Ordnungen des Wirklichen: Weisen des Unterscheidens in Philosophie, Künsten und Wissenschaften 9783495813782, 9783495488713


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Inhalt
Einleitung
I. Kontraste
Dramaturgische Logik
1. Verschiebungen
2. Logik und Mythos
2.1 Logik und Metaphysik: Aristoteles
2.2 Rhetorik und Poetik: Aristoteles
3. Schreiben und Text
3.1 Aktanten: Bruno Latour
3.2 Dichte Beschreibungen: Clifford Geertz
4. Spiel
4.1 Bühne: Erving Goffman
4.2 Wetten: Jacques Derrida
Bewegte Formen
1. Quadrate
1.1 Homage to the Square: Josef Albers
1.2 Farbe und Form
1.3 Grenzen als Kontraste
2. Kalkül: George Spencer Brown
3. Kontraste
3.1 Reale Synthesen: Alfred N. Whitehead
3.2 Dialektik der Grenze: G. W. F. Hegel
3.3 Bild, Form, Logik
Summende Welt
1. Asemantische und semantische Formen
2. Im Zeichen des Kreuzes
2.1 Kreuztragung Christi: Pieter Bruegel d. Ä.
2.2 Zeit, Bild, Welt
2.3 Bildform und Sehform
2.4 Bewegungsmatrix
2.5 Wesen als Übergang
3. Film und Gemälde: Lech Majewski
II. Vergleiche
Inszenierte Individualität
1. Versuchsanordnung: Disabled Theater I
2. Theater, Körper, Text
3. Organisierte Grenzen
4. Versuchsanordnung: Disabled Theater II
5. Inszenieren
Ungleiche Gleiche
1. Öffentliche Bilder
1.1 J. Edgar Hoover
1.2 J. Edgar: Clint Eastwood
1.3 Öffentlichkeit und Gerechtigkeit
2. Person und Gesellschaft
3. Individualität: Religiöse und politische Unterscheidungen
4. Modelle
4.1 Max Weber
4.2 Thomas Hobbes
4.3 Carl Schmitt
5. Ethos und Moral
Organisierte Vergleiche
1. Vergleichsordnungen: Kulturen und Märkte
2. Komplementäre Dynamisierungen
2.1 Organisation und Zeichengebrauch
2.2 Symbol und Wirklichkeit
2.3 Politik und Ökonomie
2.4 Homo oeconomicus und epistemisch-moralisches Subjekt
2.5 Generalisierte Dritte
2.6 Anschlußwahrscheinlichkeiten
2.7 Gegenwart als Grenze der Form
3. Öffentlichkeit
Unvertretbares Ich
1. Romantisches Ich und christliche Reflexion
2. Gleichnisse
2.1 Gleichnisse im Christentum
2.2 Das Gleichnis vom verirrten Schaf
2.3 Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg
2.4 Form und Kontext: Gleichnis und Evangelium
3. Philosophisch-religiöse Bilder
4. Unendlichkeiten
III. Reihen
Fotografische Reihen
1. Industrielle Bauten: Bernd und Hilla Becher
2. Menschen des 20. Jahrhunderts: August Sander
2.1 Antlitz der Zeit
2.2 Politische und ästhetische Alternativen: Helmar Lerski und Erna Lendvai-Dircksen
2.3 Typus und Urtypus
2.4 Form und Kontext, Gesicht und Accessoires
3. Wirkliches und Symbolisches
3.1 Dokumentation und Karikatur im Portrait: Otto Dix
3.2 Allgemeines und Typisches
Ästhetische Evidenz
1. Zeigen: Ludwig Wittgenstein
2. Leben: Georg Simmel
2.1 Individuelles Gesetz
2.2 Bildphänomen
2.3 Telos
3. Eidos: Edmund Husserl
4. Ideen
Wirklichkeit entwickeln
1. Heuristische Reihen
2. Darstellungsformate
2.1 Literatur: Jorge Luis Borges
2.2 Wissenschaft: Eine Argumentationsmatrix
2.3 Philosophie: Friedrich Nietzsche und Niklas Luhmann
2.4 Theater: Rimini Protokoll
3. Vergrößerung: Alfred N. Whitehead
Epilog
1. Worte, Bilder, Schlüsse: Citizen Kane
2. Ideen
3. Heuristik des Diagramms
Literatur
Namenregister
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Ordnungen des Wirklichen: Weisen des Unterscheidens in Philosophie, Künsten und Wissenschaften
 9783495813782, 9783495488713

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Dirk Rustemeyer

Ordnungen des Wirklichen

Weisen des Unterscheidens in Philosophie, Künsten und Wissenschaften

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495813782

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B

Dirk Rustemeyer Ordnungen des Wirklichen Weisen des Unterscheidens in Philosophie, Künsten und Wissenschaften

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Dirk Rustemeyer

Ordnungen des Wirklichen Weisen des Unterscheidens in Philosophie, Künsten und Wissenschaften

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Dirk Rustemeyer Orders of Reality Ways of differentiation in philosophy, arts and sciences The world of everyday life is a system of similarities. Spaces, streets, neighbourhoods, tools, shelves, bags, bins, newspapers, games or languages arrange the different to the similar. Something so different and at the same time comparable describes a culture. To explore cultures as textures of differentiation means to philosophically view the »world« as a system of the possible and the real. Paintings, theatre productions, allegories, mathematical calculations, philosophical theories and terms, a story, photographs and films serve as exemplary occasions for philosophical differentiation. Three ways of dealing with differentiations are put into relation: contrast, comparisons, and series. Contrasts organize diversity in a way that is not hierarchical, logical, deductive or inductive. Comparisons organize differences into configurations that make specific differences visible. Series organize contrasts and comparisons into a finite series of differentiations to form a whole. The limit of the whole is the limit of the series or the – provisional – end of further differentiation.

Professor Dr Dirk Rustemeyer lectures in philosophy and educational philosophy at the Universities of Trier and Witten/Herdecke. His core areas are cultural philosophy, aesthetics, social philosophy, history of philosophy.

https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Dirk Rustemeyer Ordnungen des Wirklichen Weisen des Unterscheidens in Philosophie, Künsten und Wissenschaften Die Welt des Alltags ist eine Ordnung von Ähnlichem. Räume, Straßenzüge, Nachbarschaften, Werkzeuge, Arbeitsvorgänge, Regale, Taschen, Mülleimer, Zeitungen, Spiele oder Sprachen ordnen Verschiedenes zu Ähnlichem. Was dergestalt unterschieden und vergleichbar ist, beschreibt eine Kultur. Kulturen als Unterscheidungstexturen zu entfalten, heißt »Welt« als Ordnung des Möglichen und Wirklichen philosophisch zu betrachten. Gemälde, Theaterinszenierungen, Gleichnisse, mathematische Kalküle, philosophische Theorien und Begriffe, eine Erzählung, Fotografien und Filme dienen als exemplarische Anlässe philosophischen Unterscheidens. Drei Weisen des Umgangs mit Unterscheidungen werden zueinander ins Verhältnis gesetzt: Kontraste, Vergleiche und Reihen. Kontraste ordnen Vielfalt auf eine Weise, die weder hierarchisch noch logisch, weder deduktiv noch induktiv verfährt. Vergleiche ordnen Verschiedenes zu Konstellationen, die spezifische Differenzen sichtbar machen. Reihen ordnen Kontraste und Vergleiche durch eine endliche Reihe von Unterscheidungen zu einem Ganzen. Grenze des Ganzen ist die Grenze der Reihe oder das – vorläufige – Ende weiteren Unterscheidens.

Professor Dr. Dirk Rustemeyer lehrt Philosophie und Bildungsphilosophie an den Universitäten Trier und Witten/Herdecke. Arbeitsschwerpunkte: Kulturphilosophie, Ästhetik, Sozialphilosophie, Geschichte der Philosophie.

https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48871-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81378-2

https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I.

11

Kontraste

Dramaturgische Logik . . . . . . . . . . . . . . 1. Verschiebungen . . . . . . . . . . . . . . 2. Logik und Mythos . . . . . . . . . . . . . 2.1 Logik und Metaphysik: Aristoteles . . 2.2 Rhetorik und Poetik: Aristoteles . . . 3. Schreiben und Text . . . . . . . . . . . . 3.1 Aktanten: Bruno Latour . . . . . . . 3.2 Dichte Beschreibungen: Clifford Geertz 4. Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Bühne: Erving Goffman . . . . . . . 4.2 Wetten: Jacques Derrida . . . . . . .

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21 21 24 24 28 38 38 46 50 50 54

Bewegte Formen . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Quadrate . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Homage to the Square: Josef Albers . 1.2 Farbe und Form . . . . . . . . . . . . 1.3 Grenzen als Kontraste . . . . . . . . 2. Kalkül: George Spencer Brown . . . . . . 3. Kontraste . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Reale Synthesen: Alfred N. Whitehead 3.2 Dialektik der Grenze: G. W. F. Hegel . 3.3 Bild, Form, Logik . . . . . . . . . . .

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60 60 60 63 68 72 81 81 83 87

7 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Inhalt

Summende Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Asemantische und semantische Formen . . . . 2. Im Zeichen des Kreuzes . . . . . . . . . . . . 2.1 Kreuztragung Christi: Pieter Bruegel d. Ä. 2.2 Zeit, Bild, Welt . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Bildform und Sehform . . . . . . . . . . 2.4 Bewegungsmatrix . . . . . . . . . . . . 2.5 Wesen als Übergang . . . . . . . . . . . 3. Film und Gemälde: Lech Majewski . . . . . . .

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. 90 . 90 . 91 . 91 . 93 . 97 . 104 . 109 . 113

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123 123 129 136 140 144

Ungleiche Gleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Öffentliche Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 J. Edgar Hoover . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 J. Edgar: Clint Eastwood . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Öffentlichkeit und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . 2. Person und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Individualität: Religiöse und politische Unterscheidungen 4. Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Max Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Thomas Hobbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Carl Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ethos und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

150 150 150 155 161 163 171 174 174 178 179 181

Organisierte Vergleiche . . . . . . . . . . . . . 1. Vergleichsordnungen: Kulturen und Märkte 2. Komplementäre Dynamisierungen . . . . 2.1 Organisation und Zeichengebrauch . . 2.2 Symbol und Wirklichkeit . . . . . . .

185 185 193 193 196

II. Vergleiche Inszenierte Individualität . . . . . . . . . . . 1. Versuchsanordnung: Disabled Theater I 2. Theater, Körper, Text . . . . . . . . . 3. Organisierte Grenzen . . . . . . . . . 4. Versuchsanordnung: Disabled Theater II 5. Inszenieren . . . . . . . . . . . . . .

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8 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

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Inhalt

2.3 Politik und Ökonomie . . . . . . . . . . . . . 2.4 Homo oeconomicus und epistemisch-moralisches Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Generalisierte Dritte . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Anschlußwahrscheinlichkeiten . . . . . . . . . 2.7 Gegenwart als Grenze der Form . . . . . . . . 3. Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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200 204 206 208 210

Unvertretbares Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Romantisches Ich und christliche Reflexion . . . . 2. Gleichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Gleichnisse im Christentum . . . . . . . . . 2.2 Das Gleichnis vom verirrten Schaf . . . . . . 2.3 Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg 2.4 Form und Kontext: Gleichnis und Evangelium 3. Philosophisch-religiöse Bilder . . . . . . . . . . . 4. Unendlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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216 216 228 228 233 237 243 247 250

Fotografische Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Industrielle Bauten: Bernd und Hilla Becher . . . . . . . 2. Menschen des 20. Jahrhunderts: August Sander . . . . . 2.1 Antlitz der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Politische und ästhetische Alternativen: Helmar Lerski und Erna Lendvai-Dircksen . . . . . . . . . 2.3 Typus und Urtypus . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Form und Kontext, Gesicht und Accessoires . . . . . 3. Wirkliches und Symbolisches . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Dokumentation und Karikatur im Portrait: Otto Dix 3.2 Allgemeines und Typisches . . . . . . . . . . . . .

259 259 265 265

Ästhetische Evidenz . . . . . . . . 1. Zeigen: Ludwig Wittgenstein 2. Leben: Georg Simmel . . . . 2.1 Individuelles Gesetz . . 2.2 Bildphänomen . . . . . 2.3 Telos . . . . . . . . . .

302 302 307 307 310 312

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. . 198

III. Reihen

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270 275 280 292 292 298

9 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Inhalt

3. 4.

Eidos: Edmund Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

316 322

Wirklichkeit entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . 1. Heuristische Reihen . . . . . . . . . . . . . . 2. Darstellungsformate . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Literatur: Jorge Luis Borges . . . . . . . . 2.2 Wissenschaft: Eine Argumentationsmatrix 2.3 Philosophie: Friedrich Nietzsche und Niklas Luhmann . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Theater: Rimini Protokoll . . . . . . . . . 3. Vergrößerung: Alfred N. Whitehead . . . . . .

. . . . . 333 . . . . . 338 . . . . . 342

Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Worte, Bilder, Schlüsse: Citizen Kane 2. Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Heuristik des Diagramms . . . . . .

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Literatur

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325 325 325 325 329

346 346 358 364

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Namenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379

10 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Einleitung

Die Welt des Alltags ist eine Ordnung von Ähnlichem. Ensembles des Vertrauten finden sich überall. Räume, Straßenzüge, Nachbarschaften, Werkzeuge, Regale, Taschen, Mülleimer, Länder, Spiele, Arbeitsvorgänge oder Sprachen ordnen Verschiedenes zu Ähnlichem. Regionen der Nähe oder Ferne, des mehr oder weniger Vertrauten entstehen. Zeitungen oder Fernsehen zeigen in ihren Arrangements Welt als Ordnung dessen, was zusammen vorkommt. Sie erzeugen Ontologien des Normalen. Was dergestalt unterschieden und vergleichbar ist, beschreibt eine Kultur. Grenzen einer Kultur machen sich als Grenzen der Vertrautheit bemerkbar: Wir wissen dann nicht mehr, wie es weitergeht, welche Übergänge angemessen sind, wo wir suchen sollen, wozu etwas dienlich ist oder gegen welche Erwartungen gerade verstoßen wurde. Werden jedoch Leder, Autoreifen, Holz, Stoff, elektrische Kabel und Ölfarbe auf 226,3 mal 182,8 cm miteinander verbunden und in einem Museum ausgestellt, erscheint diese Gesellschaft von Dingen als rätselhaftes Zeichen, auch wenn wir es gewohnt sind, innerhalb der Rahmenbedingungen von »Kunst« Ungewöhnliches zu sehen. Robert Rauschenbergs Arbeit »First Landing Jump« (1961) ordnet Verschiedenes in einer – auf den ersten Blick – ordnungslosen, weil unverständlichen Ordnung so an, daß die klassische Form des Bildes gesprengt wird. Auf den Bildträger montierte Gegenstände ragen über die Bildfläche und reichen bis auf den Boden. Autoreifen und Holzplanke sind so angebracht, daß sie an das Fahrgestell eines Flugzeugs erinnern. Betrachter benötigen Zeit, um Einzelheiten und Komposition der Arbeit zu erfassen. Was im alltäglichen Sehen ungewöhnlich ist, verlangt die Betrachtung eines Kunstwerkes: Wir müssen uns vor dem Objekt hin und her bewegen, Einzelheiten aus der Nähe und in größerem Abstand anschauen, Elemente identifizieren und Bedeutungsbezüge erwägen. Warum stört ein Combine painting die gewohnte Ordnung der Welt? »There is no more subject in a 11 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Einleitung

combine than there is in a page from a newspaper. Each thing that is there is a subject. It is a situation involving multiplicity.« 1 Befremdend wirkt die Unterscheidungsordnung des Combine paintings, weniger die Gegenstände, die es versammelt. Leder, Autoreifen, Holz oder Kabel sind vertraute Gegenstände. Auch das Nebeneinander von Flugzeugunglücken, Werbeanzeigen, Politikerstatements, Kriegsgräueln, Naturkatastrophen, Skandalgeschichten oder Sportereignissen, das in Zeitungen oder im Fernsehbild begegnet, mutet normal an. Objekte wie Combine paintings machen diese Vertrautheit befremdlich. Doch was tun sie anderes, als Welt zu ordnen? »I have no aim«, sagt Rauschenberg über seine Arbeit. »I wish to integrate into my canvas objects of life, no matter what they are.« 2 Betrachter solcher Arbeiten müssen darangehen, Ordnungen zu entfalten, die in der Kombination von Ähnlichem und Verschiedenem wirksam sind. Farbliche Kontraste gehören ebenso dazu wie Assoziationsspiele, Gegenstandsfunktionen oder Flächenproportionen. »Hinter« der sichtbaren und denkbaren Ordnung des Objekts allerdings brauchen sie nicht nach Bedeutungen zu suchen. Rauschenbergs Combine paintings bleiben Welt-Bilder: Oberflächen, denen Betrachter gegenübertreten, um sich zu ihnen – und zu sich selbst – ins Verhältnis zu setzen. Weder erklären im Objekt versammelte Materialien die Person des Künstlers noch repräsentieren sie eine logische Ordnung. Vielmehr machen sie auf ein alltägliches Sehen aufmerksam, das wegen seiner Selbstverständlichkeit leicht übersehen wird. Gehen wir durch eine Straße, nehmen wir verschiedene Dinge und Beziehungen zwischen ihnen wahr, ohne sie explizit zu thematisieren. Combine paintings machen solche Wahrnehmungen reflexiv, indem sie zugleich auf den Betrachter, die Versammlung von Dingen im Objekt und auf Welt verweisen. Betrachtern fällt die Aufgabe zu, kontrastierende Ordnungsmöglichkeiten zu aktivieren und zu vergleichen. Sie durchlaufen Unterscheidungsordnungen, die Verschiedenes ähnlich und vergleichbar machen. Mit einem beliebigen Element der Bild-Ordnung wird begonnen, und eine logisch unerklärCage, J.: On Robert Rauschenberg, Artist, and His Work. In: Ders.: Silence. Lectures and Writings (1961). Hanover 1973, S. 98–1009, hier S. 99. 2 Rauschenberg in einem Interview mit André Parinaud 1961. Zitiert nach Zweite, A.: »Kunst soll kein Konzept haben.« Anmerkungen zu Rauschenbergs Werk in den 50er und 60er Jahren. In: Robert Rauschenberg. Hrsgg. v. Armin Zweite und Hiltrud Reinhold. Köln 1994 (Katalog der Ausstellung in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, 7. 5.–10. 7. 1994), S. 17–60. 1

12 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Einleitung

bare Reihe von Vergleichen bahnt sich an. Wenn die Betrachtung an ihr Ende gelangt, hat sich weder ein Resultat eingestellt noch ist eine Definition aufgestellt worden. Auf Intention oder Ausdruck des Künstlers kommt es sowenig an wie auf das Entziffern einer Logik der Dinge. Worauf Betrachter stattdessen aufmerksam werden, ist die Tätigkeit des Vergleichens und des Vollziehens von Unterscheidungen. Wie der Künstler werden Betrachter der Combines zu Komplizen der Ordnung von Ordnung und Unordnung, indem sie »multiplicity, variety, and inclusion« ins Verhältnis setzen. 3 Differenzen zwischen Wahrnehmung und Reflexion, Welt und Unterscheidung, Leben und Kunst werden bemerkbar. 4 In diesem Sinn fordern Combine paintings zu theoretischem Verhalten auf. Für mich sind Rauschenbergs Combines glückliche Beispiele dafür, was ich in diesem Buch explizieren möchte: ein Ordnen von Unterscheidungen, um scheinbar Vertrautes der Reflexion zu erschließen. Combine paintings betrachte ich deshalb als gute Anlässe für philosophisches Arbeiten. Sie lenken unser Augenmerk auf die Frage, was es bedeutet, sich zur Welt ins Verhältnis zu setzen. Gewiß kann dies auf verschiedene Weise geschehen – die Philosophie ist reich genug an Beispielen. Philosophen tun offensichtlich nicht dasselbe wie Künstler. Aber die Weise, in der philosophische Reflexionsarbeit sich von künstlerischen Herangehensweisen unterscheidet – was sie ähnlich und verschieden sein läßt –, ist von philosophischem Interesse. Beide erzeugen Unterscheidungen und bahnen Übergänge an, sie trennen und verbinden, was sie unterscheiden. Welche Art von Zeichen sie dazu verwenden, macht allerdings erhebliche Unterschiede. Während Philosophen in der Regel sprechen oder schreiben, bringen bildende Künstler wie zum Beispiel Rauschenberg verschiedene Dinge zusammen. Combine paintings sind wunderbare Modelle für Zeichenfunktionen. Mit Hilfe von Zeichen entstehen Darstellungen, in denen Welt reflexiv zugänglich, fragend erschlossen und auf andere Möglichkeiten hin beobachtbar wird. Zeichen unterscheiden etwas, versammeln es, machen es in Ordnungen vergleichbar und setzen Ordnungen in Kontraste zueinander. In dem Maße, wie sie Welt als

»Mulitplicity«, »variety« und »inclusion« beschreibt Rauschenberg als übergreifende Themen seiner Arbeit. Vgl. Tomkins, C.: Off the Wall. Robert Rauschenberg and the Art World of Our Time. Garden City, N.Y. 1980, S. 182. 4 »Painting relates to both art and life. Neither can be made (I try to act in the gap between the two).«- Zitiert nach Tomkins, C.: Off the Wall. A. a. O., S. 183. 3

13 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Einleitung

kulturelle Ordnung des Vergleichbaren entwickeln und erschließen, durchkreuzen sie den Traum vom Wissen als einer Ordnung logischer Beziehungen, die einem Sein der Dinge entspricht. Was etwas ist, zeigt sich in der Reihe von Unterscheidungen, die es bestimmen. Solche Unterscheidungen setzen Verschiedenes jeweils in bestimmte Verhältnisse. Indem sie Worte zu Texten kombinieren, Autoreifen, Farbe und Leinwand arrangieren, Töne und Geräusche ordnen oder Figuren auf einer Bühne oder Leinwand in Bewegung versetzen, entstehen präzise, beobachtbare und von allem, was sie jeweils nicht sind, unterscheidbare Ordnungen. Verschiedenes machen sie ähnlich und Ähnliches vergleichbar. Bezeichnetes steht in Kontexten des jeweils Unterscheidbaren: einer Kultur. An die Stelle der Frage nach Wahrheit oder dem Was-sein von etwas tritt das experimentelle Erproben von Unterscheidungen: Wie verschieden kann etwas sein, um ähnlich gemacht zu werden? Wieviel Verschiedenheit und Ähnlichkeit vermag eine Darstellung zu kombinieren? Welche Unterscheidungsoptionen kann sie nutzen, um Verschiedenes und Ähnliches zu instruktiven Kontrasten zu ordnen? In diesem Buch möchte ich eine Antwort auf die Frage vorschlagen, wie Philosophie als Praxis der Reflexion auf Kultur verfahren kann. Kultur betrachte ich als Form, in der »Welt« in sich thematisch und vergleichbar wird. Sinnbildungen, mit denen solche Vergleiche in Gang kommen, sind diagrammatischer Natur: Sie kombinieren unterschiedliche Zeichenarten, ähnlich einem Combine painting. Es geht mir nicht um eine Philosophie »der« Kultur, sondern um eine demonstrierende Reflexion auf Arbeitsweisen philosophischer Darstellungen, die aus der Form der Kultur Konsequenzen ziehen. Mein Vorschlag lautet, Philosophie als Darstellungspraxis zu verstehen, die sich einer Heuristik der Zeichenfunktion bedienen kann, um diagrammatische Sinnbildungen zu Darstellungen zu arrangieren, die Verschiedenes und Ähnliches zu Vergleichbarem kombinieren. Weil sie weder logisch zu deduzieren noch induktiv auf dem Wege von Verallgemeinerungen zu erarbeiten ist, muß sie empirisch an Beispielen entfaltet werden. Gemälde, Theaterinszenierungen, Gleichnisse, mathematische Kalküle, philosophische Theorien und Begriffe, eine Erzählung, Fotografien und Filme dienen mir als exemplarische Anlässe philosophischen Unterscheidens. Drei Weisen des Umgangs mit Unterscheidungen setze ich zueinander ins Verhältnis, um die Heuristik diagrammatischer Darstellungen zu erläutern: Kontraste, Vergleiche und Reihen. Gemeinsam beschreiben sie Dimensionen einer 14 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Einleitung

darstellenden Reflexionspraxis, die für ihre Materialien sensibel bleibt. Kontraste ordnen Vielfalt – »multiplicity« – auf eine Weise, die weder hierarchisch noch logisch verfährt. Vergleiche ordnen Verschiedenes – »variety« – zu Konstellationen, die spezifische Differenzen sichtbar machen. Reihen – »inclusion« – ordnen Kontraste und Vergleiche durch eine endliche Reihe von Unterscheidungen zu einem Ganzen. Grenze des Ganzen ist die Grenze der Reihe oder das – vorläufige – Ende weiteren Unterscheidens. Reihen ordnen etwas zu Folgen, ohne einem numerischen oder chronologischen Prinzip zu unterliegen. Ordnungen zu entfalten heißt, Grenzen zu ziehen, um Vergleiche durch Kontraste anzubahnen, deren Vollzug keiner reinen Logik gehorcht. Form und Inhalt dieses Buches geben dafür ein Beispiel. Obwohl es exemplarisch verfährt, ist sein Anliegen ein systematisches. Es schlägt vor, »Theorie« als eine Praxis zu verstehen, die innerhalb empirischer Grenzen Verschiedenes ähnlich macht und damit einer Reflexion zuführt. Seine Durchführung ist empirisch, weil es keine abstrakte Logik solcher Ordnungen gibt. Es kommt darauf an, eine Heuristik des Unterscheidens an Beispielen vorzuführen, die so exemplarisch wie kontingent bleiben. Plausibilität soll durch die Verschiedenheit und Ähnlichkeit des Unterschiedenen und durch die Transparenz der Operationen des Unterscheidens entstehen. Ohne logische Evidenz zu reklamieren oder zufälligen Kombinationen zu entspringen, bleibt Plausibilität in Erfahrung fundiert. Durch ihren Erfahrungsbezug appellieren Ordnungen des Vergleichs, die von jemandem arrangiert werden, an jedermann. Kontraste, Vergleiche und Reihen organisieren die Kapitel dieses Buches zu drei thematisch akzentuierten Teilen. Wie ich anhand der Beispiele zeigen möchte, organisieren Kontraste, Vergleiche und Reihen nicht nur eine Heuristik der Darstellung als einer Beschreibung. Sie finden sich ebenso in der Sache, um die es jeweils geht. Reflexions- und Gegenstandsbezug schließen sich in diesen Ordnungen zusammen. Deshalb halte ich sie für geeignet, auch die moderne Kultur zu beschreiben. Jedes Kapitel der drei Teile des Buches ordnet in seiner Darstellungsform spezifische Kontraste, wobei jeweils »Kontraste«, »Vergleiche« und »Reihen« auf besondere Weise thematisch werden. Als ganzes ist das Buch als Reihe von Kontrasten, Vergleichen und Reihen aufgebaut. Zwar verfolgt es keine lineare Argumentation, entfaltet jedoch seinen Gedanken so, daß er sich sukzessive anreichert und erläutert. Lesern schlägt es eine Reihenfolge der Lektüre vor, 15 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Einleitung

ohne sie darauf festzulegen. Als ganze ist die Reihe, die das Buch arrangiert, eine offene Folge von Kontrasten und Vergleichen. Die Ordnung des Ganzen verweist auf Tätigkeiten des Ordnens. Umgekehrt gewinnt Ordnung als allgemeiner Begriff Sinn erst durch die Frage nach spezifischen Weisen des Geordnetseins. Die Darstellung dieses Buches verfährt exemplarisch, systematisch und historisch. Darin sehe ich ihren heuristischen Wert. Exemplarisch ist sie, weil an Besonderem Allgemeines zutage tritt. Die Beispiele sind in meinen Augen aufschlußreich, ohne erschöpfend sein zu wollen. Systematisch ist die Darstellung, weil sie Form und Inhalt der Überlegungen aufeinander bezieht. Historisch ist sie, weil eine Bewegung vorgeführt wird, die genealogisch zur Gestalt der Gegenwartskultur geführt hat. Experimentell bleibt diese Reihe von Kontrasten und Vergleichen, indem sie die Heuristik philosophischen Arbeitens, die sie vorschlägt, an Beispielen erprobt, die fortgesetzt werden können. Unvermeidlich geht es damit auch um die Frage, was »Philosophie« sei. Weder zielt diese Frage auf eine Definition noch auf ein Ende des Fragens. Eher handelt es sich darum, das Fragen als genuine Leistung philosophischer Reflexion und als Antwort auf die Frage nach der Philosophie zu entfalten. Meine Antwort auf diese Frage lautet, vorgreifend und in sehr knapper Form: Philosophie können wir als eine Praxis des fragenden Erschließens von Welt betrachten, das auf jeweilige Gegebenheitsweisen von Welt antwortet. Welt tritt durch Tätigkeiten des fragenden Bestimmens in ein Verhältnis zu sich selbst. Wirkliches wird auf seine Möglichkeiten hin expliziert. Wenn Max Weber die Geschichte der abendländischen Wissenschaften als Prozeß einer Entzauberung schildert, möchte ich Philosophie als eine theoretische Praxis der Verzauberung der Welt ins Spiel bringen. Symbolische Ordnungen verzaubern die Welt, indem sie diese in sich selbst unterscheidbar machen. Weil es um Welt geht, geht es um Vergleiche. Wer Vergleiche anstellen möchte, muß unterscheiden. Er muß Unterscheidungen auf die Unterschiede hin vergleichen, die sie machen. Eingespielte Gegensätze lassen sich auf diese Weise vermeiden. Die Unterscheidung von Substanz und Eigenschaften gehört ebenso dazu wie der Gegensatz von Subjekt und Objekt oder derjenige von Intelligiblem und Sinnlichem. Nicht zuletzt können wir scheinbare Alternativen wie die von Logik und Ästhetik oder die von Wahrnehmung und Kommunikation auf die Liste zu vermeidender Begriffsklischees setzen. Stattdessen geht es um Prozesse. Prozesse 16 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Einleitung

erzeugen Bestimmtheiten: Formen. Sie realisieren sich in Materialien, bauen Ordnungen des Wahrscheinlichen auf, strukturieren Erwartungen und schaffen Möglichkeiten des Vergleichs, indem sie Reihen symbolischer Transformationen anbahnen. Ihr Sein ist ihr Vollzug. Darum spreche ich von performativen Formen. Performative Formen erzeugen, was sie unterscheiden. Sie ordnen Welt.

