Hirn
255
Entwicklung sind also nicht angeboren, sie müssen alle in der Begegnung entwickelt werden. Zu ihnen gehören die folgenden Funktionen: • Ich-Funktion: Sie prägt das Selbstbild und die positive Selbstbewusstheit in Bezug auf die Fähigkeit der Lebensbewältigung und der sozialen Kompetenz. Menschen müssen merken, dass sie wahrgenommen werden, und sie müssen sich als wirksam erfahren. Selbstwirksamkeitskonzepte können nur durch entsprechende Erfahrungen entstehen. • Leitbild-/Ziel-/Orientierungsfunktion: Sie prägt die Motivation, sich Ziele zu setzen und diese zu verfolgen. Die Funktion kann nur in einem Miteinander erworben werden, in dem es entsprechende Vorbilder mit Zielen und Orientierung gibt. Menschen müssen die Erfahrung machen, dass es gut ist, wenn man weiß, wohin man will. Ohne diese Erfahrung sind sie nicht nur verführ- und manipulierbar, sie können sich kaum aus sich heraus motivieren. • Haltungs-/Verantwortungs-/Empathiefunktion: Sie prägt die sozialen und emotionalen Kompetenzen und müssen ebenfalls im sozialen Kontakt erfahren und gelernt werden. • Handlungsplanungs-/Folgeabschätzungsfunktion: Sie prägt die Fähigkeit der Impulskontrolle und kann bei positiver Erfahrung immer differenzierter entwickelt werden.
Die Schlüsselkompetenzen für Selbsterhalt und Entwicklung sind nicht angeboren, sie werden durch soziale Erfahrung gebildet.
Liegt kein positiver Flow vor, entsteht ein Circulus vitiosus, ein Teufelskreis, der selbstverstärkend wirkt (Abb. 6.9). Das Erfahrungsmuster des Teufelskreises brennt sich förmlich ins Hirn ein. Wird es durch banale Reize aus dem Umfeld angeregt, wird der komplette Prozess der traumatischen Erfahrung reaktiviert, und die biochemischen Prozesse laufen wie beschrieben erneut ab.
Abb. 6.9 Circulus Vitiosus nach Gerald Hüther
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
Es sind also in Summe die Beziehungserfahrungen, die das menschliche Hirn strukturieren, und der Prozess der Hirnentwicklung dauert ein Leben lang an. Für jede Therapie gilt: Erfahrungen macht man nicht (nur) im Gespräch, die Körpererfahrung spielt im Heilungs- und im Entwicklungsprozess eine entscheidende Rolle.
Beziehungserfahrungen strukturieren das Hirn. Der Prozess der Hirnentwicklung dauert ein Leben lang an.
Entscheidend für das Verständnis von Trauma ist dabei, dass Angst die Ausbildung von Beziehungsmustern komplexer Nervenzellen behindert und damit das Gehirn im Prozess der Gestaltung der menschlichen Beziehungsfähigkeit nachhaltig stört. Dabei gelten frühe Ängste als besonders behindernd (Abb. 6.10). Durch frühen Missbrauch verliert das Kind das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, eine Situation zu meistern – weil es den Missbrauchsprozess nicht stoppen kann. Es verliert außerdem das Vertrauen darauf, dass es Hilfe bekommt, wenn es alleine nicht zurechtkommt. Und es verliert schließlich das Vertrauen, dass es jemals wieder gut werden wird bzw., dass das Leben überhaupt einen Sinn macht. Hierbei gehen die Ressourcen der Angst- und Stressbewältigung unmittelbar verloren. Zusammengefasst gilt, dass Störungen in sozialen Beziehungen für Kinder beängstigend sind, und je jünger sie sind, desto fataler sind die Folgen für die Hirnentwicklung. Im Fall der Vernachlässigung bleibt dem Kind keine Wahl – es muss sich um sich selbst kümmern und gerät dadurch in einen anhaltenden Zustand der P seudo-Autonomie. Das bedeutet, dass sich die Autonomie der Person nicht natürlich entwickeln kann, sondern frühzeitig „vorgetäuscht“ werden muss. Das Kind zieht sich dabei in sich zurück, es agiert selbstbezogen und verringert sein Kontaktverhalten – weil es beim Gegenüber Vernachlässigung vermutet. Abb. 6.10 Vernachlässigung und Missbrauch nach Gerald Hüther
6.4 Trauma im Hirn
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Mehr davon Vertiefte Informationen zum Thema Trauma durch Vernachlässigung lesen Sie in Abschn. 6.5.4 (unter „Bindungstrauma“).
Bei allen emotionalen Prozessen im Hirn können sich bisher entstandene Verschaltungen festigen und stabilisieren, oder sie können sich auflösen oder umformen. Das gilt für jedes Lebensalter, und es gilt für alle auslösenden Traumaformen. Jedes psychisch belastende Ereignis – sei es tatsächlich, erwartet oder vorgestellt – wie z. B. Konflikte (in der Familie/mit Freunden/mit Kollegen), der Verlust von Unterstützung (Umzug, Trennung, Tod) oder der Verlust von psychosozialer Kompetenz (z. B. bei Arbeitslosigkeit) – führt zu Erregung, zu einer Störung des emotionalen Gleichgewichts (Abb. 6.11). Auf die verschiedenen Formen von Trauma gehen wir im folgenden Abschnitt vertiefter ein.
Abb. 6.11 Stressreaktion im Hirn
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
6.5 Formen von Trauma 6.5.1 Einführung In diesem Abschnitt vermitteln wir die verschiedenen Formen von Trauma, die für die Weiterbildung im Umgang mit Trauma von besonderer Relevanz sind. Die verschiedenen Formen ergeben sich einerseits aus den verschiedenen Betrachtungsperspektiven (Betroffener, Beobachter) und andererseits durch die zeitlichen Phasen des Traumaprozesses.
6.5.2 Trauma als Auslöser Die Perspektive „Trauma als Auslöser“ bezieht sich auf das Ereignis und also auf die Frage: Was war das traumatische Ereignis?
6.5.2.1 Ereignis oder Prozess, Schock- oder Entwicklungstrauma? Die erste Perspektive beschreibt die Art des Ereignisses, wie wir es bereits im ersten Abschnitt des Trauma-Kapitels angedeutet haben. Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage: Handelt es sich um ein einmaliges Ereignis oder um ein prozessuales Ereignis? Bei einem einmaligen Ereignis spricht man von Schocktrauma. Bei einem andauernden Prozess spricht man von einem Entwicklungstrauma. 6.5.2.2 T-Trauma oder t-Trauma? Die zweite Perspektive differenziert nach der Schwere von Ereignis oder Prozess. In der englischsprachigen Literatur wird hierbei zwischen großem T-Trauma und kleinem t-Trauma differenziert. Es gibt zwei Hauptkategorien von Traumata, die allgemein als großes „T“ und kleines „t“ bezeichnet werden. Große „T“-Traumata sind die Ereignisse, die am häufigsten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) in Verbindung gebracht werden, einschließlich schwerer Verletzungen, sexueller Gewalt oder lebensbedrohlicher Erfahrungen. Kleine „t“-Traumata sind sehr beunruhigende Ereignisse, die Einzelpersonen auf persönlicher Ebene betreffen, aber nicht in die große „T“-Kategorie fallen. Beispiele für ein kleines „t“-Trauma sind nicht lebensbedrohliche Verletzungen, emotionaler Missbrauch, der Tod eines Haustieres, Mobbing, Belästigung oder der Verlust wichtiger Beziehungen. Menschen haben einzigartige Fähigkeiten, mit Stress umzugehen, die als Resilienz bezeichnet werden und die ihre Fähigkeit, mit Traumata umzugehen, unterstützen. Was für eine Person sehr beunruhigend ist, kann eine andere emotionale Reaktion bei jemand anderem verursachen, sodass der Schlüssel zum Verständnis des kleinen „t“-Traumas darin besteht, zu untersuchen, wie es sich auf den Einzelnen auswirkt, anstatt sich auf das Ereignis selbst zu konzentrieren. (Journeypureriver 2019; Übersetzung Stephanie Hartung)
6.5 Formen von Trauma
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Der zentrale Aspekt für das große T-Trauma ist die umfassende Bedrohung durch den Angriff auf die physische, emotionale oder soziale Existenz. Typische Auslöser für das T-Trauma sind Terror- und Foltererlebnisse in kriegerischen, politischen oder kriminellen Zusammenhängen, Naturkatastrophen, Unfälle, schwere Erkrankungen, invasive medizinische Eingriffe oder plötzliche vorzeitige Verluste. Typische Reaktionen auf t-Trauma sind Beschämung, Peinlichkeit, Verunsicherung. Die Anlässe hierfür sind scheinbar weniger katastrophale Ereignisse. Tatsächlich aber können die Folgen von T-Trauma und t-Trauma gleichermaßen schwerwiegend sein.
6.5.2.3 Direktes oder indirektes Trauma? Außerdem wird zwischen direktem und indirektem Trauma differenziert. Als direktes Trauma gelten traumatisches Ereignis und traumatischer Prozess, T- und t-Trauma. Indirektes Trauma kann ein sogenanntes Sekundärtrauma oder ein transgenerationales Trauma sein, die wir im Folgenden beschreiben. 6.5.2.4 Sekundärtrauma Das Sekundärtrauma betrifft in der Regel die helfenden Berufe wie Polizei, Feuerwehr, Mediziner oder Pflegepersonal, wenn sie unmittelbare Zeugen eines traumatischen Schockereignisses sind, z. B. bei der Hilfe an einem Unfallort, beim Einsatz in einem Katastrophengebiet oder beim Tod eines Menschen. Eine Sekundärtraumatisierung kann auch einen prozessualen Charakter haben, wenn z. B. die Angestellte einer Staatsanwaltschaft über einen längeren Zeitraum pornografisches und/oder pädophiles Missbrauchsoder Vergewaltigungsmaterial sichten muss. Transgenerationales Trauma Bei generationsübergreifendem oder transgenerationalem Trauma werden Traumaerfahrungen an die nachfolgenden Generationen weitergegeben. Das kann sowohl über die Gene als auch mittels des Sozialverhaltens geschehen, und es kann bei den nachfolgenden Generationen tatsächlich zu einem Erleben führen, selber traumatisiert worden zu sein (durch innere Bilder oder entsprechende Träume).
Mehr davon Informationen zu Anlässen für transgenerationale Traumata sowie über Möglichkeiten der transgenerationalen Biografie Arbeit finden Sie in Kap. 5 („Biografie, Selbst, Persönlichkeit“).
Traumatische Erfahrungen, die von Betroffenen nicht verarbeitet und integriert werden können, bleiben nicht nur für diese selbst eine lebenslange Belastung. Sie zeigen sich auch in den Träumen, Phantasien, im Selbstbild, emotionalen Erleben und unbewussten Agieren ihrer Nachkommen. Sowohl bei psychischer Krankheit der Eltern, bei Erfahrungen von Misshandlung und Missbrauch wie auch bei Kriegs- oder Foltererfahrung treten transgenerationale Übertragungsphänomene in den nachfolgenden Generationen auf. Besonders bei Kindern und Enkeln von Überlebenden des Holocaust wurde dieser Zusammenhang seit
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
Mitte der sechziger Jahre offensichtlich, als die nun jungen Erwachsenen der zweiten und dritten Generation vermehrt therapeutische Hilfe suchten … Dies zeigte sich als Nachwirkung der Extremtraumatisierung der Überlebenden mit daraus folgenden schweren Veränderungen der psychischen Struktur, des (Selbst-) Erlebens wie der Persönlichkeit und wurde zugleich erkennbar durch die Regelmäßigkeit, in der die als Überlebenden-Syndrom bezeichneten Auswirkungen der Verfolgungs- und Vernichtungserfahrungen sich bei den Betroffenen und später bei ihren Nachkommen manifestierten. Aber auch bei den Kindern der Täter/innen offenbarte sich in zunehmendem Maße eine Belastung durch unbewusste Identifikationen mit den zerstörerischen elterlichen Introjekten …Inzwischen gibt es mehrere sich teilweise integrierende und ergänzende Ansätze zur Erklärung der Mechanismen der unbewussten Weitergabe und der Dynamik ihrer Wirkungsweise. Diese Konzeptionen basieren vor allem auf dem psychoanalytischen Konzept der Übertragung und Gegenübertragung. Sie sind aber auch verwurzelt in einem Generationenbegriff, der auf einem Paradigmenwechsel des Vererbungsbegriffs des 19. Jahrhunderts basiert … (Moré 2013)
Durch die mit einer Traumatisierung einhergehenden Prozesse im Hirn – und hier insbesondere im Zusammenhang mit der Hormonausschüttung – können sich die Folgen von Trauma auch auf der somatischen Ebene vererben, sodass sich eindeutige Symptome einer Folgeerscheinung einstellen. Das System der Stresshormone reguliert sich normalerweise durch einen FeedbackMechanismus wie eine Heizung mit Thermostat selbst. Bei PatientInnen mit chronischem Stress wird das System nicht mehr reguliert, sondern heizt immer weiter hoch. Schließlich sind keinerlei Cortisolreserven mehr in den Nebennieren verfügbar. Oder um im Bild zu bleiben: die „Öltanks“ sind leer. Während wir bei akutem Stress einen Anstieg des Cortisolspiegels finden, führt chronischer Stress aufgrund des Ausschöpfens aller Reserven schließlich zu erniedrigten Cortisolspiegeln. Durch chronischen Stress erniedrigte Cortisolspiegel lassen sich nicht nur bei Menschen finden, die selbst an einer Traumafolgestörung leiden, sondern auch bei ihren Kindern und sogar Enkeln. (Drexler 2017)
Abb. 6.12 zeigt die verschiedenen Formen von Trauma als Auslöser für Traumafolgestörungen in der Übersicht.
6.5.3 Formen von Trauma mit Blick auf die Betroffenen In Abschn. 6.3 („Das ist Trauma“) haben wir beschrieben, dass Trauma grundsätzlich offene Systeme wie Individuen, Gruppen und organisierte Systeme betrifft. Daraus ergibt sich die zweite Perspektive auf Traumaformen mit der Frage: Wer ist betroffen? und damit eine Differenzierung in Individualtrauma, Sozialtrauma, Systemtrauma (s. hierzu auch Abb. 6.5 in Abschn. 6.3).
6.5 Formen von Trauma
261
Abb. 6.12 Trauma als Auslöser
6.5.3.1 Individualtrauma Vom Individualtrauma sind einzelne Menschen betroffen, die (in ihrer Kindheit) entweder nicht die für sie lebensnotwendige Liebe, Zuwendung und Fürsorge erhalten oder einen frühen Verlust erlebt haben, oder/und die Gewalt und Missbrauch ausgesetzt waren oder sind. Menschen jeden Alters können traumatisiert und – mit Blick auf bereits erlittene Traumata und insbesondere Kindheitstraumata – jederzeit retraumatisiert werden. Das Individualtrauma betrifft den Einzelnen unabhängig davon, wann er traumatisiert wurde. Die Folgen können als „lebenslänglich“ verstanden werden, wenn denn nicht – wie erwähnt – reversible Therapieformen für die Gedächtniskonsolidierung beim Betroffenen sorgen.
Mehr davon Auf die einzelnen Formen der Folgen von Individualtrauma gehen wir weiter unten in Abschn. 6.5.4 („Formen von Trauma als Moment des Erlebens“) ein.
6.5.3.2 Sozialtrauma In Abgrenzung zu Traumaauslösern für das Individuum gibt es zudem auch das soziale Trauma, das in der Regel die Folge bei schweren Naturkatastrophen, durch Menschen verursachte Katastrophen, bei Anschlägen oder auch bei Kriegen ist. Kategorien der Betroffenen für Sozialtrauma sind: Familien, Ethnien, Gesellschaften, Geschlechtergruppen, Personal etc.
Mehr davon Vertiefte Informationen zu Sozialtrauma/Gruppentrauma finden Sie in Abschn. 6.3 („Das ist Trauma“).
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
6.5.3.3 Systemtrauma Nicht nur Menschen oder Gruppen von Menschen, sondern auch die von Menschen gebildeten (organisierten) Systeme können traumatisiert werden. Solche Systeme sind Staaten/Nationen sowie „For-Purpose-“ und „For-Profit-Organisationen“. Auf diese Form von Trauma gehen wir hier nicht weiter ein, weil wir sie als wesentlichen Bestandteil einer Weiterbildung in Organisationsaufstellung verstehen. Wir weisen aber darauf hin, dass die Traumakonzeptionen, wie sie für Individuen und Gruppen gelten, nicht 1:1 auf Organisationen übertragen werden können. Hier geht es bei der Betrachtung von möglichem Trauma eher um die Beschreibung der Strukturqualität und der prozessualen Abläufe sowie um die Kultur, die sich im Resonanzraum einer traumatisierten Organisation entwickeln kann. Dafür bedarf es der Entwicklung tragfähiger Modelle für den Umgang mit Organisationstraumata, wie in dem bereits erwähnten Buch „Trauma in der Arbeitswelt“ (Hartung 2019) eindrücklich beschrieben wird. Mehr davon Wir verweisen in diesem Zusammenhang nochmals auf das Buch „Trauma in der Arbeitswelt“, das zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung dieses Buchs noch die einzige deutschsprachige Publikation zu diesem Themenbereich ist (Hartung 2019).
6.5.4 Formen von Trauma im Erleben Die dritte Perspektive bezieht sich auf Trauma als Erfahrung des/der Betroffenen im Moment des Geschehens und also auf die Frage: Was habe ich erfahren?
6.5.4.1 Existenztrauma Beim Existenztrauma geht es – wie der Name schon sagt – um das nackte Leben, die Existenz. Zu einem Existenztrauma kann es in allen Lebensphasen, auch vor oder während der Geburt kommen. Existenztrauma ist häufig mit Folgen wie Panikattacken, Todesangst und auch Flashbacks verbunden. 6.5.4.2 Verlusttrauma Wir können es vielleicht so formulieren: Der Verlust eines nahen Menschen ist nicht ein Verlust innerhalb der Welt, sondern ein Verlust an Welt überhaupt und damit ein Verlust an der eigenen Substanz dessen, der den Verlust erleidet. Und insofern rührt der Verlust des nahen Menschen an die eigene Existenz. Er bedeutet einen echten Seinsverlust. (Bollnow 1966)
Das Verlusttrauma entsteht beim Verlust eines nahestehenden Menschen und kann – zum Beispiel bei einer Zwillings- oder Mehrlingsschwangerschaft – bereits vorgeburtlich oder auch während der Geburt stattfinden. Sieht man einmal von dem Verlust ab,
6.5 Formen von Trauma
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den eine Mutter bei einer Früh- und insbesondere bei einer Totgeburt erleidet, so betrifft diese Form des Traumas auch einen Embryo, der einen Geschwisterverlust durch Tod im gemeinsamen Uterus erlebt. Mehr davon Weitere Informationen zu Trauma durch intrauterinen Geschwisterverlust lesen Sie in Kap. 5 („Biografie, Selbst, Persönlichkeit“).
Je früher jedenfalls im Leben ein Verlust stattfindet, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass aufgrund eines noch nicht ausgebildeten Selbst mit schwachen autonomen Grenzen und wegen noch fehlender Resilienz von einem Trauma auszugehen ist. Wenn für ein Kind die Eltern früh sterben, stellt das ebenfalls ein maximales Verlusttrauma dar. Wenn die Mutter unmittelbar bei der Geburt oder gleich danach stirbt, ist das für ein Kind gewissermaßen der größte anzunehmende Unfall. Bis ins Alter von 20 Jahren wird nach meinen Erfahrungen mit Klienten der frühe Tod der Eltern normalerweise nicht auf einem gesunden Wege psychisch bewältigt und führt daher zu traumabedingten Abspaltungen. Geht für ein Kind durch Trennung oder Scheidung ein Elternteil früh verloren, entstehen in der Regel auch derart große Trennungsschmerzen und Verlassenheitsängste, dass sie psychisch nicht gut verarbeitet werden können und diese Situation bei einem Kind zu psychischen Spaltungen führt … Selbst wenn ein Kind unmittelbar nach der Geburt zu einer Adoptiv- oder Pflegemutter kommt, erleidet es ein Verlusttrauma, denn eine psychische Bindung an seine Mutter hat dieses Kind bereits durch die neun Monate Schwangerschaft und durch den Geburtsvorgang aufgebaut. (Ruppert 2012, S. 100–101)
Grundsätzlich, so ist Ernst Robert Langlotz überzeugt, tendieren Kinder dazu, sich mit nahestehenden Familienmitgliedern zu identifizieren. Werden sie von einem Angehörigen durch Tod getrennt, bevor sie sich abgrenzen können – also vor der Pubertät – so bleiben sie mit dem Angehörigen identifiziert, den sie durch das Verlusttrauma quasi als ein Trauma-Introjekt bei sich behalten. Dadurch werden ihre Abgrenzungsfunktion und damit einhergehend die Identität und die Entwicklung des Selbst nachhaltig beeinträchtigt. Verlusttrauma ruft verschiedene, durchaus auch widersprüchlich scheinende Gefühle hervor – wie zum Beispiel die Angst vor dem Allein-gelassen-Sein und vor der Nicht-Bewältigung des weiteren Lebens, den brennenden Schmerz über den unfassbaren und unumstößlichen Verlust sowie schließlich auch die ohnmächtige Wut darüber, im Stich gelassen worden zu sein. Die psychischen wie körperlichen Folgesymptome bei einem Verlusttrauma sind schwer fassbare Ängste, unterschwellige Aggressionen, diffuse Kopf- und Gelenkschmerzen, Steifheitsgefühle und nicht zu Ende gebrachte und immer wieder abgestoppte Trauerreaktionen. Häufig mündet das alles in dem Symptombild einer depressiven Verstimmung. Dies kann dann wiederum zu vermehrtem Konsum von Alltagsdrogen wie Nikotin, Kaffee oder Alkohol oder zu erhöhtem Medikamentenkonsum (Schlaf- oder Beruhigungsmittel) und in manchen Fällen auch zu massiveren Formen der Drogenabhängigkeit führen. (Ruppert 2012, S. 104)
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
Verlusttrauma kann auch bei Vertreibung und finanziellem Ruin beobachtet werden und sich wie ein identifikationsstiftender Virus durch Verstrickung in Familiensystemen einnisten. Es besteht die Möglichkeit, dass durch ein Symbiosetrauma eine Identifizierung mit dem Verlust erlebt wird, was bis hin zur eigenen Unfähigkeit reichen kann, den eigenen Lebensunterhalt bestreiten zu können. In dem Buch Trauma in der Arbeitswelt beschreibt die Autorin Marion Lockert den Fall eines familiären Verlusttraumas zweier Familien, die durch Heirat zusammenkommen, ein Familienunternehmen gründen und fortan so entscheiden und handeln, dass der Verlust immer größer wird und schließlich in den Totalruin führt (Lockert 2019).
6.5.4.3 Bindungstrauma Bindungstrauma ist in den westlichen Kulturen die am weitesten verbreitete Form von Trauma. Die Dimensionen der nachhaltigen und vielfältigen Störungssymptome bei Bindungstrauma sind im nachfolgenden Zitat eindrücklich beschrieben. „Chronische Traumatisierungen in Kindheit und Jugend umfassen makrotraumatische Ereignisse – physische Misshandlungen, sexuelle Übergriffe, körperliche Vernachlässigung – ebenso wie eine Vielzahl kumulativer Mikrotraumen durch andauernde Entwertungen und Überforderungen, Situationen des Alleinseins und der fehlenden Geborgenheit, emotionalen Missbrauch und emotionale Vernachlässigung sowie eine Vielzahl von Trennungen oder Verlusten. Es soll für diese Form der Traumatisierungen der Begriff der Bindungs- und Beziehungstraumatisierungen vorgeschlagen werden, um das hohe Schädigungspotential dieser Einflüsse angemessen zu würdigen, deren Folgen weit in die Hirnphysiologie hineinreichen und in ihrem Schweregrad physischen Misshandlungen und sexuellen Übergriffen vergleichbar sind. Mit der Perspektive der Bindungstraumatisierung soll ein neues therapierelevantes Verständnis schwerer Persönlichkeitsstörungen geschaffen werden … • schwere Störung der Emotionsregulierung mit wechselnden und unkontrollierbaren emotionalen Zuständen undifferenzierter Affektivität, • Persönlichkeitsveränderungen im Sinne einer Störung der Bindung- und Beziehungsfähigkeit und einer gestörten Selbst- und Fremdwahrnehmung mit umfassenden Problemen der Beziehungsgestaltung und • eine breite Vielfalt der Symptomatik, die von der Kernsymptomatik der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) über depressive Störungsbilder, Angsterkrankungen/Panikstörungen, dissoziative Störungen, Somatisierungsstörungen, insbes. die somatoforme Schmerzstörung, Essstörungen, insbes. Bulimia nervosa, Substanzmissbrauch bis zu den Persönlichkeitsstörungen reicht.“ (Wöller 2005, S. 157)
Grundsätzlich lassen sich alle Formen von Bindungstrauma auf das Erleben einer traumatisierenden Beziehungsqualität zurückführen, und auch hier gilt, dass die früheren Erfahrungen die größte bzw. nachhaltigste Wirksamkeit entfalten. Von Bindungstraumata geprägt sind nahezu alle Mitglieder der nachfolgenden Kriegsgenerationen, deren Eltern kriegstraumatisiert wurden, sei es durch eigenes Kampferleben, durch zahlreiche Verluste, durch Vertreibung, durch sexuelle und andere körperliche Gewalt und Übergriffigkeit und, und, und.
6.5 Formen von Trauma
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Die Themen, die sich bei den Folgegenerationen durch die Familien- und/oder Systemaufstellungen ziehen, heißen in der Regel: • Ich wurde (und werde) nicht geliebt/gesehen/geachtet/wertgeschätzt/respektiert/gehalten. • Meine Eltern waren körperlich/seelisch geschwächt/krank und konnten mir nicht das geben, was ich gebraucht hätte – ich bekomme auch heute nicht das, was ich brauche. • Das Verhalten meiner Eltern war widersprüchlich, dadurch war ich nicht sicher – ich fühle mich immer noch unsicher in Beziehungen. • Ich hatte keinen guten Platz im System – ich habe keinen guten Platz/ich weiß nicht, wo ich hingehöre. In der Regel gehen wir von der Mutter als primärer Bezugsperson für den Säugling aus, deshalb sprechen wir hier ausschließlich von der Mutter (und meinen damit alle evtl. primären Bezugspersonen). Im Lauf des 1. Lebensjahres entwickelt der Säugling eine spezifische emotionale Bindung an die Mutter. Diese Bindung soll sein Überleben sichern und fungiert im Erleben daher als sein „sicherer emotionaler Hafen“. Durch Angst oder Trennung wird das Bindungsbedürfnis des Kleinkinds aktiviert und erst wieder durch die körperliche Nähe der Mutter beruhigt. Die sichere Bindung als Erfüllung des ersten Primärbedürfnisses ist die erste Voraussetzung dafür, dass das Kleinkind seinem zweiten Primärbedürfnis der Exploration nachgeht. Exploration meint Erkundung, Entdeckung, Erforschung und umschreibt das kindlich freie, neugierige Entdecken der Welt, die zunächst aus der näheren Umgebung besteht: Gegenstände, Tiere, Pflanzen, Menschen usw. Zwischen der Bindung an die Mutter und dem Drang, die Welt zu erforschen, besteht ein sensibles Gleichgewicht, das die Bindungs-Explorations-Balance beschreibt: Sie besagt, dass das Verhalten eines Kindes durch zwei Grundbedürfnisse gesteuert wird, die in einem engen Zusammenhang stehen. Einerseits brauchen Kinder Schutz und Sicherheit, andererseits sind sie neugierig und wollen die Welt entdecken. Das sicher gebundene Kind kann sich sorglos der Entdeckung der Umgebung hingeben und (fast) überall sein Näschen und Händchen hineinstecken. Durch einen regelmäßigen Blickkontakt zur Mutter schätzt es die Situation ein. Mit zunehmendem Alter traut es sich von sich aus weiter von der Mutter weg. Forscher haben das ausgemessen: im zweiten Lebensjahr 7 Meter, im dritten Jahr 15 Meter und im vierten Jahr 21 Meter. Wirkt etwas gefährlich und die Mutter signalisiert durch ihren Gesichtsausdruck und ihre Bemerkung, dass nichts passieren kann, traut es sich mit seiner Entdeckerreise fortzusetzen. Zeigt die Mutter jedoch ebenfalls ein besorgtes Gesicht und warnt, hält das Kind inne bzw. wendet sich von diesem Gegenstand ab. Bei Angst oder Bedrohung versucht das sicher gebundene Kind, nahe bei der Mutter zu sein. Es ruft bzw. weint, um die Nähe zur Mutter wiederherzustellen. Falls es schon mobil ist, krabbelt und läuft es zu ihr. Das sicher gebundene Kind kann sich darauf verlassen, dass es beschützt ist und gleichzeitig nicht in seiner Neugier eingeschränkt wird. Bei unsicher gebundenen Kindern, die innerlich unter Stress stehen, lässt sich häufig ein oberflächliches und unkonzentriertes Spielen beobachten. Das Stresshormon Cortisol bremst das Nervenwachstum (Lernfähigkeit), das körperliche Wachstum und die Krankheitsabwehr. Cortisol gilt als Zellgift, welches als körpereigenes Doping nur zur Bewältigung von lebensbedrohlichen Notsituationen ausgeschüttet wird. Unsicher gebundene Kinder vertrauen weniger.
