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German Pages 237 [242] Year 2007
Ostmitteldeutsche Schreibsprachen im Spätmittelalter
W G DE
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Christa Dürscheid Andreas Gardt Oskar Reichmann Stefan Sonderegger
89
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Ο stmitteldeuts che Sehreib sprachen im Spätmittelalter Herausgegeben von Luise Czajkowski Corinna Hoffmann Hans Ulrich Schmid
Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019605-0 ISSN 1861-5651 Bibliografische Information der Deutschen
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© Copyright 2007 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D - 1 0 7 8 5 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort der Herausgeber Am 21. und 22. Juli 2006 fand an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig eine Arbeitstagung zum Thema „Ostmitteldeutsche Schreibsprachen im Spätmittelalter" statt. Ziel der Tagung war es, die Möglichkeiten für ein gleichnamiges Forschungsprojekt im Rahmen des Akademienprogramms auszuloten. Leipzig, der einstige Wirkungsort von Theodor Frings, würde sich auch als Standort eines solchen Unternehmens anbieten. An der Tagung haben neben Sprachhistorikern auch Literaturwissenschafder, Historiker, Rechtshistoriker, Archivare und nicht zuletzt Kollegen, die mit der Katalogisierung vorwiegend ostmitteldeutscher Handschriften an der Universitätsbibliothek Leipzig befasst sind, teilgenommen. Es bestand Einigkeit darüber, dass eine (letztlich wohl in Atlasform zu publizierende) Dokumentation ostmitteldeutscher Schreibsprachen des 14. und 15. Jahrhunderts in mehrfacher Hinsicht ein Forschungsdesiderat ist. Denn vom ostmitteldeutschen Raum sind schon lange Zeit vor der Reformation bedeutende Impulse für den sich anbahnenden Ausgleich der regionalen Schreibsprachen ausgegangen, Impulse, an die im frühen 16. Jahrhundert Martin Luther anschließen konnte, und denen er seinerseits zu weiterer überregionaler Geltung verholfen hat. Am Ende der in ihren Einzelheiten sehr komplexen Entwicklung, in denen jedoch das ostmitteldeutsche Element stets präsent blieb, stand die deutsche Literatur- und Standardsprache. Diese Vorgänge, die gerade in ihrem Frühstadium noch zu erforschen sind, interessieren nicht nur den Sprachhistoriker, sondern sind von interdisziplinärem Interesse auch für Forscher anderer historisch und philologisch orientierter Wissenschaftsbereiche. Umgekehrt muss die Erforschung der frühen ostmitteldeutschen Schreib sprachen im permanenten Kontakt mit den genannten Nachbardisziplinen stattfinden. Dieser Tagungsband, der die thematisch sehr vielfältigen Beiträge zum Leipziger Kolloquium vom Juli 2006 vereinigt, deutet damit auch die Vielfalt der Interessen an der Ostmitteldeutsch-Thematik an. Leipzig, im August 2007 Hans Ulrich Schmid, Luise Czajkowski, Corinna Hoffmann
Inhalt Vorwort der Herausgeber
V
Ostmitteldeutsche Schreibsprachen im Spätmittelalter. (Vor-) Überlegungen zu einem Forschungsprojekt Hans Ulrich Schmid
1
Vorarbeiten zu einer Dokumentation der Ostmitteldeutschen Schreibsprachen im Spätmittelalter laäse C^ajkowski / Corinna Hoffmann
13
Der ,Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete' (ASnA) Robert Peters / Christian Fischer
23
HistSUF. Überlegungen zum verhinderten historischen Sprachatlas von Unterfranken Norbert Richard Wolf
34
Sprachhistoriographie im Spannungsfeld zwischen Oralität und Literalität Gotthard herchner
53
Sprachgeographische und sprachsoziologische Merkmale der beiden Erfurter Historienbibel-Handschriften um 1430 Rudolf Bent^inger
59
Zur Bedeutung der Sprache der spätmittelalterlichen Rechtsbücher im Ostmitteldeutschen Rudolf Grosse / Brigitte Ohlig
73
Zur Sprachensituation im Deutschordensland Preussen. Ein Problemaufriss Ralf G.Päsler
93
VIII
Inhalt
Zur Syntax der beginnenden muttersprachlichen Schriftlichkeit. A m Beispiel der Urkunden der Stadt Dresden aus dem 14. Jahrhundert Rainer Hünecke 108 Ostmitteldeutsche Urkundenüberlieferung. Zum Editionsstand der mittelalterlichen Urkunden in Sachsen Enno Β/ίηίζ
129
Grenzen und Möglichkeiten einer Corpuserstellung deutscher Literatur des Mittelalters in Thüringen Wolfgangbeck
157
Zur Uberlieferung der sächsischen Städte im späten Mittelalter als Quelle für eine Untersuchung der Ostmitteldeutschen Schreibsprachen im Spätmittelalter Henning Steinführer
168
Möglichkeiten zeitlicher Einordnung undatierter omd. Texte des 14. Jahrhunderts Jörn Weinert
179
Perspektiven der Zusammenarbeit zwischen Handschriftenkatalogisierung und historischer Sprachgeographie Christoph Mackert / Falk Eisermann 197 Ostmitteldeutsche Handschriften des Mittelalters im Handschriftenarchiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Jürgen Wolf
214
Protokoll der Abschlussdiskussion huise C^ajkowski / Corinna Hoffmann
231
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Ostmitteldeutsche Schreibsprachen im Spätmittelalter. (Vor-) Überlegungen zu einem Forschungsprojekt Hans Ulrich Schmid Das Thema der Tagung lautet ebenso wie der vorläufige Titel des angestrebten Projekts ,Ostmitteldeutsche Schreibsprachen im Spätmittelalter'. In diesen einleitenden Überlegungen soll das Stichwort „Schreibsprachen" im Vordergrund stehen (obwohl gewiss auch „ostmitteldeutsch" und „Spätmittelalter" durchaus diskussionswürdige Begriffe wären). Ziel des ins Auge gefassten Projekts ist die linguistische Beschreibung der verschiedenen verschrifteten Sprachvarietäten des ostmitteldeutschen Raumes auf der Grundlage von Primärquellen. Die Ergebnisse sollen auch für historisch-philologische Nachbardisziplinen nutzbar gemacht werden können. Es ist zu begründen, aufgrund welcher Überlegungen dezidiert „Schreibsprachen" der Forschungsgegenstand sein sollen. Denn lange hat man ja in der historischen Sprachwissenschaft vornehmlich versucht, durch die geschriebenen Zeugnisse der Vergangenheit hindurch zu dem primären (oder besser gesagt: für primär angesehenen) Gegenstand der Sprachwissenschaft, nämlich die gesprochene Sprache, durchzudringen, zu ihren Lautungen, Formen, Wort- und Satzstrukturen. Die geschriebenen Sprachquellen sind in einem solchen Verständnis Mittel zur Erschließung historischer Sprachstände und Hindernis in einem, kaum aber primärer Forschungsgegenstand. Werner BESCH1 hat in diesem Zusammenhang von der „Barriere Schrift" gesprochen. Junggrammatiker und Strukturalisten2 stimmen in dieser Prämisse überein, und auch Theodor FRINGS, der weder als Junggrammatiker noch als Strukturalist anzusprechen ist, sondern einen „kulturmorphologischen" Ansatz 3 vertreten hat, hat die schriftliche Überlieferung in erster Linie als Zugang zu der von ihm postulierten kolonialen Ausgleichssprache gesehen: „Das neue Deutsch 1 2 3
BESCH 1961,287. Vgl. ElMF.NTAJ.1 >R 2003, 29-36. Vgl. grundsätzlich das Kapitel „Kulturräume und Kulturströmungen im mitteldeutschen Osten" in FRINGS 1956, III, 117-163. Mit „Kulturräumen" meinte FRINGS vor allem die mündlichen Varietäten mit ihrer historischen Tiefe und ihrer sprachräumlichen Verbreitung.
2
Hans Ulrich Schmid
war im Munde der Siedler vorgeformt und wurde gesprochen, lange bevor es seit dem 13. Jahrhundert in die Schreibstuben einzog und sich dort festigte". 4 Das „Schreibstubendeutsch" ist auch in dieser Sicht der Dinge ein Sekundärphänomen gegenüber der primären, gesprochenen Sprache. Nun hat sich aber in der neueren Forschung die Einsicht durchgesetzt, dass die historischen Schreibsprachen nicht nur in vieler Hinsicht ein Eigenleben führen, sondern dass sie ihrerseits sogar auf die gesprochene Sprache eingewirkt haben. Man denke an die bereits von Johann Christoph ADELUNG als „Nieder-Hochdeutsch" apostrophierte \ r arietät, eine an der hochdeutschen Schriftlichkeit orientierte Sprechweise im niederdeutschen Raum. 5 Gesprochene und geschriebene Sprache stehen also in einem komplexen wechselseitigen Verhältnis zueinander. Da sich im Frühneuhochdeutschen regionale Schreibvarietäten herausgebildet haben, ist eine Fokussierung auf diese geschriebenen historischen Sprachen, und zwar auch in ihrer regionalen Gebundenheit, nicht nur legitim, sondern ein Erfordernis. Ingo REIFFENSTEIN6 hat das zutreffend so formuliert: „Auch Regionalsprachgeschichte muß zuerst Geschichte der schriftlich überlieferten historischen Sprache sein. Natürlich gehört es zu den Aufgaben vor allem einer regionalen (grundsätzlich aber selbstverständlich jeder) Sprachgeschichte, alle Informationen zu nützen, die auf die gesprochene Sprache schließen lassen. Die Quellen enthalten ja tatsächlich Schreibungen, die solche Schlüsse erlauben. Aber dies kann doch nur eine, und keineswegs die vorrangige Aufgabe einer regionalen Sprachgeschichte sein. Die Verschriftung einer bislang nur gesprochen weitergegebenen Sprache wird zwar in ihren Anfängen notwendig eine Wiederspiegelung der gesprochenen Sprache sein. Aber von der Zeit an, in der sich Schreibtraditionen ausgebildet haben, und dies setzt im Deutschen jedenfalls schon im 9. Jahrhundert ein, schreibt man nicht mehr, wie man spricht, sondern so, wie man schreibt, wie man schreiben gelernt hat."
Was sind es denn nun für relevante Faktoren, die die konkrete Struktur eines beispielsweise im Jahre 1470 in Leipzig geschriebenen Textes determinieren? Hier kann und soll kein holistischcs Modell vorgestellt werden. Es soll nur der Blick auf einige Aspekte gelenkt werden, die auf zentrale Weise unser angestrebtes Projekt betreffen, und sich folglich bei der Planung und Durchführung niederschlagen sollten.
4 5 6
FRINGS 1957, 44. Vgl. hierzu VON PorENZ 1994, 144f. REIFFENSTEIN 1995, 327.
3
(Vor-) Überlegungen zu einem Forschungsprojekt
Medium
gesprochene Landschafts-sprachen in Zeit und Raum . ψ Schreibsprachen
Sprachkc -1"1 '
Prestige
>
Textsorte
Lexem
Konvention / Tradition
\ Person des Schreibers
Adressat
Abb. 1
Die historischen Schrcibsprachcn werden in ihrem Grapheminventar, aber auch in Morphologie, Lexik und Syntax von diesen sehr heterogenen inner- und außersprachlichen Faktoren beeinflusst, die von Fall zu Fall in den Vordergrund oder in den Hintergrund treten, vor allem aber intcragieren. Monokausalität gibt es nicht. Diese Faktoren sollen nun im einzelnen kurz näher betrachtet werden, wobei zu fragen sein wird, ob, in welchem Umfang und auf welche Weise sie in die Materialanalysen im Rahmen des Projekts „Ostmitteldeutsche Schreibsprachen im Spätmittelalter" und in die spätere Darstellung der Ergebnisse einzubeziehen sind. 1. Gesprochene Landschaftssprachen in Zeit und Raum Das geschriebene Alt-, Mittel- und Frühneuhochdeutsche konnte ebenso wenig völlig losgelöst von der jeweils gesprochenen Landschaftssprache funktionieren oder überhaupt existieren, wie die heutige Schriftsprache ohne Rückbezug auf die gesprochene Standardsprache möglich wäre (dass dieser Rückbezug problematisch sein kann, zeigt nicht zuletzt die unselige Diskussion um die Rechtschreibreform). Die dialektale Gliederung des Deutschen hat sich auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Maße im 14. bis 17. Jahrhundert auch auf die Schreib sprachen niedergeschlagen. Zwar lässt sich in den Quellen vielfach eine Tendenz zur Aussonderung auffälliger, regional nur begrenzt gültiger Formen beobachten. Insbesondere bei Texten aus der älteren Phase des Frühneuhochdeutschen (14. und wohl auch noch 15. Jahrhundert) können aber beispielsweise noch graphematische Profile herausgearbeitet werden, die
4
Hans Ulrich Schmid
landschaftssprachliche oder sogar kanzleitypische Gegebenheiten reflektieren. Ahnliches ist für die Morphologie anzunehmen. 2. Lexem Eine probeweise durchgeführte Analyse des in WILHELMS Urkundencorpus zur Verfügung stehenden Materials hat ergeben, dass — um nur ein Beispiel zu nennen — die neuhochdeutsche Monophthongierung in der Schreibsprache der Urkunden (des letzten Jahrzehnts noch des 13. Jahrhunderts) nicht „lautgesetzlich" vollzogen ist, sondern dass es lexemabhängige Schreibungen gibt. Digraphen und Superskripte, die sich auf alte Diphthongschreibungen zurückführen lassen, sind scheinbar am festesten in Rechtswörtern wie s/ine, sihien, bü^e und in hochfrequenten Wörtern wie ^y/, tun, müξ und gut. Sie erscheinen auch in Titulaturen wie Tnmherren, liebin vater (gegenüber z.B. dinsman in einer Urkunde von 1293 aus dem thüringischen Triptis). Es ist also damit zu rechnen, dass es lexemgebundene Schreibweisen gibt, die unabhängig von der jeweils gesprochenen Landschaftssprache eigene Schreibkonventionen, Gültigkeitsareale und -Zeitphasen aufweisen. 3. Konvention und Tradition Die eben erwähnte Lexemgebundenheit deutet bereits darauf hin, dass sich kanzleisprachliche Schreibkonventionen herausgebildet haben, die auf die tatsächlichen phonetischen Gegebenheiten der jeweils gesprochenen Stadt- oder Landschafts Sprache nicht mehr oder noch nicht Rücksicht nahmen. Weitere Beispiele wären
-, -, -Schreibungen in Gebieten, die die so genannte „binncndeutschc Konsonantenschwächung" mitgemacht haben oder, wie eben unter 2. belegt, das Festhalten an Vokalgraphien ohne phonetische Grundlage im jeweiligen Orts- oder Regionaldialekt. Konventionell kann auch das nach heutigem Empfinden Unkonventionelle sein, nämlich die scheinbar völlig unmotivierte Variation. Wie Arend MlHM7 gezeigt hat, wurde bis ins 17. Jahrhundert „der Variantengebrauch [...] als Kennzeichen einer gehobenen Schreibkultur geschätzt". Der Duisburger Stadtsekretarius Johann Hermann Mercator beispielsweise brachte es bei dem aus drei Phonemen bestehenden Wort Rat auf beachtliche elf verschiedene Schreibungen. MlHM sieht darin ein „Mittel 7
MlHM 2000, 383.
(Vor-) Überlegungen zu einem Forschungsprojekt
5
der Hervorhebung, wobei deutlich eine honorative Absicht erkennbar wird". 8 Ob man allerdings so weit gehen soll, im „Variantengebrauch [...] den eigentlichen Motor des Schreibsprachenausgleichs"9 zu erkennen, bleibe dahingestellt. 4. Person des Schreibers Individuelle Schreibgewohnheiten treten uns in frühneuhochdeutschen Quellen allenthalben entgegen. Ein Beispiel ist das Erfurter „Buch der Willkür", dessen drei Schreiber zwar im Großen und Ganzen sprachlich konform gehen, aber doch in einer Reihe von Fällen Divergenzen aufweisen.10 Zuletzt hat auf die Bedeutung der Schreiberindividualität nachdrücklich Michael ELMENTALER11 in seiner Habilitationsschrift hingewiesen. Er konnte für zehn Duisburger Schreiber des 14. bis 17. Jahrhunderts individualspezifische Graphemsysteme herauspräparieren. Dabei zeigte sich — durchaus überraschend — über die vier untersuchten Jahrhunderte hinweg keinerlei Standardisierungstendenz bzw. Variantenabbau. Dies könnte der im Westmitteldeutschen gegebenen historischen Situation geschuldet sein. Das Westmitteldeutsche war — anders als das Ostmitteldeutsche — in zahlreiche Klein- und Kleinstterritorien gegliedert. Es ist ferner ein Zusammenhang anzunehmen zwischen dem individuellen Schreibusus eines Skribenten und dem Aktionshorizont seiner Wirkungsstätte. Großräumig agierende Kanzleien (wie die wettinische oder die kaiserliche) tendieren weniger zu regional oder gar lokal gebundenem Sprachgebrauch als Schreiber, die in untergeordneten Zentren tätig sind. So steht beispielsweise in einer zwar in Plauen ausgestellten aber kaiserlichen Urkunde vom 8. Juli 135812, in welcher der Vogt Heinrich von Plauen mit zwei Burgen belehnt wird, die Schreibform voget, während ebcndieser „Voget" mit Namen Heinrich in einer an genau demselben Tag in anderem Zusammenhang ausgestellten Urkunde als vojt tituliert wird. Bei der 1. Plural des Verbs haben mit nachgestelltem Pronomen verwendet die kaiserliche Urkunde die Form haben wir, in der Urkunde des Vogts heißt es beuge wir [...] unser insigel. Datiert wird in der kaiserlichen Urkunde mit clreyc-^enhundert iar darnach in dem acht und fumfc^igesten iare, in der Urkunde des Plauener Vogts mit tusent iare drie 8 9 10 11 12
Ebd., 384. Ebd. Vgl. PFF.FFF.R 1972. ELMENTHALER 2003. Vgl. SCHMIDT 1892,21 f.
6
Hans Ulrich Schmid
hundert iare in dem acht unde phun^cigesteu iare. Kontraktion, -//-lose Pluralform und alte Monophthonge sind nur einige kleine Details, sie illustrieren aber das eben Gesagte. Und es fügt sich zu der Beobachtung von Wolfgang FLEISCHER13, dass sich in Dresden typisch ostmitteldeutsche Monophthonge und Entrundungs formen bei Schreibern mit niedrigerem Bildungsstand häufen. Von besonderem Interesse ist ferner das individuelle Schreiberverhalten im hochdeutsch-niederdeutschen Interferenzraum, das Verhalten von niederdeutschen Schreibern im Dienst und Auftrag von Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet, oder — soweit greifbar — die Schreibpraxis bilingualer Skribenten. Hier konnte es zu Schreibsprachmischungen kommen, die möglicherweise als Vorstufen zum Schreibsprachausgleich anzusehen sind. Einen extremen Fall aus dem Bereich des Deutschen Ordens hat Luise CZAJKOWSKI14 untersucht. Der sprachsoziologische Aspekt ist für ostmitteldeutsche Schreibzentren bereits mehrfach thematisiert worden. Exemplarisch zu nennen wären die Arbeiten Gerhard KEITMANNS15 über die Verhältnisse in Wittenberg und Rudolf BENTZINGERS16 Untersuchungen über die soziologisch bedingten Schreibvarianten in Historienbibeln aus dem thüringischen Raum. Flächendeckende Untersuchungen fehlen bisher. 5. Textsorten Die Einsicht, dass unterschiedliche Textsorten auf unterschiedliche Weise zu überregionaler Ausgeglichenheit oder zu stärkerer lokal- und regionalsprachlicher Gebundenheit tendieren, ist nicht neu und muss deshalb auch nicht näher erläutert werden. Die grundsätzliche Einsicht hat sich bislang aber noch kaum in konkreten Forschungen speziell zum ostmitteldeutschen Raum niedergeschlagen.
13 14 15 16
FLEISCHER 1970,463-467. CZAJKOWKST 2005. Z.B. KEITMANN 1968. Zuletzt BENTZINGER 2001.
(Vor-) Überlegungen zu einem Forschungsprojekt
7
6. Prestige Peter VON POLENZ will Sprachgeschichte zumindest teilweise verstanden wissen als „soziopragmatische Stilgeschichte". 17 Hier könnte man auch an die Sprachtheorie von Karl BÜHLER18 anknüpfen, der sprachliche Äußerungen nicht nur in ihrer Darstellungs-, sondern auch in ihrer Symptomfunktion betrachtet. Symptomfunktionen — dazu sind auch kulturelle Orientierungen zu rechnen — kommen auch der Entscheidung für oder wider prestigehaltige Schreib- und auch Sprechvarianten zu. Ein Beispiel wären die ersten Spuren hochdeutschen Einflusses im Niederdeutschen: -f/'-Pronomina wie mich und dich und hochfrequente Wörter wie sagen und lassen, mit denen — wie Robert PETERS19 nachgewiesen hat — Schreiber bereits geraume Zeit vor dem Vollzug des Schreibsprachwechsels ihre kulturelle Orientierung signalisierten.20 Dresdener Kanzleischreiber — um zum Ostmitteldeutschen zurückzukehren — übernehmen um die Mitte des 16. Jahrhunderts erstaunlicherweise oberdeutsche Schreibmerkmale. Wolfgang FLEISCHER21 nennt z.B. für mhd. ei, für den alten Diphthong no, für germ. *k, die Apokope und die Suffixform -uns. Gerhard KETTMANN22 hat für die Zeit nach 1500 in der Wittenberger Kanzlei durchgehende Verwendung des Diminutivsuffixes -lein konstatiert — ein weiteres Detail, das in dieselbe Richtung weist. 7. Sprachkontakt Für den sich im Frühneuhochdeutschen anbahnenden überlandschaftssprachlichen Ausgleichsprozess, der nicht in allen Landschaften des Sprachgebiets gleichgerichtet und im selben Tempo verlief, müssen Sprachkontakte von Bedeutung gewesen sein, und zwar direkter, also sprechsprachlicher Kontakt, aber auch indirekter, das heißt medialer 17 18 19 20
21 22
Vgl. VON POLENZ 2000, 79f. Hierzu auch das Kapitel „Schreibsprachwandel als soziopragmatische Stilgcschichtc" in ELMENTALER 2003, 180-185. BÜHLER 1934. Z.B. PETERS 1995. Vgl. auch die Bewertung der niederdeutsch-osmitteldeutschen Sprachmischung im Berliner Fragment von .Flos und Blankeflos' durch BECKERS 1980, 135. BECKERS geht davon aus, ,,daß die nd. Sprachelemente innerhalb der damaligen Mischsprache bzw. Mischschreibe der im Zurückweichen begriffenen sprachlichcn Grundschicht zuzuordnen sind, während die hd. (ostmd.) Elemente den als höherwertig empfundenen und daher expansiven Faktor ausgemacht haben". FLEISCHER 1967,170. KEITMANN 1968,355.
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Kontakt. Ohne Berührung von Sprachvarietäten wären weder Einfluss noch Ausgleich denkbar. Der im Spätmittelalter immer häufiger und immer weiträumiger werdende deutschsprachige Schriftverkehr und die Mobilität des schreibenden Personals 23 führten zu Schreibsprachkontakten und dürften den sprachlichen Austausch begünstigt haben. Erfurt und vor allem Leipzig waren zudem nicht nur Knotenpunkte im europäischen Ost-West- und Nord-Südverkehr, sondern auch Universitätsstädte mit weitem Einzugsbereich. Wie Ludwig Erich SCHMITT24 in seiner gewichtigen Monographie zur thüringischen Geschäfts spräche des Spätmittelalters etwa für Erfurt nachgewiesen hat, stammte der Großteil der dortigen Kanzleischreiber zwar aus dem thüringischen Umland. Aber eine beachtliche Zahl kam auch aus ferneren Gegenden des Sprachgebiets: aus dem Oberdeutsch-Ostfränkischen (Eger, Würzburg, Bamberg), dem Hessischen (Hersfeld), dem südlichen Niederdeutschen (Halle, Nordhausen). 25 Leipziger Stadtschreiber kamen, wie Henning STEINFÜHRER26 in seiner Edition der Leipziger Ratsbücher 1466 bis 1500 nachgewiesen hat, aus der näheren Umgebung (Würzen), aus dem schon etwas weiter entfernten Thüringen (Triptis, Zwickau), aber auch aus Schlesien. Ein gewisser Peter Freitag stammte gar aus Königsberg, hatte aber in Leipzig studiert. Auch hier ergibt sich wieder das Bild eines beträchtlichen Einzugsbereichs. Eine Sonderform des Sprachkontaktes war die Textmigration. Die Überlieferung der Rechtsbücher (Sachsenspiegel, Schwabenspiegel) mit der für sie charakteristischen Sprachmischung wäre hierfür ein gutes Beispiel. Das Auftreten von Diphthonggraphien in Urkunden aus dem Westen des ostmitteldeutschen Gebietes (Eisenach, Erfurt, Eckhartsberga) in vergleichsweise früher Zeit dürfte dagegen durch die relative Nachbarschaft des Oberdeutschen verursacht sein. Im 14. Jahrhundert stellen sich in dem Gebiet die Dinge dann wieder anders dar: Die neuen Diphthonge treten tendenziell noch einmal zurück. Ob hier direkter oder medialer Sprachkontakt vorliegt, mag an dieser Stelle offen bleiben. Das zentrale Gebiet Obersachsens jedenfalls hielt sowohl im sprechsprachlichen als auch im schreibsprachlichen Bereich noch längere Zeit an den alten Monophthonggrapliien fest (zur Interdependenz von landschaftlich gebundener Sprech- und Schreibsprache siehe oben, Abs. 1.).
23
V g l . hierzu MlHM 2001.
24
SCHMITT
25
SCHMITT 1982, 366.
26
STEINFÜHRER 2003, X L V - L I .
1982, Karte 41.
(Vor-) Überlegungen zu einem Forschungsprojekt
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8. Adressat Inwieweit Adressatenorientierung im Ostmitteldeutschen eine Rolle spielt, ist ebenso erst noch zu ermitteln wie die Zusammenhänge zwischen Textsorten und Schreibformen (s. oben unter 5.). Im 15. Jahrhundert verhielten sich die Kanzleien des deutschen Sprachraums uneinheitlich. In der Kölner Ratskorrespondenz beispielsweise war die Bereitschaft zur Empfangerorientierung weit ausgeprägter als etwa zur selben Zeit in Nürnberg 27 . Offen ist die Frage, ob die Bereitschaft zur Empfängerorientierung in Kanzleien im hochdeutsch-niederdeutschen Grenz- bzw. Übergangsgebiet größer war als im Binnenland. Rudolf B E N T Z I N G E R 2 8 weist in seinem HSK-Artikel über die frühneuhochdeutschen Kanzleisprachen darauf hin, dass eine 1287 ausgestellte Urkunde, deren Adressat der Mainzer Erzbischof war, oberdeutsche Merkmale aufweise, während „innerthüringische" Urkunden stärker regional gebundenen Sprachstand aufwiesen. Ähnliches keß sich für Magdeburg zeigen: Innerstädtische Belange werden niederdeutsch beurkundet, aber zur selben Zeit wird der Geschäfts- und Rechtsverkehr mit Breslau hochdeutsch abgewickelt. Also immerhin Indizien, denen weiter nachzugehen sich lohnen dürfte. 9. Medium Mit dem Buchdruck vollzieht sich eine erste Medienrevolution. Wir haben Grund zu der Annahme, dass die auf den Schreibsprachen basierende Druckersprache in noch wesentlich stärkerem Maße auf die gesprochene Sprache höherer gesellschaftlicher Schichten eingewirkt hat als umgekehrt. Es Hegen Ansätze zur Erforschung ostmitteldeutscher Druckersprachen vor, speziell für Erfurt 29 und Wittenberg3", doch sind wir von einem Inventar der in den Offizinen zu Leipzig, Wittenberg, Erfurt (usw.) präferierten Sprachformen noch weit entfernt.
27 28 29 30
Das hat die Untersuchung von MÖLLER 1998 ergeben. BF.NTZTNGER 2 0 0 0 , 1 6 7 0 . Z.B. HARTWEG 1982. Z.B. KETTMANN 1987.
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Abschließendes Vor Aufnahme der eigentlichen Projektarbeit wird zu klären sein, welche der in Abb. 1 genannten Faktoren im Rahmen des angestrebten Projekts endgültig im Vordergrund stehen sollen. Keiner dieser Aspekte sollte zwar völlig vernachlässigt werden, doch aus arbeitstechnischen und -ökonomischen Erwägungen heraus sind natürlich Akzentuierungen vorzunehmen. Das Leipziger Kolloquium, dessen Einzelbeiträge in diesem Sammelband vereinigt sind, hat hier wertvolle Anregungen erbracht. Man vergleiche das Protokoll der Abschlussdiskussion von Luise CZAJKOWSKI und Corinna H O F F M A N N in diesem Band. Im Vordergrund werden wohl räumliche, zeitliche, textuelle und, damit verbunden, auch schreibersoziologische Aspekte stehen. Was die Quellenbasis anbelangt, so muss zunächst solches Material analysiert werden, das zuverlässig datier- und lokalisierbar ist. Hier bietet sich zunächst das städtische Verwaltungsschrifttum im weitesten Sinne an, denn die Faktoren Prestige, Orientierung an (externen) Adressaten dürften hier eher in den Hintergrund treten. Die auf dieser Grundlage erzielten Ergebnisse können in einem nachfolgenden Schritt in Beziehung gesetzt werden zu einem weiter gefassten Spektrum an Texten und damit auch Analyseaspekten. Die auf solche Weise erzielten Ergebnisse dürften nicht nur den Sprachhistoriker interessierende Entwicklungslinien innerhalb des älteren Ostmitteldeutschen sichtbar machen, das heißt innerhalb jener Schreibsprachlandschaft, die an der Wende vom Mittelalter zur frühen Neuzeit und dann im Gefolge der Reformation richtungsweisend für die Herausbildung der neuhochdeutschen Literatursprache war. Von den zu erwartenden Ergebnissen werden darüber hinaus auch diejenigen Nachbardisziplinen profitieren, die auf abgesicherte historische Sprachdaten angewiesen sind: ältere Literaturwissenschaft, historisch orientierte Kultur- und Medienwissenschaft, die traditionell als „Hilfswissenschaften" bezeichneten historischen Grundlagendisziplincn, die Handschriftenforschung und weitere diachron ausgerichtete Wissenschaften. Literatur BECKERS, HARTMUT (1980): ,l ; los und Blankcflos' und ,Von den sechs Farben' in niederdeutsch-ostmitteldeutscher Mischsprache aus dem Weichselmündungsgebiet. In: ZfdA 109, S. 129-146. BENTZINGER, RUDOLF ( 2 0 0 0 ) : D i e K a n z l e i s p r a c h e n .