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I. Kontraste

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Dramaturgische Logik

1.

Verschiebungen

Beginnen möchte ich den Gedankengang dieses Buches mit Kontrastierungen philosophischer Texte. Fünf Argumentationsfiguren entfalten Koordinaten einer Heuristik der Darstellung. Gelesen als Tableau möglicher Unterscheidungsordnungen, legt die Reihe dieser Figuren kontrastive Vergleiche des jeweils Ähnlichen und Verschiedenen nahe. Strenge Unterschiede zwischen Dingen und Handlungen, Logik und Poetik wirken entbehrlich. Das so entstehende Bild eines historisch geordneten Text-Raumes verdankt sich systematischen Vergleichsgesichtspunkten. Einen kulturellen Verweisungsraum schließen diese von innen her auf, ohne daß sie selbst ausschließlich historisch-philologischen Entwicklungslinien entspringen. Logik und Poetik (Aristoteles), Schreiben und Text (Bruno Latour und Clifford Geertz), Bühne und Wette (Erving Goffman und Jacques Derrida) werden als verschiedene Optionen der Reflexion auf Darstellungen einander so ähnlich, daß sie, als Prozesse des Arrangements von Unterscheidungen, den Blick auf das jeweilige Ganze einer Kultur freigeben. Die Aristotelische Philosophie entfaltet ein Textkorpus, das in mehreren Hinsichten Fragen des angemessenen Unterscheidens, des Zusammenhangs von Unterscheiden, Logik und Sprache sowie des Verhältnisses von Ding- und Handlungserkenntnis untersucht. »Metaphysik«, »Poetik« und »Rhetorik« analysieren das Verhältnis von Denken, Sagen und Alltäglichkeit. Darin geht es um Fragen der Logik im Blick auf Gegenstände und Handlungen. 1 Vor allem die Poetik Manchmal konnte der Eindruck aufkommen, zwischen diesen Texten bestünde eine Differenz, die sie von »modernen« Denkweisen trennt. Dazu hat erheblich beigetragen, daß die Poetik erst spät bekannt wurde, nur teilweise überliefert ist und in anderen Kontexten diskutiert wurde als die Metaphysik. Vgl. zur Rezeption der Poe-

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Dramaturgische Logik

bietet vielversprechende Beobachtungen für eine Heuristik der Darstellung, ist sie doch weit mehr als nur eine Theorie der Tragödie. Unter anderem eröffnet sie einen Blick auf die Metaphysik, der auch die Logik von Aussagen und Urteilen als einen – jeweils gesellschaftlich situierten – Unterscheidungsprozeß zu betrachten erlaubt. »Metaphysik« einerseits, »Rhetorik« und »Poetik« andererseits miteinander zu kontrastieren, ermöglicht einen Vergleich zwischen Erkenntnisweisen und Darstellungsformen. Unter dieser Perspektive erscheinen »Poetik« und »Rhetorik« als Reflexionsmodelle des Sozialen. Theater und Erkenntnis treten in ein enges Verhältnis. Eine solche Lektüre der Aristotelischen Texte lädt zu Vergleichen mit der Soziologie Bruno Latours ein. Latours Schriften lese ich als Antwort auf eine klassische philosophische Problemstellung und als Anknüpfung an die Aristotelischen Überlegungen zur Poetik. Latour hat der Trennung zwischen Handlungen und Gegenständen ein Konzept der Beschreibung gegenübergestellt, das beide in Darstellungen miteinander verknüpft. Demzufolge läßt sich über Dinge besser sprechen, wenn sie als Aktivitäten – als Aktanten – beschrieben werden. Handlungen stellen sich als Knoten zwischen Unterscheidungsprozessen dar, die Dinge miteinander verbinden und Gesellschaften aller Art konstituieren. Schreibend organisieren Beobachter Form-Kontext-Verhältnisse, die ihnen helfen, Welt zu verstehen, ohne sie kausal erklären oder aus Gesetzen ableiten zu müssen. Indem Latour Dingen einen Zugang zur Theorie des Sozialen verschafft und die epistemologische Differenz zwischen Gegenständen und Handlungen unterläuft, lädt er dazu ein, Aristoteles’ Poetik wie einen Kontext zur Formlogik der Metaphysik zu betrachten. Latours Konzept soziologischer Forschung stellt eine wissenstheoretische Weiche neu, die den Kern der Ontologie und Repräsentationstheorie berührt. Es verzichtet jedoch auf die Konstruktion eines »Mythos«, der für die Aristotelische Poetik wesentlich ist. Das Ende einer Beschreibung resultiert weniger aus einer Grenze als aus einer pragmatischen Entscheidung, Prozesse nicht weiterzuverfolgen. Solche Fragen verbinden die Soziologie Bruno Latours mit der Ethnographie von Clifford Geertz. Geertz’ Auffassung von Ethnogra-

tik in der Literaturwissenschaft Schmitt, A.: Die Literatur und ihr Gegenstand in der Poetik des Aristoteles. In: Buchheim, Th./Flashar, H./King, R. A. H. (Hrsg.): Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles? Hamburg 2003, S. 184–219.

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Verschiebungen

phie zielt darauf ab, Wirkliches im Modus des Schreibens zu erkennen. Um Unterschiede zu sehen und verständlich zu ordnen, fertigen Beobachter Darstellungen an, in denen Sachen und Handlungen, Wissen und Gefühle, natürliche und soziale Gemeinschaften zusammenkommen. Im Kontext symbolischer Ordnungen bringen Beobachter Verschiedenes so zusammen, daß es die Komplexität einer Kultur erhellt. Geertz’ Konzept »dichter« Beschreibungen fügt dem Verständnis von Theorie als einer Praxis des Darstellens einen Gesichtspunkt hinzu, der wiederum eine aristotelische Frage aufgreift: Als »dicht« gelten Darstellungen, die an einem exemplarischen Material möglichst komplette Relationierungen kultureller Unterscheidungsformen durchlaufen. »Allgemeinheit« dürfen sie beanspruchen, weil sie ein besonderes Phänomen ins Auge fassen. Allgemeines und Besonderes erscheinen weniger als logische Kategorien oder ontologische Klassen. Eher treten sie in konkreten Vollzügen zueinander ins Verhältnis. Zuschauer oder Leser ermutigen sie zu weitreichenden Vergleichen, die das Ganze einer Kultur berücksichtigen. »Dichte« Beschreibungen entfalten exemplarische Zusammenhänge einer Kultur. Das verbindet sie mit manchen Theaterstücken. Nun hat Erving Goffman vorgeführt, was es heißt, das Theater als Metapher des Sozialen ernstzunehmen, ohne es mit dem Gegenstand in eins zu setzen. Goffmans metaphorische Redeweise vom Theater ermöglicht einen differenzierten Blick auf Zusammenhänge zwischen Wirklichkeit und Darstellung. Überlegungen von Bruno Latour und Clifford Geertz fügt er einen methodologisch wichtigen Aspekt hinzu. Dieser Aspekt zielt auf die Frage der Identität im Verhältnis zu einem Kontext, in dem mögliche Unterscheidungsweisen mit komplementären sozialen Perspektiven im Blick auf Beobachter ins Verhältnis treten. Theater-Spiele betrachtet Goffman als Interaktions-Spiele zwischen Ego und Alter. Beschreibungen lassen sich als Züge in einem Spiel des Unterscheidens auffassen. Der Gedanke des Spiels bietet eine Alternative zu den Modellen des Systems oder der Totalität an. In Unterscheidungsspielen erweisen Formen ihre Wirklichkeit, weil sie Substitutionsmöglichkeiten ausnutzen, die keine finale Beschreibung zulassen. Jacques Derrida greift das Motiv des Spiels auf, indem er Unterscheidungsordnungen als Zeichenprozesse betrachtet. Begriffliche Ordnungen »sind« demnach als Prozesse zu verstehen, die aus Ketten einander supplementierender Unterscheidungen resultieren. An die Stelle von Identität tritt Differenz. Statt von Sache und Repräsenta23 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Dramaturgische Logik

tion oder von Zeichen und Denken wäre von Übergängen zwischen performativen Unterscheidungsformen zu sprechen. Eine begrifflich organisierte Logik, wie Aristoteles sie begründet, gerät im Lichte solcher Verschiebungen in Bewegung. Begriffe zeigen sich als Prozesse, die einer Logik dramaturgisch arrangierter Unterscheidungen ähneln. Kontext der Logik ist eine Poetik des Unterscheidens. Dekonstruktive Lektüren, wie Derrida sie vornimmt, entfachen Unterscheidungsspiele, ohne exemplarische Erfahrungen vorauszusetzen. An deren Stelle tritt bei Derrida die Arbeit an exemplarischen Texten. Der Raum der Texte, die sukzessive dekonstruiert werden, erscheint als Projektion der Unterscheidungen, mit denen die Philosophie der Différance ihr Spiel beginnt. Darin kommt eine Heuristik zur Geltung, die sich an Unterscheidungen, Texten und Vergleichen erprobt, ohne sich begründen zu wollen. Evidenzversprechen dramaturgischer Unterscheidungsordnungen hängen von konkreten Untersuchungen ab. Von der Materialität des jeweils Unterschiedenen bleiben sie imprägniert. Darstellungen erschließen Welt, indem sie Grenzen zwischen scheinbar Vertrautem und Unvertrautem erkunden. Weniger eine Evidenz des Offensichtlichen führt zur Erkenntnis als die Arbeit am Fragwürdigen und Mehrdeutigen. Aristoteles’ Poetik lenkt den Blick auf die Produktivität des Befremdens beim Unterscheiden von Verständlichem. Ob moderne Gesellschaften noch auf exemplarische Erfahrungen, Texte oder Deutungsrahmen zurückgreifen können, auf die Darstellungen sich stützen, um Anspruch auf Allgemeinheit zu erheben, bleibt in Formexperimenten der modernen Kultur herauszufinden.

2. 2.1

Logik und Mythos Logik und Metaphysik: Aristoteles

Für die antike und christlich-mittelalterliche wie auch für die arabische Philosophie des Mittelalters spielte die »Metaphysik« des Aristoteles eine überragende Rolle. Aber auch für semiotische, mathematische oder soziologische Formtheorien des 20. und 21. Jahrhunderts bleibt sie ein maßgeblicher Referenztext. Aristoteles entfaltet ein Tableau von Unterscheidungen, das zwei Vorzüge besitzt: Zum einen fragt es danach, wie Gedanken aus Wahrnehmungen heraus entstehen und in Sprache Gestalt gewinnen. Zum anderen ordnet es 24 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Logik und Mythos

Begriffe logisch zu Kontexten von Differenzen und Hierarchien. Unterscheiden und Logik erscheinen geradezu als dasselbe. Logik wiederum begegnet als eine Denk-Ordnung über Mengen in Form von Aussagen. Im eigentlichen Sinne Seiendes ist für Aristoteles ein Unterschiedenes. Sogar von seinen Eigenschaften, an denen es erscheint, ist es verschieden. Indem Denken unterscheidet, bestimmt es. Es ist Tätigkeit. Begriffe bestimmen Veränderliches, weil sie von diesem unterschieden bleiben. Sie ordnen Gedanken. Deshalb besitzen Gedanken Dauer gegenüber dem durch sie bestimmten Vielen. Der Gedanke des »Hauses«, markiert im Begriff, ordnet unbegrenzte Vielheiten von Häusern und Hauswahrnehmungen. Von diesem Vielen bleibt er unterschieden. Eines unterscheidet sich von dem Vielen, im Verhältnis zu dem es Eines ist. Auch von anderen Einen, im Verhältnis zu denen es eines von Vielen ist, unterscheidet es sich. Da Bestimmen heißt, etwas zu unterscheiden, entsteht, was bestimmt wird, aus Gegensätzen. 2 Als Zugrundeliegendes, von dem etwas ausgesagt wird, ist es selbst ein Anderes des Gegensatzes. 3 Vieles als Vieles des Einen zu bestimmen verlangt, von Sinnlichem in Gedankliches überzugehen. Darin besitzt die Aristotelische Logik phänomenologische Züge: Sie entwickelt Unterscheidungsregister aus Sinnbildungen der Anschauung. Verhältnisse von Form und Kontext erscheinen als unproblematisch, denn Formen konturieren sich in einer vorverstandenen Welt. Deren Verständlichkeit erschließt sich wesentlich über sprachliche Unterscheidungsmöglichkeiten. Im begrifflichen Denken gelangen diese zur Reflexion. Arten des Einen – des Unterschiedenen – entsprechen Arten des Seienden. Allgemeinheit gewinnen sie aus ihrer Differenz zu Akzidenzen einerseits und zu anderen Allgemeinheiten andererseits. Darum liegt das Eine in Gattungen vor. 4 Zwischen dem Denken des Einen als Ordnung von Gattungen, Arten und Individuen sowie dem Denken des Bestimmens als Unterscheiden von Gegensätzen bestehen Analogien. 5 Weil der Akzidenzen zu viele sind, um alle aufgezählt zu werden, benötigt das Denken eine spezifische Differenz,

Aristoteles: Physik. Hamburg 19893, I, 5, 188b. Vgl. ebenda, I, 7, 190b. 4 Vgl. Aristoteles: Metaphysik. Hamburg 1989, IV, 2, 1003b-1004a. 5 »denn alles ist entweder Gegensatz oder aus Gegensätzen, Prinzipien aber der Gegensätze sind das Eine und die Vielheit.« Ebenda, 1005a. 2 3

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Dramaturgische Logik

um eine Form von ihren jeweiligen Vielen wie von ihren gegensätzlichen Formen zu unterscheiden und zu bestimmen. Unmöglich könnte etwas zugleich in derselben Hinsicht sein und nicht sein. Das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten beschreibt den Kern Aristotelischer Logik und markiert das oberste Prinzip des Denkens: dasjenige, was jeder »schon zum Erkennen mitbringen« muß. 6 Der Satz vom Widerspruch verbindet eine Logik des Unterscheidens mit einer Logik des Denkens aus Gegensätzen sowie einer Logik des Bestimmens als einer Ordnung über Mengen. Diese Logik ist eine Logik des Sagens. Etwas sagen bedeutet, nicht zugleich Sein und Nichtsein vom Selben zu sagen. Möglich sind Rede und Denken wiederum als Sagen von etwas zu jemandem: Denken gewinnt Form als Kommunikation. Ordnungen des Denkens und Ordnungen des Sozialen sind Formen der Entfaltung des Selben. Die Form des Satzes liefert die Form des Seienden als eines ausgesagten Bestimmten. Denken tendiert auf eine Organisierung des Sinnlichen in Gestalt einer Idealisierung zur »Form«. An dieser Tendenz bemerkt es sich selbst. Für Aristoteles bleibt die Denkform von der sinnlich imprägnierten Zeichenform ihres Ausdrucks unterschieden. Gedanken erfassen und unterscheiden sich reflexiv im Aussagen. Ein Kontinuum von Gedanken, Sagen und Sein führt in sich selbst zurück. Gedanken erfassen und bestimmen sich im Vollzug einer symbolischen Ordnung. Allgemeines zeigt sich praktisch in seiner Fähigkeit, verschiedene Einzelne ähnlich zu machen – wie der Begriff des Hauses in bezug auf die Vielfalt verschiedener, aber ähnlicher Häuser. Jedoch bleiben in der Perspektive des Aristoteles Übergänge gegenüber dem Ausgangs- und Endpunkt abgewertet. Zwischen den Gliedern eines Widerspruchs gibt es nichts – »man muß notwendig jeweils Eines von Einem bejahen oder verneinen.« 7 Ein sich reflexiv als Gedanke fassendes Denken ordnet in Relationen von Gegensätzen und Allgemeinheitsgraden Taxonomien des Seienden. Bezieht Denken sich auf sich selbst, bestimmt es sich als Logik des Umgangs mit Gegensätzen. Seine Form hebt sich von symbolischen Voraussetzungen – der Sprache – ab, mit denen es Unterscheidungen trifft und unterscheidet. Was einerseits selbstverständlich ist – daß Denken Sagen bedeutet –, wird andererseits in der Form des Denkens abgewer-

6 7

Ebenda, IV, 3, 1005b. Ebenda, IV, 7, 1011b.

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Logik und Mythos

tet, so als ob die Zeichenhaftigkeit des Unterscheidungsvorgangs gegenüber einer reinen Form sekundär sei. 8 Formen verleihen sinnlich Wahrnehmbarem Gestalt. Weil Form am Stoff wird, was sie ist, bleibt sie von diesem unterscheidbar. Die »Form« der Schale tritt am »Stoff« des Silbers hervor. Ohne ihr Anderes, den Stoff, könnte Form nicht sein. Umgekehrt braucht Stoff, um als Stoff unterschieden werden zu können, Form. Stoff und Form sind operativ verwechselbare Bestimmungen eines Dieses. Offenbar sei, daß »die Form, oder wie man sonst die Gestaltung am sinnlich Wahrnehmbaren nennen soll, nicht wird, und daß es keine Entstehung derselben gibt, und daß ebensowenig das Sosein entsteht; denn dies, die Form, ist vielmehr dasjenige, was in einem anderen wird …« 9 Auch wenn der Stoff vergeht und das Etwas sich auflöst, bleibt der Begriff – zum Beispiel des Hauses oder der Schale – bestehen. 10 Formen sind Ursachen des sinnlich Wahrnehmbaren. Indem Aristoteles seinen Begriff der Form mit einer Theorie der Ursache kombiniert, gelangt er zu einer Unterscheidungsmatrix, die Etwas auf vierfache Weise bestimmt. Diese Matrix entfaltet eine Logik des Unterscheidens zu einer Ordnung des Seienden. Ursache ist, erstens, die Form als Dauerhaftes gegenüber dem Veränderlichen und als Eines gegenüber dem Vielen der Eigenschaften. Zweitens ist der Stoff, an dem Form auftritt, Ursache eines Seienden. Die Form der Schale ist Form an dem Silber, aus dem die Schale besteht. Ohne Stoff keine Form, ohne Silber keine Schale. Drittens ist der Anfang einer Veränderung Ursache eines Dieses, so wie der Silberschmied, der den Stoff formt, die Schale verursacht. Schließlich wirkt der Zweck, dem die Schale dient, als Ursache, weil er als Telos die Bewegung in Gang setzt. 11 Die Relation Form/Stoff wird von der Relation Beweger/Telos gekreuzt. Vier Positionen formieren eine Matrix, die eine doppelte Unterscheidung beschreibt. Keine einzige Ursache läßt sich von den anderen isolieren, es sei denn in bezug auf die Hinsicht, in der sie jeweils akzentuiert werden kann. Aristoteles’ Matrix der Ursache entfaltet ein Schema der Beobachtung, das ein kontrolliertes Wech-

Hier setzt Jacques Derridas Kritik am Präsentismus der Metaphysik an. Er möchte zeigen, daß Denken und Zeichen nicht zu trennen sind. 9 Aristoteles: Metaphysik. A. a. O., VII, 8, 1033b. 10 Vgl. ebenda, VII, 15, 1039b. 11 Vgl. ebenda, V2, 1013a-1013b. 8

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Dramaturgische Logik

seln der Aufmerksamkeit anleitet. Gleichzeitig sind die Ursachen nicht beobachtbar. Nur nacheinander können wir nach ihnen fragen.

2.2

Rhetorik und Poetik: Aristoteles

Poetik und Rhetorik untersuchen die Welt menschlichen Handelns. Hier geht es nicht um Notwendiges, sondern um Überzeugendes. 12 Wer seine Rede mit Wissen führen will, sollte das Überzeugende vom nur scheinbar Überzeugenden zu unterscheiden vermögen. Anlaß und Adressaten der Rede gilt es ebenso im Auge zu behalten wie Implikationen der Sache oder Gefühle, die im Spiel sind. Rhetorik hat einen epistemischen Bezug. Sie ist ein »Schößling der Dialektik«. 13 Wahres und Wahrscheinliches sind mit glaubwürdigen Argumenten vorzutragen. Glaubwürdigkeit bestimmt sich im Blick auf jemanden. Überzeugendes entsteht vor dem Hintergrund des Wahrscheinlichen. Wahrscheinlich ist, »was zumeist zutrifft, aber nicht in jedem Fall«. 14 Was auch anders sein könnte, verhält sich »zu dem, bezüglich dessen es wahrscheinlich ist (…) wie das Allgemeine zum Besonderen.« 15 Solche Urteile bewegen sich im Bereich des Möglichen. Ihre Geltung hängt von Kontexten ab, in denen Unterschiedenes vergleichbar wird. Vergleiche sind Voraussetzungen für Unterscheidungen von Wirklichem und Möglichem, Besonderem und Allgemeinem. Geltung gewinnen solche Urteile aus Plausibilität. Sie zu fällen erfordert Kenntnis der Differenz von Möglichem und Unmöglichem. In Rede stehen Güter, »die ihrem Wesen nach auf uns zurückgeführt werden und deren Ursprung bei uns liegt«. 16 Zur Beschreibung derartiger Urteilsformen entwickelt Aristoteles eine Handlungslehre. Zufall, Natur, Gewalt, Gewohnheit, Überlegung, Affekt und Begierde bestimmen demnach menschliches Handeln. Die ersten drei Ursachen Im Blick auf Dinge unterscheidet Aristoteles zwischen Naturdingen und Artefakten. Erstere haben ihren Anfang in sich selbst, letztere in anderem. »Hingegen, Liege und Kleid, und was es dergleichen Gattungen sonst noch geben mag, hat, insofern ihm eine jede solche Bezeichnung eignet und insoweit es ein kunstmäßig hergestelltes Ding ist, keinerlei innewohnenden Drang zu Veränderung in sich …« Aristoteles: Physik. A. a. O., II,1, 192b. 13 Aristoteles: Rhetorik. Stuttgart 2007, I, 6, 1356a. 14 Ebenda, 1, 15,1357a. 15 Ebenda. 16 Ebenda, 4, 1359b. 12

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Logik und Mythos

beruhen nicht auf Entscheidungen des Handelnden. Drei große Motivgruppen, die im Blick auf Entscheidungen wesentlich sind, bleiben übrig: Gewohnheiten, die das Handeln ohne Einschaltung der Reflexion leiten, Überlegung, die Ziele, Möglichkeiten und Mittel des Handelns erwägt, sowie Gefühle, die sogar vernünftige Einsichten außer Kraft setzen können. 17 Plausibilitäten und Emotionen werden im Kontext von Verhaltensweisen in exemplarischen Situationen beschrieben. So entsteht eine Typologie des Sozialen, auf die Redner ebenso zurückgreifen wie Dichter. »Poetik« und »Rhetorik« entwerfen den Grundriß einer Theorie sozialen Handelns. Martin Heidegger hat die »Rhetorik« als »die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins« charakterisiert. 18 In der Analyse von Redeformen erblickt Heidegger die Grundlage der Aristotelischen Logik, insofern es um Reflexionen der Selbstauslegung des Menschen als eines sprechenden Lebewesens geht. Heideggers Lektüre der Rhetorik läßt die Poetik außer Betracht – und blendet damit die Rolle artifizieller Darstellungen bei der Erkenntnis des Sozialen ab. 19 Vielleicht könnte man die »Rhetorik« aber gerade in Verbindung mit der »Poetik« die erste systematische »Soziologie« des Abendlandes nennen, da in der Poetik die Erkenntnisleistung von Darstellungen im Blick auf Soziales untersucht wird. Fragen nach dem Handeln führen auf Kontexte, in denen gehandelt wird. Bestimmte Handlungen gewinnen im Unterschied zu anderen an Wahrscheinlichkeit. Diesem Thema widmet sich die Poetik. Deren erster – und als einziger erhaltene – Teil analysiert die Tragödie. Kontexte, in denen Handlungen unterschieden werden, ergeben sich nicht ohne weiteres aus dem sinnlichen Anschein eines Gegenstandes. Dinge wie Silberschalen sind für Handlungsformen kaum paradigmatisch. Deshalb entwickelt Aristoteles die Frage, wie wir Handlungen unterscheiden können, anhand des Mythos. Ein Mythos Vgl. ebenda, I, 1369a. Heidegger, M.: Sein und Zeit. Tübingen 197915 (1927), S. 138. 19 In seiner Aristoteles-Vorlesung von 1924 liest Heidegger die Aristotelischen Texte aus der Perspektive einer Hermeneutik des Daseins. Seine Rezeption bereitet den Gedankengang von »Sein und Zeit« (1927) vor. Für die Daseinsanalyse, die Heidegger vor Augen steht, bedarf es keiner Betrachtung von Reflexionsformen, die allererst in der Auseinandersetzung mit artifiziellen Darstellungen – wie im Falle von Tragödien – möglich werden. Vgl. Heidegger, M.: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie. In: Gesamtausgabe Bd. 18, Frankfurt/M. 2002. Zum Beispiel S. 110: »Die Rhetorik ist nichts anderes als die Auslegung des konkreten Daseins, die Hermeneutik des Daseins selbst.« 17 18

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Dramaturgische Logik

findet sich nicht einfach vor, er wird gemacht. Konstruktionen des Mythos, wie Dichter sie ersinnen, machen deutlich, daß es hier um Mögliches statt um Notwendiges geht. In der Fiktion des Dichters erscheint Wirkliches im Modus einer befremdenden Distanznahme. Betrachten Zuschauer im Theater den Mythos als Unterscheidungsordnung, leitet sie der Mythos zur Reflexion des Verhältnisses von Wirklichem und Möglichem im Exemplarischen einer Geschichte bzw. eines Stückes. Aristoteles schreibt die Poetik zu einer Zeit, da die klassische Tragödie des 5. Jahrhunderts bereits Vergangenheit ist. Noch immer entstehen neue Tragödien, doch in der politischen Öffentlichkeit hat sich ihre Bedeutung abgeschwächt. In Rhetorik und Philosophie erwuchsen dem Theater Konkurrenten. 20 Einsichten der Tragödie werden in Form und Inhalt philosophischer Rede im Text transformiert, dessen dialogische Form bei Platon nicht die Form der Tragödie ist. Der Text wird bei Platon zur Bühne der Bewegung von Gedanken, verkörpert in Figuren von Gesprächsteilnehmern. So formuliert auch die Aristotelische Poetik eine Wahrheit der Tragödie in der Form philosophischer Rede. Indem die poetologische Rede der Philosophie die Form der Tragödie als eine Weise des Erkennens erläutert, spricht sie zugleich über das Verhältnis dichterischer zu philosophischen Formbildungen. Dieses Verhältnis klärt einerseits den Erkenntnisanspruch der Dichtung. Andererseits relativiert sich damit eine mögliche Dominanz »logischer« gegenüber »poetischen« Unterscheidungen. Philosophen und Dichter beschäftigen sich mit Formbildungen, die Erkenntnis hervorbringen. Allerdings kultivieren sie verschiedene Frage- und Reflexionsweisen. Poetische Unterscheidungen gewinnen Schlüssigkeit nicht nur aus formalen Beziehungen von Aussagen. Ihre Gültigkeit entspringt ihrer Plausibilität im Kontext einer verständlichen Welt und deren Möglichkeiten. Welt ordnet sich nicht zuletzt über Geflechte von Handlungen. Menschen sind, was sie sind, als Handelnde. Bestimmt werden sie durch Beziehungen, in denen sie stehen. Die Ordnung des Sozialen – die Polis – ist gegenüber dem Einzelnen vorrangig, wie die Polis Teil der Ordnung des Kosmos ist. Das macht Menschen, wie Aristoteles in der »Politik« ausführt, von Natur aus zu sozialen Wesen. Ihr Vgl. Flashar, H.: Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie. In: Flashar H. (Hrsg.): Tragödie. Idee und Transformation. Stuttgart, Leipzig 1997, S. 50–64.