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
Sie reagieren nicht richtig auf die Warnungen oder Ermutigungen der Mutter und können Gefahrensituationen weniger gut einschätzen. Als erwachsene Menschen reagieren sie nicht auf ihre innere Stimme, oder der Zugang zu ihr ist blockiert. Manche unsicher gebundenen Kinder reagieren auf Neues mit besonders starker Angst und Ablehnung. Sie versuchen und üben weniger. Das schränkt sie in ihrer Neugier ein und behindert ihre Entwicklung. (Herbst 2009)
Zusammenfassend besagt die Bindungs-Explorations-Balance: Ist sich das Kind der Bindung (zur Mutter) sicher, ist sein Bindungsbedürfnis deaktiviert und sein Erkundungsdrang aktiviert. Und umgekehrt: Ist das Bindungsbedürfnis aktiviert und sucht das Kind die Nähe der primären Bezugsperson, wird der Erkundungsdrang deaktiviert (Abb. 6.13; Brisch 2009). Mit Blick auf traumabedingte Persönlichkeitsveränderungen und -störungen zitieren wir noch einmal aus dem Vortrag von Wolfgang Wöllner. Die für Bindungstraumatisierungen typischen Persönlichkeitsveränderungen – vor allem die verzerrte und inkohärente Wahrnehmung wichtiger Bindungsbeziehungen, der Entwicklung negativer Kognition über die eigene Person und die Aktivierung traumatischer Bindungsund Beziehungsmuster mit der Neigung zu Reviktimisierung und Traumawiederholung … lassen sich vor dem Hintergrund der Notwendigkeit verstehen, angesichts anhaltender Beziehungstraumatisierungen die Selbstregulierung aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die Bindungsbeziehung zu den wichtigsten Bezugspersonen zu schützen. Die chronischen Persönlichkeitsveränderungen lassen sich daher weitgehend als intrapsychische (autoregulative) Formen der Selbstregulierung auffassen. Scheitern diese intrapsychischen
Abb. 6.13 Bindung und Erkundung nach Karl Heinz Brisch
6.5 Formen von Trauma
267
Formen der Emotionsregulierung, werden auch interpersonelle Strategien notwendig, die – wenn sie ein bestimmtes Ausmaß erreichen – die psychosoziale Anpassung gefährden und Leiden erzeugen können. In diesem Falle sprechen wir von Persönlichkeitsstörungen. Während sich die für komplex traumatisierte Patienten typischen chronischen Persönlichkeitsveränderungen weitgehend als intrapsychische (autoregulative) Formen der Selbstregulierung verstehen lassen, die die interpersonelle Beziehungsregulation nicht notwendigerweise in Mitleidenschaft ziehen, finden wir bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen maladaptive und dysfunktionale Muster des Verhaltens im Dienste der Emotionskontrolle und der Beziehungsregulierung. Die Art und Weise, wie sie Interaktionspartner in ihre eigene Emotions- und Beziehungsregulierung einbeziehen, ruft bei diesen negative Emotionen und ablehnende bis feindselige Reaktionen hervor, die den emotionsregulatorischen Effekt in Frage stellen. Viele maladaptive und dysfunktionale Verhaltens- und Beziehungsmuster können wir daher als einen Versuch verstehen, unter den Bedingungen eines chronisch beziehungstraumatischen Umfeldes eine unzureichende intrapsychische Selbstregulierung doch noch zum Erfolg zu führen. Letztlich bewirken sie jedoch schwere Störungen der interpersonellen Interaktionen und einen erheblichen Leidensdruck, entweder auf der Seite des Patienten oder bei den Interaktionspartnern. (Wöller 2005, S. 157–171)
6.5.4.4 Symbiosetrauma Eine besondere Form des Bindungstraumas ist das Symbiosetrauma, das auch Trauma der Liebe genannt wird. Der Begriff der Symbiose setzt sich aus zwei altgriechischen Wörtern zusammen: „sym“ = gemeinsam und „bios“ = Leben. Das Symbiosetrauma entsteht während der Zeit der symbiotischen Beziehungsphasen des Kindes mit seinen primären Bezugspersonen, insbesondere mit der Mutter und natürlich auch schon vor der Geburt. Das Symbiosetrauma und die damit einhergehende Verstrickung entstehen, wenn die kleinkindlichen Bedürfnisse nicht erfüllt werden und die Mutter zugleich ihre Bedürfnisse an das Kind richtet und erwartet, dass das Kind die mütterlichen Bedürfnisse befriedigt. Der natürliche Prozess der ersten Abnabelung und späteren natürlichen Abgrenzung bis hin zur Autonomie wird dadurch gestört, zuweilen sogar zerstört. Im Kind (und späteren Erwachsenen) bleiben unerfüllte Bedürfnisse in zurück, die scheinbar nur befriedigt werden, wenn sich die Betroffenen um die Bedürfnisse anderer kümmern. Die Nabelschnur bleibt sinnbildlich als symbiotische Verbindung zur Mutter ein Leben lang – selbst dann noch, wenn die Mutter gestorben ist. Die Verbindung lebt in der betroffenen Person und sucht sich nun das passende Gegenüber. Während der Zustand der Symbiose in der frühen Beziehung von Mutter und Kind natürlich und für das Kind die Voraussetzung für sein Überleben bedeutet, kann das ungestillte Bedürfnis nach dieser besonderen Form der verschmolzenen Liebesbeziehung dazu führen, dass das Kind durch das wachsende Bedürfnis nach Nähe eine grenzüberschreitende Sensibilität für die Traumata seiner primären Bezugsperson oder sogar auch die der Großelterngeneration entwickelt (Abb. 6.14). Wir erinnern hier nochmals an die Konzepte von Perls, die wir eingangs erwähnt haben. Die Abbildung zeigt eine gesunde Entwicklung aus der Symbiose hinaus in das eigene Selbst. Gelingt diese Abnabelung nicht, kommt es zum Symbiosetrauma. Franz Ruppert schreibt dazu:
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
Abb. 6.14 Mutter- und Kind-Selbst nach Ernst Robert Langlotz
Da das Kind nach wie vor begierig den emotionalen Kontakt mit der Mutter und dem Vater sucht, gerät es unbewusst in den Kontakt mit abgespaltenen Traumaenergien und -gefühlen in seinen Eltern und fühlt sich durch die Mauern von deren Traumaabwehrstrategien hindurch. Auf diesem Weg saugt es sich mit den Traumagefühlen seiner Eltern voll und nimmt diese als Ersatz für die nicht existenten liebevollen Gefühle seiner Eltern. Wenn die Eltern zeitweise die Kontrolle über ihre traumatisierten Anteile verlieren, wird das Kind von diesen überflutet, wenn es in der Nähe seiner Eltern ist. Die Traumagefühle in der Psyche der Eltern sind für liebebedürftige Kinder wie ein schwarzes Loch, in das sie hineingesaugt werden. (Ruppert 2012, S. 108)
Langlotz weist bei Bindungs- und insbesondere bei Symbiosetrauma auf das Prinzip der Grenzüberschreitung hin, wie wir weiter oben bereits dargelegt haben. Hier möchten wir als Folge des Bindungs-/Symbiosetrauma nochmals auf die Tendenz zur symbiotischen Beziehung in der Partnerschaft zweier traumatisierter Menschen eingehen (Abb. 6.15). Die Beziehungspartner weisen beide eine durchlässige oder brüchige Ich-Grenze auf und agieren nicht selten aus der Identität ihres Introjekts heraus (mütterliche/väterliche Anteile der Missachtung/Lieblosigkeit/Selbstentwertung etc.). Langlotz schreibt hierzu an uns in einem Briefwechsel: Ohne Grenze spürt A mehr die Bedürfnisse von B als die eigenen. A orientiert sich danach – und hält das für Liebe. Dieselbe Liebe erwartet er von B. Aber diese Liebe ist gegenseitige Abhängigkeit, also das Gegenteil von Autonomie. B wird für A zum Introjekt und umgekehrt! So entsteht eine Bindung durch gegenseitige Abhängigkeit. Abhängigkeit macht Wut. Wohin mit der Wut? Den anderen will man nicht verletzen oder verlieren, also richtet sich die Wut zunächst gegen sich selbst: Schuldgefühle, Depression, Krankheit, später auch gegen den Anderen: seelische und körperliche Verletzungen. Abb. 6.15 Symbiotische Beziehung nach Ernst Robert Langlotz
6.5 Formen von Trauma
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Bindungstraumatisierte entwickeln in der Regel ein Höchstmaß an Sensibilität für ihr Gegenüber. Was sie allerdings selbst betrifft, so ist ihre Ich-Identifikation eher unterentwickelt, ihr Selbst ist in der Regel zugunsten des Sich-beliebt/liebenswert-Machens zur Seite gedrängt oder gar zugunsten eines Übergriffs des Gegenübers förmlich „ausgelagert“. Die Themen symbiotischer Beziehungen weisen in der Regel zwei Grundgedanken der Beziehungsgestaltung auf: • Ich muss Dich/Dir …, damit Du mich/mir … • Du musst mich/mir …, damit ich Dich/Dir … Daraus ergeben sich dann Beziehungsmuster wie: • • • •
Ich muss Dich retten, damit ich endlich geliebt (gerettet) werde. Ich muss alles für Dich tun, damit Du mich liebst/mir einen Wert gibst. Du musst mich verstehen, damit ich zu meiner Meinung stehen kann. Du musst mir helfen, weil ich ohne Dich nicht sein kann.
Für uns (die Autoren) ist jede Beziehung der versuchte Ausdruck von Liebe. Deshalb erkennen wir mit Blick auf die symbiotische Beziehung an, dass die Betroffenen zunächst so „lieben“, wie sie es gelernt haben, denn auch Liebe ist ein kultureller Akt, da, wo es um die Art ihrer Äußerung geht. Liebe will gelernt sein – tatsächlich hier im wörtlichen Sinn. Diese respektvolle Haltung gilt es aus unserer Überzeugung im Aufstellungsgeschehen einzunehmen. In unserer westlichen Kultur, die von Übergriffigkeit, Kontrolle und mannigfaltigen Zuwendungsbedingungen geprägt ist, ist es ein langer und auch mutiger Weg zur autonomen und selbstverantwortlichen Selbstliebe und damit zur reifen, bedingungslosen Liebe eines Gegenübers.
6.5.4.5 Bindungssystemtrauma Im Wesentlichen bezeichnet der Begriff Bindungssystemtrauma, dass ein Bindungstrauma (oder mehrere) innerhalb einer Familie von Generation zu Generation weitergegeben und damit zum (multiplen) Trauma des Familiensystems wird. Außerdem sind in einem Bindungssystemtrauma immer gleichzeitig Täter und Opfer vorhanden, da wo z. B. bereits bindungstraumatisierte Eltern mit Gewalt gegen ihre Kinder vorgehen. Hierzu hat Franz Ruppert eine Grafik entwickelt, die den Zusammenhang von Traumata über drei Generationen hinweg verdeutlicht (Abb. 6.16). 6.5.4.6 Zusammenfassung Unter der Perspektive der Frage: Welche Form von Trauma wurde erlebt? zeigt die Grafik in Abb. 6.17 noch einmal einen Überblick der Traumaformen und ihrer wichtigsten Aspekte.
270
6 Trauma und Traumafolgestörungen
Abb. 6.16 Entstehung von Bindungssystemtraumata nach Franz Ruppert
Abb. 6.17 Trauma als Erlebnis
6.6 Traumatherapeutische Ansätze für die Aufstellungsarbeit
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6.6 Traumatherapeutische Ansätze für die Aufstellungsarbeit 6.6.1 Einführung In diesem Abschnitt stellen wir verschiedene Ansätze und einige Beispiele für Aufstellungsstellungsformate vor, die sich für die Arbeit mit Trauma eignen.
6.6.2 Verbindende Ansätze und Aufstellungsformate Mit Blick auf die Frage, welche therapeutischen Ansätze für die Aufstellungsarbeit bereichernd oder hilfreich sein können, gibt es zunächst zwei wesentliche Gesichtspunkte, unter denen wir die Möglichkeiten betrachten können. Der eine Gesichtspunkt ist Verbindung. Der zweite Gesichtspunkt ist Abgrenzung. Verbindung ist aus unserer Sicht deshalb ein zentraler Aspekt für die Aufstellungsarbeit bei Trauma, weil der Hauptcharakterzug von Trauma zum einen die Spaltung, zum anderen die Verbindung mit einem Introjekt ist. Der Begriff „Spaltung“ verführt zu der Vorstellung, dass die mit dem Trauma verbundenen unerträglichen Gefühle wie Ohnmacht, Hilflosigkeit, Scham und Wut danach nicht mehr vorhanden sind. Aber das ist nicht der Fall, sie existieren weiter, nur außerhalb unserer Wahrnehmung. Zudem muss nach der „Spaltung“ sehr viel Energie darauf verwendet werden, diese schmerzlichen Gefühle fortwährend aus dem Bewusstsein auszublenden. Das ist, als würde man versuchen, einen aufgeblasenen Ball fortwährend so tief unter die Wasseroberfläche gedrückt zu halten, dass ihn niemand, sieht … nicht mal wir selbst. Das kostet nicht nur viel Kraft, sondern bindet auch viel Aufmerksamkeit und bedeutet eigentlich: Im Versuch, diese Gefühle nicht wahrzunehmen, sind wir ständig mit ihnen beschäftigt. (Niederwieser 2019)
Gehen wir noch einmal zurück auf das Ruppert’sche Modell der Spaltung in einen traumatisierten, einen Überlebens- und einen gesunden Ich-Anteil, so finden wir entsprechend eine Verteilung von Trauma-/Lebensbewältigungsstrategien in den jeweiligen Anteilen (die wir hier exemplarisch aufführen – ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Vollständigkeit). Der traumatisierte Ich-Anteil • • • •
speichert die traumatische Erinnerung, bleibt im Lebensalter zum Zeitpunkt des Traumas stehen, sucht unbewusst und andauernd nach einem Ausweg aus dem Trauma, kann jederzeit aktiviert bzw. getriggert werden.
Der Überlebens-Ich-Anteil
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• • • • • • • • •
6 Trauma und Traumafolgestörungen
sichert das Überleben in der Traumasituation, verdrängt und leugnet das Trauma, vermeidet die traumatische Erinnerung, kontrolliert die traumatisierten Ich-Anteile, kontrolliert andere Menschen, ist wachsam, überaufmerksam und eher zurückgezogen, sucht nach Kompensationen bei anderen Menschen, neigt zu Genuss- und Suchtmittelkonsum, ist oft latent aggressiv.
Der gesunde Ich-Anteil • • • • • • • •
nimmt die Realität offen wahr und kann Gefühle angemessen ausdrücken, vertraut anderen Menschen, geht emotionale Bindungen ein und entwickelt sie, löst sich aus einer verstrickten Bindung, reflektiert sein Handeln, übernimmt in angemessener Weise Verantwortung, ist ehrlich und klar, hat die Hoffnung auf gute Lösungen von Problemen.
Mit Blick auf diesen Spaltungszustand hat Franz Ruppert die Methode der AnliegenAufstellung entwickelt. Während er in den Anfängen das Anliegen durch eine Stellvertreterposition ins Feld gestellt hat, ist er in der jüngeren Zeit dazu übergegangen, die einzelnen Wörter eines Anliegens aufzustellen.
6.6.2.1 Aufstellung des Anliegens nach Franz Ruppert Bei der Aufstellung des Anliegens (Abb. 6.18) steht der Klienten seinem Anliegen gegenüber, und im Verlauf der Aufstellung zeigt sich dann, ob weitere Personen oder Aspekte hinzugenommen werden. So kann es zum Beispiel sein, dass aus dem Anliegen „Ich möchte einen guten Platz haben“ die Erkenntnis erwächst, dass es um Zugehörigkeit zur eigenen Familie bzw. um die symbiotische Nähe zur Mutter geht, und dadurch ein Stellvertreter für die Familie oder die Mutter hinzugenommen wird. 6.6.2.2 Aufstellung des Anliegen-Satzes nach Franz Ruppert Bei der Aufstellung des Anliegen-Satzes begegnet der Klient den einzelnen Wörtern seines Anliegens. Heißt zum Beispiel sein Anliegen „Ich möchte mich lieben“, dann werden die vier Wörter des Anliegens auf ein Blatt Papier oder eine Tafel geschrieben. Entscheidend ist für Ruppert dabei auch, ob das Anliegen des Klienten mit einem Punkt, einem Ausrufungszeichen oder ohne Satzzeichen endet, denn auch diese Elemente werden Teil der dann folgenden Aufstellung sein.
6.6 Traumatherapeutische Ansätze für die Aufstellungsarbeit
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Abb. 6.18 AnliegenAufstellung (A = Anliegen, K = Klient)
Für jedes Wort und für jedes Satzzeichen im Anliegen-Satz steht im Feld ein Stellvertreter, und der Klient begegnet den Stellvertretern in einer von ihm gewählten Reihenfolge, die sich daraus ergibt, welches Wort für den Klienten zunächst das wichtigste/ stärkste erscheint. In Abb. 6.19 sind die Stellvertreter in der Reihenfolge der Wörter im Anliegen-Satz nummeriert. Franz Ruppert beschreibt das von ihm entwickelte Aufstellungsformat auf seiner Website so: Derzeit arbeite ich mit der Anliegenmethode auf dem Hintergrund der Identitätsorientierten Psychotraumatheorie (IoPT) in Gruppen folgendermaßen: • Wer eine eigene Arbeit für sich machen möchte, überlegt sich einen „Anliegensatz“. Es kann gegebenenfalls auch ein Bild oder eine Zeichnung sein. • Diesen schreibt bzw. malt er/sie dann auf ein Whiteboard. • Das Anliegen sollte nicht mehr als 7 Elemente enthalten (Maximum 9). • Sie/Er wählt dann für alle Elemente des Anliegens einen Stellvertreter/eine Stellvertreterin aus und gibt dann das Startzeichen für den Aufstellungsprozess. • Ohne zu sprechen finden die Stellvertreter die Grundstruktur und -dynamik des Anliegens heraus. • Dann begleite ich den Aufstellenden zu den einzelnen Stellvertretern. Er bekommt von diesen die Essenz ihrer Erfahrung in der Repräsentation mitgeteilt. Der/die Aufstellende kann mit den Repräsentanten Dialoge führen. Ich begleite diesen Prozess aufgrund meines Wissens und meiner Erfahrungen und ermutige gegebenenfalls den/die Aufstellende(n), seine Gefühle zu zeigen. Auf diese Weise ergibt sich ein differenziertes Bild der psychischen Struktur des Menschen, der für sich arbeitet. Es werden in der Regel seine gesunden psychischen Anteile ebenso sichtbar wie seine
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
Abb. 6.19 Anliegensatz-Aufstellung
traumatisierten Anteile und seine Trauma-Überlebensstrategien. Das Anliegen spiegelt oft einen Ausschnitt aus der Traumabiografie der aufstellenden Person wieder [sic!]. Je nach Anliegen kann er in tiefe emotionale Prozesse kommen oder auf einer eher kognitiven Ebene neue Erkenntnisse und Einsichten über sich selbst gewinnen. Die Anliegenmethode gewährleistet, dass durch die therapeutische Arbeit keine Retraumatisierungen stattfinden und die betreffende Person in dem ihr angemessenen Tempo selbstbestimmte Entwicklungsschritte machen kann. Mittlerweile ist das Maximum möglicher Informationseinheiten für das Anliegen auf 6 begrenzt. Bei Einzelsitzungen wandle ich dieses Verfahren je nach den Vorlieben des Menschen ab, der an sich selbst arbeitet. Der Anliegensatz steht hier ebenfalls im Mittelpunkt. Ich biete mich an, mit einzelnen Worten in Resonanz zu gehen. Für die einzelnen Worte können auch Platzhalter genommen werde, auf die sich die betreffende Person stellt, um neue Informationen über sich in Erfahrung zu bringen. (Ruppert 2019b)
6.6.2.3 Körper-Seele-Geist-Aufstellung nach Stephanie Hartung Wir haben in unserer Arbeit mit Trauma ein weiteres Verbindungsformat entwickelt, das wir Körper Seele Geist nennen.
Mehr davon Detaillierte Informationen zu diesem Format finden Sie in Kap. 5 („Biografie, Selbst, Persönlichkeit“).
6.6.2.4 Zielaufstellung nach Hans Dieter Dicke Der Bonner Pädagoge Hans Dieter Dicke hat das Format der Zielaufstellung entwickelt, das sich in unserer Arbeit als sehr hilfreiches Format bei Trauma erwiesen hat – insbesondere da, wo Trauma der Erreichung der eigenen Wünsche und Ziele „im Weg steht“.
6.6 Traumatherapeutische Ansätze für die Aufstellungsarbeit
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Bei der Zielaufstellung werden Stellvertreter für folgende Elemente in einer festgelegten Anordnung aufgestellt: Das Ziel steht gegenüber dem Stellvertreter des Klienten. Zwei Hindernisse (H1, H2) stehen auf der rechten Seite, zwei unterstützende Aspekte (U1, U2) auf der linken Seite. Der Klient selber kann sich in sein eigenes Feld stellen, ohne die Position seines Stellvertreters einzunehmen (Abb. 6.20). Erst nachdem der Klient die beiden Hindernisse und die beiden unterstützenden Aspekte aufgestellt hat, wird er gebeten, diese konkret zu benennen. Der „Überraschungseffekt“ sorgt dafür, dass die Benennung der Elemente intuitiv, aus einem inneren Wissen um die Zusammenhänge geschieht. Die Doppelbesetzung von Stellvertreterklient und Klient ermöglicht dem Klienten die Betrachtung 2. Ordnung bei zeitgleicher Wahrnehmung der Gefühle, die bei ihm auftauchen, wenn er sich unmittelbar im Geschehen befindet. Anders als die anderen Stellvertreter, die an den ihnen zugewiesenen Positionen stehen bleiben sollen, können sich der Klient und sein Stellvertreter frei durch das Feld bewegen.
6.6.2.5 Aufstellung in der Imagination Für die Einzelarbeit eignet sich die Aufstellung in der Imagination, bei der wir den Klienten anregen, seine körperlichen Wahrnehmungen und Gefühle in beschreibende Bilder zu übertragen. Parallel verankern wir als Ressource einen Bereich in seinem Körper, der sich gut, angenehm, sicher, warm anfühlt.
Abb. 6.20 Zielaufstellung nach Hans Dieter Dicke
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
Abb. 6.21 Aufstellung in der Imagination
Wir regen den Klienten an, sich vorzustellen, wie er sich förmlich von außen nach innen stülpt und in sich hineingleitet. Wir fragen nach Form und Textur, Farbe und Helligkeitsgrad dessen, was sich zeigt, und regen an, damit in Kontakt zu gehen („bekommt es mit, dass Du da bist/es anschaust?“). Wir fragen auch nach der Temperatur eines erlebten Raumes oder nach möglichen Lichtquellen (Abb. 6.21). Während der Klient in seiner Vorstellung im Inneren seines Köpers ist, kann es immer wieder geschehen, dass biografische Erinnerungsfetzen auftauchen. Wir wiederholen, was er sagt, und richten seine Aufmerksamkeit wieder unmittelbar auf die Wahrnehmungen im Körper („und wie fühlt es sich jetzt an, nachdem Dir das eingefallen ist, hat sich etwas verändert? Wo, wie spürst Du das?“). Wenn sich zeigt, dass der Klient durch eine Vorstellung zu sehr erregt wird oder seine Angst zu groß wird, leiten wir ihn an, als „neutraler“ Beobachter, als reines Bewusstsein auf das zu schauen, was er sieht und durch Atmen den Raum zu vergrößern. Zugleich richten wir seine Aufmerksamkeit immer wieder auch auf Bereiche mit angenehmen Körperwahrnehmungen – wir lassen seine Aufmerksamkeit zwischen Körper und Innenraum pendeln. In der Regel stellen sich durch die Kontaktaufnahme und das in Verbindung-Gehen deutliche Entlastungsmomente ein. Wir nutzen die Arbeit insbesondere dann, wenn der Klient eine akute Belastung erlebt, von der er sich überwältigt fühlt.
6.6.2.6 Zusammenfassung: Verbindungsformate für Traumaaufstellungen Wir haben hier beispielhaft Formate vorgestellt, die den Fokus auf die Verbindung abgespaltener Persönlichkeitsanteile setzen. Den Ansatz der „Verbindung mit dem Selbst“ von Ernst Robert Langlotz führen wir im folgenden Abschn. 6.6.3 auf, weil hierbei die Abgrenzung und schließlich die Trennung vom Trauma-Introjekt die entscheidende Voraussetzung für die Wiedervereinigung von Klient und Selbst darstellen.
6.6 Traumatherapeutische Ansätze für die Aufstellungsarbeit
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6.6.3 Abgrenzende Ansätze und Aufstellungsformate Neben den verbindenden Formaten gibt es bei Trauma auch die Möglichkeit, mit trennenden abgrenzenden Formaten zu arbeiten. Wir haben bereits weiter oben über das Thema der Grenzverletzung bei Trauma sowie über das Trauma-Introjekt geschrieben – zwei Aspekte, die in der Traumaarbeit von Langlotz die zentrale Rolle spielen. Für den Ablauf der Aufstellung hat Langlotz einen dezidierten Algorithmus* mit festgelegter Reihenfolge entwickelt (*Ein Algorithmus ist eine Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems oder einer Gruppe von Problemen. Er besteht aus mehreren Einzelschritten). Über den Ablauf seiner Arbeit informiert Langlotz umfassend auf seiner Website. Er zeigt auch Videos von Vorträgen und Aufstellungsprozessen, die wir als Lehrmaterial empfehlen (Langlotz 2019). Wir informieren hier über die besondere Qualität seiner Abgrenzungsübungen. Nachdem sich der Klient vom Trauma-Introjekt getrennt hat, indem er es aus seinem Raum entfernt hat, muss er sich nun in Abgrenzung üben. Die Grenze kann in der Aufstellung mithilfe eines Seils dargestellt werden, und in der Regel beruhigen sich Klienten (bzw. deren Stellvertreter), die in einer Aufstellung Angst vor einer Grenzüberschreitung wahrnehmen, wenn man ihnen ein schützendes Seil auf den Boden legt, das ihnen symbolisch zeigt, dass diese Grenze nicht von außen überschritten werden kann – und dass sie selber die Grenze nicht mehr überschreiten sollten. Die Grenze ist dabei immer zweifach – die erste markierte die Körpergrenze, die zweite die Auragrenze des Klienten (Abb. 6.22). Langlotz arbeitet mit dem Versuch der willentlichen Grenzüberschreitung, indem er den „Eindringling“ auf den Klienten zulaufen lässt, der nun die Aufgabe hat, ihn an der Seilgrenze zur Aura mit einem lauten Ruf und den Händen bei den Schultern zu stoppen. Abb. 6.22 Abgrenzungsseil
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„Stell Dir vor, Du bist ein wildes Tier, das seine Grenzen verteidigt, was wärest Du?“, fragt Langlotz den Klienten und fordert ihn dann auf, im Moment, in dem er sein Gegenüber stoppt, wie ein wildes Tier zu brüllen. Nachdem die Übung einige Male wiederholt wird, kehrt sich der Angriff um: Der Klient lernt, Grenzen seines Gegenübers einzuhalten, der wiederum nun auf dieselbe Weise den Klienten davon abhält, dessen Grenze zu überschreiten. Wir (die Autoren) haben die Aufstellungsübungen mit Langlotz gemacht und können bestätigen, dass sich die deutlich spürbare Körperabwehr in beide Richtungen bei lautem Rufen in das physische Gedächtnis förmlich einbrennt und noch Tage danach wirkt. Dadurch ist die Aufmerksamkeit in Bezug auf mögliche Grenzüberschreitungen geschärft – sowohl vom Klienten zu anderen als auch umgekehrt – und führt zu nachhaltiger Selbstbehauptung bzw. Achtung der Grenzen anderer. Das Prinzip der anschließenden systemischen Selbstintegration fasst Langlotz noch einmal in einem Briefwechsel mit uns so zusammen: Wenn das ichfremde Trauma-Introjekt das Selbst verdrängt hat, dann ist zur Traumalösung beides erforderlich, und zwar im zeitlichen Zusammenhang: Die Unterscheidung Selbst – Nicht-Selbst und daraus folgend die Entfernung und Abgrenzung des toxischen, inkompatiblen Trauma-Introjektes und daran anschließend die Verbindung mit den bisher abgespaltenen – und oft abgewerteten – Selbstanteilen. Dieser Prozess erfordert eine präzise Abfolge von Interventionen, die ich daher – in Übereinstimmung mit der … Gedächtnis-Rekonsolidierung – als Lösungsalgorithmus bezeichne.
In seinen Aufstellungen kann es – z. B. bei einem Trauma, das mit Mutter oder Vater oder beiden Eltern zu tun hat – z. B. diese Positionen geben (Abb. 6.23): • • • • •
das kindliche Selbst (kS), das erwachsene Selbst (eS), das Trauma (wird mit einem Stuhl repräsentiert, optimal: ein Hocker), die Mutter/der Vater, der Klient (selbst, nicht stellvertreten).
Abb. 6.23 Selbstintegration nach Ero Langlotz 1
6.6 Traumatherapeutische Ansätze für die Aufstellungsarbeit
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Abb. 6.24 Selbstintegration nach Ero Langlotz 2
Damit der Klient erfahren kann, dass das Trauma in die Vergangenheit gehört und dass er fortan keine Grenzüberschreitung mehr zulässt, kann auch hier das Abgrenzungsseil eingesetzt werden. Schrittweise kann der Klient dann sein kleines Selbst und sein großes Selbst kennenlernen und beide integrieren. Dabei adressiert Langlotz in seiner Arbeit betont das kognitive Vermögen des Klienten als „gesunden Menschenverstand“ – „auf Wahrnehmungen und Gefühle sollte man sich bei einem Traumatisierten nicht verlassen, sie sind ja traumatisiert“, hat er uns bei einer Begegnung gesagt (Abb. 6.24).
Mehr davon Als weiteres Integrationsformat, das – neben seinem Fokus auf Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung – auch der therapeutischen Arbeit mit Trauma dient, empfehlen wir hier noch den Lebensintegrationsprozess von Wilfried Nelles, den Sie ausführlich in Abschn. 5.2.3 dargestellt finden.
6.6.4 Trauma und somatische Therapie Mit Blick auf die Erkenntnisse, die Peter Levine mit seinem Ansatz des Somatic Experiencing® möglich gemacht hat, gilt die Einbeziehung des Körpers in jede traumatherapeutische Arbeit förmlich als ein „Muss“.
Die Einbeziehung des Körpers in die traumatherapeutische Arbeit ist ein Muss.
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
Die neurologischen Abläufe im Hirn bei Trauma haben wir oben ausführlich beschrieben – die menschliche Reaktion auf Bedrohung ist primär instinktiv und biologisch (neurophysiologisch) und erst sekundär psychisch und kognitiv. Hier richten wir deshalb den Fokus noch einmal auf die Übererregung des Nervensystems durch Trauma und im Folgenden auf die sich daraus ergebenden somatischen Therapieansätze. Somatic Experiencing® wurde in den 1970er-Jahren von Peter Levine für die Arbeit mit traumatisierten Menschen entwickelt. Zugrundeliegend sind die ab [sic!] damals neuesten Erkenntnisse der Neurophysiologie. Wesentlich ist die Beobachtung, dass Tieren in freier Wildbahn innere Mechanismen zur Verfügung stehen, die den hohen nervlichen Erregungspegel, der mit Verteidigung, Flucht oder rettender Erstarrung (im Englischen „fight, flight, freeze“) einhergeht, anschließend wieder neutralisieren. Der Mensch verfügt über Regulationsmechanismen, die mit denen von Tieren praktisch identisch sind. Ist ein Ereignis jedoch so überwältigend, dass wir nicht kämpfen oder fliehen können, dann werden diese Reflexe zwar begonnen, kommen aber nicht zur Ausführung. Als letzte Strategie bleibt uns nur übrig, uns zu versteifen, zu erstarren: Der natürliche Totstell-Reflex. Hält diese Erstarrung zu lange an, kann sich die eingekapselte/eingefrorene Energie nicht entladen. Die hohe Aktivierung im Nervensystem bleibt bestehen … Somatic Experiencing® beschäftigt sich nicht mit verdrängten Gefühlen, Bedürfnissen, emotionalen Konflikten und Einsicht in psychologische Zusammenhänge, sondern mit der Lenkung der Aufmerksamkeit des Patienten auf die Wahrnehmung seines Körpers und der dort angesiedelten Empfindungen. (Brockmüller 2019, S. 2)
Somatic Experiencing® lenkt die Aufmerksamkeit des Klienten auf die Wahrnehmung der Empfindungen in seinem Körper.