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Handschriften (Laute, F o r m e n und einige Fragen der Syntax). In: P B B (H) 93, S. 102187. POLENZ, PETER VON (1994): D e u t s c h e Sprachgeschichte v o m Spätmittelalter bis zu Gegenwart, Bd. 2: 17. und 18. Jahrhundert. Berlin / N e w York. POLENZ, PETER VON (2000): Deutsche Sprachgeschichte v o m Spätmittelalter bis zu Gegenwart, Bd. 1: Einführung - Grundbegriffe - 14. bis 16. Jahrhundert, 2. Auflage. Berlin / N e w Y o r k . REIEFENSTEIN, INGO (1995): Z u m K o n z e p t einer regionalen Sprachgeschichte am Beispiel des Oberdeutschen. In: GOTTHARD LERCHNER / MARIANNE SCHRÖDER / ULLA FIX (Hg.):
Chronologische,
areale
und
situative
Varietäten
des
Deutschen
in
der
Sprachhistoriographie. Festschrift für Rudolf G r o ß e . Frankfurt/Main u.a. (LeipzigerArbeiten zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte 2), S. 3 2 5 - 3 3 2 . SCHMIDT, BF.RTIIOLD (Hg.) (1892): Urkundenbuch der V ö g t e von Weida, Gera und Plauen sowie ihrer Hausklöster
Mildenfurth,
Cronschwitz,
Weida
und z.h.
Kreuz
bei
Saalburg, 2. Bd.: 1 3 5 7 - 1 4 2 7 . J e n a (Thüringische Geschichtsquellen, N F . , 2. Bd., 2. Teil). SCHMITT, LUDWIG ERICH (1982): „neuhochdeutschen
Untersuchungen
Schriftsprache",
Bd.
1:
zu Entstehung und Struktur Sprachgeschichte
des
der
Thüringisch-
Obersächsischen im Spätmittelalter. D i e Geschäftssprache von 1300 bis 1500, 2. Auflage. K ö l n / Wien. STEINFÜHRER, HENNING Leipzig.
(2003):
Die Leipziger Ratsbücher
1 4 6 6 - 1 5 0 0 , 2 Halbbände.
Vorarbeiten zu einer Dokumentation der Ostmitteldeutschen Schreibsprachen im Spätmittelalter Luise Czajkowski / Corinna Hoffmann Einführung Ausgehend von der Erkenntnis, dass es der historischen Sprachwissenschaft deutlich einer gründlichen und vor allem flächendeckenden Erforschung der ostmitteldeutschen Schreibsprachen des Spätmittelalters mangelt, wird derzeit am Institut für Germanistik an der Universität Leipzig ein entsprechendes Forschungsprojekt geplant und vorbereitet. Die Vorarbeiten zu diesem Forschungsvorhaben sollen an dieser Stelle vorgestellt werden. Verwiesen sei aber ausdrücklich auf den Umstand, dass es sich hier um Vorarbeiten für die Erstellung eines Projektantrages bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig handelt und nicht um Vorarbeiten für das Projekt selbst. Es gilt in erster Linie, eine Orientierung über den aktuellen Forschungsstand und voraus sichtliche Aufgaben für das Projekt zu gewinnen; die getätigten Vorarbeiten können dann in das Projekt mit einfließen. Ziel des geplanten Forschungsprojektes ist es, einen Atlas der ostmitteldeutschen Schreib sprachen im Spätmittelalter zu erstellen. Der Arbeitstitel des Projektes verrät dabei dreierlei: „Ostmitteldeutsch" definiert unter anderem das zu behandelnde Untersuchungsgebiet. Für die erste Orientierung hinsichtlich Forschungsliteratur und Quellen wurde dieses Untersuchungsgebiet vorübergehend auf die heutigen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen begrenzt. Das Fehlen des dialektologisch eindeutig ostmitteldeutsch geprägten Schlesien in dieser Reihe ist der Tatsache geschuldet, dass Texte aus diesem Gebiet wohl schwieriger zu erreichen sind als die aus den drei gewählten Bundesländern. Die schlesischen Zeugnisse der ostmitteldeutschen Schreibsprache wie die Texte aus weiteren bisher nicht berücksichtigten Gebieten sollen später mit in die Untersuchung einbezogen werden. Heißt es im Arbeitstitel „Ostmitteldeutsche Schreibsprachen im Spätmittelalter", so ist hier Bezug auf die zu untersuchenden Textsorten ge-
14
Luise Czajkowski / Corinna Hoffmann
nommen. Geplant ist, sich im Forschungsprojekt primär mit der Urkundensprache auseinander zu setzen. D o c h entgegen einem zu einseitig orientierten \ r orhaben sollen auch Urbare, Gerichtsordnungen, Stadtrechte und ähnliche schriftliche Zeugnisse zur Analyse herangezogen werden. D e r letzte Aspekt des Arbeitstitels „Ostmitteldeutsche Schreibsprachen im Spätmittelalter" umreißt den Untersuchungszeitraum. Für die Vorarbeiten — und nur für diese — wurde die Grenze beim Jahr 1500 festgelegt. Alles, was vor 1500 geschrieben wurde, interessiert; alles, was danach geschrieben wurde, fällt zunächst aus dem Korpus für die Vorarbeiten heraus. Später muss der Zeitraum sicherlich ausgeweitet werden, doch wo die Grenze schließlich gezogen wird, muss erst diskutiert werden. D o c h worin bestanden nun die Vorarbeiten? Was braucht man, um einen Atlas über historische Schreibsprachen zu erstellen? Zunächst einmal wurde nach Literatur gesucht: Forschungsergebnisse, Handbücher, Atlanten, Wörterbücher. Dabei wurde all das erfasst, was auch nur entfernt zu dem geplanten Forschungsvorhaben passt. Während dieses Suchprozesses wurde eine Bibliographie erstellt, die im Folgenden näher beleuchtet wird. Innerhalb dieser Literatur offenbarten sich Arbeiten über genau die Textsorten des definierten Untersuchungszeitraumes bzw. des -gebietes, die auch später in dem geplanten Forschungsprojekt eine Rolle spielen sollen. Warum also soll man all diese Arbeiten wieder in den Bibliotheken verschwinden lassen? Erste Arbeiten wurden deshalb ausgewählt und deren Ergebnisse in eine gemeinsame Datei überführt. Wie diese Datei aussieht, wird an späterer Stelle noch geklärt. Für das Forschungsvorhaben zu den ostmitteldeutschen Schreibsprachen im Spätmittelalter sind aber vor allem Originaltexte vonnöten. Und wo anders liegen diese Texte als in Archiven? E s galt also, all jene Archive ausfindig zu machen, in denen entsprechende Texte aufbewahrt werden könnten, und diese in einer weiteren Datenbank zusammenzuführen. Auch dieser Schritt wird im Folgenden noch erläutert. Zunächst sei aber erst einmal ein Blick auf die Forschungsliteratur geworfen.
Bibliographie Für eine Dokumentation der Ostmitteldeutschen Schreibsprachen im Spätmittelalter ist ein umfassendes Literaturverzeichnis zum Ostmitteldeutschen unerlässlich.
Projektvorarbeiten
15
Die hier vorgestellte Bibliographie ist — und dies ist ausdrücklich zu betonen — ein Arbeitsmittel. Sie wird sich kontinuierlich verändern, da im Laufe der Arbeit permanent neue Einträge aufgenommen werden. Die Bibliographie soll aber nicht nur verschiedenste Sekundärliteratur zum Ostmitteldeutschen enthalten. Ziel ist es genauso, Primärtexte ausfindig zu machen sowie beispielsweise Archiwerzeichnisse und ähnliches aufzunehmen. Dafür wurden zwei verschiedene Strukturen, mit denen sich auf die Literatur in dem Verzeichnis zugreifen lässt, aufgebaut: Es gibt ein erstes Ordnungssystem, das nach so genannten Kategorien angelegt ist. Das zweite Ordnungsprinzip ermöglicht den Zugriff über Orte bzw. auf Literatur, die jeweils Texte eines bestimmten Ortes berührt. Es sind rund 170 Orte — von Allendorf bis Zwickau — enthalten. Demnach liegen nicht zwei Bibliographien, sondern lediglich eine, sortiert nach zwei Ordnungssystemen, vor. In beide Darstellungsformen der Bibliographie werden nahezu die gleichen Literaturangaben aufgenommen. Trotzdem kann der Fall eintreten, dass eine Literaturangabe aus der ersten Klassifikation nicht eindeutig einem Ort zuzurechnen ist, weshalb die nach Kategorien sortierte Bibliographie länger ist. Beide Zugriffstrukturen wurden digital so erstellt, dass man mit Hilfe einer Verlinkung von den Überschriften der Kategorien bzw. von den Ortsnamen zu den jeweiligen, darunter verzeichneten Einträgen gelangen kann. Werfen wir nun noch einen Blick auf die Kategorien für das erste Ordnungsprinzip. Es seien hier nur einige der bisher existierenden achtzehn Gruppen, welchen das neue Material jeweils zugewiesen wird, erwähnt. In einer Gruppe sind die Archive und die Quellenkataloge zusammengefasst. Darin finden sich beispielsweise Archivführer der Bundesländer Sachsen oder Thüringen, Beschreibung von Bibliotheksbeständen, Wegweiser durch einzelne Staatsarchive, Übersichten über Nachlässe u.v.m. Von Relevanz für die Dokumentation ostmitteldeutscher Schreibsprachen sind Wörterbücher, die einen Ausschnitt des Wortschatzes des für das Projekt abgesteckten Gebiets darstellen.1 Genauso werden in der Bibliographie Sprachatlanten und der Dokumentation über ostmitteldeutsche Schreibsprachen ähnliche Projekte aufgelistet. 2 Durch die Vielzahl der sprachhistorischen Arbeiten, die aufgenommen werden, ist eine Untergliederung in diesem Bereich der Bibliographie erforderlich. Daraus entstehen weitere vier Kategorien, nämlich eine Gruppe RegionalSprachgeschichtliches, weitere zwei zu morphologischen und syntaktischen Fragen der Sprachgeschichte und eine vorerst mit „Sprachgeschichtliches Sonstiges" benannte Gruppe. Dass die Erforschung der 1 2
Als Beispiele seien genannt: MÜLLER-FRAUREUTI I 1911-1914 und HKNTRICH 1912. Beispielsweise KLEIBER u.a. 1979.
16
Luise Czajkowski / Corinna Hoffmann
ostmitteldeutschen Schreibsprachen im Spätmittelalter mit kulturhistorischen Untersuchungen verbunden werden muss, steht außer Frage und impliziert das Aufnehmen sowohl rechtshistorischer als auch kulturund regional- bzw. lokalhistorischer Werke in die Bibliographie. 3 Nicht zu vergessen sind Publikationen zu Personengeschichtlichem, wie etwa Arbeiten über einzelne Buchdrucker. Dafür ist ebenfalls eine separate Gruppe erstellt worden. Wie in Zukunft mit der erstellten Bibliographie zu verfahren ist, hängt von den Bearbeitern und von dem Material ab, das in der Zeit der Antrags Stellung und auch in der Laufzeit des Projektes gesammelt wird. Es ist möglich, die Bibliographie noch strenger hierarchisch zu gliedern. Wahrscheinlicher aber ist, dass eine komplett neue Datenbank erstellt wird, die die enorme Menge des vorhandenen Materials fassen kann. In der Bibliographie befinden sich auch die Signaturangaben der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig und / oder der Universitätsbibliothek Leipzig, weil es für die Vorarbeiten wichtig zu erfahren war, mit welchen Werken man direkt vor Ort arbeiten könnte. Eine Vielzahl der Untersuchungen liegt in Leipziger Bibliotheken vor und konnte für eine erste Analyse bereits gesichtet werden. Dies machte die Erstellung einer Datei, die zunächst „ostmitteldeutsche Grammatikbausteine" genannt werden soll, möglich. Ostmitteldeutsche Grammatikbausteine Ausgewertet wurden insgesamt elf Arbeiten, nämlich: 1. 2. 3. 4. 5.
6.
3
BACH, HEINRICH (1937 / 1943): Die thüringisch-sächsische Kanzleisprache bis 1325, 2 Bde. K o p e n h a g e n . BACH, HEINRICH (1974): H a n d b u c h der Luthersprache. Laut- und f o r m e n lehre in Luthers Wittenberger drucken bis 1545, Bd. 1. K o p e n h a g e n . BENTZINGER, RUDOLF (1973): Studien zur Erfurter Literatursprache des 15. Jahrhunderts an H a n d der Erfurter Historienbibel v o m Jahre 1428. Berlin. BENTZINGER, RUDOLF (1972): Zur Sprache der Erfurter Historienbibel v o m J a h r e 1428. In: P B B (Halle) 93, S. 44-101. BÖHME, OSKAR (1899): Zur Geschichte der sächsischen Kanzleisprache v o n ihren A n f ä n g e n bis Luther, 1. Teil: 13. und 14. Jahrhundert. In: Festschrift z u m 50jährigen Jubiläum der Realschule mit P r o g y m n a s i u m zu Reichenbach i.V., Teil 2. Halle/Saale. FKUDKL, GÜNTER (1961): Das Evangelistar der Berliner Handschrift Ms. G e r m . 4° 533, hg. und i m R a h m e n der Thüringisch-obersäclisischen Prosawerke des 14. Jahrhunderts n a c h Lauten u n d F o r m e n analysiert, 2 Bde.
Z.B. PATZE 1955 und KAEMMEL 1909.
17
Projektvorarbeiten
Berlin (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 23/1.11). 7.
FLEISCHER, WOLFGANG (1970): U n t e r s u c h u n g e n z u r G e s c h ä f t s s p r a c h e d e s
8.
GLEISSNER, KÄTHE (1935):
16. Jahrhunderts in Dresden. Berlin. Urkunde
und
Mundart
auf
Grund
der
Urkundensprache der Vögte von Weida, Gera und Flauen. Halle/Saale (Mitteldeutsche Studien 9). 9.
MÄRSCHALL, OSCAR (1896): D a r s t e l l u n g d e s V o c a l i s m u s i n t h ü r i n g i s c h e n
und hessischen Urkunden bis zum Jahre 1200. Ein Beitrag zur Grammatik der ältesten thüringischen und hessischen Urkundensprache. Diss. Göttingen. 10.
OTTO, ERNST (1970): Die Sprache der Zeitzer Kanzleien im 16. Jahr-
hundert. Untersuchungen zum Vokalismus und Konsonantismus mit neun Kunstdrucktafeln. Berlin. 11. SUCHSLAND, PETER (1968): Die Sprache der Jenaer Ratsurkunden. Entwicklung von Lauten und Formen von 1317-1525. Berlin.
Die Auswahl der Untersuchungen geschah willkürlich und nacheinander. Ihre Auswertung bedurfte jeweils einer geraumen Zeit; die Fortsetzung der „ostmitteldeutschen Grammatikbausteine" ist aus diesem Grund zu hinterfragen. Bezogen war die Auswertung ausschließlich auf phonologisch-graphematische Ergebnisse; bezüglich anderweitiger Untersuchungsergebnisse wie etwa aus den Bereichen der Flexion, Wortbildung, Lexikologie oder Syntax wurden nur die Seitenzahlen und einige Besonderheiten vermerkt, um einen möglichen späteren Zugriff zu erleichtern. Für die tabellarische Darstellung der Auswertung wurden in einer Excel-Tabelle die verschiedenen Bereiche der Phonologie / Graphie mittels eigener Blätter voneinander getrennt aufgeführt. Unterschieden wurden hier „Stammsilben Kurzvokale", „Stammsilben Langvokale", „Stammsilben Diphthonge", „Nebensilbenvokale und Diminutive", „Konsonanten" und „Kombinatorisches" 4 . Ausgewertet wurde dann nach junggrammatischem Prinzip. So wurden etwa auf dem Blatt der „Stammsilben Kurzvokale" unter der Uberschrift „Mhd. a" alle Ergebnisse aufgeführt, zu denen die verschiedenen Wissenschaftler in den von ihnen untersuchten Texten bezüglich des mhd. kurzen α gekommen waren. Unterschieden wurde dabei auf der einen Seite die Normalvertretung der Darstellung des mhd. α im untersuchten Text und auf der anderen Seite die verschiedenen Sondervertretungen. Hintereinander sind somit jeweils die unterschiedlichen Ergebnisse der Wissenschaftler zu den jeweiligen mhd. Lauten verzeichnet. Abb. 1 zeigt einen Auszug aus den „Bausteinen":
4
Wie zum Beispiel Kontraktion über g.
18
Luise Czajkowski / Corinna Hoffmann
Mhd. a BACH 1974, S. 1-12, § 1 Normalvertretung Sondervertretung a α/ ο (selten): on yhr selbst, potte 'Pate' e: z.B. perlament 'Parlament', wenn BENTZINGER 1973, S. 48, § 1 Normalvertretung S onderv ertre tung(en) a e: in denne, trenne, z.T. auch men\ /regen e (durch folgendes ei): in erbeit o: z.B. oschen 'Asche' FEUD EL 1961, S. 14t., § 1 Normalvertretung Sondervertretung(en) o: z.B. bedochtnis, brocli ich (Prät. mhd. a e\ in wanne 1 danne, seilte u.ä.; auch erbe/t, ermute, du segis 'du sagst' er. z.B. he seit ay ()' als Dehnungszeichen): in schatte (mhd. schale) und lay! (mhd. tat) FLEISCHER 1970, S. 45-47, § 26-28 Normalvertretung Sondervertretungen ο\ z.B. ingemonet 'eingemahnt', soll a e\ z.B. denn, wenn, Sent 'Sand' OTTO 1970 S. 25ff., § 1 Normalvertretung(en) Sondervertretung(en) a ah (langes d): z.B. vom bah de, schiesf.ahnen o: z.B. rother 'Vater' e: z.B. geerebeittett, wen, den SUCHSLAND 1968, S. 46-48, § 1 Normalvertretung Sondervertretung(en) a o: selten, z.B. mog 'mag' αγ. selten vor / + Dental, z.B. haylden e: vor /-haltigen Suffixen, z.B. dencklich er. vor / und /-haltigen Suffixen, z.B. beheiltnisse ae\ z.B. tael e: in arbeit neben erbeit Abb. 1
Die Zusammenfassung der bisherigen Forschungsergebnisse kann in einem neuen Forschungsprojekt zu den ostmitteldeutschen Schreibsprachen im Spätmittelalter aber keineswegs die Arbeit an den Texten selbst ersetzen. Die Datenbank wurde zur Orientierung erstellt. Im Anschluss muss nun die Auseinandersetzung mit den handschriftlichen
Projektvorarbeiten
19
Originalen beginnen. Zu finden sind diese vorwiegend in Archiven. Doch ist die Anzahl der Archive, in denen voraussichtlich Untersuchungsmaterial gefunden werden wird, immens groß. Wie also geht man vor? Archive Bei der Erstellung einer Archivdatenbank gilt es nicht nur, die Orte und Namen der Archive zu erfassen, sondern so genau wie möglich auch die dort vorhandenen Texte. Die Grenze wird, wie oben schon erwähnt, bei dem Jahr 1500 gezogen. Texte, die aus späteren Jahren stammen, werden nicht in die Archivdatenbank aufgenommen. Vorerst liegt der Fokus bei der Suche auf den heutigen Gebieten Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Es wird hauptsächlich mit Archivführern 5 gearbeitet, aber das Internet zur Vervollständigung der Adressen und zum Überprüfen der Telefonnummern ebenfalls genutzt, da die direkte Erreichbarkeit der Archive für die Weiterarbeit wichtig ist. So bieten die Archivberatungsstelle von Thüringen, die Archivverwaltung von Sachsen und der Archiv- und Beständeführer von Sachsen-Anhalt mit ihren Internetauftritten 6 ein wertvolles Hilfsmittel. Für jedes dieser Bundesländer wird dann eine Liste in Tabellenform angefertigt. Darin werden Name, Adresse und die Art des Archivs verzeichnet. Meist handelt es sich entweder um ein Staats-, ein Kreis-, ein Stadt- oder ein kirchliches Archiv oder um so genannte Kleinstarchive. Sofern es die Angaben der Archivführer ermöglichen, wird für die Texte, die in den Archiven aufbewahrt werden, das Datum jeweils in Form von „von — bis" verzeichnet. Für manches Material liegt allerdings nur die Angabe „Material ab" vor. Genauere Angaben zu den Texten sind bei den Archiven direkt allerdings meist nur sehr schwer zugänglich und können daher nicht in die Tabellen mit aufgenommen werden. Bisweilen sind aber in den Archivführern Angaben zu Textsorten zu finden. Diese ergänzen in der Tabelle die Angaben, welche die Archive selbst zu ihrem Material machen. Der Terminus Textsorte ist dabei unter Umständen unscharf, denn oftmals enthalten die Archivführer keine Angaben dazu, ob es sich um Urkunden oder Rechnungen o. ä. handelt. Manchmal findet man nur den Namen des jeweiligen Kreises oder der jeweiligen Stadt, nicht aber, mit welcher Art von Dokument man es zu tun hat. Eine letzte Spalte in der Tabelle ist mit „Literatur / Editionen" über5 6
Vgl. GROHMANN 2003 und BOBLENZ / FISCHER 1999. http://www.tliueringen.de/de/staatsarchive/archivberatungsstelle/contenthtml (27.07.2006), http://www.sachsen.de/de/bf/verwaltung/archiwerwaltung/index.html (27.07.2006), http://www.vda.lvsachsen-anhalt.archiv.net/ (27.07.2006).
20
Luise Czajkowski / Corinna Hoffmann
schrieben. Das bezieht sich konkret auf Literatur zu den einzelnen Archiven, nicht auf Literatur zu den dort verwahrten Texten. Ein Ausschnitt der Archivtabelle für Sachsen, speziell zu den Urkunden im Staatsarchiv Dresden, sieht wie folgt aus:
Ort
Adresse
Name des Archivs
Material ab
Dresden 1
Sächsisches Hauptstaats archiv Dresden
Sächsisches 948-1806 Hauptstaatsar chiv Dresden 1249-1944
WilhelmBuck-Str. 4 01097 Dresden Tel. 0351/ 5643740
Textsorten
Literatur/ Editionen
Signatur: Ältere Urkunden 10001 (16736 Stück) Urkunden aus Signatur: der 10002 Finanzverwalt ung (ehem. Finanzarchiv; 31830 Stück)
10.-19. Jh.
Diplomatarie η und Abschriften (205 Bände)
1347-1700
Kopiale (1337 Signatur: Bände) 10004
1314-1486
Hof- und Signatur: Zentralverwal 10005 tung (Wittenberger Archiv)
Abb. 2
Signatur: 10003
Projektvorarbeiten
21
Ausblick Im Rahmen der Vorarbeiten ist mit der Bibliographie eine erste Arbeitsgrundlage geschaffen, mit der Ostmitteldeutschen Datenbank der Blick auf schreibsprachliche Untersuchungen gerichtet und mit der Erstellung einer Archivdatenbank wiederum die Grundlage für die weitere Arbeit gelegt worden. An diesem Punkt stellen sich einige Fragen für die Weiterarbeit. Es gilt zu klären, in welcher Reihenfolge man die kommenden Aufgaben angeht, um das Projekt schon vor der Antragstellung gewinnbringend voranzutreiben. Die zur Diskussion gestellten Fragen seien im Folgenden aufgeführt. Der erste Punkt ergibt sich in Anknüpfung an die oben genannten Archivlisten. Sie müssen erweitert werden. Kleinstarchive sollten erfasst und nicht vergessen werden, denn in ihnen können für das Projekt relevante Texte liegen. Die Angaben der Archivführer sind oft ungenau bzw. zu weit gefasst. Von Ungenauigkeit wird hier vor allem unter dem Blickwinkel der Zielstellung der angedachten Dokumentation gesprochen. Für diese benötigt man Texte, die bis 1500 verfasst wurden. Man kann nicht erwarten, dass es einen dafür zugeschnittenen Archivführer gibt. Aber Jahresangaben wie oben in Abb. 2 „948-1806" sind nicht immer hilfreich. Selbst die Anzahl der Urkunden, 16736 Stück, verrät noch nicht, wie viele davon wirklich als Untersuchungsgegenstand relevant sind. Die oft so weit gefassten Zeiträume müssen eingegrenzt werden, indem man Kontakt zu Archiven aufnimmt und dort gezielt nach Texten fragt. Die Archivführer der jeweiligen Einzelarchive sind nur unwesentlich genauer. An das Konkretisierens der Angaben der Archive, schließt sich das Auffinden weiterer Texte nahtlos an. Der Umgang mit dem Textsortenspektrum ist ebenfalls zu diskutieren. Es muss festgelegt werden, wie breit es gefasst werden soll. Sicherlich bilden nicht nur Urkunden die Grundlage der Untersuchungen, aber wie genau das Korpus aussehen soll, ist noch unklar. Hinsichtlich des Korpus steht auch zur Diskussion, wie mit Texten umgegangen werden soll, die nicht ausschließlich ostmitteldeutsche Züge tragen und doch ostmitteldeutsche Elemente besitzen. Wie stark ostmitteldeutsch muss ein Text sein, damit er zum Untersuchungsgegenstand des Projektes wird? Des Weiteren ist zu überlegen, wie Editionen behandelt werden sollen. Kann Editionsarbeit im Rahmen dieses Projektes geleistet werden? Und wenn ja, in welchem Umfang sollte sie stattfinden? Bisher gibt es für den Untersuchungszeitraum nur die Angabe „bis zum Jahr 1500". Wann aber beginnt der Zeitraum? Diese Frage lässt sich wohl erst beantworten, wenn man auf die vorhergehende Frage Antwort
22
Luise Czajkowski / Corinna Hoffmann
weiß. Hat man ein bestimmtes Korpus gewählt, so lässt sich anhand der in ihm beinhalteten Texte angeben, wann der Zeitraum beginnt. Genauso könnte man nach der Teilung des zu untersuchenden Zeitabschnitts fragen. Halbiert oder drittelt man jeweils ein Jahrhundert oder segmentiert man die Jahrhunderte in Dezennien? Auch auf diese Frage lässt sich leichter antworten, wenn das Korpus festgelegt worden ist. Schließlich ist zu entscheiden, ob ostmitteldeutsche Texte, die nicht mehr in dem Gebiet liegen, das wir zu dem ostmitteldeutschen Gebiet rechnen, ebenfalls in die Untersuchung einbezogen werden sollen. Oder hat man durch die Texte, die im eingegrenzten Raum vorhanden sind, schon einen so repräsentativen Querschnitt, dass man auf sie verzichten könnte? Die Konferenz vom 21./22. Juli 2006 in Leipzig sollte als eine Art Diskussionsforum dienen. Durch den Austausch wurden mögliche Lösungsansätze für aufgezeigte Fragen erhofft und erwartet. Literatur BOBLENZ, FRANK / FISCHER, ΒΕΠΊΝ \ (1999): A r c h i v f ü h r e r T h ü r i n g e n . W e i m a r .
GROHMANN, TNGRTD (Hg.) (2003): Archive i m Freistaat Sachsen. Archiv- und Beständeführer. Dresden / Leipzig / Chemnitz. HENTRICH, KONRAD (1912): Wörterbuch der nordwestthüringischen Mundart des Eichsfeldes. Göttingen. KAEMMEL, OTTO (1909): Geschichte des Leipziger Schulwesens vom Anfang des 13. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (1214-1846). J.eipzig. KLEIBER, WOLEGANG / K U N Z E , K O N R A D / LÖEELER, HEINRICH ( 1 9 7 9 ) :
Historischer
südwestdeutscher Sprachatlas, Bd. 1-2. Bern / München. MÜLLER-FRAUREUTH,
KARL
(1911-1914):
Wörterbuch
der
obersächsischen
crzgebirgischen Mundarten, Bd. 1-2. Dresden. PATZE, HANS (1955): Recht und Verfassung thüringischer Städte. Weimar.
und
Der ,Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete' (ASnA) Robert Peters / Christian Fischer Das Forschungsvorhaben, über das hier berichtet wird, ist zwar noch nicht ganz abgeschlossen, doch gibt es schon seit einiger Zeit vorzeigbare Ergebnisse. Da die Projektförderung durch die DFG ausgelaufen ist, geht es nun etwas langsamer voran. Doch sollen bereits in naher Zukunft die ersten beiden Bände des ASnA vorgelegt werden. Der Beitrag gliedert sich in vier Teile: Zunächst wird kurz über die Projektgeschichte berichtet. Im zweiten Abschnitt werden die einzelnen Arbeits schritte beschrieben, die notwendig waren, um zu Sprachkarten des mittelniederdeutschen Raums zu gelangen. Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit den thematischen Schwerpunkten des Unternehmens. Im vierten Teil wird exemplarisch eine Karte des ASnA vorgestellt und nach diachronischen und diatopischen Gesichtspunkten beschrieben und interpretiert. 1. Entstehungsgeschichte Bis vor etwa 20 jähren gab es zur Geschichte des Mittelniederdeutschen eine weitgehend einhellige Lehrmeinung. Diese besagte, ab etwa 1370 habe sich in der Kanzlei des Hansevororts Lübeck nach einer ersten Phase frühmittelniederdeutscher Variantenvielfalt eine städtische Norm herausgebildet; und diese so genannte „lübische Norm" habe sich dann im 15. Jahrhundert im ganzen mittelniederdeutschen Sprachraum ausgebreitet. So sei das „klassische Mittelniederdeutsch", eine angeblich relativ einheitliche Schreibsprache, entstanden.' Dagegen erbrachte die Untersuchung westfälischer Schreibsprachen, dass von einer Ausbreitung einer „lübischen Norm" nach Westfalen keine Rede sein kann. Zu nennen sind neben Ulrich W E B E R S Untersuchungen zur Schreibsprache von Osnabrück (1987, 2003) die Studien von Wolfgang F E D D E R S (1987, 1990, 1993) zu Coesfeld, Lemgo und Herford. 1
Vgl. SANDERS 1982.