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Logik und Mythos

Was-sein zeigt sich im Zusammenhang konsistenter Verhaltens- und Urteilsweisen angesichts der Herausforderungen, vor die das Leben sie stellt. »Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und von Lebenswirklichkeit. (Auch Glück und Unglück beruhen auf Handlung, und das Lebensziel ist eine Art Handlung, keine bestimmte Beschaffenheit. Die Menschen haben wegen ihres Charakters eine bestimmte Beschaffenheit, und infolge ihrer Handlungen sind sie glücklich oder nicht.)« 21 Glück und Unglück sind mithin keine bloßen Zustände oder Eigenschaften. Sie ergeben sich aus der Kohärenz einer Lebensführung. In Tragödien stürzt niemand durch bloßen Zufall ins Unglück. Nachahmende Darstellungen des Theaters machen etwas sichtbar, was nicht in gleicher Weise theoretischen Reflexionen der Metaphysik entspricht: die mögliche Verzerrung der Einsicht durch die Perspektive der Beteiligten. Figuren der Tragödie, wie exemplarisch Ödipus, geraten ins Unglück nicht durch schlechte Absichten. Irrtümer werden ihnen zum Verhängnis, die aus ihrer zwar nachvollziehbaren, doch fehlgeleiteten Sichtweise entspringen. Tragödien der klassischen Zeit bieten Zuschauern keine moralische Verurteilung oder Belehrung. 22 Im Verzicht auf derartige Urteile besteht die mögliche Erkenntnis. Nur wer nicht, wie Figuren im Stück, in die konkrete Welt der Handlungen verstrickt ist, vermag Erkenntnis zu erlangen. Perspektiven, die Zuschauer einnehmen, unterscheiden sich grundlegend von den Perspektiven der Figuren. Beim Zuschauer kann Einsicht entstehen, sofern er die Differenz der Perspektiven bedenkt, die ihn von der möglichen Wirklichkeit des Stücks unterscheidet. In der Differenz zu den Figuren erblickt er Ähnlichkeiten der Handlungen, in die auch er, wenngleich in anderen empirischen Konstellationen, verstrickt werden könnte. Handlungen sind, was sie sind, im Kontext anderer Handlungen. Sie nachzuahmen – sie darzustellen – verlangt die Etablierung einer Ordnung von Ort, Zeit und Handlung, in der Charaktere, nicht Menschen, eine Rolle spielen. Charaktere begegnen als Unterscheidungen innerhalb der Ordnung eines Mythos. »Ich verstehe unter Mythos

Aristoteles: Poetik. Stuttgart 1993, 6, S. 21. Vgl. Schmitt, A.: Zur Darstellung menschlichen Handelns in griechischer Literatur und Philosophie. In: Gabriel, O. W./Sarcinelli, U./Sutor, B./Vogel, B. (Hrsg.): Der demokratische Verfassungsstaat. Theorie, Geschichte Probleme. Festschrift für Hans Buchheim zum 70. Geburtstag. München 1992, S. 3–16.

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Dramaturgische Logik

die Zusammensetzung der Geschehnisse, unter Charakteren das, im Hinblick worauf wir den Handelnden eine bestimmte Beschaffenheit zuschreiben, unter Erkenntnisfähigkeit das, womit sie in ihren Reden etwas darlegen oder auch ein Urteil abgeben.« 23 Wie in der Malerei die Zeichnung Farben zu ihrer Funktion in der Ordnung eines Bildes verhilft, verleiht der Mythos Handlungen und Charakteren ihre Ordnung. »Geschlossen« sind Handlungen, wie Tragödien sie darstellen, insofern sie einem Darstellungsarrangement entspringen. In der Darstellung gelangt eine Handlung als Differenz zur Lebenswirklichkeit zur Erscheinung, für die es kein direktes Analogon in der Welt der Entitäten geben kann. Weil »Lebenswirklichkeit« offen und unabschließbar bleibt, müssen Handlungen, als Darstellungen, geschlossen sein. Ansonsten ließen sie sich nicht unterscheiden. Ihre Form – ihr Was-sein – ist ihre Differenz. Bild und Mythos heben Züge des Bedeutsamen heraus, um Fragen der Bedeutsamkeit selbst beobachtbar zu machen. In der Form der Darstellung tritt der Allgemeinheitsanspruch einer Nachahmung zutage. Ohne Darstellungen – und ohne die Beobachtung der jeweiligen Unterscheidungsformen dieser Darstellungen – gäbe es kein philosophisches Wissen von der sozialen Welt. Sie verwandeln Besonderes in Allgemeines. So können Zuschauer im Schicksal eines Charakters allgemeine Formen des Lebens betrachten und es auf ihre eigene Situation beziehen. Tragödien machen Welt verständlich, indem sie komplexe Lebenskonstellationen in Differenz zum alltäglichen Lebensvollzug rücken. Statt zu benennen, zu erklären, zu urteilen oder zu klassifizieren, befremden sie zunächst. Von der »Poetik«, die Grundformen einer Theorie des Sozialen entwirft, fällt ein Licht auf die »Metaphysik«, das dazu einlädt, den dort entwickelten Begriff der Substanz etwas anders zu konturieren. 24 Formen erlangen, im Kontext des Mythos und der Tragödie, Bestimmtheit im Rahmen dramaturgischer – und weniger logischer – Darstellungen. Hier ist zu unterscheiden, wie Unterscheidungen den Kontext der Unterschiede figurieren. Deren Zusammenhang bildet ein verständliches Gefüge wie der Mythos im Verhältnis zu Handlungen. Innerhalb dieses Gefüges sind Unter-

Vgl. Aristoteles: Poetik. A. a. O., 6, S. 19 f. Eric Voegelin hat auf diese Dissonanz in der Aristotelischen Ontologie aufmerksam gemacht. Kategorien, die an Gegenständen gewonnen wurden, sind kaum geeignet, auf die Welt des Sozialen übertragen zu werden. Vgl. Ders.: Aristoteles. Ordnung und Geschichte, Bd. VII. (1957). München 2001, S. 86 ff.

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scheidungen präzise, ohne unbedingt logisch im Sinne eines binären, syllogistischen oder klassifizierenden Unterscheidens zu sein. Ziel ist weniger die Definition eines Dieses als vielmehr der Vollzug eines reflexiven Unterscheidungsprozesses. Wer eine Theateraufführung verfolgt, wird wenig geneigt oder in der Lage sein, Was-Fragen zu beantworten oder eindeutige Urteile über Figuren zu fällen. Uneindeutiges oder Mehrdeutiges gewinnt Erkenntnisqualität. Das Publikum kann sich aufgerufen fühlen, sein eigenes Leben mit dem Bühnengeschehen zu vergleichen, indem es das Besondere als ein Exemplarisches behandelt. Daran mag es allgemeine Fragen richten, ohne sie im engeren Sinne beantworten zu müssen. Fragen erschließen Welt und Weisen des fragenden Erhellens von Welt. Darstellungen – wie im Theater, aber auch in philosophischen Texten – schaffen Distanz, ohne die Erkenntnis nicht gelingt. Der Freude am Wissen entspricht in der Dichtung eine Freude des Menschen an Nachahmungen. Dichtung verschafft indirekte und deswegen epistemische Bezüge zu ihren Gegenständen. 25 Nachbildungen ermöglichen Betrachtern Unterscheidungen und Bestimmungen, wie sie im Vollzug des Lebens kaum möglich, unerträglich oder wenig interessant wären. Sie artikulieren Kontraste zwischen den in einer Nachahmung herausgehobenen Zügen und dem jeweils abgeblendeten Kontext der Lebenswirklichkeit, in den Nachahmungen eingelassen bleiben. In dieser Differenz findet die »Freude« Halt, die Nachahmungen innewohnt und sie zum Lernen hinleitet. Denn im Kontrast von Nachahmungsgestalt und Kontext entspringt ein Bestreben, »zu erschließen …, was ein jedes sei, z. B. daß diese Gestalt den und den darstelle.« 26 Es entstehen indirekte Relationen zum Lebensvollzug, die fragende Einstellungen befördern. Direkte Konfrontationen mit Leid oder Schrecken fördern schwerlich Erkenntnis. Erkenntnis entsteht, wo Distanz möglich ist. Nachahmungen schaffen Indirektheit, dank derer wir etwas als etwas unterscheiden. Erst hier entsteht im engeren Sinne die Frage nach dem »Was«. Welt durch Fragen »philosophisch« zu öffnen, setzt voraus, Unterscheidungen in das nicht Unterschiedene einzuführen, um Raum für Vergleiche zu schaffen. Auf diese Weise lassen sich Allgemeines und Besonderes unterscheiden, ohne bei einer abstrakten Wahrheit zu enden. Formen verlangen Begrenzungen. Theaterstücke, meint Aristo25 26

Vgl. Aristoteles: Poetik. A. a. O., 4, S. 11. Ebenda, S. 11 ff.

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Dramaturgische Logik

teles, gewinnen, wie Bilder, an Wert, wenn sie genau umrissen und präzise angelegt sind. Bestimmtes braucht Rahmungen, die Grenzen markieren, welche wiederum dazu einladen, gekreuzt zu werden. Tragödiendichtern wird empfohlen, Handlungen auf einen einzigen Tag zu begrenzen. Kontexte des Unterscheidens sollen leicht faßlich sein. Anfang, Mitte und Ende muß eine Geschichte haben. In sich hat sie geschlossen zu sein. Überschaubarkeit ermöglicht genaue Unterscheidungen und Vergleiche innerhalb einer Ordnung. Wer das Ganze nicht überschaut, verliert sich in Unterscheidungen, ohne die Unterschiede zu unterscheiden. 27 Ausuferndes Erzählen stiftet keine Erkenntnis, weil Relationen unklar werden. Genauigkeit der Unterscheidungen hilft Zuschauern, Tableaus von Figuren und Konflikten zu überblicken. 28 Da es nicht um eine größtmögliche Fülle von Einzelheiten geht – der Akzidenzen, sagt Aristoteles in der Metaphysik, sind unendlich viele –, sorgt die Grenze der Nachbildung und die Faßlichkeit des Dargestellten für die Akzentuierung des Gedanklichen am Material. Was zunächst einfach klingt, nämlich daß ein »Mythos« Anfang, Mitte und Ende haben müsse, erweist sich als voraussetzungsvolle Bestimmung, die auf das angemessene Treffen von Unterscheidungen zielt. Der Mythos und seine Form der Grenze ermöglichen ein Sagen des Bestimmten. Er ist selbst Form und als solche zu unterscheiden. Der Anfang einer Darstellung ist etwas, das »selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht.« 29 Das Ende, mit dem die Darstellung ihre Ordnung komplementär begrenzt, folgt auf anderes notwendigerweise oder in der Regel, »während nach ihm nichts anderes mehr eintritt.« 30 »Nach ihm« folgt nichts weiteres, weil die Form des Gedankens der Darstellung geschlossen ist, nicht, weil es in der imaginären Welt des Stückes nicht möglich sein könnte, daß noch etwas geschieht. Handlung und Darstellung zielen nicht auf eine komplette Empirie des Einzelnen. Ihnen geht es um die Ordnung gedanklicher Konstruktionen. Nicht weil Leben und Theater gleich wären, sondern weil wir in der Differenz einer Darstellung Allgemei-

Vor diesem Hintergrund hat James Joyce’ Roman »Ulysses« (1922) eine poetologische Pointe als Umkehrung der Aristotelischen Poetik innerhalb des Schemas eines Mythos, der einen einzigen Tag im Leben des Leopold Bloom umfaßt. 28 Vgl. Aristoteles: Poetik. A. a. O., 5, S. 17. 29 Ebenda, 7, S. 25. 30 Ebenda. 27

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nes mit Besonderem ins Verhältnis setzen, wird eine epistemisch relevante Beziehung zwischen Stück und Zuschauer gestiftet. Dramatische Zuspitzungen steigern das Normalerleben zu existentiellen Konfliktlagen. Sie idealisieren das Leben zur Form und führen es in die Reflexion. In diesem Fall stellen sich kathartische Wirkungen ein. 31 Über den Begriff der Katharsis ist viel diskutiert worden. Weder entfaltet er sein philosophisches Potential, wenn sie als Reinigung von Affekten, noch wenn sie als Reinigung der Affekte verstanden würde. Theaterstücke machen ihre Zuschauer nicht »besser«. Eher geht es um die Reflexion des Zusammenhangs von Handlung, Gefühl und Beobachtung. 32 Schaudern über das Grauen, das der Figur widerfährt, gewinnt als Emotion Allgemeinheit und wird Gedanke. Wie die Form gegenüber dem Stoff verhält die Tragödie sich zum Leben. Sie ist das Allgemeine, in dem das Denken über die Besonderheit des Dieses hinausweist und mit dessen Hilfe es sich – indirekt – wiederum auf das Konkrete und Kontingente des Lebens bezieht. Aus Geschichte werden wir nichts lernen, solange wir sie als Schilderung des Einmaligen begreifen. Darstellungen von Möglichem hingegen schärfen den Blick auf Wirkliches, weil sie weder erklären noch urteilen. »Aus dem Gesagten ergibt sich, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich … dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.« 33 Vgl. ebenda, 6, S. 19. Goethe hat das deutlich gesehen: »Aristoteles spricht von der Konstruktion der Tragödie, insofern der Dichter, sie als Objekt aufstellend, etwas würdig Anziehendes, Schau- und Hörbares abgeschlossen hervorzubringen denkt. Hat nun der Dichter an seiner Stelle seine Pflicht erfüllt, einen Knoten bedeutend geknüpft und würdig gelöst, so wird dann dasselbe in dem Geiste des Zuschauers vorgehen; die Verwicklung wird ihn verwirren, die Auflösung aufklären, er aber um nichts gebessert nach Hause gehen: er würde vielmehr, wenn er aszetisch-aufmerksam genug wäre, sich über sich selbst verwundern, daß er ebenso leichtsinnig als hartnäckig, ebenso heftig als schwach, ebenso liebevoll als lieblos sich wieder in seiner Wohnung findet, wie er hinausgegangen.« Goethe, J. W.: Nachlese zu Aristoteles’ Poetik (1827). In: Ders.: Werke VI. Vermischte Schriften. Frankfurt/M., Leipzig 1993, S. 234–237. 33 Aristoteles, Poetik, a. a. O., 9, S. 29. 31 32

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Dramaturgische Logik

Zu den Besonderheiten der Darstellungsform der Tragödie gehört die Unterscheidung von Rollen und Stimmen. Diese werden auf Figuren verteilt, zu denen sich das Publikum verhält. Für das Publikum kommt es darauf an, szenische Arrangements als Relationen von Figuren und Stimmen so zu beobachten, daß es auf sich als Publikum reflektiert. 34 Hans-Thies Lehmann betont deshalb den nichtdialogischen Charakter der Tragödie. 35 Vor allem in der Funktion des Chores wird die Unterordnung des Dialogischen sichtbar. Der Chor übernimmt wichtige Ausdrucksfunktionen – etwa von Klage, Angst oder Freude –, aber nicht zuletzt ist er als hörende Instanz stets präsent. Zuschauer sehen, wie der Chor, auch wenn dieser schweigt, redenden Figuren zu. Chor und Publikum stehen einander spiegelbildlich gegenüber. Für die Identität der Figuren bleibt das nicht folgenlos. Sie erwächst aus Relationen zu anderen Figuren, zu sich selbst und zum doppelten Gesehenwerden von Chor und Publikum. Nichts ist einfach, was es ist, weil es sich stets als perspektivische Erscheinungsweise, mithin als Reflexionsidentität, zeigt. 36 Indem alles vermeintlich Selbstverständliche auf der Bühne zerspringt, entsteht das Tragische als Reflexion. Im Blick auf die dramaturgische Logik des Unterscheidens bietet die Tragödie einen Vorzug, der dabei hilft, zweiwertige Unterscheidungen zu unterlaufen. Der Chor markiert einen dritten Wert der von den Figuren vollzogenen Unterscheidungen. Er beobachtet innerhalb des Stückes, was dort geschieht. Zuschauer außerhalb des Stükkes könnte er dazu einladen, sich mit ihm zu identifizieren, sind doch Choreuten und Zuschauer jeweils Beobachter. Verlockungen, sich der Führung durch das Geschehen und durch die Figuren zu überlassen, bricht der Chor, indem er das Publikum zwingt, eine ihm analoge Instanz auf der Bühne zu beobachten, die doch nicht mit der Publikumsposition identisch ist. Das Ganze des Stückes wird zu einer Unterscheidungstextur, in der Unterschiede im Kontext von Unterscheidungen hervortreten. Was Aristoteles in der Metaphysik ausschließt, den dritten Wert des Unterscheidens, macht die Tragödie zum Dar-

Christoph Menke hat darin eine Reflexivität der »tragischen« Darstellungsform erkannt. Vgl. Ders.: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel. Frankfurt/M. 2005, S. 61. 35 Vgl. Lehmann, H.-T.: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart 1991, S 47 ff. 36 Vgl. ebenda, S. 58 f. 34

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stellungsmittel. Tragik entsteht hier nicht zuletzt durch zweiwertiges Unterscheiden: Wer zweiwertig beobachtet, geht unter. Erkenntnisleistungen, die sich reflexiv durch emotionale Wirkungen hindurch realisieren, bestehen in Einsichten in die Perspektivität des Unterscheidens. Das ausgeschlossene Dritte der Logik ist die Funktion des Unterscheidens und/oder die Position des Unterscheidenden. Dieser dritte Wert ist nichts Festes, sondern eine wandernde Funktion. Es ist »jedermann«. Was die Logik ausschließt, schließt das Theater ein, indem Werte einer Unterscheidung erst im Kontext von Unterscheidungsverhältnissen zu praktisch relevanten Wertungen werden. So betrachtet, ist die Tragödie die soziale Wahrheit der Logik. Reflexion auf Zweiwertigkeit ist mehr als Unterhaltung oder akademisches Spiel. Sie ist politisch: Wer zweiwertig denkt, neigt zu eindeutigen Urteilen, die schnell in Konflikte führen, weil sie für die Optionen des Unterscheidens blind machen. 37 Wenn Substanz ist, wovon etwas gesagt wird, dann kann von etwas auf verschiedene Weise gesprochen werden. Solche Verschiedenheit tut sich erst in der Ähnlichkeitsordnung eines Kontextes – wie im Theater – auf. Im jeweiligen Vollzug des Lebens gilt, daß wir nicht gleichzeitig Verschiedenes über etwas sagen können, soll die Rede – und die kommunikative Wirklichkeit gelingenden Handelns – nicht zerbrechen. Zweiwertige Logik bleibt als Prinzip kommunikativen Unterscheidens wirksam. Erst die Theorie der Praxis zeigt die Kontextabhängigkeit des Unterscheidens – und macht so auf die Praxis der Theorie aufmerksam, Form-Kontext-Verhältnisse zu entfalten, die weder eindeutig noch zweiwertig sein müssen.

Diese politische Funktion des Unterscheidens von Unterscheidungen im Theater hebt Christian Meier hervor: »Die Wiederholung der alten Mythen und des in ihnen aufgehobenen Glaubens brachte die Tragödie zum Teil in eine Oppositionsfunktion, nicht unbedingt zu bestimmten politischen Auffassungen und Handlungen, aber sie konnte Bedenken stärken gegen allzu große Kühnheit, sie konnte Handlungen beeinflussen. Sie konnte etwas Drittes in die Auseinandersetzungen zwischen den einen und den andern hineinbringen. Sie konnte die Bürger, die das Drama erlebten, an einen ganzen Bereich potentieller Wirklichkeit erinnern, der in ihrer Politik direkt normalerweise keine Rolle gespielt haben kann.« Meier, Chr.: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988, S. 155.

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Dramaturgische Logik

3. 3.1

Schreiben und Text Aktanten: Bruno Latour

Was Aristoteles in den Texten der Metaphysik und Poetik als verwandte, wenngleich unterschiedlich akzentuierte Reflexionsstile vorführt, hat sich in der Folge zu gegenläufigen Auffassungen von Wissen und Wissenschaft verfestigt. Man hat sich daran gewöhnt, Wissen von der Natur und Wissen von Handlungen zu unterscheiden. Reflexionsstile verwandelten sich in ontologische und wissenschaftstheoretische Schemata. Bruno Latour kehrt in seiner soziologischen Methodologie des Wissens an die Gabelung von Unterscheidungsstilen zurück, die in Aristotelischen Texten angelegt ist. Charakteristikum der »Modernen« ist in Latours Augen deren Neigung, unglückliche ontologische Trennungen zwischen Unterscheidungen anzunehmen, die doch erst im Vollzug – als Prozeß des Unterscheidens – Sinn ergeben. 38 Gegenüberstellungen von Menschlichem auf der einen und Nichtmenschlichem auf der anderen Seite – oder von Natur und Kultur – soll eine Kunst der Übersetzung zwischen Verschiedenem entgegenwirken. Auf dem Terrain der Soziologie begegnen Gegenstände nun als Akteure. Bruno Latour schlägt eine Revision von Unterscheidungsordnungen vor, die eingefahrene Alternativen der Ordnung zwischen Natürlichem und Sozialem zum Einsturz bringt. Im Spiegel dieser Revision erscheinen Aristotelische Texte in höchster Aktualität. Im Kontrast zu ihnen werfen »moderne« Weisen des Ordnens von Ähnlichem und Verschiedenem die Frage nach Formen des möglichst geschmeidigen Sagens von »etwas« auf. Statt Wesen zu definieren oder zu klassifizieren käme es vielleicht darauf an, Wesen zu vervielfältigen, zu versammeln und dramaturgisch – schreibend – in Bewegungen zu versetzen. Nachahmungen stiften, so Aristoteles, Erkenntnis, indem sie Unterscheidungen einführen, die Zuschauern im Theater Vergleiche ermöglichen – unter anderem Vergleiche zwischen Nachahmungen und Wirklichkeit. Doch Nachahmungen, an denen Menschen, wie Aristoteles konstatiert, Freude haben, sind selbst konstitutives Moment des Sozialen, das zu verstehen sie ermöglichen. Nachahmung ist geeignet, Gesellschaft zu beschreiben, weil sie eine Form des VollVgl. Latour, B.: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin 1995, S. 19 f.