Die hier so eindrücklich betonte Wendung des Therapeuten – weg vom psychologischen hin zum physiologischen Verständnis des traumatisierten Klienten – ist auch aus unserer Sicht maßgeblich entscheidend für die Arbeit mit Trauma. Sie ist zugleich auch ein Grund dafür, warum insbesondere die Aufstellungsarbeit eine hilfreiche Methode im Rahmen traumatherapeutischer Maßnahmen sein kann – unter der Maßgabe, dass auf jegliche analytischen Erklärungen und Interpretationen sowie systemische Ordnungsvorstellungen verzichtet wird und der Fokus im Wesentlichen auf Körperwahrnehmungen und deren Verinnerlichung gerichtet bleibt. Wir haben in diesem Zusammenhang auch gute Erfahrungen mit einer Kombination aus Gestalttherapie und Aufstellungsarbeit gemacht. Wir regen unsere Klienten z. B. an, Körperwahrnehmungen in ihrem Ausdruck zu verstärken – nicht im Interesse einer Katharsis, sondern vielmehr, um die Wahrnehmungen spürend zu verinnerlichen und die Bewusstheit darüber zu vertiefen. Zugleich lassen wir die Aufmerksamkeit des Klienten pendeln – zwischen den Stellen im Körper, die sich gut anfühlen (Ressourcen), und den Körperwahrnehmungen, die durch willentliche Bewegung im Ausdruck verstärkt werden. Weiter unten lesen Sie weitere Aspekte zum Pendeln. Das Ziel der Fokussierung auf Körperwahrnehmung ist die Freisetzung der Bewegungen, die durch die schockierte Erstarrung im traumatischen Empfinden
6.6 Traumatherapeutische Ansätze für die Aufstellungsarbeit
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u nterbrochen wurden. Die Entladung der Überlebensenergie, die in der Schockstarre eingefroren wird, ist der wesentliche Schritt zu einem geänderten Lebensgefühl des sicheren „Self-Containments“ (ich kann mich selber halten). Peter Levine schreibt hierzu: Für eine wirksame Therapie ist es unabdingbar, dass wir würdigen, wie sehr Traumata den instinktiven Reaktionen des Körpers auf eine mutmaßliche Bedrohung anhaften. Wir müssen sehen, wie eine Fixierung auf bestimmte Emotionen stattfindet, vor allem auf Emotionen der Angst, des unfasslichen Entsetzens (Terror) und des Zorns sowie auf gewohnheitsmäßige aktive Stimmungszustände, die sich in Depression, Bipolarität und Verlust an Lebensenergie und schließlich in diversen selbstzerstörerischen und sich unablässig wiederholenden Verhaltensweisen niederschlagen. (Levine 2016, S. 9–11)
Mit Blick auf die Ansätze der somatischen Therapie zeigen wir abschließend die zentralen Aspekte einer körperorientierten Traumaarbeit im Rahmen der Aufstellungsarbeit. Wir haben sie hier auf der Grundlage einer umfassenden Beschreibung der somatischen Psychologie bei posttraumatischen Belastungsstörungen von Dr. Arielle Schwarz zusammengefasst (Schwarz 2019).
6.6.4.1 Erdung Die von Alexander Lowen, Entwickler der Bioenergetik, vorgestellte Erdung bezieht sich auf unsere Fähigkeit, uns selbst als verkörpert zu erleben, den Körper zu spüren, die Füße auf der Erde zu spüren und das Nervensystem zu beruhigen. 6.6.4.2 Felt Sense Der Begriff wurde von Eugene T. Gendlin geprägt und beschreibt die physische Erfahrung, ein körperliches Wahrnehmen eines Ereignisses, eines Zustandes oder einer Person. Unsere Erinnerungen an überwältigende Erlebnisse sind als lückenhafte Erfahrungen in unserem Körper gespeichert. Durch die Konzentration auf die Körperwahrnehmung – „was nimmst Du jetzt wahr?“ – wird die Aufmerksamkeit auf das unmittelbare Aufspüren und körperliche Erleben im Hier und Jetzt gelenkt. 6.6.4.3 Entwicklung und Vertiefung des somatischen Bewusstseins Die einfache Sensibilisierung für körperliche Empfindungen schafft Veränderungen. Sobald wir uns unserer Wahrnehmung eines Körpergefühls oder eines Spannungsmusters bewusstgeworden sind, vertiefen wir das Erlebnis, indem wir die Empfindungen sanft verstärken. Wir können zum Beispiel unsere Aufmerksamkeit auf den Atem richten, einen Ton machen oder Bewegungen hinzufügen. Entscheidend ist das individuell adäquate Timing für Bewusstwerdung und -vertiefung (Abschn. 6.6.4.5 Ressourcenorientierung/Titration).
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6.6.4.4 Auf der beschreibenden Ebene bleiben Während frühe somatische Therapeuten Interpretationen auf der Grundlage von Spannungs- oder Haltungsmustern anstellten, widmen sich moderne somatische Therapeuten der Beschreibbarkeit der somatischen Erfahrung des Klienten. 6.6.4.5 Ressourcenorientierung Bei der Ressourcenorientierung geht es für den Klienten darum, das Gefühl der Sicherheit zu erhöhen. Woher weiß er, wann er sich friedlich oder entspannt fühlt? Wie fühlt sich sein Körper dabei an? Titration Titration dient der Verlangsamung des Verarbeitungsprozesses. Da, wo im traumatischen Erleben etwas zu schnell, zu plötzlich, zu unerwartet geschehen ist, konzentriert sich die Titration auf die Umkehrung dieses Erlebens. Wahrnehmung und Aufmerksamkeit werden zugunsten einer Beruhigung des Systems verlangsamt. Die Titration beschreibt dabei einen Prozess, bei dem kleine bis kleinste Mengen an erregtem Traumaempfinden zu einem Zeitpunkt auftreten, mit dem Ziel, die Spannung abzubauen. Sie wird durch „pendelnde“ oder oszillierende Aufmerksamkeit zwischen dem Gefühl der Not und dem Gefühl der Sicherheit und Ruhe erreicht. Pendeln Die Möglichkeit, das Pendeln als zentrales Moment in die traumatherapeutische Arbeit zu integrieren, hat Hedi Leitner-Diel eindrücklich in ihrem Beitrag „Somatic Experiencing® in der Aufstellungsarbeit“ in der DGfS-Zeitschrift Praxis der Systemaufstellung beschrieben: Es gibt eine natürliche Pendelbewegung des Organismus, vom sicheren, ressourcenvollen Zustand zu dem Zustand, den das traumatische Ereignis hervorruft. Im SE wird diese Bewegung vom Therapeuten aufgegriffen und unterstützt und bei Bedarf forciert. Wichtig dabei ist ein guter und sicherer Ausgangszustand mit verlässlichen Ressourcen, ehe man sich vorsichtig der äußersten Schicht des Traumas nähert. Sehr wirkungsvolle Ressourcen sind Ressourcen, die im Verlauf des traumatischen Ereignisses selbst zu finden sind; zum Beispiel ein beruhigender Arzt nach einem Unfall oder die Ressourcen, die im Körper per Felt Sense spürbar sind. Die instinktiven Ressourcen für erfolgreiche Selbstverteidigung, die im ursprünglichen Ereignis überwältigt wurden, werden wieder verfügbar. Beim Pendeln wird, wenn das Pendel zur Seite des traumatischen Ereignisses schwingt, Stück für Stück traumatisches Material aufgearbeitet. Auf der anderen sicheren Seite der Ressourcen kommt es dazwischen immer wieder zu Erholung, Regeneration, zum Auftanken, zur Verinnerlichung und Reorganisation. (Leitner-Diel 2010)
6.6 Traumatherapeutische Ansätze für die Aufstellungsarbeit
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Bewegung der Entladung – Sequenzierung Wenn somatische Spannungen sich zu entladen oder zu lösen beginnen, bewegen sie sich durch den Körper. Verspannungen im Bauch können sich zur Brust bewegen und werden dann zu Verspannungen im Hals und in der Stirn. Manchmal zittern Hände oder Beine. Die Spannung löst sich manchmal in Form von Tränen, der Fähigkeit, freier zu atmen oder auch einem Gefühl der Leichtigkeit. Bewegung und Prozess Somatische Therapien nutzen unsere angeborene Heilkraft, indem sie uns einladen, der Geschichte zuzuhören, die der Körper erzählt. Unsere Haltungen, Gesten und die Nutzung des Raumes geben einen Einblick in unsere Erfahrung. Zum Beispiel wird ein Klient, der einen Impuls zum Hocken, Kauern oder Verstecken hat, eingeladen, sich bewusst an diesen Abwehrbewegungen zu beteiligen. Danach bemerkt er vielleicht einen neuen Impuls, mit den Armen zu drücken oder zu treten. Wenn er sich intuitiv wieder einlässt, können diese Schutzbewegungen mit einem neu gefundenen Gefühl der Ruhe in seinem Körper gelöst werden.
6.6.4.6 Grenzentwicklung Wenn wir unserem somatischen Bewusstsein erlauben, das Tempo der Therapie zu bestimmen, müssen wir im Hier und Jetzt arbeiten. Die Konzentration auf den gegenwärtigen Moment befähigt den Klienten, auf sich ändernde Bedürfnisse zu reagieren, und hilft ihm, klare Grenzen zu entwickeln. Eine Grenze erlaubt es ihm, sein „Ja“ und sein „Nein“ so zu erkennen und zu sprechen, dass er sich geschützt und stark fühlt. 6.6.4.7 Selbstregulierung Je bewusster der Klient mit dem Körper in emotionalen Stresssituationen verbunden bleibt, desto besser wird er in der Lage sein, die emotionale Intensität zu regulieren (effektiv zu reagieren) (Abb. 6.25).
Abb. 6.25 Zentrale Aspekte der somatischen Therapie
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6 Trauma und Traumafolgestörungen
6.6.4.8 Abschließend So vergleichsweise jung unser vertieftes Verständnis von Trauma noch immer ist, so sehr eignen sich die bereits gefundenen wertvollen Ansätze der Traumatherapie für die Kombination mit oder die Integration in Aufstellungsarbeit. Für die Weiterbildung in Aufstellungsarbeit ist eine umfassende Kenntnis über Trauma entscheidend. Dabei sollte der Fokus in allererster Linie auf die Körperwahrnehmung und die Präsenz gelenkt werden. Außerdem brauchen Aufsteller aus unserer Erfahrung auch die Bereitschaft, angesichts der hier beschriebenen therapeutischen Aufstellungsformate im „offenen Experimentiermodus“ zu bleiben und eigene wertvolle Erfahrungen zu neuen Erkenntnissen zu formulieren.
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Aufstellungssettings, Funktionen und Formate
Inhaltsverzeichnis 7.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Aufstellungssettings. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Aufstellungsfunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Aufstellungsarten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Sonderformate. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Online Aufstellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7.1 Einführung In diesem Kapitel beschreiben wir die möglichen Settings, in denen Aufstellungen stattfinden können. Wir zeigen die verschiedenen Funktionen von Aufstellungen, und wir stellen abschließend die verschiedenen Aufstellungsformate nach verschiedenen Ordnungskriterien zusammen. Hier gilt, was für alle anderen Kapitel auch gilt: Wir möchten Ihnen nicht Ihre eigene Arbeit erklären, wir haben lediglich alle wesentlichen Aspekte zu diesem Thema zusammengetragen, die Sie in Ihren Weiterbildungen die Teilnehmer lehren können.
Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht. https://doi.org/10.1007/978-3662-61192-0_7 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hartung und W. Spitta, Lehrbuch der Systemaufstellungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61192-0_7
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7 Aufstellungssettings, Funktionen und Formate
7.2 Aufstellungssettings Im Wesentlichen gibt es zwei Settings für Aufstellungen: in der Gruppe oder in der Einzelarbeit. Innerhalb dieser Settings gibt es dann wiederum verschiedene Möglichkeiten, die wir im Folgenden vorstellen.
7.2.1 Aufstellung in der Gruppe Da wir in unseren Weiterbildungen andauernd in der Gruppe zusammensitzen, erfahren die Teilnehmer automatisch, welche Möglichkeiten die Aufstellungen in der Gruppe bieten und wie sie ablaufen.
Mehr davon In Kap. 2 („Methodik der Systemischen Aufstellung“) haben wir ausführlich den Aufstellungsprozess anhand eines Gruppensettings beschrieben.
Neben den Aufstellungen, die im Gruppensetting stattfinden, gibt es – insbesondere in der Weiterbildung – auch noch die Aufstellungen, die in der Gruppe mit der Gruppe stattfinden. Bei diesen Formaten wird die Gruppe zum Beobachter ihrer selbst und macht eine Gruppen-Selbsterfahrung. Für unsere Gruppen ist immer wieder auch die „Selbstbetrachtung der Gruppe als Gruppe“ ein Thema. Hierfür nutzen wir ein Aufstellungsformat, das die möglichen gruppendynamischen Prozesse verdeutlicht und ursprünglich aus dem Bereich der Teamentwicklungsprozesse stammt.
7.2.1.1 Ich in der Gruppe Das Format „Ich in der Gruppe“ zeigt einerseits die Reflexion über Rollenverteilungen in Gruppen. Es verdeutlicht auch, wie Prioritäten entstehen und in welchem Verhältnis diese zur Gruppe stehen können. Ausgangssituation Zu Beginn bilden die Teilnehmer einen Kreis und halten einander an den Händen. Sie sollen sich vorstellen, dass über ihnen ein Beobachter als Kontrollinstanz schwebt. Nun bekommt die Gruppe nacheinander verschiedene Aufgaben. Mal sollen sie sich zu einem Dreieck, dann zu einem Viereck oder zu einem Buchstaben formieren (Abb. 7.1). Prozess Die Teilnehmer beobachten, wie sie sich selbst und wie sich andere bei der Bewältigung der Aufgaben verhalten – insbesondere unter dem Aspekt des B eobachtetWerdens. In der Gruppe bilden sich schnell Führer und Mitläufer heraus, dominant oder sozial Ausgerichtete, eher stille und bevorzugt laut agierende Personen. Zugleich kann beobachtet werden, dass sich das System optimiert und immer effizienter bei der Bewältigung der Aufgaben wird.
7.2 Aufstellungssettings
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Abb. 7.1 Ich in der Gruppe
Reflexion Obwohl die einzelnen Aufgaben einfach und keinesfalls von existenzieller Bedeutung sind, scheint sich der der Gruppendruck, die Aufgaben zu erfüllen, kontinuierlich zu verstärken – von Aufgabe zu Aufgabe scheint deren Bedeutung zu wachsen – sie werden als solche überhaupt nicht in Frage gestellt. Im Anschluss an die Übung tauschen sich die Teilnehmer zu zweit aus und berichten anschließend vom Ergebnis ihrer Gespräche im Plenum. Die Übung eignet sich auch, um darauf aufmerksam zu machen, wie schnell Aufsteller dazu tendieren, das Anliegen des Klienten als ihre „Lösungsaufgabe“ zu betrachten, vor allem dann, wenn sie vor der Gruppe oder gar vor Kollegen eine Aufstellung leiten.
7.2.1.2 Gruppe ist die Mutter Die Fähigkeiten, sich in Gruppen zurechtzufinden, hängen zwar im Wesentlichen vom Grad der emotionalen und sozialen Intelligenz ab. Sie sagen aber auch etwas über das Verhältnis der Teilnehmer zu ihrer Mutter, denn: Gruppe ist die Mutter. Das ist unsere immer wiederkehrende Erfahrung und wahrscheinlich inzwischen systemisches Gemeingut – wiewohl wir in unseren Weiterbildungen immer wieder erfahren haben, wie schnell dieser Aspekt unberücksichtigt bleibt. So sehr wir einerseits darauf achten, keine gruppendynamischen Prozesse zu fördern, so sehr achten wir gleichzeitig bei den einzelnen Teilnehmern auf ihr Verhalten in der Gruppe und reflektieren das mit ihnen gemeinsam zu einem späteren Zeitpunkt der Weiterbildung. So ist zum Beispiel die Übung Hinbewegung zur Mutter, die wir Ihnen in Kap. 5 („Biografie, Selbst, Persönlichkeit“) vorgestellt haben, ein erster Schritt hin zum guten Platz in einer Gruppe. Das Format kann entsprechend modifiziert werden zu Hinbewegung zur Gruppe. In Einzelfällen kann dann ein weiteres Element für das Thema hinzugenommen werden, das sich bei der Begegnung mit der Gruppe zeigt (Abb. 7.2).
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7 Aufstellungssettings, Funktionen und Formate
Abb. 7.2 Hinbewegung zur Gruppe
Insgesamt bieten die immer wieder erstarkenden gruppendynamischen Prozesse in der Weiterbildung Anlass, sich dem Thema Gruppe, Autonomie und Verbindung/Verbindlichkeit zuzuwenden und daraus überindividuelle, soziale oder individuelle Themen für Aufstellungen abzuleiten.
7.2.2 Aufstellung in der Einzelarbeit Einzelarbeit kann sowohl innerhalb einer Gruppe als auch im Zweiersetting stattfinden. Das „Einzel“ bezieht sich insofern ausschließlich darauf, dass nicht mit menschlichen Stellvertretern gearbeitet wird. Der Klient ist somit – neben dem Aufsteller – der einzige Mensch im Aufstellungsfeld. Die Einzelarbeit selber kann wiederum in zwei Untergruppen geteilt werden. Zur ersten Untergruppe gehören die Formate, in denen mit Elementen gearbeitet wird. Die zweite Untergruppe bildet ein einzelnes Format: die Aufstellung in der Imagination.
7.2.2.1 Einzelarbeit mit Elementen Bei der Einzelarbeit mit Elementen gibt es vier Varianten: • • • •
Arbeit am Tisch mit kleinen Figuren, Arbeit im Raum mit großen Objekten, Arbeit mit Bodenankern, Arbeit mit Stühlen/Kissen.
Arbeit am Tisch mit kleinen Figuren Bei der Arbeit am Tisch mit kleineren Figuren kann der Klienten leicht das Gesamtgefüge überblicken, das er aufgestellt hat. Je nachdem, mit welchen Figuren der Aufsteller arbeitet, können dabei auch die Wahl von Farbe und Form Hinweise auf Aspekte sein, die für das Geschehen entscheidend sind. Die Vielfalt möglicher Figuren reicht von
7.2 Aufstellungssettings
291
einfachen Holzklötzen bis hin zu individuell gestalteten Charakteren, die mit weiteren Objekten ergänzt werden können. Mögliche Fragen des Aufstellers können sein: • Was geschieht, wenn mir deutlich wird, dass A hier auf dem Brett viel kleiner ist als B, obwohl es doch in Wirklichkeit umgekehrt ist? • Wie ist das für mich, wenn ich erkenne, dass ich für A und B die gleiche Figur gewählt habe, obwohl sie gar nicht ähnlich sind? • Wie fühlt es sich für mich an, wenn ich sehe, wie A dasteht, oder wenn ich sehe, wie A in Beziehung zu B steht? Arbeit im Raum mit großen Objekten Größere Objekte werden (wie menschliche Stellvertreter) in den Raum gestellt – z. B. Papprollen, Plastikrohre oder Holzquader. Die Objekte haben eine Markierung für die Blickrichtung und eine Bezeichnung oder Kennzeichnung, wofür sie stehen. Aufgrund ihrer Größe (mindestens 0,5 m, optimal 1 m und höher) haben sie eine physischere Wirkung auf den Klienten als die kleinen Figuren auf dem Tisch. Bezogen aber auf den Grad der Intensität gibt es im Vergleich der Settings kein „Mehr“ oder „Weniger“. Das hat etwas mit der hypnotherapeutischen Wirkung der Gesprächsführung und auch der Aufstellungsmethode als solcher zu tun, die beide stark auf die Imagination des Klienten wirken. Als Betrachter oder als Stellvertreter seiner selbst bewegt sich der Klient durch sein Feld und hat weniger Überblick über das Gesamtgefüge als vielmehr eine Ansicht oder besser noch, eine Einsicht – er kann sich zwischen den Objekten im Feld bewegen und verschiedene Plätze ausprobieren. So erfährt er, welche Energien an den einzelnen Positionen entstehen, und er erfährt auch, welche Beziehungsqualitäten sich zwischen den Positionen ergeben. Bei diesem Setting sind die möglichen Fragen z. B.: • Wie fühlt sich das Feld von außen für mich als Betrachter an? • Wie fühlt es sich auf/bei/neben den jeweiligen Positionen an, wenn ich mich durch das Feld bewege? • Gibt es Plätze, auf denen ich lieber stehe als auf anderen? • Ist das mein Platz, auf dem ich hier stehe? • Wie fühlt sich das „Dazwischen“ zwischen dieser und jener Position an? Arbeit mit Bodenankern Bodenanker ist der Oberbegriff für auf dem Boden liegende Elemente wie Folien, Papiere oder Filze, auf denen Blickrichtung und Bezeichnung (für welches Element liegen sie?) notiert sind. Wir haben für unsere Weiterbildungen laminierte Papiere mit Symbolen für Mann, Frau, Ding und Aspekt vorbereitet. Man kann aber auch immer wieder aufs Neue Papier für den jeweiligen Bedarf beschriften. Wie bei der Arbeit mit Tischfiguren hat der Klient zunächst die Möglichkeit, das Gesamtgefüge zu überblicken und dadurch sozusagen aus der Distanz auf sich wirken zu lassen. Danach bewegt er sich – wie bei der Arbeit mit größeren Objekten – durch das
292
7 Aufstellungssettings, Funktionen und Formate
Feld und stellt sich dann auf oder hinter die einzelnen Blätter. Wenn es ihm schwerfällt, sich auf die Vorstellung einzulassen, dass ihm jemand gegenübersteht, kann der Aufstellungsleiter ihn mit der kataleptischen Hand unterstützen oder sich auch selbst auf den betreffenden Bodenanker stellen. Hier sind die möglichen Fragen ähnlich wie bei der Arbeit mit den größeren Figuren: • Wie fühlt sich das Feld von außen für mich als Betrachter an? • Wie fühlt es sich auf/bei/neben den jeweiligen Positionen an, wenn ich mich durch das Feld bewege? • Gibt es Plätze, auf denen ich lieber stehe als auf anderen? • Ist das mein Platz, auf dem ich hier stehe? • Wie fühlt sich das „Dazwischen“ zwischen dieser und jener Position an? • Blicke ich auf die Füße, oder kann ich meinen Blick heben? Arbeit mit Stühlen/Kissen Aus der Gestalttherapie entlehnt ist die Variante, mit Stühlen und/oder Kissen zu arbeiten. Die Arbeit kann eingeleitet werden mit der Frage: „Wenn A jetzt hier im Raum wäre, wo genau wäre er?“ Die an die Imagination gerichtete Frage hat eine hypnotherapeutische Wirkung und erleichtert den Einstieg in die Arbeit. Nachdem die Klienten (meist sehr zielsicher) A einen Platz mit Blickrichtung gegeben haben, stellt der Aufstellungsleiter entsprechend einen Stuhl an die Position. Danach soll der Klient nun auch für sich einen Stuhl positionieren und sich hinsetzen. Erste Hinweise ergeben sich bereits bei der Wahl des Stuhls. Wählt der Klient 2 gleiche Stühle, wählt er verschiedene? Welche Qualität haben die Stühle? Ändert sich die Qualität des Stuhls, nachdem er positioniert wurde? Der Klient soll nun abwechselnd auf seinem und auf dem Stuhl von A sitzen und berichten, was er wahrnimmt. Wichtig ist hierbei das Timing des Beraters für die Einleitung des Positionswechsels – und wichtig ist erfahrungsgemäß auch, dass der Klient nach jedem vollzogenen Positionswechsel wiederholt, was er als Person auf dem anderen Platz wahrgenommen und was er gesagt hat. Er soll sich auch vergegenwärtigen, als welche Person er gerade spricht, und schließlich angehalten werden, sein Gegenüber direkt anzusprechen und nicht über ihn zu sprechen. Natürlich spielt bei den verschiedenen Settings die Imagination immer auch eine wichtige Rolle, z. B. dann, wenn der Klient sich vorstellen soll, dass ihm gegenüber auf einem leeren Stuhl eine Person sitzt. Allerdings wird bei der Arbeit mit Elementen der Fokus auf die Wahrnehmungen von Konstellationen im Außen gelenkt.
7.2.2.2 Einzelarbeit in der Imagination Anders ist das bei der Arbeit mit der Imagination, die den Fokus auf den inneren Raum des Klienten richtet. Die Aufstellung in der Imagination hat – ähnlich wie die
7.3 Aufstellungsfunktionen
293
hypnotherapeutische Gesprächsführung – eine transzendente Verbindungsfunktion: Sie soll das Bewusstsein mit dem Unbewussten verbinden. Lösende Bilder und tiefes organismisches (systemisches) Wissen liegen in der Regel im Unbewussten des Klienten verborgen und erlauben ihm keinen direkten Zugriff. Diesen erhält er nur durch die Verbindung von Bewusstsein und Unbewusstem. C.G. Jung hat die transzendente Funktion, wie sie die Aufstellung in der Imagination erfüllt, als eine psychologische Funktion beschrieben, die „aus der Vereinigung bewusster und unbewusster Inhalte“ hervorgeht und „die sich ihrer Art nach mit einer mathematischen Funktion gleichen Namens vergleichen lässt und eine Funktion imaginärer und reeller Zahlen ist“ (Jung 1958, S. 131). Um aber Kontakt mit dem Unbewussten aufzunehmen, bedarf es des Bewusstseins. Das Bewusstsein tritt mit dem Unbewussten in einen Dialog ein, der Unbewusstes bewusst werden lässt. Dabei wird der bewusst sprechende Klient in einen entspannten Zustand gebracht, in dem seine Angst vor Kontrollverlust minimiert ist. Die Trennung zwischen Bewusstsein und Unbewusstem wird nicht dadurch aufgehoben, dass die Inhalte einseitig durch bewusste Entscheidung verurteilt werden, sondern vielmehr dadurch, dass ihr Sinn für die Kompensation der Einseitigkeit des Bewusstseins erkannt und in Rechnung gestellt wird. Die Tendenz des Unbewussten und die des Bewusstseins sind nämlich jene zwei Faktoren, welche die transzendente Funktion zusammensetzen. (Jung 1958, S. 145)
Mehr davon Bei der Aufstellung in der Imagination spielt die hypnotherapeutische Gesprächsführung eine zentrale Rolle. Welche Möglichkeiten die Methode bietet und was es dabei zu beachten gilt, finden Sie ausführlich in Abschn. 2.4 („Vorgespräch [und Gespräch] zur Aufstellung“) beschrieben.
Der Aufstellung in der Imagination sind keine Grenzen gesetzt. Der Klient kann – angeleitet durch den Aufsteller – durch verschiedene Settings wandern, er kann die Settings selber in der Imagination entstehen lassen und seine Bilder sukzessive auf- und ausbauen. Der Klient kann eine Reise durch seinen eigenen Körper antreten oder in imaginäre Ich- oder Selbsträume eintreten. Möglich ist bei dieser Arbeit auch, mittels Szenariotechnik („Was wäre, wenn“) den Klienten Erfahrung machen zu lassen, die er noch nicht hatte. So kann man ihn zum Beispiel bereits erlebte Geschichten in der Phantasie umschreiben lassen und ihn gleichzeitig durch das Feld seiner Geschichte begleiten. So wird ihm ein erweitertes Lösungspotenzial insbesondere bei Angstthemen ermöglicht. Wir stellen die Arbeit in der Imagination unseren Teilnehmern vor, weisen aber darauf hin, dass diese Form für den Aufstellungsleiter eine besondere Herausforderung darstellt, für die es unserer Erfahrung nach einer umfassenden Übung bedarf.
294
7 Aufstellungssettings, Funktionen und Formate
7.3 Aufstellungsfunktionen Wahrscheinlich gibt es inzwischen so viele Aufstellungsformate, dass unser Versuch, hier eine Übersicht bereitzustellen, immer unvollständig bleiben wird. Möglicherweise gelingt daher besser eine Gruppierung, in deren Rahmen Sie dann für sich die jeweiligen Formate zuordnen können. Manche Formate passen dann auch in mehrere Gruppen, je nachdem, mit welchem Fokus man sie angeht. Präziser im Sinne der Eindeutigkeit lassen sich die verschiedenen Funktionen von Aufstellungen beschreiben. Zwar ist es für die Praxis der Aufstellungsleitung hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, welche Funktion jeweils angefragt wird, unsere Erfahrung zeigt zugleich, dass in der Praxis durchaus mehrere Funktionen gleichzeitig ausgeübt werden. Für noch junge Aufsteller aber kann es hilfreich sein, sich bei jeder Aufstellung, die sie leiten, zu fragen, welcher Funktion diese dienen soll. Hierbei gibt es fünf verschiedene Funktionsvarianten:
7.3.1 Analysefokussierte Aufstellung Die analysefokussierte Aufstellung dient Fragen wie: • • • •
„Womit haben wir es hier zu tun?“ „Wie konnte es dazu kommen?“ oder „Wir genau ist es jetzt?“ „Übersehen wir einen wichtigen Aspekt?“
Sie kann zeigen, wie etwas zusammenhängt und welche Wirkung das erzeugt. Zwar ist die Analysefokussierung in der Regel zweidimensional zu verstehen – dann, wenn sie nach Kausalitätsbezügen fragt. Weil aber Systeme komplex und ihre Elemente damit interdependent sind, zeigt die analysefokussierte Aufstellung einander im System bedingende Wirkungen. Aus dem Erkenntnisgewinn über die diese vieldimensionalen Beziehungswirkungen lassen sich Gestaltungsmöglichkeiten für Interventionen, Veränderungen oder gar Lösungen ableiten. Analysefokussierte Formate finden Sie im Buch zum Beispiel in Kap. 5 („Biografie, Selbst, Persönlichkeit“) bei der transgenerationalen Aufstellung „Die Kraft der Frauen“ und dem hinzugestellten Thema „verstorbene Kinder“.