24
Robert Peters / Christian Fischer
Zwar gibt es in westfälischen Schreib sprachen Normierungsansätze bzw. -tendenzen, diese sind jedoch kleinräumiger und fußen auf regionaler Grundlage. Eine einheitliche mittelniederdeutsche Schriftsprache hat nur als Mythos in den Köpfen einiger niederdeutscher Philologen existiert.2 Zumindest auf der Ebene der städtischen Verwaltungssprache ist von Lübeck keine normierende Wirkung nach Westfalen ausgegangen. Genauso deutlich weisen die Ergebnisse der Untersuchungen auf eine diachronisch und diatopisch hochgradig differenzierte \ r ariabiütät des .Mittelniederdeutschen. Um diese Heterogenität angemessen beschreiben und der Frage nach dem Entstehen und dem Wirken einer angeblichen oder tatsächlichen Norm nachgehen zu können, müssen einzelne städtische Schreib sprachen mit den Methoden der Variablenlinguistik und der historischen Sprachgeographie vergleichend untersucht werden. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen können bei hinreichend dichtem Ortspunktnetz in Form eines Sprachatlas dargestellt werden. Die Materialgrundlage für einen historischen Sprachatlas muss gewisse Voraussetzungen erfüllen. Es können ausschließlich im Original überlieferte Texte herangezogen werden, die lokalisierbar, datierbar und im gesamten Untersuchungsraum in ausreichender Zahl überliefert sind. Diese vier Kriterien sind von zentraler Bedeutung für die Zuverlässigkeit des Korpus und damit für die Aussagekraft der Sprachkarten. Diese Voraussetzungen erfüllt im norddeutschen Raum allein das innerstädtische Verwaltungsschrifttum. Dies sind vor allem Urkunden; mit Einschränkungen können auch Stadtbucheintragungen und andere innerstädtische Verwaltungstexte (Burspraken, Stadtrechnungen usw.) herangezogen werden.3 Alle untersuchten Texte entstammen städtischem Umfeld, denn in den Städten ist eine ausreichend dichte Überlieferung von Texten am ehesten gegeben. Der Bearbeitungsraum des Sprachatlas sollte ursprünglich das gesamte mittelniederdeutsche Sprachgebiet umfassen und im Westen, da eine klare Grenzziehung zwischen dem Mittelniederdeutschen und dem Mittelniederländischen nicht möglich ist, darüber hinausreichen. 4 Um die zu erwartende Materialmenge in einem überschaubaren Zeitrahmen bearbeiten zu können, erschien es sinnvoll, von zwei Arbeitsstellen aus vorzugehen. So kam es zu einer Kooperation der Universitäten Rostock und Münster. Dem ersten DFG-Projektantrag, der 1991 eingereicht wurde, folgte zunächst im Sommer 1992 ein Rundgespräch. Bei diesem Gespräch wurde empfohlen, den ursprünglich vorgesehenen Bearbeitungszeitraum, der zu-
2
V g l . PETERS 1995.
3
V g l . FEDDERS 1988.
4
Vgl. die ausführliche Darstellung bei PETERS 1997.
AsnA
25
nächst nur bis 1400 reichen sollte, durch zwei so genannte „Zeitfenster" ins 15. Jahrhundert zu erweitern. Außerdem gab es ein deutliches Votum für die — ebenfalls im ersten Konzept nicht vorgesehene — Berücksichtigung der Stadt Köln. Im Sommer 1994 nahm das Projekt an den Standorten Münster und Rostock seine Arbeit auf. Es war ausgestattet mit jeweils einer vollen Stelle für einen wissenschaftlichen Mitarbeiter, einer wissenschaftlichen und einer studentischen Hilfskraft. In den ersten fünf Jahren wurde das Textkorpus erstellt. Dafür wurden ca. 6.000 mittelniederdeutsche Urkunden ermittelt, reproduziert, transliteriert und kollationiert, ca. drei Viertel davon in der Arbeitsstelle Münster. Auf der Grundlage eines von Robert PETERS seit Mitte der 80er Jahre periodisch veröffentlichten Variablenkatalogs 5 wurden in der zweiten Projektphase die Texte auf relevante Formen durchgesehen. Dabei wurden mit EDV-Unterstützung Kodierungen vorgenommen. In der Arbeitsstelle Münster kam das von dem Essener Anglisten Raymond HlCKEY entwickelte Programm LEXA zum Einsatz, denn die in Rostock eigens für das Projekt programmierte Software war nicht rechtzeitig einsetzbar. LEXA, ein vergleichsweise einfaches System, erkannte und annotierte nach entsprechender Anpassung ca. die Hälfte der zu markierenden Belege. Danach war eine manuelle Nachbearbeitung nötig, bei der jeder Text Wort für Wort durchgesehen wurde. Insgesamt wurden ca. 200 variable Merkmale annotiert. Nach diesem Arbeitsgang konnten für die Merkmale, die kartiert werden sollten, bereits einfache Belegstellenkonkordanzen und Variantenlisten erstellt werden. Sie sind die Grundlage für die im nächsten Arbeitsschritt entwickelte Datenbank und damit für die computerunterstützte Kartierung. Das Gesamtkorpus der beiden Arbeitsstellen umfasste seinerzeit, wie gesagt, ca. 6.000 Texte; davon waren 4.500 in der Arbeitsstelle Münster erfasst und kollationiert worden. Für die auf zwei fahre konzipierte Kodierung sollte das Material nun jedoch gleichmäßig auf die beiden Arbeitsstellen verteilt werden. Es war vorgesehen, die an den beiden Arbeitsstellen nach Transliteration und Kodierung vorliegenden Datenbestände zusammenzuführen und dann auf dieser Grundlage die Karten zu produzieren. Als sich im Sommer 2002 abzeichnete, dass zwar die 4.500 münsterischen, nicht aber die 1.500 Rostocker Texte fristgerecht kodiert sein würden, musste ein Alternativkonzept entwickelt werden. Ergebnis der Überlegungen war eine neue Grundkarte. Der Bearbeitungsraum, der von der Arbeitsstelle Münster abgedeckt wird, 5
PETERS 1987, 1988, 1990.
26
Robert Peters / Christian Fischer
reicht jetzt von Utrecht bis Magdeburg und von Köln bis Kiel. Berücksichtigt werden 44 Ortspunkte. Ein Ortspunkt umfasst durchschnittlich ca. 120 Texte. Für die Arbeitsstelle Münster bedeutete dies einen Zuwachs um sechs Ortspunkte (Kiel, Lübeck, Uelzen, Magdeburg, Quedlinburg und Halle), die nachträglich erhoben und aufbereitet werden mussten. Das war nötig, um einen nach sprachwissenschaftlichen Kriterien sinnvoll abgrenzbaren Bearbeitungsraum zu gewinnen: das niederdeutsche Altland (Ostgrenze ist also die Elbe-Saale-Linie), dazu im Neuland Lübeck als hansischer Vorort, des Weiteren eine großzügige Berücksichtigung des mittelniederländisch-mittelniederdeutschen Übergangsgebietes im Westen mit Utrecht als Exponenten außerhalb dieses Raumes und schließlich Köln als wichtiges Strahlungszentrum südwestlich des niederdeutschen Altlandes. In der Arbeitsstelle Münster, die bis zum Sommer 2004 von der DFG gefördert wurde, sind die Kartierungsarbeiten abgeschlossen. Es liegen über 200 Sprachkarten vor, aus denen schließlich 164 für die Publikation ausgewählt wurden. Grundlage ist ein Korpus mit ca. 650.000 kodierten Belegen aus ca. 5.400 Texten aus insgesamt 44 Städten. 2. Arbeitsschritte Das Unternehmen befindet sich derzeit in der Abschlussphase. Die redaktionellen Vorarbeiten für die ersten beiden Bände sind weitgehend abgeschlossen. Der Atlas soll in fünf großformatigen Bänden erscheinen. Alle für die Kartenproduktion relevanten Belege sind mit einigen Zusatzinformationen und Kontext in einer Datenbank („Access" von Microsoft) gespeichert, wo sie jederzeit nach verschiedenen Kriterien gezählt, sortiert und gruppiert werden können. Die Belege sind lemmatisiert und wurden vor dem Erstellen der jeweiligen Karte einem Variantentyp zugeordnet. So interessiert bei der Karte 'dieser, diese' der Gegensatz zwischen den sprachgeschichtlich und dialektgeographisch relevanten Formen £lese, dise, desse, dösse, disse und diisse, aber nicht der zwischen den SchreibVarianten dese mit einem und deese mit zwei e, dise mit i und dyse mit y, und Unterschiede zwischen den flektierten Formen wie dessenι und dessen.
27
AsnA
Arb Arh Arb Arb Arb
Beleg- 1201- 13011300 1310 tyP dese desse dise disse dusse
Arh
dese
Boc Boc Boc
dese desse dusse
Bre Bre Bre Bre
dese desse disse dusse
Brs Brs Brs Brs Brs
dese desse disse dosse dusse
Coe Coc Coe Coe
dese desse disse dusse
Pad Pad Pad Pad Pad Pad
dese desse dise disse dosse dusse
Que Que Que Que Que
desse dise disse dosse dusse
Sos Sos Sos Sos Sos
dese desse dise disse dusse
Uel Uel Uel Uel
dese desse disse dusse
Utr Utr
dese dise
Ort
13111320
13211330
13311340
13411350
13511360
13611370
13711380
6
2
10
14
3
6
3
8
40
23
64 4
7
4
8
24
22
4
1 57
100
2
1 7
dese desse dise
Zwo dese Zwo desse
1 45 1
13911400
14461455
1491- Sum1500 me 30 30 8 56 12 16 36 25 1 231 41 73 139
10
31 9
7 8 26 12
36
29
34
55
72
291
47
13 38
112 41
113 21
3 103 1
244 311 1
25 61
14 49
5 111
108
61 15
1 1
9 1 3
1 9 15
7 19
3 13
33 20
6
4 25 1
13 6
54 21
57 1
40
28 34 4
1
3
8 35 12
1
8
4
2 11 28
16
1
1 6 24
48
3 1
75 9 2 46 2 85
37
40
3
64
115
168
91
3 174
38 92
2
27
60 2
13
72
11 333 107 2 395 81 571 5 29
1 27
30
44
29
34
4
41
73
53
1
1
8
34
57
36 1 81
108
132
1
1
6
1
2
11
6
1
46 1
7
11
11
57
63
26
9
1
6
43
1
48
16
51
102 2
67 9
53 15
121
74
104 126 2 457 221
1 118
66
67
3 664 7 14
6 35
10 1 1 59
1 140
64 94
11 230 12 209 8 477 35 11 313 1 123
6 1
11
79
2 153
3
96 1 7
46
70
52
66
61
19
98
118
77
799 7
4
7
4 9
21 5
75
35
151 14 3
46 14
68 5
4 47 5
60 562 1 15
2 24
3
7 48
Wes dese Wes desse Wes dise Zut Zut Zut
14 20
13811390
5
3 18
18 12
47
47
78 1
53
49
46
1 15
1 3
14
21
5 2
80
44 33 199 5 17 45 Summe 25.385
1 3
Tabelle 1
402 27 1
28
Robert Peters / Christian Fischer
Die Struktur der Datenbank erlaubt auch die kombinierte Abfrage von Material zu verschiedenen Lemmata, etwa der Belege vom Typ ons 'uns' mit denen vom Typ kond 'kund' oder eine Kombination akkusativischer Formen für 'uns' (ösek, fisek usw.) mit den entsprechenden Formen für 'mir' bzw. 'mich'. Nach der Typisierung der Belege konnten mit Hilfe eines handelsüblichen Tabellen-Kalkulationsprogramms („Excel" von Microsoft) die Sprachkarten erstellt werden, wobei das Programm die Symbole in Form von Säulendiagrammen selbsttätig erzeugt und auf der Grundkarte platziert. In den als komplexe Symbole fungierenden Diagrammen werden die Belegtypen zueinander ins Verhältnis gesetzt, und zwar jeweils auf ein Jahrzehnt bezogen. Dies gilt für das 14. Jahrhundert. Die (recht seltenen) Belege aus dem 13. Jahrhundert werden in einer Säule zusammengefasst; im 15. Jahrhundert steht eine Säule für die Jahrhundertmitte (1446-1455) und eine Säule für das letzte Jahrzehnt (1491-1500). Auf den Karten soll die sprachliche Variation in Raum und Zeit sichtbar gemacht werden. Für die Kartierung der variablenlinguistischen Befunde kommen deshalb nur komplexe Symbole in Frage. Jan G O O S S E N S hat eine Kartierungsmethode vorgestellt, die die Berücksichtigung des Parameters Zeit ermöglicht. 6 So können Wanderungsbewegungen sprachlicher Neuerungen sichtbar gemacht werden. Für den „ Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete" ist die Symbolgestaltung noch verfeinert worden. Durch die Möglichkeiten der EDV und des Farbdrucks können bis zu zwölf Varianten unterschieden und ihre Distribution in maximal dreizehn Zeitschnitten dargestellt werden. Bei der diachronen Differenzierung hat sich die Einteilung in Dezennien bewährt. Gerade in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts werden die jeweiligen Entwicklungen so sehr gut sichtbar. Dies soll an einem Beispiel demonstriert werden. Auf der Karte „diese(r)" ist an den Ortspunkten Lemgo und Paderborn ein treppenartiger \ r erlauf der Variantenverteilung zu sehen. In Paderborn nimmt die Variante d/tsse von 1360 bis 1500 kontinuierlich zu; in Lemgo nimmt die A^ariante dosse von 1350 bis 1390 zu und nimmt im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts ab. Hätte man für die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts nur ein Zeitsegment vorgesehen, würden die Informationen über die Zu- und Abnahme von Varianten verloren gehen.
6
V g l . GOOSSENS 1 9 7 4 , 1 9 9 5 , 1 9 9 8 .
AsnA
29
Zu jeder Karte wird es eine Tabelle geben, die die genaue Distribution der Belegtypen pro Ortspunkt und untersuchtem Zeitsegment in absoluten Zahlen enthält. Die zweite Aufstellung, die jeder Karte beigegeben wird, gibt Aufschluss über die in der entsprechenden Karte dargestellten Variantentypen und die einem Variantentyp jeweils zugeordneten Schreibungen. 7 Der linguistische Kommentar zu den Karten folgt einem festen Muster, führt Sonderschreibungen und (nicht auf der Karte berücksichtigte) Sonderbelege auf und beschreibt und interpretiert das Kartenbild nach diachronischen wie diatopischen Gesichtspunkten. Eine Edition der herangezogenen Texte ist nicht geplant. Möglicherweise kann nach der Fertigstellung des Atlas an eine CD-ROM oder eine Internet-Präsentation mit dem Quellenmaterial gedacht werden. Auch die Karten können grundsätzlich im Internet oder auf CD-ROM veröffentlicht werden. Angesichts der erwiesenen Kurzlebigkeit von Dateiformaten und elektronischen Datenträgern darf man froh darüber sein, mit dem konventionellen Buch eine wirklich dauerhafte Publikationsform für die Ergebnisse der Arbeit gefunden zu haben. 3. Thematische Schwerpunkte Anhand eines Sprachatlas mit der beschriebenen Grundkarte lassen sich Aussagen zu den meisten Problemen der mittelniederdeutschen Sprachgeschichte treffen. Die Probleme des Ostelbischen, des Baltischen und des Märkischen müssen unberücksichtigt bleiben. Ein wichtiger Aspekt ist das Problem der Westgrenze des Mittelniederdeutschen, denn im Gegensatz zu den Grenzen des Bearbeitungsraums im Norden, Osten und Süden gibt es im Westen keine klare Grenze. Vielmehr ist von einem Mischgebiet auszugehen, in dem autochthone östliche (westfälische und nordniederdeutsche) Sprachmerkmale von westlichen (niederländischen) Schreibeinflüssen überlagert werden. Auch zum Kleverländischen und Geldrisclien lassen sich nun Aussagen hinsichtlich ihrer Einordnung zwischen dem Ripuarischen, dem Niederländischen und dem Westfälischen treffen. Bezüglich der Binnengliederung des Mittelniederdeutschen ist zunächst nach der Stellung Lübecks zu fragen: Gibt es Normierungen in der Lübischen Ratskanzlei? Und falls diese Frage bejaht wird: Wann und in welchem Maße? Hat es eine Ausstrahlung lübisclier Sprachformen ge7
Damit werden die von Wolfgang KLFJBER benannten Anforderungen für die Kartographie historischer Sprachstufen berücksichtigt. — Vgl. KLliiBLR 1994, 267.
30
Robert Peters / Christian Fischer
geben, welche Merkmale haben sich ggf. in welche Richtungen ausgebreitet? Gibt es möglicherweise mehrere Ausgleichsprozesse — großräumigere im Norden und kleinräumigere im Süden des Sprachraums — im West- und Ostfälischen? Auch zum Weserraum, in dem westfälische und ostfäüsche Merkmale aufeinander treffen, gibt es neue Ergebnisse. 8 Hier ist mit Minden, Herford, Lemgo, Hameln, Höxter und Paderborn ein breites Band von Ortspunkten in der Grenzzone vertreten. Uber die Entwicklung der Kölner Schreibsprache bis 1500 lassen sich neue Aussagen treffen. Darüber hinaus kann die Ausstrahlung der Kölnischen Schreibsprache nach Norden (ins Kleverländische) wie nach Nordosten (in den westfälischen Raum) verfolgt werden. Mit den Ortspunkten Halle und Magdeburg bringt der Schreibsprachenatlas neue Erkenntnisse über das Elbostfälische, das bekanntlich unter starkem mitteldeutschen Einfluss steht. 4. Das Demonstrativpronomen 'diese(r)' Die ursprünglichen Formen der Variablen 'dieser', 'diese' (25.411 Belege) haben tonlangen Vokal und einfaches s (dese, clise). Diese Varianten kommen außerhalb des Nordwestens nur vereinzelt in der Überlieferung des 13. Jahrhunderts vor. Die Formen mit doppeltem j- sind wohl durch den Einfluss der synkopierten Dativformen desme, desre zu erklären, aus denen der Stamm dess- abgeleitet wurde. Desse kann zu dösse, disse zu diisse gerundet werden. Die Variante dese (hellblau) findet sich im Nordwesten (einschließlich Oldenburg/Bremen) und wird auf den Westen, auf Utrecht, Arnheim, Zutphen und Kleve, zurückgedrängt. De-^e ist die Form der heutigen niederländischen Schriftsprache. In den nordöstlichen Niederlanden konkurrieren dese und desse. Der Norden und das nördliche Westfalen schreiben ganz überwiegend desse (dunkelblau). Die gerundete Form dösse (grün) ist vor allem aus Herford, Lemgo und Hameln, also aus Ostwestfalen, belegt. Kernräume der Variante disse (rot) sind Südwestfalen, Ostfalen und Elbostfalen. Im nördlichen Ostfalen konkurrieren disse und desse (Hannover, Hildesheim, Braunschweig, Goslar), wobei sich desse auf Kosten von disse nach Süden ausbreiten kann. Im Süden des Ostfälischen, in Einbeck und Göttingen, konkurrieren disse und diisse. Innovationsherd von diisse (gelb) ist der südliche Weserraum. Von Anfang an überwiegt diisse in Marsberg und Höxter, früh ist es auch in 8
Vgl. hierzu PETERS 2004.
AsnA
31
Hameln und Göttingen belegt. In Hameln setzt sich diisse am Ende des 14. Jahrhunderts durch. In Einbeck ist diisse seit 1360 Hauptvariante; in Göttingen bleibt disse in der Mehrzahl. Noch vor 1400 wird diisse rund um den Innovationsherd in Paderborn, Hameln und Einbeck geschrieben. Die Expansion des nördlichen desse nach Süden trifft nun am Ende des 14. Jahrhunderts auf die des südlichen diisse nach Norden. Die Konfrontation der beiden expansiven Varianten kann diisse für sich entscheiden — so wird in Hameln schon um 1390 desse durch diisse verdrängt. Die beiden Säulen des 15. Jahrhunderts zeigen die weitere Expansion der Variante diisse. In der Jahrhundertmitte ist sie Mehrheitsvariante in Hildesheim, Braunschweig, Goslar und Göttingen sowie in Lippstadt, Soest und Münster, Minderheitsvariante in Herford und Minden. Um 1490 hat sich diisse auch in Lemgo, Minden und Hannover durchgesetzt. Am Ende des 15. Jahrhunderts ist der Untersuchungsraum dreigeteilt: Diisse gilt in einem Gebiet zwischen Münster im Westen und Magdeburg im Osten, im Süden des Sprachgebiets also. Der Nordwesten und der Norden, der Raum von Deventer bis Lübeck, verharrt bei desse. Diese Variante hat sich in Oldenzaal, Deventer und Bocholt gegen dese durchsetzen können, in Dortmund hat desse disse verdrängt. Disse ist nur noch in Essen Hauptvariante. In Utrecht, im Kleverländischen und in Teilen des Ijsselländischen bleibt dese erhalten. Es wird um 1500 auch schon sichtbar, dass diisse die Auseinandersetzung mit desse gewinnen wird. Diisse hat sich im 16. Jahrhundert im gesamten niederdeutschen Sprachraum durchgesetzt. Einzelne diisse-Belege finden sich in Coesfeld, Osnabrück und sogar in Deventer sowie in Oldenburg, Bremen, Uelzen, Hamburg und Kiel. Auch die Schreibsprache Lübecks kann sich dieser Entwicklung nicht entziehen: Aus den Jahren 1493 (1) und 1500 (2) sind insgesamt drei diisse-Belege vorhanden.
Robert Peters / Christian Fischer
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ROBERT
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HistSUF. Überlegungen zum verhinderten historischen Sprachatlas von Unterfranken Norbert Richard Wolf Das Ostfränkische ist seit Langem für vielfältige Forschungen von besonderem Interesse. Besonders die Erlangener Germanistik hat sich früh der Dialekte in diesem Sprachraum angenommen, und Hugo STEGER hat in seiner Habilitationsschrift ,Sprachraumbildung und Landesgeschichte im östlichen Franken' 1 eine Karte der ostfränkischen Mundarträume veröffentlicht: THÜRINGISCH HENNEBERGER \ RAUM RAUM
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ANS BACHER RAUM\^ •-Hauptmundartschranke
WEISZENBURGEK RAUM
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—"-«erschlossene unsichere politische Grenze
Abb. 1 1
STEGER 1968.
O t HIP
OFEU
r r r Sprachraumschranke
SPRACHRAUME UND SPRACHSCHRANKEN IN
FRANKEN
HistSUF. Überlegungen zum verhinderten historischen Sprachatlas von Unterfranken
35
Die Arbeit STEGERs war in den Jahren 1959 bis 1963 entstanden und basierte nicht auf eigenen Erhebungen, sondern auf den Arbeiten — Zulassungsarbeiten und einige wenige Dissertationen —, die zuvor in Erlangen entstanden waren. Die Karte ,Sprachräume und Sprachschranken in Franken' fasst die dialektgeographischen Ergebnisse Hugo STEGERS zusammen. Hier sehen wir ein reich gegliedertes und reich gekammertes Areal im Osten, also östlich der Steigerwald- und der so genannten Coburg-Obermainschranke, der westliche Teil hingegen ist nahezu ohne dialektologische Linien; wenn nicht der Main dankenswerterweise durch die Gegend mäanderte, dann hätten wir fast gar nichts mehr. Dieser Wissensstand von 1963 blieb der Stand des Wissens bis in die frühen 90er Jahre. Auch das ,Fränkische Dialektbuch' von Eberhard WAGNER, ebenfalls von Erlangener Provenienz, das 1987 im Münchener Beck-Verlag erschien, 2 konnte nichts anderes tun, als den STEGERschen Stand, der damals immerhin schon ein Vierteljahrhundert alt war, wieder abzudrucken. Mit anderen Worten: Das Unterostfränkische, das ist der Teil des Ostfränkischen, der in Unterfranken gesprochen wird, war bis vor kurzem noch weitestgehend unerforscht. Zudem zeigt die STEGERsche Karte, dass nur der ostfränkische Sprachraum im Fokus der Forscher war. STEGERs Karte zieht im Spessart die westliche Grenze des Ostfränkischen, die in der seinerzeit üblichen martialischen Terminologie „Spessart-Barriere" genannt wird. Ansonsten erfahren wir nur noch, dass in Alzenau, in Aschaffenburg oder in Miltenberg nicht mehr Ostfränkisch gesprochen wird. Nun wissen wir schon seit Georg WENKERs Erhebungen, dass im bayerischen Regierungsbezirk Unterfranken nicht nur Ostfränkisch gesprochen wird. Ein Ausschnitt aus der Karte ,Pfund' des WENKER-Atlas (URL 1) - der digitale WENKER-Atlas ermöglicht uns endlich die Arbeit mit diesem wichtigen Instrument — macht die Spessartbarriere sichtbar: In Aschaffenburg sagt man nicht mehr pfitnd, sondern eben pund (siehe Abb. 2, Seite 36). Ein ähnliches Bild vermittelt die WENKER-Ivarte ,Apfelbäumchen' (siehe Abb. 3, Seite 37). Der West-Ost-Gegensatz p — pf (appel vs. apfei) ist der gleiche wie bei der Karte ,Pfund', nur die Grenzlinie verläuft etwas anders. Wir sind bei der Erkenntnis angelangt, dass es Dialektgrenzen nicht gibt, sondern nur Sprachräume mit bestimmten Merkmalen; und die zwischen den Sprachräumen verlaufenden Grenzlinien sind nur Konstrukte zu pädagogischen Zwecken.
2
WAGNER 1987.
Abb. 2
HistSUF. Überlegungen zum verhinderten historischen Sprachatlas von Unterfranken
Jfif
Abb. 3
37
- f i
38
Norbert Richard Wolf
Der leicht unterschiedliche \rerlau£ der Linie verdeutlicht zudem die weitere Einsicht, dass es scharfe Dialektgrenzen nicht gibt, sondern dass zwischen Kernräumen Ubergangsgebiete existieren, die dadurch definiert sind, dass Merkmale des einen Raumes ab- und des anderen Raumes zunehmen, ganz gleich, in welche Richtung man geht. Georg WENKERs Fragebögen waren nahezu ein Jahrhundert die einzigen Erhebungen von Dialekten in Unterfranken, von einigen wenigen Monographien abgesehen. Die Welt wartete geradezu auf den ,Sprachatlas von Unterfranken' (SUF), der sich zunächst mit den rezenten Mundarten befassen wollte. Nunmehr befindet er sich im Publikationsstadium, zwei Bände sind bereits erschienen, zwei weitere gehen Ende des Monats zum \ r erlag. Bd. 1 des SUF (SUF 1) enthält die Lautgeographie der Kurzvokale und der Konsonanten. Karte 153 des ersten Bandes stellt die Realisierung von germ, p im Anlaut vor (siehe Abb. 4, Seite 39). Diese Karte zeigt zunächst, dass auch Sprachatlaskarten wahre Kunstwerke sein können. Im Gegensatz zu den vorher gezeigten Karten enthält unser Kunstwerk keine Grenzen, dennoch wird der Gegensatz zwischen dem Rheinfränkischen und dem Ostfränkischen deutlich sichtbar. Dies wird besonders dadurch möglich, dass wir es hier mit Kombinations Signaturen zu tun haben: Jede Signatur vereinigt in sich die Wörter P f e f f e r , Pflug, Pflaume, Pfarrer, Pfingsten, Pfanne, pfeifen und Pfennig. Der östliche Teil des Untersuchungsgebietes weist ziemlich einheitlich die Formen mit Affrikata auf; allerdings finden sich auch im Norden unverschobene Formen, das Hessische reicht hier nach Unterfranken herein. Ein Ausschnitt des westlichen Teils des Untersuchungsgebietes macht noch eindrucksvoller deutlich, dass das Oberdeutsche einheitlich wirkt, es gibt nur die verschobenen Formen (siehe Abb. 5, Seite 40). An manchen Stellen sind oberdeutsche Formen möglicherweise von Würzburg her eingedrungen: Klingenberg, Mönchberg, Rüdcnau, Miltenberg, Boxbrunn, Amorbach, Kirchzell und Fechenbach weisen zwei verschobene Formen auf, Beuchen und Elsenfeld nur eine, Eichenbühl hingegen drei. Dass dieser südwestliche Teil sprachlich einen deutlich oberdeutschen Charakter hat, könnte in Zusammenhang damit gesehen werden, dass die ,„freie' königliche Abtei Amorbach" im Jahre 993 „zu einem bischöflichen würzburgischen Eigenkloster" 3 wurde und das Klostergebiet teilweise von Würzburg aus neu besiedelt wurde.
3
STÖRMER 1979, 41.