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Schreiben und Text

zugs von Gesellschaft ist. Gabriel Tarde hat, ohne auf Aristoteles direkt Bezug zu nehmen, diesen Vorschlag ausgearbeitet und eine soziologische Reformulierung der Metaphysik in Angriff genommen. Für Bruno Latour sind die Arbeiten Tardes wiederum wichtige Referenztexte. Der Nachahmungscharakter »jeder sozialen Tatsache«, schreibt Tarde, sei »das Unterscheidungsmerkmal jeder sozialen Beziehung«. 39 Verbindungen zwischen Menschen – Handlungen im Sinne des Aristoteles – kommen demnach durch Überzeugungen oder Begehren zustande. Soziale Beziehungen lassen sich als Nachahmungen betrachten, sofern wir diese als Wiederholungen und als Erzeugung von Ähnlichkeiten ansehen. Absichtlich oder unabsichtlich, aktiv oder passiv entstehen auf diese Weise Vervielfachungen und Ausbreitungen, die entweder als Wiederholung von etwas oder als Gegensatz zu etwas in Gang kommen. 40 Tarde meint damit sowohl Gegenstände als auch Handlungen oder Ideen. Gegenstände sind immer soziale Gegenstände. Erst im Kontext von Handlungen gewinnen sie Bedeutung. 41 Tarde akzentuiert das Aristotelische Unterscheidungstableau um. »Form« wird operativ bestimmt. Verschiedenheit und Ähnlichkeit bilden Ordnungen, in denen Bestimmtheit Qualität markiert. Bestimmtes zeigt sich, wie Tarde mit Verweis auf Leibniz’ Monadologie feststellt, durch seine Aktivität in einer Gesellschaft. Gesellschaft wird zu einem Ordnungsbegriff, der Einzelnes zu bestimmen erlaubt. Alles ist soziale Tatsache, und soziale Tatsachen kommen in Gesellschaften vor. Gesellschaft ist »der in mannigfaltigen Formen auftretende gegenseitige Besitz von allen durch jeden Einzelnen.« 42 Weil Gabriel Tarde Bestimmtsein mit Aktivitäten in Netzen von Beziehungen zusammendenkt, betrachtet Bruno Latour die Soziologie der Nachahmung als Vorläuferin seiner Akteur-Netzwerk-Theorie. Soziologie, die sich so begreift, tritt das Erbe der Metaphysik an, möchte sie doch den Zusammenhang von Ordnung und Bestimmtheit neu bestimmen. Metaphysik wird zu einer Art politischer Ökonomie, wenn Bestimmtsein zu einer Position partieller Stabilität in einem dynamischen Ordnungskontext wechselseitiger Bewertungen

Tarde, G.: Die Gesetze der Nachahmung (1890). Frankfurt/M. 2003, S. 12. Vgl. ebenda, S. 12 f., 38 f. 41 Vgl. ebenda, S. 41. 42 Tarde, G.: Monadologie und Soziologie (1893). Frankfurt/M. 2009, S. 81, hier auch S. 49. 39 40

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Dramaturgische Logik

im Lichte von Bewertungen wird. 43 Was Latour den Ideen von Tarde hinzufügt, ist die Praxis der Beschreibung von Bestimmtem in rekursiven Verweisungsnetzen. Bruno Latour lenkt das Augenmerk auf die Art der Praxis, Unterscheidungen zu treffen und zu verknüpfen. Gegenstände wie Handlungen bestimmen sich im Zuge von Unterscheidungsoperationen, die im Kontext einer verständlichen Welt Beschreibungen hervorbringen. Beschreibungen organisieren Unterscheidungen als Prozesse. Sie erzeugen keine bloßen Ansammlungen von Namen oder Entitäten. Dazu werden Mannigfaltigkeiten symbolisch zusammengebracht. Latours Mannigfaltigkeiten unterscheiden sich von dem Vielen, das, wie Aristoteles sagt, zu einem Einen zusammentritt. Ihnen fehlt alles, was eine ontologische Klassifikation auszeichnet. Eher gleichen Mannigfaltigkeiten dem, was auf einer Bühne versammelt wird. »Ja, wir leben in einer Hybridwelt, die gleichzeitig aus Göttern, Menschen, Sternen, Elektronen, Atomkraftwerken und Märkten besteht, und es ist unsere Pflicht, daraus entweder ›Verwirrung‹ oder etwas ›Ganzes und Geordnetes‹ zu machen, eben einen Kosmos, wie es im griechischen Text heißt …« 44 Die Betonung liegt auf dem »Machen«. Ein Kosmos, eine Ordnung, wird hergestellt, indem Unterscheidungen getroffen und arrangiert werden. Am Ursprung der Ordnung steht das Unterscheiden, doch ist dieses Unterscheiden nicht primär logischer Art. Weil es Erkenntnis im Modus des Beschreibens anstrebt und Beschreibungen nicht ohne Inszenierungen von Unterscheidungen zustande kommen, weist es eher Züge einer Dramaturgie oder Poetik denn einer binär strukturierten Logik von Aussagen auf. Statt auf dauerhafte Formen zielt die Praxis des Bestimmens auf Substitutionen von einem durch anderes. Erkennen »ist« Tätigkeit: konkret, sinnlich, werkzeugbewehrt, symbolisch, gedanklich und sozial. Formen, von denen Aristoteles spricht, lassen sich als Zeichen – als Unterscheidungen, die in Feldern des Unterscheidbaren Unterschiede machen, indem sie symbolische Verkettungen entfalten – betrachten. Entsteht Bestimmtheit durch den Vollzug von Operationen,

Vgl. Latour, B./Lépinay, V.: Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen. Eine Einführung in die ökonomische Anthropologie Gabriel Tardes. Berlin 2010. 44 Latour, B.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt/M. 2000, S. 26 f. (Hervorhebung im Original). 43

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Schreiben und Text

verschiebt sich die Idee von »Substanz«. Der Gedanke des Allgemeinen verändert sich. »Eines« bildet sich durch Serien von Unterscheidungsoperationen als Transformationsreihe. Reihen gehorchen keinem Telos. Sie hören auf, wenn wir aufhören, Unterscheidungen zu verketten, in denen Zeichen andere Zeichen zitieren, wiederholen, verschieben und verzweigen. Latours Soziologie kennt, anders als die Aristotelische Poetik, keine epistemisch konstitutive Funktion des Mythos. Vom Mythos unterscheiden Transformationsreihen sich unter anderem durch das Fehlen einer konstruierten Grenze der Darstellung, die das Allgemeine einer Erkenntnis stützt. Verstehen wir Formen als Unterscheidungen, die durch Wiederholungen Wirklichkeit gewinnen, fällt ein Licht auf die Aristotelische Unterscheidung zwischen Gedanke und sprachlichem Begriff. Allgemeines, das sich begrifflich fixiert, erweist seine Kraft darin, Vielheiten zu bestimmen. Der Begriff »Haus« ist auf alle Häuser anwendbar. Das aber gilt auch für den Gedanken, der ohne symbolische Unterscheidungen – hier: Begriffe – nicht unterschieden werden könnte. Auch die Form des Gedankens ist eine Kraft, die sich in der Wiederholung einer Unterscheidung zeigt, die als symbolische Unterscheidung zustande kommt. Gedanken werden um so prägnanter, je erfahrungsgesättigter sie sind. Rein, von ihren Gegenständen und Symbolen unterscheidbar, sind sie nichts. Gedanken realisieren ihre Form als Spur materieller Unterscheidungen und Übergänge: als Zeichen. Es sind empirische Prozesse des Unterscheidens und Unterschiedenwordenseins. Gegenstände des Wissens entstehen, so betrachtet, in Reihen von Unterscheidungen. Darin wird Verschiedenes ähnlich, ohne in Ähnlichkeiten zu gründen. 45 Reihen beschreiben, als endliche Transformationsschritte, Unendlichkeiten: Das, woran eine Bestimmung ansetzt, ist zunächst sowenig festgelegt, wie das Ende der Unterscheidungskette dem Prozeß immanent ist. Nicht Materie oder Form, Operationen des Unterscheidens und Verbindens stellen die entscheidende Differenz dar, die zur Bestimmung von »etwas« führt. Diese Lücke ist weder allgemein noch gedanklich oder materiell. Sie »ist« die Trennung und Verbindung, die Unterschiedenes zu Reihen reversibler symbolischer Operationen verkettet. Auf diese Weise erzeugt sie ein »Dieses«, das sich weder zeigen noch sagen läßt. Materie und Form werden mit Operationen in der Zeitreihe verwechselbar: »Jeder Schritt ist Materie für den, der folgt, und Form für den, der vorauf45

Vgl. ebenda, S. 72 ff.

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Dramaturgische Logik

geht.« 46 Eine Ontologie der Gegensätze transformiert sich in Prozesse des Unterscheidens, die Formen als Oszillationen des Unterschiedenen hervortreiben. Anders als Tragödien steigern sie Lebenswirklichkeit nicht notwendig ins Exemplarische einer geschlossenen Gedankenform, die Zuschauer – oder Leser – einlädt, ihr eigenes Leben dazu ins Verhältnis zu setzen. Reihen existieren, indem sie erzeugt werden. Von sich aus besitzen sie weder Wesen noch Zentrum oder einen obersten Wert, der sich deduktiv aufspalten ließe. Ebensowenig entspringen sie primär einer phänomenologischen Sensibilität für Erscheinendes. Phänomene sind Fakten: Gemachtes. Da Form ebenso Materie für weitere Operationen ist wie Materie zur Form wird, erweisen beide sich als operativ verwechselbar. Einerseits werden dadurch Bestimmungsmöglichkeiten eingeschränkt. Andererseits werden neue Bestimmungsmöglichkeiten eröffnet. In Tätigkeiten des »Erkennens« oszillieren Stoff und Form als Optionen eines Unterscheidungsprozesses, der kein zugrundeliegendes »Wesen« oder substanzhaftes Identisches kennt. Deshalb lassen sich Formen als Zeichen verstehen. »Ein Zeichen erscheint an der Stelle eines Dings. Es handelt sich also nicht um eine Reduktion, eher um eine Transsubstantiation.« 47 Regeln des Verkettens sind nicht von der Sache festgelegt, die sich im Prozeß bestimmt. »Bei keinem der Schritte handelt es sich darum, den vorhergehenden nachzuahmen. Immer geht es darum, ihn an den vorhergehenden und den nachfolgenden anzuschließen, so daß man bei Bedarf vom letzten auf den ersten zurückkommen kann.« 48 Bestimmtheit entspringt demnach Operationen, die kein Etwas, sondern Leerstellen sind. Maximales »Sein« fällt Markierungen des Unterscheidens als generativen Zäsuren in Reihen zu. »Sein« und »Nichts« erweisen sich als verwechselbar, weil sie nicht identisch sind. Tätigkeiten des Unterscheidens haben weltschöpferische statt bloß Welt ordnende Funktion. Um Formen zu unterscheiden, sind weniger logische Reflexionen als empirische Beschreibungen erforderlich. Epistemologie wird zur Soziologie des Wissens. Beschreibungen von Unterscheidungstätigkeiten verleihen dem Formbegriff praktische Akzente. Eine schöpferische Magie der Lücke, die im Unterscheiden als Leerstelle der Verkettungen und als Relais differen46 47 48

Ebenda, S. 90. Ebenda, S. 78. Ebenda, S. 79 (Hervorhebung im Original).

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Schreiben und Text

tieller Weiterbestimmungen wohnt, muß produktiv gemacht werden. Auf der Strecke bleibt die Vorstellung einer Repräsentation der Welt in den Formen ihrer Bezeichnung. »Im Gegenteil, wir sind bei jedem Schritt auf einen gemeinsamen Operator gestoßen, der die Extreme von Materie und Form verbindet und der sich vom folgenden Schritt durch einen Bruch unterscheidet, durch ein gap, das durch keinerlei Ähnlichkeit überbrückt werden kann. Diese Operatoren verketten sich zu einer Serie, die quer zu der Differenz zwischen den Gegenständen und den Worten steht.« 49 Schreiben führt einen Operator ein, der Verhältnisse von Unterschied und Unterscheidung verschiebt. Zu lesen sind Geschichten »unreiner«, jeweils konkret geschehender empirischer Formen. »Philosophen« werden zu »Beobachtern«, die zu Autoren werden, um schreibend Formen in Kontexten auftreten zu lassen. Texte gleichen einer Bühne, auf der ein Regisseur Unterscheidungen inszeniert. Sie versammeln und setzen in Bewegung, was zuvor als unbewegt oder disparat erscheinen konnte – wenn es nicht ungesehen blieb. Bestimmtheit wohnt einem Etwas nicht inne. Sie entspringt aus Interaktionen mit anderen Gegenständen, Handlungen und Akteuren. Gegenstände und Materie-Form-Hybride werden durch Beschreibungen ähnlich und verschieden. Formen entstehen auf ähnliche Weise wie Charaktere im Theater. Weil jede Beschreibung endlich ist, wird die Praxis des Beschreibens unendlich. Beschreibungen versammeln Verschiedenes zu Gesellschaften, ohne ihnen gegenüber ein Allgemeines zu werden. Scheinbar Heterogenes wird zusammengebracht. Grenzen zwischen Innen und Außen verwischen ebenso wie zwischen Handlungen und Gegenständen. Statt etwas abzuteilen, geht es um Mobilisierung. 50 An die Stelle einer Alternative von Aussagen und Gegenständen tritt der »Aktant«. Aktanten sind »Gelegenheiten, die sich verschiedenen Entitäten bieten, miteinander in Kontakt zu treten.« 51 Definitionen sind mithin etwas Veränderliches. Verkettungen von Aktanten repräsentieren nichts, sie artikulieren etwas. Artikulationen versammeln Entitäten in Netzen von Beziehungen, ohne immer sprachlicher Natur sein zu müssen. Beispielsweise verändert das Einfügen von Bildern den Kontext einer sprachlichen Artikulation innerhalb verschiedener 49 50 51

Ebenda, S. 85 (Hervorhebung im Original). Vgl. ebenda, S. 120. Ebenda, S. 172.

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Kontexte des Unterscheidens. Neue Verkettungen werden möglich, andere Verbindungen werden sichtbar, überraschende Perspektiven tun sich auf. Unruhige Ereignisse treten an die Stelle eines ruhigen Wesens. »Jede Entität ist ein solches Ereignis darüber, wer mit wem, wer mit was, was mit wem, was mit was zusammenbleibt.« 52 Aus der paradoxen Generativität der Lücke im Prozeß des Unterscheidens ergibt sich die inhärente Unruhe allen Bestimmens. Statt von Gegensätzen oder Widersprüchen wäre von hybriden Formen zu sprechen. Ein Subjekt-Prädikat-Schema, das im Hintergrund der Aristotelischen Theorie der Substanz steht, verlagert sich zu einem Tätigkeitsschema des Unterscheidens, das an Verben orientiert ist. Verben bezeichnen Vektoren in Feldern von Übergängen. Übergänge lösen Eindeutigkeiten oder Zweiwertigkeiten auf. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf simultane Zustände einer Form. Bewegungen, die Verben bezeichnen, stören feste Ordnungen der Substantive und Subjekte, da sie transformieren, was sie verknüpfen. Gegenstände zu bestimmen erfordert nun, zu untersuchen, welche Aktivitäten diese ermöglichen. Nach Substanzen zu fragen heißt, nach Prozessen zu suchen. Welche Aktivitäten »etwas« ermöglichen, wird manchmal erst sichtbar, wenn es in Beschreibungen vorkommt. »Dingend«, sagt ganz ähnlich Martin Heidegger, »sind die Dinge Dinge.« 53 Ihre Ordnung ist prozessual und rhizomatisch, nicht hierarchisch. Wirkliches meldet sich als Widerständigkeit und Störung, nicht als ewige Gedankenform. »Menschliche und nicht-menschliche Akteure erscheinen zunächst als Störenfriede.« 54 Wirkliches zeigt sich als Beugung im Raum des Sinns: als Vektor in einem Bestimmungsgefüge, als Verschiebung von Erwartungen oder als Möglichkeit, in symbolische Verkettungen einzutreten. »Was ist ein ›Akteur‹ ? Jedes Element, das Raum um sich herum beugt, andere Elemente von sich abhängig macht und deren Willen in seine eigene Sprache übersetzt. Ein Akteur bewirkt Veränderungen in der Menge von Elementen und Konzepten, die für gewöhnlich zur Beschreibung der sozialen und der natürlichen Welt verwendet wird; indem er festlegt, was zur Vergangenheit gehört und woraus die Zukunft besteht, was vorher war und was danach kommt, indem er BiEbenda, S. 197. Heidegger, M.: Unterwegs zur Sprache (1959). Pfullingen 19868, S. 22. 54 Latour, B.: Das Parlament der Gegenstände. Für eine politische Ökologie. Frankfurt/M. 2001, S. 115. 52 53

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lanzen aufstellt und Chronologien aufzeichnet, erzwingt er seinen eigenen Raum und seine eigene Zeit. Er definiert den Raum und seine Organisation, Größen und ihre Maße, Werte und Standards, die Gewinne und Regeln des Spieles – sogar die Existenz des Spiels selbst.« 55 Sowenig wie im Aristotelischen Mythos gibt es hier einen abstrakten Zeit-Raum. Was ist, existiert als qualitativer Unterschied in Feldern des Unterscheidbaren: Es existiert, indem es Beziehungen »beugt«. Beschreibungen solcher Art intervenieren in gewohnte Ordnungen von Sprache und Welt. Ordnungen, wie die Akteur-Netzwerk-Theorie Latours sie erzeugt, kennen kein Apriori. 56 Wirklichkeit kommt in Graden vor. Je länger eine Verweisungs- und Transformationsreihe, desto realer die Assoziation, desto mehr Unbefragtes, Selbstverständliches und rekursiv Benutztes ist in »Black Boxes« deponiert, die Unterscheidungen und Bezeichnungen von etwas implizieren. Black Boxes sind wirklich, weil sie unsichtbar machen, was sie erzeugen. In ihnen ist Allgemeinheit verwahrt, deren Kraft auf ihrer Unsichtbarkeit beruht. Das Aristotelische Konzept des Allgemeinen verschiebt sich zu einer praktischen und sozialen Kategorie des hier und jetzt Unbefragten. Black Boxes übernehmen Funktionen der »Wesen«, indem sie Unbefragtes hüten, auf das hin sich Empirisches ordnen läßt. Niemals wird es gelingen, alle Black Boxes – alle Voraussetzungen des Wirklichen – zu öffnen. Welt kann nicht im ganzen »gesagt« werden. Ein Programm der Aufklärung, das auf eine transparente Welt ohne Rätsel zielte, wäre schlechte Utopie: nicht bloß unmöglich, sondern das Ende der Welt. Welt bleibt eine Faltung des Sinns in sich selbst. Epistemische Realität entsteht im Arrangement der Unterscheidungen und durch deren Anschlußfähigkeit an weitere Unterscheidungen. Unterscheidungsoperationen entfalten Kontexte, die Denkweisen, Handlungsstile, Praktiken, Sachen und Menschen verbinden. Weder induktiv noch deduktiv, weder allgemein noch besonders sind Unterscheidungen geordnet, die als Verweisungsknoten Bestimmtes unterscheiden. Wissen und Wirklichkeit bleiben konkrete Unterscheidungen: hier und jetzt, getroffen von jemandem mit Blick auf

Callon, M./Latour, B.: Die Demontage des großen Leviathans: Wie Akteure die Makrostruktur der Realität bestimmen und Soziologen ihnen dabei helfen. In: Belliger, A./Krieger, D. J. (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur AkteurNetzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, S. 75–101, hier S. 85. 56 Vgl. ebenda, S. 90. 55

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Anderes. Um »Wesen« zu erkennen, sind Vergleiche erforderlich, die sich auf andere Wesen beziehen. Deshalb entfaltet Latour seine »Anthropologie der Modernen« als Versuch, »unterschiedliche Typen des Wahrsprechens zu kontrastieren« und »inkompatible Gelingensbedingungen« zu vergleichen. 57 Unterscheidungsformen müssen mit Unterscheidungsformen, nicht mit Unterschiedenem verglichen werden. Anstelle von Gemeinsamkeiten rücken Diskontinuitäten, Lücken und Verknüpfungstechniken in den Blick. »Um zu existieren, muß ein Wesen nicht nur seinen Weg durch ein anderes nehmen (…), sondern auch auf eine andere Weise (…), indem es, wenn man so sagen kann, andere Weisen erkundet, sich zu verändern, zu alterieren.« 58 Bestimmtheit – das, was ein Etwas spezifisch sein läßt –, zeigt sich durch eine Reihe von Prüfungen als Kontrast. 59 Immer wieder ist Arbeit an der Form zu verrichten, weil Konstanz selbst eine Form der Praxis ist. Allgemeine Wahrheiten würden keine Unterschiede machen. Selbst wenn eine Black Box geöffnet und Unbefragtes thematisch wird, löst es sich nicht in einem Diskurskonsens auf. 60

3.2

Dichte Beschreibungen: Clifford Geertz

Gibt es Darstellungen, die auf ähnliche Weise exemplarisch sind, wie dies für die Tragödie galt, die Aristoteles als Modell seiner Theorie der Handlung dient? Beschreibungen, die Bruno Latour im Auge hat, unterlaufen zwar die Aristotelische Unterscheidung zwischen Dingen und Handlungen, müssen jedoch keine Allgemeinheitsansprüche erheben. Strenggenommen fallen sie damit nicht unter die »philosophischen« Darstellungen im Sinne des Aristoteles. Clifford Geertz nun hat eine philosophische Ethnografie ausgearbeitet, die mit Bruno Latours Projekt gemeinsam hat, Beschreibungen als erkenntniskonstituierende Praktiken zu betrachten. Mit Aristoteles, und weniger mit Latour, B.: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Berlin 2014, S. 53. Zu diesen Weisen des Wahrsprechens gehören Wissenschaft, Politik, Recht, Technik oder Ökonomie. Die Reihe ließe sich verlängern. 58 Ebenda, S. 111 (Hervorhebung im Original). 59 Vgl. ebenda, S. 112. 60 Aus der Sicht von Geertz wäre auch eine Philosophie diskursiver Vernunft eine Praxis des Anlegens von Black Boxes. – Vgl. Habermas, J.: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt/M. 1981. 57

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Latour, hat sie gemeinsam, exemplarische Beschreibungen anzustreben, in denen so etwas wie ein Äquivalent des »Allgemeinen« aufscheint. Beschreibungen, die solchen Anforderungen genügen, nennt Clifford Geertz »dicht«. Dichte Beschreibungen wären mithin Darstellungen, die im Besonderen eines Ereignisses eine konkrete Allgemeinheit sichtbar machen, in der eine Kultur sich im Ganzen betrachten, aber nicht abschließend beschreiben oder logisch resümieren läßt. Allgemeinheit beziehen solche Beschreibungen aus interner Prägnanz einerseits und der exemplarischen Qualität ihres Materials andererseits. Geertz’ Beschreibung eines Hahnenkampfes gibt ein Beispiel dafür, wie ein Ereignis, an dem Grundzüge einer Kultur – hier: der balinesischen – sichtbar werden, aus einem exemplarischen Material heraus zu entfalten ist. Geertz’ Beschreibungen bewegen sich sowohl auf der Ebene von Gegenständen als auch auf der Ebene von Handlungen oder Vorstellungen. Natürliche Gegenstände, Artefakte, Affekte und Handlungen spielen jeweils Rollen in einem symbolischen Bedeutungskontext, den eine Beschreibung sichtbar macht. Idealtypisch wird eine Darstellung, die alle Unterscheidungen in ein Verhältnis setzt, das sie als besondere Unterscheidungsform selbst »ist«. Ethnografen schreiben. Ihre Texte stiften Ordnungen von Unterscheidungen, die beispielsweise ein Gewimmel von Männern und Hähnen auf einem Dorfplatz in ein verständliches Modell der balinesischen Kultur verwandeln. Von literarischen Darstellungen unterscheiden sie sich durch die möglichst lückenlose Dokumentation ihrer Transformationsschritte. Das verbindet sie mit Beschreibungspfaden zirkulierender Referenz in der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours. Zwar handelt es sich um Fiktionen – im Sinne von etwas Gemachtem –, doch das Geschilderte gewinnt seine Allgemeinheit – oder seinen Erkenntniswert – aus der Faktizität der Elemente, die eine ethnografische Darstellung verknüpft. Den Kontext einer »Kultur« betrachtet Geertz als etwas, das immer weitergehende Unterscheidungen und Relationierungen erlaubt. Ethnografische Texte erweitern das »Diskursuniversum«, indem sie Vergleiche zwischen Unterscheidungen und Unterscheidungstexturen herstellen. 61 Darstellungen balinesischer Hahnenkämpfe sind Darstellungen, wie sie das Theater oder Kino der westlichen Kultur liefern, darin ähnlich. Vgl. Geertz, C.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M. 1987, S. 20 f.

61

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Nicht zufällig vermutet Geertz, in der abendländischen Kultur falle dem Theater eine analoge Funktion zu wie Hahnenkämpfen in Bali. Anders als ein Theaterstück jedoch fordert eine soziologisch-ethnografische Beschreibung dazu auf, ein möglichst komplettes Tableau kultureller Unterscheidungen zu durchlaufen, um in einem Ereignis das Ganze einer Kultur exemplarisch zutage zu fördern. Im Durchlaufen dieser Relationenganzheit, die eine Darstellung durch ihre Unterscheidungen eröffnet, ähnelt die ethnografische Beschreibung einem Aristotelischen »Mythos«. Wie in einem Brennglas versammelt sie verschiedene kulturelle Register – von der Ökonomie über die Religion und soziale Rangunterschiede bis zu politischen oder historischen Selbstbildern –, um sie als soziale Praxis zur Aufführung eines Textes zu bringen. Anders als im Theater sind diese Ereignisse nicht imaginiert. Ethnografen und Dichter schreiben, doch sind Ethnografen keine Dichter. Gleichwohl sind ethnografische Beschreibungen Kunstwerken darin ähnlich, daß sie Gesellschaft darstellen und als Darstellungen intendiert und gerahmt werden. »Wie jede Kunstform – das ist es nämlich, womit wir uns hier letztendlich beschäftigen – macht der Hahnenkampf gewöhnliche Alltagserfahrungen verständlich, indem er sie durch Handlungen und Gegenstände darstellt, deren praktische Konsequenzen aufgehoben und auf das Niveau des reinen Scheins reduziert (oder, wenn man will, erhoben) wurden, auf dem ihre Bedeutung stärker artikuliert und deutlicher wahrnehmbar ist.« 62 Solche Darstellungen, die sich nur im Modus einer Darstellung unterscheiden lassen – und mithin nicht als Klassifikation von Eigenschaften verständlich werden –, demonstrieren, worum es in einer Kultur – in einer jeweils verständlichen Welt – geht. In ihnen kommen Sinnformen zum Ausdruck, ohne die Gegenstände unverständlich blieben. Außerhalb solcher Kontexte hätten Was-Fragen keine Bedeutung. In Darstellungen über Darstellungen, die sich durch die Steigerung von Besonderem zu Allgemeinem aufbauen und die typisieren, was sie beschreiben, indem sie alles im Spiegel eines Dieses vorführen, erschließt sich Beobachtung als Weltzustand: Subjekt und Objekt der Beobachtung ergeben sich als Pole einer Oszillation von Unterscheidungen. Typisierende Formen einer Kultur zeigen sich als exemplarische und damit als besondere, empirische Formen. Hahnenkämpfe haben, in diesem Sinne, mit dem abendländischen Thea62

Ebenda, S. 246.

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Schreiben und Text

ter manches gemeinsam. Der Hahnenkampf greift »Themen – Tod, Männlichkeit, Wut, Stolz, Verlust, Gnade und Glück – auf, ordnet sie zu einer umfassenden Struktur und stellt sie in einer Weise dar, die ein bestimmtes Bild von ihrem eigentlichen Wesen hervortreten läßt. Er konstruiert einen Zusammenhang, verleiht diesen Themen für diejenigen, die solche Konstruktionen zu würdigen wissen, eine Bedeutung, macht sie sichtbar, fühlbar, greifbar, ›wirklich‹ in einem bildlichen Sinne.« 63 Unbefragtes und Normales einer Kultur, das, was auch in ihrer »ordinary language« seinen Niederschlag findet, wird in ethnografischen Darstellungen sichtbar, weil es auf »ungewöhnliche Weise« funktioniert. 64 In diesem Sinn ist auch das Theater ein kulturelles Labor. »Dichte« Beschreibungen sind im Kantischen Sinne »unreine« Reflexionen. Sie sind typisch, weil sie Unterschiedliches zusammenbringen und in eine maximale Komplexität von Relationen rücken. Gesteigertes Besonderes wird zum Typischen, weil es Gegenstände wie auch Handlungen versammelt. Aus philosophischer Sicht macht es einen Unterschied, wie »dicht« Beschreibungen gestaltet werden. Zwischen Latours und Geertz’ Praxis des Beschreibens bestehen Differenzen im Blick auf mögliche Allgemeinheitsansprüche. Steht Geertz’ Ethnografie mit ihrer Akzentuierung des Fiktionalen einer Darstellung dem Mythos-Gedanken der Aristotelischen Poetik näher als Latours Soziologie, entfaltet die dokumentarische Fiktion der »dichten Beschreibung« zugleich eine Alternative zu einer Form des fiktionalen Theaters, die Fragen nach Spielräumen eines nichtfiktionalen Theaters wachruft. 65 Spätestens bei der Frage, welche Ereignisse ein Beobachter zum Anlaß für seine Darstellung wählt, werden Allgemeinheitsansprüche relevant. Größerer oder geringerer Erkenntniswert spielt weniger eine Rolle als exemplarische Qualitäten einer Darstellung. Darin nämlich besteht ein schwaches kulturphilosophisches Äquivalent zu Hegels Konzept der Totalität oder zu Aristoteles’ Anspruch auf Allgemeinheit. Exemplarische Ereignisse in dichten Beschreibungen zeigen Kultur als momenthafte Unterscheidungstextur, die beschreibend erschlossenen und in wesentlichen Hinsichten durchlaufen wird. Darstellungen in diesem Sinne als bildliche Formen zu betrach63 64 65

Ebenda. Ebenda, S. 40. Vgl. dazu Kapitel 4 und 10.

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ten heißt, sie als Fiktionen, Modelle und Metaphern ernstzunehmen. »Als Bild, Fiktion, Modell und Metapher ist der Hahnenkampf eine Ausdrucksform. Seine Funktion ist es nicht, soziale Leidenschaften zu zähmen, noch sie zu schüren (…), sondern sie mit Hilfe von Federn, Blut, Menschenansammlungen und Geld darzustellen.« 66 Indem ein Text diese Funktionen entfaltet, gewinnt er als Darstellung zweiter Ordnung ebendiese Funktion. Mit ihm erscheint das Bild eines Ereignisses als eine differenzierte Ordnung von Unterscheidungen, die Gegenstände und deren Beobachtungsverhältnisse zu unterscheiden erlaubt. Dieses Bild ist ein Gemachtes, eine Fiktion. Verschiedenes wird als Ähnliches darin unterscheidbar und vergleichbar. Weil es als Fiktion markiert ist wie ein Theaterstück, ist es geeignet, Tatsachen als Korrelate von Darstellungen zu unterscheiden, mit denen Beobachter sich ins Verhältnis zu Wirklichem setzen. Fiktionen werden zu Modellen, indem sie Vergleichsmöglichkeiten eröffnen und Besonderes ins Licht des Allgemeinen tauchen. Vergleiche verschieben Bedeutungen, indem sie Allgemeines für besondere Arrangements von Unterscheidungen nutzen und verschieben. Als Bild, Fiktion, Modell und Metapher wird Besonderes allgemein. Es gewinnt Züge eines Typus. In der Wirklichkeit, im Text oder im Theater.

4.