7.3.2 Lösungsfokussierte Aufstellung Die lösungsfokussierte Aufstellung dient der Frage, wie die Beziehungen strukturiert bzw. ihre Qualitäten gestaltet sein müssen, damit ein als problematisch empfundener Ist-Zustand einer als unproblematisch empfundenen Lösung zugeführt werden kann. Die
7.3 Aufstellungsfunktionen
295
Lösung beschreibt in der Regel eine Erleichterung. Ob diese Erleichterung immer die Lösung ist, sei dahingestellt – es gilt, was dem Klienten dient und nicht, was der Idee des Aufstellers entspricht. Auch geschieht es bisweilen, dass die Zeit für eine Lösung noch nicht „reif“ ist, weil bestimmte Entwicklungen auf der seelischen Ebene beim Klienten noch nicht stattgefunden haben, während sein Verstand findet, dass die Zeit „überreif“ ist. Ein Beispiel hierfür ist die Aufstellung einer Klientin, die den Umstand ändern will, dass sie sich ohne Partner unvollständig fühlt und dadurch immer wieder in ungute Abhängigkeiten zu Männern gerät. Das will sie um jeden Preis ändern. In der Aufstellung zeigt sich eine Zwillingsthematik. Die Klientin klebt förmlich an ihrem Zwilling und schaut von weitem auf ihr Leben. Trotz wiederholter Einladung (und auch nicht mit dem Angebot, das Loslassen zu simulieren), ist die Klienten „zu keinem Preis“ bereit, ihren Zwilling loszulassen und in ihr Leben zu gehen – wohlgemerkt in diesem einen Moment ihres Lebens. Es kann sein, dass ihr bei einer späteren Aufstellung die Bewegung möglich sein wird. Die Frage, ob ein System bereits „lösungsreif“ ist, kann in den lösungsfokussierten Formaten leicht erkannt werden. Mit dem Fokus auf das gewünschte Ziel „Lösung“ können solche Formate deshalb auch Elemente der Simulation (Szenariotechnik) beinhalten. Die Hinbewegung zur Mutter ist z. B. ein Klassiker der lösungsfokussierten Formate, der in der Wirkung oft viel weitreichendere Lösungen zeitigt als nur die Wiederherstellung der Verbindung mit der Mutter – Informationen finden Sie in Kap. 5. („Biografie, Selbst, Persönlichkeit“).
7.3.3 Kontextrelevante Zielaufstellungen Der Begriff „kontextrelevante Zielaufstellungen“ klingt technokratisch, die Aufstellungen zeigen sich hingegen in der Praxis als oft tiefgehende Formate mit einer spirituellen Dimension. Bei den Zielaufstellungen fokussiert man einerseits auf ein Ziel und gibt zugleich Informationen darüber, welche Kontexte – unterstützende und hilfreiche Qualitäten – Einfluss auf die Zielerreichung haben können. Dabei zeigen sich im Sinne der Konsequenz auch mögliche Aspekte, die von der Zielerreichung betroffen sein können. Die Formate geben Auskunft darüber, welchen Einfluss die Zielerreichung auf solche Aspekte haben kann. Ein Beispiel für die kontextrelevante Zielaufstellung finden Sie in Abschn. 6.6.2 (unter „Zielaufstellung nach Hans Dieter Dicke“).
7.3.4 Simulierende Aufstellung, auch: Szenarioaufstellung Simulierende oder auch Szenarioaufstellungen eignen sich naturgemäß hervorragend für den organisationalen Kontext, weil hier ständig Entscheidungen getroffen werden, für die naturgemäß niemals sämtliche Parameter vorliegen, und weil sich die Intuition, die
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7 Aufstellungssettings, Funktionen und Formate
bei Entscheidungen immer eine Hauptrolle spielt, eher aus zurückliegenden Erfahrungen speist. Um das heuristische Dimensionspotenzial zu minimieren, können im Aufstellungsgeschehen verschiedene Szenarien durchgespielt werden. Simulierende Aufstellungen lassen sich also immer von der zugrundeliegenden Frage „Was wäre, wenn“ leiten. Im persönlichen Kontext kann die Simulation Klienten oder deren Stellvertreter durch ein „Nur-mal-Ausprobieren“ ermutigen, einen Schritt zu tun, den sie von selbst vielleicht nicht machen möchten oder wagen würden. Simulation ist nicht nur als Aufstellungsformat zu verstehen – sie ist eine grundlegende Aufstellungstechnik, die häufig angewendet wird. In Abschn. 2.5.2 (unter „Probehandeln“) beschreiben wir weitere Aspekte der Simulationstechnik.
7.3.5 Didaktische Aufstellung, auch: Lehraufstellung Wir haben für unsere Weiterbildungen eigene Aufstellungsformate entwickelt, mit denen wir abstrakte oder komplexe Inhalte für die Teilnehmer am eigenen Leib erfahrbar machen. Diese Methode hat sich für unser Vorgehen als derart erfolgreich erwiesen, dass wir sie inzwischen auch bei unseren Vorlesungen über systemische Organisationsentwicklung an der Hochschule einsetzen. Vielleicht braucht es anfangs ein bisschen Übung, man gewöhnt sich aber bald daran, Sachverhalte als Strukturbeziehung und systemische Fragen als Systembeziehung in ein Format zu gießen. Beispiele für didaktische Formate finden Sie in Kap. 4 („Systemordnung[en]“) als Aufstellungsformat „Gestalt“, als Format „Selbsterhalt und Weiterentwicklung“ oder auch beim Format „Systemspiel“.
7.4 Aufstellungsarten Eine andere Gruppierung von Formaten ergibt sich mit Blick auf die Frage „System- und der Strukturaufstellung?“ – sowie auf die die sich daraus ergebende dritte Gruppe der Mischformen aus beiden Ansätzen.
7.4.1 Systemaufstellungen In Systemaufstellungen werden soziale Systeme aufgestellt, seien sie privater oder öffentlicher, familiärer oder organisationaler Natur: Familien, Paare, Gruppen, Teams etc. In der Regel sind Systemaufstellungen deshalb dadurch definiert, dass Menschen als Systemelemente verstanden und aufgestellt werden. Aufstellungen der Herkunftsfamilie,
7.4 Aufstellungsarten
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die Bewegung zur Mutter oder die Paaraufstellung, wie wir sie hier im Buch beschrieben haben, sind typische Beispiele für eine Systemaufstellung mit Menschen als Systemelementen.
7.4.1.1 Organisationsaufstellungen Der Begriff der Organisationsaufstellung bezeichnet zum einen eine Untergruppe der Systemaufstellungen insbesondere im Bereich der Personalentwicklung – da wo Menschen die Systemelemente der Betrachtung sind. Ein Beispiel für eine Systemaufstellung im organisationalen Bereich ist die Team-Aufstellung oder die Betrachtung der Kooperation verschiedener Abteilungen. Organisationsaufstellungen können auch eine Untergruppe der Strukturaufstellungen sein – vor allem dann, wenn im Bereich der Organisationsentwicklung strukturelle Beziehungen – zu Beispiel von Vision, Mission und Werten oder auch von Produkt und Preis aufgestellt werden. Der Begriff der Organisationsaufstellung ist daher zugleich der Obergriff für alle hier vorgestellten Funktionen und Formate (zum Teil in für die Organisation adaptierter Variante) für die Bereiche Organisations- und Personalentwicklung. Wir gehen an dieser Stelle nicht näher darauf ein, verweisen aber auf unser Lehrbuch „Theorie und Praxis der Organisationsaufstellung“, das in 2018 ebenfalls bei Springer Gabler erschienen ist (Hartung 2018).
7.4.2 Strukturaufstellungen Bei den Strukturaufstellungen, die von Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd entwickelt wurden, werden nicht die Systeme, sondern die Strukturen von Systemen aufgestellt. Die Formate sind bisweilen eine Ableitung aus östlichen Weisheitssystemen. Wir zeigen hier vier Beispiele für klassische Strukturaufstellungen und wiederum eine von uns direkt abgeleitete Adaption für Organisationen, die insofern Abschn. 7.4.1 (unter „Organisationsaufstellungen“) zugeordnet werden müsste. Wir beschreiben sie aber der einfacheren Vergleichbarkeit halber direkt in Anschluss an das Format von Sparrer/Kibéd.
7.4.2.1 Problemaufstellung Die Problemaufstellung dient der Problemlösung und gehört damit auch zu den lösungsorientierten Formaten. Die Positionen sind: • • • • • •
der Fokus – Träger des Problems, das Ziel – das, was erreicht werden soll, das Hindernis – das dem Erreichen des Ziels im Weg steht, die Ressource – für das Erreichen des Ziels, der Gewinn – oder auch der Nutzen, den das Problem für das System hat, die Aufgabe – für die Zukunft, nachdem das Ziel erreicht wurde.
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7 Aufstellungssettings, Funktionen und Formate
7.4.2.2 Kontextrelevante Zielaufstellung Die Kontextrelevante Zielaufstellung nach Hans Dieter Dicke, die wir oben bereits unter Abschn. 7.3.3 und in Kap. 6 („Trauma und Traumafolgestörungen“) in der Ausführung beschrieben haben, zählt ebenfalls zu den Strukturaufstellungen. 7.4.2.3 Tetralemma-Aufstellung Die Tetralemma-Aufstellung eignet sich für komplexe Entscheidungssituationen. Die vier Systemelemente mit unveränderlichen Positionen in einer quadratischen Anordnung sind: • • • •
das Eine – die vielleicht näherliegende Alternative, das Andere – die andere Alternative, beide – das, was beide möglicherweise verbindet, keines von beiden – wenn keine der Alternativen stimmt, oder wenn und es evtl. übersehene Alternativen oder Aspekte gibt.
Außerdem gibt es ein fünftes freies Element: • all dies nicht und selbst das nicht – die 4-fache Verneinung, das freie Element. Und schließlich steht ein Stellvertreter für den Fokus – das ist die Person, die sich im Dilemma befindet • Fokus – der Klient, der sich im Entscheidungsdilemma befindet (Abb. 7.3).
7.4.2.4 Polaritätenaufstellung Die Polaritätenaufstellung widmet sich einer Polarität. Die Annahme bei diesem Format ist, dass scheinbare Widersprüchlichkeiten Ausdruck desselben sind, so wie z. B. warm und kalt zwei Zustände von Temperatur sind. So werden die Positionen A und B als zwei Seiten derselben Münze verstanden, die ebenfalls als „dasselbe“ aufgestellt wird. Abb. 7.3 Tetralemma
7.4 Aufstellungsarten
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• A – Pol 1, • B – Pol 2, • dasselbe – worin A und B identisch und indifferent sind.
7.4.2.5 Glaubenspolaritätenaufstellung Glaubenspolaritätenaufstellungen (GPA) sind eine Aufstellungsform für grundlegende Wert- und Ressourcensysteme, die auf der Triade von Liebe (Vertrauen, Wertschätzung, Mitgefühl …), Erkenntnis (Wissen, Wahrnehmungsfähigkeit, Unterscheidungsvermögen …) und Ordnung (Verantwortung, Struktur, Erfahrung …) aufbauen. Sie sind besonders geeignet zur Modifikation von hinderlichen Überzeugungen sowie als Meta-Aufstellungen, d.h. als ressourcenreiche Rahmen für Strukturaufstellungen zu besonders belasteten Themen. (Kibéd 2019)
Der Klient teilt seinem Stellvertreter seinen Glaubenssatz mit und positioniert ihn im Dreieck zwischen Liebe, Ordnung und Erkenntnis. Daraus ergeben sich die Positionen • • • •
die Liebe – Vertrauen, Mitgefühl, Wertschätzung, Hingezogen-Sein, das Schöne, die Ordnung – Struktur Karma, Pflicht, Ausgleich, das Gute, die Erkenntnis – Wissen, Klarheit, Einsicht, Vision, Das Wahre (die Logik). die Weisheit – die vierte Position ist ein freies Element, das nicht in jeder Glaubenspolaritäten-Aufstellung gestellt wird.
7.4.2.6 Polaritätenaufstellung der Überzeugungen Dieses Format ist unsere „organisationale“ Übersetzung der Glaubenspolaritätenaufstellung für den Einsatz in Organisationen. Es dient der Reflexion von Werten in Organisationen und der ggf. gewünschten Modifizierung von Überzeugungen. Hier lauten die Positionen entsprechend: • • • •
das Positive – Vertrauen, Sympathie, Teamgeist, die Ordnung – Hierarchie, Struktur, das Wissen – Kompetenz, Erfahrung, Fachwissen, das übergeordnete Wissen – die vierte Position steht für die Vision und ist ein freies Element.
7.4.2.7 Integrale Strukturaufstellung Die integrale Strukturaufstellung kombiniert die Strukturaufstellung mit dem integralen Ansatz des US-amerikanischen Philosophen Kenneth Wilber (*1949), der das 4-QuadrantenModell entwickelt hat (Abb. 7.4). Integral bedeutet, alle Perspektiven einzunehmen und keine zu bevorzugen. Die integrale Perspektive besteht aus 5 kombinierten Kategorien: • Quadrant – s. Abb. 7.4, • Ebene – z. B. „Spiral Dynamics“,
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7 Aufstellungssettings, Funktionen und Formate
Abb. 7.4 4 Quadranten nach Ken Wilber
• Linie – Kompetenzen, Intelligenzen, • Typ – männlich–weiblich, emotional, hirndominant etc., • Zustand – wach sein, träumen, kreativ sein etc. Genannt wird diese kombinierte integrale Perspektive auch AQAL – „alle Quadranten, alle Level“. Im Prozess der integralen Aufstellung kann das Quadrantenmodell dann schrittweise – zum Beispiel durch die Spiral-Dynamics-Entwicklungsstufen – erweitert werden, bis alle Perspektiven im Feld sind (Abb. 7.5). Die Arbeit ist also hochkomplex. Wir haben hier nur Schritt 1 der Perspektivenkombination dargestellt: das Quadrantenfeld und die Entwicklungsebenen in einer modifizierten Form von Spiral Dynamics. Als umfassender und transsystemischer Prozess transzendiert und integriert die integrale Strukturaufstellung modernes Expertencoaching und postmodern-systemische Ansätze. Ähnlich wie in den Horoskopaufstellungen geht es hierbei darum, dass sich der Klient oder sein Stellvertreter durch die einzelnen Felder bewegt.
7.4.2.8 Astrologie- oder Horoskopaufstellung Die Astrologie- oder auch Horoskopaufstellung ist in der Regel eine strukturelle Felderaufstellung des Horoskops, evtl. kombiniert mit verschiedenen Lebensthemen, die für den Klienten momentan von Bedeutung sind. Dabei gibt es zahlreiche Varianten der Betrachtungsebenen.
7.5 Sonderformate
301
Abb. 7.5 4 Quadranten und Entwicklungsebenen
7.4.3 Mischformen aus Struktur und System So wichtig die Entscheidung darüber ist, welche Form der Aufstellung sich für ein Anliegen eignet, so wenig sind unter Umständen manche Formate zugleich eindeutig voneinander abzugrenzen. So wie die Tetralemma- oder die Polaritätenaufstellung „reine“, d. h. festgelegte Formate sind, die in der Regel nicht mit anderen Formaten gemischt werden, gibt es darüber hinaus inzwischen zahlreiche Mischformen, bei denen zu den menschlichen Beziehungen auch strukturelle Beziehungen kombiniert werden. Es kann zum Beispiel auch sein, dass sich in einer Glaubenspolaritätenaufstellung zeigt, dass Erkenntnis, Ordnung und Liebe mit biografischen Aspekten verdeckt bzw. vermischt sind. Es besteht dann die Möglichkeit, die familiären Protagonisten hinter den Positionen zu platzieren und dann heraustreten zu lassen. So entwickeln sich im selben Feld parallel eine System- und eine Strukturaufstellung. Mit den biografischen Aspekten, die häufig Vertreter der Eltern oder anderer wichtiger Bezugspersonen darstellen, wird dann ähnlich wie in einer systemischen Familienaufstellung lösend gearbeitet. Sie werden einerseits gewürdigt, andererseits werden die notwendigen Abgrenzungen vorgenommen, damit der Aufstellende frei wird für sein eigenes Schicksal.
7.5 Sonderformate Unabhängig davon, welche Funktion eine Aufstellung hat, oder ob System oder Struktur aufgestellt werden, gibt es verschiedene Sonderformate, von denen wir hier die gängigsten vorstellen.
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7 Aufstellungssettings, Funktionen und Formate
7.5.1 Verdeckte Aufstellung Bei der verdeckten Aufstellung gibt es verschiedene Grade der Verdeckung. • Der höchste Grad der Verdeckung ist: Niemand weiß etwas. Weder der Aufstellungsleiter noch die Stellvertreter. Einen Klienten gibt es ebenso wenig wie ein Anliegen. • Einer weiterer Grad: Bis auf den Klienten selber weiß niemand, worum es geht. Weder ist das Anliegen bekannt, noch wissen die Stellvertreter, für wen sie stehen. Auch der Aufstellungsleiter kennt weder das Anliegen noch die Positionenbedeutung. Mögliche Erkenntnisse ergeben sich hierbei ausschließlich aus dem Geschehen im Feld. • Eine 3. Möglichkeit ist, dass der Aufstellungsleiter darüber informiert ist, worum es geht. In Absprache mit dem Klienten legt er fest, welche Protagonisten stellvertreten werden. Die Stellvertreter selber wissen nicht, für wen sie stehen, und sie kennen auch das Anliegen nicht. • Die 4. Möglichkeit ist, dass der Klient das Anliegen formuliert hat, aber nicht weiß, für wen die Stellvertreter stehen. Die Stellvertreter kennen weder das Anliegen noch ihre Positionsbedeutung. Lediglich der Aufstellungsleiter kennt Anliegen und Positionsbedeutung. Für verdeckte Aufstellungen kann es verschiedene Gründe geben. Einer kann sein, dass die Stellvertreter möglichst unvoreingenommen von den Wahrnehmungen auf ihren Positionen berichten sollen. Ein anderer Aspekt ist z. B. dem Schutz vor Identifizierbarkeit, insbesondere da, wo Bloßstellung gefürchtet wird. Nicht zuletzt bieten verdeckte Aufstellungen sehr gute Möglichkeiten für experimentelles Agieren im Aufstellungsfeld.
7.5.2 Symptomaufstellung Systemisch verstanden hat jedes Symptom eine Hinweisfunktion. Es wird selber nicht als Störung verstanden, sondern vielmehr als wertvoller Hinweisgeber – es drückt aus, was im System wirkt. Die Symptomaufstellung kann viele Erscheinungsformen haben. So gibt es die Variante, nur das Symptom aufzustellen. Eine andere Möglichkeit ist die Begegnung von Klient und Symptom, wobei der Klient entweder für sich steht oder sich stellvertreten lässt. Die 3. Variante ist eine klassische Systemaufstellung, zu der ein Symptomstellvertreter hinzugestellt wird. Ein Beispiel finden Sie in Abschn. 5.2.1 „Transgenerationale Biografiearbeit“ bei der Kombination aus der Reihe der Frauen mit einem Thema, wie wir es in Abb. 5.3 „Die Reihe der Frauen und das tote Kind“ dargestellt haben. Wir nutzen die Symptomaufstellung auch in Organisationen, allerdings sprechen wir hier von Phänomenaufstellungen, weil der Begriff Symptom in der Regel mit der Idee von persönlichen Krankheitsbildern konnotiert ist.
Literatur
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7.5.3 Autopoietische Aufstellung Autopoiese meint: Selbsterschaffung. Und so ist die autopoietische Aufstellung ein Format, bei dem sich das Geschehen ohne Anliegen aus sich selbst entwickelt. Wir Autoren haben bei einer autopoietischen Aufstellung bei Bert Hellinger teilgenommen, bei der rd. 100 Personen aufgefordert wurden, das Feld zu betreten. Weder gab es ein formuliertes Anliegen noch eine Anleitung seitens des Aufstellungsleiters. Die Erfahrungen mit dem, was sich im Feld „aus sich heraus“ entwickelte, waren sehr tiefgehend und mit Worten kaum beschreibbar. Wir könnten das Schlussbild vielleicht mit diesen Worten zusammenfassen: Wir sind alle in Liebe in das Eins-Sein zurückgekehrt.
7.6 Online Aufstellungen Da das Manuskript in Zeiten vor Covid19 und dem damit verbundenen Lockdown entstanden ist, wurden bei der Darstellung in diesem Kapitel noch nicht die verschiedenen Varianten der Online Aufstellung berücksichtigt. Wir haben Ihnen bei bei Springer eine Beschreibung zum Download hinterlegt.
Literatur Hartung, S. (2018). Theorie und Praxis der Organisationsaufstellung – Grundlagen für systemische Personal– und Organisationsentwicklung. Wiesbaden: Springer Gabler. Jung, C. G. (1958). Die transzendente Funktion In GW8 (S. 131, 145). Zürich: Walter. (Erstveröffentlichung 1916). von Kibéd, M. V. (2019). Die Glaubenspolaritäten–Aufstellung. https://syst.info/seminare/1335/ glaubenspolaritaeten-aufstellung-gpa. Zugegriffen: 5. Nov. 2019.
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Lehrplan, Modulgestaltung, Organisation
Inhaltsverzeichnis 8.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Anerkennung der Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Das Curriculum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 DGfS Richtlinien und eigene Kriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Der modulare Lehrplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Referate und Vorträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7 Einstieg in die Weiterbildung – das erste Modul. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8 Biografieinseln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.9 Vorbereitung – organisatorische Aspekte und Checklisten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8.1 Einführung In diesem Kapitel stellen wir Ihnen alle Aspekte für die Gestaltung Ihrer eigenen Weiterbildung vor: • das Curriculum, wie es die Deutsche Gesellschaft für Systemaufstellung für die Weiterbildung in psychotherapeutisch ausgerichteter Systemaufstellung als Mindestmaß vorschreibt; • einen Lehrplan, den wir auf der Basis dieses Curriculums für die insgesamt 12 PräsenzModule unserer Weiterbildung entwickelt haben; Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht. https://doi.org/10.1007/978-3662-61192-0_8 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hartung und W. Spitta, Lehrbuch der Systemaufstellungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61192-0_8
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8 Lehrplan, Modulgestaltung, Organisation
• ein Beispiel für die Gestaltung des Einstiegsmoduls, das in seinem Rhythmus zwischen Input, Selbsterfahrung und praktischer Übung eine typische Struktur für die Gestaltung der drei Modultage sein kann, sowie • abschließend alle organisatorischen Aspekte, die es zu berücksichtigen gilt.
8.2 Anerkennung der Weiterbildung Unsere Weiterbildung, wie wir sie hier vorstellen, ist als ausschließliche PräsenzWeiterbildung konzipiert. Sie wurde von der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen (DGfS) als bislang einzige deutsche Institution für die Anerkennung der Aufstellungsarbeit im psychotherapeutischen und psychosozialen Berufssektor anerkannt. Angesichts der vergleichsweise immer noch jungen Methode der Systemaufstellung – und im Zuge der schnellen Veränderungen im weltweiten Markt der Systemaufstellungen – wird es schon bald weitere Richtlinien und Qualitätskriterien geben –, die dann sicher auch nationale bzw. evtl. sogar internationale Bedeutung erlangen werden. Jetzt zu Beginn des Jahres 2020 aber, wo wir dieses Buch schreiben, gibt es für die Anerkennung einer Weiterbildung in Systemaufstellung, wie wir sie hier vorstellen – zumindest im deutschen Markt – ausschließlich die DGfS, die Anerkennungen für die Weiterbildung und für die Lehrtrainer in (individual ausgerichteter) Systemaufstellung erteilt (hiervon ausgenommen bleibt die Hellinger Sciencia, die jedoch kein gemeinnütziger Verein sondern eine privatwIrtschaftliche Organisation ist). Die DGfS war im Übrigen überhaupt weltweit der erste Verband, der Qualitätsrichtlinien und Grundlagen für die Anerkennung von Aufstellern, Lehrtrainern und Weiterbildnern (Lehrtrainer, die eine anerkannte Weiterbildung anbieten) formuliert hat. Was zunächst nur für den Bereich der psychotherapeutischen und sozialen Berufe entwickelt wurde, gilt heute bereichsübergreifend. Die DGfS führt aktuell auf ihrer Website 465 anerkannte Systemaufsteller auf, von denen 58 anerkannte Weiterbildner (Lehrtrainer mit anerkannter Weiterbildung) sind (Stand Mai 2020). Die Weiterbildungs-Anerkennungen gelten bereichsübergreifend, also nicht ausschließlich für Therapie oder für Organisation. Im deutschsprachigen Raum bietet außerdem das Österreichische Forum Systemaufstellungen ÖfS Anerkennung für Systemaufsteller sowohl im Bereich Psychotherapie und psychosoziale Beratung (67 anerkannte Systemaufsteller, davon 14 anerkannte Weiterbildner) als auch im Bereich Organisationsaufstellung (5 anerkannte Organisationsaufsteller). Seitens der ebenfalls in Österreich gegründeten SYSTCONNECT, der Vereinigung der Strukturaufsteller nach Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd, werden Qualifikationslisten geführt, die Auskunft über erfolgte Ausbildungen (12 Tage) und die Teilnahme an SYSTCONNECT-Weiterbildungstagen geben. Es gibt also anerkannte SYSTCONNECT-Aufsteller. Anerkannte SYSTCONNECT-Lehrtrainer oder Weiterbildungen gibt es jedoch nach unserem Wissen bis heute noch nicht. Die drei Vereine DGfS, ÖfS und SYSTCONNECT nennen als Voraussetzung für die Anerkennung die bestehende Mitgliedschaft in ihrem Verband. Um sich bei INFOSYON,
8.3 Das Curriculum
307
dem internationalen Forum für Systemaufstellungen in Organisationen und Arbeitskontexten, anerkennen zu lassen, muss man ebenfalls Mitglied sein. Zwar verliert man – auf Nachfrage beim Vorstand – die Anerkennung nicht, wenn man nicht mehr Mitglied ist. Man darf aber das Anerkennungssiegel nicht mehr verwenden, und man kann sich als Nichtmitglied auch nicht mehr rezertifizieren lassen. Die Rezertifizierung erfolgt jährlich. Das entspricht dann einem zeitlich verzögerten Verlust der Anerkennung.
Bis heute ist für die Anerkennung als Systemaufsteller oder Lehrtrainer, ebenso wie für die Anerkennung einer Weiterbildung, die Mitgliedschaft im jeweils anerkennenden Verein die Bedingung. Bei Beendigung der Mitgliedschaft im Verein verliert man die Anerkennung für die berufliche Professionalität.
8.3 Das Curriculum Unser eigenes Curriculum fußt auf dem von der DGfS veröffentlichten Basiscurriculum. Dieses wurde von einem 5-köpfigen DGfS-Ausschuss – Christopher Bodirksy, Annegret Chucholowsky, Bettina Clark, Detlef Beier und Stephanie Hartung – im Jahr 2016 entwickelt. Die Idee eines Basiscurriculums sollte der Entwicklung Rechnung tragen, dass unter dem Dach der DGfS immer mehr Mitglieder zusammengefunden hatten, die nicht aus psychotherapeutischen und/oder psychosozialen Berufen kamen und zugleich intensiv mit Systemaufstellungen in ihren Berufsbereichen arbeiteten. War bis 2016 der erlernte Beruf aus den genannten Bereichen die Voraussetzung für die Anerkennung als Systemaufsteller, sollte diese Bedingung nun der Formulierung weichen, dass für die Anerkennung bedingend eine Berufsausbildung vorliegen muss – egal aus welchem Bereich. Der Ausschuss hatte in diesem Zug ein 5-Säulen-Modell für die Berufsbereiche der Systemaufstellung verabschiedet. Es wurde den Mitgliedern mehrfach in Veröffentlichungen des Vereins vorgestellt (Abb. 8.1). Für die zukünftige Anerkennung einigte man sich auf das Basiscurriculum als bedingende Grundlage einer jeweils individuell beliebigen Erweiterung. Geblieben war damit in jedem Fall die grundsätzliche Entscheidung, dass fortan nicht mehr die psychotherapeutisch ausgerichteten Familienaufsteller den wesentlichen Charakter der DGfS repräsentieren sollten, sondern vielmehr Systemaufsteller aller Couleur. Als solche können sie seitdem z. B. auch Architektur-, Politik- oder Organisationsaufsteller sein – wiewohl, als solche werden sie alle einheitlich mit der Bezeichnung Systemaufsteller anerkannt. Der Begriff der Familienaufstellung rückte mehr und mehr in den Hintergrund und wird heute kaum noch verwendet. Heute erkennt die DGfS auch Weiterbildungen in Organisationsaufstellungen und anderen Aufstellungsrichtungen an, so diese denn das oben beschriebene Basiscurriculum
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8 Lehrplan, Modulgestaltung, Organisation
Abb. 8.1 Erweiterung der der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen (DGfS). (Quelle: STELLLAND, Mitgliedermagazin der DGfS, Ausgabe Nr. 5, November 2016)
beinhalten. Unabhängig aber von der berufsspezifischen Erweiterung des Curriculums in spezielle Bereiche werden alle Weiterbildungen ausschließlich als Weiterbildung in Systemaufstellung anerkannt.
8.3.1 Basiscurriculum der DGfS Für die entsprechenden Weiterbildungsanerkennungen wurde das besagte Basiscurriculum erarbeitetet, das dann in den oben abgebildeten Berufsbereichen entsprechend erweitert werden kann. Wir zeigen hier das Basiscurriculum der DGfS, wie es aktuell auf der Website veröffentlicht ist (DGfS 2020). Basiscurriculum der DGfS aus dem Jahr 2020
Präambel Die DGfS versteht Systemaufstellungen als eine systemische Methode, die nach Studien oder Berufsabschluss und mehrjähriger Berufserfahrung erlernt und angewendet werden kann. Grundlagen – Curriculum Das nachfolgende Curriculum ist verbindliche Grundlage jeder von der DGfS anerkannten Weiterbildung zum Systemaufsteller. Jeder Weiterbildner ergänzt es durch berufs- bzw. arbeitsbereichs- und methodenspezifische Inhalte.
8.3 Das Curriculum
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Grundlagen der Aufstellungsarbeit • • • • • • •
Geschichte der Aufstellungsarbeit und ihrer Weiterentwicklungen Phänomenologie und Konstruktivismus in der Aufstellungsarbeit Grunddynamiken in Familiensystemen Grunddynamiken in Organisationen, komplexen Systemen und Arbeitssystemen Dynamiken wie Verstrickung/Überlagerung/Verwechslung/Verschiebung Theorie des Gewissens Systemische Bindungen und Ausgleichsprinzipien
Haltung und philosophisch-ethische Hintergründe • Vermittlung der Ethik-Richtlinien der DGfS • Achtung, Ernsthaftigkeit, Furchtlosigkeit, Absichtslosigkeit, Demut • Schulung von Sammlung, Wahrnehmung, Präsenz Methodische Vorgehensweisen • Gesprächsführung, Anliegenklärung und Hypothesenbildung • Genogramm/Organigramm • Direktive/non direktive Leitung • Aufbau einer Aufstellung, mögliche Prozesse • Stellvertretung und repräsentierende Wahrnehmung • Interventionen, Rituale und Lösungssätze • Prozesskompetenz in schwierigen Situationen • Krisenintervention und -prävention • Vor-/Nacharbeit, Dokumentation Praxis im Gruppensetting • Verschiedene Aufstellungsformate und ihre Anwendungen • Umgang mit Gruppendynamiken • Verdeckte Aufstellungen 3.5 Praxis im Einzelsetting • Varianten in der Einzelarbeit (Bodenanker, Figuren, Imagination …)
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8 Lehrplan, Modulgestaltung, Organisation
3.6 Möglichkeiten und Grenzen von Aufstellungsarbeit • Einbindung in laufende Beratungs- oder Therapieprozesse • Indikationen/Kontraindikationen • Ethische Grenzen • Rechtliche Grundlagen (Quelle: http://systemaufstellung.com/node/1481; zugegriffen am 30.05.2020)
8.3.2 Curriculum und Didaktik Für unsere Weiterbildung haben wir das Basiscurriculum der DGfS für die Spezifizierung der individualtherapeutischen Weiterbildung mit Fokus auf Biografiearbeit, Selbsterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung deutlich erweitert. Dazu haben wir einen eigenen Themenkanon entwickelt, wie wir ihn hier im Buch vorgestellt haben. Unsere besondere Expertise gilt dabei dem großen Bereich der traumatherapeutischen Arbeit sowie dem Kanon der philosophischen, spirituellen, soziologischen und therapeutischen Ansätze, die in der Aufstellungsarbeit für uns von zentraler Bedeutung sind. Mit Blick auf die „handwerkliche“ Methodik legen wir außerdem einen besonderen Fokus auf hypnotherapeutische Kompetenzen in der Gesprächsführung und auf die Fähigkeit, sich „leer und nichtwissend“ in den forschenden und suchenden Dienst des Geschehens zu stellen – zugleich in Führung zu gehen, in Führung zu bleiben und den Raum zu halten. Nicht zuletzt lehren wir schließlich umfassende psychologische und psychotherapeutische Kompetenzen als unverzichtbare Grundlage für die Anwendung der Methode im therapeutischen und psychosozialen Bereich. Unsere Haltungen, didaktischen Prinzipien und das Curriculum haben wir in unseren eigenen Unterlagen für die Teilnehmer wie folgt formuliert.