HistSUF. Überlegungen zum verhinderten historischen Sprachatlas von Unterfranken
Abb. 4
39
40
Norbert Richard Wolf
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1111881
HistSUF. Überlegungen zum verhinderten historischen Sprachatlas von Unterfranken
Karte 154 hat germ, p im Inlaut zum Thema:
Abb. 6
41
42
Norbert Richard Wolf
Die abgefragten Wortformen sind Apfel, Apfel, Apfelchen, stopfen, (an)klopfen. Auch hier zeigt sich der Osten des Untersuchungsgebietes einheitlich oberdeutsch, während das Areal westlich des Spessart wiederum eine Reihe von oberdeutschen Merkmalen aufweist:
W3ra
Hin
WcrfilVilll 1»4äC «9ί«ΓΙι
Abb. 7
HistSUF. Überlegungen zum verhinderten historischen Sprachatlas von Unterfranken
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In Flammersbach, Wiesthal und Partenstein wurden nur verschobene Formen geantwortet, während Ruppertshütten, östlich von Frammersbach gelegen, nur unverschobene Form kennt. Noch deutlicher ist das oberdeutsche Ubergewicht im Südwesten: In acht Orten sind nur verschobene Formen bekannt, während in der Stadt Miltenberg, gewissermaßen mitten in dem oberdeutschen Areal, ein Verhältnis von drei unverschobenen zu zwei verschobenen Formen gilt. Wir können also nicht nur sehen, dass Unterfranken durch zwei Dialektgebiete sprachlich gekennzeichnet ist, sondern dass der westliche Teil alle Merkmale eines Übergangsgebietes aufweist. Durch solche Beobachtungen ist das Team des Unterfränkischen Dialektinstituts zu einer neuen Karte der Sprachräume in Unterfranken gekommen (siehe Abb. 8, Seite 45). Dieses Modell ist von zahlreichen Linien durchzogen, die in unserem Zusammenhang nicht von Bedeutung sind. — Wichtig hingegen sind: 1. Diese Karte wurde nicht nur aufgrund von lautlichen Phänomenen erarbeitet, sondern auf der Basis von allen erhobenen sprachlichen Daten. 2. Deshalb manifestiert sich der östliche Teil des Untersuchungsgebietes nicht so einheitlich oberdeutsch wie in den beiden /-Karten. 3. Gerade das genaue Lesen einiger Wortkarten des SUF hat im heutigen Regierungsbezirk Unterfranken zwei wortgeographische Kernräume ergeben, die sich mit den Zentren zweier Territorien bzw. Teilterritorien identifizieren lassen, und zwar einen Würzburger im Osten und einen Aschaffenburger Kernraum im Westen. 4 4. Der Würzburger Kernraum liegt mitten im ostfränkischen, der Aschaffenburger Kernraum im rheinfränkischen Gebiet Unterfrankens. 5. Der südwestliche Amorbacher Raum ist trotz des ziemlich eindeutigen /»-Befundes ebenfalls ein Übergangsgebiet. 6. Der Nordosten des Untersuchungsgebietes ist ebenfalls ein Übergangsgebiet, so auch der Henneberger Raum, der ja schon seit Längerem „als frk.-thür. Mischgebiet mit starken nördlichen Bindungen" 5 gilt. Dazu kommt eine deutliche osthessische
4
Vgl. WOLF 2005.
5
ROSENKRANZ 1964,230F.
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Norbert Richard Wolf
Komponente, 6 was zeigt, dass das Hennebergische sowohl in NordSüd-Richtung als auch in West-Ost-Richtung ein Ubergangsraum ist. Diese Befunde können wir historisch interpretieren: 1. Würzburg war bis zum Ende des Alten Reichs ein geistliches Fürstentum. Der Würzburger Bischof war auch der Landesherr. 2. Aschaffenburg hingegen gehörte zum Erzstift Mainz, war also Teil eines ganz anderen Territoriums. Der oben konstatierte Aschaffenburger Raum dürfte sich als Teil eines weitaus größeren Mainzer Raums erweisen. In den beiden Kernräumen setzt sich also die territoriale Gliederung des Alten Reiches fort, wie auch eine historische Karte 7 zeigt (siehe Abb. 9, Seite 46). Zwischen den beiden Territorien lag und liegt ein großes zusammenhängendes Waldgebiet, der Spessart. Dieses Gebiet war im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit nicht besiedelt; die Landesherren, insbesondere die Erzbischöfe von Mainz, wollten es sich als Jagdgebiet reserviert halten und verboten jede Besiedelung. Auf diese Weise war eine Grenze zwischen zwei Territorien eine ziemlich starke Grenze, es gab über diese Grenze hinweg kaum einen Handel oder andere Wirtschaftsbeziehungen, aber auch keine Heirat und auch sonst kaum Kontakte. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass sich innerhalb solcher Territorien Traditionen des Sprechens herausgebildet haben, die nahezu alle sprachlichen Ebenen betreffen. Dies trifft auch für den Norden des Untersuchungsgebietes zu: Das Bild, das das Unterostfränkische bietet, dürfte zum Einen seine Ursache darin haben, dass der unterostfränkische Dialektraum sich nicht zur Gänze mit dem Territorium des Hochstifts Würzburg deckte: Eine Karte etwa aus dem ,Bayerischen Geschichtsatlas' 8 zeigt eindrucksvoll, dass um 1500 das Gebiet des Hochstifts Würzburg von vielen kleineren Territorien, z.T. von kleinen Enklaven durchsetzt ist.
6
Vgl. KRÄMRR-NF.UBF.RT 1995, 21.
7
S C H E N K 1998.
8
SPINDLER (Hg.) 1969, 25.
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Abb. 8
4o
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Abb. 9
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Es liegt nahe, eine solche Interpretation des dialektologischen Befundes sprachgeschichtlich zu untermauern. Dazu kommt noch ein weiteres sprachgeschichtliches Argument: Emil S K A L A etwa hat im Jahre 1971 darauf hingewiesen, dass in Würzburger Urkunden des späten Mittelalters Merkmale der entstehenden neuhochdeutschen Schriftsprache festzustellen seien.9 Allerdings fragt sich, woher S K A L A seine Gewissheit nimmt. Denn über die Würzburger Kanzleisprache wissen wir fast noch gar nichts. Es gibt weder eine für sprachwissenschaftliche Untersuchungen brauchbare Edition von Würzburger Urkunden noch eine heutigen Ansprüchen genügende Untersuchung. Dazu kommt, dass mit dem Begriff ,Würzburger Kanzleisprache' Verschiedenes bezeichnet werden kann: Hier sind zunächst einmal die Kanzlei des Hochstifts und die der Stadt voneinander zu trennen. Bislang gibt es eine einzige Arbeit, die die „Lautverhältnisse" der „Würzburger Kanzleisprache" beschreibt;1" allerdings verwendet HUTHER aus der hochstiftlichen Kanzlei nur „einige Originale", ansonsten die „von Rockinger in den Monumenta Boica herausgegebenen Urkunden des episcopatus Wirciburgensis", die heutigen Ansprüchen an eine Textgrundlage für graphematische Untersuchungen nicht genügen. Neben der Arbeit HUTHERs gibt es noch die Würzburger Dissertation von Max L U D W I G , der den „Vokalismus der Schweinfurter Kanzleisprache von 1330 bis 1600" zum Thema hat." Den Untersuchungen H U T H E R S und L U D W I G S ist zu entnehmen, dass sich Würzburg und Schweinfurt im 14. Jahrhundert nicht immer gleich verhalten, was auch nicht überrascht, da Schweinfurt nicht zum Hochstift Würzburg gehörte, sondern eine Freie Reichsstadt war. Ein Vergleich des Schreibusus in diesen beiden Städten wäre sicherlich aufschlussreich. Aus all diesen Gründen planten wir vor einigen Jahren, dem Atlas der rezenten Mundarten, dem SUF, einen historischen SUF (HistSuf) an die Seite zu stellen. Vorbild war — wie sollte es anders sein — der Historische Südwestdeutsche Sprachatlas'. 12 Allgemeines Ziel des Projekts war die kartographische Darstellung und die Kommentierung graphematischer und einiger flexionsmorphologischer Charakteristika unterfränkischer Schriftdialekte des 15. Jahrhunderts, im speziellen aus der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts. Obwohl dieses Projekt derzeit nicht weiterverfolgt wird, verwende ich im Folgenden für meine Überlegungen nicht das narrative Präteritum, das 9
Vgl. SKALA 1971.
10
HUTHER 1913.
11
LUDWIG 1922.
12
KLEIBER / KUNZE / L Ö W L E R 1979.
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N o r b e r t Richard Wolf
Tempus der Erinnerung, sondern das aktuellsetzende Präsens, weil ich der Meinung bin, dass ein HistSUF immer noch eine reizvolle und auch wichtige Aufgabe ist. Materialgrundlage sind Urbare, also dominiale Quellen, die nach allgemeiner Erfahrung und Uberzeugung auch als geschriebene Texte „sachlich und sprachlich von vornherein streng ortsbezogen und von Bemühungen um regionale oder gar überregionale Verständigung weitgehend unberührt" sind.13 Der heutige Regierungsbezirk Unterfranken ist — ich habe versucht, dies einleitend darzustellen — durch seine reich gekammerten dialektalen \ r erhältnisse gekennzeichnet. Neben dem Ostfränkischen spielen, wie gezeigt, das Rheinfränkische sowie die zahlreichen Ubergangsgebiete eine wichtige Rolle. Auf diese Weise spiegelt eben Unterfranken einen guten Teil der territorialen und der sprachlichen Verhältnisse zur Entstehungszeit der Quellen. Man kann annehmen, dass „die Urbare, die ihrem Wesen nach interne Verwaltungsdokumente einer Grundherrschaft darstellen, in der Regel am Sitz eben dieser entstanden und auch dort zu lokalisieren sind". 14 In Zusammenarbeit mit dem Würzburger Lehrstuhl für Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (Prof. Dr. Rolf Sprandel), der seit längerem dominiale Texte als Quellen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Frankens sammelt, 15 wurden insgesamt 49 Urbare aus 38 Schreiborten verfilmt und kopiert. Ziel war es, ein Ortsnetz mit Planquadraten von 14 km Seitenlänge über das Untersuchungsgebiet zu legen und pro Quadrat einen Schreibort zu dokumentieren. Dieses Ziel richtet sich nach dem SUF der für die Dokumentation der rezenten Mundarten Planquadrate mit 7 km Seitenlänge zugrunde gelegt hat. Gerade auch aufgrund der nicht unerheblichen Vorarbeiten durch den Lehrstuhl Sprandel bietet sich der derzeitige Regierungsbezirk Unterfranken als Untersuchungsgebiet an; in der Zwischenzeit ist ein Verzeichnis der Urbare im Bereich des Hochstifts Würzburg auch als Buch erschienen 16 und liegt somit als eine sehr schöne Materialgrundlage für unsere Pläne vor. Für die anderen fränkischen Regierungsbezirke gibt es solche heuristischen Grundlagen (noch?) nicht; Recherchen haben zudem ergeben, dass sowohl für Ober- als auch für Mittelfranken kein so dichtes Ortsnetz, wie es für Unterfranken vorgesehen ist, möglich wäre; die Archivlage ist bei weitem nicht so günstig.
13
K U N Z E 1982, 169.
14
KLEIBER. In: KLEIBER / K U N Z E / LÖFFLF.R 1979, B d . 1, 23.
15
Vgl. d a z u RÖDEL 1990.
16
BÜNZ / RÖDEL / RÜCKERT / SCHÖFFLER 1999.
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Allerdings ließen sich bislang nicht für jedes Planquadrat Schreiborte ausfindig machen. Insbesondere der ehemals mainzische Raum um Aschaffenburg erwies sich als sperrig. Jüngste Recherchen haben aber ergeben, dass mehrere Urbare des Kollegiatsstiftes St. Peter und Alexander zu Aschaffenburg erhalten sind. Vom Erzstift Mainz, zu dem ja Aschaffenburg gehört hat, liegen Urbare des 15. Jahrhunderts in Mainz. Zwar dürfte das Ortsnetz nicht so dicht werden wie in Gebiet des Hochstifts Würzburg, aber ein ,weißer Fleck' wird dieses Gebiet nicht sein. An manchen Stellen (so im Hennebergischen, in der nordwestlichen Rhön und im Steigerwald) wurde über die derzeitigen Grenzen des Regierungsbezirks hinausgegriffen. Denn im Nordwesten Unterfrankens hat ein relativ großes Areal zur Reichsabtei Fulda gehört. Insgesamt aber lässt sich feststellen, dass das Untersuchungsgebiet durch eine ausreichende Belegdichte repräsentativ dokumentiert werden kann. Als Zeitraum wurde die Mitte des 15. Jahrhunderts gewählt, weil erst um 1450 die erforderliche Belegdichte erreicht ist. In diesem Punkt unterscheidet sich der HistSUF vom ,Historischen Südwestdeutschen Sprachatlas', der auch in die Kartographie die Diachronie, den Zeitraum vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, hineingebracht hat. In all diesen — und den noch einzubeziehenden — Urbaren werden zunächst die Schreiberhände bestimmt, dann werden etwa 15 Seiten pro Schreibort ausgewählt und vollständig transkribiert, wobei darauf geachtet wird, dass mindestens zwei Hände vertreten sind. Die ausgewählten Seiten werden dann vollständig und buchstabengetreu transkribiert und EDVkodiert so gespeichert, dass dann in der Auswertungsphase alle Such- und Beschreibungsvorgänge lcicht und schnell möglich sind. Wenn in den transkribierten Seiten ein Phänomen nicht ausreichend belegt ist (was nach einer Reihe von Probetranskriptionen kaum der Fall sein wird), wird bei der Auswertung in den übrigen Seiten gezielt danach gesucht. Die erhobenen Daten aller Teilprojekte des ,Bayerischen Sprachatlas' werden zurzeit in der ,Bayerischen Dialektdatenbank BayDat' zusammengefasst und dann der Forschung für Recherchen zur Verfügung gestellt.17 Mit den historischen Daten Unterfrankens ist Vergleichbares geplant, so dass ein Forschungsinstrument zur Verfügung stünde, das die Möglichkeiten des bewährten Adas-Mediums und des neuen Mediums einer Online-Datenbank auf geradezu ideale Weise nutzen und zur Verfügung stellen würde. Die darzustellenden Phänomene werden zuvörderst aufgrund des Befundes aus den rezenten Mundarten ausgewählt. Es ist jetzt schon
17
Vgl. URL 2 und ZIMMERMANN 2006.
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Norbert Richard Wolf
abzusehen, dass eine große Menge gerade von graphematischen Erscheinungen zu verzeichnen sein wird. Die ältere Forschung hat als Kennzeichen des Unterostfränkischen, das den am weitesten verbreiteten Dialekt in Unterfranken ausmacht, u. a. die Monophthongierung der mittelhochdeutschen Diphthonge /ei/ und /au/ (zu e / e bzw. zu α / α), die Diphthongierung der gedehnten Monophthonge e > ei und ο > ou (ζ. B. Eise/ < esel < mhd. esel, O/ifen < öfen < mhd. oven) und die Senkung von mhd. e > a (NabeI < nebe!) festgestellt. Dazu kommen im Konsonantismus u. a. der Wandel von b > iv in prävokaüschen Liquidenverbindungen (Erbsen > erwesen, gelbe > galive) oder j > g k im Anlaut (Jensit 'jenseits' > gesf) sowie, allerdings in einem weiteren Bereich, die ,binnenhochdeutsche Konsonantenlenierung'. Wichtig wird auch die graphische Widerspiegelung von Lautverschiebungsphänomenen als Unterscheidungsmerkmale zwischen dem Ostfränkischen und dem Rheinfränkischen sein. Aus der Flexionsmorphologie seien vorab genannt der endungslose Infinitiv, der mit^e- präfigierte Infinitiv in Modalverbfügungen (Typus: ich kann das nicht gemach), aus der Wortbildungsmorphologie das Diminutivsuffix -lieh, das Verbalpräfix der- und der Konjunktiv mit dem Morphem -at-, die beiden letzten Phänomene werden in der Literatur hauptsächlich dem Baltischen zugeschrieben, begegnen aber in den rezenten Mundarten in manchen unterfränkischen Regionen überraschend häufig. Die graphischen Reflexe derartiger arealer Eigenheiten soll in den Urbaren gesucht und beschrieben werden. Bezugssystem ist dabei das formalisierte Mittelhochdeutsch', das eine diatopische Darstellung sowohl von graphemisch-phonemischen als auch von flexionsmorphologischen Erscheinungen übersichtlich ermöglicht. Die kartographische Darstellung dialektologischer Befunde hat sich mehrfach bewährt. Da es erst seit dem 18. Jahrhundert eine einheitliche Schriftsprache für den ganzen deutschen Sprachraum gibt, da vor dieser Zeit auch in der Schreibe die regionale Varianz das bestimmende Element ist, ist die Beschreibung historischer Graphien ein wichtiger Teil historischer Dialektologie; wir können und sollen die Raumbildung auch bei den spätmittelalterlichen Schriftdialekten darzustellen versuchen, weil besonders die Kanzleien ja auch Vorbildfunktion bekommen haben. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat seinerzeit die Bewilligung des Projekts HistSUF mit der Begründung abgelehnt, dass die DFG nicht für jede Region einen historischen Sprachatlas finanzieren könne. Abgesehen davon, dass ich das weder verlangt noch erwartet habe — reizvoll und sprachgeschichtlich wichtig wäre dies allemal.
HistSUF. Überlegungen zum verhinderten historischen Sprachatlas von Unterfranken
51
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52
Norbert Richard Wolf
ZIMMERMANN, RAT.F: BayDat - Die bayerische Dialektdatenbank. Masch. Diss. W ü r z b u r g 2006.
Sprachhistoriographie im Spannungsfeld zwischen Oraütät und Literaütät Zur möglichen Funktionalisierung von Beschreibungsleistungen der „Leipziger Schule" für die Erforschung der ostmitteldeutschen Schreibsprachen
Gotthard Lerchner 0. Es ist hier nicht der Ort, die relativ weit zurückliegenden, im Wesentlichen methodologisch begründeten Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen, seinerzeit in heftigem Disput um sprachhistoriographische Grundsatzfragen befindlichen germanistischen „Schulen" (qua Forschungsrichtungen) zum Problem des sprachhistorischen Primats von Oralität oder Literalität zu rekapitulieren 1 — allein schon deshalb nicht, weil die entsprechenden Ausgangsfragestellungen sich, hier und heute sachlich wohlbegründet, als bedeutend „entschärft" darstellen. Es geht in diesem Diskussionsbeitrag vielmehr schlicht um die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit Ergebnisse dieses wissenschaftsgeschichtlich ausgewiesenen Beschreibungszugriffs, wie er, als kulturmorphologisch klassifiziert, maßgeblich von der Leipziger sprachwissenschaftlichen Germanistik introduziert und in einer langen Reihe von Untersuchungen gehandhabt worden ist, für das Kalkül einer modernen ostmitteldeutschen Schreibsprachenforschung attraktiv sein könnte, und sei es nur, um zu förderlichem Widerspruch anzuregen. Bestimmt von der Uberzeugung, dass die Voraussetzungen dafür grundsätzlich gegeben sind, seien die folgenden kursorischen Anmerkungen zur aktuellen Problemstellung des zu diskutierenden Forschungsvorhabens verstanden. 1. Folgt man Ingo R E I F F E N S T E I N (1995), besteht, grundsätzlich unstrittig, die Sprachgeschichte des Deutschen nicht einfach aus der Summe der gegebenen Regionalsprachgeschichten; diese müssen vielmehr als je selbständige Größen, d.h. in ihrer spezifischen Ausformung und sprachge1
V g l . u.a. LERCHNER 1986.
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Gotthard Lerchner
schichtlichen Funktion erfasst werden. Die Allgemeingültigkeit dieser Erkenntnis begründet dann für die geplante Historiographie omd. Schreibsprachen konsequenterweise die Forderung, eben jenen konkreten, ganz spezifischen kommunikationsgeschichtlichen Besonderheiten auch für den omd. Untersuchungsbereich nachzufragen. Diese stehen, auf der Grundlage der Beschreibungsergebnisse der Leipziger Forschungen zu einem guten Stück gesichert, zumindest in ihren Grundstrukturen fest (Vgl. u.a. GLEIBNER 1935, L . E . SCHMITT 1936, R. KLAPPENBACH 1945, FEUDEL 1961, FLEISCHER 1961, KETTMANN 1969, OTTO 1970).
2. Insofern indessen eine Sprachgemeinschaft nicht allein schon dadurch, dass sie eine Schriftform nutzen kann (wie die genannten Arbeiten sicherstellen), bereits über eine konzeptionell vollwertige Schreibsprache verfügt, 2 erscheint methodologisch förderlich, Erfahrungen aus der Analyse von strukturell vergleichbaren sprachgeschichtlichen Prozessen in anderen Untersuchungsbereichen — wie sie etwa aus der Romania vorliegen — auszunutzen. In diesem Sinne unbestreitbar hilfreich, haben z.B. die dort vorgenommenen lehrreichen Analysen von SCHLIEßEN-LANGE3 das auch für den hier gegebenen Zusammenhang interessierende, m.E. verallgemeinerungsfähige Ergebnis erzielt, dass der Alphabetisierungsprozess, verstanden als die Verbreitung einer Schriftkultur in einer bis dahin ausschließlich oder doch dominant mündlich organisierten muttersprachlichen Kommunikationsgemeinschaft, nur unter Zuhilfenahme oraler Traditionen erfolgen kann — und diese im gleichen Moment marginalisiert. Es ist sicher nicht zu weit gegriffen, von diesem Diktum aus methodologisch verwertbare Parallelen zu dem geplanten Projekt omd. Schreibsprachenforschung ins Auge zu fassen. Das führt zu folgenden Überlegungen: Die Raumstrukturen des Ostmitteldeutschen werden deskriptiv, bis heute im wesentlichen unbestritten (und damit natürlich auch für das geplante Forschungsvorhaben verbindlich), eindeutig von Faktoren bestimmt, die dominant durch die Beschreibung und analytische Aufbereitung mündlicher (dialektaler) Gegebenheiten sichergestellt worden sind und eben — im Unterschied zu anderen (deutschen) Sprachlandschaften — zunächst nahezu ausschließlich durch diese. Sind es doch die allbekannten sprach- bzw. kulturgeographisch — zugegebenermaßen recht großzügig, zunächst anhand einiger weniger (freilich durchaus eindrucksvoller) Leitbeispiele aus rezenten Dialekten und ,Kulturlandschaften' abgeleiteten, auf den entsprechenden Frings'schen Karten durch dicke Pfeile gekennzeichneten „Siedelbahnen" und die durch jene begrenzten 2
V g l . K O Q ι / OESTERREICHER 1 9 9 4 , 5 8 9 .
3
SCHLIEBEN-LANGE 1983a, 1983b.
Sprachhistoriographie im Spannungsfeld zwischen Oralität und Literalität
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Territorien, die die Strukturbildungen in dieser Sprachlandschaft dem beschreibenden wissenschaftlichen Zugriff maßgeblich vorgeben. Verglichen mit anderen schreibsprachlich untersuchten Bereichen des deutschen Sprachraumes, stellt dies zweifellos ein Spezificum dar, das m.E. besondere Beachtung verdient: Es sind die dialektal und natürlich kulturmorphologisch ermittelten „Raumbilder", die, unbeschadet aller im einzelnen später erbrachter korrigierender Erkenntnisse, nach wie vor die Begrenzungen des Untersuchungsbereiches bestimmen. Das in Angriff zu nehmende Projekt omd. Schreibsprachenforschung lässt sich in seiner Zielstellung dann aus dieser Sicht, S C H L I E B E N - L A N G E folgend, durchaus als die alles entscheidende „Marginalisierungsleistung" sprechsprachlich begründeter Forschungsergebnisse der Frings-Schule reklamieren. Diesen — durch kein Äquivalent zu ersetzenden, in diesem Verständnis mithin unverzichtbaren — Schritt von der beschreibenden Feststellung historisch begründeter Mundartlandschaften über bestimmte Traditionen der Verschriftung (qua scriptae, als einer frühen Form von Schriftkultur) haben freilich, das gilt abstrichlos, die aus der Frings-Schule hervorgegangenen, in beachtlicher Reihe und Qualität vorliegenden kanzleisprachlichen Untersuchungen - Arbeiten z.B. von F E U D E L (1961), F L E I S C H E R (1961, 1966), K E T T M A N N (1969), O T T O (1970) u.a. - zugegebenermaßen nicht mit der notwendigen Deutlichkeit und Konsequenz vollzogen bzw. expliziert, insofern sie die sprachlandschaftliche Zuordnung der von ihnen analysierten urkundensprachlichen Schrifttexte der untersuchten Sprachlandschaften jeweils aus der direkten Beziehung abgeleitet haben zu den rezenten Merkmalen dialektgeographisch bestimmter Fakten. Wie dem auch sei, die je erbrachte beschreibungspraktische Leistung dieser Arbeiten — möglicherweise im Sinne der Ermittlung von scriptae (was im einzelnen zu überprüfen wäre) — kann dadurch m.E. allerdings gerade auch für die moderne Schreibsprachenforschung nicht als grundsätzlich in Frage gestellt gelten; notwendig erscheint m.E. allerdings eine kritische Rezeption ihrer Ergebnisse im einzelnen. 3. Ein zweiter Gesichtspunkt, abzuleiten aus Ergebnissen und Erfahrungen der Leipziger sprachhistorischen Schule, verlangt bei der Planung und Durchführung des Projekts omd. Schreibsprachenerforschung ohne Frage geschärfte Aufmerksamkeit und Berücksichtigung: Es geht, auf eine handhabbare Formel gebracht, um die Besonderheit einer — zunächst selbstverständlich erscheinenden — Anwendbarkeit der in anderen Sprachlandschaften erprobten methodologischen Zugriffsweisen auf die hier vorgegebenen sprachgeschichtlich spezifischen Bedingungen des Literalisierungsprozesses in einer strukturell erst in statu nascendi befindlichen deutschen Sprachlandschaft auf
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Gotthard Lerchner
slawischem Substrat — bekanntermaßen bedingt durch die hochmittelalterlich-großflächige Besiedlung von slawischsprachigen Ostgebieten. Genau dies ist der Sachverhalt, den Frings in der ihm eigenen kantigen Ausdrucksweise mit der — leider allerdings im Blick auf die slawische Vorgeschichte zugegebenermaßen missverständlichen — Formel vom „traditionslosen Boden des ostmitteldeutschen Neulandes" umschrieben hat; er dürfte, soweit ich sehe, in der sprachhistorischen Herausbildung der deutschen Schriftsprache ein in seinem Umfang und seiner Reichweite unbestreitbar singuläres, spezifisches Faktum darstellen. Fs begründet zumindest die Wahrscheinlichkeit, dass diese Tatsache in der Entstehungsgeschichte der omd. Schreibsprache(n) eine gewichtige Rolle gespielt haben dürfte. 4. Eng damit zusammenhängend, verlangt ein zweites entstehungsgeschichtliches Spezificum in der und für die zu erforschende Geschichte ostmitteldeutscher Schreibsprachen angemessene Berücksichtigung: Es ist dies der historische Prozess der Formierung der omd. Schreibsprachen unter den sprachstrukturell konstituierenden Voraussetzungen ebenso extensiver wie intensiver deutsch-slawischer Kontaktbeziehungen und dadurch bedingter, auf verschiedenen Ebenen zu beobachtender Mischungsund Ausgleichsprozesse — also von „languages in contact", wenn man so will. Er ist in seinen wesentlichen Facetten wissenschaftlich zuverlässig beschrieben in den — hier im einzelnen nicht aufzuführenden — dialektgeographischen Monographien zu ostmitteldeutschen Mundartlandschaften, dazu, nicht zu vernachlässigen, in der langen, materialreich und methodisch vorbildlich konzipierten, für die moderne Sprachhistoriographie des Deutschen unverzichtbaren Reihe „Deutsch-slawische Forschungen zur Namenkunde und Siedlungsgeschichte". Inwiefern sich aus dem bezeichneten Sachverhalt konkrete Erfordernisse für das geplante Forschungsvorhaben ergeben, sollte m.E. systematischer Uberprüfung unterzogen werden. 5. Nicht unerwähnt bleibe zum Schluss eine — in Umrissen und Schlussfolgerungen zugegebenerweise relativ vage — Erwägung: Die aus der Frings-Schule hervorgegangenen bzw. von ihr initiierten sprachgeographischen Arbeiten haben von allem Anfang an neben den „rein sprachlichen" Fakten auch — die einen mehr, die anderen weniger — kulturelle (qua kulturgeschichtliche) Gegebenheiten in ihre Beschreibungsleistungen einbezogen — Kulturleistungen einer Landschaft in ihrer Ganzheit im Sinne einer Kulturmorphologie eben. Dieser Aspekt ist — methodologisch wie beschreibungspraktisch — in jüngerer Zeit mehr und mehr in den Hintergrund getreten, aus welchen Gründen immer. Dazu sei
Sprachhistoriographie im Spannungsfeld zwischen Oralität und Literalität
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wenigstens eine Frage gestattet: Wird mit diesem de-facto-Verzicht auf ein nicht unwesentliches Moment des Frings'schen Forschungsansatzes nicht eine Möglichkeit verschenkt, Anschlusschancen an modernere kultursemiotische Konzepte zu gewinnen, die die von Frings pauschal ins Auge gefassten „kulturellen Äußerungen einer Landschaft" in ihrem funktionellen — wechselseitigen — Zusammenhang mit genuin sprachlichen Gegebenheiten und Entwicklungen zu erfassen und damit auf kontrollfähige Weise den sprachhistorischen Ertrag zu stützen, zu ergänzen oder zu korrigieren in der Lage wären? Literatur ASSMANN, ALEIDA / JAN ASSMANN (1988): Schrift, T r a d i t i o n u n d Kultur. In: WOLFGANG
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Sprachgeographische und sprachsoziologische Merkmale der beiden Erfurter HistorienbibelHandschriften um 1430 Rudolf Bentzinger Historienbibeln waren nach BUCKL1 und GERHARDT2 als „freie dt. Prosabearbeitungen des Bibelstoffes", „erweitert durch apokryphe und profangeschichtliche Zutaten" im Spätmittelalter beliebt bei religiöser Unterweisung und Erbauung, was die über 100 erhaltenen Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts meist aus dem ober- und mitteldeutschen Raum, die VOLLMER3 nachweisen kann, belegen. Vier von ihnen rechnete VOLLMER4 zur Gruppe VI. Es sind mitteldeutsche Historienbibel-Handschriften des 15. Jahrhunderts. Zwei von ihnen sind heute noch benutzbar, zum Glück die, die schon von VOLLMER als eng zusammengehörig angesehen wurden. Es ist dies die heute in der UFB Erfurt aufbewahrte Dep. Erf. CE 2° 14 und die jetzt im Besitz der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle befindliche ehemalige Wernigeröder Historienbibel Zb. 8. Die Erfurter Handschrift ist am Schluss genau datiert: Explidt datum anno domini milksimo ccccxxviii sexta die post festum ascensionis hora quartet post meridie finitum est permanus Conrad buchener in domo Conradi cvggeler domkelli, also am 14. Mai 1428, nachmittags ist sie im Hause des Patriziers Conrad Ziegler abgeschlossen worden. Sie war einige Zeit im Besitz dieser Familie. Der heutige Forschungsstand fußt nach wie vor auf VOLLMER: „Die Handschrift stammt aus der alten Erfurter Universitätsbibliothek, der sie vermutlich von der Familie der C^igeler überwiesen wurde [...] Unter den ,donatores' in dem alten Erfurter Katalog (jetzt zu Kopenhagen) begegnet ein Dr. Tilomannus Czigeler decanus ecclesie Beate virginis Erdfordensis (Centralbl. für Bibliotheksw. II [1885], S. 285)." 5 Vgl. auch HEYNE6, ebenso WEIß: „[...] der reiche Ratsmann und Patrizier 1
BUCKL 1 9 9 6 , Sp. 163.