Spiel

4.1

Bühne: Erving Goffman

Das Theater, philosophische Texte und soziologische oder ethnografische Beschreibungen bieten Varianten von Darstellungen, die das Ganze einer Kultur exemplarisch verdichten. Ereignis und Kultur, Form und Kontext bleiben operativ verwechselbar, indem sie innerhalb der Grenzen einer Darstellung Ordnungsmöglichkeiten des Verschiedenen und Ähnlichen vor Augen führen. Grenzen, Rahmungen und Verschränkungen von Sache, Unterscheidungsordnung und Beobachter sind gleichermaßen konstitutiv für ihre Funktion, Wirkliches zu zeigen. Weil sie diese Verschränkungen einerseits als Unterscheidungen markieren und andererseits im Vollzug unsichtbar machen, halten Darstellungen verwechselbar, was nicht identisch ist. 66

Vgl. Geertz, C. Dichte Beschreibung. A. a. O., S. 246.

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Spiel

Wie voraussetzungsvoll ein solches Konzept ist, zeigt sich an mancherlei Versuchungen, die moderne Gesellschaft und Kultur nach dem Modell des Theaters – genauer: der Tragödie – zu modellieren. 67 Als narratives Schema entfaltet die Tragödie in der Sozialphilosophie und Soziologie, manchmal explizit und mitunter subkutan, große Wirkungen. Von Rousseau über Max Weber und Simmel bis zu Horkheimer und Adorno erscheint die Geschichte der Moderne als tragisches Geschick. Kulturskeptische Denker schildern die moderne Gesellschaft gern als Entwicklungszusammenhang, der die Vernunft wie einen tragischen Helden vorführt. Erving Goffmans Arbeiten hingegen führen mögliche Gewinne vor Augen, die sich aus der Beschäftigung mit der Form des Theaters ziehen lassen, wenn das Theater als Metapher für Kommunikation behandelt wird, ohne Gesellschaft nach dem Bild einer Tragödie vorzustellen. Goffmans Konzept des Theaters öffnet Perspektiven für eine Theorie des Unterscheidens, die der Funktion des »Dritten« in der Logik wie in der Ästhetik des Darstellens eine zentrale Bedeutung einräumt. An Funktionen des Chores in der antiken Tragödie läßt sich so anknüpfen. Speziell die Funktion des ausgeschlossenen Dritten wird gegenüber einer Logik zweiwertigen Unterscheidens rehabilitiert. Am Beispiel der Tragödie – vor allem im Blick auf die Funktion des Chores – zeigen sich Grenzen zweiwertigen Unterscheidens. Deren Reflexion wiederum läßt auch Überlegungen zu einer Logik des Urteils und der Funktion der Substanz in Relationierungen von Einem und Vielem in anderem Licht erscheinen. Brisant wird diese Möglichkeit auch deshalb, weil Goffman nach der Konstitution einer Vorstellung fragt, die für westliche Kulturen eine zentrale Rolle spielt: des Selbst oder der Person. Indem Goffman das »Selbst« als Prozeßform differentieller Unterscheidungsbildungen betrachtet, deren Metapher das Theater ist, schlägt er eine Brücke zu Aristotelischen Betrachtungen des Handelns in der Poetik. Antike Vorstellungen der »Person« und des Handelns wiederum erweisen sich als schwer vereinbar mit Konzepten des »Selbst«, wie sie in der modernen westlichen Kultur ausgearbeitet worden sind, die sich die moderne Soziologie zum Gegenstand macht. Das Selbst erscheint Goffman keineswegs als Quelle der GesellDie Wurzeln der entstehenden Soziologie, als einer Wissenschaft der modernen Gesellschaft, liegen nicht zufällig in der Literatur. Vgl. Lepenies, W.: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. Reinbek bei Hamburg 1988.

67

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schaft. Darin kommt seine Soziologie durchaus mit Überzeugungen der Aristotelischen Theorie des Sozialen überein. Vielmehr gelangt es als Resultat einer Darstellungsarbeit zur Erscheinung. Es ist, wie Goffman sagt, »eine dramatische Wirkung«. 68 Sich selbst entdeckt es überhaupt erst in der operativen Differenz zu einem Alter ego im Rahmen von Interaktionen. Beschreibt für Aristoteles das Theater Handlungen, faßt Goffman in seiner Theatermetaphorik Rollen ins Auge. Handlungen verbindet mit Rollen, daß es sich um Relationen handelt. Statt eine Bühne aufzubauen, auf der sich das Schicksal der Gesellschaft abspielt, betrachtet Goffman Situationen wie dramaturgische Konstellationen. Anders als im Theater ist im »wirklichen« Leben die dreipolige Konstellation von Schauspieler, Figur und Zuschauer meistens auf eine Zweierkonstellation reduziert. Für den einen Akteur ist der Andere jeweils zugleich Interaktionspartner und Zuschauer. Das Zuschauersein des Anderen, der ebenfalls eine Rolle spielt, bei der Ego zuschaut, ist für Form und Gelingen einer Interaktion wesentlich. Weil ein Akteur in seiner »Darstellung« vor anderen von diesen zugleich als Darsteller beobachtet wird, bleibt Kommunikation von einer fundamentalen Asymmetrie geprägt. Ins Auge gefaßt wird »das standardisierte Ausdrucksrepertoire, das der Einzelne im Verlauf seiner Vorstellung bewußt oder unbewußt anwendet.« 69 »Skripte« für Rollen entstehen aus dem Zusammenspiel von Erwartungen. Akteure reagieren darauf ebenso wie sie es mitprägen. Goffmans am Theater gewonnene Kategorien leiten eine Beobachtungsperspektive an, die Versuchungen widersteht, dem sozialen Prozeß eine Dramaturgie zu unterlegen, derzufolge große Akteure – große Allgemeinheiten wie die Rationalität, die Aufklärung, die Klassen u. ä. – in tragische Konstellationen verstrickt sind. Ohne die Gesellschaft als ganze zu deuten, entwickelt Goffman eine kategoriale Matrix für das Studium unterschiedlicher Institutionen. Technisch lassen sich Institutionen als organisierte Systeme zur Erreichung bestimmter Ziele betrachten. Politisch können wir sie als Ordnungen ansehen, die legitime Erwartungen, Handlungen und Sanktionen aufeinander beziehen. Strukturell etablieren sie Statusdifferenzen. Kulturell können wir sie als Wertordnungen analysieren, die Standards der Wertschätzung, des Verhaltens, der Sitte oder 68 69

Goffman, E.: Wir alle spielen Theater (1959). München 19886, S. 231. Ebenda, S. 23.

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Spiel

des Geschmacks implementieren. In dramaturgischer Hinsicht schließlich arrangieren Institutionen »Techniken der Eindrucksmanipulation«, mit deren Hilfe Identitäten und Beziehungen aufrechterhalten werden. 70 Die Metapher des Theaters lenkt die Aufmerksamkeit auf die Relation von Akteur, Rolle und Zuschauer, während die Differenz von Theater und Wirklichkeit den Blick auf Folgen richtet, die sich von der Verschiebung einer Dreier- auf eine Zweierkonstellation ergeben. Dirk Baecker hat darauf hingewiesen, wie eklatant mißverstanden Goffman wäre, würde man die Metapher wörtlich nehmen, und wie folgenreich die Verschiebung beider Konstellationen ist. 71 Rollen, die »gespielt« werden, um Gesellschaft immer aufs neue zu erzeugen, dienen Akteuren dazu, herauszufinden, wer sie selbst sind. Entdeckungen eines »Selbst« gelingen, indem Akteure sich als differenzbasiert, mithin als Nichtidentität oder eben als »Darsteller«, unterscheiden. Dadurch werden sie »Person« und insofern mit den Rollen – im anspruchsvollen Sinne – verwechselbar, die sie »spielen«, um ihre identische Nichtidentität aufrechtzuerhalten, dafür Bestätigung zu suchen und sie situationsspezifisch zu variieren. Im »Spiel« der Differenzen wird nicht etwa Reales fiktiv. Wirklichkeit wird allererst unterscheidbar. »Die Wirklichkeit geht in diesem Spiel nicht verloren, sondern wird im Medium ihres Verlustes gewonnen. Die Wirklichkeit ist genau das, was übrig bleibt, wenn ihr Spiel durchschaut wird. Sie benötigt die Fiktion, um sich als deren Anderes zu behaupten, so sehr dann auch die Benennung dieses Anderen wieder dem Verdacht der Fiktion verfällt.« 72 Sozialität erscheint als Phänomen operativer Differenzbildungen. Einem Ego bieten sie hinreichend resonanzfähige Andersheiten an, um eigene Selektivität zu bemerken und zu kontrollieren. Terminus für diese Art von Selektivität ist »Person«. Selbstreferenz, bei der Differenz als bestimmungsbedürftige Kontingenz auffällt, heißt Freiheit, die wählend zu gestalten ist. »Die Metapher des Theaters verweist demnach auf nichts anderes als darauf, dass die Geburtsstunde des Sozialen nicht die Entdeckung ist, dass ein Individuum sich sozialen Erwartungen beugen muss, sondern vorab und wesentlicher die Entdeckung, dass ein

70 71 72

Vgl. ebenda, S. 218 f. Vgl. Baecker, D.: Kein Theater. In: Ders. Wozu Theater? Berlin 2013, S. 163 ff. Ebenda, S. 165.

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Individuum ein Komplement seines Umgangs mit Erfahrungen und darunter auch Erwartungen ist.« 73 Theater als soziale Institution zeigt, wie sich die Konstellation von Akteur, Rolle und Zuschauer gestaltet, wenn Darsteller als Darsteller und das Publikum als Publikum unterschieden werden. Darin wird das Theater zur Metapher des Sozialen. In ihm erblicken wir eine Ordnung, die so reflexiv gebaut ist, daß sie auf außertheatrale Kontexte übertragbar wird, um dort als Rahmen der Beobachtung zu dienen. Das antike Theater hat mit der Differenzierung zwischen zwei bis drei Schauspielern, die eine Vielzahl von Rollen darstellen, sowie einer doppelten, in Chor und Publikum gespaltenen Beobachterrolle dafür ein komplexes Modell bereitgestellt. Hier wird die Differenz zwischen Darsteller und Rolle auf die Stimme verlagert – und durch die Maske unterstützt –, während der Chor einen ins Spiel verstrickten und zugleich außerhalb des tragischen Zusammenhangs bleibenden Beobachter markiert, der wiederum in dieser Doppelfunktion vom Publikum beobachtet wird, das sich damit als Beobachter dritter Ordnung ins Spiel bringt und das Bühnenspiel für seine eigene Wirklichkeit wirklich macht, indem es das Spiel als Fiktion ernstnimmt. Figuren im Spiel ermöglichen mehrfache und reflexiv gebaute Unterscheidungen. Deren Struktur – nicht unbedingt: deren Inhalt – mag wesentlich zur Erfahrung der Beobachtungsformen der Gesellschaft und zur modellhaften Funktion der Tragödie beigetragen haben. Hochgetriebene Reflexivität beugt Versuchungen vor, die Dramaturgie der Tragödie mit einer tragischen Wirklichkeit zu identifizieren.

4.2

Wetten: Jacques Derrida

Produktiv wird Goffmans Theatermetapher nicht zuletzt deshalb, weil sie die Dynamik des Unterscheidens als Spiel um die Erzeugung von Wirklichkeit verständlich macht. Es ist unvermeidlich, sich auf dieses Spiel einzulassen. Niemand ist reiner Beobachter. Beobachten interveniert in den Kontext des Unterscheidbaren. Auch ein Selbst entsteht als Verhältnis im Kontext eines Rollenspiels. Für sich und für andere wird es darin verwechselbar und als verwechselbares identisch. »Person« ist der Ausdruck für eine paradoxe Form der Identität 73

Ebenda, S. 166.

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Spiel

in der Nichtidentität. Sichtbar werden solche Relationen in Darstellungen. Sie ermöglichen ein Spiel, das Wirklichkeit zu unterscheiden erlaubt. Diese erscheint als endliche Unendlichkeit der Verkettung von Unterscheidungen, die zwar an ein praktisches, jedoch nicht an ein logisches Ende gelangen. An die Stelle eines Grundes oder Zentrums tritt eine Zirkularität des Unterscheidens. In diesem Sinne ist die Unterscheidung – die Form des Zeichens – eine absolute Unterscheidung. Bei aller Kritik, der Jacques Derrida die »Metaphysik« unterzieht, ist auch sein Begriff des »Spiels« ein absoluter Begriff: »Wenn sich die Totalisierung alsdann als sinnlos herausstellt, so nicht, weil sich die Unendlichkeit eines Feldes nicht mit einem Blick erfassen läßt, sondern weil die Beschaffenheit dieses Feldes – eine Sprache, und zwar eine endliche Sprache – die Totalisierung ausschließt; dieses Feld ist in der Tat das eines Spiels, das heißt unendlicher Substitutionen in der Abgeschlossenheit (…) eines begrenzten Ganzen. Dieses Feld erlaubt die unendlichen Substitutionen nur deswegen, weil es endlich ist, das heißt, weil ihm … etwas fehlt: ein Zentrum, das das Spiel der Substitutionen aufhält und begründet.« 74 Was Derrida über das Spiel der Différance sagt, läßt sich auf eine Theorie der Darstellung übertragen. Darstellungen »sind« endliche Unendlichkeiten der Verkettung von Zeichen ohne Logik der Repräsentation – die Abwesendes in einem Anwesenden verdoppeln möchte – und ohne eine Metaphysik des Seins als eines unsagbaren Dieses, auf das Anstrengungen der Repräsentation zielen. Allerdings, daran erinnert Goffman, geschieht dieses Spiel als Kommunikation nicht von selbst. Jemand spielt es jetzt und hier mit anderen um etwas. Die »Différance« agiert nicht autonom. Beschreibungen, auch im Sinne Latours und Geertz’, nehmen Züge in diesem Spiel vor. Abgeschlossene Beschreibungen, die einer Totalität der Sache gerecht würden, versprechen sie nicht. Doch ersetzen sie die Stelle des Grundes durch die Perspektive und Entscheidung für bestimmte Unterscheidungen. Spiele der Darstellung sind im Sinne Derridas unbegründet. »Die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche.« 75 Das widerspricht der Endlichkeit der Darstellungen nicht, denn jede Darstellung interveniert in das Feld, das sie artikuliert, transformiert und erweitert. »Der Überschuß des Signifikanten, sein supplementä74 75

Derrida, J.: Die Schrift und die Differenz (1967). Frankfurt/M. 1976, S. 436 f. Ebenda, S. 424.

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rer Charakter, ist also die Folge einer Endlichkeit, das heißt eines Mangels, der supplementiert werden muß.« 76 In der Supplementierung – in der Verkettung von Unterscheidungen, die eine Zeichenfunktion ausmacht – entsteht jeweils die differentielle Wirklichkeit einer Welt. Darum bleibt das Spiel der Zeichen riskant: Gespielt wird um Einsätze des Wirklichen. Niemand kann sich dem Spiel entziehen und darauf verzichten, Einsätze zu machen. Suggeriert das alltägliche Verständnis eine freiwillige Teilnahme an Spielen, die sich durch bekannte Regeln und zumeist unernste Kontexte definieren, zielen Goffmans und Derridas Begriffe auf »absolute« Spiele. Sowenig man nicht nicht kommunizieren kann, kann man nicht nicht »spielen«. Wer spielt, macht Züge innerhalb einer Welt, die auf dem Spiel steht und in der Spieler Personen werden, weil die Regeln des Spiels unklar, Einsätze nicht festgelegt und Gewinner unbekannt sind. Auf dem Spiel steht Welt. Im Unterscheiden – dem Sagen von Etwas – wird Welt, in der Terminologie Martin Heideggers, strittig. Wahrheit geschieht in der Offenheit der Frage, in der Bestimmtes als Unterschiedenes unterscheidbar wird. 77 »Erstritten« wird eine Offenheit des Sinns statt eines festen Bestimmtseins. »Wahrheit geschieht nur so, daß sie in dem durch sie selbst sich öffnenden Streit und Spielraum sich einrichtet.« 78 Sein, Wesen und Wahrheit fügen sich zu einer Ordnung, die aus einer Frage entspringt, die Welt immer dann ins Verhältnis zu ihr selbst setzt, wenn jemand zu unterscheiden beginnt. Alles referiert auf ein Etwas, das es im Unterscheiden bezeichnet, als direkt Unsagbares der Bezeichnung entzieht und für unendliche Supplementierungen in endlichen Feldern des Unterscheidbaren freigibt. Zwischen Gegenständen und Handlungen läßt sich nicht sinnvoll trennen. »Sagen« ist potentiell unendlich wie »Sein«. Über die »Wahrheit« der Referenz im Sinne einer Repräsentation der Sache im Zeichen ist damit nichts ausgemacht. »Etwas« ist keine Tatsache, deren Dieses-sein sich fixieren ließe. Wie die Welt entspringt ein Dieses aus dem Glauben an seine weiteren Möglichkeiten des Bestimmtwerdens. Aufgrund ihrer Verwechselbarkeit gleicht Wahrheit – im Singular – einem zirkulierenden Tausch in der Ökonomie kommunikativen Ebenda, S. 438 (Hervorhebung im Original). Vgl. Heidegger, M.: Der Ursprung des Kunstwerks (1935/36). In: Ders.: Holzwege. Frankfurt/M. 19806, S. 34 ff., 47. 78 Ebenda. 76 77

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Spiel

Unterscheidens. Wahr-Sagen wird mit Verhaltensweisen auf einem Markt vergleichbar, wo Unterscheidungen andere Unterscheidungen unterscheiden und rekursiv verketten. Wirklichkeit wirkt als Kredit auf Anschlüsse, der im unterscheidenden Sagen mit Referenz auf ein unsagbares Dieses eingeräumt wird. Wert erlangt es dadurch, strittig zu sein. Rede – Logos – verankert das Ereignis des Unterscheidens im Hier und Jetzt einer Welt, indem sie Ego und Alter in ein Spiel der Unterscheidungen verstrickt, bei dem sie selbst und die Welt auf dem Spiel stehen. Die Unterscheidung ist ein Ereignis, das Welt öffnet und mit ihr selbst vergleichbar macht, das Unterscheidungen und Akteure – Ego und Alter auf einer Bühne der Kommunikation wie einem Theater oder auf einem Markt – trennt und verbindet, das Möglichkeiten als kontextuelle Alternativen zuspitzt und entscheidbar macht – also Freiheit ermöglicht – und das die Wirklichkeit – den Anschluß an Welt – riskiert. Jacques Derrida hat diese Verflechtung mit einer Wette verglichen, die eingeht, wer um etwas streitet. 79 In der Kommunikation werden Ego und Alter miteinander und mit der Welt verflochten, deren jeweilige Wirklichkeit verhandelt wird. Unterscheidend werden, um den Begriff Bruno Latours aufzunehmen, zirkulierende Referenzen gepflegt, die solange wahrheitsökonomisch ertragreich sind, wie der Glaube ans Sein des Seienden sich in der Antwort des Alter ego – in seinem Spiel, in dem er sich zugleich zeigt und verbirgt wie Ego – bestätigt. Ertrag des Spiels um die Welt ist Welt. Aus diesem Grunde kann es, davon ist Aristoteles ebenso überzeugt wie Heidegger, nur eine Wahrheit geben. Unterscheidungen fallen darin nicht etwa zusammen wie in einem schlechten Absoluten. Hier bewährt, reproduziert und verändert sich Welt als Verschränkung von Unterschied und Unterscheidung. Vom Theater lernen Philosophen und Soziologen, wie wichtig es ist, Unterscheidungen im Spiel ernst und die Wirklichkeit wie ein Spiel zu nehmen – oder Wirklichkeit als das zu begreifen, was im Spiel als Anderes unterscheidbar wird. Unterscheidungsordnungen, die Verschiedenes ähnlich und Ähnliches vergleichbar machen, sind als Zeichenprozesse kontinuierlich, ohne logisch sein zu müssen. Logik erscheint aus Derridas Sicht wie ein Schema, das einem Unterscheidungsgeschehen unterlegt wird, um es theoretisierbar zu halten und in die Gleichzeitigkeit einer Struktur zu bannen. Wer auf Logik setzt – wie Hegel –, wettet auf die 79

Vgl. Derrida, J.: Die Wahrheit in der Malerei. Wien 1992, bes. S. 435 ff.

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Dramaturgische Logik

Welt. In Derridas Augen hat Hegel die Logik-Wette auf die Welt verloren, weil er seine eigene Entscheidung, logisch zu unterscheiden, absolut setzt. »Die Notwendigkeit der logischen Kontinuität ist die Entscheidung oder das Interpretationsmilieu aller Hegelschen Interpretationen. Indem er die Negativität als Arbeit deutete, indem er auf den Diskurs, den Sinn, die Geschichte usw. setzte, hat Hegel gegen das Spiel und den Zufall gewettet. Er war für die Möglichkeit seiner eigenen Wette, für die Tatsache, daß die bewußte Unterbindung des Spiels (…) selber eine Phase des Spiels ist, mit Blindheit geschlagen; dafür, daß das Spiel die Arbeit des Sinns oder den Sinn der Arbeit begreift, daß es sie jedoch nicht in den Begriffen des Wissens, sondern in Begriffen des Eingeschriebenseins enthält: der Sinn ist eine Funktion des Spiels, er ist an einem Ort in die Konfiguration eines Spiels, das keinen Sinn hat, eingeschrieben.« 80 Spiel, Grenze und Unterscheidung entfalten Welt im Kontext von Darstellungen, die weder erste oder letzte Darstellungen kennen noch sich einem logischen Kalkül von Negation und Totalität unterwerfen. Das macht die Arbeit des Darstellens so notwendig und unendlich wie die Welt, die auf dem Spiel steht. Nun ist der Gedanke, Welt und Darstellung seien verwechselbar, keine neue Errungenschaft. Selten ist sie so klar ausgesprochen worden wie in William Shakespeares Reflexionen zum Theater. Erdball und Theater sind nicht nur als »globe« synonym. In der Bewegung der Reflexivität, mit der wir beginnen zu unterscheiden, Welt erkennend zu ordnen und uns selbst als Moment im Spiel der Unterscheidungen zu betrachten, sind Welt und Darstellung verwechselbar. In seinem letzten Stück, »The Tempest«, beschreibt Shakespeare den Zauber des Theaters als eines Spiels der Verwechslungen von Bühne und Welt aus dem Munde des Zauberers Prospero: These our actors, As I foretold you were all spirits and Are melted into air, into thin air, And, like the baseless fabric of this vision, The cloud-capp’d towers, the gorgeous palaces, The solemn temples, the great globe itself, Ye all which it inherit, shall dissolve

Derrida, J.: Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie. Ein rückhaltloser Hegelianismus. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. A. a. O., S. 380–421, hier S. 393 f. (Hervorhebung im Original).

80

58 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Spiel

And, like this insubstantial pageant faded, Leave not a rack behind. We are such stuff As dreams are made on, and our little life Is rounded with a sleep. 81

In der Vergänglichkeit des Spiels spiegelt sich die Endlichkeit des Lebens. Darum kommt es darauf an, gut zu spielen. Erkenntnis ähnelt einem Zauberstab: Wir verstehen, indem wir darstellen. In Darstellungen erscheint Welt durch eine Arbeit des Spiels, die Welt und Darstellung verwechselbar hält. Es gibt keine Welt außerhalb unserer Darstellungen.

81

Shakespeare, W.: The Tempest. Hrsgg. v. F. Kermode. London 1966, S. 103 f.

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Bewegte Formen

1. 1.1

Quadrate Homage to the Square: Josef Albers

Mit »Homage to the Square« verfolgt Josef Albers seit den 1950er Jahren ein künstlerisches Experiment. Gegenstand ist das Verhältnis von Form und Farbe. 1 Bestimmtheit und Kontrast werden in ihren Relationen ebenso befragt, wie Beziehungen zwischen Bild und Wahrnehmung untersucht werden. Vergleiche mit logischen Formen fordern diese Bilder geradezu heraus. Parallelen zu dramaturgischen Formkonzepten liegen auf der Hand: Farben betrachtet Albers als Schauspieler, die auf der Bühne eines Bildes interagieren. Dramaturgische Unterscheidungsordnungen, wie auch Albers-Quadrate sie vorführen, inszenieren Formen als Prozesse. Bestimmtheit gewinnen Formen aus ihrem Oszillieren in Unterscheidungsfeldern. Oszillationen der Form verdanken sich zum einen ihrer Zeichenform und deren jeweiligem Spiel an Möglichkeiten. Zum anderen resultieren sie aus der Weise ihrer Beobachtung und der spezifischen Evidenz einer Wahrnehmung. Im Vergleich zu Albers’ Farb-Form-Reihen wiederum werden andere Form-Logiken in ihrer Zeichengebundenheit besser verständlich. Deshalb kontrastiere ich die Malerei von Josef Albers mit dem mathematischen Kalkül von George Spencer Brown. Im Laufe der Jahre entwickelt die »Homage to the Square«Reihe eine malerische Logik. Bestimmtheit und Bewegung, Stoff und Form erweisen sich als ineinander verschränkt. Wahrnehmungen der Bilder aktivieren beim Betrachter Reflexivität, ohne sich zur Eindeutigkeit gedachter Formen zu beruhigen, die in ihrer Geometrie angelegt scheint. Herstellungsverfahren, Konstruktionsprinzipien

1

Die Werkgruppe umfaßt etwa 2000 Arbeiten.