8.3.2.1 Berücksichtigung der Vielschichtigkeit Wir vermitteln eine systemische Haltung und einen damit verbundenen Methodenkanon sowie deren Bedeutung für die menschliche Entwicklung. Dabei richten wir die Aufmerksamkeit auf die Qualität der vielschichtigen Beziehungen von Menschen und anderen Aspekten in der Gegenwart. Begleitend zur Vermittlung der Methodik bieten wir so das Erlernen systemischer Fähigkeiten und Fertigkeiten im alltäglichen Miteinander – für die selbstverantwortliche Gestaltung und Mitgestaltung in allen Lebensbereichen. 8.3.2.2 Lernen und Erfahren Unser Ansatz ermöglicht, das systemische Wissen im eigenen Handeln zu erleben und die Erfahrungen hieraus gemeinsam gedanklich zu reflektieren.
8.3 Das Curriculum
311
Unsere besondere Aufmerksamkeit gilt der individuellen Biografie und den aktuellen Lebensthemen der Teilnehmer – sie werden in die laufende Ausbildung als wichtiges Element einer intensiven Selbsterfahrung mit einbezogen. Neben dem Erlernen der Methode steigert die intensive Selbsterfahrung erfahrungsgemäß die Fähigkeit zu Empathie, zu verständnisvollem Umgang mit den Klienten und zu einer respektvollen Begegnung auf Augenhöhe. Als solche bietet sie – mit Blick auf den weiter unten zitierten Ausspruch von Goethe – „die Erfahrung vor der Erfahrung“. Nicht zuletzt entwickelt sich durch die intensive Selbst- und Therapieerfahrung das Leben der Teilnehmer in der Regel deutlich erfüllter.
8.3.2.3 Übung Eine besondere Aufmerksamkeit legen wir auf die Vermittlung der Fähigkeit, Aufstellungen im eigenen Umfeld anzuwenden. Das frühzeitige und regelmäßige Sich-Üben im Leiten von Aufstellungen in der großen Gruppe mit begleitender Reflexion gehört ebenso dazu wie die supervisierte Aufstellungsarbeit in Kleingruppen, die begleitende Arbeit in Peer-Gruppen, die begleitende Einzelsupervision, die Hospitation bei Kollegen sowie nicht zuletzt die Einladung in die regionalen Arbeitskreise der DGfS. 8.3.2.4 Die vermittelten Themen • Spirituelle, philosophische, soziologische und psychotherapeutische Wurzeln der Aufstellungsarbeit und ihre geschichtliche Entwicklung • Kontexte: Aufstellungsarbeit – Psychotherapie – Beratung • Indikationen, Kontraindikationen • Regeln für die Aufstellungsarbeit • Ethik und ethische Grenzen • Wahrheit und Wirklichkeit • Wahrnehmung und Erkenntnis • Subjektive Wahrnehmung/repräsentierende Wahrnehmung • Haltung, Verantwortung, Präsenz, Demut • Stimme und Körperhaltung • Phänomenologie und Konstruktivismus • Gestalttheorie, Systemtheorie • Ordnungen und Grunddynamiken in Systemen • Ordnungen des Helfens • Transgenerationale Biografiearbeit • Biografiearbeit mit der Herkunftsfamilie/dem Herkunftssystem • Biografiearbeit mit den Gegenwartssystemen • Funktion des Gewissens – Loyalitätsbedürfnisse und -forderungen in Systemen • Verstrickung, Überlagerung, Verwechslung, Projektion • Ich, Ego, Selbst, Person/Persönlichkeit • Lebensthemen und Charakterentwicklung, Persönlichkeitsstruktur • Trauma und Traumafolgestörungen
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8 Lehrplan, Modulgestaltung, Organisation
8.3.2.5 Die vermittelten Praktiken – Methodik Grundkenntnisse • Die Haltung des Beraters/Abgrenzung zu anderen Rollen • Verbindung zum Klienten herstellen • Anamnese und Auftragsklärung • Klärung des Anliegens • Direktive/non-direktive Leitung • Doppelte Wahrnehmung • Klientenzentrierte Gesprächsführung nach Rogers • Hypnotherapeutische Gesprächsführung nach Erickson • Auswahl und Aufstellung der Stellvertreter • Systemische Filter- und Ankerfragen • Rituelle Handlungen • Rituelle Sätze • Probehandeln • Der kataleptische Finger, die kataleptische Hand • Entrollung • Nachbesprechung • Dokumentation • Nachsorge Verschiedene Aufstellungsformate und ihre mögliche Anwendung • Klassische Familien-/Organisationsaufstellung • Transgenerationale Aufstellung • Bewegungen der Seele/des Geistes • Strukturaufstellung (z. B. Tetralemma) • Lebensintegrationsprozess • Symptomaufstellung • Autopoietische Aufstellung • Aufstellung im Einzelsetting • Verdeckte Aufstellung • Aufstellungsformate zu verschiedenen Themenbereichen – z. B. Trauer/Verlust/Trauma • Aufstellung als didaktisches Tool, als Methode für Analyse, Szenariotechnik und lösungsorientiertes Arbeiten
8.3.2.6 Die Selbsterfahrung und das „Lernen am eigenen Leib“ Erfahrung ist eine nützliche Sache. Leider macht man sie immer erst kurz nachdem man sie brauchte.
Der Satz, den Goethe sinngemäß gesagt haben soll, verdeutlicht für uns die Notwendigkeit, eine Erfahrung als Aufsteller und Therapeut durch Selbsterfahrung vorwegzunehmen, indem man den Themen durch das Lernen am eigenen Leib begegnet.
8.3 Das Curriculum
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Selbsterfahrung • Körper- und Wahrnehmungsübungen • Dyade/Triade • Transgenerationale Biografiearbeit • Die Zeit im Mutterleib • Geburt • Biografiearbeit mit der Herkunftsfamilie • Biografiearbeit mit dem Gegenwartssystem (Familie, Wahlverwandtschaft, Partnerschaft) • Ich-Behauptung, Selbst-Bejahung, Selbst-Ausdruck • Selbst-Integration • Autonomie und Verbindlichkeit • Mein Platz in mir • Mein Platz in der Gruppe • Mein Platz in der Welt • Selbstbild – Fremdbild • Mann-Frau-Erleben • Körper – Seele – Geist • Hilflosigkeit und Wut • Macht und Ohnmacht • Emotionsmanagement Die Selbsterfahrung ist eingebettet in einen andauernden Wechsel zwischen Theorie und Praxis, Input und Selbsterfahrung, Übung und Reflexion sowie Arbeit in der Großgruppe, in Kleingruppen und in Peer-Groups ergänzend zu den Weiterbildungsmodulen. Supervision und Intervision • Supervision durch die Ausbilder • Intervision in der Peergruppenarbeit Themenarbeit/Referat Teilnehmer erarbeiten alleine oder im 2-er Team ein Referat zu einem der genannten Themen. Aufgabe ist es hierbei, das Thema in mit einem oder mehreren Aufstellungsformaten und anderer Darbietungsformen aufzubereiten. So können die Teilnehmer die Inhalte am eigenen Leib erleben. Eigene Klienten Jeder Teilnehmer absolviert 5 Aufstellungen mit einem Klienten. Hierüber schreibt er einen Fallbericht, der bis zum 11. Modul abgegeben sein muss.
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8 Lehrplan, Modulgestaltung, Organisation
8.4 DGfS Richtlinien und eigene Kriterien Da für manche unserer Teilnehmer die Frage entscheidend ist, ob unsere Weiterbildung den Richtlinien der DGfS für ihre eigene Anerkennung entsprechen, geben wir ihnen in unseren Weiterbildungsunterlagen vorab immer diese Übersicht.
8.4.1 DGfS-Richtlinien Für eine DGfS-Anerkennung als Systemaufsteller gelten für die Weiterbildung in Systemaufstellung neben dem Basiscurriculum folgende Richtlinien: • Die Weiterbildung in Systemaufstellung muss von der DGfS anerkannt sein. • Sie muss von zwei anerkannten Lehrtrainern durchgeführt werden; wird die Weiterbildung nur von einem anerkannten Weiterbildner geleitet, müssen 4 der 6 verlangten Tage Hospitation (s. weiter unten) bei einem anderen anerkannten Weiterbildner absolviert werden. • Sie muss mindestens 30 Tage bzw. 240 Unterrichtseinheiten (UE = 45 min) umfassen. • 5 Tage bzw. 40 UE Arbeit in Peer-Gruppen sind erforderlich. • 6 Tage bzw. 48 UE Hospitation bei einem anerkannten Systemaufsteller DGfS. • Mindestens 2 selbst geleitete Aufstellungen unter Supervision.
8.4.2 Kriterien unserer Weiterbildung • Unsere Weiterbildung wurde von der DGfS anerkannt. • Sie wird von einem DGfS-anerkannten Weiterbildner und einem DGfS-anerkannten Aufsteller geleitet. • Sie umfasst insgesamt 12 Module à 3 Tage à 8 Unterrichtseinheiten (UE = 45 min), d. h. insgesamt 288 UE, davon 240 UE Training und weitere 48 UE Supervision, die über den Zeitraum der Weiterbildung verteilt sind. • Insgesamt 6 Tage bzw. 48 UE Hospitation bei DGfS-anerkannten Systemaufstellern/ Weiterbildnern. • Monatliche Peer-Gruppen-Treffen à 4 h sind über den gesamten Zeitraum der Weiterbildung erforderlich/24 × 4 = 96 h, von denen mindestens 80 h nachgewiesen werden müssen. • Für den erfolgreichen Abschluss ist die Teilnahme an 11 von 12 Modulen verpflichtend. • Jeder Teilnehmer erarbeitet ein Referat zu einem Weiterbildungsthema. • Jeder Teilnehmer leitet mindestens 6 Aufstellungen unter Supervision • Jeder Teilnehmer erarbeitet eine Fallstudie über 5 Sitzungen mit einem Klienten, die spätestens zum 11. Modul abgegeben sein muss. • Die Weiterbildung endet mit einer Abschlussprüfung. • Die Teilnehmer erhalten eine Abschlussurkunde.
8.5 Der modulare Lehrplan
315
8.5 Der modulare Lehrplan Hier zeigen wir Ihnen, wie wir die einzelnen Themen unseres Curriculums auf die 12 Präsenzmodule verteilt haben. Bei Weiterbildungen die aus Präsenz- und online Unterrichtseinheiten bestehen, ist die Aufteilung natürlich anders. Am Ende dieses Kapitels stellen wir Ihnen eine solche kombinierte Alternative vor.
8.5.1 Modul I – Grundlagen und Haltung • • • •
Einführung in die Weiterbildung Erstes Kennenlernen, individuelle Biografie Arbeit Geschichte der Aufstellungsarbeit und ihre Weiterentwicklung Wesentliche Aspekte der systemischen Arbeit: – Haltung – Vermittlung der Ethik-Richtlinien der DGfS – Ethische Grenzen – Achtung, Ernsthaftigkeit, Furchtlosigkeit, Absichtslosigkeit – Selbstverantwortung – Sammlung und Wahrnehmung – Präsenz, Stimme und Körperhaltung
Die Grundlagen der Aufstellungsarbeit sind in allen Modulen der Weiterbildung Thema und werden im Verlauf vertieft behandelt. Die Teilnehmer erhalten die Ethik-Richtlinien der DGfS ausgehändigt.
Mehr davon Die Lehrinhalte von Modul 1 finden Sie umfassend in Kap. 1 („Grundlagen der Systemischen Aufstellung“) aufbereitet.
8.5.2 Module II, III und IV – Methodik der Systemaufstellung Die Vermittlung der Methodik ist auf insgesamt 3 Module verteilt und außerdem in allen Modulen Bestandteil zahlreicher Übungen. Vorbereitung vor der Aufstellung • Genogramm und Biographie/unterbrochene Biografie • Indikation/Kontraindikation • Wann ist eine Aufstellung sinnvoll?
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8 Lehrplan, Modulgestaltung, Organisation
Vorgespräch zur Systemaufstellung • Zuhören und beobachten, lernen – was wird gesagt, was wird nicht gesagt, wie wird es gesagt? • Das Anliegen auf den Punkt bringen • Klären: Herkunfts- oder Gegenwartssystem • Wer gehört zum System? • Was stelle ich auf? • Wahl des Aufstellungssettings Systemische Haltung im Gespräch, Systemische Gesprächsmethoden • Präsenz und doppelte Wahrnehmung • Klientenzentrierte Gesprächsführung nach Rogers • Hypnotherapeutische Kommunikation nach Milton Erickson • Voice Dialogue (Gespräch mit inneren Anteilen) • Systemische Fragetechniken • Einbindung von Aufstellungen in laufende Beratungsprozesse Prozess der Systemaufstellung • Direktive/non-direktive Leitung • Aufbau einer Aufstellung • Stellvertretung und repräsentierende Wahrnehmung • Interventionen, Rituale und Lösungssätze • Umgang mit Widerstand, Unterbrechung • Verstrickung/Überlagerung/Verwechslung/Projektion • Beendigung und Wiederaufnahme der Arbeit • Krisenintervention und -prävention • Stärkung des Fokus • Perspektivenwechsel • Probehandeln • Kataleptische Hand Abschluss einer Systemaufstellung • Aufstellung beenden • Entrollung • Dokumentation • Nachbesprechung/Nachsorge
Mehr davon Die Lehrinhalte der Module II, III und IV finden Sie umfassend in Kap. 2 („Methodik der Systemischen Aufstellung“) aufbereitet.
8.5 Der modulare Lehrplan
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8.5.3 Modul V – Wahrnehmung und Erkenntnis • • • •
Philosophische Ideen zur Wahrheit Wahrheit und Wirklichkeit Gestalttheorie – Wahrnehmung in Mustern Phänomenologie und Konstruktivismus
Mehr davon Die Lehrinhalte von Modul V finden Sie umfassend in Kap. 3 („Wahrnehmung und Erkenntnis“) aufbereitet.
8.5.4 Modul VI – Systemordnung(en) • • • •
Gestalt und offenes System Grundfunktionen und deren Prinzipien in offenen Systemen Ordnungsprinzipien und Grunddynamiken in Familiensystemen Ordnungsprinzipien und Grunddynamiken in Organisationen und Arbeitssystemen
Mehr davon Die Lehrinhalte von Modul VI finden Sie umfassend in Kap. 4 („Systemordnung[en]“) aufbereitet.
8.5.5 Modul VII – Biografiearbeit Aufstellung anhand der eigenen Biografie • Transgenerationale Biografiearbeit • Biografiearbeit mit der Herkunftsfamilie/des Herkunftssystems: – im Mutterleib – die Geburt – die Kindheit – die Jugend • Aufstellung des Gegenwartssystems: – Familie – Wahlverwandtschaft – Mischformen aus Familie und Wahlverwandtschaft – Paarbeziehung – die eigenen Kinder – Freunde • Mutter-Liebe-Ich-Prozess • Vater-Welt-Ich-Prozess • Lebens-Integrations-Prozess (LIP) Die Teilnehmeraufstellungen zu den genannten Themen werden auf verschiedene Module verteilt.
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8 Lehrplan, Modulgestaltung, Organisation
8.5.6 Modul VIII – Selbst und Persönlichkeit Themen • Selbstbild und Fremdbild • Hilflosigkeit und Wut • Macht und Ohnmacht • Autonomie und Verbindlichkeit • Mann-Frau-Erleben • Ich-Behauptung • Ich, Ego, Selbst, Person/Persönlichkeit • Selbstbejahung und Selbstausdruck • Umgang mit der eigenen Wahrnehmung und Intuition • Emotionsmanagement • Mobbing
Mehr davon Die Lehrinhalte der Module VII und VIII finden Sie umfassend in Kap. 5 („Biografie, Selbst, Persönlichkeit“) aufbereitet.
8.5.7 Modul IX – Trauma und Traumafolgestörungen Traumaformen • Existenztrauma • Identitätstrauma • Verlusttrauma • Sexualitätstrauma • Bindungssystemtrauma Traumafolgestörungen • Hypervigilanz • Hyperaraousal • Fight, Flight, Freeze (Erstarrung) • Flashback • Dissoziative Symptome: Abgespaltenheit, Ich-Gespaltenheit, Nicht-Wahrnehmung, Absentismus • Bipolare Selbstorganisation • Depression Traumatherapeutische Ansätze • Somatic Experiencing (Peter A. Levine) • Identitätsorientierte Psychotraumatherapie (IoPT) (Franz Ruppert)
8.5 Der modulare Lehrplan
319
• Systemische Selbstintegration (Ernst Robert Langlotz) • Trauma in der Arbeitswelt
Mehr davon Die Lehrinhalte von Modul IX finden Sie umfassend in Kap. 6 („Trauma und Traumafolgestörungen“) aufbereitet.
8.5.8 Modul X – Aufstellungs-Settings und -Formate Ausgewählte Formate der Aufstellungsarbeit • Familienaufstellung • Lebensintegrations-Prozess – LIP (nach Wilfried Nelles) • Kind-Eltern-Aufstellung • Mutter-Liebe-Ich (nach Robert Doetsch) • Vater-Welt-Ich (nach Robert Doetsch) • Paaraufstellung • Beziehungsintegrationsprozess – BIP (nach Malte Nelles) • Körper-Seele-Geist-Aufstellung • Symptomaufstellung • Strukturaufstellung • (z. B. Tetralemma, nach Insa Sparrer und Matthias Varga v. Kibéd) • Polaritätenaufstellung (nach Stephanie Hartung) • Zielaufstellung (nach Dieter Dicke) • Autopoietische Aufstellung Darüber hinaus haben wir zahlreiche Formate für die Vermittlung der Weiterbildungsinhalte entwickelt, wie wir sie hier im Buch vorstellen. Ausgewählte Settings der Aufstellungsarbeit • Aufstellung mit Symbolen/Figuren/Bodenankern • Arbeit am Systembrett • Systemaufstellung im Einzelsetting • Aufstellung in der Imagination • Sonderform: Verdeckte Aufstellung Methodische Ansätze der Aufstellungsarbeit • Didaktisches Mittel • Analysetool • Szenariotechnik • Lösungszentrierte Interaktion Die Anwendung der verschiedenen Formate und Settings wird entsprechend der Teilnehmeranliegen auf alle Module verteilt. Außerdem wird ein Anliegen mit zwei
320
8 Lehrplan, Modulgestaltung, Organisation
verschiedenen Formaten bearbeitet, sodass sich die Dimensionen der Anwendungsmöglichkeiten vermitteln.
Mehr davon Die Lehrinhalte von Modul X finden Sie umfassend in Kap. 7 („Aufstellungssettings, Funktionen und Formate“) aufbereitet.
8.5.9 Modul XI – Wiederholung, Fallstudien • • • • •
Wiederholung, Vertiefung und intensive praktische Übung Abgabe der Fallstudien Organisationsaufstellung versus Familienaufstellung Aufstellung in Organisations- und Personalentwicklung Verbindungsarten in der Organisationsaufstellung: – Mensch – Mensch – Mensch – Ding – Ding – Ding
8.5.10 Modul XII – Abschlussprüfungen • Nachbesprechung der Fallstudien mit Supervision • Abschlussprüfung Theorie und Praxis • Übergabe der Zertifikate Zwar haben wir die Themen deutlich voneinander abgegrenzt und auf die einzelnen Module verteilt, in der Weiterbildungspraxis ergibt sich jedoch erfahrungsgemäß ein stetes „Mäandern“ zwischen den Themenbereichen. Wir haben daher gute Erfahrungen damit gemacht, immer wieder einen Überblick über den aktuellen Stand der Weiterbildung mit ihren komplexen Verbindungen zu geben. In jedem Modul wechseln theoretischer Input in Kombination mit praktischen Selbsterfahrungselementen (Aufstellung als didaktisches Tool), die Vorstellung von Aufstellungsformaten und möglichen Settings sowie praktische Übungen und Elemente der Selbsterfahrung einander ab. Dabei liegt der Fokus auf der intensiven Übung der Gesprächsführung vor und während der Aufstellung sowie auf der praktischen Leitungsübung von Aufstellungsprozessen.
8.5.11 Kombinierte Weiterbildung aus Präsenz- und Onlinemodulen Angesichts der jüngsten Entwicklungen im Online-Aufstellungsgeschehen (in Folge von Corona) und mit Blick auf die insgesamt zunehmende Internationalisierung der
8.6 Referate und Vorträge
321
Aufstellungsarbeit und damit auch der Aufstellungsweiterbildungen können dieselben Inhalte zum Beispiel auch in einer Struktur vermittelt werden, in der Präsenz- und Onlinearbeit einander abwechseln. Hierfür haben wir 4 Module konzipiert. Jedes Modul beinhaltet 5 Tage à 7 Zeitstunden Präsenztreffen, 3 x 4 Zeitstunden Online Workshops sowie 3 x 3 Zeitstunden Online Supervision. In Summe ergibt sich so dieselbe Menge an 288 Unterrichtseinheiten (à 45 Minuten). Die Verteilung der Themen auf die Module sieht bei uns so aus: Modul 1 • Einführung und Grundlagen • Methodik und Methoden • Aufstellungsformen und -formate • Gestalttheorie und Systemtheorie Modul 2 • Wahrheit und Wirklichkeit • Wahrnehmung • Phänomenologie und Konstruktivismus Modul 3 • Biografiearbeit • Persönlichkeitsentwicklung • Trauma Abgabe der Fallstudien bis 4 Wochen vor Start Modul 4 Modul 4 • Wiederholung und Vertiefung • Abschlussprüfungen Auch in dieser Struktur sollen die Teilnehmer eigene Themen erarbeiten und online mit eigens kreierten Aufstellungsformaten präsentieren.
8.6 Referate und Vorträge Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, Dozenten mit spezifischer Themenexpertise (z. B. Trauma, Organisationsentwicklung) in unsere Weiterbildung einzuladen. Darüber hinaus gibt es ein breites Themenangebot, das sich über die Wissensbereiche Psychologie, Naturwissenschaft, Medizin und Psychiatrie, Soziologie, Philosophie, Geschichte, Organisations- und Personalentwicklung, Systemische Therapie und Beratung erstreckt.
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8 Lehrplan, Modulgestaltung, Organisation
In unseren Weiterbildungen erarbeiten die Teilnehmer einige Weiterbildungsinhalte selbst. Unsere zwei einzigen bedingenden Vorgaben dabei sind, dass sie erstens das Referat nicht alleine, sondern zu zweit erarbeiten und halten (und sich dafür einen Partner suchen, den sie noch nicht kennen), und dass sie zweitens die Lehrinhalte in ein oder mehrere Aufstellungsformate übersetzen/transferieren, damit die anderen Teilnehmer die Themen sowohl kognitiv erfassen als auch „am eigenen Leib“ erfahren bzw. erleben können. Außerdem lernen die Teilnehmer so, abstrakte oder komplexe Inhalte mithilfe von Aufstellungen als didaktisches Tool einzusetzen. Die didaktischen wie systemischen Vorteile unserer Referatregelung sind dabei: • Die Teilnehmer lernen einander außerhalb der Gruppe vertieft kennen. • Die Teilnehmer erarbeiten sich die Inhalte selbst und bekommen dadurch ein vertieftes Verständnis der jeweiligen Themen. • Die Teilnehmer üben sich in der theoretischen wie praktischen Vermittlung systemischer Inhalte – als Vorbereitung auf die eigene Arbeit als Systemaufsteller und damit als Gruppenleiter. • Die Didaktik wird durch verschiedene Vortragende sehr abwechslungsreich. • Durch den Rollen-/Funktionswechsel, der durch die Referate in jedem Modul stattfindet, können sich typische gruppendynamische Strukturen und Verhalten nicht so leicht verfestigen. Mögliche Themen für Referate/Vorträge • Geschichte der Aufstellung und ihre Entwicklung • Gestalttheorie – Wahrnehmung in Mustern • Systemtheorie • Phänomenologie und Konstruktivismus • Philosophische Ideen zur Wahrheit • Wahrheit und Wirklichkeit • Wahrnehmung und Erkenntnis • Grundfunktionen und Funktionsprinzipien in offenen Systemen/Ordnungsprinzipien in verschiedenen offenen Systemen • Trauma und Traumafolgestörungen • Intrauterines Trauma, Geburtstrauma • Trauma in der Arbeitswelt • Identitätsorientierte Psychotraumatherapie (nach Franz Ruppert) • Somatic Experiencing (nach Peter Levine) • Systemische Selbstintegration (nach Ernst Robert Langlotz) • Systemaufstellung in Organisations- und Personalentwicklung (OE, PE)
Mehr davon Zu allen Referat-Themen finden Sie Hintergrundwissen in den Kap. 1–7. Im folgenden Abschn. 8.7 finden sie eine beispielhafte detaillierte Zeitplanung des ersten Moduls der Weiterbildung.
8.7 Einstieg in die Weiterbildung – das erste Modul
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8.7 Einstieg in die Weiterbildung – das erste Modul 8.7.1 Einführung Damit Sie eine konkrete Vorstellung über die Möglichkeiten der Gestaltung des Einstiegsmoduls einer Weiterbildung bekommen, beschreiben wir unsere Vorarbeit und den Ablauf unseres ersten Moduls hier sehr praxisnah.
8.7.2 Das erste Modul: Detaillierte Planung der 3 Tage Hier zeigen wir Ihnen eine detaillierte Beispielplanung für ein erstes Modul unserer Weiterbildung. Jeder Tag beginnt mit einer Runde, in der jeder Teilnehmer sagt, wie es ihm geht, ob es vordringliche Themen gibt, die ihm am Herzen liegen, etc. Die Tage enden mit ähnlichen Abschlussrunden. In beiden Runden sollen die Sprechenden nicht unterbrochen werden. Die Beiträge sollen einem sogenannten „Sharing“ gleichen, bei dem die Teilnehmer angehalten sind, nicht über sich, sondern aus sich heraus zu reden. In der Regel machen wir daher häufig eine meditative Übung vor den Gesprächsrunden. Die Runden schulen die Teilnehmer darin, sich mit ihren Themen zu zeigen, zuzuhören und Themen ihrer Kollegen kennenzulernen. Die zu Beginn des Moduls genannten Themen werden auf dem Flipchart festgehalten und sind später gute Anlässe, um bestimmte Formate einzuführen. Wir bemühen uns, alle genannten Anliegen in Kombination mit dem Thema des jeweiligen Moduls zu bearbeiten. Das Kernelement des ersten Moduls der Weiterbildung ist das Aufstellungsformat der sogenannten Biografieinseln, einem Sonderformat der Einzelarbeit, das wir Ihnen im Anschluss an die Zeitplanung vorstellen. Freitag 12.00 – Start Sammlungsübung „Doppelte Wahrnehmung“ – 15 min.
Mehr dazu Die Übung finden Sie in Abschn. 1.4.2 (unter „Absichtslosigkeit“).
12.15 Ich stelle mich vor, pro Teilnehmer ca. 5 min (je nach Teilnehmerzahl): • • • •
meine private Situation/meine berufliche Situation, warum ich mich für diese Weiterbildung entschieden habe, was für mich ein gutes Ergebnis der Weiterbildung wäre, meine Stärken/meine Schwächen.
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8 Lehrplan, Modulgestaltung, Organisation
13.45–14.15 Pause. 14.15–14.40 Die Dozenten stellen sich vor. 14.40–14.45 Kurze Pause. 14.45–16.00 Aufstellungsformat Selbst und Ego (Abb. 8.2): • Ziel der Übung ist die mögliche Erkenntnis über den Unterschied zwischen der Idee, die die Teilnehmer von sich haben, und ihrem eigenen Potenzial. • Paarübung A und B/2 × 20 min plus 20 min Plenum (1 Stunde). • A und B stehen einander gegenüber und sprechen nicht. A steht für sein eigenes Selbst/Potenzial, B steht für das Ego/das Selbstkonzept von A. Nach 10 min wechseln die Partner: B steht nun für sein eigenes Selbst/Potenzial, A steht für das Ego/ das Selbstkonzept von B. Nach weiteren 10 min tauschen sich A und B über ihre Erfahrungen aus. Anschließend werden die Erfahrungen im Plenum besprochen. • (Das Format wird später im Kontext der Selbsterfahrung in der zweiten Hälfte der Weiterbildung in einer modifizierten Variante als Selbst und Ich wiederholt – s. hierzu Abschn. 5.3.2 („Selbst.)
Abb. 8.2 Selbst und Ego
8.8 Biografieinseln
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16.00–16.10 Kurze Pause. 16.10–17.30 Zwei Aufstellungen von Teilnehmeranliegen, Leitung Lehrtrainer. 17.35–18.00 Abschlussrunde. Samstag Start 10:00 Kurze Sammlungsübung/Meditation und Einstiegsrunde „Wie bin ich heute morgen hier?“. 10:30–17:30 Biografieinseln.
Mehr dazu Eine Beschreibung der Arbeit mit Biografieinseln finden Sie im folgenden Abschn. 8.8.
17:30–18:00 Abschlussrunde. Sonntag Start 10:00 Kurze Sammlungsübung und Einstiegsrunde. 10:30–13:30 Wenn die Biografieinseln noch nicht abgeschlossen sind, damit weiter, anderenfalls bis Abschlussrunde Familienaufstellung der Teilnehmer. 13:30–14:00 Abschlussrunde und Ausblick auf das nächste Modul.