2
GERHARDT 1 9 8 3 , Sp. 67.
3
VOLLMER 1 9 2 5 , I X .
4
VOLLMER 1 9 1 2 , 3 7 f „ 1 8 6 - 1 9 4 .
5
E b d . , 188f.
6
HEYNE 2 0 0 5 , 1 1 .
60
Rudolf Bentzinger
Conrad Ziegler [...] ließ sich in seinem Haus in der Futtergasse eine Historienbibel abschreiben, [...] die [...] von guter Gläubigkeit zeugt. Conrad Ziegler zum Deutschen Haus mag oft in ihr gelesen und er mag sie auch seinen Neffen gezeigt haben". 7 Die Hallenser Handschrift konnte in den letzten Jahren dank des in Leipzig realisierten DFG-Projektes „Erschließung der mittelalterlichen deutschsprachigen Handschriften der ULB Halle" von PFFJL (ca. 2007) genauer datiert werden, als dies in den sechziger Jahren möglich war, nämlich auf etwa 1430, zumindest auf die Zeit „um 1425-1440". Der Besitzereintrag Uber sancti petri in Erfortis auf der hinteren Innenseite des Finbandes stammt aus dem 15. Jahrhundert. Ob die Handschrift von Anfang an im Besitz des Erfurter Petersklosters war, also für dessen Gebrauch hergestellt wurde, oder ob sie ihm von einem Vorbesitzer im 15. Jahrhundert übereignet wurde, ist bislang nicht geklärt. In Erfurt sind also beide Handschriften entstanden, und zwar etwa gleichzeitig, und bemerkenswert ist auch ihre nahezu vollständige inhaltliche Übereinstimmung. Sie gehen also auf dieselbe Vorlage zurück (sind aber keine Abschriften voneinander) und fußen hauptsächlich auf Vulgata und Historia scholastica des Petrus Comestor. Der biblische Text reicht von der Genesis bis Regum IV,24,17, also bis zur vierten Vision Daniels (siehe Abb. 1, Seite 61 und Abb. 2, Seite 62). Trotzdem unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer Gestaltung: Die im Hause des Patriziers Conrad Ziegler hergestellte Handschrift enthält nur den Historienbibel-Text, ist sorgfältig geschrieben, hat rote über zwei Zeilen reichende Lombarden zu jedem Kapitelbeginn, lateinische ExplicitVermerke am Schluss eines jeden biblischen Buches und mit Bild verzierte sieben bis neun Zeilen einnehmende ebenfalls rote Initialen am Buchanfang. Beim Hallenser Kodex fallen größerer Satzspiegel und dicht gedrängte Schrift auf (der Text umfasst 73 Blätter weniger), ebenfalls ständige Abbreviaturen (Nasalstriche, er-Hakcn, Kürzeln für -et, -its usw.), die das Lesen erschweren, eine einzige Initiale (zu Beginn des Buches Exodus), ansonsten ist der Raum dafür nur ausgespart und manchmal mit einer entsprechenden Minuskel versehen. Dafür finden sich Kolumnentitel über der jeweils letzten Seite eines Buches und der dann folgenden ersten Seite des nächsten biblischen Buches. Offensichtlich sollte das Aufsuchen eines Kapitels erleichtert werden.
7
WEIß 1988, 48.
61
Erfurter Historienbibel-Handschriften
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Φ I i .;„ ή ο kann allerdings in der Erfurter Handschrift häufiger bezeichnet sein als in der Hallenser, so dass sie in einigen Fällen moderner ist: joden (EH, 118ra) - iudin (HH, 77rb); gelobde (EH, 12ra) gelubde (HH, 7rb); sonne (EH, 26va) — sunne (HH, 16ra); dagegen: furchten ivir (EH, 32vb) - forchte wir (HH, 19va). Letzteres betrifft auch die 3. Ps. Plur. Präs. des verbums substantivum: Sie lautet in der Erfurter Handschrift jint, in der Hallenser dialektal sin: gib mir di di da nicht fleckecht sint (EH, 22vb) —gib mir c-^u hüten dy nicht vleckicht sin (HH, 12rb-va). Dialektnäher ist in der Hallenser Handschrift auch die Imperativ-Singular-Form: so bis vorflucht (HH, 2ra) entgegen so bist verflucht (EH, 3vb). Das gilt ebenso für das regelmäßige Präfix dir-/der- für mhd. er- in der Hallenser Handschrift, das in der Erfurter als er-, selten als ir- erscheint: dirslttg (HH, 2vb), derhort (HH, 6va) - erslug (EH, 5rb), erhört (EH, 12rb).lu Der Hallenser Text zeichnet sich durch Knappheit, bisweilen auch Verkürzung aus, während der für die erbauliche Lektüre des Patriziers erstellte einen wohl ausgewogenen Satzbau aufweist: herre ich bete c^orne nicht da^ ich rede (HH, 8ra) — herre ich bete dich Er c^orne nicht das ich noch eins mit dir rede (EH, 13rb) (Vulg. Gen. 18,30: incligneris Domine si loquar). Auch die in der Erfurter Handschrift beliebte Prolepse entfallt: Noe der sal vns trösten (EH, 6ra) — Noe sal vns trösten (HH, 4ra). Wohl aber kann eine Belehrung im Hallenser Text stehen, die im Erfurter Text nicht erforderlich ist: Dy iudin sprochin ivedereynandir man hu Da von heist /V manna, manhu da\ ist gesprochen al\ vi/ ινα~ ist da~ (HH, 28va) — die Juden sprachen ivider enander manhu das ist also vilgesprochen was ist das (EH, 46vb). Das entspricht dem Vulgata-Text: filii Israhel dixerunt ad invicem man hu quod signißeat quid est hoc (Ex 16,15). Ein anderer Zusatz dürfte auf die Alltags situation zugeschnitten sein: Zu den Weisungen Gottes beim Auszug der Juden aus Äg\?pten gehört Ex 12,46 nee efferetis de carnibus eins foras, was in der für den Patrizier gefertigten Handschrift wortgetreu wiedergegeben wird: Ir solt auch das fleisch nicht himverffen (EH, 44vb). Der Hallenser Kodex flicht hier noch ein thüringisches Dialektwort ein: Ir solt ouch da* fleisch nicht oro^en. vnd himverffen (HH, 27rb). Thür, ur^tn heißt nach SPAN GENBERG11 u.a. 'beim Essen wählerisch sein, Reste übrig lassen, Futter vergeuden'. Hier denkt man an den Passus „Wie du dich bei Tische halten sollst" des Novizenspiegels: „Verschmähe nichts, was man dir vorsetzt, und sei nicht ungeduldig, wenn die Speise Gebrechen hat" (Hs. München Cgm 454).12 Sowohl im Bürgerhaus als auch bei klösterlichen Lesungen dürfte wohl eine Aus durch Doppelform mit einem Dialektwort des Alltagslebens unter didaktischer Zielstellung Erfolg versprechend gewesen sein. Doppelformen sind für die hiesige Fragestellung wichtig. Da sie gehobener Sprachform eigen sein können, kommen sie in beiden Hand10 11 12
Weitere Beispiele bei BF.NT7JNGF.R 2001, 31-47. Thüringisches Wörterbuch VI, 1983f£, Sp. 443. Zitiert nach BÜHLÜR 1989, 512.
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Rudolf Bentzinger
Schriften vor: wenne si [Brot und Fleischopfer — R.B.] mitgeseint vnd geheiliget (EH, 55vb) — wen sy sin geseynt vnd geheilgit (HH, 34va) (Vulg. Ex 29,33: quia sancti sunt). Es ist aber möglich, dass nur in einer Handschrift von diesem Stilmittel Gebrauch gemacht wird. Das kann der Erfurter Text sein: den [siebenten Tag — R.B.] ich geheiligit vnde auch bestetigit habe (EH, 56vb), wo es im Hallenser nur heißt: den ich geheilgit habe (HH, 35rb) (Vulg. Ex 31,14: custodite sahbatum sanctum est enim nobis). Es ist aber auch im Hallenser Text möglich: clat^ ο~ vnd da% quat der lute (HH, 140va), wo in der Erfurter Handschrift nur steht: iß das aß der lute (EH, 209vb) (Vulg. Reg IV,18,27: ut comedant stereord). Dass das derbe Wort quat 'Kot' in dem für den Patrizier bestimmten Text weggelassen wird, ist verständlich, und as heißt im Frühneuhochdeutschen nicht nur 'totes Fleisch', sondern auch — und dies sogar häufig — 'Speise'. 13 Hier haben die Doppelformen recht unterschiedliche stilistische Funktionen. Es ist aber auch zu fragen, ob sie auch dem schreibdialektalen Ausgleich dienen können. In der Hallenser Handschrift wird Vulg. Jud 3,4 experirelur lsrahelem frei wiedergegeben: 0/... //'^ sy [die Philister — R.B.] mit γη [den Kindern Israels — R.B.] striten vnd orlowgen alle tage (HH, 76vb), während die Stelle in EH, 117ra lautet: GOd ... Iis si mit en striten alle tage. Laut GRUBMÜLLER u.a.14 wird im ,Vocabularius Ex quo', das Substantiv orleuge, vnghelicke, arlegeris für den bairisch-österreichischen wie auch den westfälischen Raum als Synonym zu krieg (krich) und streit gebucht. Laut HAß 1986 führt es Leonhard SCHWARZENBACH in seinem ,Synonyma' 15 unter Krieg (K iijv) nicht mehr auf. Offensichtlich wird hier ein in Dialekten noch geläufiger Archaismus benutzt. Damit stellt sich die Frage nach lexikalischen Varianten. Vorausschicken muss man, dass in beiden Handschriften der Wortschatz ostmitteldeutsch ist. In beiden kommt vngedeigsemt (vngedeyssimt) brot 'ungesäuertes Brot' vor (EH, 44rb; HH, 26vb), hint (hjnte) 'heute nacht' (EH, 22rb; HH, 13rb), talmec^er (tolmec^er) (EH, 31ra; HH, 18va), vom becker (EH, 29rb; HH, 17rb) und beckenneister (becker mejsteij (EH, 28vb; HH, 17rb) ist die Rede, mit einer alen (,ölenj 'einem nadelartigen Werkzeug' (EH, 49vb; HH, 30vb) wird gearbeitet. Von Rechtswörtern kennen beide Handschriften den elenden (EH, 52ra; HH, 32ra) und das ostmitteldeutsche (und niederdeutsche) tec^/nan (Tec^ym) (EH, 5Iva; HH, 3 Ivb). Interessant ist das zweimalige Vorkommen von atterkuivit, attirkinvet 'ruminat' in der Erfurter Handschrift (EH, 64va, 95vb), wo die Hallenser 13
Vgl. ANDERSON u.a. 1994, Bd. 2, Sp. 223t., 221t.
14
GRUBMÜLLER u.a. 1 9 8 8 , B d . 3, 1 1 8 5 [ G 2 9 6 ] , B d . 1, 9 0 , 74, 61.
15
SCHWARZENBACH: .Synonyma'. Frankfurt/Main 1564.
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etherichen, ertrich (HH, 40va, 61vb) zu stehen hat. Laut G R U B M Ü L L E R u.a.16 weist nach A^ocabularius Ex quo' atterkinvit ins West- und Ostniederdeutsche, allerdings auch ins Oberdeutsche, während ederichen im Rheinfränkischen und Ripuarischen belegt ist. Ins Oberdeutsche weisen mehrfach Heteronyme der Hallenser Handschrift: Gügil (HH, 33vb) 'Krüge', nyndert 'nirgends' (HH, 25vb, 27ra) gegenüber dem mitteldeutschen krüge (EH, 54va), nern (EH, 42va, 44va), twet (HH, 7va) gegenüber gewascht (EH, 12va). Allerdings verwenden beiden Handschriften meist waschen, und an einer Stelle Joseph ... twug sin antlitc™ (EH, 32rb; HH, 19ra). Auch das Nebeneinander des nach V l R K K U N E N 1 7 vornehmlich oberdeutschen heljamme und des vor allem ostmitteldeutschen wehmutter, das auch Luther für seine Bibelübersetzung benutzt hat, ist bemerkenswert: Die Hallenser Handschrift kennt heiff ammen (HH, 22ra, 2x), während die Erfurter Handschrift beim ersten Beleg das Wort wemuter vorsichtig einführt: der konnig von Egip/o der gebot den frauwen di da heissen wemuter (EH, 37ra), während der zweite Beleg nur bringt: di wemuter verebten got (EH, 37ra). Eindeutig sind die lautliche und die morphologische Varianz: Hier neigt die Hallenser Handschrift regelmäßig zur dialektalen Form, wie G R I M M 1 8 ausweist: der turtiltnben der EH ( l l r b , 60vb, 65rb, 66ra) stehen ausschließlich die torkil tube(n) der Hallenser Handschrift gegenüber (6vb, 38ra, 41ra, 41rb), dem %cegelchen, cyegelchen, c^egelin der Erfurter Handschrift (19vb, 28ra, 43vb) das c-^ickel der Hallenser ( l l v b , 16vb, 26va), dem fusse staph eines menschen der EH (190vb) ein imstofil eyns menschen der HH (127ra), dem regelmäßigen vorslang der EH (80ra, 95ra) das vorslant der HH (50va, 61rb), einem regulären dämme, clatjnne der EH (198vb, 77rb) do dinne, dynne der HH (132va,' 48va). Auch bei neuem Wortgut, das älteres verdrängt, ist im Allgemeinen die Erfurter Handschrift führend. Sie weist gar gros, vil me, kume, di cleinsten, spot, hasten, haste (EH, lOra, 24va, 7va, 13vb, 13vb, 19ra, 20va) auf, wo die Hallenser michel gro% michel mer, michel mer, di mynsten, schimph, nedyn, neyt schreibt (HH, 6vb, 14vb, 4vb, 8rb, 8rb, l l v a , 12ra). Aber dies ist nicht durchgängig so. Beispielsweise steht in der Erfurter Handschrift dicke vnd vil (EH, 42va), wo die Hallenser bereits ufte (HH, 25vb) aufweist. Solche Varianten sind nicht häufig. Diese Beobachtungen bestätigen zum einen die bereits in der Dissertation19 hervorgehobene Mehrschichtigkeit der spätmittelalterlichen Schreib- bzw. Stadtsprachen — eine Erkenntnis, die nach Renward 16
GRUBMÜLLER 1989, B d . 5, 2 3 3 1 f. [ R 4321, 1988, B d . l , 98, 71, 58, 75.
17
VlRKKUNEN 1957, 20, 24, Skizze 2, 4.
18
GRIMM XI.I.II. 1952, Sp. 1907, GRIMM X V . 1956, Sp. 883, GRIMM IV.I. 1878, Sp. 1044, GRIMM XII.I. 1956, Sp. 1106-1108, GRIMM N e u b e a r b e i t u n g 6, 1983, Sp. 2 9 4 , 1 1 0 3 .
19
V g l . BENTZINGER 1973, 195f., 233f.
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Rudolf Bentzinger
BRANDSTETTERS Ansatz einer soziologischen Betrachtung „der Luzerner Mundart" von 1890 (er hatte Quellenzeugnisse nach Schreiberschichten sortiert) und UENZENS20 noch allgemeinen, aber treffsicheren Formulierungen „Die Schriftdialekte fließen von selbst immer mehr ineinander [...] Das steigende Bedürfnis reißt im Strudel alles mit: Schule, Literatur, Geschäft und Recht, Stadtsprache und Volksmundart" in den sechziger Jahren mehrmals u.a. von SCHÜTZEICHEL21 und KETTMANN22 gewonnen wurde. Werner BESCH und seine Mitarbeiter griffen wie viele andere die Fragestellung auf. Erinnert sei an BESCH23 und an die Feststellung von HOFFMANN / MATTHEIER: „das städtische Zusammenleben" habe „auch die soziale Differenzierung sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten gefördert, da Sprache in Städten neben ihren kommunikativen Funktionen in der Regel auch eine sozialsymbolische Funktion annimmt" 24 , und zum Ostmitteldeutschen liegen aus den achtziger und frühen neunziger Jahren mehrere Detailuntersuchungen dazu vor. 25 Auch LERCHNER26 wies auf „die Ausformung eines stark differenzierten regiolektalen Diasystems" hin mit „Textproduktion im schriftlichen Bereich [...] auf sozial hoher Ebene [...], aber auch [...] auf sozial niederer Ebene". Zum zweiten bestätigen die hiesigen Ergebnisse einige Gedankengänge in Referaten auf dem Freiburger Kolloquium „Die deutsche Schriftsprache und die Regionen". 27 Zur Beantwortung von Hugo STOPPS „Leitfrage" von 1976 „Was haben diejenigen, welche diese Schriftsprache geschaffen haben, woraus weshalb ausgewählt?" wird nach GLASER „umso interessanter [...] die Frage nach der Existenz verschiedener Schreibsprachschichten in den Städten", wobei „eine Hinwendung zur komplexen Sprachwirklichkeit der frühneuhochdeutschen Zeit" vonnöten ist, d.h. auch Dialekte sind „keine von äusseren Einflüssen völlig freien Gebilde". 28 Auf unseren Text übertragen, würde dies bedeuten, dass das Drängen über den engen Sprachraum der eigenen Stadt hinaus auch in der dialektnäheren Version deutlich wird, bedingt durch — die leider nicht bekannte — Vorlage, die Schreiberherkunft und den Rezipientenbezug.
20
HENZEN 1954, 89.
21
SCHÜTZEICHEL 1974, 3 2 0 - 3 2 7 ; 1 9 6 2 , 8 9 - 9 6 .
22
KETTMANN 1 9 6 8 , 3 5 3 - 3 6 6 .
23
BESCH 1 9 7 2 , 4 5 9 - 4 7 0 .
24
HOFFMANN / MATTHEIER 1 9 8 5 , 1 8 3 8 .
25
V g l . SCHILDT 1987, 1 9 9 2 .
26
LERCHNF.R 1 9 9 7 , 22.
27
S. BERTI IELE u.a. (Hg.) 2 0 0 3 .
28
GLASER 2 0 0 3 , 6 0 , 5 7 , 59.
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Dazu kann uns auch die Verwendung des Terminus „Vertikaüsierung" durch BESCH-9 und REICHMANN30 von Nutzen sein, auch wenn diese nach ihrer Meinung erst in späterer Zeit deutlich zu Tage tritt. Letzterer hält S. 48 die „Vertikaüsierung" auch „als sprachgebrauchsgeschichtliche Umschichtung" für untersuchenswert. Sie ist „nicht nur eine soziologische Umschichtung eines horizontal gelagerten Varietätenspektrums in ein vertikal organisiertes, sondern auch [...] eine Entwicklung aus der nicht nur medialen, sondern auch konzeptionellen Mündlichkeit heraus in die konzeptionelle Schriftlichkeit als sprachkulturelles Orientierungszentrum hinein". 31 Dies gilt für den frühneuhochdeutschen Zeitraum, eigentlich zumindest bis ins 18. Jahrhundert, generell. Im frühen 15. Jahrhundert wird aber ein „vertikal organisiertes" „Varietätenspektrum" 32 schon deutlich. Wenn Oskar REICHMANN das „Varietätenspektrum des Deutschen [...] bis etwa zum beginnenden 16. Jahrhundert" als „horizontal-polyzentrisch organisiert" ansieht mit einem „Nebeneinander von Raumvarianten (Dialekten, landschaftlichen Schreibsprachen u.a.), von gruppengebundenen Varianten (Geschäfts-, Drucker-, Fach-, Sondersprachen), von textsortenspezifischen Idiomen (z.B. sozial verbindenden, legitimierenden, erbaulichen Texten), von schriftfixierten historischen Überschichtungen usw." 33 , so ist anzumerken, dass es sich bei unseren Texten um eine Textsorte aus demselben Raum, derselben Zeit, hergestellt aus derselben Vorlage handelt. Die Spracheinigungsprozesse sind also um 1430 schon in vollem Gange und erfassen mehrere Schichten. Das Ineinandergreifen differenzierter Prozesse, deutlich am Wandel im vielgestaltigen Varietätenspektrum, sollte auch eine künftige OstmitteldeutschForschung untersuchen, so wie das die bisherige OstmitteldeutschForschung — zumindest ansatzweise — schon in Angriff genommen hat.
29
BESCH 2 0 0 3 , 6 .
30
REICHM \NN 2 0 0 3 , 3 8 - 5 1 .
31 32
Ebd. S. 42. Ebd.
33
REICHMANN 2003, 39.
Rudolf Bentzinger
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Zur Bedeutung der Sprache der spätmittelalterlichen Rechtsbücher im Ostmitteldeutschen Rudolf Grosse / Brigitte Uhlig Recht ist an Sprache gebunden. Auch in der schriftlosen Vorzeit war Rechtsprechung das wesentliche Moment in dieser Lebensform. Moral und Brauch werden zu sozial geprägten Gewohnheiten, die, sprachlich formuliert und in der Gemeinde, auf dem Thing „gewiesen", später im Dorf auf dem „gehegten Mahle" vorgetragen, Rechtscharakter gewinnen. Dabei bilden sich im Prozess einer sprachlichen Differenzierung Vorstufen noch nicht einer Fachsprache, aber, da noch allen Sprachteilhabern zumindest passiv geläufig, einer Hochsprache 1 heraus. Anders jedoch als bei Religion und Dichtung, die für die vorgeschichtliche Entwicklung in diesem Zusammenhang genannt werden, tritt die Individualität des Beteiligten im Rechtsleben weniger hervor: Der Einzelne erstreitet sich sein Recht nur als Mitglied der Rechtsgemeinschaft, und das Urteil spricht nicht ein Einzelner, sondern der Kreis der Schöffen. Die Rechtsetzung durch einen Einzelnen, durch den Herrscher, wird erst nach unserer Epoche der Rechtsbücher, dem 13.-15. Jahrhundert, die allgemein gültige Regel. Freilich wirkt die Tendenz auch schon in dieser Zeit vor allem über das Römische Recht in die Entwicklung herein, jedoch wohl am wenigsten noch in der Sprache. Dieses soziologische Element im Rechtsleben ist für die Sprachgeschichte von besonderem Interesse: Das Recht wird von einer Rechtsgemcinschaft getragen, prägt seinerseits diese Gemeinschaft ganz wesentlich mit aus. Das setzen wir auch für Sprache und Sprachgemeinschaft voraus, wobei sie im Hoch- und Spätmittelalter nicht mehr als so homogen betrachtet werden darf wie in den Jahrhunderten zuvor. Gerade diese sozialen Differenzierungsprozesse und die weiträumigen Migrationsprozesse durch Landesausbau und Ostkolonisation haben wohl dazu beigetragen, dass im 12.-13. Jahrhundert Bemühungen um eine \7erschriftlicliung und damit größere Sicherung des Landrechts in seinen verschiedenen regionalen Ausformungen einsetzten und die Entwicklung der Städte und die Gründung vieler neuer Städte zur Ausformung der 1
FRINGS 1944, 72, J i t e r a t u r s p r a c h e " nach GUCHMANN 1973, 418-419.
74
Rudolf Grosse / Brigitte Uhlig
Stadtrechte beitrugen. Die historischen Grundlagen führen uns in die Landschaften des Vorharzgebietes und des Thüringisch-Meißnischen als eines Zentrums der rechtsgeschichtlichen Entwicklung des Spätmittelalters, vor allem des Sachsenspiegels und des Magdeburger Rechts und zu deren Folgewerken. Eike von Repgow erscheint von 1209 bis 1233 mehrfach als Zeuge bei Gerichtsverhandlungen in den Gebieten zwischen Magdeburg und Grimma, zweimal auch zusammen mit dem Grafen Hoyer von Falkenstein, der ihn um 1225 veranlasste, den Sachsenspiegel aus dem Lateinischen in die dann so wirkungsvolle niederdeutsche Fassung zu bringen. Eikes Vorfahren waren wohl in der Mitte des 12. Jahrhunderts, vielleicht als Lokatoren, mit den ersten Siedlern aus dem naheliegenden Vorharzgebiet, in den Sorbengau Serimunt zwischen der unteren Saale und Mulde nach Repichowe gekommen. Eike kannte aus eigener Erfahrung das Rechtsleben hier und im benachbarten Vorharzgebiet. Er hatte das von den Schöffen mündlich überlieferte und auf den Gerichtstagen vorgetragene Recht im Ohr und hat sein Wissen durch Umfragen ergänzt bei rechtskundigen „schöffenbar Freien" benachbarter Gerichtsorte, einem Stand, dem er wohl selbst angehörte. Er hatte aber auch einige Kenntnisse des kanonischen Rechts und besaß eine theologische Allgemeinbildung, muss sicher eine gute Schulbildung genossen haben, wohl in einer Dom- oder Klosterschule, in dem Magdeburg Erzbischof Wichmanns oder vielleicht in Halle, wohin seine Familie durch burggräfliche Dienste in Beziehungen gestanden hat,2 vielleicht auch in Altzelle.3 So kommt es, dass er zunächst zum Latein greift, obwohl alle Rechtsregeln und -Vorgänge, die er aus seinem Umfeld zu erfassen beabsichtigte, in der elbostfälischen Landessprache abliefen. Es ist gewiss kennzeichnend, dass von dieser lateinischen Fassung nichts erhalten geblieben ist außer vielleicht nach dem ,Auetor vetus de benefieiis' ein Stück vom Lehnrecht im Görlitzer Rechtsbuch. Es ist sogar vermutet worden, dass die Berufung auf eine lateinische Urfassung nur ein Topos sei, der das Werk in den Augen der Zeitgenossen legitimieren sollte.4 Jedenfalls haben das von Eike in 234 Artikeln auf einfache Weise geordnet dargebotene Landrecht des bäuerlichen Lebens im Vorharzgebiet und die 78 Artikel des Lehnrechts des niederen Adels, um 1225 in Elbostfälisch abgefasst, als ,Spegel der Sassen' dann die neue literarische Form der Rechtsbücher im deutschen Spätmittelalter geschaffen, und das als ein privates Unternehmen, nicht als Auftragswerk einer fürstlichen Macht.
2
Nach LTEBF.RWTRTH 1993, 48.
3
LANDAU 2 0 0 5 .
4
So ERDMANN 1951/52.
Spätmittelalterliche Rechtsbücher im Ostmitteldeutschen
75
Für ein halbes Jahrhundert blieb Eikes Sachsenspiegel die einzige weltliche Rechtsaufzeichnung in den deutschen Landen und wurde bald, da sich die Rechtsregeln vor allem für den bäuerlichen Bereich nur wenig von anderen Stammesrechten unterschieden, weithin als generelle Rechtsquelle angesehen, die mit dem seit langem schriftlich kodifizierten kanonischen Recht konkurrieren konnte. 3 Aus den drei Jahrhunderten bis zu den ersten Wiegendrucken ist der Sachsenspiegel, freilich vielfach überarbeitet, in 460 Handschriften und Fragmenten überliefert, vorwiegend niederdeutsch, noch häufiger aber mitteldeutsch, so auch drei der berühmten Bilderhandschriften, von denen die Dresdner direkten Bezug auf Meißen, die Wolfenbütteler auf Leisnig enthalten. Aber schon ca. 1270 hat ein Franziskanermönch in Magdeburg auch eine oberdeutsche Fassung hergestellt, die in Augsburg zur Grundlage des ,Deutschenspiegels' und des ,Schwabenspiegels' wurde, der als ,Kaiserrecht' in den süd- und als ,FrankenspiegeP in westdeutschen Ländern Geltung gewann. Für das Ausgangsgebiet bedeutsam wurden die von Eikes Sachsenspiegel stark angeregten Sammlungen des Magdeburger Stadtrechts, das als Weichbildrecht (mit Weichbildchronik und Schöffenrecht) oft zusammen mit dem Sachsenspiegel und/oder anderen (späteren) Rechtsbüchern in umfassenden Sammelhandschriften überliefert ist. Dazu gehören vor allem die Stadtrechte, die sich in den zahlreichen Neugründungen die Kaufleute genossenschaftlich selbst gaben und vom Landesherren dann bestätigen ließen. 6 Das Freiberger Recht ist im Neusiedelland das älteste, zwischen 1210 und 1218 verliehen und zwischen 1296 und 1307 aufgezeichnet. 7 Das Zwickauer Rechtsbuch, in einer Handschrift von 1348 überliefert und weitgehend auf dem Sachsenspiegel aufbauend, gewann auch über die Stadt hinaus große Bedeutung, es wurde zu einer der Grundlagen für das später so bezeichnete Meißner Rechtsbuch, das sich in einer Fassung 1388 bezeichnet als ein buch des rechten c%v wicbilde in sech™sischer ar/ß Es hat den „Rang einer subsidiären Rechtsquelle" erlangt9 und hat als „Rechtsbuch der Distinktionen" bis ins 19. Jahrhundert nachgewirkt, auch als ,Schlesisches Landrecht' (1770). Dieses Meißner Rechtsbuch, entstanden zwischen 1358 und 1387, ist Deutschlands verbreitetstes Stadtrechtsbuch; es gibt noch 76 vollständige und 21 fragmentarisch überlieferte Handschriften davon, die häufig auch den
5
LIEBERWIRTH 1 9 9 3 , 2 9 4 - 2 9 5 .