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Quadrate

und Materialien der Bilder sind scheinbar einfach. Prinzip des Bildes ist das Quadrat und die Variation von Farbquadraten in einer Reihe von Farbkombinationen. Die Reihe verhilft dazu, Einzelbilder maximal zu bestimmen. 2 Sichtbare Formen dienen nicht zur Bestimmung von etwas, das sie nicht selbst sind. Doch Quadrate und Farben bleiben, was sie sind, indem sich verändert, wie sie erscheinen. Streng geometrisch ist der Bildaufbau. Quadrate, die auf den Bildern zu sehen sind, wiederholen die quadratische Form des Bildträgers. Ihr Verhältnis zueinander ist das der Vergrößerung oder Verkleinerung. 3 Drei oder vier Quadrate werden unterschieden. Jeweils bleibt ein schmaler Streifen am Außenrand des Bildträgers ohne Farbauftrag. Er grenzt die Farbe vom Rahmen ab. Grenze der FarbForm ist nicht der Rahmen, sondern die Farbgrenze. Vertikale und horizontale Linien verlaufen, als Farbgrenzen, parallel, während der Abstand der Quadrate zum unteren Bildrand in festgelegten Proportionen variiert. Bleiben die Abstände zwischen linkem und rechtem Bildrand gleich, werden sie zum oberen Bildrand hin größer und zum unteren Bildrand hin kleiner. Auf diese Weise entsteht ein Schwerpunkt im unteren Drittel des Bildes. Zum perspektivischen Eindruck trägt dieser Schwerpunkt wesentlich bei. Unterstützt wird er durch Kontraste monochromer Farbquadrate. Zugleich dementiert die plane Anordnung der Farbquadrate den Eindruck von Perspektive. Offensichtlich widerspricht die flächige Bildanlage einer perspektivischen Wahrnehmung – und doch läßt diese sich nicht vermeiden. Paradox anmutende perspektivische Wirkungen verweisen auf eine Tradition der Malerei, Bilder wie Fenster zur Welt aufzufassen, die den Blick des Betrachters auf etwas anderes hinlenken, dessen Wirklichkeit außerhalb des Bildes liegt. Horizontale Linien evozieren einerseits Assoziationen von Landschaft mit Horizont. Andererseits präsentieren Farbquadrate sich in denkbar großem Kontrast zur Landschaftsmalerei. Ähnlichkeiten zu Außerbildlichem besitzen sie nicht. Aber die klassische Betrachterposition frontal vor dem Bild wird durch diese Dementierung der malerischen Tradition womöglich noch wichtiger. Nur im frontalen Blick entfacht die Bewegung der Farbformen ihre volle Dynamik. Vgl. Spies, W.: Josef Albers. In: Albers. Hrsgg. v. d. Stadt Bottrop. Bottrop 1983, S. 15–40, hier S. 17. 3 Vgl. Wißmann, J.; Homage to the Square als Wechselwirkung der Farbe. In: Albers. A. a. O., S. 41–53, hier S. 41. 2

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Bewegte Formen

Im Falle von »Homage to the Square« (1971, 81 mal 81 cm, Öl auf Masonit 4) werden vier Quadrate – vier Rottöne – vom Rand des Bildes zu dessen Mitte hin immer heller. Perspektivische Sogwirkungen fallen in diesem Bild besonders auf. Betrachtern kommt das mittlere Quadrat mit dem hellsten Rotton entweder entgegen, oder es weicht zurück. Beide Möglichkeiten passieren abwechselnd. Nur eine der beiden Bewegungsrichtungen zu fixieren ist unmöglich. Jeder der vier Rottöne ist, was er ist – dieses Standard-Rot –, und doch ist er, was er ist, in konkreter Relation zu seinen Nachbarfarben wie zu seinen eigenen Oszillationen. An den Rändern der Farben verschiebt sich der Ton, wenn er in Relation zu einem anderen Farbton tritt. So wirkt das Rot des zweiten Quadrats von außen am Innenrand dunkler als am Außenrand, weil der Kontrast zum helleren Rot innen das Dunkel stärker akzentuiert. Das Bild saugt den Blick des Betrachters in sich hinein, verhindert jedoch zugleich, daß er sich im Bild verliert. Anders als bei großformatigen Farbfeld-Arbeiten – etwa Mark Rothkos oder Gotthard Graubners – achtet Josef Albers mit seinen kleinen Formaten darauf, daß der Blick des Betrachters das Bild als Ganzes erfassen kann. Bildgrenzen sorgen für Kontraste des Formarrangements zu allem, was es ausschließt. 5 Als abgeschlossenes dynamisches Etwas bestimmt das Bild seine Binnenrelationen – seine Formen – als Werte mit mehreren Zuständen. Versuche, auf dem roten Bild ein einziges Formelement zu isolieren, scheitern. Bildmaße folgen standardisierten Größen. Vergleichendem Sehen ist das zuträglich. Seine Bilder, sagt Albers, sollen »as neutral as

The Josef and Anni Albers Foundation. Hängt ein Quadrat auf einer Wand, die neben einer großen, vom Boden bis zur Decke reichenden Glasscheibe steht – wie im Bottroper Albers-Museum –, wird die Grenze des Bildes zur Form des Vergleichs mit dem »Bild« – dem vom Fensterrahmen umgrenzten Sichtbaren –, das von der Welt außerhalb sichtbar ist. Offensichtlich ist das Farbquadrat kein Fenster zur Welt. Aber es stimuliert Vergleiche zwischen sich, als Bild, und nichtbildhaftem Sichtbaren, das erst als Sichtbares unterschieden werden muß, um Vergleiche zu Bildern zuzulassen. Dieser Kontrast, wird er bewußt, betont die Intensität der Farb-Form-Dynamik, die sich nur in Bildern auf diese Weise abhebt und zur Erfahrung bringen läßt. Auf Quadrat-Bildern löst Farbe sich von gegenstandsbeschreibenden Funktionen, um sich als Farbe sichtbar zu machen. Vor dem Hintergrund dieser Differenz läßt der Blick durch ein Fenster Farben der Gegenstände draußen – etwa Grüntöne der Bäume in einem Park – als Kontrast zur Ordnung des Bildes und als Reflexionsaufforderung auffassen, Bild-Formen mit Welt-Formen zu vergleichen.

4 5

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Quadrate

possible« wirken. 6 Neutralität begünstigt Vergleiche. Fast keine Farbe ist gemischt. Direkt aus der industriell produzierten Tube wird sie aufgetragen. Auf der Rückseite des Bildes notiert Albers jeweils die Normen benutzter Farben. Statt eines Pinsels verwendet er Spachtel. Unebenheiten des Malgrundes vermeidet er möglichst ebenso wie Spuren des Farbauftrags. Ein handschriftlicher Duktus verschwindet. Nachdrücklich tritt Albers dem Verdacht entgegen, es ginge in seinen Arbeiten um den Ausdruck künstlerischer Subjektivität: »And I very much distrust expression as a driving force as well as an aim in art.« 7 Kein Bild stellt etwas außerhalb seiner selbst dar. Bedeutung im Sinne von Repräsentation oder einer propositionalen Bestimmung von etwas ist nicht erkennbar. Albers’ Werk weist damit Merkmale »wissenschaftlicher« Formbildungen auf. Dennoch ist sein Anliegen kein wissenschaftliches, sondern ein formtheoretisches, das er mit künstlerischen Mitteln realisiert. Fragen nach der Form stellen sich mit Präzision, aber nicht in der exakten Form der Mathematik

1.2

Farbe und Form

Was ist Form? Und was ist Farbe? Fragen wir nach der Farbe, verweist das Bild auf die Form. Fragen wir nach der Form, verweist es auf Farbe. Zu sehen sind Farb-Formen: Grenzen der Form sind Grenzen der Farbe; Grenzen der Farbe sind Grenzen der Form. Ihre Unterscheidung wirkt abstrakt, und doch ist sie zwingend konkret. Unvermeidlich wird sie beim Betrachten vollzogen. Farb-Form-Verhältnisse gleichen dem Phänomen der Linie auf den Bildern. Einerseits beherrscht ein lineares Konstruktionsprinzip den Bildaufbau aus Horizontalen, Vertikalen und rechten Winkeln. Andererseits entstehen Linien im Kontrast der Flächen. Nicht als Linien, als Übergangszonen der Farben treten sie in Erscheinung. Linie wäre eine Abstraktion gegenüber konkreten Grenzen kontrastierender Farb-Formen und würde als eigene Form wiederum Farbe benötigen. Als geometrisches Prinzip verschwindet die Linie in der Materialität der Farbe, die sie doch als Kontrast und Bestimmtheit akzentuiert. Präzise, linear aufZitiert nach Elaine, Kooning: Albers paints a picture. In: Josef Albers. Galerie Karsten Greve. Köln 1989, S. 40–44, hier S. 40. 7 Kuh, K.: The Artist’s Voice. Talks with seventeen artists. New York, Evanston 1962, S. 11. 6

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Bewegte Formen

gebaute Relationen bestimmen Erscheinungsweisen der Farben. Obwohl die Bilder sich keinem mathematischen Kalkül fügen, sind sie streng geometrisch entworfen. Das geometrische Bildschema dient der Erzeugung einer prinzipiell unendlichen Variation von Kontrasten, doch erklärt es keinen Wert der Form. Entscheidend in Albers’ Augen sind im Kontrast der Farbflächen entstehende Verhältnisse. »Ein Element plus ein Element muß außer ihrer Summe mindestens eine interessierende Beziehung ergeben. Je mehr verschiedene Beziehungen entstehen und je intensiver sie sind, je mehr die Elemente sich steigern, desto wertvoller ist das Ergebnis.« 8 Interesse, Intensität und Steigerung bestimmen für Albers die Qualität eines Bildes. Betrachter müssen beschreiben, was Bilder – Formen, die Farben sind – tun. Wahrnehmungsprozesse, die in Gang kommen und sich anhand von Vergleichen zwischen Bildern mit reflexiven Unterscheidungen anreichern, fordern dazu heraus, beschrieben zu werden. Ihr »Sein« ist ihr Werden in einer reflexiven Wahrnehmung. Das Bild erscheint der Wahrnehmung als Prozeß einer Dynamik von Farbe und Form, ohne in ein Resultat zu münden. Wer Beschreibungen eines Bildprozesses anfertigt, tut anderes, als einer Form einen Namen zu geben: Die Bezeichnung der Standard-Farbe mit der Industrienorm hat mit der Existenz des Bildes in der Realität der Wahrnehmung wenig zu tun. Bewegungen der Farbformen unterscheiden sich von Kalkülen der Form: Weder lassen sie sich ausrechnen noch notieren. Erinnerungen des Prozesses dieser Verschränkung von Wahrnehmung, Bild und Reflexion gehören zum Phänomen hinzu. Bewegungen von Unterscheidungen werden einerseits bewußt, andererseits lösen Unterscheidungen sich auf. Betrachter mögen den Eindruck gewinnen, einem eigenständigen Bildgeschehen zuzuschauen. Josef Albers charakterisiert seine Farb-Formen nicht umsonst als Akteure. Farbe handelt: »Meine Quadrate bewegen sich vor und zurück, sie scheinen einzudringen und sich zu entfernen, zu wachsen und sich zu verkleinern.« 9 Bildbewegungen benötigen Betrachter. Albers entwickelt Ordnungen, die als Einheit der Differenz von Beobachtetem und Beobachter »wirklich« sind. Ob es Wirkung des Bildes oder Leistung des Beobachters ist, was die Form bestimmt, wird, als Frage, unterscheidbar und zugleich unentscheidbar. Zitiert nach Wißmann, J.: Homage to the Square als Wechselwirkung der Farben. A. a. O., S. 42. 9 Zitiert nach ebenda, S. 51. 8

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Quadrate

Werner Spies spricht davon, Ambivalenzen der Form zwängen Betrachter, »verschiedene Entscheidungen« zu treffen. 10 Im Erzwingen von Entscheidungen zum Zwecke des Bestimmens tritt stringent hervor, was systematisch oder mathematisch unbestimmbar bleibt. Wechselnde Zustände von Formen erzeugen Kontraste, die weder einer Logik – verstanden als Rechenoperationen ermöglichende Anweisungen – gehorchen noch willkürlich sind. Kein einziger Wert des Formarrangements ist für sich allein zu fixieren. Sowohl für Unterscheidungen auf der Bildfläche als auch für Relationen von Bild und Betrachter trifft das zu. Die Sache bestimmen, die Sache als durch die Beobachtung der Sache bestimmt zu bestimmen und die Beobachtung der Beobachtung der Sache als durch die Sache bestimmt zu bestimmen, ist eine Reihe sukzessiver, sowohl unterscheidbarer als auch unentscheidbarer Unterscheidungen. Gemeinsam ergeben sie das »Bild«. Alle Unterscheidungen müssen als verwechselbare darstellbar bleiben, um das »Bild« nicht mit einer seiner Möglichkeiten zu identifizieren. Wirklichkeit des Bildes ist seine Erscheinungsgeschichte. Kontraste, die Albers »interessant« nennt, zeigen sich an »Interaktionen« der Farben. Formen agieren, indem sie in Relation zu anderen Formen – zu anderen Farben – treten. Jede Farbe beeinflußt Werte ihrer Nachbarfarbe und damit ihren eigenen Wert. Auf diese Weise unterläuft die Erscheinung des Bildes die Suggestion der Industrienorm, die besagt, jede Farbe sei wiederholbar und identisch. Farbwerte bestimmen sich in Wahrnehmungen des Betrachters. Lichtverhältnisse machen physikalische Farbwerte wiederum unterschiedlich sichtbar. Auch Bilder »beobachten«, indem sie physikalische Verhältnisse erscheinen lassen. Wer Albers-Quadrate unter wechselnden Lichtverhältnissen anschaut, erlebt die Dynamik kontrastierender Farbformen im Vergleich zum Licht. Licht und Farbe interagieren ebenso wie Farben miteinander. Der Wert einer Farbe auf einem beliebigen Punkt der Bildfläche reagiert auf den Wert, den er der Nachbarfarbe mitteilt; dieser Wert beeinflußt ihren eigenen Ton. Ohne Licht und Betrachter käme diese Interaktion wiederum nicht zustande. Indem Farben interagieren, interagieren sie mit dem Betrachter, mit anderen Bildern – oder der Wandfarbe – und mit dem Licht. Bei längerer Betrachtung geraten Farbquadrate in pulsierende Verhältnisse. Ihr Pulsieren unterläuft reflexive Unterscheidungen von Raum und Zeit. Weil die Relation der Farben in Bewegung gerät, 10

Spies, W.: Josef Albers. A. a. O., S. 24.

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Bewegte Formen

also zeitlich wird, verändert sich der Raumeindruck. Nun bewegen Quadrate sich in Relation zueinander vor- und zurück. Manche Quadrate dehnen sich aus, andere scheinen ineinander überzugehen. Neue Farben entstehen in der Wahrnehmung. Brennende Farbsäume zeigen sich an den Rändern der Quadrate. Farben verändern ihre Intensität. Formen tauchen auf und verschwinden. Lenkt ein Betrachter seinen Blick schnell von einem Bild auf ein benachbartes – wozu die Reihe verlockt und wozu besonders die »low range colours«, also fast monochrome Varianten, einladen –, modifizieren sich Farbwerte mitunter dramatisch. Flächige geometrische Konstruktionen verwandeln sich in ein raumzeitliches farbdynamisches Differenzierungsgeschehen. Je nach Lichteinfall werden Kontraste verstärkt oder abgeschwächt. Von entgegenkommenden Farbformen werden Betrachter eher getroffen als daß sie durch einen perspektivischen Raum hindurchblicken. Spielen zentralperspektivisch angelegte Bilder mit einem mathematischen Sehen, das sich dem natürlichen Wahrnehmen unterschiebt, konterkariert Josef Albers diese Mathematisierung, indem Quadrate Farben in Akteure verwandeln. Deren dynamische Interaktionen bedienen sich der Geometrie, um mathematische Konstruktionen des Bildraums als Illusion des Sehens zu durchkreuzen. Obwohl im Sehen der Quadrate Intentionalität zu einer aktiven Leistung wird, bleiben Wahrnehmungen auf konstitutive Weise passiv. Für Betrachter offensichtlich, liegt die Aktivität der Farb-Formen im Bild, während die Dramatik des Geschehens in der ihrer selbst bewußten Wahrnehmung stattfindet. Intensität hängt nicht nur von Farbwerten ab. Es handelt sich nicht um bloß physikalische Größen. Kontraste entfalten, trotz oder wegen der Neutralität in der Bildkomposition, auch emotionale Wirkungen. Im dunklen Glühen eines Blau, dem magischen Leuchten eines Rot oder der einladenden Frische eines Gelb, auch in der dezenten Eleganz eines Grau begegnen sie Betrachtern. Hängungen, die solche Kontraste unterstützen, verstärken die »interaction of colours«. Sie erweitern den Bildraum in den Ausstellungsraum hinein. Kein Bild entspricht einem einzigen Moment seines Prozesses. Für kein Bild läßt sich eine endliche Zahl unterscheidbarer Zustände angeben. Je länger Wahrnehmungsprozesse andauern, desto reicher werden sie, ohne sich jemals zu komplettieren. Das Bestimmen gelangt nicht an ein Ende, das durch die Endlichkeit des Bestimmtwerdenkönnens der »Sache« – des Bildes – kontrolliert würde. Weder 66 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Quadrate

durchläuft ein Bildprozeß seine Form-Logik, noch endet er, wenn seine Formlogik durchschaut ist oder eine finale Einsicht hergestellt wäre. Formprozesse sind auf diesen Bildern, was sie sind, indem und solange sie vollzogen werden. Messen läßt dieser Prozeß sich nicht. Entscheidend für die Sukzession der Zustände einer Form sind Qualität und Intensität der Relationen: ihr Zeit-Raum als Kontrastordnung. Jeder Bildprozeß beschreibt einen nicht umkehrbaren Vorgang. Werte der Form verändern sich sukzessive. Sie benötigen Kontinuität. 11 Sukzession verhindert, als erinnerte Kontinuität, die einfache Reversibilität unterschiedener Zustände. Würde der Blick des Betrachters ein Quadrat-Bild nur flüchtig streifen, käme ein Bildprozeß nicht in Gang. Für die Wahrnehmung eines Quadrat-Bildes ist Kontinuität etwas, das zu dessen Wirklichkeit beiträgt. Wahrnehmungen werden reflexiv auf ihre (Zeit)Form aufmerksam. Unterscheidungen bauen sich auf, die Unterschiede – etwa von Raum und Zeit, Betrachter und Bild – simultan präsent halten. Wahrnehmung, Bild und Reflexion treten als begrifflich Unterschiedenes in einer prozessualen Einheit auseinander. Damit bekräftigen und überschreiten sie die Grenze zwischen Bild und Welt. Sie markieren auch die Grenze von Gedanke und Wahrnehmung – sowohl in der Wahrnehmung als auch im Denken. Präzise Formen verlieren eindeutige Identität. Dem »Wechsel der Identität«, so Albers, gelte das Interesse seiner Farb-Forschung. 12 Identitätswechsel zeigen sich im Erscheinen der Form. Indem sie erscheinen, machen sie Bild und Wahrnehmung so verwechselbar, daß (Bild)Formen sich im Denken der Formen entfalten. Albers’ Bilder müssen wahrgenommen, aber sie müssen auch gedacht werden. Sie zu denken heißt, sich der Oszillation der Bestimmtheiten auszusetzen, die prozessual vollziehen und bestimmen, was jeweils Form ist. Sein der Form ist der Prozeß ihres Bestimmens – ein mehrfach Unscharfes. »Meditationsbilder des 20. Jahrhunderts« hat Albers seine Arbeiten genannt. 13 Meditationen über Farb-Formen, zu denen seine Quadrate einladen, kehren den Modus cartesianischer Meditationen um: In der Betrachtung der Bilder entwickelt sich eine Evidenz des Erscheinenden, ohne jemals klar und distinkt zu werden. Präzise sind Vgl. dazu Whitehead, A. N.: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie (1929). Frankfurt/M. 1987, S. 513 ff. 12 Wißmann, J.: Homage to the Square. A. a. O., S. 51. 13 Zitiert nach ebenda, S. 53. 11

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Bewegte Formen

solche Formen, weil sie zwischen Wahrnehmung und Gedachtwerden oszillieren. Klar und distinkt – Formen im Sinne Descartes’ – sind sie in ihrer geometrischen Form; evident sind sie als Unmöglichkeit der Wahrnehmung von Klarheit und Distinktheit.

1.3

Grenzen als Kontraste

Quadratbilder ordnen Farbe und Form zu Kontrasten. Grundlegend für Albers’ Farb-Lehre ist die Rolle der Erfahrung. Nirgends – es sei denn als reiner Mal-Stoff in der Tube – erscheinen Farben als diskrete, beobachterunabhängige oder kontextfreie Bestimmtheiten. Ihre Ordnung bleibt ohne Äquivalent in der Ordnung der Sprache, der Töne oder der Zahlen. Sogar ihre Reproduktionsfähigkeit ist eingeschränkt, bleibt die Qualität einer Farbe doch, obgleich in ihrer Herstellung standardisiert, abhängig vom Kontext anderer Farben und Materialien – etwa Aquarell-, Öl- oder Druckfarbe, Papierqualität, Leinwand, Holz oder Metall –, ihrer Wiederholung in einer Reihe, wechselnden Lichtverhältnissen, Bildformaten und Wahrnehmungsbedingungen. 14 Ordnungen der Farbe entstehen als Ordnungen der »Interaktion«. Präzision der Erzeugung und Sensibilität für Kontexte der Formen gehen Hand in Hand. Zonen des Übergangs zwischen Farb-Formen unterlaufen das Kriterium maximaler Distinktheit. Stattdessen erzeugen sie Kompossibilitäten von Unterschieden innerhalb einer Ordnung, deren Sein sich im Vollzug von Wahrnehmungen realisiert. Zustände bestimmen weder ein Dieses noch ein Wesen zu einem Etwas, dessen Form einer propositionalen Logik gehorcht. Abstände zwischen Farben gleichen eher qualitativ variablen Relationen als mathematisch modellierbaren Größen. Trotz der Symmetrie im Bildaufbau kennen Ordnungen von Farbquadraten kein Gleichheitszeichen. Reversible Operationen lassen sich mit ihnen nicht ausführen. Unterscheidungen wie die zwischen Hell und Dunkel markieren Kontaktzonen ohne exakte Bestimmtheit. Farb-Formen erscheinen Betrachtern als prozessuale Differenzierungen. Ob sie materiell oder immateriell »sind«, bleibt unentscheidbar. Materiell fundiert sind Formen in der konkreten Farb-Konstellation auf einem Bildträger. Immateriell bleiben sie, indem sie sich im reflexiven Bemerken einer Unschärfe der Wahrnehmung realisieren. Wiederum 14

Vgl. Albers, J.: Interaction of Color (1963). Köln 1970.

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Quadrate

bleibt unentscheidbar, ob die Unentscheidbarkeit zwischen Wahrnehmung und Reflexion dem Wahrgenommenen oder der Wahrnehmung – dem »Bild« oder dessen »Betrachter« – zuzurechnen ist. Materielles und Immaterielles, Form und Bewegung, Wahrnehmung und Reflexion, Stoff und Form, Bild und Betrachter müssen, um ein Bild zu realisieren, unterschieden und verwechselbar gehalten werden. Wir müssen denken, was wir sehen, um sehen zu können, was wir denken. Betrachter werden angeregt, Formen eher als Oszillationen in Kontexten simultaner Unterscheidungen statt als Bestimmtes in Ordnungen von Gegensätzen aufzufassen. Es gibt, wie Gottfried Boehm über Josef Albers’ Bilder gesagt hat, hier keine »Wesen« der Erfahrung. Das Wesen verwandelt sich in einen »Übergang«. 15 Übergänge bringen Formen innerhalb von Grenzen zur Bestimmtheit. Grenzen sind kein Drittes gegenüber dem Unterschiedenen oder Resultat logischer Operationen, realisieren sie doch Kontraste, bei denen Stoff und Form, Wahrnehmung und Reflexion, Bild und Betrachter simultane Unterscheidungsoptionen aufrufen. In der Ordnung des Begrifflichen ähneln Grenzen den Linien auf Quadrat-Bildern: Erst in materialen Kontrasten werden sie in dem Maße indirekt deutlich, wie sie sich entziehen. Boehm betont, daß Formen bei Albers wesentlich in einer »Virtualität« bestehen, in der sie doch, als vieldeutige Bestimmtheiten, keinen Bestand haben. 16 Potentialität und Wirklichkeit gewinnen Formen in der Virtualität des Bestimmens durch Beobachter in deren Gegenwart. Erst hier konturieren sich relative Unendlichkeiten der Formbewegung in der Endlichkeit eines Jetzt zur konkreten Wirklichkeit. Mögliches wird zum Realen durch Bezug auf das jeweils Besondere einer Beobachtung. Bestimmbar wird es als Vollzug des Potentials eines Arrangements von Unterschieden. Wiederholungen der Quadrat-Form dienen zur Erforschung von Farb-Form-Logiken. Wegen ihrer formalen Ähnlichkeit lassen diese Bilder sich zu Reihen immer anderer Vergleiche anordnen. Innerhalb dieser Reihen kann die Position der Einzelbilder wechseln. Je nach ihrem Ort im Kontext der Reihe entfalten sie andere Qualitäten durch spezifische Kontraste zu benachbarten Farb-Formen. Obwohl Boehm, G.: Die Dialektik der ästhetischen Grenze. Überlegungen zur gegenwärtigen Ästhetik im Anschluß an Josef Albers. In: Neue Hefte für Philosophie 5. Göttingen 1973, S. 118–138, hier S. 119. 16 Vgl. ebenda, S. 131. 15

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zwei oder mehrere Quadratbilder von ihrem formalen Aufbau her gleich sind, bleiben sie im Kontrast zueinander individuell. Ähnlichkeit und Verschiedenheit lassen sich, trotz des gleichbleibenden Konstruktionsprinzips der Bilder und Reihen, nicht wie mathematische Äquivalente ausdrücken. Albers’ Forschungsprogramm realisiert Bewegungen der Formen als Potentialität ihrer Variation. Was das Experiment zutage fördert, ist kein Allgemeines, keine Äquivalenz und kein bestimmter Wert. Albers betrachtet das Malen als Experiment an der Form der Farbe. Was Merleau-Ponty an Cézanne fasziniert, interessiert auch Albers: Cézanne, schreibt Albers, »war der erste, der Farbzonen entwickelte, die sowohl eindeutige als auch unbestimmte Übergänge besitzen – verbundene und unverbundene Zonen – als Mittel der räumlichen Gliederung.« 17 Bilder etablieren auf diese Weise Ordnungen der Simultaneität von Unterscheidungen. In diesem Sinne existieren Bilder zugleich in doppelter Hinsicht: als sinnliche Ordnungen farblicher und geometrischer Arrangements wie als gedankliche Ordnungen der Simultaneität von Zuständen. Albers greift zu einem Vergleich, der die Dynamik der FarbForm erläutern soll. Er schildert Formen als Darsteller, die ihre Bestimmtheit in der Prozeßordnung eines Bildes gewinnen. »Eine Gruppe von vier Farben«, sagt Albers, »kann man ansehen – einzeln als ›Schauspieler‹, zusammen als ›Besetzung‹. Sie haben aufzutreten in vier verschiedenen Inszenierungen – ›Aufführungen‹. Obgleich sie Farbton und Helligkeit beibehalten, ihre ›Rolle‹, und obgleich sie in einem unveränderten äußeren Rahmen auftreten, der ›Bühne‹, sollen sie vier derart verschiedene ›Szenen‹ oder ›Stücke‹ hervorbringen, daß ein- und dieselbe Farbgruppe als vier verschiedene Gruppen erscheint, dargestellt durch vier verschiedene Besetzungen.« 18 Farbe, die Form ist, erlangt Bestimmtheit durch ihre Aktivität in einer Simultanordnung, die sukzessive durchlaufen wird. Zeit der Reihe – als Ordnung mehrerer Bilder – und Zeit der Wahrnehmung – Realisierung jeweils eines Bildes – fallen nicht in eins. Farbe besetzt verschiedene Positionen und erzeugt unterschiedliche Reaktionen. So bestimmt sie sich zum Individuum. Indem sie sich zum Individuum bestimmt, trägt sie zur Konstitution der Gruppe im ganzen, mithin

17 18

Albers, J.: Interaction of Color, a. a. O., S. 60. Ebenda, S. 76.

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Quadrate

zur Gesellschaft, in der sie ein Individuum sein kann, bei. Individuell wird sie jedoch erst in konkreten Vergleichen bestimmter Farben auf einem Bild. Formen interessieren als Potentiale, Bestimmtheiten in Kontexten hervorzubringen und Beobachtungen als Vergleiche anzuleiten. Der Maler beobachtet Aktivitäten von Formen, die er im Vollzug des Malens hervorbringt. Formen, nicht der Künstler, stehen im Mittelpunkt der Kunst, wie Albers sie versteht. »Malen bedeutet die Farbe schauspielern lassen. Schauspielern heißt, den Charakter und das Verhalten, die Stimmung und das Tempo verändern. Ein Schauspieler läßt uns seinen Namen und seine individuellen Züge vergessen. Er schafft eine Illusion und handelt als ein anderer als der, der er eigentlich ist. Schauspielernde und damit handelnde Farbe verliert ihre Identität, erscheint als eine andere Farbe, heller oder dunkler, mehr oder weniger intensiv, leuchtender oder matter, wärmer oder kälter, dünner und leichter oder dicker und schwerer, höher und näher oder tiefer und weiter entfernt, Undurchsichtiges wird durchsichtig, aneinandergrenzende Farben scheinen sich zu überschneiden, usw. usw.« 19 Zwischen Schauen und Reflexion muß ein Betrachter balancieren. Denken kommt dabei nicht als apriorische Synthesis ins Spiel. Das Zusammen von Unterscheidungen in einer Synthesis ist sowohl passiv als auch aktiv: Verschränkung von Beobachtung und Gegenstand ebenso wie von Unterschieden in Unterscheidungstexturen einer Farb-Form. Farbe ist kein Gegenstand, doch Farben zu bestimmen beschreibt ein Problem der Bestimmung von Formen, das auch für Gegenstände gilt. Offensichtlich ist Farbe ein unmittelbar in die Wahrnehmung drängendes Dieses. Sie weckt Aufmerksamkeit. Sogar wiederholte Vergleiche machen es nicht leichter, Allgemeines aus dem jeweils besonderen Farbgeschehen herauszuschauen. Farben sind auf den Quadraten weder besonders noch allgemein, weder bloße Akzidenzen noch Substanzen. »Rot« läßt sich weder eindeutig als Substanz noch als Allgemeines, als Eigenschaft, Idee oder Sache beschreiben.

Katalog der Galerie Karsten Greve, Köln 1989, S. 41. Josef Albers, Von der Farbe zum Gemälde.

19

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Bewegte Formen

2.