8.8 Biografieinseln Die Biografieinseln sind ein Aufstellungsformat aus dem Setting der Einzelarbeit und eignen sich aus unserer Erfahrung sehr gut für den Einstieg in eine Weiterbildung. Zum einen verdichten sich die Lebensthemen der Teilnehmer in ihren Aufstellungen, zugleich üben sie sich selbst als Klienten in der Aufstellung. Nicht zuletzt nutzen wir zentrale Themen, um parallel zur Biografieinsel eine Aufstellung zu machen. Wir verfügen über eine große Kiste mit unterschiedlichsten Figuren, die wir für die Biografieinsel zusammengetragen haben. Diese schütten wir in der Mitte des Raumes
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aus und bitten die Teilnehmer, sich einen Platz im Raum zu suchen, auf dem sie mithilfe der Figuren ihr Leben – von der Kindheit bis heute – aufstellen. Durch die Biografieinseln klingen existenzielle Themen an. Angesichts des ersten Moduls aber gehen wir nicht zu tiefgreifend auf sich zeigende Themen ein, und wenn wir Hinweise auf mögliche Traumata oder andere Symptome sehen, benennen wir sie an dieser Stelle nicht. Wir notieren unsere Erkenntnisse und kommen darauf in dem intensiven Themenblock von Biografie, Selbst, Persönlichkeit und Trauma zurück. Im zweiten Teil der Weiterbildung werden die Teilnehmer noch einmal mit ihrer Biografie und der Selbsterfahrung befasst sein – erfahrungsgemäß können sie dann deutlich die Entwicklungen erkennen, die sie im Verlauf der Weiterbildungen machen konnten. In Abb. 8.3, 8.4, 8.5 und 8.6 zeigen wir Ihnen einige Beispielbilder der Biografieinseln aus unseren Gruppen.
Abb. 8.3 Missbrauch – endlich frei
8.8 Biografieinseln Abb. 8.4 Ich habe mir einen Beruf gesucht, der mir Kontrolle und Macht ermöglicht
Abb. 8.5 Ich war früher ein ängstlicher Hase und habe mich versteckt
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Abb. 8.6 Die Kindheit war wie ein Gefängnis, ich wollte die Erde verlassen und auf den Mond fliegen
8.9 Vorbereitung – organisatorische Aspekte und Checklisten Neben der Aufbereitung Ihres eigenen Curriculums und der Erstellung von Ausbildungsunterlagen, in denen die Teilnehmer über die geplanten Module, deren Termine und Themen ebenso wie über die Dozenten informiert werden, brauchen Sie vor Beginn der Weiterbildung Regelungen für die Teilnahme, die Anmeldung und die Zahlungsmodalitäten. Wir zeigen Ihnen eine Übersicht über die wichtigsten Unterlagen.
8.9.1 Informationen und Konditionen Wir haben Beispiele für sämtliche nötigen Informationen und Konditionen für die Teilnahme an der Weiterbildung ebenso wie Zahlungskonditionen, Anmeldeformulare und Erklärung zur Eigenverantwortung bei Springer zum Download hinterlegt. Die Informationen über die Weiterbildungen müssen Detailfragen zu diesen Punkten beantworten: • Ist die Weiterbildung anerkannt – wenn ja, bei welcher anerkennenden Institution? • Was bedeutet das für die Teilnehmer?
8.9 Vorbereitung – organisatorische Aspekte und Checklisten
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• Wie umfangreich ist die Weiterbildung – wie viele Module mit insgesamt wie viel Tagen? • Mit wie vielen Unterrichtsstunden? • Gibt es zusätzliche Anforderungen (z. B. Hospitationen, Peergroups, Referate, Fallstudien etc.)? • Gibt es eine abschließende Prüfung? Und wenn ja, ist diese abschlussrelevant? • Welche Teilnahmebedingungen gelten (z. B. Mindestalter etc.)? • Termine der Module und Uhrzeiten der Modultage • Veranstaltungsort • Informationen zu Verpflegung • Kosten der Weiterbildung und Information darüber, was im Preis enthalten ist • Eventuell Angebot einer Ratenzahlung • Informationen zum Anmeldeprozess (im Downloadbereich finden Sie ein Anmeldeformular) • Information zu Konditionen bei Rücktritt • Information zu evtl. Fördermöglichkeiten (z. B. Bildungsscheck)
8.9.2 Checklisten und Handouts, Regeln Für das erste Modul und die weitere Weiterbildung bereiten wir folgende Unterlagen vor: Die mit „(D)“ gekennzeichneten Items haben wir bei Springer zum Download für Sie hinterlegt. Das bereiten wir vor • Anwesenheitslisten für jeden Tag jedes Moduls • Liste zum späteren Befüllen: persönliche Themen, Beiträge etc. einzelner Teilnehmer, wie viele Aufstellungen leiten sie im Rahmen der WB, wie viel Anliegen bringen sie ein • Liste der Referate mit einem Feld für den Namen des Teilnehmers/Dozenten • Erklärung der eigenverantwortlichen Teilnahme an der Weiterbildung mit Unterschriftfeld (D) • Termine und Themen der 12 Module • Liste mit Literaturempfehlungen • Liste der DGfS-Arbeitskreise • Ethik-Richtlinien der DGfS • Informationen und struktureller Leitfaden für eine Fallstudie (D) • Formular für die Protokollerstellung (D) • Ordner für jeden Teilnehmer, der alle Unterlagen beinhaltet Das schicken wir den Teilnehmern vor dem ersten Modul • Termine und Themen der 12 Module • Tipps zur Stadt und zur Umgebung mit Hotels, Restaurants und Parkmöglichkeit
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Das geben wir den Teilnehmern zu Beginn des ersten Moduls • Erklärung der eigenverantwortlichen Teilnahme an der Weiterbildung – mit Unterschrift zurück an uns • Liste mit Literaturempfehlungen • Liste der DGfS-Arbeitskreise • Ethik-Richtlinien der DGfS Darüber sprechen wir mit den Teilnehmern zu Beginn des ersten Moduls • Wir sagen etwas zur grundsätzlichen Konzeption der Weiterbildung. • Wir informieren über die gebotene Schweigepflicht und lassen diese im Rahmen der Liste des folgenden Punktes schriftlich bestätigen. • Wir lassen eine Liste herumgehen, die darüber informiert, wie viel Anwesenheit und Peer-Gruppen-/AK-Arbeit mindestens für einen Abschluss verpflichtend ist – wir lassen jeden Teilnehmer die Liste unterschreiben. • Wir informieren über die Fallstudie und stellen den strukturellen Leitfaden hierfür vor, den wir austeilen bzw. nach dem 1. Modul per Mail versenden. • Wir stellen die Themen der Referate vor; die Teilnehmer tragen sich auf dem vorbereiteten Flipchart jeweils zu zweit ein; wir schicken die Liste der Referate und Referenten per Mail. • Wir informieren über die Protokollierung von Aufstellungen und stellen das entsprechende Formular vor – jeweils 2 Teilnehmer protokollieren ein Modul. • Wir informieren über genügend Pausen und darüber, dass die Teilnehmer während einer Aufstellung den Raum nicht verlassen sollen. • Wir stellen die Ethik-Richtlinien der DGfS vor und geben jedem Teilnehmer ein ausgedrucktes Exemplar. • Wir stellen die Literaturliste vor und teilen sie aus. • Wir informieren über Verpflegung und Getränke während der Weiterbildung. • Wir verteilen Tipps und Informationen zu unserem Stadtviertel. • Wir verteilen die Ordner mit sämtlichen Unterlagen. • Wir lassen eine Liste für Name, Adresse, Mailkontakt herumgehen lassen – alle füllen aus (wenn gewünscht), wir schicken die Liste an die Teilnehmer per Mail. • Bei größeren Gruppen eignet es sich eventuell, ein Foto von der Gruppe zu machen – hierfür muss im Rahmen der neuen Datenschutzbestimmung die schriftliche Zustimmung jedes Teilnehmers eingeholt werden. Hierfür muss ein entsprechendes Formular vorbereitet werden.
Literatur DGfS. (2020). Deutsche Gesellschaft für Systemaufstellung. Richtlinien für die Weiterbildung seit 2018. http://systemaufstellung.com/node/1481.
Literatur
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Literaturempfehlungen für die Weiterbildung (alphabetisch) de Philipp, W. (2006). Systemaufstellungen im Einzelsetting. Heidelberg: Carl-Auer. Drexler, D. (2015). Einführung in die Praxis der Systemaufstellung. Heidelberg: Carl-Auer Compact. Hartung, S. (2014). Warum funktionieren Aufstellungen? Baden-Baden: Deutscher WissenschaftsVerlag. Hartung, S. (2018). Theorie und Praxis der Organisationsaufstellung. Berlin: Springer Gabler. Hartung, S. (2019). Trauma in der Arbeitswelt. Berlin: Springer Gabler. Hausner, S. (2008). Auch wenn es mich das Leben kostet. Heidelberg: Carl-Auer. Hegemann, T., & Oestereich, C. (2009). Einführung in die interkulturelle systemische Beratung und Therapie. Heidelberg: Carl-Auer Compact. Heller, D., & Heller, L. S. (2012). Trauma–Lösungen. Essen: Synthesis. Hellinger, B. (1999). Wie Liebe gelingt. Heidelberg: Carl-Auer. Hellinger, B. (2003). Ordnungen des Helfens. Heidelberg: Carl-Auer. Hellinger, B. (2007). Ordnungen der Liebe. Heidelberg: Carl-Auer. Hildenbrand, B. (2005). Einführung in die Genogrammarbeit. Heidelberg: Carl-Auer. Langlotz, E. R. (2015). Symbiose in Systemaufstellungen. Berlin: Springer Gabler. Levine, P. A. (2016). Trauma und Gedächtnis. München: Kösel. Nelles, W. (2005). Die Hellinger Kontroverse. Freiburg: Herder. Nelles, W. (2009). Das Leben hat keinen Rückwärtsgang. Köln: Innenwelt. Nelles, W. (2016). Alles ist Bewusstsein. Köln: Innenwelt. Nelles, W., & Gessner, T. (2014). Die Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Köln: Innenwelt. Patrzek, A. (2016). Systemisches Fragen. Berlin: Springer Gabler. Ruppert, F. (2008). Trauma, Bindung und Familienstellen. Stuttgart: Klett-Cotta. Ruppert, F., & Banzhaf, H. (2017). Mein Körper, mein Trauma, mein Ich. München: Kösel. Sparrer, I. (2007). Einführung in Lösungsfokussierung und Systemische Strukturaufstellung. Heidelberg: Carl-Auer Compact. Weber, G. (2007). Zweierlei Glück – Das klassische Familienstellen Bert Hellingers. Carl-Auer: Heidelberg.
Anhang
Einführung Im Anhang finden Sie Themen, die je nach Interesse ergänzende Bestandteile einer Weiterbildung sein können – wie z. B. die Biografien, die sich für Teilnehmerreferate eignen. Sie finden außerdem eine Liste der internationalen gemeinnützigen Aufstellerverbände bzw. -vereine, die Ethik-Richtlinien von DGfS, ISCA und SYSTCONNECT sowie Literaturempfehlungen.
Biografien Im Kontext der Entwicklung der Aufstellungsarbeit stellen wir Ihnen hier die Biografien von Jacob Moreno, Fritz Perls und Bert Hellinger vor. Wir sind uns bewusst, dass die Auswahl der Personen mit Blick auf die Relevanz für die Methode Widerspruch hervorrufen kann, und wir wissen natürlich, dass es auch andere gab, die entscheidend an der Entwicklung der Aufstellungsarbeit beteiligt waren. Durch ihre jeweils mannigfaltigen Verbindungen bieten die drei ausgewählten Biografien von Moreno, Perls und Hellinger aus unserer Sicht die optimale Möglichkeit, andere entscheidende Personen und Einflüsse einzuflechten und dadurch mit zu erwähnen.
Jacob Moreno und Psychodrama Jacob Moreno wird als erstes von 6 Kindern am 18.05.1889 in Bukarest, Rumänien, geboren. Die Eltern, sephardische Juden, sind bei seiner Geburt 33 und 15 Jahre alt. 1895 übersiedelt die Familie auf der Flucht vor Armut und Antisemitismus nach Wien und von da aus 1903 nach Berlin. Als die Eltern sich trennen, macht Jakob seine Mutter dafür verantwortlich und distanziert sich von der Familie. Er bricht im Alter von 15 Jahren die Schule vor der
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hartung und W. Spitta, Lehrbuch der Systemaufstellungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61192-0
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Hochschulreife ab, kehrt allein nach Wien zurück und studiert dort ab 1909 an der Universität zunächst Philosophie (das geht ohne Abitur), später dann Medizin. Unter anderem hört und liest er Freud, distanziert sich aber früh von dessen Überzeugungen. Moreno finanziert sein Studium als Hauslehrer und gründet mit Chaim Kellner das „Haus der Begegnung“, ein Asyl für Flüchtlinge und Einwanderer. Er arbeitet außerdem in der psychosozialen Betreuung von Prostituierten und beginnt, Kinder beim (Rollen-) Spiel zu beobachten. Nebenher trifft er sich regelmäßig mit Literaten, Philosophen und Künstlern im Café Herrenhof in Wien. Gemeinsam gründen sie schließlich die Zeitschrift „Daimon“. Zu den Gründungsmitgliedern gehören Franz Werfel, Max Brod, Fritz Lampl und Alfred Adler. In dem Magazin veröffentlichen so bekannte Autoren wie Blaise Pascal, Martin Buber, Jakob Wassermann, Oskar Kokoschka oder auch Heinrich Mann. Moreno publiziert auch eigene Texte wie z. B. „Die Gottheit als Autor“, „Die Gottheit als Redner“ und „Die Gottheit als Komödiant“, „Die Einladung zu einer Begegnung“, „Das Testament des Vaters“. Im Februar 1917 schließt Moreno sein Medizinstudium erfolgreich ab und beginnt als Betriebsarzt der Kammgarnfabrik in Bad Vöslau sowie als Hausarzt bei einer Schauspielerin zu arbeiten. Schnell erarbeitet er sich einen Ruf als „Wunderdoktor“. Zwischen 1918 und 1925 wendet er sich von den Literaten ab und den Theaterleuten zu. Er gründet das „Theater der Spontaneität“, ein Stegreiftheater, in dem er erste psychodramatische Experimente startet. Am 1. April 1921 inszeniert er im Wiener Komödienhaus sein erstes öffentliches Stegreiftheater-Experiment „Das Narrentheater im Königsnarren“, auch unter dem Titel „Das Narrenhaus des Herren der Welt von Jacob Levy“ angekündigt. Zu sehen sind weder ein Theaterstück noch Schauspieler im herkömmlichen Sinn. Vielmehr versucht Moreno, gemeinsam mit Protagonisten und dem Publikum ein spontanes Spiel zu verwirklichen. Später wird er in dieser Veranstaltung den Beginn des Psychodramas verorten, die Tagespresse schreibt vom „Dadaismus im Komödienhaus“. Moreno schreibt sein erstes Buch: „Das Stehgreiftheater“ (Moreno 1921). Im selben Jahr führt er angeblich das gruppenanalytische Diwan-Experiment durch, das der Widerlegung der psychoanalytischen Regel der freien Assoziation dienen soll. Die Teilnehmer liegen jeweils auf eigenen Diwanen und assoziieren laut vor sich hin. Die dabei entstehenden gegenseitigen Beeinflussungen lassen eine Gruppenproduktion entstehen, die als erste Form der Gruppenanalyse und Gruppentherapie verstanden werden kann. Ein Jahr vor seinem Auftritt im Wiener Komödienhaus lernt er seine erste große Liebe und Muse Marianne Lörnitzo, eine Lehrerin, kennen. Mit deren Bruder entwickelt er ein magnetisches Sprachaufzeichnungsgerät, das beachtliche Entwicklungskosten und kaum Verkäufe bringt. Die hohen Schulden treiben Moreno mehr und mehr in die Isolation. Die zeitgleich zunehmenden antisemitischen Strömungen in der Bevölkerung und nicht zuletzt eine Krise in der Beziehung zu Marianne führen schließlich zu seiner Entscheidung, 1925 nach Amerika zu emigrieren.
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Er landet 1926 in New York und bleibt in der Stadt, in der die ersten Jahre zu einem permanenten Überlebenskampf für ihn werden. In diesen frühen Jahren der Emigration wird Moreno vor allem von seinem Bruder William L(evy) Moreno (1892–1976) finanziell unterstützt. Nachdem er im Mai 1927 die Prüfung für eine Zulassung als Arzt erfolgreich besteht, erhält Moreno am 22. September 1927 vom Staat New York die Erlaubnis, in den Vereinigten Staaten als Arzt zu praktizieren. Auf Vermittlung des aus Ungarn stammenden Kinderarztes Béla Schick arbeitet Moreno am Department of Pediatrics and Mental Hygiene des Mount Sinai Hospital, wo er den Spontaneity Test einführt. Die Studien setzt er mit dem Psychiater Ira Wile bis 1929 fort. Bei seiner Arbeit lernt er auch die Kinderpsychologin Beatrice Beecher (1894–1972) kennen, mit der er 1928 eine Vertragsehe eingeht, die seinen Aufenthalt in Amerika legalisiert und ihn 1934 zum American Citizen machen wird. Beatrice ermöglicht ihm außerdem den Zugang zum Plymouth Institute, bei dem sie angestellt ist. Hier entwickelt Moreno seine Impromptu School, ein Stegreiftheater, in dem er zunächst ausschließlich mit Kindern arbeitet. Mit seiner Arbeit erreicht er schnell öffentliche Aufmerksamkeit. Seine begleitenden soziometrischen Studien im Gefängnis Sing und in einem Erziehungsheim für Mädchen führen schließlich zu seiner großen Popularität. Bei seiner Arbeit lernt er in der ersten Hälfte der 1930-er Jahre seine zweite Frau Florence Bridge kennen, mit der er 10 Jahre verheiratet bleiben wird. Aus dieser Beziehung stammt seine Tochter Regina. Die von ihm entwickelte Methode des Psychodramas als psychotherapeutische Methode breitet sich in New York rasch aus. Die Begriffe Gruppentherapie und Gruppenpsychotherapie werden erstmals von Moreno 1931 eingeführt. 1934 erscheint sein Buch „Who shall survive?“ (Moreno 1953, deutsche Ausgabe Moreno 1954). 1936 eröffnet Moreno sein eigenes psychiatrisches Sanatorium, das Beacon Hill Sanatorium, wo er die Ideen einer Bühne für Psychodrama verwirklicht und konsequent weiterentwickelt. Beacon wird zur Realisation einer Utopie, es wird zu Morenos Möglichkeit, seine Hypothesen zu überprüfen und seine Arbeit zu vertiefen. Für Patienten, Psychiater, Pflegepersonal, Sozialarbeiter und Interessierte aus aller Welt wird Beacon zum Inbegriff einer Stätte des Lernens und Experimentierens, ein psychodramatisches Psychiatriemodell. 1942 gründet Moreno die Gesellschaft für Psychodrama und Gruppenpsychotherapie. 7 Jahre später heiratet er Zerka Toeman (dann Zerka T. Moreno), die seine wichtigste und letzte Partnerin sein wird. Mit ihr veröffentlicht er die Bücher „Psychodrama, Vol. 2“ (1959) und „Psychodrama, Vol. 3“ (1964). Bei „Psychodrama, Vol. 1“ (1946) wurde sie noch nicht als Mitarbeiterin genannt. In den späteren Jahren reisen die Morenos auf Einladung vieler Universitäten rund um die Welt und bilden zahlreiche Psychodramatiker aus. 1952 wird sein Sohn Jonathan David geboren. Moreno gibt zwei weitere Zeitschriften heraus, zunächst „Sociometry“ (ab 1937), dann „Sociatry. Journal of Group and Inter-GroupTherapy“ (ab 1947) Von 1951–1966 ist er Außerordentlicher Professor für Soziologie an der New York University. Am 14.5.1974 stirbt Moreno in Beacon und wird später in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt.
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Psychodrama Der Name Psychodrama setzt sich aus den griechischen Wörtern „drama“ = Handlung und „psyche“ = Seele zusammen. Im Psychodrama geht es darum, die inneren seelischen Vorgänge spielerisch sichtbar zu machen. Morenos entscheidende Erkenntnis dabei war, dass Menschen hauptsächlich durch Handeln und nicht durch Sprechen lernen. Kinder begreifen die Welt im Spiel im Wesentlichen dadurch, dass sie Erwachsene nachahmen. Im Gegensatz zu anderen psychotherapeutischen Verfahren seiner Zeit wartete das Psychodrama erstmals überhaupt nicht mit Sprechen, sondern mit Handeln auf. Was Thema des Klienten war (und ist), wurde (und wird) in Handlung umgesetzt. In seiner Autobiografie erinnert sich Moreno an eine Begegnung mit Sigmund Freud im Jahr 1912. Ich habe eine von Freuds Vorlesungen besucht. Er hatte gerade eine Analyse eines Traums abgeschlossen. Als die Studenten sich meldeten, hob er mich aus der Menge hervor und fragte mich, was ich tue. Ich antwortete: „Nun, Dr. Freud, ich beginne dort, wo Sie aufhören. Sie treffen Menschen in der künstlichen Umgebung Ihrer Praxis. Ich treffe sie auf der Straße und in ihren Häusern, in ihrer natürlichen Umgebung. Sie analysieren die Träume Ihrer Patienten. Ich gebe ihnen den Mut, wieder zu träumen. Sie analysieren Ihre Patienten und zerreißen sie. Ich lasse sie ihre gegensätzlichen Rollen ausspielen und helfe ihnen, die Teile wieder zusammenzusetzen“. (Moreno 1985; Übersetzung Stephanie Hartung) Eine psychodramatische Sitzung zum Beispiel ist weit davon entfernt, immer Gruppenpsychotherapie zu sein. Es ist oft nur die Behandlung eines bestimmten Individuums in der Gruppe. (Moreno 1947)
Wie elementar entscheidend die Entwicklung des Psychodramas für die Entwicklung der Systemaufstellung ist, macht nicht zuletzt auch das nachfolgende Zitat deutlich. Ohne Jacob Moreno wäre die heutige Form des Systemstellens vielleicht gar nicht entstanden. Was das Psychodrama ist, wie es abläuft und was es bewirkt, läßt sich nur schwer mit Worten beschreiben. Es ist keine „verbale“ Methode, bei der die Kommunikation hauptsächlich oder ausschließlich über das Medium Sprache läuft. Es ist, wie der Vater des Psychodramas, Jacob Levy Moreno, einmal gesagt hat, eine Aktionsmethode. Im Mittelpunkt des Psychodramas stehen – genauso wie im „wirklichen“ Leben – Handlungen in Szenen. Diese Handlungen finden in einer Gruppe statt. Sie laufen nicht nach einem festen Schema ab; deshalb kann man das Psychodrama auch nicht über „Konserven“ lernen, bei denen man nur beobachtet, was andere tun. Das Psychodrama ist eine Aktionsmethode, bei der eine Gruppe von Personen zusammenarbeitet. Die Gruppe verpflichtet sich untereinander zu absoluter Vertraulichkeit. Zur Gruppe gehört ein Psychodramaleiter. Ein Gruppenmitglied, der Protagonist, steht im Mittelpunkt. Der Leiter erarbeitet mit ihm seine Geschichte und bittet ihn, diese mittels einer Szene auf einer Bühne vorzustellen. Für dieses Spiel gibt es kein vorgefertigtes Drehbuch. Es entwickelt sich aus der Situation heraus. Hierbei hat er freie Hand, welche Szene er mit den übrigen Gruppenmitgliedern darstellen und durcharbeiten will.
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Nehmen wir einmal an, der Protagonist sei ein (noch) schüchternes Erstsemester, das nach einer Statistikvorlesung mit einer bestimmten Person Kontakt aufnehmen möchte. Der Protagonist erklärt vor der Gruppe, wie die Szene im wirklichen Leben ausschaut. Er sucht sich innerhalb der Gruppe Personen, die in seiner Szene für die wirklichen Personen stehen. Im Psychodrama werden diese Personen „Hilfs-Ich“ oder „Auxiliary Ego“ genannt. Für sich kann er einen Stellvertreter (Alter Ego) aussuchen, um sich die Szene von außen betrachten zu können. Der Leiter steuert den Spielverlauf und bringt die Szene zum Abschluss. Im Psychodrama wird nicht „nachgespielt“. Durch Rollentausch kann der Protagonist in die Rolle der Person auf der Bühne schlüpfen, mit der er gerne Kontakt aufnehmen möchte, und dadurch die andere Seite der Interaktion kennenlernen. Durch das „Alter Ego“ kann der Protagonist sein eigenes Verhalten und Erleben im Spiegel einer anderen Person betrachten, die ihn darstellt. Durch einen inneren Monolog kann der Protagonist einer anderen Person alles sagen, was er unter „normalen Umständen“ niemals sagen würde. Nach dem Durchspielen von einer oder mehreren Szenen kehrt der Protagonist wieder in die Gruppe zurück. Durch das Mitteilen der Gruppe, ob und wie sie ähnliches erlebt haben, dem „Sharing“, helfen Sie dem Protagonisten. Der Protagonist erfährt, wie die Mitglieder der Gruppe selbst solche Situationen erlebt haben und was dadurch ihnen ausgelöst worden ist. Mit einem Feedback der Rolleninhaber, dem sog. „Rollenfeedback“, erfährt der Protagonist, was die Darsteller in den Szenen erlebt haben. Auch hier ergeben sich für ihn spannende Momente, da er ja sehr genau die Sicht des „anderen“ auf sein Verhalten erfährt. Das Psychodrama kann, richtig angewendet, dabei helfen, durch eigenes Handeln sich selbst und andere besser kennen zu lernen und darüber hinaus neue Problemlösungen und Handlungen für eingefahrene Situationen auszuprobieren. (Weber 2019b)
Fritz Perls und die Gestalttherapie Fritz (Frederick Salomon) Perls wird 1893 als 3. Kind einer betuchten jüdischen Händlerfamilie in Berlin geboren. Er gilt als ein begabtes, rebellisches und schwer erziehbares Kind, das sich schon früh für die Schauspielerei begeistert und von einer Schauspielerkarriere träumt. Man wird später von ihm sagen, für die Schauspielerei sei er zu untalentiert gewesen, die Liebe zur Selbstinszenierung aber sei ihm zeitlebens erhalten geblieben. 1914, kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs, nimmt Perls ein Medizinstudium auf, und auch diese Wahl kann als rebellische Auflehnung gegen seine Familie verstanden werden, die von ihm erwartet hatte, dass er in die Fußstapfen seines Onkels, eines berühmten Rechtsgelehrten trete. 2 Jahre später, 1916, wird er an die Front gerufen und als Sanitätsoffizier bei Gasangriffen verletzt. 1921 promoviert er in Medizin und eröffnet eine Praxis als Arzt für Psychiatrie und Neurologie in Berlin. Während seines Studiums spielt er – bis auf die Unterbrechung an der Front – am expressionistischen Theater von Max Reinhard als
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Statist mit und entdeckt hier für sich die vielfältigen Aspekte der Körpersprache. Insbesondere beeindruckt ist er dabei, welch großen Wert Reinhardt auf die Kongruenz zwischen verbalem und nonverbalem Ausdruck legt. Im Bereich der Medizin interessiert sich Fritz Perls insbesondere für die Psychiatrie und das Werk von Freud. Nach längeren autodidaktischen Studien und einem mehrmonatigen Aufenthalt in New York beginnt er eine Lehranalyse bei Karen Horney und damit auch seine Ausbildung zum Psychoanalytiker. Als er 1926 nach Frankfurt übersiedelt, setzt er die Analyse bei einer Schülerin von Horney, bei Clara Happel fort. In Frankfurt wird er Assistenzarzt des zu dieser Zeit berühmten Neurophysiologen Kurt Goldstein am Neurologischen Institut für hirnverletzte Soldaten und lernt hier unter Goldsteins Studenten auch seine spätere Frau Laura Posner kennen. Durch Goldstein lernt Perls die Gestaltpsychologie – später Gestalttheorie – kennen. Kurt Goldstein hatte wertvolle Beiträge zur Berliner Schule der Gestaltpsychologie beigesteuert, die im Wesentlichen von Max Wertheimer, Kurt Levin, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka geprägt worden war. Perls ist insbesondere von Goldsteins Gedanken beeindruckt, die den Menschen als ganzheitlichen Organismus verstehen, in dem Denken, Fühlen und Handeln untrennbar ineinander verwoben sind. Dieses Verständnis wird später eine der zentralen Grundlagen der Gestalttherapie werden. Auch Edmund Husserl, Begründer der phänomenologischen Erkenntnistheorie, beeinflusst Fritz Perls nachhaltig. Für die Gestalttherapie (wie auch für die nachfolgende Aufstellungsarbeit von Hellinger) wird später gelten, dass das Seelische prinzipiell in seiner unmittelbaren Erscheinungsform wahrnehmbar und beschreibbar ist – jenseits vorgefasster theoretischer Standpunkte (s. auch in Abschn. 3.4: „Phänomenologie und Konstruktivismus“). Mit dem ganzheitlich phänomenologischen Ansatz der Körperpsychotherapie kann Perls in bester Gesellschaft seiner Zeit verortet werden. Die Ursprünge der Körperpsychotherapie zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden ihre Wurzeln in der Psychoanalyse und den Reformbewegungen in Gymnastik und Tanz. Hier hatte die deutsche Gymnastiklehrerin Elsa Gindler mit ihrem „Seminar für Harmonische Körperausbildung“ einen starken Einfluss ebenso wie der österreichische Psychoanalytiker Wilhelm Reich, den Sigmund Freud vor allem wegen seiner Abkehr von der reinen „Redekur“ aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausschließen ließ. Nach diesen ersten Ansätzen wurden über 20 Körper-Psychotherapie-Schulen gegründet, die unterschiedlich stark von der Psychoanalyse, von der Körpertherapie, von der humanistischen Psychologie, von der Reformpädagogik, vom Ausdruckstanz, vom Theater, von der Philosophie und/oder von der östlichen Philosophie geprägt sind. Ihnen allen ist der meditative Ansatz des „Wahrnehmen, was ist“ gemein, der sich später in der phänomenologisch ausgerichteten Aufstellungsarbeit zu einem „Anerkennen, was ist“ weiterentwickelte, einer Haltung, die wiederum den östlichen Meditationsprinzipien entliehen ist. 1927 erklärt Clara Happel Perls’ Lehranalyse überraschend für beendet und empfiehlt ihn an ihre Kollegen Helene Deutsch und Eduard Hitschmann nach Wien. Hier nimmt
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Perls eine Assistenzarztstelle in der Wiener Nervenklinik an und besucht zahlreiche Veranstaltungen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. 1928 kehrt er nach Berlin zurück und eröffnet seine erste psychoanalytische Praxis unter Supervision von Karen Horney und Otto Fenichel. Zugleich macht er eine weitere Analyse bei dem ungarischen Psychoanalytiker Eugen Harnick, dessen Ansatz der passiven Analyse, bei der der Arzt sich jedweder Analyse des Gesagten enthält, mit dazu führt, dass Perls sich später von der Psychoanalyse als (sinngemäß) Therapie der Kontaktlosigkeit abwendet. 1930 heiratet er Laura Posner (dann Perls), 1 Jahr später wird ihre Tochter Renate geboren. Perls beendet seine Analyse bei Harnick und besucht fortan den 7 Jahre jüngeren Wilhelm Reich. Dieser gilt als einer der führenden Köpfe der jungen Analytiker, die die Ansätze Freuds in Frage stellen. Reich geht der Frage nach, wie Klienten ihre Gefühle beim Erinnern, Erzählen und Assoziieren unterdrücken – und er ist dabei weniger daran interessiert, woran sich die Klienten erinnern, als vielmehr daran, wie sie sich im Hier und Jetzt der jeweiligen Therapiesitzung präsentieren. Reich erkennt, dass der Widerstand vor allem an Veränderungen der Stimme, der Körperhaltung, der Atmung, der Mimik und der Gestik zu erkennen ist (Widerstand ist hier gemeint als der Versuch, aufkommende beängstigende Gefühle zu kontrollieren). Er stellt die nonverbalen Äußerungen der Klienten in den Fokus seiner Aufmerksamkeit und konfrontiert sie mit seinen Wahrnehmungen. Das führt zum schrittweisen Aufbrechen des Körperpanzers und zu einer Freisetzung unterdrückter Gefühle. Die direkte Arbeit am Körper nennt Reich Vegetotherapie. Im Wesentlichen geht es hierbei um das Lösen chronischer Muskelverspannungen, die nach seinem Verständnis Ergebnis einer dauernden Verdrängung von starken Bedürfnissen, triebhaften Impulsen und starken Affekten sind. Werden diese Muskelpanzerungen bzw. wird der Charakterpanzer gelöst, kommt die Erinnerung an das Verdrängte an die Oberfläche des Bewusstseins und geht nicht selten einher mit vegetativen Entladungen.