6
BLASCHKE1999.
7
UNGF.R 1 9 9 9 .
8
OPPITZ 1 9 9 0 , II, N r . 4 4 0 .
9
E b d . , 1, 105.
76
Rudolf Grosse / Brigitte Uhlig
Sachsenspiegel, das Weichbildrecht und den Richtsteig Landrechts von Johann von Buch enthalten.10 Nicht nur die Sprachformen Eikes von Repgow sind bereits eingehend und umsichtig, teilweise mit unterschiedlichen Ergebnissen, untersucht worden. Von Gustav ROETHE, Erik ROOTH, Karl BTSCHOFF bis Ruth SCHMIDT-WLEGAND reicht die Reihe illustrer Namen. Auch einzelne Handschriften sind sprachlich eindringlich analysiert worden, so die Quedlinburger Handschrift vom Ende des 13. Jahrhunderts, 11 die älteste datierte Handschrift von 1295, der Harffer Sachsenspiegel vom Niederrhein, 12 der „Sachsenspiegel aus der Dombibliothek in Breslau/Wroclaw" 13 , besonders aufschlussreich die Wolfenbütteler Bilderhandschrift.14 Im Zusammenhang mit neuen Ausgaben finden nunmehr auch die Dresdener Bilderhandschrift und das Zwickauer Rechtsbuch die nötige Aufmerksamkeit von Sprachhistorikern. 15 Das Stadtrecht von Mühlhausen und das Freiberger Stadtrecht waren schon 1937/1943 Gegenstand vorbildlicher Untersuchungen von Heinrich BACH (Aarhus). Ludwig Erich SCHMITTS „Untersuchungen zur Entstehung und Struktur der neuhochdeutschen Schriftsprache'" (1. Bd. 1966) bieten mit den Prosopographien der thüringisch-obersächsischen Schreiber von 13001500 viel sprachliches Material. Was Rudolf GROSSE aus kleineren thüringischen Rechtsquellen bei der Untersuchung der mitteldeutschniederdeutschen Handschriften des Schwabenspiegels zusammengetragen hat, geht als Vergleichsmaterial in der Darstellung leider etwas unter. Der Fonds an bereits aufgearbeitetem Material aus ostmitteldeutschen Rechtsquellen, der in die Untersuchung der Geschichte der Schreibsprache des Ostmitteldeutschen einfließen müsste, hat also bereits einen beträchtlichen Umfang. Weitere Analysen wären erforderlich für spezifisch areal gebundene Handschriften wie den Oschatzer Sachsenspiegel16 und vor allem für das Meißner Rechtsbuch, wofür auch die Leipziger UB Handschriften anzubieten hätte. Dabei sind bei einer Reihe charakteristisch ostmitteldeutscher Grapheme weitgehende Übereinstimmungen zu erwarten: • durchgehend e für alle fünf mhd. c-Laute: e, e, ä, e, a\ bette, kriecht, mechtig, mere 'mehr', mere 'Mär'
10
LIEBF.RWIRTH 2 0 0 3 , 2 9 6 - 2 9 7 .
11
SPIEWOK 1 9 5 7 .
12
A S D AHL HOLMBERG 1 9 5 7 .
13
PTTR \INEN / TEN VENNE 2 0 0 3 .
14
SCHMIDT-WIEG AND 1 9 9 3 .
15
OPPITZ 1 9 9 9 .
16
V g l . L I E B E R « IRTH 1 9 8 8 .
Spätmittelalterliche Rechtsbücher im Ostmitteldeutschen
77
• durchgehend // (dafür auch die Graphie v, oft sogar ff) für mhd. u, //, //, in, uo, iie\ vnde, nbir, bus, husir, buch, bttchir • durchgehend i (dafür auch die Graphie y) für mhd. i, t, ie: ist, min, clinst • nahezu durchgehend mhd. ei, on, ön (ohne Einwirkung der mundartlichen Monophthongierung) als ei/ey, on, en, (ew)\ kein, roub, ren'ber • nahezu durchgehend i in gedeckter Flexionssilbe: husir, gntis, nimit, habin • nahezu durchgehend t für mhd. t hanthafte tat, d.h. auch nach -n, außer nach -/ • durchgehend verschobene Formen für germ, t, allerdings in bunter Vielfalt der Graphien: % ^c, ^ ss, .r: ψ, %cn, sengen, sat-^te, wissen, dis, da^ • nahezu durchgehend verschobene Formen für germ, p, für pund pp- (oft mit der ostmitteldeutsch charakteristischen Graphieph, auchphh): phajfen, scephhin 'Schöffen', scbafe • nahezu wie im Mhd. b, d, g, auch mit Vokalisierung seit/sail 'sagt', ckit/clait 'klagt', meist jedoch frikativiert inlautend -b-\ greve 'Graf, graven 'Graben' Diese weitgehende Einheitlichkeit in der Graphemik ermöglicht und erfordert bei weiteren Untersuchungen Konzentration (auch mit Auszählungen von Varianten) auf zeitliche Veränderungen z.B. bei der Ablösung der ^(/^-Schreibungen, bei der späteren Konzentration auf und (geit, sats?) und vor allem bei der im 15. Jahrhundert einsetzenden Diphthongschreibung für mhd. i, n, in, die aus der Reihe der i-, //Schreibungen auch für die mhd. Diphthonge ie, no, üe erstaunlicherweise ohne Fehler und ohne Hyperkorrektion herausgelöst wird. Aufmerksamkeit erfordern auch areale Besonderheiten wie die Schreibungen oi und ei/ey wohl für Palatalisierung im Westthüringischen: koif 'Kauf, t r o j f f e 'Traufe', leine 'zu Lehen' oder die Entwicklung von nuive>nau 'neu'. Besondere Beachtung verdienen die charakteristischen Sonderformen einzelner Wörter, die geradezu als Schibboletlis für das Ostmitteldeutsche dienen können: adir 'oder', ab 'ob', kegin 'gegen', gene 'jene', vorterben 'verderben', nakebnre 'Nachbar', ammecht 'Amt', sint 'Sendgericht' u.a. Auch in der Morphologie finden sich weitgehende Ubereinstimmungen in der Flexion der Substantive und Verben, wobei die Grundlage durchaus in der gesprochenen Sprache zu suchen ist. Wenn der Einfluss der ostmitteldeutschen Mundarten auf die thüringiscli-obersächsische Geschäftssprache oft negiert wurde, in der Morphologie ist er offensichtlich, so bei der „Wechselflexion" starker Verben im Singular
78
Rudolf Grosse / Brigitte Uhlig
Präsens: ich spreche — du sprichis — (h)er sprichit; bei der Erhaltung des Präteritums, bei der Bewahrung der Formen mit Rückumlaut: nannte — genannt, dachte — gedacht, bei der Struktur fast aller Deklinationsklassen der Substantive und Adjektive. Umso mehr Beachtung verdienen die Pronomina mit dem Ubergang von he>her>er, se/de>si/di>sie/die, selbe/selben, diebein 'irgendein', nichein 'kein' u.a.m. Mit diesen spezifischen .Merkmalen wenden wir uns zurück zur elbostfäüschen Ausgangslandschaft des Sachsenspiegels, dem Vorharzgebiet im Dreieck Halle — Magdeburg — Halberstadt, dessen südliche Hälfte sich bis zur Lutherzeit vom sassischen Niederdeutschen auf das Ostmitteldeutsche umstellte. Diese Entwicklung setzte schon um 1200 ein. Herzog Heinrich I. von Anhalt, zu dessen „Hofgesellschaft" Hoyer von Falkenstein und auch Eike von Repgow ab und an gehörten, 17 hat, wohl angeregt von seinem Schwiegervater Landgraf Hermann von Thüringen, zwei nicht reizlose Minnelieder hinterlassen, diese aber nicht auf niederdeutsch, wie er wohl gewöhnlich noch gesprochen hat, sondern in dem „temperierten Mitteldeutsch", dessen sich die niederdeutschen Lieder- und Spruchdichter alle bedienten. Diese „thüringisch-hessische Literatursprache der Ludowingerzeit" 18 war auch die Grundlage einer Reihe epischer Dichtungen belesener Männer niederdeutscher Herkunft. Und auch Brun von Schönebeck, recht begüterter und einflussreicher Ratsherr von Magdeburg, hielt nicht die magdeburgische Alltagssprache für seine geistlichen Lieder und seine umfangreiche Allegorese des Hohen Liedes geeignet, sondern dichtet mitteldeutsch, auch wenn er sich darin keineswegs sicher fühlt, „wen ich bin ein tumber Sachse, der nicht viel der spräche kann". 19 Verse schrieb man hochdeutsch; und so erscheinen denn auch die Prologe des Sachsenspiegels in jenem „temperierten Mitteldeutsch", das Anlass gegeben hat zur sprachgeschichtlichen Diskussion (ROETHE, ROOTH, BISCHOFF).
Doch diese pejorierende Einschätzung des Niedcrdcutschen im Elbostfälisclien hat offenbar auch bei der Verbreitung des Sachsenspiegels Einfluss gehabt. Es ist doch auffällig, dass unter den ältesten Handschriften sich neben den westfälischen (niederländischen) und nordniedersächsischen nur zwei Fragmente mit elbostfälischem Charakter finden, die wichtigste Handschrift aus dem 13. Jahrhundert, die Quedlinburger (ÜB Halle Cod. 81), aber mitteldeutsch geschrieben ist, wobei die niederdeutschen Reliktformen besonders aufschlussreich sind. Sie haben zu der 17
So JOHANRK 1984.
18
KLEIN 1 9 8 2 .
19
BECKERS 1 9 8 2 .
Spätmittelalterliche Rechtsbücher im Ostmitteldeutschen
79
Vermutung geführt, dass ein Westhüringer sich um eine Übertragung bemüht hat und dabei niederdeutsche Reste übersehen hat.2" Unsere Erfahrungen bei der Bearbeitung der mitteldeutsch-niederdeutschen Handschriften des Schwabe η spiegeis geben Hinweise dafür, dass auch bei der Quedlinburger Handschrift des Sachsenspiegels ein Niederdeutscher am Werke war; es handelt sich zwar um Kleinigkeiten, die aber umso stichhaltiger sind: der Schreiber lässt 12mal das nichtmitteldeutsche —n stehen bei dem Präteritopäsens turrem ne tarn her nicht 'wagt er nicht' (setzt es sogar einmal falsch für dat der Vorlage), er schreibt einmal sat^e 'setzte' falsch für nd. satte, er lässt, für ihn im Harzvorland geläufig, den Superlativ stehen: de eldeste sal teilen, wo nur von zwei Söhnen die Rede ist.21 Diese sprachpragmatischen Vorgänge im benachbarten Elbostfäüschen gehören auch zur Geschichte des Ostmitteldeutschen, weil darin Aspekte des Sprachprestiges auf früher Stufe sichtbar werden. Neben die Ausführungen zu Sprachpragmatik, Phonologie und Morphologie sollen nun einige Bemerkungen zum Verhältnis von Lexik und Landschaft im Rechtsbuch des späten Mittelalters gestellt werden. Als wir vor Jahren die Verba dicendi im Schwabenspiegel untersuchten, konnten durchaus an manchen Stellen territoriale Unterschiede zwischen den Handschriften beobachtet werden. 22 Die Münchener Hs. (M) verwendet z.B. schuldigen, wo in den md.-nd. Kurzformen (Kff.) sgben steht, beklagen für beschuldigen, behüben für behalden. Oft jedoch werden scheinbare Heteronyme in einer der Handschriften synonymisch nebeneinander verwendet. So steht Uberlingen, das häufiger in Hs. Μ auftaucht, dort und in der Kurzform Kz 2 auch synonymisch neben iiberkomen. Schon vorher hatte Rudolf G R O S S E darauf hingewiesen, dass es in den md.-nd. Kff. lexikalische Unterschiede zum Sachsenspiegel gibt, z.B. erscheint an sachlich gleicher Stelle im Ssp. orteil (vinclen unde) scheiden, in Kz 2 vrteil vorsprechen/ bescheilen/verwerfen, in Kz 2 und Kz 3 vrteil widder vf werfen. Er nutzt diese Beobachtung v.a. für die Aufdeckung der Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Hss., hat aber auch landschaftlichen Sprachgebrauch erwähnt. Territorialer Differenzierung im Wortschatz steht das Streben nach Überlandscliaftlichkeit im Rechtsbuch gegenüber. Es wird dort besonders klar, wo ein Text Bezeichnungen aus verschiedenen Sprachlandschaften nebeneinander stellt. Zur Illustration möge das häufig genannte Vormund2 3
20
SPIEWOK 1957.
21
SSp III 29 §2, w o auch K.A. ECKHARDT bei seiner Rekonstruktion eines elbostfalischen Urtextes in den üblichen Komparativ ausweichen zu müssen meint, 1955, 212.
22
UHLIG
23
GROSSE 1964, 25f.
1983,2571.
80
Rudolf Grosse / Brigitte Uhlig
Beispiel dienen.24 In Kz 2 , L 59, heißt es der vrowen vnde der kinder vornmnt beyt^en ettewa eyn behalten ettewa eyn plegere, ettewa eyn sicher bote, ettewa eyn voget. Hier wird Rechtssprache in ihrer großräumigen Geographie deutlich. Lexikalische Unterschiede in der Rechtswortterminologie werden seit Jahren untersucht und in Abhandlungen, Wörterbüchern und Karten erfasst. Aufspüren muss man dieses Material v.a. in Rechtsquellen lokaler Bindung, weniger in Texten der Sorte Rechtsbuch, die von Anfang an nach weiträumiger Nutzung in großen Territorien strebten. Eike von Repgow hat im 13. Jahrhundert elbostfälisches Recht im Ssp. zusammengefasst, dabei allzu Mundartliches gemieden und hochdeutsche Wörter ins Niederdeutsche eingeführt. Die Wirkung dieses Werkes beschränkte sich nicht auf Norddeutschland, es wurde ins Hochdeutsche, Lateinische, Polnische übersetzt, und mit den md.-nd. Kurzformen des Swsp. kam der Text in seine Ursprungslandschaft zurück. Wenn auch beim Abschreiben landschaftliche Lexik in die Texte eingeflossen sein mag, war doch das Prestige der Urfassung so stark, dass große Teile der zentralen Rechtsterminologie unverändert von einer Quelle in die andere übernommen wurden. Untersucht man nun die Rechtssprache eines landschaftssprachlich gebundenen Raumes wie des Ostmitteldeutschen, ist das allgemeine Bild in verschärfter Kontur zu erwarten. Zu diesem Zweck wurde die Fassung des Ssp. aus dem 13. Jahrhundert einerseits mit mehreren Swsp.-Ausgaben und andererseits mit Ssp.-Ausgaben und verwandten Rechtstexten aus dem md./ostmd. Raum verglichen. 25 Alle Texte wurden in Bezug auf die Rechtstopoi HERGEW ATE, GERADE, MUSTEIL, MORGEN GABE und ERBE untersucht. Verglichen wurden auch die weniger rechtsnahen und auch nicht in allen Texten nachweisbaren KRANKHEITSNAMEN und BERUFSBEZEICHNUNGEN. Dabei ergab sich für den Kcrnbcreich, dass zwischen den einzelnen Texten zwar Unterschiede im Bedeutungsumfang der genannten Hyperonyme auftreten, die sich wohl aus zeitlicher Entwicklung, unterschiedlicher lokaler Rechtsauffassung und dem Grad lokaler Bindung der Texte ableiten, dass aber in der Regel dem Oberbegriff lexikalisch gleiche Unterbegriffe, oft sogar in identischer Reihung, zugesellt werden. Diese Einheiten unterscheiden sich lediglich in ihrer phonologisclien und
24 25
S. u.a. VON OLBERG 1985. S. Literaturverzeichnis: Primärliteratur - Die von PlIRAINEN herausgegebenen Sachsenspiegeltexte sind 'zu großen Teilen Bearbeitungen des Meißner Rechtsbuchs, so dass die Titelgebung in die Irre führt.
Spätmittelalterliche Rechtsbücher im Ostmitteldeutschen
81
morphologischen Form. Für die vorliegende Untersuchung wurde in der Regel die im Corpus (am häufigsten) belegte md. Schreibweise ausgewählt. Zur Veranschaulichung und als Muster für die Materialerhebung in allen Sachbereichen folgen die Belege für HERGEWÄTE: ECKHARDT: berwede — swert, ors oderperdgesadelet, harnasch, herepole: bedde, hissen, linlaken, discblaken, beckene, dwelen H O M E Y E R : henvede — swerd, ors/perd gesadelet, barnasch, herpole: bedde, küssen, Maken, linen Iahen (Meiningen), slapblahen (Quedlinburg), discblaken, hecken, dreien, kesse/hui (Görlitz) S C H W E R I N / E B E L : hergewet(t)e — swert, ros adir phert gesatelet, harnasch, herphnl: bette, k/tssin, Machen, tislachen, beckin, twele; kleider WEISKE: henvete — swert, ors oder pfert gesatelt, harnasch, herphul: bett, hissen, linlachen, tischlachen, hecken, twele Wolfenbütteler/Dresdener Bilderhs.: hergewete — ros oder phert gesatilt, harnasch, swert, herphnl: bette, htssin, Machen, tischlachen, beckin, twele Oppeln 170a: henvete — urs/pherd, harnasch, cleider, swert, bette, kissen, leinlachen, tischlachen, becken, twele Krakau 170b: henvete — pheti gec^ewmit vnd gesatilt, hämisch, cleidir, swert, haivpt phoel: bette, kossin, leylach, tischlachen, twele; schilt, kessei, kessil hoke, g/irtelgeweint Breslau: hergewete— pferd ge^umet und gesatelt, kleider, harnasch, swert, haubt pfui: bette, kissen, leinlachen, tischlachen, becken, twele; schilt, kessei, kesselhacke, gurte 1 geweint, bade lachen Fragmente: Berlin: herwet(t)e — swert, vrs/pfert gesatelt, harnasch, here phul: bette, hissen, Machen, tischlachen, becken, tivelen Brandenburg: hergewete — swert, itrs/pfert gesatelt, harnasch, herpftl: bette, hissen, lilachen, tischlachen, becken, twele Erlangen: hergewete — harnasch, swert, cleider, gurtelgeivant Kiel: cleyder.; ros/phert, harnasch Koblenz: henvete Krakau: hergewete — bette, kitvgen, slaflachen, tischlachen, hanttwele Prag: hergewete — swert, pfert/ vrs gesatelt, schilt, harnasch, tegeliche cleider, herpful: bette, kvssen, Machen, tyschlachen, becken, twele; kessil, kessilhake, ysenhvt, wopen Swsp. München: hinfart/ totleip — ros/phert gesatelt, harnasch, swert, poIster, pette, küssen, leilachen, tischlachen, pecken, hantwehelen, padlachen md.-nd. Kff.: totlip — ros/pert gesaclelt, harnasch, swert, bette/bedde, puIster, hissen, lachen/ taken, tischlachen/ discblaken, becken, dwe/e, badelachen/ -laken
82
Rudolf Grosse / Brigitte Uhlig
Dabei zeigt sich, dass die obd. Hs. und die von ihr abhängigen md.-nd. Kff. des Swsp. den zentralen Oberbegriff mit den Lexemen hinfart bzw. totlip wiedergeben, wodurch die Bedeutung 'Ausrüstung im Krieg' zu 'Nachlass' verschoben scheint. Alle anderen Ssp.-Texte verwenden wie die Urform nach E C K H A R D T bergemte/herwete. Die einzelnen Bestandteile des Hergewätes sind in den meisten Texten nahezu identisch. Fast durchgängig stehen ros/ors und pbert nebeneinander zur Bezeichnung unterschiedlicher Einsatzgebiete des Tiers im Mhd. Die spätere landschaftliche Differenzierung fehlt noch. Der herplutl, das Feldbett, wird im Schles. ha/ibtphul genannt. Die damit verbundene Bedeutung 'Kopfkissen' trifft das Gemeinte nicht und ist vielleicht aus einem Lesefehler ber-bet entstanden, (md. bet < boubei). Das Wort fehlt im Obd. und in den md.-nd. Kff., möglicherweise deshalb, weil der Begriff wie das Hyperonym HERGEWATE, das alte Wort des Erbrechts, seit dem 12. Jahrhundert im NW nachgewiesen 26 und mit der Verbreitung des Ssp. großräumig angewendet, im 14./15. Jahrhundert nicht mehr recht verstanden wurde. Die Bedeutung 'kriegerische Ausrüstungsgegenstände, die der Mann während seines Heerdienstes mit sich führte' war erweitert worden zu 'Gesamtheit der zum männlichen Lebenskreis gehörigen Sachen'. Deshalb ist der lexikalische Unterschied sowohl geographisch wie zeitlich zu interpretieren. Die Bedeutungserweiterung von HERGEWÄTE zeigt sich auch in der Hinzufügung weiterer Gegenstände und ihrer Spezifizierung. Neben den allgemeinen Begriff kleider tritt das gurtel geivant, neben hamasch und sivert schilt, kesse/, kesselbacke, ysen- oder kesselbut und rnpen, zu tisch- und lilachen bade- und slaflachen. Diese Entwicklung zeigt sich in allen Regionen, in meinem Material v.a. in den Fragmenten und den schlesischen Quellen. Eine größere Zahl von Hyponymen als HERGEWÄTE weist das Hyperonym GERADE auf. Es bezeichnet alles Erbe, das zum Gebrauch durch die Frau bestimmt ist. Die Abgrenzung von ERBE, MORGENGABE und MUSTEIL in Bezug auf die zugeordneten lexikalischen Einheiten ist im Textmaterial nicht völlig einheitlich und wird dort mit unterschiedlicher Rechtsquellennutzung erklärt. Sicher spiegeln sich aber auch in dieser Erscheinung zeitliche Entwicklung und geographische Differenzierung. Stärker lokal orientierte Quellen nennen wesentlich mehr Einheiten als strenger am Rechtsbuch orientierte. Dabei treten dann Lexeme auf, deren Denotate dem heutigen Leser nur schwer erschließbar sind.
26
PETERS 1995, 3 6 3 .
Spätmittelalterliche Rechtsbücher im Ostmitteldeutschen
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Der Oberbegriff GERADE wird in allen Quellen verwendet; ausgenommen sind wieder die Schwabenspiegeltexte. In M. und in den md.-nd. Kff. steht für das Erbgut der Frau das sehr allgemeine und daneben auch in der allgemeinen Bedeutung verwendete varnde gut, in M. zusätzlich noch heymstewr.; das im Mhd. eher für 'Mitgift, Aussteuer' benutzt wird. Präfigierte und unpräfigierte Form des Oberbegriffs treten in den Texten z.T. nebeneinander auf (SCHWERIN/EBEL, WEISKE, Wolfenbütteler und Dresdner Bilderhs., PlIRAINEN Breslau), z.T. wird eine der Formen präferiert {rack. ECKHARDT, HOMEYER, PlIRAINEN Krakau, Fragmente Berlin, Brandenburg, Koblenz; gerade·. Oschatzer Willkür, Fragmente Erlangen, Krakau, Linz, Prag). Zur Gerade gehören in der Regel Haustiere: schafe und gerne, enten (nur Krakau 170a, Berliner Fragment des 14. Jahrhundert), rinder, ewigen/gei^e, sivein, di vor den hirten gen (den Zusatz haben nur PlIRAINEN Breslau und ein Fragment aus Erlangen, häufig taucht die Einheit bei morgengahe auf), veltpferde (PlIRAINEN Breslau, Krakau 170b, M., md.-nd. Kff.), himer, gefugell vögele (nur in den Schwabenspiegeltexten). Landschaftliche Differenzierung zeigen nur die bekannten Heteronyme cvjge (md.) und gei% (M.). Weiter gehören zur Gerade neben Kleidern und Schmuck verschiedene Gebrauchstextilien, aber auch Leuchter, Truhen und Sitzgelegenheiten, in der Oschatzer Willkür ingetueme genannt, Gesang- und andere Bücher für den Gottesdienst, die in vielen Texten den Frauen exponiert zugeordnet werden, zugeschnittene Stoffe, Leinen, Garn und Toilettengegenstände. Unter den letztgenannten sind die ni^kemme interessant, die nur in einigen Ssp.-Texten erscheinen ( W E I S K E , Krakau 170b, Breslau, Fragment Erlangen). Auch im Bereich gerade wird die Reihenfolge der aufgezählten Dinge von Text zu Text übernommen. In der Regel stimmen auch die Bezeichnungen überein. Abweichungen werden im Folgenden genannt. Das Handtuch heißt fast überall tivele, zuweilen daneben oder nur hanttwek, in einem Dresdener Fragment aus dem 15. Jahrhundert hanttuch. Es fehlt als Bestandteil der Gerade in den Swsp.-Texten, taucht aber beim Hergewäte auf, so dass sein überlandschaftlicher Gebrauch im Rechtsbuch bestätigt ist. Zu den Bestandteilen des Bettes gehört neben dem küssen das phul, i.e.S. ein dickes Federunterbett. In den Swsp.-Texten steht an dieser Stelle po/ster, allerdings bei der Beschreibung des Hergewätes. Vielleicht wird hier ein landschaftlicher Unterschied sichtbar, im Grimm'schen Wörterbuch gibt es dafür aber keine Bestätigung. Neben Machen/ lin lachen 'Betttuch, Bettbezug' wird in 2 Hss. (PlIRAINEN Breslau, Fragment Erlangen) slaflachen, in 2 anderen
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sper(re)lachen (Fragment Berlin 14. Jahrhundert, Krakau 170b) genannt. PlIRAINEN Breslau und die md.-nd. Kff. verwenden synonym bettegeivant., die Oschatzer Willkür und Krakau 170a deckelachen/decke. Damit stehen dem die Stoffart bezeichnenden Machen Lexeme mit eindeutiger Zweckmotivation zur Seite, die wohl jüngerem, evtl. ostmd. Sprachgebrauch entsprechen. Sachlich abzugrenzen ist colten/heuhet colter 'gefütterte Steppdecke für das Bett'. Dieses Lexem tritt nur in den beiden schlesischen Hss. und dem ihnen nahen Berliner Fragment auf. Möbelstücke heißen in allen Hss. kästen, laden und sedele, in einigen kommen auch tisch, bank und st/tl vor. PlIRAINEN Breslau hat sthoff casten, wobei Stoff 'Tuch' laut Etymologischem Wörterbuch 27 eigentlich erst ab dem 17. Jahrhundert geläufig ist; vielleicht steht das Lexem fehlerhaft für das auch im Erlanger Fragment schlecht lesbare schiffs- oder schaffskasten. Im Berliner Fragment des 14. Jahrhundert und in der Krakauer Hs. 170a erscheint soumsclmn, eine Benennung, die man heute eher im Obd. erwartet. Bei der Erwähnung von Kleidungsstücken reicht in der Regel der Passus mpliche kleider aus. Hs. Krakau 170b fügt hinzu mantel rok, mantel säum (.'mursnict*. nach nnserim det/c™ mantih^aum), mantel, surkot, rok, rockellyn. Eine Berliner und eine Breslauer Hs. des 15. Jahrhundert haben außerdem huve 'Haube' und stanthart 'weiblicher Kopfputz von übermäßiger Größe'. Für Schmuck verwendet die Oschatzer Willkür als Sammelbegriff pre^cen, ein Berliner Fragment des 14. Jahrhundert gesmide. Alle Hss. haben vingerlin (md.)/vingerne (nd.), armgolt und J~chapel, Hs. Krakau 170a außerdem bonge, die schlesischen Hss. auch geworcht golt vnd silbir, da^ ψ vrowen circle gehont. Kleiderzierat erwähnen die schlesischen Hss. und ein Berliner Fragment des 14. Jahrhundert mit vorspan 'Brustspange', mische 'Schnalle, die den Mantel am Hals hält', gurtele, von sielen geworcht, cleider mit allem gec^iig. Die Vielfalt der Benennungen an dieser und weiteren Stellen v.a. in den schlesischen Hss. lässt darauf schließen, dass die reiche Stadtbevölkerung ihren Wohlstand auch rechtlich verankert sehen wollte. In besonderer Fülle und detailliert werden in den md. Hss. aus Görlitz (1464), Berlin (1407) und Krakau 170a Hausrat und Werkzeuge aufgezählt, deren Bedeutung nicht immer klar ist: (wasch)kessel (das Kompositum findet sich auch in einem Prager Fragment des 14. Jahrhunderts), phannen, tröge, schnfe, vav^ di man welkem mac, legelin, modele, nalden, vlechtsnure, natelfoter 'Taschentücher' (?), ribbelappe, ribbeisern 'Werkzeuge zum Abreiben der Holzstückchen vom Flachs', Spillen, hede nd. 'Werg', heckele 'Hechel', ivocke (?), iveme 'Kette beim Weben'. Hier ist sicher landschaftlicher Wort-
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PFEIFER 1 9 8 9 , 1 7 2 6 .