Kalkül: George Spencer Brown

Durch die geometrische Präzision von Kontrasten in Unterscheidungsfeldern weisen Albers-Quadrate Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten zu mathematischen Ordnungen auf. Es liegt nahe, sie mit einem mathematischen Unterscheidungsmodell zu vergleichen, das auf ähnlich konsequente Weise Formen als Unterscheidungsreihen betrachtet. George Spencer Brown kommt in seiner Definition der Form auf Grenzen zu sprechen, bestimmt er Formen doch als Unterscheidungen. Eine Unterscheidung »wird getroffen, indem eine Grenze mit getrennten Seiten so angeordnet wird, daß ein Punkt auf der einen Seite die andere Seite nicht erreichen kann, ohne die Grenze zu kreuzen. Zum Beispiel trifft ein Kreis in einem ebenen Raum eine Unterscheidung.« 20 Innen und Außen der Fläche werden durch die Kreislinie ebenso bestimmt wie die Linie selbst, die Innen und Außen trennt und verbindet. Innerhalb und außerhalb der Kreislinie liegende Flächen kommen als Qualitäten nicht in Betracht. Wer, wie Spencer Brown, Formen als Operatoren des Unterscheidens betrachtet, blendet die Qualität des Unterschiedenen ab. Er akzentuiert die Linie gegenüber den Flächen. Ihn interessiert die Logik des Unterscheidens, weniger das Erscheinen des Unterschiedenen. Albers wählt die komplementäre Option: Linien der Quadrate verschwinden auf nicht ignorierbare Weise im Kontrast der Farbflächen. Im Vergessen der Linie als Linie bleibt die Linie im Kontrast der Flächen und Farben aktiv. In beiden Fällen geht es um Unterscheidungsordnungen, deren Seiten gekreuzt werden. Spencer Browns Vorgehen hebt eine charakteristische Eigenschaft des Kalküls hervor: Werte der Operation treten gegenüber der Operation zurück. Für eine Mathematik, die klassische (mengen)logische Modelle überwinden möchte, indem sie von Unterscheidungen ausgeht, hat das paradoxe Konsequenzen. Legen klassische Ordnungsvorstellungen es nahe, »etwas« zu sortieren und zu bestimmen, »rechnet« der Kalkül mit der reinen Unterscheidung. Aus diesem Grund glaubt Spencer Brown, eine Vereinfachung von Arithmetik, Algebra und Boolescher Algebra anbieten zu können. Statt von Zahlen, Variablen oder Werten geht seine Mathematik von der Ordnung der Unterscheidungen selbst aus.

20

Spencer Brown, G.: Die Gesetze der Form (1969). Lübeck 1997, S. 1.

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Kalkül: George Spencer Brown

Auch Farbquadrate, mit denen Josef Albers experimentiert, beschreiben Grenzen, die Farbwerte trennen und verbinden. Zwischen einem Farbwert im ersten Quadrat und einem Farbwert im zweiten Quadrat liegt die Grenze der Flächen. Allerdings ist der erste Farbwert nur, was er in Relation zum Farbwert im benachbarten Quadrat ist. Je nachdem, wie nah am Rand eines Quadrates der Farbwert liegt, ist er sogar innerhalb desselben Feldes, also innerhalb seiner Grenze, nicht derselbe. Eine Farbe zu bestimmen verlangt, die Grenze zu kreuzen und auch nicht zu kreuzen. Im Falle der Farb-Quadrate bedeutet das Kreuzen der Grenze immer auch, die Grenze nicht zu kreuzen und im ersten Feld zu bleiben. Um ein Rot zu bestimmen, muß die Wahrnehmung im Rotquadrat verharren. Dort entfaltet ein Rot seine Qualität – wobei es durch seinen spezifischen Abstand zu einem benachbarten Farbfeld sowie durch Lichtverhältnisse beeinflußt wird. Das Kreuzen der Grenze in der Wahrnehmung führt die Operation in das Feld zurück, indem es sie über die Grenze hinausführt. Dies erzeugt eine Information, die einen Unterschied im Selben – dieser Punkt in diesem Farbfeld – macht. Das geschieht sowohl auf der zweidimensionalen, farblich und geometrisch markierten Fläche als auch in bezug auf die Zeit der Operation des Betrachtens und in bezug auf die Relation von Beobachter und Bild. Zweidimensionalität des Bildes wird zur Dreidimensionalität von Bild- plus Zeitform erweitert. Schließlich expandiert sie zur Vierdimensionalität der Verschränkung von Bildform plus Zeitform mit dem Verhältnis von Beobachtung und Beobachtetem, das in beide anderen Dimensionen eingreift. Hier wird die Bestimmtheit eines Punktes mehrwertig: Er existiert in der dynamischen Relation, die durch das Ziehen einer Grenze entsteht, jedoch die Grenze selbst zum Verbindenden des sich überlagernden Getrennten macht. Farbwerte durchlaufen simultan unterschiedliche Relationen, die sowohl trennen als auch verbinden. Dabei wird der Farbton mit den Unterscheidungen, die er durchläuft, verwechselbar. Dynamische Grenzen ermöglichen auf logisch paradoxe Weise Bestimmtheit, die sich als zugleich anschauliche – in der Farbqualität – wie logische Intensität – in der Simultaneität des reflexiv Unterscheidbaren – realisiert. Wie hängen Bestimmtheit und Bezeichnung zusammen? Ist Bestimmung Bezeichnung? Braucht Bestimmtes eine Bezeichnung, um, wie in einem Kalkül, in ein anderes Bestimmtes transformiert zu werden? »Wenn einmal eine Unterscheidung getroffen wurde, können die Räume, Zustände oder Inhalte auf jeder Seite der Grenze, indem 73 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Bewegte Formen

sie unterschieden sind, bezeichnet werden.« 21 Auf Bildern von Josef Albers wird durch die Bestimmtheit der Grenze der Wert auf jeder Seite der Unterscheidung im Maße seines Bestimmtwerdens unscharf. Es gibt keine homogenen Werte auf den Seiten der Unterscheidung. Ein Kalkül wie der von Spencer Brown arbeitet trotz seiner rekursiven Struktur mit zweiwertiger Bestimmtheit: Die Grenze unterscheidet Dieses und Nicht-Dieses bzw. Dieses und Anderes. Nicht zuletzt darin gründet der mathematische Charakter des Kalküls. Ziel sind rekursive Operationen, angeordnet um ein Gleichheitszeichen. Das Gleichheitszeichen bezeichnet eine Identität des Unterschiedenen. Nur auf der Seite des Bestimmten können Unterscheidungen in die Tiefe gestaffelt werden. Tiefenstaffelungen von Unterscheidungen wiederholen Zwei-Seiten-Formen auf jeweils einer Seite der Unterscheidung. Doch Quadrate von Albers tendieren nicht einfach zu größerer Bestimmtheit. Ihr Bestimmungsprozeß sorgt auch nicht für eine Tiefenstaffelung des Unterschiedenen als eines immer weiter Bestimmten. Zu beobachten ist eine wechselseitige Steigerung von Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Ineinander geschachtelte Farbquadrate erzeugen Unterscheidungen, die Farbund Formwerten Bestimmtheit als Simultanzustände zuordnen. Wahrnehmungen wie Reflexionen von Unterschieden bewegen sich auf beiden Seiten einer Grenze innerhalb eines Bildes. Als Formfelder besitzen Bilder eine stets präsente Außengrenze. Anweisungen, die Grenze zu kreuzen, wären nur auszuführen, wenn wir die Grenze kreuzen, indem wir sie auch nicht kreuzen. Um die Grenze zu kreuzen, müssen wir auf der Seite bleiben, von der die Operation ausgeht. Bestimmtheit im Kontext eines Farbquadrates resultiert aus sich ständig modifizierenden Kontrasten. Wie verhält sich eine Ordnung der Kontraste zu einer mathematischen Logik des Kalküls? Offensichtlich besteht eine wichtige Differenz in der Materialität und Verknüpfung der Zeichen. Spencer Brown ist, wie Peirce in seiner Theorie der Graphen, überzeugt, daß Formen des Rechnens mit Formen des Schreibens der Symbole und Operationen zusammenhängen. Spencer Browns Formkalkül ist nur in der Zeichenform des Hakens zu notieren. Der Haken soll allgemeiner als arithmetische oder algebraische Zeichen sein, da er keine Werte notiert. Formen des Zeichens beeinflussen Formen der Operationen, die mit ihnen ausgeführt werden. Vermeintlich lassen sie 21

Ebenda.

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Kalkül: George Spencer Brown

Qualitäten unberührt, die mit Hilfe des Kalküls geordnet werden. Deshalb kann der Kalkül Universalität beanspruchen: Bestimmtes ist ein Geordnetes, weil es ein Unterschiedenes ist. »Logik« erscheint als pulsierendes Zentrum der »Welt«. Haken, verstanden als Anweisung, Unterscheidungen zu treffen, formen den Gedanken der Form, den ein Beobachter mit dem Gegenstand verwechseln kann, um sich rechnend auf Welt zu beziehen. Die Form des Kalküls ist eine performative Form, die erzeugt, was sie unterscheidet, indem sie unterscheidet. Darin unterscheidet sie sich beispielsweise von einem Aristotelischen Formkonzept, wenn dieses darauf abzielt, einem Was Eigenschaften zuzuordnen. Weder Spencer Browns Logik noch die Aristotelische Logik beschreiben jedoch Kontrastordnungen. Möchte Spencer Brown den Bezug auf eine Mengenlogik abstreifen, indem er die Funktion des Unterscheidens sowohl zum Operator wie zum Gegenstand des Ordnens macht, erlaubt Aristoteles mengenlogische Operationen, indem er die Funktion des Ordnens in der Klassifikation von Merkmalen eines Etwas sieht. Das hindert ihn allerdings nicht daran, Ambivalenzen der »Form« als eines zugleich Zeitlosen und sich doch im Zeitlichen Zeigenden sichtbar zu machen. Ist Aristoteles an der Welt interessiert, fragt Spencer Brown zunächst nach der Form der Form selbst. Aristoteles’ Formtheorie versteht »Metaphysik« als Frage nach den Möglichkeiten, nach Welt zu fragen. Spencer Brown ist von der welterzeugenden Selbstreferenz der Form in einer Welt fasziniert, nach der man eigentlich nicht fragen kann, sondern die man setzen muß. Auch diese Differenz läßt sich mit der Differenz der Zeichenformen beschreiben: Die Form des Haken-Kalküls verwendet symmetrische Operationen und behandelt diese Operationen als Darstellungsordnungen eines Identischen. Während Aristotelische Sprach-Formen und Albers’ Farb-Formen auf fragende Öffnungen unendlicher Bestimmungsprozesse oder qualitativ unendliche Kontraste zielen, verwandelt der asemantische Logik-Kalkül Spencer Browns das Geordnete in eine Tautologie. Josef Albers’ Formvokabular verzichtet auf mathematische Symbole. Es benutzt ausschließlich die geometrische Grundform des Quadrats – die aus dem Punkt entwickelte Linie, die sich über die Fläche zum Raum entfaltet – in Verbindung mit der Materialität von Farbe: pure Form und purer Stoff. Daraus entstehende Farbformen geraten, vermittelt durch Wahrnehmungen eines Betrachters, in Bewegung. Konkrete Ordnungen, die daraus in der Wahrnehmung entspringen, rufen klassische Fragen der Metaphysik und Erkenntnis 75 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Bewegte Formen

auf, ohne sie definitorisch zu beantworten: Was ist Form, was Bewegung, was Bestimmtheit? Wie verhalten sich Stoff und Form, Zeit und Raum, Anfang und Ende, Wahrnehmung und Reflexion? Oder: Was ist Logik? Grenzen spielen für Spencer Brown wie für Albers bei der Markierung der Form eine fundamentale, wenngleich für beide eine unterschiedliche Rolle. Sowohl Albers’ malerisches wie auch Spencer Browns mathematisches Form-Konzept beschreiben asemantische Ordnungen. Haken oder Quadrate bezeichnen und repräsentieren nichts außerhalb ihrer selbst. Spencer Browns Kalkül allerdings dient einem anderen Gebrauch: Mit ihm wird gerechnet. Rechenoperationen ersetzen als zeichenbasierte Vollzüge die Bewußtheit und Reflexivität ihres Vollzugs. Überschüsse der Wahrnehmung gegenüber der konkreten Gestalt der Form fallen hier ebenso wenig an wie Überschüsse der Reflexion über die Wahrnehmung. Vollzogen werden formale – und als formale »reine«, weil von der Materialität des Unterschiedenen unberührte – Unterscheidungsoperationen. Zwingen Farb-Quadrate Betrachter, auf die Verwechselbarkeit von Wahrnehmung, Gegenstand und Reflexion aufmerksam zu bleiben, weil deren Überlagerung eben ausmacht, »was« das Etwas »ist«, um das es im Prozeß des Bestimmens jeweils geht, automatisieren mathematische Formen als abstrakte Symbolverkettungen diese Arbeit. Bestimmungen und Grenzen der Farb-Formen auf Albers-Quadraten vollziehen sich nicht wie in einem Kalkül. Vier Rotquadrate als Tiefenstaffelungen von Unterscheidungen aufzufassen, die in einem Kalkül zu schreiben wären, ergibt wenig Sinn. Eine solche Schreibweise zeigt nichts über den Gegenstand – das Bild. Eher würde der Gegenstand in seiner Qualität trivialisiert. Die »reine« Form der Form – die Schreibweise des Kalküls – unterscheidet insofern eine Bedeutungsgrenze: Als Notierungsweise entzieht sie dem Geordneten Sinn. Es verliert, was es in der Aristotelischen Logik ausmacht: ein Frag-würdiges, mithin verweisungsreiches Etwas in einer Welt zu sein. Wechsel der Zeichenform führen in diesem Fall nicht zu Erkenntniszuwachs über einen Gegenstand. Ein solcher Zuwachs ließe sich nicht notieren, er wäre zu beschreiben. Kontexte qualitativer, kontrastreicher Unterscheidungen würden im Kalkül nivelliert. Wiederholungen der Form tendieren zur Tautologie. Wiederholungen der Quadratform auf einem Albers-Bild hingegen führen nicht zu einem leeren Zustand zurück. Zugleich besitzt der Spencer Brown-Kalkül Züge eines Bildes. 76 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Kalkül: George Spencer Brown

Um ihn rechnen zu können, muß er als Zeichenform gesehen, als Gleichung betrachtet und als Hakenreihe gezogen werden. Sein Bildcharakter verleiht der Zeichenform des Hakens diagrammatische Eigenschaften der Gedankenformung. Prozessieren Haken-Formen Gedanken als Unterscheidungen, machen sie den Kalkül zum Bild der Form. Bild der Form ist Tätigkeit der Form – das Ziehen der Unterscheidungen im jeweils bestimmten Kalkül. Ohne ihr Bild wäre Form kein Prozeß. Die Bildform des Kalküls ist wesentlich für dessen Gebrauchsweise. Bei Albers begegnen dem Betrachter Formen und deren Grenzen in Gestalt von Farbkontrasten. Form erscheint hier als, um es mit Spencer Brown auszudrücken, Reentry der Form in ihre Materialität. Farbformen vollziehen, werden sie wahrgenommen, Unterscheidungen. Das ist als Aktivität des Bildes zu verstehen: Ein Farbquadrat »beobachtet« – es unterscheidet und bezeichnet – das darauffallende Licht. Betrachter unterscheiden Aktivitäten der Farbformen. Dazu müssen sie eigene Wahrnehmungen als etwas unterscheiden, das in seiner Aktivität von der Passivität abhängig bleibt, die durch die Aktivität der Bildform gegeben ist. Ihr Agieren, das Albers dazu bringt, sie mit Schauspielern zu vergleichen, findet vor den Augen eines Bildbetrachters statt, dessen Blick wiederum die Bühne bereitet, auf der Farben sich in Bewegung setzen. Unterscheidungen auf AlbersBildern bringen Werte zur Oszillation bestimmter Unbestimmtheiten. Einander überlagernde Werte der Form werden als verwechselbare Zustände ebenso unterschieden wie die Sache von ihrem Beobachter. Für Albers-Bilder ist Materialität wesentlich für die Form. Das verhindert, daß Werte, die durch Unterscheidungen entstehen, »Namen« bekommen. Namen homogenisieren logisch das mit ihnen Bezeichnete. Wenn Albers jeweils auf der Rückseite seiner Bilder die genaue Bezeichnung der verwendeten Farben notiert, ist das etwas anderes als ein Name in Spencer Browns Kalkül. Wert der Farbe im Bild ist nicht deren industrielle Kennzeichnung. Umwandlungen von Grenzen in Werte und von Werten in Namen sind für Kalküle entscheidend: »Wenn ein Inhalt einen Wert hat, kann ein Name herangezogen werden, diesen Wert zu bezeichnen. Somit kann das Nennen des Namens mit dem Wert des Inhalts identifiziert werden.« 22 Für das Rechnen ist die Genealogie des Zeichens aus der Materialität des Stoffes einer Form nicht mehr relevant. Transformationsregeln des 22

Ebenda.

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Bewegte Formen

Kalküls können sie ersetzen. Gegenüber dem Kontext der Wahrnehmung einer Form bleiben sie gleichgültig. Spencer Brown bezeichnet Namen infolgedessen auch als »Markierungen« der Unterscheidung, die in eine andere Form »kopiert« wurden. 23 Mit Albers-Formen dagegen läßt sich nicht rechnen. Tendieren bei Spencer Brown Unterscheidungen auf einen Wert hin, erinnern Farb-Quadrate an die klassische Vorstellung, Theorie sei Schau. Sind Stoff und Form des Zeichens nicht in einen »Namen« zu kopieren, bleiben Wiederholungen frei von Redundanz. »Der Wert einer nochmaligen Nennung«, formuliert Spencer Brown im ersten Axiom, »ist der Wert der Nennung.« 24 Im Falle materialer bewegter Formen ist keine Wiederholung bloße Wiederholung. Markierungen einer Unterscheidung als Wiederholung verschieben den Wert der Unterscheidung. Das Formarrangement eines Bildes wird zugleich material und operativ, in Wahrnehmung und gedanklicher Reflexion bestimmt. Denkbar wird, was material existiert und wahrnehmend in Bewegung gerät. Stoffliche Existenz erklärt sowenig die Form, wie diese ohne Stoffliches vorkäme. Erst in ihrer Materialität werden Unterscheidungen auf ihre Intelligibilität hin unterscheidbar. Hier entspringt die logische Paradoxie konkreter Formen aus einer material fundierten Genealogie des Unterscheidens als einer Praxis, die Formen in Wahrnehmungen, Zeichen und Reflexion verschränkt: Weil sie material bleiben, werden Unterscheidungen reflexiv. Dadurch bestimmen solche Formen ihr Besonderes als Allgemeines. Als Unterscheidungen bleiben sie je Besonderes, weil sie konkret vergleichbar und als Vergleichbares allgemein sind. Allgemeines der Form entspringt dem Konkreten einer Welt: als Auswahlbereich einer Form in ihrer Reihe. Vergleiche von Albers-Quadraten mit Spencer Brown-Kalkülen erinnern an Aspekte der Aristotelischen Logik, die der Kalkül überwinden möchte. Die Aristotelische Logik richtet sich auf Ordnungsleistungen einer vorerschlossenen Welt. Statt Transformationen von Werten beschreibt sie, wie Verschiedenes ähnlich und Ähnliches verschieden gesagt werden kann. Sie dient dazu, Welt verständlich zu machen. Ihre Logik ist im Kern grammatisch. Von künstlerischen Fragen ausgehend, bestärkt Josef Albers aristotelische Überzeugungen einerseits, andererseits führt er Grenzen begrifflicher Logik vor 23 24

Ebenda, S. 4. Ebenda, S. 2.

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Kalkül: George Spencer Brown

Augen. Unterscheidungen interessieren ihn als Kontraste. Farben gleichen Schauspielern, Bilder lassen sich als Bühne betrachten. Doch durchkreuzt reine Farbe das Konzept reiner Form. Als Intensität schlägt Bestimmtheit in bestimmte Unschärfen um. Unscharfe Grenzen zeigen sich auf präzise Weise. Einzelnes wird unterscheidbar, indem Ähnlichkeit sich durch Verschiedenheit herstellt. Ähnlichkeit resultiert aus einer Performanz des Unterscheidens. Weder wird sie zur reinen Unterscheidungsform Spencer Browns noch klassifiziert sie Vorfindliches. Formen können materiale Ähnlichkeiten nicht ordnen, ohne selbst materiale Interventionen – konkrete Zeichen – zu werden. Solche Zeichen repräsentieren nichts. Ihre Ordnung fügt sich dem Schema der Proposition nicht. Gründe kommen deshalb nicht zum Zuge. Weil sie konkrete Interventionen in dasjenige vollziehen, was sie ordnen, vergeben sie als Unterscheidungen keine »Namen«. Stattdessen arrangieren sie Formen als Prozesse in Reihen von Vergleichen, die Ähnliches und Verschiedenes je konkret vorführen und zur Arbeit der Weiterbestimmung einladen, ohne notierbare Resultate zu versprechen. Auch der Form-Kalkül Spencer Browns bestimmt Formen durch Unterscheidungsoperationen. Dennoch tendiert der Kalkül nicht zur Reihe. Kalkül und Reihe eröffnen vielmehr zwei Zugänge zur Frage des Verhältnisses von Form und Stoff. Nur scheinbar vermeidet Spencer Browns Kalkül das Problem der Verwechselbarkeit von Stoff und Form in der Matrix des Unterscheidens: Stoff ist Stoff an Form, Form ist Form an Stoff. Stoff ist, als Unterschiedenes, Form, und Form ist, als Unterschiedenes, Stoff. Haken müssen gezogen werden: »Draw a distinction!« Praktisch gezogen, sind Haken ein jeweiliges Dieses. Abstrakte Formunterscheidungen wie Haken werden jedoch auf etwas angewandt. »Distinctions« vollziehen wir in bezug auf etwas. Hier kehrt die Frage der Materialität zurück: Was wird wie unterschieden, wenn dieser bestimmte Haken gezogen wird? Zur Erläuterung der Formdiagrammatik seines Kalküls schreibt Spencer Brown Haken auf weißes Papier. Das verweist auf die Frage, wo und wie Haken gezogen werden. Sind Druckerschwärze und weißes Papier exemplarisch für das Diagramm des Hakens? Oder ist ihre konkrete Notierung gleichgültig gegenüber dem Gedanken der Unterscheidung als reiner Form – so wie der Kreis als geometrische Figur gleichgültig gegenüber allen empirischen Kreisdarstellungen bleibt? Zunächst sieht der Kalkül von solchen Fragen ab. Die Bestimmung von Etwas im Kontext des Kalküls geschieht als Formalisierung der Form. 79 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Bewegte Formen

Wann immer jemand der Aufforderung, eine Unterscheidung zu treffen, Folge leistet, mithin den performativen Charakter der Form ernst nimmt, erfolgt eine Semantisierung des Kalküls. Wäre der Kalkül kein Instrument, um »Welt« zu ordnen, wäre er womöglich mathematisch interessant, doch bedeutungslos. Wird er bedeutungsvoll, indem er benutzt wird, bleibt er nicht formal. Dieses Dilemma hat er, als reiner Form-Kalkül, mit den reinen Verstandesformen Kants gemein. Vielmehr wird er zu einem Instrument der Klassifizierung wider Willen. Denn »was« geordnet wird, entscheidet nicht der Kalkül. Hier kommt die Operation eines »Beobachters« ins Spiel, der Konkretes binär in Innen- und Außenverhältnisse ordnet. Eben diese zentrale Funktion des »Treffens« einer Unterscheidung läßt der Kalkül theoretisch unbestimmt. Sie wirkt wie ein absoluter Grund. Für Albers ist diese Instanz der Künstler, für Aristoteles, in der Poetik, ist es der Dichter bzw. der Philosoph, der die Dichtung als Erkenntnis begreift. Zwar sieht Spencer Brown vor, daß mit dem Ziehen der Unterscheidung der »unmarked space«, also der Auswahlraum des Unterscheidens, selbst erzeugt wird, doch bleibt diese paradoxe Bestimmung operativ folgenlos. Mit ihr wird lediglich ausgeschlossen, die Operation des Bestimmens mengenlogisch zu verstehen. Jede Anwendung erzeugt damit eine »Semantisierung« der Form. Überdies vereinfacht der Kalkül die Komplexität materialer Phänomene und Kontraste. Als operatives Schema arbeitet er klassifikatorisch. Er vereinfacht, wovon er spricht, soweit, daß jeder Wert als zwar paradoxe, doch operativ zweiwertige Relation bestimmt wird. Obwohl er den Gedanken einer Performanz der Form radikal formuliert, bleibt er methodisch blind für die »Aktivität« des Unterschiedenen und dessen Widerständigkeit gegen das Unterschiedenwerden. Daß Farb-Formen selbst »beobachten«, beschreibt ein Kalkül nicht. Wahrnehmungen blendet er zugunsten einer technischen Handhabung des Kalküls ab. Erinnerungen an einen Vorzug der oft geschmähten syllogistischen Logik drängen sich auf: Im Syllogismus steckt mehr als tautologische Deduktionen eines Schlußsatzes aus einem Obersatz. Schlußsätze, die eine jeweils besondere Wirklichkeit bezeichnen, können zur Suchanweisung für mögliche Obersätze werden. In diesem Falle wird das Allgemeine nicht vorausgesetzt, es wird erfragt. Welt öffnet sich in der Frage nach Unterschieden und Ähnlichkeiten. Dabei wird »Welt« als konkrete, form-stoffliche wie auch sinnhafte Ordnung ernstgenommen, an deren Widerständigkeit sich »logische« Unterscheidungen des »Sagens« bewähren müssen. 80 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Kontraste

3. 3.1

Kontraste Reale Synthesen: Alfred N. Whitehead

Spencer Browns Formkalkül ist eine Ordnung des Schreibens. »Draw a distinction!« erscheint als Imperativ, den jemand im Blick auf ein Material befolgt. Diese Sichtweise macht den Kalkül anderen mathematischen Ordnungen ähnlich oder mit Farb-Formen von Josef Albers vergleichbar. Aus dieser Perspektive handelt die Formlogik sich analoge Probleme ein wie jedes abstrakte Zeichensystem, das als Notierung auftritt. Doch läßt die Idee des Kalküls sich auch anders lesen: Dann beschreibt er eine allgemeine Theorie von Unterscheidungsordnungen. Der Kalkül käme dem nahe, was man die Form des Seins nennen könnte. Seine Form würde zur absoluten Form, da Zeichen keine Notierungen wären. Im Blick auf die Kosmologie Alfred N. Whiteheads lassen sich die Implikationen einer solchen Auffassung besser verstehen. In einem »Etwas« überlagern sich Unterscheidungen und erzeugen einen Unterschied. Umgekehrt beziehen Unterschiede Unterscheidungen so aufeinander, daß sie in Felder oszillierender Unterscheidungen übergehen. Entitäten erscheinen als Feldzustände simultaner Unterscheidungen. Ein Etwas kann dazu dienen, Zustände des Unterscheidens unterscheidbar zu halten. Alfred N. Whitehead hat vorgeschlagen, hier zwischen Kontrasten und Relationen zu unterscheiden. Mit Kontrasten läßt sich nicht »rechnen«. Weder klassifizieren sie noch ordnen sie Mengen. Relationen logifizieren in gewisser Weise Kontraste, bleiben diesen gegenüber jedoch abstrakt. Abstraktheit ermöglicht wiederum operative Verwechslungen von Unterschied und Unterscheidung, bei denen Form-Werte unterschieden werden können, die nicht notwendig definierte Elemente eines Kalküls sein müssen. Albers-Quadrate wären in diesem Sinne strenge Formen. Präzise Relationen führen zu individuellen Kontrasten, deren Betrachtung Wahrnehmungen und begriffliche Unterscheidungen miteinander in der Konkretheit eines Etwas verschränkt. Das stimuliert Vergleiche, ohne in ein Rechnen mit der Form zu münden. Zwei oder mehr Rottöne auf einem Bild geraten, in der Terminologie Whiteheads, durch ihre Betrachtung in eine »reale Synthese«. Elemente sind »von den individuellen Besonderheiten jedes der Relata beeinflußt.« Synthesen bringen »in ihrer Vollständigkeit die gemeinsamen Besonderheiten dieses Paars von Relationen zum Aus81 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Bewegte Formen

druck«. 25 Whiteheads Farbbeispiel läßt sich anhand eines Quadratbildes von Josef Albers nachvollziehen: »Der Kontrast zwischen Blau und Rot läßt sich als dieser Kontrast nicht zwischen irgendeinem anderen Farbenpaar, Klangpaar oder zwischen einer Farbe und einem Klang wiederholen. Er ist nur dieser Kontrast zwischen Blau und Rot, dieser und nichts anderes. Bestimmte Abstraktionen von diesem Kontrast, bestimmte darin angelegte Werte können auch aus anderen Kontrasten gewonnen werden. Aber sie sind andere Kontraste und nicht dieser Kontrast; und die Abstraktionen sind nicht ›Kontraste‹ desselben kategorialen Typs.« 26 Vergleiche der unverwechselbaren Kontrastordnung eines Quadrat-Bildes mit anderen Bildern erzeugen Relationen im Sinne markierter Kontraste. »Was man gemeinhin als ›Relationen‹ bezeichnet, sind Abstraktionen von Kontrasten.« 27 So würde die Homage-to-the-Square-Serie als Formexperiment verständlich, das sich geometrischen und farblichen Unterscheidungsoperationen verdankt, die Relationen beschreiben. In einzelnen Bildern treten diese Relationen als Kontraste auf. Whitehead macht auf etwas aufmerksam, was für eine Formtheorie von großer Tragweite ist. Auf einem Quadrat-Bild erscheinen offensichtlich mehrere Kontraste. Wir können nun, hebt Whitehead hervor, mehrfache Kontraste »nach den darin enthaltenen einfachen Kontrasten analysieren. Aber ein mehrfacher Kontrast ist nicht bloß eine Ansammlung von dualen Kontrasten. Es ist ein Kontrast, der noch über die in ihm enthaltenen Kontraste hinaus besteht.« 28 Was als Relationen oder als Reihe einfacher Kontraste in einer komplexen Form-Ordnung wie einem Quadrat-Bild erscheint, kann nicht als Reihe distinkter, grammatisch oder mathematisch geregelter Unterscheidungsoperationen geschrieben werden. »Diese Lehre«, bemerkt Whitehead, »ist eine Binsenweisheit der Kunst.« 29 Josef Albers hat sie auf seine Weise zum Ausdruck gebracht. Versuche, Kontrastrelationen urteilsförmig zu formulieren, transformieren ein wahrnehmungsbasiertes Empfinden in eine Entscheidung, die sich als Aussage entfaltet, indem sie diskrete Relata der jeweiligen Welt eines Beobachters in eine lineare Anordnung bringt.