Mehr davon Weitere Informationen über sogenannte vegetative Entladungen lesen Sie in Abschn. 6.6.4 („Trauma und somatische Therapie“).
1933, kurz nach dem Amtsantritt des Hitler-Regimes, fliehen Fritz Perls, Laura und ihr Kind Renate nach Amsterdam. Ein Jahr später, 1934, wandern sie nach Südafrika aus, wo sie bis 1946 leben werden. Perls erhält eine Stelle als Lehranalytiker in Johannesburg, eröffnet eine eigene Praxis und gründet mit Laura das erste Südafrikanische Institut für Psychoanalyse. 1935 wird ihr zweites Kind Stephen geboren, nachdem Perls seine Frau erfolglos zur Abtreibung hatte bewegen wollen. Seine Ablehnung des Kinds wird zur Zerreißprobe für die Ehe, die nicht zuletzt auch deshalb später scheitern wird. 1936 stellt Perls seine neuen Arbeiten beim psychoanalytischen Kongress in Marienbad bei Prag vor. Mit Laura hatte er an einer Erweiterung der Freud’schen Theorie des Widerstands gearbeitet, der den Psychoanalytikern bis dahin ausschließlich als anal galt. Laura und Fritz aber hatten bei Beobachtungen beim Stillen ihrer Tochter Renate das
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Saugen des Säuglings als erste Versuche eines natürlichen Sich-Aneignens der Umwelt erkannt. Saugen, so ihre Überzeugung, ist der Ausdruck einer positiven Aggression. Den Übergang des Saugens zum Kauen und Beißen an der Brust verstehen sie als zweite notwendige Stufe einer gesunden Aggression. Wird diese durch die Mutter gehemmt, kann der Mensch später Probleme haben, sich der Umwelt (gesund) aggressiv zu nähern. Die natürliche Aggression wird hier ganz im Sinne ihrer lateinischen Herkunftsbedeutung verstanden: anpacken, angreifen (mit der Hand). Perls spricht zunächst von oralem Widerstand, später von Beißhemmung. Egal aber, wie er seine Erkenntnisse benennt – er wendet sich mit dieser Theorie gegen die „heilige Kuh“ des psychoanalytisch verstandenen, analen Widerstands, der sich nach deren Verständnis durch ein Widerstreben des Hergebens und nicht durch eine Hemmung oder ängstliche Unterdrückung auszeichne. In der Folge wird Perls von den Kollegen geschnitten, man entzieht ihm die Genehmigung zur Lehrtätigkeit (und begründet dies damit, dass er keine abgeschlossene Ausbildung zum Lehrtherapeuten habe). Er muss sein Institut wieder schließen. Sein einziger Besuch bei Sigmund Freud in Wien wird zu einer enttäuschenden Begegnung, die ganze 5 min gedauert haben soll. 1941 verfasst Fritz Perls zusammen mit seiner Frau Laura sein erstes Buch „Das Ich, der Hunger und die Aggression“, in dem die grundlegenden theoretischen Gedanken der Gestalttherapie beschrieben sind (Perls 2009). Zugleich versteht Perls sein Buch als Revision von Freuds Theorie und Methode und setzt diese Einschätzung als Untertitel mit auf das Cover. Den Untertitel wird er bei den späteren Neuauflagen des Buches weglassen. Das Buch stellt in gewisser Weise den Beginn der Gestalttherapie dar, auch wenn diese Bezeichnung hier noch nicht auftauchte (Perls 1942). Von 1942–1945 leistet Perls als Freiwilliger Dienst in der Südafrikanischen Armee als Sanitätsoffizier und Psychiater. 1946 emigriert er mit seiner Familie in die USA, New York, und entwickelt in den folgenden Jahren gemeinsam mit seiner Frau und deren Klient Paul Goodman, einem Bürgerrechtler und engagierten Schriftsteller, die Gestalttherapie als ein spezifisches, erlebnisaktivierendes Psychotherapieverfahren, bei dem es um die Förderung von Aufmerksamkeit und Achtsamkeit, des Gewahrseins aller gegenwärtigen Gefühle, Empfindungen und Verhaltensweisen sowie des Kontakts zu sich selbst und zum Umfeld geht. 1950 besucht Perls Seminare am Moreno Institut in Beacon und wird die Methode des Rollentauschs und des leeren Stuhls in seine Gestaltarbeit integrieren. Im selben Jahr gründet er auch das Institut für Gestalt in New York. 1951 veröffentlichen Perls, Goodman und der Professor der Psychologie Ralph Hefferline das Buch „Gestalt Therapy“ (Perls et al. 1951). Der britische Schriftsteller Aldous Leonard Huxley soll über das Buch gesagt haben, es sei das einzige psychoanalytische Buch, das es wert ist, gelesen zu werden. Und auf Gestalt.org liest man in einer Besprechung des Buchs von Michael Vincent Miller:
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Wenn die Rezeption dieses Buches … auf dem Ganzen dessen basiert hätte, was sich zwischen seinen Einbänden befindet, wäre sein Einfluss auf die spätere Geschichte der psychologischen Theorie und psychotherapeutischen Praxis von großer Tragweite gewesen. Das Buch präsentiert eine radikale, aber keineswegs respektlose Auseinandersetzung mit den Grenzen der Psychoanalyse, bereits Jahrzehnte bevor die heute aktuelle PA Kritik der letzten Jahre formuliert wurde. Dabei gingen die Autoren weit über die Diagnose von Schwierigkeiten in der psychoanalytischen Theorie hinaus: Sie formulierten eine umfassende Grundlage für einen elementar neuen Ansatz in der Psychotherapie, der … zu einem ganz anderen Blick auf die menschliche Natur und ihre Eigenheiten einlädt. Anstelle der Konzentration des Psychoanalytikers auf das Ausgraben der Vergangenheit des Patienten und die Interpretation des Unbewussten als primäre Quellen für therapeutische Entdeckungen verlagert der Therapeut den Schwerpunkt auf die gegenwärtige Erfahrung des Patienten. Und anstatt den Therapeuten halb im Hintergrund zu lassen, um Regression und Übertragung beim Patienten, dem Herzstück der psychoanalytischen Methode, zu fördern, bringt der neue Ansatz nun Therapeut und Patient auf die Bühne, um ihre eigentliche Beziehung so klar wie möglich zu beleuchten. Doch auch mehr als vierzig Jahre nach ihrem Debüt wandert die Gestalttherapie noch immer die Nebenwege der zeitgenössischen Psychologie und Psychotherapie entlang. Fast jeder hat davon gehört, aber relativ wenige Menschen haben eine Ahnung, worum es wirklich geht, nicht einmal in den Fachkreisen, in denen Psychotherapie gelehrt und praktiziert wird. (Miller 1994; Übersetzung Stephanie Hartung)
1956 verlässt Perls seine Familie nach langen Auseinandersetzungen mit Paul Goodman und in der Folge auch mit seiner Frau, die noch immer Therapeutin von Goodman ist und diesen in Schutz nimmt. Er geht nach Miami, Florida, wo er – inzwischen 64 Jahre alt – die 32-jährige Marty Fromm kennenlernt. Aus einer Klienten-Therapeuten-Beziehung entwickelte sich eine leidenschaftliche Liebesaffäre, die allerdings wegen Perls Eifersucht in die Brüche ging. Seine angeschlagene Gesundheit, er wurde immer wieder von Angina Pectoris-Anfällen heimgesucht, verschlechterte sich und er begann exzessiv LSD zu konsumieren. Er drohte am Ende dieser Beziehung zu zerbrechen, und nur guten Freunden gelang es, die durch den Drogenkonsum verursachte Destabilisierung seiner Persönlichkeit aufzufangen. 1959 ging Perls nach Kalifornien. Gemeinsam mit Simkin leitete er eine Ausbildungsgruppe in Gestalttherapie, die vorwiegend experimentelle Verfahren zum fortlaufenden sich-bewusst-sein eigener körperlicher, sensorischer und geistiger Prozesse durchführte. Perls bemerkte, dass der Eintritt in dieses Bewusstseinskontinuum weder bei sich selbst noch bei seinen Klienten ausreichte, um den ganzheitlichen Wachstumsprozess voranzutreiben. Die Folge davon war, dass er, immer noch niedergeschlagen durch die zerbrochene Beziehung zu Marty Fromm, an seiner Arbeit und der gesamten Psychotherapie zweifelte. (NLP Portal 2019, Die existenzielle Sackgasse)
1960 bricht Perls zu einer Weltreise auf und verbringt 2 Monate in einem buddhistischen Kloster in Kyoto. Später reist er nach Israel, wo er sich im Süden des Landes in einem Kibbuz niederlässt. Allmählich stabilisiert sich sein Zustand, Perls genießt die Gemeinsamkeit und denkt kurzzeitig darüber nach, in Israel zu bleiben. Die Suche nach
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Neuem aber treibt ihn weiter und schließlich 1964 zurück in die Vereinigten Staaten nach Big Sur, Kalifornien, an das Esalen Institute, eine Begegnungsstätte der Human Potential-Bewegung. Hier trifft er unter anderen auch auf Ida Rolf, deren Körpertherapie maßgeblich zu seiner weiteren Heilung beiträgt. Er erarbeitete ein psychotherapeutisches Modell, das, basierend auf seinen eigenen Erfahrungen, das Muster des Ablaufs neurotischer Störungen aufzeigte. Zwischen 1965 und 1969 sah sich Perls am Höhepunkt seines Schaffens. Seine Workshops über Gestalttherapie waren die Attraktion in Esalen. Und zogen Menschen aus aller Welt an. Seine Sitzungen wurden mit Tonband und Video dokumentiert. Sein Werk gewann in den USA in dieser Zeit erheblich an Bekanntheit, unter anderem durch die Herausgabe seines Buches „Gestalt Therapy Verbatim“. Nun begann Perls auch wesentliche Konzepte seiner Arbeit mit Klienten zu konkretisieren. So war die Bedeutung des Nonverbalen in der Therapie eine seiner Grundideen. Zu Grunde liegt sein Verständnis, dass der Mensch, nicht wie ehemals von Descartes konstatiert, aus Körper und Geist besteht, sondern vielmehr einen einheitlichen Organismus bildet. Demnach unterscheiden sich die geistigen Aktivitäten eines Menschen von seinen körperlichen Aktivitäten nur durch einen geringeren Energieaufwand. Das heißt, beispielsweise Träumen, Imaginieren und Ausrichten der Aufmerksamkeit sind nur symbolische Tätigkeiten als Ersatz für das, was der Mensch körperlich tun könnte. So bleiben bei einem Mann, der kämpferische Gedanken hat, noch körperliche Symptome (erhöhter Blutdruck, Muskelspannung, etc.), wenn auch in geringerem Ausmaß, bestehen. Mit Hilfe der Gestalttherapie sollten die Menschen lernen das große Erwachen zu erleben und sich selbst bewusst zu werden, damit sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt richten konnten. 1969 gründete Perls mit einigen Studenten auf Vancouver Island in Kanada einen Gestalt-Kibbuz, in dem die Bewohner für drei Monate an ihrem persönlichen Wachstumsprozess arbeiten konnten, um sie zu befähigen ihre neu gefundene Bewusstheit kontinuierlich beizubehalten. (NLP Portal 2019, Sein Spätwerk)
Im Winter 1969 erkrankt Perls während einer Reise durch Europa. Zurück in den USA wird 1970 bei ihm Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert. Als sich sein Zustand während einer Vorlesungsreise rapide verschlechtert, unterzieht er sich in Chicago einer Operation. Er stirbt an den Folgen am 14. März 1970 im Alter von knapp 77 Jahren. Gestalttherapie Als psychotherapeutisches Verfahren (ohne Anerkennung der Krankenkassen in Deutschland/mit Anerkennung in Österreich) gehört die Gestalttherapie zur Gruppe der humanistischen Therapien, nach deren Verständnis jeder Mensch die Fähigkeit hat, sich aus sich heraus weiterzuentwickeln. Der Gestalttherapeut versteht seinen Klienten als selbstbestimmtes Wesen. In der Gestalttherapie kann er lernen, seine Probleme selbstständig zu bewältigen und zum aktiven Gestalter seines Alltags zu werden. Der Fokus der Gestalttherapie liegt – in Abgrenzung zu psychoanalytischen, vergangenheitsorientierten Therapieformen – in der Gegenwart, im Hier und Jetzt. Der Klient ist nicht Opfer seiner Vergangenheit und wird vom Therapeuten demnach nicht dazu angeregt, die Bedeutung vergangener Erlebnisse zu deuten. Es geht vielmehr darum, dass der Klient ein Bewusstsein für seine momentane Situation bekommt.
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Wichtig ist hier ein ganzheitliches, ein organismisches Bewusstsein, also kein rein rational kognitives Erfassen, sondern ein spürendes Wahrnehmen und Gewahr-Werden. Dieser ganzheitliche Bewusstwerdungsprozess geschieht durch Gespräch, Reflexion und Körperarbeit, deren Elemente an das von Moreno entwickelte Psychodrama anlehnen. Der gestalttherapeutische Prozess ist von der Annahme geleitet, dass der Mensch das, was ihm ganzheitlich bewusst ist, auch verändern kann. Die Gestalttherapie ist ein psychotherapeutisches Verfahren, das sich weniger an dem traditionellen medizinischen Krankheitsmodell und festgelegten Normen davon orientiert, also daran, was als „gesund“ und „krank“ gilt. Auch wird in der Gestalttherapie das Verhältnis von Therapeut*in und Klient*in als eines definiert, in dem Therapeut*innen Begleiter und Unterstützer sind und die Klient*innen die Experten ihrer selbst. Darum sprechen Gestalttherapeut*innen auch nicht von „Patient*innen“ sondern von „Klient*innen“; wichtig ist ihr die Vielseitigkeit von Menschen und deren Vorstellungen davon, wie sie mit anderen Menschen und der Welt insgesamt in Kontakt sein und sich dadurch individuell entwickeln wollen. Deshalb wird in einer Gestalttherapie nicht nur geredet, sondern auch ausprobiert und experimentiert: mit Verhaltensweisen, körperlichen Bewegungen und Haltungen, mit Gedanken, Gefühlen und Einstellungen, und zwar sowohl mit den altbekannten als auch mit möglichen neuen. Es werden möglichst alle Bereiche menschlicher Erfahrung einbezogen und erforscht, der zwischenmenschliche Bereich, der emotionale, der körperliche und der intellektuelle. Gestalttherapeuten sind überzeugt, dass nur alle Bereiche gemeinsam jene ganzheitliche Gestalt bilden, die einen Menschen ausmacht – daher auch der Begriff „Gestalttherapie“. Das alles findet auf lebensnahe, realistische Art statt, und bezieht sich primär auf das aktuelle Leben der Klienten. Der für die Gestalttherapie typische Stil zeigt sich auch darin, dass ein Gestalttherapeut seinen Klienten trotz seiner Qualifikation nicht in der Rolle eines überlegenen Experten gegenübertritt. Er begegnet ihnen vielmehr als ein persönlich erkennbarer, verständnisvoller Mensch, der sie mit Interesse und Engagement auf ihrer Entdeckungsreise begleitet. Seine Qualifikation besteht in seinen Kompetenzen als Begleiter, die er sich in seiner Ausbildung und seiner eigenen Therapie erworben hat. Aus dieser anregenden und zuverlässigen Begleitung können sich für die Klienten eine Menge Ermutigung und Sicherheit ergeben, die sie für ihren zwar manchmal beängstigenden und mühevollen, aber immer auch bereichernden Veränderungs- und Entwicklungsprozess benötigen. (Homepage der Deutschen Gesellschaft für Gestalttherapie e. V., DVG 2019)
Bert Hellinger und das Familienstellen Über Bert Hellinger ist viel gesagt und geschrieben worden, sehr viel. Zum Teil widersprechen die Informationen einander, oder sie passen mit Blick auf die Jahreszahlangabe nicht wirklich zusammen. Nicht zuletzt ist so manche Darstellung von Emotionen gefärbt – pro oder contra Hellinger. Das ist angesichts der starken Persönlichkeit von Hellinger nicht verwunderlich, hilft aber bei dem Wunsch nach faktischer Information nicht immer weiter.
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Während der Arbeit an diesem Buch ist Bert Hellinger am 19.09.2019 gestorben. Und vielleicht stimmt, was ein Schüler in einem der zahlreichen Nachrufe in den sozialen Medien geschrieben hat: „Jetzt können wir endlich über die Arbeit und die großen Verdienste von Hellinger sprechen und müssen uns nicht mehr an seiner Person reiben.“ Wir geben hier das Leben von Bert Hellinger so wieder, wie er es selber erzählt hat. Die Informationen haben wir seiner eigenen Homepage sowie einem Video auf YouTube entnommen, das er und seine Frau im Jahr 2016 veröffentlicht haben (Hellinger 1925 bis heute). Bert (eigentlich Anton) Hellinger wird am 12. Dezember 1925 in Leimen, im nordwestlichen Baden-Württemberg als zweites von drei Kindern der Eheleute Albert und Anna Hellinger geboren. 2 Jahre nach seiner Geburt übersiedelt die Familie nach Stuttgart und weitere 3 Jahre später nach Köln, wo Bert die Grundschule besucht. 1935 wird er in das Knaben-Internat der Marianhiller Missionare nach Lohr am Main geschickt. Bert Hellinger sagt, die 5 Jahren am Internat seien die schlimmsten Jahre seiner Kindheit und Jugend gewesen. Das hat nicht etwa mit der Qualität der Schule zu tun, sondern vielmehr mit dem aufkommenden Nationalsozialismus. In einem Interview, das Hellinger auf seiner eigenen Homepage veröffentlicht hat, erzählt er: Wir haben im Internat gewohnt und sind in das staatliche Gymnasium gegangen, der Orden unterhielt keine eigene Schule. Ich habe mich im Internat sehr wohl gefühlt. Das war eine schöne Zeit für mich, eine sehr schöne Zeit. Die Zeit im Internat fiel in die Nazizeit. Ich bin 1936 in das Internat gekommen. Bei einer großen Wahl, die damals im [sic!] Anschluss von Österreich an Deutschland stattfand, hatten einige von den Nonnen, die uns betreut haben, mit „nein“ gewählt. Und weil es damals offensichtlich keine geheimen Wahlen gab, wurde das bekannt. In der Nacht ist dann die SA vor dem Internat aufgezogen. Sie haben die Scheiben eingeworfen und an die Wände geschrieben: „Hier wohnen Verräter“. Später wurde das Internat geschlossen. Der Krieg hatte da schon angefangen und aus dem Internat wurde ein Lazarett gemacht. (Hellinger 2019a)
1940 kehrt Hellinger aus dem Internat zurück zu seiner Familie nach Kassel, wo sein Vater eine Anstellung angenommen hat, und wechselt dort an das Friedrichsgymnasium. 1942 wird der 17-Jährige zum Reichsarbeitsdient und kurze Zeit später in die Wehrmacht einberufen. Bereits ein Jahr später, 1944, gerät er bei Aachen in amerikanische Kriegsgefangenschaft und kommt in ein Gefangenenlager in Charleroi, Belgien, aus dem ihm nach einem Jahr die Flucht gelingt. Er kehrt zurück nach Deutschland. 1946 tritt Hellinger in den Marianhiller Orden der Missionare ein und wechselt ein Jahr später in das Priesterseminar der Marianhiller in Würzburg. Hier nimmt er 1947 das Studium der Theologie auf und wird 1952 zum Priester geweiht. Nur kurze Zeit später wird er in die Diözese Marianhill (Kloster am Maria Anna Hügel) nahe Durban in Südafrika geschickt und absolviert dort an der Hochschule in Pietermaritzburg eine weitere Ausbildung zum Lehrer für höhere Schulen in Südafrika. 1956 erhält er die Ernennung zum Direktor eines Seminarhauses für Studenten, die das Priesteramt anstreben. 2 Jahre später erleidet er einen Burnout und wird in dessen Folge in eine Missionsstation versetzt, wo er als Missionar und Priester arbeitet.
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1965 nimmt er die südafrikanische Staatsbürgerschaft an – er plant, den Rest seines Lebens in dem Land zu verbringen. Bevor er 1966 zum Direktor des St. Frances College ernannt wird, kommt er in erste Kontakte mit der Gruppendynamik, die er bei anglikanischen Geistlichen kennenlernt. Diese Begegnung, so sagt er sinngemäß, habe sein Leben verändert: Auf einer Konferenz traf ich einen Benediktiner, der mir sagte: „Da gibt es etwas, das ist hochinteressant, das musst Du mal mitmachen.“ Er verschaffte mir Kontakt zu einer Gruppe von anglikanischen Priestern, die die Gruppendynamik in Südafrika eingeführt hatten. Die haben ökumenische und gemischtrassische Kurse angeboten, waren also in dieser Hinsicht sehr fortschrittlich. Ich bin zu ihnen in ein gruppendynamisches Training gegangen. In diesem ersten Kurs hatte ich ein Schlüsselerlebnis. Der Leiter hat in der Gruppe nur allgemein gefragt: „Was ist für Dich wichtiger, ich sag es mal auf englisch ideals or people“, also Idealvorstellungen oder Menschen? Was opferst Du wem? Die Menschen einer Idealvorstellung oder die Idealvorstellung den Menschen. Das hat mich zutiefst betroffen, ich konnte in der Nacht danach nicht schlafen. Es war ein Wendepunkt in meinem Leben … Plötzlich waren für mich die Menschen im Vordergrund. Ich habe noch verschiedene andere Trainings bei ihnen gemacht und habe die Gruppendynamik auch in der Schule, an der ich war, angewandt. (Hellinger 2019a)
1969 wird er nach Deutschland zurückberufen – zum Direktor des Priesterseminars der Marianhiller in Würzburg. Noch im selben Jahr beginnt er eine Psychoanalyse und absolviert zahlreiche Aus- und Weiterbildungen in verschiedenen Bereichen der Psychotherapie. Mit diesem Wissen und Können kam ich nach Deutschland zurück. Als ich schon zwei Monate hier war, hat Professor Däumling aus Bonn (einer der Begründer der Gruppendynamik in Deutschland, H.B.), in Würzburg einen Vortrag über Gruppendynamik gehalten. Da bin ich natürlich hingegangen und habe ihm erzählt, dass ich die Gruppendynamik aus meiner Arbeit in Südafrika kenne. In Deutschland war die Gruppendynamik noch neu, während sie in Südafrika schon etabliert war. Herr Däumling hat mich dann als Co-Trainer zu einem Training nach Bonn eingeladen. Durch diese Einladung bekam ich in Deutschland einen Platz in der Szene der Gruppendynamik, und zwar als einer, der schon etwas konnte. (Hellinger 2019a)
1970 bietet er Kurse in Gruppendynamik an und wird Trainer des Deutschen Arbeitskreises für Gruppendynamik und Gruppentherapie DAGG, der 1967 in Karlsruhe gegründet und 2011 wieder aufgelöst wird. Es folgt eine Ausbildung zum Psychoanalytiker beim Wiener Arbeitskreis für Tiefenpsychologie, bei der er seine gruppendynamischen Kenntnisse einbringt. Ende 1969 war ich aus Südafrika zurückgekommen. Mit der Gruppendynamik hatte ich in Deutschland gleich ein neues Standbein. Ich habe die gruppendynamische Arbeit auch sofort in diesem Priesterseminar angewandt. Ich habe auch Kurse in Gruppendynamik
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angeboten und wurde als Trainer für Gruppendynamik bekannt. Aber ich habe gewusst, dass mir noch vieles fehlt. Deshalb habe ich gleich nach meiner Rückkehr in Würzburg eine Psychoanalyse begonnen. Inzwischen hatte ich mich innerlich von meinem Orden langsam entfremdet. Immer öfter musste ich erleben, dass bei wichtigen Entscheidungen Selbsterhaltungsfragen wichtiger waren als die religiösen und die menschlichen Fragen. Mit diesem inneren Konflikt bin ich zum ersten gruppendynamischen Kongress in Köln gegangen und lernte dort Ruth Cohn kennen. (Anm. der Autoren: Ruth Charlotte Cohn war die Begründerin der themenzentrierten Interaktion TZI und eine der einflussreichsten Vertreterinnen der humanistischen und der psychologischen Psychologie). In dem Kurs hat sie etwas über Gestalttherapie erzählt. Sie hatte Fritz Perls gut gekannt und war von daher mit der Gestalttherapie vertraut. In Deutschland war die Gestalttherapie noch völlig unbekannt. Sie hat in der Gruppe eine Demonstration der Gestalttherapie angeboten, und fragte, wer sich als erster meldet, sich auf den so genannten heißen Stuhl zu setzen. Ich habe mich gemeldet. Während sie mit mir arbeitete, habe ich in die Ferne geschaut. Auf einmal sah ich, dass ich eine andere Zukunft hatte. Nicht mehr im Orden. Der Schlüsselsatz am Ende dieser Sitzung war: „Ich gehe.“ Ich musste dann reihum vor jeden Teilnehmer stellen und sagen: „Ich gehe“. Das war ein unglaubliches Erlebnis, ein Schlüsselerlebnis. (Hellinger 2019a)
1971 entscheidet Bert Hellinger gegen viele Widerstände, den Orden der Marianhiller zu verlassen und sein Priesteramt niederzulegen. 1972 heiratet er seine erste Frau Hertha. Aus der Ehe gehen keine Kinder hervor. Bei Wikipedia heißt es, die Wiener psychoanalytische Vereinigung habe ihm die Anerkennung zum Psychoanalytiker verweigert – Hellinger selber äußert sich in seinem Interview so darüber: Ich hatte alle Prüfungen gemacht für den Abschluss als Psychoanalytiker und habe mich dem psychoanalytischen Arbeitskreis in Salzburg angeschlossen. Ich wurde gebeten, dort einen Vortrag zu halten. Mein Thema war das Buch von Janov: „Der Urschrei“. Das kam nicht gut an. Man hat mich aus dem Arbeitskreis ausgeschlossen und den Abschluss verweigert. Ich hätte noch zwanzig Stunden Analyse machen müssen, das wäre alles gewesen. Das hatte ich noch als Auflage aus Wien mitgebracht. (Hellinger 2019a)
Im selben Jahr beginnt er als selbstständiger Psychotherapeut zu arbeiten – und gilt in kürzester Zeit als der führende Gruppendynamiker in vielen Ländern Europas, wo seine Seminare von Therapeuten und Priestern jedweder Richtung und Couleur besucht werden. Der Psychotherapeut Hellinger, dem die offizielle Anerkennung verweigert bleibt, wird zum Geheimtipp der Therapeutenszene. 1974 geht er für ein knappes Jahr in die USA und absolviert bei dem US-amerikanischen Psychologen Arthur Janov (1924–2017; Begründer der Urschrei-Therapie) eine Ausbildung in Primartherapie am PRIMAL INSTITUTE in Los Angeles und Denver. Er besucht Fortbildungen in Provokativer Gestalttherapie bei dem US-amerikanischen Psychotherapeuten Frank Farrelly (1931–2013) sowie in Hypnosetherapie bei dem US-amerikanischen
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Familientherapeuten Jeff Zeig, der ein Schüler des amerikanischen Psychiaters Milton H. Erickson (1901–1980), dem Begründer der Hypnotherapie war. Durch die deutsche Begründerin der Themenzentrierten Interaktion (TZI) Ruth Charlotte Cohn (1912–2010) und den deutschen Psychologen Hilarion Petzold (*1944) entwickelte er ein Interesse an der Gestalttherapie und trainierte mit beiden. In dieser Zeit lernte er die (inzwischen mit 103 Jahren hochbetagte) US-amerikanische Psychoanalytikerin Fanita English (*1916) und durch sie die Transaktionsanalyse und die Arbeit des kanadisch-US-amerikanischen Psychiaters Eric Bern (1910–1970) kennen. Mit seiner Frau Herta integrierte Helllinger das, was er bereits über Gruppendynamik und Psychoanalyse gelernt hatte, in die Gestalttherapie, Primärtherapie und Transaktionsanalyse. Seine Skriptanalyse führte zu seiner Entdeckung, dass einige Skripte über Generationen funktionieren. Auch die Dynamik der Identifikation und der damit verbundenen Verstrickungen zwischen Systemmitgliedern bekamen in dieser Zeit erste Bedeutung für seine Arbeit. Das Buch „Unsichtbare Bindungen“ des ungarischen Psychotherapeuten Iván Böszörményi-Nagy (1920–2007) offenbarte ihm die Bedeutung verborgener Loyalitäten und die Notwendigkeit eines Gleichgewichts zwischen Geben und Nehmen in Familien (Böszörményi-Nagy 1973). Er absolvierte eine Ausbildung in systemischer Familientherapie bei der US-amerikanischen Familientherapeuten Ruth McClendon und ihrem Mann, dem US-amerikanischen Psychiater Leslie Kadis (1936–2017), wo er zum ersten Mal auf Familienaufstellungen traf (McClendon und Kadis 1980). Nach 1979 besucht er weitere Ausbildungen in Hypnotherapie nach Milton H. Erickson, Themenzentrierte Interaktion (TZI) nach Ruth Cohn, NLP und Bioenergetik. In dieser Zeit besucht er auch einen Psychologenkongress, auf dem die Hamburger Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Thea Louise Schönfelder (1925–2010) neue Ansätze der systemischen Familientherapie und die Arbeit mit Familienskulpturen nach der US-amerikanischen Psychotherapeutin Virginia Satir (1916–1988) vorstellt. In der Familienskulptur-Version von Thea Schönfelder stellt ein Betroffener die anderen Beteiligten so auf, wie sie in seiner Vorstellung (in Beziehung zueinander) stehen. Die so Aufgestellten verharren kurz in der vorgegebenen Haltung und werden danach befragt, wie es ihnen in ihrer Position ergangen ist. Der Prozess erfolgt in derselben Art und Weise, wie es später in der Familienaufstellung üblich wird. Hellinger ist jedenfalls nach eigenem Bekunden fasziniert und forscht weiter und tiefer in dieser Richtung. Er beginnt mit den ersten Experimenten und entwickelt Schritt für Schritt seine spezielle Version des Familienstellens. Im Hinblick auf das Familien-Stellen war auch Thea Schönfelder wichtig. Bei ihr habe ich meine erste Erfahrung als Stellvertreter gemacht. (Hellinger 2019a)
1982 – endlich – erhält er die Anerkennung als nichtärztlicher Psychotherapeut von der Kassenärztlichen Vereinigung in Bayern. Seine Kassenzulassung gibt Hellinger kurze Zeit später mit der Begründung zurück, er wolle keine Einzelklienten therapieren.