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schätz auffindbar. In meinem Material fehlen dafür Vergleichs stellen aus anderen Dialekträumen. Mehrere Benennungen aus dem Bereich GERADE finden sich auch unter den Hyperonymen MUSTEIL, MORGENGABE und ERBE, geht es doch immer um Aufteilungsregelungen im Todesfall. Mitunter wird ausdrücklich ein Unterschied in der Zuordnung nach Landrecht bzw. Weichbildrecht erwähnt. Auch lokale Differenz in der Zuordnung von Einheiten ist im Bewusstsein der Autoren. Der Rechtsterminus MUSTEIL 'die Hälfte der Speisevorräte auf dem Hof, die bei der Erbteilung der Witwe zufallen' fehlt in den untersuchten Swsp.-Ausgaben, der zugehörige Sachverhalt wird aber kurz behandelt und mit hofespeise (M.) bzw. huspise (md.-nd. Kff.) gleichgesetzt. Diese Lexeme finden sich neben mitsteil auch in den meisten anderen Corpora, werden dort aber nur als Teil des Hyperonyms angesehen und neben Mastschweinen, Milch- und Fleischwaren sowie kufen (di ledic sin) genannt. Das letztgenannte, heute als süddt. markierte Wort haben Krakau und Breslau, aber auch ein Fragment aus Berlin. Die Fleischvorräte werden in geschroten und itngehmven unterteilt; die differente Verbwahl lässt vermuten, dass sich dahinter mehr als der Unterschied zwischen Affirmation und Negation verbirgt. Auch im Bereich MUSTEIL findet man die umfangreichsten Beschreibungen in den Krakauer und Breslauer Texten sowie im Erlanger Fragment. Die MORGENGABE 'Geschenk des Mannes an die Frau am Morgen nach dem Beilager, i.w.S. das Vermögen der Frau' 28 ist ein wichtiger, in allen Untersuchungstexten auftretender Terminus im Erbrecht. Die zugeordneten Einheiten überraschen durch ihre sachliche und lexikalische Übereinstimmung: Knecht und Magd, bestimmte Haustiere, (ge)^/ne und (ge)%i>»mere., die alte juristische Paarformel für 'Haus und Hof 2 9 . Lediglich in den Swsp.-Texten kommt mit der Nennung einer nach dem Stand des Mannes festgesetzten Geldsumme ein neuer Aspekt ins Blickfeld. Lexikalische Unterschiede treten nicht auf. Sehr differenziert ist die Beschreibung des ERBES in den meisten untersuchten Handschriften. Der Ursprungstext beschränkt sich auf nicht zu Frauenkleidern zugeschnittene Stoffe und auf unbearbeitetes Gold und Silber. Stoff wird mit lachen/linwat/gewant/tuch bezeichnet. Die allmähliche Veränderung der Lexeme wurde schon im Bereich GERADE erwähnt: lachen tritt zugunsten von gewant zurück. Nur die Wolfenbütteler und Dresdner Bilderlis. und eine Hs. aus Görlitz haben bereits tuch. Auch hier 28 29
I lier und bei anderen Bedeutungsangaben Anlehnung an LEXER 1992. GRIMM 1991,6916.
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handelt es sich eher um eine zeitliche Veränderung als eine geographische Differenzierung. Die schlesischen Texte, aber auch Fragmente aus Berlin und Prag sowie der Münchener Swsp. ergänzen die Aufzählung der Erbebestandteile beträchtlich. Hier gehören auch Haushalts- und Arbeitsgeräte, Waffen, Schmuck, Möbel, landwirtschaftliche Nutzflächen und Produkte, Vorratsgefäße, Marktstände, Zinsabgaben, Pfandschaften, Textilien, Tiere und Handelsware zum Erbe. Die dafür verwendeten Benennungen stimmen in den verschiedenen Texten nahezu überein. Varianten gibt es nur bei toppe (Krakau 170a) und groppen (Berlin), gewede (Krakau 170b) und getreid (Breslau), wopen (Prag) und geschut^de (M.). Neben kästen und laden treten tron 'Truhen' (Breslau, Krakau 170b) und Schreine (Breslau), wodurch möglicherweise Unterschiede im Bau und Gebrauch der Möbelstücke signalisiert werden, haus baka (?) (Krakau 170b) / haivßcacke (?) (PlIRAINEN Breslau) ist vielleicht die slawische Bezeichnung eines Vorratsbehälters. Zusammenfassend kann auch zu diesem Bereich gesagt werden, dass Unterschiede zwischen den verschiedenen Hss. vorrangig in der Zahl der Einheiten (2 bis 39), kaum dagegen in deren lexikalischer Form bestehen. Der Grund dafür liegt wiederum in der Tatsache, dass die elaborierten Texte des Untersuchungsmaterials v.a. aus dem schlesischen Raum kommen. Größere lexikalische Differenzierungen sollte man bei der Untersuchung von Krankheits- und Berufsbezeichnungen erwarten. Auch diese Hoffnung trog weitgehend. Krankheiten werden in einem Rechtstext zu Rechtssachverhalten, entscheiden z.B. über die Möglichkeit, eine Gerichtsfunktion ausüben oder gar König werden zu können. Deshalb sind auch diese Benennungen von Text zu Text weitergegeben und höchstens synonymisch variiert worden (innerhalb eines Textes: blint — böse oitgen, md.-nd. Kff. ane bende/vo^e — alle anderen Texte handelos / nt^elos). Außerdem geht es nur um wenige, zumeist am Allgemeinwortschatz orientierte Lexeme für Körper- und Gliederschäden. Die einzige erworbene Krankheit in den Texten heißt überall miselsucht. altvile 'Blödsinnige, Zwitter?' fehlt in den jüngeren Hss., möglicherweise wurde es nicht mehr verstanden. Neben ihm und an seiner Stelle stehen tor.; iinsinnic, sinnelos, toup. Nur in den Swsp.-Texten wird Taubheit (die niht geboren/toup) als Hinderungsgrund für die Ausübung von Rechtsgeschäften genannt. Bleiben die Berufsbezeichnungen, in der Regel die Benennungen von Handwerkern. Das Rechtsbuch i.e.S. liefert dafür kaum Belege (snider; muntrer, koitfmari). Es gehört in die spätfeudale Zeit — die höfischen Beamten Kämmerer und Kanzler werden genannt — und regelt land- und lehenrechtliche Belange, nicht die Angelegenheiten der frühbürgerlichen
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Zünfte. In den Ende des 14. / Anfang des 15. Jahrhunderts entstehenden schlesischen Belegtexten aus Breslau und Krakau (170b) sind im Weichbildrecht jedoch Handwerkerordnungen hinzugefügt. Um ihren Wortschatz mit Material aus einer anderen Landschaft vergleichen zu können, habe ich die Zwickauer Handwerkerordnungen des 14.-17. Jahrhunderts herangezogen. 30 Daraus ergibt sich folgendes Bild. Erwartungsgemäß sind die Benennungen in den beiden schlesischen Quellen nahezu identisch. Genannt werden Handwerker des Metallgewerbes in vielfältiger Aufgliederung {smit, go/t-, messirsmit, silbirbrenner, koppherworke/-worchte, messingworche/-Wirker, drotc^iher, kannen-, glockingisser; plattier 'Waffenschmied, Harnischmacher', garbreter/-wechter ,Garkoch' (?) / Rüstungmacher' (?), sarckivorche /sanvechter/-ivurchte 'Sargtischler' (?), Hersteller von Rüstungen', swertfeger 'Schwerterklingenzubereiter', brentslaher 'Feinschmied, Ziselierer', ejsenmenger 'Eisengießer'), des Textil-, Leder- und Pelzgewerbes ('sneyder.; altwelker 'Handwerker, der Altes repariert und färbt', gottler, teschner; beutler, scbucbmrke/ schu(ch)macher/ schuster/ Schubert, altbusser 'Schuhflicker', ivollemveber; loer, (iveys)gerber, loschmecher 'Hersteller von Safranleder', kursner), der Holz- und Erdverarbeitung (c^ymmerleute, tischer., (wayn)stellemacher, toppher)·, der Gewerke Nahrung und Genuss (midner; becker, brewer, welcher, gerstner (gertner (?)), weync^url, koch, knochenhaiver/fleischhawer) und des Handels (cromer, pfragner 'Klein-, Viktualienhändler', markthocke, salc^nesser, mancher, kauflute). Bezeichnungsvarianten wie -worhte/-ivirker/-machet/ -wechter oder -baiver und -slaher treten in beiden Texten auf, z.T. nebeneinander bei gleichem Erstglied, oft aber differenziert an bestimmte Erstglieder gebunden. Das jüngere -machet hat -worhte/-ivirker abgelöst. Hinter Knochen- und Fleischhauer steht ein dialektaler Unterschied, 31 obwohl beide Benennungen in der Hs. Krakau 170b verwendet werden. Die erste ist nd., während die zweite vom 12.-15. Jahrhundert in ganz Deutschland verbreitet war. Ähnliches gilt für Schumacher. Diese Form kommt in beiden schlesischen Texten vor. Krakau hat daneben sch/ichworke und das ostmd. Schubert, während in Breslau das im Südosten, Süden und in Sachsen belegte schuster auftritt. Die Berufsbezeichnungen in den Zwickauer Handwerkerordnungen sind weniger für den sprachlichen Vergleich mit den schlesischen Quellen als für den kulturell-soziologischen Vergleich geeignet. Es dominieren Bezeichnungen für Textilberufe, besonders in der Tuch- und Wollherstellung (u.a. tuchmacher, -bereiter, -einset^er, -scherer, kemler, ferber, Welcher, 'Leynweber, Spinner, Aschenmeister). Das Metallgewerbe ist eher auf praktische 30 31
SCHULZKE 1974. KUNZE 1999,112f., 125, KOHLHEIM 2000,244ff.
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als auf künstlerische Tätigkeiten ausgerichtet (fronberger/-werker, schlösse)", sporer,, kleinnagkr,, Eingmacher, Schleiffer, schmid, dorffsmid, meßerschmidt/ messerer, klingensmid, H/tffschmied, Nagellschmied, Biichsenschmied, Goldtschmiedi). Für Nahrung und Genuss gibt es nur Fleischer und Bäcker. Mehr Berufsbezeichnungen als in den schlesischen Hss. treten im Bereich Lederverarbeitung (Sattler; Rymer), Bekleidung (Hüter, Schlappenmachet) sowie Holz- und Steinhandwerk auf (u.a. buttener 'Böttcher'/Botticher, Meurer, Steynmeyt-^er, Schieffer Taffelmacher). Ganz neu sind die Berufe Bitchtritcker, Buchbinder und bitchhandler. Großschreibung der Benennungen und neuhochdeutscher Lautstand weisen einige Ordnungen ins 16./17. Jahrhundert. Wo vergleichbare Benennungen zwischen Krakau/Breslau einerseits und Zwickau andererseits vorliegen, sind die Ubereinstimmungen groß. Die beiden in den schlesischen Hss. auftretenden Berufsbezeichnungen mit Varianten zeigen auch in Zwickau Besonderheiten, fleischhawer hat die verkürzte, seit dem 14. Jahrhundert besonders im Ostmd. und im Norden Deutschlands nachweisbare Form fleyscher neben sich, die Variation hat also eine zeitlich-geographische Dimension. Eine Analogiebildung dazu kann messerer neben meßerschmidt sein. Alle Benennungen für den Schuhhersteller — schuchivrchte, schuster, Schumacher — sind im obd. und ostmd. Raum belegt. Die umgelautete Form Meurer weist ins Md. Fasst man nun die Untersuchungsergebnisse zu den einzelnen Sachbereichen zusammen, kann die anfangs geäußerte These von der Überlandschaftlichkeit großer Teile der Rechtslexik bestätigt werden. Der Drang zu weiträumiger Gültigkeit, die Handschriftengenese, das Prestige des Sachsenspiegels und des Magdeburger Rechts auch im ostmd. Raum lassen ostmd. Lexik in der zentralen Begrifflichkeit des Land- und Lehenrechts kaum zu. Allenfalls in lokalen Rechtsquellen niederer Ordnung könnte ostmd. Lexik benutzerbedingt häufiger sein. Diese Vermutung müsste jedoch noch überprüft werden. Literatur Primärliteratur Sachsenspiegel Landrecht, hg. von Karl August Eckhardt. Göttingen 1955 (13. Jahrhundert). Münchener Handschrift des Schwabenspiegels Nr. 1940, HStA München, Allgemeines StA, Staatsverwaltung, Faksimile / 2. Hälfte 14. Jahrhundert, (obd.).
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Rechtsbüchcr und Rechtsordnungen in Mittelalter und früher Neuzeit. Dresden (Sächsische Justizgeschichte 9), S. 54-74.
Zur Sprachensituation im Deutschordensland Preussen. Ein Problemaufriss Ralf G. Päsler
I. Das Ordensland Preußen ist das Ergebnis einer komplexen historischen Entwicklung am Ostrand des mittelalterlichen römisch-christlichen Europa. Auf Ersuchen des polnischen Herzogs Konrad (I.) von Masowien hatte der Deutsche Orden das Land nordöstlich von Weichsel und Drewenz ab 1231 erobert und christianisiert.1 Zu Beginn des 14. Jahrhunderts, als der Orden seinen Hauptsitz auf die an der Nogat erbaute Marienburg verlegte, hatte das Preußenland mit den pomerellisch-westpreußischen Eroberungen seine größte Ausdehnung erreicht. Im Gefolge des Ordens zogen deutsche Siedler ins Land, was eine vollständige Änderung der Infrastruktur zur Folge hatte. Die Landesherrschaft übten nach der Neuordnung der Bistümer 1243 der Deutsche Orden, die vier Bischöfe und die vier Domkapitel aus. Zusammen betrieben sie einen möglichst intensiven Landesausbau durch Anlage von Städten, Dörfern und Hofstellen. Neben den deutschen Siedlern wurde auch die jeweils einheimische Bevölkerung in diesen Landesausbau eingebunden. II. Im Preußenland trafen drei sprachliche Großgruppen aufeinander: Zum ersten die baltischen Sprachen der Prußen und in den nordöstlichen Grenzgebieten auch der Litauer. Zum zweiten waren es die slawischen Sprachen im Süden und Westen: Kaschubisch, Pommeranisch, Masurisch und vor allem Polnisch. Und drittens als neue Sprache Deutsch, und zwar
1
Zur Geschichte des mittelalterlichen Preußenlandes sei hier auf die gute Überblicksdarstellung von BOOCKMANN 2002 hingewiesen.
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hochdeutsch, besonders mitteldeutsch, und niederdeutsch. Das Niederdeutsche blieb vor allem auf Gebiete an der unteren Weichsel um Danzig und Elbing sowie die Küstenregionen begrenzt. Wenngleich anzunehmen ist, dass in nahezu allen Küstenstädten (z.B. Frauenburg, Braunsberg 2 oder Königsberg 3 ) auch ein beträchtlicher Anteil niederdeutsch sprechender Bevölkerung lebte, so erhielt das Niederdeutsche hier dennoch keinen oder einen nur sehr geringen Anteil an der Schriftsprache, die in den jeweiligen Kanzleien benutzt wurde. 4 Aus den deutschen Sprachen entwickelte sich in der Neuzeit unter Aufnahme lokaler Besonderheiten das Hoch- und das Niederpreußische. 5 Allein die Sprachen jener Bevölkerungsgruppen, denen es in der Neuzeit gelang, eigene Staaten auszubilden, wurden zu auch heute noch gültigen Literatur- und Amtssprachen. Alle anderen Sprachen gingen entweder — wie das Prußische — unter oder dienten allein der mündlichen (Alltags-)Kommunikation. Obwohl regionale Zentren für bestimmte Sprachen ausgemacht werden können, gab es große Bereiche, in denen mehrere der genannten Sprachen nebeneinander existierten. So waren in Masuren polnische und im Samland prußische und litauische \^arietäten stark — verschiedentlich sogar stärker als die deutsche — vertreten, da eine nennenswerte Ansiedlung deutschsprachiger Bevölkerung hier erst sehr spät, für den nordöstlichen Landesabschnitt sogar erst nachmittelalterlich, erfolgte. Für die Verteilung von Nieder- und Hochdeutsch im Preußenland ist die Herkunft und damit auch die sprachliche Sozialisation der Siedler von großer Bedeutung. Entlang der Küste hatte Lübeck immer wieder Einfluss auf die Errichtung und Besiedlung von Städten zu nehmen versucht. Zu erkennen ist dies an der Verleihung des — vom Deutschen Orden immer beargwöhnten — ,Lübischen Rechts' an die Städte Frauenburg, Braunsberg, Heia, Dirschau und Memel. 6 Prominentes Beispiel ist jedoch Elbing, das jahrzehntelang um dieses Recht kämpfte und gegen das Verbot des Landcshcrrn immer wieder in Lübeck um Rechtsbelehrung nachsuchte; 7 einige der Elbinger (heute Danziger) Hss. des ,Lübischen Rechts' 8 gehören zu dessen ältesten Zeugen. Für den südlichen Bereich gilt, dass die Siedler 2 3
Vgl. MITZKA 1959, 4(1. Vgl. ebd., 39.
4 5
Zu Königsberg vgl. ZlESEMER 1924, 113; MITZKA 1959, 39. Zur Entwicklung und Verteilung von Hoch- und Niederpreußisch vgl. RTEMANN 1971; WIESINGER 1971; RUSS 1967, 64ff. und Karte 47.4 bei WIESINGER 1983, 830/831. Zusammenfassend PÄSLER 2003, 224-227. (dort die ältere Literatur verzeichnet). Vgl. zusammenfassend ebd., 224-226. KORLF.N 1952, zur Hs. vgl. S. 1 lt., in der Edition unter der Sigle Ε benutzt. Zur Hs. vgl. auch PÄSLER 2003, 120f.
6 7 8
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vornehmlich aus Gebieten mit mitteldeutscher Sprache stammten, insbesondere aus Thüringen, Obersachsen, der Lausitz, Schlesien. Daraus ergibt sich für das Preußenland eine sowohl sprachlich als auch kulturell zweigeteilte Orientierung: die nordwestlichen Küstenregionen waren enger mit niederdeutschen Gebieten, speziell dem der Hanse, verbunden, während die nordöstlichen und südlichen sich nach Süden und Westen in den mittel- und darüber auch in den süddeutschen Raum richteten. Dennoch sind Städte wie Thorn, Kulm oder Königsberg, in denen Niederdeutsch nie eine bedeutende Rolle spielte, ebenfalls Hansestädte gewesen. Insbesondere Thorn bildete (auch aufgrund des zugestandenen Stapelrechts) für den hansischen Handel eine wichtige Drehscheibe zu den Ländern und Städten an der oberen Weichsel, also jene Städte und Regionen, aus denen eine Großzahl der Thorner Bürger eingewandert war. 9 Innerhalb des Preußenlandes fanden ebenfalls größere Wanderungsbewegungen statt, indem ein Teil der neuen Bevölkerung den inneren Landesausbau vorantrieb. Diese vielfältigen Einflüsse, Verschiebungen und Vermischungen sind hinsichtlich der sprachlichen Entwicklung mit zu bedenken. 1 " III. Für die mittelalterliche Phase war das Deutsche die einzige Volkssprache, die neben dem Latein eine elaborierte Schriftlichkeit ausgebildet hat. Dies lässt sich an der interessanten Tatsache ablesen, dass die ältesten polnischen und prußischen Rechtssammlungen weder in Latein noch in der jeweiligen Volkssprache, sondern auf Deutsch abgefasst waren, und zwar Mitteldeutsch. 11 Niederdeutsch in nennenswertem Umfang urkundeten nur Danzig 12 und Elbing und dies auch nur, wenn der Empfänger niederdeutschsprachig war. War der Landesherr, also der Deutsche Orden, der Empfänger, so wurden die Urkunden oder Briefe in mitteldeutscher Sprache abgefasst. Der Deutsche Orden selbst verwendete neben Latein 9 Vgl. GRABAREK 1984. 10 Zur allgemeinen Orientierung über die Siedlungsbcwegungen und die damit verbundenen sprachlichen Verhältnisse vgl. ZlESEMER 1924, ΜΙΤΖΚΛ 1959, RUSS 1967, 1-51 und RIEMANN 1971,1-6. 11 Vgl. R. G. PÄSLER: ,Polnisches Recht, dt.' ( 2 VL 11 (2004), Sp. 1251-1253) und .Preußisches Recht, dt.' (ebd. Sp. 1267-1269); jeweils mit der weiterführenden Literatur. 12 BARTH 1938, 14, 16-35; SAHM 1943. Die Arbeit von SAHM bietet jedoch allein eine Materialsammlung; eine Auswertung oder Zusammenfassung der Ergebnisse erfolgt nicht.
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fast nur Mitteldeutsch; Niederdeutsch kam nur dann zum Einsatz, wenn der Empfänger eine entsprechend hohe soziale Stellung einnahm und Niederdeutsch als Geschäftssprache benutzte, so z.B. das dänische Königshaus. Die ersten wichtigen Urkunden im Preußenland, die ,Kulmer Handfeste' von 1233 sowie deren Erneuerung von 1251, sind in Latein verfasst. 13 Insgesamt urkundete der Deutsche Orden bis weit ins 14. Jahrhundert überwiegend lateinisch. Bis 1300 ist die Anzahl deutschsprachiger Urkunden nur gering; 14 die „älteste deutsche Originalurkunde in Preußen stammt aus dem Jahre 1262".15 Der allgemeine Übergang zur deutschen Sprache bei der Urkundenausstellung erfolgte um die Mitte des 14. Jahrhunderts. Doch richtete der Orden die Sprache nach den Empfängern aus; so sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der Deutsche Orden auch russische Schreiber in seinen Reihen beschäftigte. 16 Das für das Preußenland wichtigste Rechtsbuch, der in seiner Vulgatform spätestens 1394 vorliegende ,Alte Kulm', ist in allen bekannten mittelalterlichen Handschriften mitteldeutsch überliefert. 17 Auch andere für das (spät)mittelalterliche Preußenland bedeutende Rechtsbücher sind mitteldeutsch überliefert: 18 Walther Ekhardis ,Neun Bücher Magdeburgischen Rechts' 19 oder die ,Magdeburger Fragen'2", aber auch — in der 13 14 15 16 17 18
Vgl. KISCH 1978 und Ρ \SLER 2003, 222-224. Vgl. GRUNDM\NN 1941; FORSTREUTER 1933; HEI.M / ZTF.SF.MF.R 1951, 36f. FORSTREUTER 1933, 62; vgl. GRUNDMANN 1941, 24. FORSTREUTER 1931. Vgl. PAST .ER 2003, 197, 243-252. Eine Ausnahme bilden die im Preußenland überlieferten Seerechtsbücher, die heute im Danziger Staatsarchiv aufbewahrt werden. Danzig hatte zu Beginn des 14. Jahrhunderts die Seegerichtsbarkeit für Preußen übertragen bekommen und sich daraufhin einen entsprechenden Text besorgt, ein flämisches .Seerecht von Damme'. Dieses wurde ins Niederdeutsche übersetzt. Z u d e m wurden andere Seerechte (,Visbysches Seerecht* und entsprechende Beschlüsse der Hansetage) rezipiert; diese Texte sind niederdeutsch. Diese verschiedenen Texte sowie erlassene Seerechtsurteile wurden später zu zwei Hss. zusammengebunden (vgl. PÄSLER 2003, 114-117); doch sind einige der später ergangenen Urteile mitteldeutsch, oder besser, in einem mittel- und niederdeutschen Sprachgemisch abgefasst. — Das sehr wahrscheinlich zwischen 1435 und 1454 in Danzig entstandene Rechtsbuch der .Landläufigen Kulmischen Rechte' (vgl. PÄSLER 2003, 117-120,1861"., 204f.) ist nur in mitteldeutschsprachigen Hss. bekannt, die jedoch eine Reihe niederdeutscher Kiemente aufweisen.
19 Vgl. PÄSLER 2003, 256-265. Die mitteldeutsche Sprachform gilt auch für die von Ekhardis Urfassung abhängigen Bearbeitungen, mit einer Ausnahme: die heute Rostocker I is., die die zweite Redaktion der Bearbeitung von Johannes Lose von Ekhardis Werk enthält, ist niederdeutsch. HEYDECK 2001, 74-78, hier 75, hat, obwohl die Wasserzeichenanalyse eher nach Königsberg weist, den Entstehungsort der Hs. versuchsweise — wohl aber treffend — mit Danzig angegeben, worauf zusätzlich sowohl der Einband als auch die beigebundenen Pergamentfälzel weisen. 20 Vgl. PÄSLER 2003, 252-256.
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weit überwiegenden Zahl der für das Preußenland nachweisbaren Hss. — der ,Sachsenspiegel' 21 . Der Deutsche Orden hat sich Ubersetzungen von Rechtsbüchern ins Mitteldeutsche anfertigen lassen, die Rechte innerhalb seines Herrschaftsbereichs aufzeichneten: so vom nd. ,Lübischen Recht' in Elbing (s.u.) oder vom altgutnischen ,Gotländischen Recht' 22 . Die meisten literarischen, dem Deutschen Orden als Besitzer — und wahrscheinlich auch als Auftraggeber — zugeschriebenen Hss. weisen ebenfalls mitteldeutsche Sprachform auf. Das gilt gleichermaßen für die ,Apokalypse' Heinrichs von Hesler, für die ,Prophetenübersetzung' des Klaus Krane, ebenso für das große Ubersetzungswerk der ,Catena aurea' von Thomas von Aquin 23 oder das Werk Tilos von Kulm, wie auch die ,Historien der alden e' oder das ,Passional' 24 . Doch liegt hier nicht immer reines Mitteldeutsch vor, sondern es sind zuweilen auch Einflüsse aus anderen Sprachregionen auszumachen. 25 Die o.g. Texte werden allgemein in den Kontext der Vermitdung biblischen und theologischen Wissens innerhalb des Deutschen Ordens (speziell an die Ritterbrüder) gestellt; unter diesem Gesichtspunkt könnten — auch wenn dies bislang noch nicht eindeutig zu erweisen war — die Übersetzungen von liturgischen Werken gedient haben. Hier zu nennen wäre dann die einst in der Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg vorhandene Hs. 894,26 ein mitteldeutsches Plenar, das sprachliche Nähe zu einem Königsberger Fragment 27 und dem von F E U D E L hg. Berliner Evangelistar 28 aufweist, das 1340 von Henricus de Landishut (dem späteren Ragnit) geschrieben wurde. Diese Beobachtungen bedürfen jedoch der Überprüfung. 29
21 Vgl. PAST.1 ; r 2003, passim. 22 Zur Sprachform dieses Textes und zur Leistung des Übersetzers vgl. jetzt Schmid 2006, 67f.: „Die Schreibsprache der Übersetzung ... ist ostmd. geprägt, allerdings mit deutlichen mittelnd., vereinzelt auch mittelnl. Merkmalen". 23
ZTESF.MF.R 1 9 4 2 .
24
V g l . SCHUBERT 2 0 0 6 .
25 So findet z.B. SCHRÖDER 1928 oberdeutsche Einflüsse in den .Historien der alden e'. 26 Die Hs. ist heute verschollen; vgl. PÄSLER 2000, 87f. und Ρ Λ ST,ER 2005, 49. Zur Verbreitung von neutestamentlichen Texten in deutscher Sprache im Deutschen Orden vgl. besonders LÖSER 2001. 27
Gemeint ist Hs. 3050.23, heute im Berliner Geheimen Staatsarchiv aufbewahrt; vgl. PAST,ER 2000, 173. 28 FEUDEL 1961. 29 Da die einst Königsberger Hs. 894 heute verschollen ist, muss auf Sekundäraufzeichnungen zurückgegriffen werden; eine (Teil-)Abschrift durch Joseph Haupt findet sich in der Hs. S.n. 4329, Bl. 174r-263v der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien.
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IV. Da das Mitteldeutsche im Preußenland derart eng mit dem Landesherrn, dem Deutschen Orden, verbunden war und die „Einführung" des .Mitteldeutschen quasi als staatlicher Akt verstanden wurde, entstand die These von einer mehr oder weniger einheitlichen Ordens spräche, einer Sprache, die, als sie in einigen der jüngeren der o.g. Ubersetzungen Verwendung fand, zudem auf das Neuhochdeutsche Luthers vorausgewiesen haben soll. Untersucht wurde die „Ordensspräche" vornehmlich an den zur so genannten Deutschordensliteratur 30 gezählten Werken. 31 Daraus „bildete sich nur ganz langsam eine Literatursprache von beschränkter Einheitlichkeit heraus, in welcher Hochdeutsches und Niederdeutsches, Westmitteldeutsches und Ostmitteldeutsches gemischt scheint und auch polnische Einschläge im Wortschatz nicht ganz fehlen." 32 Von „einer relativen Einheitlichkeit" spricht C A L I E B E , um dann aber auch zu konstatieren, dass „der Schreibgebrauch des Deutschen Ordens" teilhat „an der überregionalen ostmitteldeutschen Schreibsprache". 33 Einen ersten Forschungsbericht, der die bisherigen Ergebnisse knapp zusammenfasste, legte 1964 A. GACA34 vor, bevor sie sich dann der ,Prophetenübersetzung' Klaus Kranes widmete. 35 Die umfassendste Untersuchung zum Nachweis dieser Ordenssprache unternahm J O H A N S S O N ; er ging davon aus, „dass die Ordenssprache in Bezug auf Wortbildung und Wortwahl dynamischer und produktiver sei und der neuhochdeutschen Sprache näher stehe als die Sprache in anderen Dialektgebieten jener Zeit". 36 Doch scheinen die Untersuchungsergebnisse gerade dies nicht in dieser Eindeutigkeit zu bestätigen. Zwei ungewöhnlich umfangreiche Rezensionen 37 haben sich mit JOHANSSONS Prämissen sowie seinen Ergebnissen ausführlich auseinandergesetzt. Bei Unterschieden im Einzelnen kommen sie einhellig zu der Ansicht, dass die postulierte Ordenssprache so einheitlich nicht war, „daß weder Jer[oschin] noch C[lausJ C[rancj eine besondere ,Ordenssprache' schreiben, die sich erkennbar auf Luther zu entwickelte und der nhd. Schriftsprache eine entscheidende Grundlage geboten hätte, daß 30 V g l HELM / ZIESEMER 1951. Zum Begriff dezidiert PETERS 1995 u n d LÖSER 1998. 31 Vgl. die Zusammenstellung bei HF.LM / ZlF.SF.MF.R 1951, 39f. 32 HELM / ZIKSHMKR 1951, 39. 33 CALIEBE 1985, 160. 34 GACA 1964. 35 GACA 1965 u n d 1967. 36 JOHANSSON 1964, 23. 37
ROOTH 1965 und TSCHIRCH 1967.
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vielmehr Wortbildung und Wortschatz 38 der beiden repräsentativen Schriftwerke des Deutschen Ordens durchaus in die typische Ausdrucksweise der übrigen deutschen Literatur dieser Zeit eingelagert bleiben". 39 Zudem ist bei der Untersuchung literarischer Werke zu beachten, dass sie anderen Bedingungen des sprachlichen Ausdrucks unterliegen als Urkunden, Briefe oder Protokolle. Bei einigen Werken, wie etwa der ,Kronike von Pruzinlant' des Nikolaus von Jeroschin, kann davon ausgegangen werden, dass sie nicht allein für eine auf das Preußenland beschränkte Rezeption vorgesehen waren, sondern, wie es die Gesamtüberlieferung 40 auch ausweist, im Gesamtorden und im Reich Verbreitung fand. Dies könnte zu vermehrter Benutzung von allgemeiner verständlichen Formen geführt haben. Dazu dürfte die Stilebene literarischer Werke Einfluss auf Wortwahl und Syntax ausgeübt haben. Die postulierte Einheitlichkeit dieser Ordenssprache 41 wurde bereits früh bezweifelt, und spätere Einzeluntersuchungen haben sie ebenfalls nicht bestätigen können. 42 Da auch die Ordensmitglieder aus verschiedenen Regionen kamen, ist davon auszugehen, dass 1. mundartliche Eigenheiten in den jeweiligen Schriftbetrieb eingegangen sind, dass aber auch 2. nach Formen gesucht wurde bzw. solche Verwendung fanden, die allgemeiner bekannt waren. Zur Beschreibung des Sprachstandes innerhalb des Deutschen Ordens wären die von ihm erstellten Urkunden und Briefe weit bedeutungsvoller, doch sind sie dazu bisher kaum herangezogen worden. 43 Noch immer handelt es sich hierbei um eines der dringendsten Desiderate der mittelalterlichen preußischen Sprachgeschichte. Die Ergebnisse dieser Forschungen wären dann mit den aus den literarischen Werken gewonnenen zu vergleichen. 44 Die von WENTA erhobene Forderung, dass die Untersuchung der sprachlichen Gewohnheiten der Kanzleien „als Prolegomena allen Forschungen über die die typischen Merkmale der 38 Den Fremdwortgebrauch in der Deutschordensliteratur hat STROINIGG 1977 untersucht. Da die meisten seiner Fremdwortbelege lateinisches Wortgut ausmachen, bleibt zu fragen, ob dessen Gebrauch typisch ist allein für den Deutschen Orden. Vgl. auch ZlESExXlER 1923 und ZlESEMER 1924, "l 14-116. 39
TSCHTRCH 1 9 6 7 , 2 1 8 f .
40
Vgl. PÄSLER 2003, 2 7 9 - 2 8 1 sowie KLEIN / PÄSLER 2003.
41
So etwa noch ZlESEMER 1924, 112 und ders. 1928, 27; vgl. aber auch CALIEBE 1985, 215232, der nach jenen „Bereichen des Wortschatzes sucht", in denen sich „der Orden eine eigene Nomenklatur schuf" (232). 4 2 Vgl. o. zu J O H A N S S O N 1 9 6 4 und z . B . H L B N E R 1 9 1 1 , 6 3 (zudem werden S. 6 4 „schlesische Anklänge" konstatiert); G E R H A R D 1 9 2 7 , XLV. 43 Einzig bisher die v o m Umfang nicht sehr weitgehende Arbeit von WELLER (1911). 44 Vgl. u.a. CALIEBE 1985, 170-214.
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überlieferten Schriftsprache in Preußen vorangehen" 45 müssten, besteht nach wie vor. Dies gilt im Übrigen sowohl für die Ordens- als auch für die städtischen Kanzleien. Angemerkt sei noch, dass der Terminus „Ordenssprache" leicht missverständlich ist. Ohne einschränkenden Zusatz impliziert er, dass der gesamte Deutsche Orden dieses Mitteldeutsch als eine allgemein geltende Amts- und Literatursprache benutzt hätte. Gemeint ist i.d.R. jedoch die von ihm in seinem preußischen Zweig benutzte Sprache. Im benachbarten livländischen Zweig benutzte der Orden als Geschäftssprache vornehmlich Niederdeutsch, denn die Mehrheit sowohl seiner Mitglieder als auch der deutschen (städtischen) Siedler stammte aus niederdeutschsprachigen Gebieten. 46 V. Nicht im direkten Gegensatz zur Ordenssprache, aber doch in Abgrenzung dazu müssten die (Schreib-)Sprachen weiterer städtischer Kanzleien untersucht werden. Monographische Untersuchungen liegen bislang nur für Danzig 47 und Thorn 48 vor; einige kürzere Arbeiten für Elbing 49 . Doch ist die Arbeit von G R A B A R E K für Thorn erst ein Anfang, da es sich um die Untersuchung einer einzigen Handschrift handelt und die noch immer reichlich vorhandene Archivüberlieferung im Thorner Staatsarchiv (Archiwum Panstwowe w Toruniu) nicht einbezieht. Interferenzerscheinungen von Mittel- und Niederdeutsch dürften in Elbing bereits früh hervorgetreten sein. Dort vollzog sich der Übergang vom Nieder- zum Mitteldeutschen als Verwaltungssprache zu großen Teilen schon im 15. Jahrhundert, wenn nicht früher; dies zu klären ist ebenfalls noch Aufgabe der Forschung. Neben den zu untersuchenden Urkunden hat Z l E S E M E R hier erste Belege aus einem der Stadtbücher, dem Kämmereibuch, zusammengetragen. 50 Daneben könnten auch Handschriften des ,Lübischen Rechts' für Elbing herangezogen werden. War noch die erste Handschrift dieses Rechts lateinisch abgefasst, so alle folgenden deutsch. Die ältesten davon sind niederdeutsch. 51 Doch weitere 45
WENTA 2000, 250.
46
Vgl. HELM / ZlESEMER 1951, 36; ΜΙΤΖΚΛ 1959, 43-45.
47
BARTH 1 9 3 8 ; SAHM 1943.
48
GRABAREK 1984.
49
Etwa ZlESEMER 1937.
50 Vgl. ZlESEMER 1937. 51
Gdansk, A r c h i w u m P a n s t w o w e , 369,1/1 (um 1275; vgl. PÄSLF.R [2003], 120t.) u n d ebd. 369,1/2 (vom J a h r 1295; vgl. PASLER 2003, 121-123).
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Abschriften, vor allem auch solche, die die 1294 entstandene Bardewicksche Bearbeitung rezipieren, 52 zeigen den Ubergang zum Mitteldeutschen. 53 Die Quarths. 84 vom Anfang des 15. Jahrhunderts der einstigen Elbinger Stadtbibliothek (heute leider verschollen) versammelte verschiedene Rechtstexte: ,Lübisches Recht', Preußisches und Polnisches Recht sowie das so genannte ,Elbinger Vokabular' (Prußisch — Mitteldeutsch). 54 Nach übereinstimmender Forschungsmeinung handelte es sich hierbei um eine Hs. aus Deutschordensbesitz. Dies würde bedeuten, dass der Orden sich als Stadtherr von Elbing eine Version des ,Lübischen Rechts' beschafft hatte, die seinen Sprachgepflogenheiten entsprach. Da diese Hs. leider nicht mehr vorliegt, kann die Ubersetzungsleistung nicht angemessen bewertet werden. Einige Sekundäraufzeichnungen weisen auf gravierende Missverständnisse hin55 — ob es sich dabei um singulare Erscheinungen handelt oder ob sie für die Ubersetzungsleistung repräsentativ sind, ist ohne die Quellen nicht entscheidbar. Zudem macht das Beispiel dieser Hs. auf ein weiteres Problem aufmerksam, das es — verstärkt bei der sprachlichen Untersuchung von Hss. im Gegensatz zu Urkunden — zu beachten gilt: der Einfluss des/der Schreiber(s). Zu erkennen war dies am Beispiel der Übersetzung des schon erwähnten ,Gotländischen Rechts' für den Deutschen Orden (s.o.). Der Schreiber der einzig heute erhaltenen Hs. dieses Textes ist bekannt: Peter Warthenberg van Costan.56 Neben dieser Hs. stammt von ihm als Schreiber noch eine weitere, deren Sprachform nd. ist, das Ms. 2146 der Danziger Akademiebibliothek. Dies wirft die Frage auf, ob der nd. Einfluss im ,Gotländischen Recht' wenigstens zum Teil auf ihn zurückgeht. Diese Frage wäre allein durch Spezialuntersuchungen zu klären.57 Doch das Problem lässt sich verallgemeinern, da besonders der Orden in größerem Umfang Lohnschreiber beauftragt hat.
52 Vgl. PASLER 2003, 229. 53 Gdansk, Archiwum Panstwowe, 369,1/3 (um 1300; vgl. Päsler 2003, 123). — Die weiteren Hss. sind beschrieben bei PÄSLER 2003), 124£, 149£, 152-155; dort auch die ältere Literatur verzeichnet. 54 55 56 57
Zur Hs. vgl. PÄSLER 2003, 153-155 und 230-237. Vgl. PÄSLER 2003, 232f. Vgl.-zuihm PÄSLER 2 0 0 6 , 1 8 7 f . Vgl. CZAJKOWSKI 2005, 22.
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VI. Literarische Quellen, die nicht mit dem Deutschen Orden in Verbindung stehen, sind im Preußenland nicht allzu zahlreich. 58 Zudem kann bei einer Reihe von Hss. die Herkunft nicht sicher geklärt werden. 59 Umso interessanter ist deshalb eine von Hartmut BECKERS veröffentlichte Untersuchung zweier zusammengehöriger Berliner Fragmente, die „in einem unorganischen Sprachgemisch aus nieder- und hochdeutschen (genauer: ostmitteldeutschen) Riementen abgefaßt" 60 sind und als deren sprachliche Heimat er das Weichselmündungsgebiet, speziell die Stadt Elbing, annimmt. 61 Ebenfalls eine md.-nd. Sprachmischung weist das ,Kriegsbuch' des Johannes Bengedans auf, dessen Entstehung — da Bengedans um Aufnahme in den Dienst des Ordens gebeten hatte — lange Zeit im Preußenland angesiedelt und dessen Sprache als typisch für das preußische Omd. angesehen wurde. 62 Doch bietet die neuerliche Untersuchung eine andere Erklärung für dieses Sprachgemisch: Bengedans nennt sich selbst als „van greuenstein in hessen lant", also wohl aus dem nordhessischen Grebenstein kommend, einem Gebiet also, das an der nd.md. Sprachscheide liegt. Eine Anpassung an die Sprachgewohnheiten des Ordens sind wohl vor allem seine Briefe, 63 die in einem recht klaren Mitteldeutsch mit nur wenigen nd. Anklängen verfasst sind. Bisher nur unzureichend untersucht ist Ms. 2418 der Danziger Akademiebibliothek, das einige nd. Texte enthält (,Das andere Land', ,Flos und Blankflos', ,Des Kranichhalses neun Grade', ein noch nicht identifiziertes Gedicht sowie ,Der Minne Leben'). 64 Diese im Jahr 1472 angefertigte Hs. könnte aus Danzig stammen. Die Sprache ist rein nd., wahrscheinlich westlicher Prägung; eine genaue Untersuchung steht noch aus.
58 Übersicht bei PÄSJ,RR 2007, 170t. 59 So z.B. die fragmentarische Märensammlung in Toruli, UB: Rps 10/1 (vgl. PÄSLER 2000, 106-108): Außere Anzeichen deuten darauf hin, dass sie aus dem Besitz des im 16. Jahrhundert aus dem sächsischen Annaberg eingewanderten Christoph Falck stammte. Die sprachlichen Untersuchungen von WlNTERSTETTER (1922) weisen auf voigtländische Herkunft. 60
BECKERS
1980,130.
61 Vgl. ebd., 134. — Die ebd. Anm. 9 genannten Hss. / Texte können nicht als Beleg für die Danzig-Elbinger Sprachensituation gelten, da keine der beiden Hss. in dieser Region entstanden ist. 62 Vgl. PROBST in 2VL 1 (1978), Sp. 838f.; weitere Belege bei BLOSEN / OLSEN 2006, Bd. 2, 107-108. - Alles weitere zu Bengedans ebd. Bd. I, 13-18. 63 Faksimile, Transkription und Übersetzung der Briefe bei BLOSEN / OLSEN 2006, Bd. 2, 6283. 64 Zur Hs. vgl. PÄSLER 2007 mit der weiteren Literatur.
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VII. Das mittelalterliche Preußenland ist sprachhistorisch eine interessante und vielschichtige Region. Eine soziale Stratigraphie der Sprachen müsste das Deutsche nach oben stellen,65 wohl mit einer Vorrangstellung des Mittelvor dem Niederdeutschen. Die bisher erfolgten Untersuchungen zum Mitteldeutschen des Preußenlandes sind noch immer punktuell; zudem fehlt es an einer Beschreibung der Sprache nach einheitlicher Methodologie. Begonnen werden sollte mit einer umfassenden Bestandsaufnahme, erstens bezüglich der bisher durchgeführten Untersuchungen, was vor allem die darin z.T. kontroversen Meinungen einschließt, wie auch zweitens bezüglich der für weitere Untersuchungen vorliegenden Materialien. 66 Zur Untersuchung der „Ordenssprache" müssten vor allem die Materialien aus dem Ordensbriefarchiv herangezogen werden (zum größten Teil heute im Berliner Geheimen Staatsarchiv — PK). Parallel wären die archivalischen Quellen der größeren Städte zu untersuchen, wobei einige historische Querschnitte 67 angelegt werden müssten, um Entwicklungslinien nachzeichnen zu können. Mit den daraus gewonnenen Daten wären dann die literarischen Werke zu vergleichen. Erst auf dieser Basis ließen sich gesicherte Daten über die Spezifika der „Ordenssprache" und des im Preußenland verwendeten Mitteldeutschen aufdecken. Sollte dies gelingen, so zu hoffen steht, könnten auch literarhistorische Fragen z.B. bezüglich der Lokalisierung oder Datierung besser beantwortet werden. Sehr wahrscheinlich würden sich jedoch Verbindungslinien zu anderen Regionen des Mitteldeutschen ziehen lassen. Einer der interessantesten und vielschichtigsten Aspekte der preußischen Sprachgeschichte ist aber der Bereich der Übergangs- und Mischzonen innerhalb des Preußenlandes auf der einen Seite zwischen Nieder- und Hochdeutsch, aber auch auf der anderen Seite zwischen den deutschen Sprachen und den Sprachen der Einheimischen. Ebenso dürfte die Art und Weise der \ 7 erwendung des Md. im Deutschen Orden ein wichtiges Thema bilden; dies kann jedoch nur anhand der Akten studiert werden. Die Sprachgeschichte steht im Preußenland in engstem Zusammenhang mit Kultur- und Siedlungsgeschichte; dies wird die künftige Forschung weiterhin mitzubedenken haben.
65 Vgl. KOPTZF.V 2001. 66 Vgl. PETERS 1995, 38. 67 Vgl. SCHMIDTKE 2006, 567.
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Literatur Β ARTH, HANS (1938): Zur Danziger mitteldeutschen Kanzleisprache. Danzig. BECKERS, HARTMUT (1980): ,Flos und Blankeflos' und ,Von den sechs Farben' in niederdeutsch-ostmitteldeutscher Mischsprache aus dem Weichselmündungsgebiet. In: ZfdA 109, S. 129-146. BLOSEN,
HANS
/
RIKKE AGNETE
OLSEN
(Hg.)
(2006):
Das
Büchsenmeister-
und
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Zur Syntax der beginnenden muttersprachlichen Schriftlichkeit. Am Beispiel der Urkunden der Stadt Dresden aus dem 14. Jahrhundert Rainer Hünecke Einführung Mit der Überschrift sind drei Themenkomplexe angesprochen: die beginnende muttersprachliche Schriftlichkeit, die Stadtsprache von Dresden und deren Anfänge sowie die Syntax in der Textsorte Urkunde. Die einsetzende muttersprachliche oder volkssprachliche Schriftlichkeit wird in der Forschungsliteratur gern mit der Metapher der „Verschriftlichung des Lebens" umschrieben. Johannes ERBEN (1970) und wiederholt (1989) hat diese Metapher eingeführt, bezogen auf den innovativen Faktor des Buchdrucks. Von Werner BESCH (1973) wurde die Metapher aufgegriffen und auf die Situation des späten Mittelalters — also den Zeitraum 1350 bis 1500 — angewendet. Wichtige Faktoren dieser „Verschriftlichung des Lebens" sind nach BESCH: • Ubergang zur deutschen Sprache im Urkundenwesen und in der Geschäftssprache mit schließlichem „Siegeszug" des Deutschen durch alle Lebensbereiche am Ende des Frühneuhochdeutschen, • Einbeziehung „breiterer soziale Gruppen" auf Grund sozialer, wirtschaftlicher und verwaltungstechnischer Erfordernisse, • Anknüpfung an „gewisse Traditionen aus mhd. Zeit und dialektale Bindungen" 1 1992 hat GlESECKE diese Metapher erneut ins Gespräch gebracht. Er bezog sich dabei jedoch auf die beginnende deutschsprachige Fachprosa des 16. Jahrhunderts. Aussagen zur Syntax in der Textsorte Urkunde finden sich allgemein bei BESCH (1973), der auf einen „ Ausbau schon vorhandener Möglichkeiten" 2 des Mittelhochdeutschen verwies (strukturelle Trennung von Haupt- und
1
BESCH 1973, 423.
2
Ebd.,
427.
Zur Syntax der beginnenden muttersprachlichen Schriftlichkeit
109
Gliedsatz, Ausbau des hypotaktischen Satzbaus 3 ). Bei der Beurteilung der Syntax werden weniger sprachgeographische als vielmehr soziologische Faktoren wie Bildungsstand und soziale Herkunft der Schreiber, aber auch die Orientierung an den Adressaten thematisiert. ADMONI (1980) bezog in seinem Baustein-Band „Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache im Bereich des neuhochdeutschen Satzgefüges" zwar Urkunden in seine Betrachtungen mit ein, jedoch nur im Zeitraum um 1500. Er verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass die syntaktische Gestaltung dieser Texte nicht unwesentlich vom Textmuster wie auch von der Thematik abhängig sei.4 Typisch für die Textsorte Urkunde sei um 1500 „die Tendenz zur Abnahme sowohl des Ausbaus als auch des Umfangs des Satzgefüges". 5 Diese Abnahme im Umfang des Satzgefüges zeige sich darin, „dass die Zahl der Elementarsätze stärker abnimmt als die der Wortformen". 6 Gemeint ist, dass die Anzahl der abhängigen Teilsätze und damit deren Abhängigkeitsgrad abnehme und aber gleichzeitig die Anzahl der Wortformen im Teilsatz ansteigen würde. In seiner Arbeit von (1990) hob ADMONI für die Urkunde den „massenhaften Gebrauch des Satzgefüges" hervor. Diese würden „zuweilen zu überaus mehrgliedrigen und langen Gebilden" 7 ausgebaut werden. Der durchschnittliche Satzumfang in den von ihm untersuchten Urkunden betrage 62,42 Wortformen. 8 Dieser Umfang sei „höher als im Mittelhochdeutschen", aber auch nach „den Verfassern differenziert". 9 Sein Fazit: „Der Hang zu längeren Elementarsätzen ist unverkennbar". 10 EBER!·11 knüpfte an diese Aussagen an und brachte die Zunahme der Hypotaxe wie auch des Satzumfanges in Verbindung mit dem Ausbau der Verwaltung im Zeitraum 14./15. Jahrhundert. Die omd. Schreibsprach(en) waren und sind fester Bestandteil der germanistischen Sprachhistoriographie. Eine den modernen Wissensstand verpflichtete Darstellung steht noch aus. Das von SCHMID auf dieser Tagung vorgestellte Projekt soll dem abhelfen. Im Vergleich zu den Schreibsprachen des Altlandes setzte der Übergang zur muttersprachlichen Schriftlichkeit im omd. Raum relativ spät ein. Als ein erster Über3 4 5 6 7 8 9 10 11
Vgl. dazu auch ERBEN 1970, 434. Vgl. ÄDMONI 1980,332. Ebd. Ebd., 333. ADMONI 1990, 150. Vgl. ebd., 155. Ebd. Ebd., 156. Ebert 1993, 483.
110
Rainer Hünecke
bück mag die hier beigefügte Karte dienen. Es wurden die Ortspunkte Chemnitz;, Dresden, Freiberg, Kamen?, Leipzig, Löbau und Meißen ausgewählt. Der Beginn der muttersprachlichen Schriftlichkeit in den Kanzleien dieser Städte erfolgte zu Beginn des 14. Jahrhunderts in der Reihenfolge: Leipzig (1292), Freiberg (1305), Dresden (1308), Kamenz (1318), Chemnitz (1324), Meißen (1329) und Löbau (1348). Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts war in diesen Städten der mehr oder weniger vollständige Ubergang zum Deutschen erfolgt.
Abb. 1
Zur Syntax der beginnenden muttersprachlichen Schriftlichkeit
111
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann weder eine regionale Staffelung noch eine Staffelung in Hinblick auf den Städtetyp nachgewiesen werden. Auffällig ist jedoch, dass in einigen Städten ein schneller Ubergang zum Deutschen zu beobachten ist (z.B. Kamenz, Löbau, auch Chemnitz und Freiberg), während sich dieser Ubergang in anderen Städten über einen längeren Zeitraum hinweg erstreckte (vgl. Dresden, Leipzig, Meißen). Die Stadt Dresden und ihre Kanzlei Eine Untersuchung zur Stadtsprache von Dresden gibt es von FLEISCHER (1970), in die jedoch nur kanzelarische Texte aus dem 16. Jahrhundert einbezogen wurden. Der Zeitraum 14. und 15. Jahrhundert blieb unberücksichtigt. Aussagen über die Stadtkanzlei vor 1500 finden sich bei RICHTER (1885), ERMISCH (1889), FLEISCHER (1961, 1970), B O E R (1963), SCHMITT (1966). Die erste urkundliche Überlieferung Dresdens stammt aus dem Jahre 1206. 1215 erhielt Dresden die Rechte einer Stadt. In der Zeit des späten Mittelalters war Dresden eine eher unbedeutende kleine Ackerbürgerstadt mit ca. 3700 Einwohnern am Ende des 14. Jahrhunderts und gar nur 2600 Einwohnern zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Man vergleiche in diesem Zusammenhang die Einwohnerzahl von Freiberg mit 5000 und Görlitz mit ca. 8300 im 15. Jahrhundert. Anhand der Herkunftsnamen der Ratsfamilien konnte FLEISCHER (1961) zeigen, dass zwei Drittel dieser Familien aus einem Umkreis von ca. 30 km stammten. Die anderen Familien kamen aus dem Westen und Nordwesten, nicht jedoch aus Süddeutschland. Die erste Nennung eines Bürgermeisters für Dresden stammt aus dem Jahre 1292. Ein eigenständiger Stadtschreiber für Dresden wurde erstmalig 1377 genannt. Der erste namentlich bekannte Stadtschreiber ist Peter Bernher von 1380 bis 1395. 1396 wurde er Bürgermeister. Sein Nachfolger im Stadtschreiberamt war „Thomas der Stadtschreiber" von 1396 bis 1412. Ab 1413 war jener dann ebenfalls Bürgermeister bis 1432. Von 1413 bis 1437 war Nikolaus Thirmann Stadtschreiber in Dresden, danach war er von 1424 bis 1437 als Bürgermeister tätig. Nikolaus Thirmann stammte aus Meißen, studierte in Prag und war vor seinem Stadtschreiberdienst in Dresden Notar des Dekans am Domkapitel in Meißen. Von 1424 bis 1428 war Hans Radeberg Stadtschreiber in Dresden. Er wurde 1428 Ratsherr und war von 1431 bis 1448 Bürgermeister. Erst 1435 ist ein weiterer Stadtschreiber belegt: Johannes Wißhencze, der dieses Stadtschreiberamt bis 1450 betreute. Ihm folgte von 1451 bis 1464 Johannes Franck im Amt des Stadtschreibers. Danach von 1465 bis 1483 war er
112
Rainer Hünecke
Bürgermeister. Von 1464 bis 1485 war Nikolaus Syfridt Stadtschreiber. Ihm folgten von 1486 bis 1488 Matthias Fitzstrohe und Lorenz Busch von 1488 bis 1512. Die Urkundenüberlieferung von Dresden Für meine Untersuchung der Urkundensyntax habe ich mich auf die Urkunden in Dresden aus dem 14. Jahrhundert gestützt. Dabei geht es mir vor allem darum, der Frage nachzugehen, ob und wie diese sog. „Verschriftlichung des Lebens" einen Niederschlag auf die syntaktische Gestaltung des Urkundentextes hatte. Fs wurden hier nur die Urkunden in Betracht gezogen, die entweder vom Rat oder von einem Bürger Dresdens ausgestellt wurden. Das sind insgesamt 20 Urkunden, von denen jedoch nur 17 Urkunden in die Untersuchung einbezogen werden konnten, da 3 Urkunden nicht zur Verfügung standen. Von den ersten 10 Urkunden sind die Schreiber nicht bekannt. Am Schriftbild lassen sich jedoch deutlich unterschiedliche Hände erkennen (vgl. Urkunde 23, 26, 33, 50, 66 — Nummerierung folgt dem Codex diplomaticus saxoniae [CDS]). Die Urkunden mit den Nummern 82, 83, 87, 91, 99, 105 wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Stadtschreiber Peter Bernher geschrieben, die Urkunde mit der Nummer 106 von „Thomas dem Stadtschreiber", (siehe Tab. 1, Seite 113) Ergebnisse der Untersuchung Die 17 untersuchten Texte enthalten im Kerntext insgesamt 127 satzwertige Einheiten. Diese setzen sich zusammen aus 17 Einfachsätzen (13,28 %) und 110 Satzgefügen (86,72 %). Parataxe und Hypotaxe stehen sich in diesen Texten in einem Größenverhältnis von ca. 1:6 gegenüber. Hier kann man nicht mehr von einem Ausbau des hypotaktischen Gestaltungssystems sprechen, denn dieses ist bereits voll ausgebildet. Ein Vergleich mit der Situation im 17. Jahrhundert, in dem der hypotaktische Sprachbau seinen Höhepunkt erreichte, zeigt ein ähnliches Bild. Eine exemplarische Analyse eines Textes der Erbauungsliteratur aus dem 17. Jahrhundert von H Ü N E C K E (2004) kann das stützen. In dem untersuchten Text aus dem 17. Jahrhundert standen einem Einfachsatz sieben Satzgefüge gegenüber.
Zur Syntax der beginnenden muttersprachlichen Schriftlichkeit Datum
Nr. im
Aussteller/Anmerkungen
Schreiber ρ
11J
CDS 1
16.10.1308
23
Bürger von Dresden
2
22.07.1309
26
Bürgermeister und Geschworne
ρ
3
01.01.1316
33
Jacob und Johannes Grosse
?
4
07.03.1337
45
Bürger und Geschworne von
ρ
Dresden ρ
5
28.09.1343
50
Nicolaus Münzmeister
6
30.06.1352
54
Nickel und Ulrich von Maltitz
ρ
7
18.03.1362
61
Bürger und Schöffen von Dresden
ρ
8
10.11.1366
66
Fricz Kundige
ρ
9
08.01.1370
68
Hanns Münzmeister
ρ ρ
10
05.02.1373
74
Bürger und Schöffen von Dresden
11
05.12.1376
77
nicht untersucht
12
05.06.1379
80
nicht untersucht
13
07.09.1380
82
Bürger und Schöffen von Dresden
Peter Berniter
14
08.10.1380
83
Bürger und Schöffen von Dresden
Peter Berniter
15
30.11.1387
87
Bürgermeister und Räte von Dresden
Peter Berniter
16
01.12.1387
88
nicht untersucht
17
02.10.1388
91
Hans Karas
Peter Bernher
18
11.07.1394
99
Bürger und Schöffen von Dresden
Peter Bernher
19
10.11.1395
105
Bürger und Schöffen von Dresden
Peter Bernher
20
01.07.1396
106
Bürger und Schöffen von Dresden
Thomas der Stadtschreiber
l ab. 1: Überlieferung der Urkunden in Dresden im 14. Jahrhundert (Ausstellungen der Stadt)
Zunächst soll hier gezeigt werden, ob und wie in den von mir untersuchten Texten aus dem 14. Jahrhunderts der ermittelte Wert stabil ist. Dazu wurde das gewählte Jahrhundert jeweils in Dekaden unterteilt. Diese zeitliche Gliederung reflektiert auch die Quellenlage. Lediglich für die dritte Dekade des 14. Jahrhunderts liegt kein Urkundentext vor. (siehe Tab. 2, Seite 114)
114
Rainer Hünecke
Zeitraum 1. Dekade 2. Dekade 3. Dekade 4. Dekade 5. Dekade 6. Dekade 7. Dekade 8. Dekade 9. Dekade 10. Dekade
Sätze 41 5
ES 9 2
3 5 5 20 6 27 15
SG 32 3 3 4 5 18 6 25 14
-
1 -
2 0 2 1
Tab. 2: Durchschnittlicher Gebrauch der Parataxe und Hypotaxe - 14. Jahrhundert
Die tabellarische Darstellung mit den realen Untersuchungsdaten macht vor allem deutlich, dass der Gebrauch hypotaktischer bzw. parataktischer Gestaltungsmittel im 14. Jahrhundert nicht stabil war. Die Beurteilung des Untersuchungsbefundes wird allerdings durch den geringen Textumfang einzelner Urkunden erschwert, (siehe Üb. 1, unten)
Verhältnis Parataxe vs. Hypotaxe 100% 80%,
60% I c