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Und als 1999 das Psychotherapeutengesetz erlassen wird, beantragt er keine Zulassung als Psychologischer Psychotherapeut. In der ersten Hälfte der 1980-er Jahre beginnt er, seine Arbeit des Familienstellens in kleinen Gruppen zu zeigen. Während einer Tagung in Garmisch-Partenkirchen bekunden mehr als 300 Menschen Interesse an Hellingers Arbeit. Er bietet erstmals ein Großgruppenformat an und wird fortan immer wieder seine Arbeit vor mehreren hundert Teilnehmern zeigen. Kurz danach war in Garmisch ein Kongress, den Wolf Büntig organisiert hatte. Ich hielt dort den Vortrag „Vom Himmel der krank macht, und der Erde, die heilt“. Auf diesem Kongress habe ich auch einen Kurs angeboten und gesagt: „Ich nehme bis zu 35 Teilnehmer“. Es haben sich aber 350 gemeldet. Was sollte ich nun machen? Ich habe gesagt: „Dann mache ich den Kurs mit allen“. Zuvor kam eine Frau auf mich zu und fragte: „Hast Du was dagegen, wenn ich diesen Kurs aufnehme?“ … Das war zugleich auch der Durchbruch zu den Großveranstaltungen. Alles hat sich wie zufällig ergeben. (Hellinger 2019a)
Ab Anfang der 1990-er Jahre wird Hellinger auch vermehrt ins Ausland eingeladen, um seine Arbeit dort zu zeigen. Er folgt den Einladungen immer gerne. Ein Psychiater, der seine Kurse wiederholt besucht, ist der deutsche Psychiater Gunthard Weber (*1940). Weber arbeitet an der Universität Heidelberg, u. a. an der Abteilung für psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie (Leitung: Professor Dr. Dr. Helm Stierlin), ist 1999 Gründer des Wieslocher Instituts für systemische Lösungen, Mitbegründer der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie (DAF), der Internationalen Gesellschaft für systemische Therapie (IGST), der systemischen Gesellschaft (SG) und des Heidelberger Instituts für systemische Forschung und des Helm-Stierlin-Instituts (Weber 2019). Weber transkribiert mehrere Kurse von Bert Hellinger und entwickelt daraus unter Mitarbeit von Hellinger schließlich 1995 das Buch „Zweierlei Glück – Das Familienstellen Bert Hellingers“, das den ersten maßgeblichen Erfolg des Carl Auer Verlags begründen wird, dessen Eigentümer wiederum Gunthard Weber ist. Erst mal war wichtig, dass Gunthard Weber das Buch „Zweierlei Glück“ herausgebracht hat. Das hat das Feld in die Weite geöffnet. Es war für mich damals noch nicht die Zeit, das selbst zu tun. Dass Gunthard das gemacht hat, war eine große Leistung. Dann war auf einmal klar: „Jetzt mach ich auch etwas“. Ich begann, das Buch „Ordnungen der Liebe“ zu schreiben. (Hellinger 2019a)
In der Zusammenarbeit von Hellinger und Weber kommt es auch zur Begegnung von konstruktivistischen Ansätzen, wie sie von den systemischen Familientherapeuten vertreten werden, mit phänomenologischen Ansätzen, wie sie Hellinger vertritt. Anfangs schlagen die Wogen der Unvereinbarkeit hoch. Sie werden sich später legen, sind aber bis heute Quell theoretisch differenter Diskurse. Anders als die systemischen Familientherapeuten, die von der Notwendigkeit des (konstruktivistischen) Aushandelns von Regeln durch die Familienmitglieder überzeugt sind, neigt Hellinger größeren Ordnungen zu.
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Mehr davon Vertiefte Informationen Konstruktivismus lesen Sie in Abschn. 3.4.
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über
Phänomenologie
und
Im Verlauf der 1990-er Jahre entdeckt und formuliert Hellinger einfache Lebensgesetze, die er „Ordnungen der Liebe und des Helfens“ nennt.
Mehr davon Vertiefte Informationen über die Ordnungen der Liebe und des Helfens lesen Sie in Kap. 1 („Grundlagen der Systemaufstellung“).
Die Verletzung dieser Ordnungen, so sagt Hellingers sinngemäß, führt unausweichlich zu Schwierigkeiten in Beziehungen, Finanzen und Gesundheit. Die Ordnungen sind unbestechlich und wirken ähnlich sicher wie das Gravitationsgesetz – unabhängig davon, ob man daran glaubt oder nicht. Das Beachten dieser Ordnungen verwandele auf wundersame Weise nicht nur das eigene Leben, sondern auch die ganze Umgebung. Viele meinen, sie seien in ihrer Liebe frei. Doch die Liebe folgt Ordnungen. (Hellinger 2019b)
Während Hellinger sich in den ersten Jahren den Bewegungen der menschlichen Seele widmet, führt ihn seine Überzeugung von etwas Übergeordnetem folgerichtig zu den Bewegungen des Geistes, die den Menschen in das Große einbetten. 2003 heiratet Bert Hellinger seine zweite Frau Sophie, die 2 Jahre vorher die Hellinger-Schule gegründet hatte. Diese schließt sich 2004 mit der Universität „Européenne Jean Monet“ in Brüssel zusammen. Es wird nun möglich, direkt bei Hellinger zum diplomierten Aufsteller ausgebildet zu werden. Gemeinsam mit Sophie, die umfassende Erfahrungen aus dem Gesundheitswesen und der Informationsmedizin mitbringt, setzt Hellinger seine Forschungen zur Wiederherstellung von Ordnungen in allen Lebensbereichen fort. 2005 gründen Sophie und Bert die Hellinger Sciencia®, eine universelle Wissenschaft über Beziehungen in allen Lebensbereichen. Sie findet ihren Einsatz nicht mehr nur in der Psychotherapie, sondern auch in der Pädagogik und Didaktik, der Politik, dem Geschäftsleben und sogar in der Justiz. Bis 2016 hat Bert Hellinger 108 Bücher veröffentlicht, die in 38 Sprachen übersetzt wurden. Übrigens werfen die Systemiker in Deutschland Hellinger vor, er sei nicht systemisch, und die Familientherapeuten werfen ihm vor, er arbeite nicht mit Familien; und die Hypnotherapeuten kritisieren ihn dafür, wie er die therapeutische Trance einsetzt, und die Analytiker dafür, daß er nicht analytisch vorgehe. Trotzdem macht er einfach weiter und versucht so gut er kann, Menschen in ihrer Not zu helfen. (Beaumont 1999)
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Aufstellungsorganisationen weltweit Wir wissen nicht, ob es überhaupt gelingen kann, eine vollständige Übersicht der gemeinnützigen Aufstellerorganisationen weltweit zusammenzustellen. Zu unterschiedlich sind ganz offensichtlich die nationalen Gegebenheiten, als dass sie im Einzelnen immer vergleichbar wären. Wir haben deshalb einen Kriterienkatalog zugrunde gelegt, der verschiedene Aspekte berücksichtigt, die im Detail nicht immer im vollen Umfang für alle hier aufgelisteten Organisationen gelten: • • • •
Mitglieder (keine Kunden), Status der Gemeinnützigkeit (kein profitorientiertes Unternehmen), der Vorstand wird von den Mitgliedern gewählt, die Organisationen ist regional, national, international tätig.
Bei den hier aufgeführten Organisationen sind die ISCA, INFOSYON und SYSTCONNECT global aufgestellt, wobei sich INFOSYON ausschließlich auf Organisationsaufsteller fokussiert, während die ISCA sich quasi als Dach aller Aufsteller aus allen Anwendungsbereichen weltweit versteht. Darüber hinaus gibt es noch zahlreiche, z. T. auch sehr große Institute, die regional, national und auch international arbeiten – wiewohl privatwirtschaftlich. Und weil eben hier die Entscheidung in Bezug auf unsere Liste kompliziert würde, haben wir uns ausschließlich auf den Aspekt der Gemeinnützigkeit konzentriert. Unsere Liste zeigt in jedem Fall, wie stark sich Aufstellungen in nur 20 Jahren weltweit verbreitet haben. Wir listen die Organisationen alphabetisch nach dem Landesnamen auf: • Argentinien: Fundación Constelaciones Familiares, www.fundacionconstelaciones.org (10.12.2019) • Belgien: COFASY, Constellations Familiales et Systémiques, Rhode Saint Geneèse, Belgien/http://www.cofasy.be/ (10.12.2019) • Chile: SCW, Esphera Sistémicaa, Red de consultores sistémicos de Chile, http:// www.espherasistemica.cl/ (10.12.2019) • Costa Rica: Asociación Costarricense de profesionales en Constelaciones Familiares y Organizacionales, https://constelandocr.com/ (10.12.2019) • Deutschland: DGfS, Deutsche Gesellschaft für Systemaufstellungen, Krefeld, Deutschland/https://www.systemaufstellung.com (10.12.2019) • Deuschland/International: INFOSYON, Internationales Forum für System-Aufstellungen in Organisationen und Arbeitskontexten, Bad Hersfeld, Deutschland/ https://www.infosyon.com (10.12.2019) • Estland: Eesti Professionaalsete Konstellööride Assotsiatsioon/Estonian Professional Constellators’ Association, Tallinn, Estland • International: ISCA, International Systemic Constellation Association, isca-network. org (10.12.2019) http://isca-network.org/
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• Kroatien: Konstelacija – Udruga za psiholosko sistemsku djelatnost/Konstellation – Verein für psycho-systemische Arbeit, https://konstelacijakroacija.wordpress.com/ (10.12.2019) • Lettland: Sistēmfenomenoloģijas biedrība/Latvian Society of System Phenomenology/Lettischer Verein für Systemische Phänomenologie/Lettland, http:// www.sakartojumi.lv/ (10.12.2019) • Nordamerika: NASC – North American Systemic Constellations/Nordamerikanische Systemaufstellungen, http://nasconstellations.org/ (10.12.2019) • Österreich/International: SystConnect, Vereinigung der systemischen Sturkturaufs tellerInnen, Österreich, https://www.systconnect.net (10.12.2019) • Österreich: ÖFS, Österreichisches Forum Systemaufstellungen, https://www.forumsystemaufstellungen.at/wp/ (10.12.2019) • Schweden: Svenska Föreningen för Systemiska Konstellationer (SFSK)/The Swedish Association for Systemic Constellations, http://www.sfsk.se/ (10.12.2019) • Spanien: AECFS, Asociación Espanola de Constelaciones Familiares y Sistémicas/ Spanischer Verein für Familienaufstellung, https://aecfs.net/ (10.12.219) • Südafrika: African Constellations Institute, Cape Town, South Africa, http:// africanconstellations.co.za/ (10.12.2019) • Südafrika: Systems Constellations Association of South Africa, Cape Town, South Africa, https://www.familyconstellations.co.za/ (10.12.2019) • Tschechien: Česká asociace systemických konstelací/Tschechischer Verband für Systemaufstellung, Prag, Tschechien, https://cask.cz/ (10.12.2019)
Ethik-Richtlinien von DGfS, ISCA und SYSTCONNECT Wir stellen Ihnen hier die Ethik-Richtlinien von Aufstellervereinen vor, deren Mitglieder in der Mehrzahl Aufstellungsarbeit im psychotherapeutischen bzw. psychosozialen Bereich machen. Die Vereine wurden in Deutschland bzw. Österreich gegründet und haben eine nationale oder internationale Ausrichtung.
Ethik-Richtlinien DGfS Als ältester Verein mit rd. 900 Mitgliedern agiert die Deutsche Gesellschaft für Systemaufstellungen national. Präambel Für die DGfS ist ethisches Verhalten Ausdruck eines Menschenbildes, dessen Grundlage eine allen gleichermaßen zugewandte, uneigennützige und dabei achtungsvolle Haltung ist. Die ethischen Richtlinien stellen in diesem Sinne eine freiwillige Selbstverpflichtung der Mitglieder der DGfS dar – es handelt sich um eine angewandte Ethik im praktischen
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Alltag, die auf eine verantwortbare Praxis abzielt. Sie beziehen sich auf jede Form eigenverantwortlichen Handelns im therapeutischen, beratenden, supervisorischen, wissenschaftlichen und publizistischen Bereich sowie in der Aus- und Weiterbildung. Die folgenden ethischen Richtlinien dienen: • der Handlungsorientierung der MitgliederInnen; • dem Schutz der KlientInnen, Aus- und WeiterbildungsteilnehmerInnen sowie Supervisanden vor unethischem und unprofessionellem Handeln; • der Förderung des ethischen Diskurses innerhalb des Verbandes. Sie sind Grundlage der Ombudsstelle für die Klärung von Beschwerden und Konflikten. § 1 Grundhaltungen 1. Die Klienten werden als verantwortlich für sich und ihre Lebensgestaltung gesehen. Sie werden zur Entdeckung, Entwicklung und selbstbestimmten Nutzung eigener Ressourcen angeregt, dabei unterstützt und begleitet. 2. Die BeraterIn/TherapeutIn/Aus- und WeiterbilderIn übernimmt die Verantwortung für eine vertrauensvolle, geschützte und für ihre KlientInnen förderliche Beziehung und verpflichtet sich zu einem verantwortungsvollen Umgang mit dem besonderen Vertrauensverhältnis zu diesen. Die Beziehung ist – bei aller damit verbundenen Einfühlung und Nähe – eine professionelle Beziehung. 3. Wird diese zur Befriedigung persönlicher, emotionaler oder sexueller, wirtschaftlicher oder sozialer Interessen missbraucht, stellt dies einen klaren Verstoß gegen die Ethik-Richtlinien der DGfS dar. 4. Die MitgliederInnen in der DGfS reflektieren selbstkritisch ihre Deutungen wie auch ihre eigenen Werte, Normen und Überzeugungen. § 2 Schweigepflicht 1. Die MitgliederInnen der DGfS verpflichten sich, alle Mitteilungen ihrer KlientInnen entsprechend den gesetzlichen Regelungen vertraulich zu behandeln, auch über den Tod hinaus. Die Einhaltung der entsprechenden Datenschutzbestimmungen ist zu gewährleisten. 2. Diese Schweigepflicht gilt auch für die Aus- und Weiterbildung, Supervision und Intervision. 3. Im Gruppenkontext werden die GruppenmitgliederInnen auf die Schweigepflicht hingewiesen. 4. Klienteninformationen dürfen allein mit deren schriftlichen Einwilligung oder bei gesicherter Anonymität in der Aus- und Weiterbildung oder in Veröffentlichungen benutzt werden.
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§ 3 Fachliche Kompetenz Die Mitglieder der DGfS verpflichten sich: • die für ihre professionelle Tätigkeit erforderliche Kompetenz gemäß den Qualitätsstandards der DGfS zu erwerben wie auch durch eine kontinuierliche Selbsterfahrung, Fort- und Weiterbildung und die Reflexion der eigenen Arbeit in Supervision und/oder Intervision zu erhalten und weiterzuentwickeln. • die eigenen fachlichen Kompetenzen und Grenzen zu respektieren. Für Beratung und Therapie gilt das Prinzip: so kurz wie möglich, so lange wie nötig. § 4 Information und Aufklärung In ihrem Bemühen um Klarheit und Transparenz gegenüber den KlientInnen informieren die MitgliederInnen der DGfS in verständlicher und angemessener Form über: • ihre berufliche Qualifikation und Verbandszugehörigkeit, inklusive Art der Mitgliedschaft; • Art und Umfang der angebotenen Dienstleistung; • die finanziellen Bedingungen; • die Vertraulichkeit und Schweigepflicht. § 5 Weiterbildung MitgliederInnen der DGfS, die in der Aus- und Weiterbildung tätig sind, verpflichten sich, die TeilnehmerInnen mit den Ethik-Richtlinien der DGfS vertraut zu machen und sie für ein eigenes ethisches Verständnis zu sensibilisieren. Gültigkeit Die Ethik-Richtlinien wurden am 3. November 2015 im Leitungsgremium der DGfS einstimmig verabschiedet und sind ab dem Moment ihrer Veröffentlichung in den Medien der DGfS gültig (DGfS 2019, https://www.systemaufstellung.com/dgfs/ ethik-richtlinien).
Ethik-Richtlinien ISCA Im Jahr 2007 in Deutschland als internationale Schwester der DGfS gegründet, agiert die International Systemic Constellations Association ISCA mit rd. 350 Mitgliedern weltweit. Zwar formuliert die ISCA als Bedingung für die Mitgliedschaft die Anerkennung der Autorenschaft von Bert Hellinger für die Aufstellungsarbeit, ebenso wie die Anerkennung der phänomenologischen Arbeit – in der Praxis aber haben sich inzwischen auch Mitglieder anderer Schulen und auch anderer Meinungen zusammengefunden.
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Dabei definiert die ISCA ihre Ethik-Richtlinien als Empfehlung und nicht als „Vorschrift“ für die Arbeit ihrer Mitglieder: This set of ethical principles is not a prescriptive, but inspirational ethics code, which serve as a guideline only. „Constellating ethics“ remains in the domain of personal responsibility of each „constellation practitioner“./Die Formulierung unserer ethischen Prinzipien soll kein vorschreibender, sondern ein inspirierender Ethikkodex sein, der als Leitfaden dient. Die „Aufstellungs Ethik“ bleibt im Bereich der persönlichen Verantwortung jedes einzelnen Aufstellers.
Ethical guidelines for systemic constellation practitioners/Ethik-Richtlinien für Systemaufsteller A systemic constellation practitioner/facilitator (constellator in further text) recognizes that the method of Systemic Constellations is a method distinct from all others, and that it has been originally developed by Bert Hellinger./Ein Aufsteller erkennt an, dass sich die Methode der systemischen Aufstellungen von allen anderen Methoden unterscheidet und dass sie ursprünglich von Bert Hellinger entwickelt wurde. A constellator further recognizes that Systemic Constellations are also a living and growing body of knowledge that is mostly discovered through an experiential method of inquiry, and that central to this approach is the phenomenon of „representative perception“ through which we receive information from the Knowing Field./Ein Aufsteller erkennt ferner an, dass Aufstellungen auch ein lebendiger und wachsender Wissensbestand sind, der meist durch eine experimentelle Untersuchungsmethode entdeckt wird, und dass das zentrale Element dieses Ansatzes das Phänomen der „repräsentativen Wahrnehmung“ ist, durch das wir Informationen aus dem Wissensfeld erhalten. A constellator endeavours to provide the highest possible quality of work, at the highest level of his own knowledge, experience and capability./Ein Aufsteller ist bestrebt, die bestmögliche Arbeitsqualität auf dem höchsten Niveau seines eigenen Wissens, seiner eigenen Erfahrung und seiner Fähigkeiten zu erbringen. A constellator is conscious of his/hers personal state, physically, emotionally, intellectually, and spiritually. He/she ensures the harmony and integrity of his/hers own systems, using him/herself the methods & techniques that s/he proposes to others./Ein Aufsteller ist sich seines persönlichen Zustands bewusst – körperlich, emotional, intellektuell und spirituell. Er/sie sorgt für die Harmonie und Integrität seiner/ihrer eigenen Systeme und verwendet selbst die Methoden und Techniken, die er/sie anderen anbietet. A constellator ensures hers/his continuing professional evolution, in particular by participating in the ongoing learning in the current and continually developing field of systemic practice; he is open to ongoing personal and spiritual development. Ein Aufsteller sichert seine kontinuierliche berufliche Entwicklung, insbesondere durch die Teilnahme am ständigen Lernen im aktuellen und sich ständig weiterentwickelnden Bereich der systemischen Praxis; er ist offen für die kontinuierliche persönliche und spirituelle Entwicklung.
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A constellator considers herself/himself in the service of the person s/he works with (the client, issue holder/seeker – „seeker“ in further text) and the seeker’s system, as well as in service of systemic and spiritual forces./Ein Aufsteller versteht sich im Dienst der Person, mit der er arbeitet („Sucher“ im weiteren Text) und dem System des Suchers, sowie im Dienst der systemischen und spirituellen Kräfte. A constellator respects the confidentiality and private life of his seeker, never disclosing any information that may be confided to him in a professional setting./Ein Aufsteller respektiert die Vertraulichkeit und das Privatleben seines Suchenden und gibt niemals Informationen preis, die ihm in einem beruflichen Umfeld anvertraut werden können. A constellator takes responsibility for his own development and does not take undue responsibility for the seeker. Remaining in his/her own sphere and not interfering with the sphere of the seeker, who at all times remains responsible for his/her own process./Ein Aufsteller übernimmt die Verantwortung für seine eigene Entwicklung und übernimmt keine übermäßige Verantwortung für den Suchenden. Er/sie bleibt in der eigenen Sphäre und greift nicht in die Sphäre des Suchenden ein, der jederzeit für seinen eigenen Prozess verantwortlich bleibt. A constellator does not offer help or promise change, but together with the seeker opens phenomenologically to what is, to what is possible, to what must and must not be done. The constellator waits for phenomenological insight, which comes simultaneously to him and the seeker. In their relationship with a seeker, a constellator adheres to the systemic orders of helping, as developed by Bert Hellinger./Ein Aufsteller bietet keine Hilfe an oder verspricht Veränderung, sondern öffnet sich zusammen mit dem Suchenden phänomenologisch dem, was ist, dem, was möglich ist, dem, was getan werden darf und nicht getan werden darf. Der Aufsteller wartet auf phänomenologische Erkenntnisse, die gleichzeitig zu ihm und dem Suchenden kommen. In seiner/ihrer Beziehung zu einem Suchenden hält sich ein Aufsteller an die systemischen Ordnungen des Helfens, wie sie von Bert Hellinger entwickelt wurden. A constellator is not driven by a personal ambition and ego goals, therefore makes sure that he/she charges for services in a balanced way, and also that he/she allows for the growth through attraction rather than forceful promotion./Ein Aufsteller wird nicht von seinem persönlichen Ehrgeiz und seinen Ego-Zielen getrieben. Deshalb stellt er sicher, dass er/sie für Dienstleistungen in ausgewogener Weise bezahlt wird, und auch, dass er/sie sein/ihr Wachstum (und den beruflichen Erfolg) durch Anziehung statt durch lauthstarke Werbung ermöglicht. A constellator refrains from ideological proselytism or moral judgement, aware of the Conscience of his/hers own group, practising radical inclusion and opening oneself up to everything that is the way it is./Ein Aufsteller verzichtet auf ideologischen Proselytismus oder moralisches Urteil, ist sich des Gewissens seiner eigenen Gruppe bewusst, praktiziert radikale Einbeziehung und öffnet sich für alles, was so ist, wie es ist.) (Anmerkung: Prosyletismus = Abwerben von Menschen aus Glaubensgemeinschaften und/oder -organisationen, die zum Eintritt in die eigene Glaubensgemeinschaft oder -organisation bewegt werden sollen.) A constellator does not speak disparagingly about the original developer of the systemic constellations, Bert Hellinger, and shows respect to him and other teachers he/she has
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learned from./Ein Aufsteller spricht nicht abschätzig über den ursprünglichen Entwickler der systemischen Aufstellungen, Bert Hellinger, und zeigt Respekt vor ihm und anderen Lehrern, von denen er/sie gelernt hat. A constellator treats hers/his colleagues with respect. He/she does not make disparaging remarks, neither publicly nor privately, about other constellation practitioners./Ein Aufsteller behandelt seine Kollegen mit Respekt. Er/sie macht keine herabsetzenden Bemerkungen, weder öffentlich noch privat, über andere Aufsteller. A constellator collaborates in a respectful way with professionals in related fields./Ein Aufsteller arbeitet respektvoll mit Fachleuten aus verwandten Bereichen zusammen. A constellator has responsibility to apply the method only in those areas and situations for which he/she has relevant experience, knowledge and education./Ein Aufsteller ist dafür verantwortlich, Aufstellungen nur in den Bereichen und Situationen anzuwenden, für die er/ sie über relevante Erfahrungen, Kenntnisse und Ausbildungen verfügt. A constellator does not cause harm and cultivates compassionate human-heartedness./Ein Aufsteller verursacht keinen Schaden und kultiviert mitfühlende menschliche Herzlichkeit. A constellator is aware of the limits of our dualistic materialistic paradigm and acknowledges the spiritual aspect to our lives and to everything that is./Ein Aufsteller ist sich der Grenzen unseres dualistischen materialistischen Paradigmas bewusst und anerkennt die spirituelle Dimension des Lebens mit allem, was ist. A constellator ensures that he works in a respectful and healthy environment./Ein Aufsteller stellt sicher, dass er in einer respektvollen und gesunden Umgebung arbeitet. A constellator commits her/himself to the general development of the well-being in society, supporting activities that seek to establish a healthy systemic environment in the service of general well-being./Ein Aufsteller verpflichtet sich zur allgemeinen Entwicklung des Wohlbefindens in der Gesellschaft und unterstützt Aktivitäten, die darauf abzielen, eine gesunde systemische Umwelt im Dienste des allgemeinen Wohlbefindens zu schaffen. A constellator keeps her/himself physically, mentally and spiritually healthy, understanding that to keep oneself healthy is to be kind to your ancestors, your parents, the future generations, and also all humanity./Ein Aufsteller hält sich körperlich, seelisch und geistig gesund und versteht, dass es dafür wichtig ist, freundlich zu seinen Vorfahren, seinen Eltern, den zukünftigen Generationen und auch der ganzen Menschheit zu sein. (ISCA 2019, https://isca-network.org/about/constellating-ethics; Übersetzung Stephanie Hartung)
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Ethik-Richtlinien SYSTCONNECT SYSTCONNECT präsentiert sich im Verhältnis zu DGfS und insbesondere zur ISCA erfrischend kurz und prägnant. Ethische Haltung und Grundsätze in der Strukturaufstellungsarbeit Die in der Qualitätsliste aufgeführten Mitglieder bekennen sich zu folgenden Haltungen und Arbeitsweisen: • • • •
Jede Klientin, jeder Klient ist autark und selbstbestimmt. Wir arbeiten lösungsfokussiert und wertschätzend. Wir verzichten auf Interpretationen, Wertungen, Beurteilungen. Jede Klientin, jeder Klient kennt das eigene System am besten. Wir agieren in Bezug auf das Klientensystem aus einer Haltung des Nicht-Wissens. • Wir bieten mit unserer Arbeit einen Rahmen, in dem die Klientinnen und Klienten das Eigene, das für sie Stimmige entdecken können. Wir machen Angebote, und die Klientinnen und Klienten haben die Freiheit zu wählen. • KlientIn und StrukturaufstellerIn begegnen sich als gleichwertige Partner. • Wir sehen die Strukturaufstellung als Teil eines Prozesses. • Wir klären in einem lösungsfokussierten Vorgespräch den Auftrag und machen mindestens das Angebot für eine Nachbesprechung. • Wir sorgen für den Vertraulichkeitsschutz personenbezogener und organisationsbezogener Informationen. (SYSTCONNECT 2019, https://www.systconnect.net/die-vereinigung/ethische-haltung/)
Literatur
Beaumont, H. (1999). Ordnungen der Liebe. Bert Hellingers Systemische Therapie und die Gestalttherapie. Gestaltkritik. Die Zeitschrift für Gestalttherapie, 2. http://www.gestalt.de/ beaumont_interview_teil2.html. Böszörményi-Nagy, I. (1973). Unsichtbare Bindungen – Die Dynamik familiärer Systeme. Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart 1981. Original: Invisible Loyalities. New York: Harper & Row. Deutsche Gesellschaft für Gestalttherapie e. V. (2019). Was ist Gestalttherapie? https://www.dvggestalt.de/was-ist-gestalttherapie/. Zugegriffen: 22. Mai 2019. Hellinger, B. 1925. Lebenslauf Bert Hellinger – 90 Jahre im Dienste des Menschen und des Friedens. https://www.youtube.com/watch?v=C1pKkwFgCA8. Hellinger, B. (2019a). Interview mit Heinrich Breuer, Theo Roos, Wilfried Nelles. https://www. hellinger.com/home/bert-hellinger/der-lebensweg-von-bert-hellinger/. Zugegriffen: 22. Mai 2019. Hellinger, B. (2019b). Ordnungen der Liebe. https://www.hellinger.com/home/familienstellen/ grundordnungen-des-lebens/1-ordnungen-der-liebe/. Zugegriffen: 22. Mai 2019. McClendon, R., & Kadis, L. B. (1980). Concise Guide to Marital and Family Therapy (Leitfaden für die Ehe- und Familientherapie). Taschenbuchausgabe American Psychiatric Press Inc. 1998. Miller, M. V. (1994). From the 1994 Gestalt Journal Press edition of Gestalt Therapy by Perls, Hefferline and Goodman. http://www.gestalt.org/phgintro.htm. Zugegriffen: 14. Mai 2019. Moreno, B. J. (1921). Jakob Levy Moreno und das Barackenlager Mitterndorf. Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich. http://agso.uni-graz.at/mitterndorf/jacob_levy_ moreno/04.htm#bad_voeslau. Moreno, J. (1953). Who shall survive? Foundations of Sociometry, Group Psychotherapy and Sociodrama. New York: Beacon House. Moreno, J. (1954). Grundlagen der Soziometrie – Wege zur Neuordnung der Gesellschaft. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Moreno, J. (1985). The Autobiography of J.L. Moreno. New York: Moreno Archives, Harvard University. Moreno, J. (2009). J. L. Morenos Werk in Schlüsselbegriffen (S. 415). Wiesbaden: VS Verlag. NLP Portal. (2019). Fritz Perls – 1 = Die existenzielle Sackgasse, 2 = Sein Spätwerk. https:// nlpportal.org/nlpedia/wiki/Fritz_Perls. Zugegriffen: 14. Mai 2019. Perls, F. S. (1942). Ego, hunger and aggression; A revision of Freud’s theory and method. Erstveröffentlichung: Knox Publishing Company: Oxford.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hartung und W. Spitta, Lehrbuch der Systemaufstellungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61192-0
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Literatur
Perls, F. S. (2009). Deutsche Ausgabe (7. Aufl.): Das Ich, der Hunger und die Aggression. Klett-Cotta: Stuttgart. Perls, F. S., Goodman, P., & Ralph, H. (1951). Gestalt Therapy; Excitement and growth in the human personality. New York: Julian Press. Weber, G. (2019a). Veröffentlichung auf seiner. http://www.gunthard-weber.de/. Weber, H. (2019b). Was ist Psychodrama. http://www.psychodrama-netz.de/content/psychodrama. Zugegriffen: 22. Mai 2019.