25 26 27 28 29

Whitehead, A. N.: Prozeß und Realität (1929). Frankfurt/M. 1987, S. 417. Ebenda, S. 418. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

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Kontraste

Urteile büßen dabei die Konkretheit ein, die einen Kontrast ausmacht. Es sind simplifizierte Formen. Indem sie Genealogien und Simultaneitäten von Unterscheidungsoperationen abblenden, verzeichnen sie Welt. Termini eines Urteils bleiben als Relationswerte abstrakt, allgemein und vage. 30 Sie gleichen Namen, die wir einem Unterschiedenen im Spencer Brown-Kalkül geben. Betrachten wir ein AlbersQuadrat als Exempel für diese Form-Theorie, zeigen sich Operationen des Arrangierens von Formen als Operationen der Erzeugung von Konkretem mit Hilfe von Relationen. Resultate solcher Operationen gleichen weniger einem Gesetz der Form. Eher entspringen sie einer generativen Matrix wirklicher Unterscheidungen. Gegenüber einer Dramaturgie des Form-Prozesses verblaßt die Allgemeinheit der Form der Logik. Bewegte Formen, so läßt sich Whiteheads Kosmologie hier lesen, realisieren sich als beobachterrelative Unschärferelationen von Kontrasten und Relationen im Kontext einer jeweiligen Welt als des Bereichs des potentiell Bestimmbaren. An der Kantischen oder Hegelschen Begriffslogik kritisiert Whitehead die Unterordnung von Erfahrung unter Schematismen des Denkens. Es werde immer schon logifiziert, was als Unterschiedenes in der Erfahrung Form gewinnt. 31 Solche Begriffe der Form ziehen kategorial auseinander, was sie als operativ Zusammenbestehendes fassen müßten. Neues ernstzunehmen, wird so erschwert. Doch führt jede Unterscheidung Unterschiede in Welt ein. Vergleiche gruppieren Erfahrungen, Welt und Denken um. Kontraste und Relationen treten in neue Verhältnisse. Einen Haken zu ziehen müßte dann heißen, einen Kontrast zu erschaffen. Dieser könnte nicht bloß formal sein.

3.2

Dialektik der Grenze: G. W. F. Hegel

Bei aller Skepsis gegenüber der dialektischen Logik hat Whitehead Hegels Formtheorie mit Respekt betrachtet. Hegel diskutiert in seiner Logik das Problem des Etwas als Dialektik der Grenze. Seine Unterscheidungstextur folgt einer Logik doppelter Negation. Etwas und Anderes, Sein-für-Anderes und Ansichsein bilden eine Figur der Aufhebung von Gegensätzen. Etwas wird negiert, bewahrt und auf ein anderes Strukturniveau emporgehoben. Der phänomenologisch einer 30 31

Vgl. ebenda, S. 355 ff. Vgl. ebenda, S. 218.

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Bewegte Formen

Sache zugewandte Philosoph beobachtet eine Transformationsreihe der Unterscheidung bis zur reflexiven Durchbestimmung der Form. Durchbestimmt ist eine Form, wenn sie ihre Unterscheidungsrelationen durchlaufen, ihre logischen Transformationen ausgeschöpft und die Unterscheidungen in der Form eines komplexen Unterschieds aufgehoben hat. Dann ist sie, in dialektischer Terminologie, mit sich selbst vermittelt. Zunächst ist Etwas ein Unterschiedenes. Es besteht in Relation zu Anderem. Anderes ist ebenfalls Etwas. Kehrt diese Relation zum Etwas zurück, ist dieses in Relation zu sich selbst als einer Relation zu anderem getreten. Hegel betont, daß ein Etwas, wenn es aus dem Sein-für-Anderes in sich zurückkehrt, das Andere seiner »an ihm« hat. 32 Logische und zeitliche Bestimmungen der Unterscheidung hängen zusammen. Im Unterscheiden wird nichts vergessen. Das Zeitliche der logischen Unterscheidung macht ihre Kontinuität, eigentlich ihre spezifische Materialität als Transformationskontinuum, aus. Darum begegnen Unterscheidungen bei Hegel als Bewegungen. Sie erstrecken sich über Zeit und Gegenstand, um sich selbst und ihr Anderes sukzessive aufzuheben. Spricht Hegel von der Substanz als vom Subjekt, geht es darum, Kontinuität in der Selbstreferenz jedes Außen- und Innenbezugs einer Unterscheidung zu retten. 33 Hegels Begriff des Subjekts unterscheidet sich darin grundlegend von der Idee eines Kalküls. Vergleiche sind darum keine gute Weise, die Differenz von Formen zu betrachten. Vergleiche, meint Hegel, bleiben nämlich dem Unterschiedenen äußerlich, da sie es nicht transformieren. Im Vergleich werde das Verglichene abstrakt bestimmt. Vor allem kehrt es nicht zu sich zurück. Es nimmt auch nichts mit. Quadrat-Bilder von Albers zeigen das Gegenteil: Einzelbilder zielen ebenso wie ihre Reihe auf Vergleiche, in denen weder Abstraktheit noch Allgemeinheit, sondern materiale Besonderheit entsteht. Bestimmtheit und Beschaffenheit verbinden sich, so Hegel, im Etwas. Veränderung ist am Etwas »gesetzt«. 34 In der Konstruktion dialektischer Logik wird die Verschränkung der Relata einer Relation nicht als Unschärfe der Beobachtung – oder der Verwechslung von

Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik (1812). Werke in zwanzig Bänden, Bd. 5. Frankfurt/M. 1981, S. 129. 33 Philosophiehistorisch betrachtet, geht es um die Abgrenzung von der Substanzmetaphysik Spinozas. 34 Ebenda, S. 134 f. 32

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Kontraste

Beobachter und Beobachtetem – gewertet. Vielmehr wird sie dem Wesen der Sache zugerechnet. Die Grenze enthält das Etwas und das Andere einer Bestimmung »ideell«, um sie »reell« zu setzen. 35 Etwas ist durch seine Grenze, die zugleich Sein und Nichtsein an sich hat. Dadurch erlangt es Qualität. »Etwas ist also als unmittelbares Dasein die Grenze gegen anderes Etwas, aber es hat sie an ihm selbst und ist Etwas durch die Vermittlung derselben, die ebensosehr sein Nichtsein ist. Sie ist die Vermittlung, wodurch Etwas und Anderes sowohl ist als nicht ist.« 36 Grenzen sind »Prinzip« dessen, was sie begrenzen. 37 So sei, erläutert Hegel, die Eins als Hundertstes Grenze, aber auch Element der Hundert. Da Hegel das Unterschiedene als Widerspruch konzipiert, nimmt er an, daß die Grenze das Unterschiedene »über sich selbst hinausschickt«. 38 Dynamisch wird die Unterscheidungsrelation aufgrund ihrer Logik, nicht ihrer Materialität. »So ist der Punkt diese Dialektik seiner selbst, zur Linie zu werden, die Linie die Dialektik, zur Fläche, die Fläche die, zum totalen Raume zu werden.« 39 Form, als Grenze, die Bestimmung durch Unterscheidung hervorbringt, ist als Unterschied kein Anderes des Unterschiedenen. Unterschied und Unterscheidung zieht Hegel in der Transformation der Grenze zur Schranke zusammen: »Die eigene Grenze des Etwas, so von ihm als ein Negatives, das zugleich wesentlich ist, gesetzt, ist nicht nur Grenze als solche, sondern Schranke.« 40 Schranke ist bestimmte Negation der Grenze. Darum ist sie Form des Endlichen. Auch Spencer Brown betrachtet, bei aller Differenz zur dialektischen Logik, Form als »Anweisung«, die Grenze der Form zu kreuzen. »Tokens« dienen als Möglichkeiten, von einem Zustand, den sie als Unterscheidung erzeugen, zu einem anderen Zustand überzugehen, den sie als bestimmt unbestimmten Zustand ermöglichen. Hegels Negationslogik zieht in der Bewegung der Sache zusammen, was Spencer Browns Formkalkül als Unterscheidung und als Operation eines Beobachters behandelt, mit der dieser Formen »zieht«. Indem er Formen zieht, wird er jedoch ebenfalls mit seinem Gegenstand verwechselbar, denn die Form erzeugt den unmarked space, in den sie geschrieben wird, als bestimmt unbestimmten Raum 35 36 37 38 39 40

Ebenda, S. 136. Ebenda (Hervorhebung im Original). Ebenda, S. 138. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 142 f.

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Bewegte Formen

durch die Tätigkeit des Unterscheidens. Beobachter schreiben Transformationen des Kalküls. Anders als Hegels phänomenologisch arbeitender Philosoph schauen sie der Bewegung von Formen nicht zu. Hegels Dialektik der Grenze kennt keinen unmarked space. Deshalb ist die Totalität, als logisch, zeitlich und sachlich komplettierte Form, das absolute Subjekt oder die Welt, die mit Gott vermittelt ist. Mit dem Kalkül zu rechnen schützt vor der Verwechslung mit der Bewegung der Sache selbst. Doch ähnlich wie Hegels Logik erschafft die Kalkül-Form ihre Welt, die sie rechnend bestimmt, als Einheit der Differenz von Form und unmarked space. Formkalkül und Totalität sind einander darin ähnlich: Sie setzen sich als Formen der Form. In ihrem Licht erscheinen Reihen, die Unterscheidungen als Vergleiche ordnen, wenig interessant. Was Reihen zutage fördern, sind materiale Formen: Kontraste, die Besonderes als Allgemeines und Allgemeines als Besonderes vorführen. Entsprechend unterschiedlich fällt die Vorstellung der Operationen aus, die Formen ermöglichen. Aus Hegels Sicht bestimmt sich ein allumfassender Prozeß – Welt – sukzessive selbst, indem er alle Kombinationen von Unterscheidungen an allen Materialien – von der anorganischen über die organische Welt bis hin zur Welt des Geistes in ihrer Geschichte und Logik – durchläuft. Trotz ihrer Eleganz und Geschmeidigkeit ist Hegels Logik eine grandiose Gleichung der Welt als Tautologie ihrer Unterscheidungen. Ist die Welt alt genug geworden, ziehen Philosophen Bilanz. Für Spencer Brown ist Form die Form eines Kalküls, der seine Welt erschafft, aber nicht resümiert. Kalküle sind generative Ordnungen. Aus dialektischer Perspektive ist der Kalkül womöglich generativ, jedoch nur, weil der Kalkül gegenüber seiner Genealogie abstrakt bleibt. Form und Stoff kann er nicht verwechselbar halten. Dafür identifiziert Hegel – aber verwechselt nicht – die Beobachtung des Formprozesses mit der Logik des Beobachteten. Weder Spencer Brown noch Albers laufen Gefahr, diese Differenz in letzter Instanz aufzulösen. Das eröffnet den Blick auf Unterscheidungen nicht als sukzessive Zustände der Welt, sondern als operative Weltzustände. Formen präsentieren sich als Operationen, die oszillierende Bestimmtheiten freisetzen. Absolut werden solche Formen nicht.

86 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Kontraste

3.3

Bild, Form, Logik

Konzentriert Hegels Logik sich auf Binnenverhältnisse einer Form, zeigt das Beispiel der Farbquadrate Josef Albers’ die konstitutive Funktion der stets präsenten Außenseite eines Unterscheidungsfeldes. Grenzen der Form sind Bedingungen der Möglichkeit des Unterscheidens. Zwischen Bild und Nichtbild muß unterscheiden, wer Formbewegungen auf Albers-Bildern folgt. Nicht von ungefähr wählt Albers seine Bildgrößen so, daß Betrachter das Bild als ganzes, mithin die Grenze der Farb-Form-Dynamik im Blick behalten. Spencer Browns Formkalkül hingegen blendet die Binnenlogik material bestimmter Formbewegungen durch die Organisation von Kontrasten zugunsten des Rechnens eher ab. Auch das unterscheidet den Kalkül der Form von einer Dialektik der Form. Im Blick auf AlbersQuadrate zeigt sich eine Logik der Form, die nicht in die Form der Logik umschlägt. Diese Logik operiert mit Kontrasten statt mit binären Unterscheidungen. Bilder sind gute Beispiele für Unterscheidungsordnungen materialer Art, die sich auch in natürlichen oder sozialen – wie auf einer Theaterbühne – Kontexten finden. Whiteheads Kosmologie entfaltet derartige Kontrastordnungen im Blick auf die Natur. Kontrastordnungen erschließen Formen als Fragen, weniger als Ausbestimmungen eines Etwas. Grund dafür ist die Bestimmung der Form weder als Operation eines »crossing« noch als doppelte Negation. Werte einer Form erscheinen als simultane und verschränkte Zustände eines Unterschiedes in einer Reihe von Unterscheidungen. Deshalb laufen sie nicht, wie bei Hegel, auf Totalität hinaus. Form, Logik und Bild treten in komplementäre Beziehungen. Kontexte einer Form zeigen sich als Matrix für Oszillationen. Unterscheidungen bestimmen Unterschiede, ohne das Unterschiedene als ein Etwas ruhigzustellen, das seine Unterscheidungen als Widersprüche in sich aufgehoben hätte. Aus dem Kalkül wird eine Matrix. Heuristisch dient sie dazu, Unterscheidungen operativ für empirische Beschreibungen verwechselbar – methodisch getrennt, sukzessive zu durchlaufen und in der Sache verschränkt – zu halten. Dafür müssen Beobachter Kontraste und Relationen wechseln, indem sie Vergleiche anstellen und Darstellungen des Prozesses anfertigen. Die Logik der Form entfaltet sich in ihrer Darstellung: als »Bild«. Weder bleibt der Betrachter, in Relation zur Bewegung der Formen, innen noch außen.

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Bewegte Formen

Innen und Außen sind Werte einer Unterscheidung, die markieren, daß jedes Etwas, als Unterschiedenes, ein Weltzustand ist. Weltzustände sind unscharfe Bestimmtheiten empirischer Oszillationen sich überlagernder Unterscheidungen. Oszillationen von Form und Stoff, Quadrat und Farbe, Bild und Wahrnehmung erzeugen die Dynamik eines Bildprozesses. Sie sind das Bewegende der Form. Bewegung, der Prozeß des Bildes, »ist« Telos des Prozesses: performatives Formgeschehen. Zustände der Form heben sich darin, im Hegelschen Sinne, nicht auf. Weder Bild noch Betrachter sind Ursache der Bewegung oder auch nur von der Bewegung zu unterscheiden. Form erscheint als Zeit, Tendenz, Simultaneität ihrer Möglichkeiten und Stofflichkeit des Unterschiedenen als eines zugleich Sinnlichen und Intelligiblen. Beobachtungen der Form führen auf Fragen, wie zu unterscheiden sei. Aber solche Fragen terminieren nicht in einer WasFrage, die ein Allgemeines gegenüber dem Besonderen oder eine Form gegenüber ihren Werten privilegiert. Form-Logik ist nicht zwingend Wesens-Logik oder Kalkül-Logik. Performative Formen sind Zustände einer Welt im Entstehen. Gewonnen wird Welt im Unterscheiden: hier, jetzt, von jemandem, mit Hilfe von Zeichen und im Rahmen von Gebrauchsweisen, die eine Praxis charakterisieren, mit der wir Formen erzeugen, die wir ebenso erfinden wie wir sie finden. Formen versammeln Verschiedenes zu Ordnungen des Ähnlichen. Begriffliche Taxonomien oder Subjekt-Prädikat-Sätze erschweren es, Versammlungen von Mannigfaltigkeiten einer sinnhaft erschlossenen Welt zu beschreiben, wenn die Verkettungsform ihrer Zeichen mit der Form von Logik und die Form von Logik mit der Form von Welt gleichgesetzt werden. Erfahrungen zu organisieren bedeutet eher, dem Summen der Welt zuzuhören und Darstellungen zu erfinden, die Gesellschaften von Verschiedenem in balancierte Koexistenzen versetzen. In Worten, die an Bruno Latours Konzept der Beschreibung erinnern, hat Whitehead dieser Überlegung Ausdruck verliehen: »Alle moderne Philosophie kreist um die Schwierigkeit, die Welt, mit Hilfe von Subjekt und Prädikat, Substanz und Qualität, Besonderem und Universalien zu beschreiben. Das Ergebnis tut immer der unmittelbaren Erfahrung Zwang an, die wir mit unseren Handlungen, Hoffnungen, Sympathien und unseren Zielen ausdrücken und die wir trotz unseres Mangels an Ausdrücken für ihre sprachliche Analyse erleben. Wir befinden uns in einer summenden Welt, inmitten einer Demokratie

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Kontraste

von Mitgeschöpfen; wohingegen die orthodoxe Philosophie, in welcher Gestalt auch immer, uns nur zwischen einsame Substanzen stellen kann …« 41

41

Whitehead, A. N.: Prozeß und Realität. A. a. O., S. 109.

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Summende Welt

1.

Asemantische und semantische Formen

In der Welt bedeutungsvoller Gegenstände und Handlungen nehmen Unterscheidungen andere Signaturen an als in mathematischen Kalkülen oder malerischen Farb-Form-Kontrasten. Unterscheidungen beinhalten Wertungen. Etwas erscheint jeweils in Verhältnissen, die sich ändern können, in wechselndem Licht. Bedürfnisse und Interessen prägen Sichtweisen. Im Sinne Nietzsches ist die »Grundstellung zu allen Dingen« unlogisch. 1 Unterscheiden als Rechnen aufzufassen bedeutet, Werte innerhalb eines symbolischen Kalküls von der Wertung zu unterscheiden, die jeder formalen Transformation eine Ökonomie der Leidenschaften und Interessen unterlegt. Bewegte Formen sind unruhige, mit Tätigkeit aufgeladene Formen. Immer aufs neue eröffnen sie motivierte Übergänge zu weiteren Unterscheidungen und Kontrasten. Novalis spricht von der inhärenten Unruhe eines Denkens, dessen Wesen Tätigkeit ist: »Sollte das höchste Princip das höchste Paradoxon in seiner Aufgabe enthalten? Ein Satz seyn, der schlechterdings keinen Frieden ließe – der immer anzöge, und abstieße – immer von neuem unverständlich würde, so oft man ihn auch schon verstanden hätte? Der unsre Thätigkeit unaufhörlich rege machte – ohne sie je zu ermüden, ohne je gewohnt zu werden?« 2 Der paradoxe »Satz« Novalis’ erweist sein sinngeneratives Potential nicht nur im Kontext sprachlicher Zeichen. Lesen wir ihn als paradoxes Unterscheidungsprinzip, zeigt dieses Potential sich besonders im Kontrast verschiedener Zeichenformen. An einem Beispiel, das Alfred N. Whiteheads Wort von der »summenden Welt« in besonders Nietzsche, F.: Menschliches, Allzumenschliches I (1878). In: Kritische Studienausgabe Bd. 2. Hrsgg. v. G. Colli und M. Montinari. München 1978, S. 51. 2 Novalis: Logologische Fragmente (1798). In: Werke, Bd. 2. Hrsgg. von Hans-Joachim Mähl. Darmstadt 1978, S. 312–321, hier S. 314. 1

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Im Zeichen des Kreuzes

treffender Weise aufnimmt, möchte ich Relationen von Bild und Sprache sowie Vergleichsmöglichkeiten, die sich aus ihrer Kontrastierung ergeben, exemplarisch ins Auge fassen. 3 Anders als im Falle des Vergleichs von Farbquadraten und mathematischem Kalkül handelt es sich nun um einen Kontrast semantischer Formen.

2. 2.1

Im Zeichen des Kreuzes Kreuztragung Christi: Pieter Bruegel d. Ä.

In wenigen Bildern »summt« die Welt wohl so eindrucksvoll wie in Gemälden Pieter Bruegels d. Ä. Betrachtern begegnet eine Überfülle an Welt. Es wimmelt von Menschen aller Altersgruppen und sozialer Schichten. Zu sehen sind sie in ihrem Alltag. Arbeitsprozesse werden geschildert. Kinder spielen. Es wird gefeiert und gegessen. Bauern zeigt Bruegel in seinen Darstellungen mit Achtung. Alles, scheint es, das ganze Leben, ist bildwürdig. Bruegels Freund Abraham Ortels sagt von ihm, er habe sogar viele Dinge gemalt, die gar nicht gemalt werden konnten (multa pixit quae pingi non possunt). 4 Dieses Diktum nehme ich zum Anlaß, ein Bild genauer ins Auge zu fassen, das einen besonderen Blick auf die Bewegung der Formen eröffnet. Insbesondere richtet sich mein Interesse auf die Transformationen des zentralen Symbols innerhalb des Bildes und auf die Serie von Übergängen, die das Verstehen dieses Bildes impliziert. Mein Blick erfolgt weniger aus einer kunsthistorischen als aus einer formtheoretischen Perspektive. Nehmen wir die »Kreuztragung Christi« (1564). 5 Was mit der Darstellung von nicht Abbildbarem gemeint sein kann, springt hier in die Augen. Das Wichtigste ist unsichtbar, und doch bildet es das Zentrum des Bildes. Bruegel verhandelt ein klassisches Motiv, einen Typus der christlichen Malerei. Andere, zum Beispiel Herri met de Bles, Joachim Beuckelaer oder der Brunswick Monogrammist haben mit diesem Typus gearbeitet. Aber Bruegel findet eine neue Malform, Whitehead, A. N.: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie (1929). Frankfurt/M. 1987, S. 108. 4 Zitiert nach Gibson, M. F.: The Mill & The Cross. Pieter Bruegel’s »Way to Calvary«. In: Gibson, M. F./Majewski, L.: Bruegel. The Mill & The Cross. Olszanica 2010, S. 7–116, hier S. 13. 5 Kunsthistorisches Museum Wien, Saal 10. 3

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Summende Welt

die eine Distanzierung von der Tradition dieses Typus formuliert. Man könnte sagen, daß hier die Frage nach dem Typus oder nach der Logik des Symbolischen neu gestellt wird. Entstanden ist das Gemälde kurz nach Bruegels Übersiedlung von Antwerpen nach Brüssel (1563), wo er Mayken Cocks, die Tochter seines Lehrers, geheiratet hatte. Zu dem Zeitpunkt ist Bruegel in seinen dreißiger Jahren – geboren wurde er zwischen 1525 und 1530. Wer 1563 in Brüssel lebt, befindet sich in einer anderen sozialen und politischen Situation als in Antwerpen. Antwerpen war die schillernde ökonomische und kulturelle Handelsmetropole. Ihre Einwohnerzahl übertraf diejenige Londons. Zwischen 1500 und 1569, dem Todesjahr Bruegels, verdoppelte sich ihre Bevölkerung. Eine erfolgreiche Bürgerschicht prägt den kosmopolitischen Geist der Stadt. Brüssel hingegen ist ein politisches Zentrum, in dem die habsburgische Herrschaft in Gestalt der Margarete von Parma und ihres Hofes residiert. Margarete, Halbschwester Philipps II., war von ihrem Bruder die Aufgabe übertragen worden, antikatholische Häresien zu bekämpfen. In ihrem Namen agiert Kardinal Granvelle, von Philipp neben sechzehn anderen neuen Bischöfen 1559 eingesetzt. In den Augen der Bevölkerung verkörpern sie eine spanisch-katholische Allianz der Unterdrückung. Kirche und Staat erscheinen als Institutionen der Repression. Anders als Margarete, die sich um einen moderaten politischen Kurs bemüht, agiert Granvelle als rücksichtsloser Inquisitor und Staatsratsvorsitzender. 6 Bevor Granvelle 1564 nach Spanien zurückkehren muß, hat Bruegel mit ihm Bekanntschaft geschlossen. Möglicherweise ist der Kontakt durch Bruegels Lehrer und Schwiegervater Cock oder durch seinen Mäzen Niclaes Jonghelinck, einen Antwerpener Bankier, zustandegekommen. Granvelle besaß Arbeiten Bruegels. Wichtig ist dieser Umstand, weil er zeigt, wie klug Bruegel es verstanden hat, sich in dem schwierigen politischen und religiösen Umfeld zu bewegen, obwohl er es in seinen Bildern, speziell in der »Kreuztragung«, thematisiert. Thematisiert wird auch die zwischen Katholiken, Calvinisten und Lutheranern umstrittene »Bilderfrage«. 1564 stirbt Calvin, der radikalste Kritiker religiöser Bildmotive. Im Unterschied zu Calvin hält Luther Bilder für unbedenklich, sofern sie der Veranschaulichung der Heilsbotschaft und als Zeichen für die Erinnerung an Gottes Wort dienen. Verehrt werden sollen Bilder hingegen nicht. BrueVgl. Zupnick, I. L.: Bruegel and the Revolt of the Netherlands. In: Art Journal 23 (1964), Nr. 4, S. 283–289; Gibson, W. S.: Bruegel. London 1977, S. 120 ff.

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Im Zeichen des Kreuzes

gels Darstellungsweise sucht eine Antwort auf die Frage, was ein Bild ist und worin die christliche Botschaft besteht. Darin kommt seine Antwort derjenigen Luthers nahe. 7 Sie verbindet religiöse, künstlerische und politische Überlegungen. Verbunden werden sie durch die Logik einer Darstellung, die auf die Bewegung der Form setzt und damit Bilder als Bewegungsformen ins Spiel bringt. Bewegungsformen sind Zeitformen. Entsprechend gehört das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu den wichtigen Themen des Bildes. Das Zeichen, an dem diese Operation durchgeführt wird, ist wiederum das typische Zeichen des christlichen Abendlandes: das Kreuz.

2.2

Zeit, Bild, Welt

Auf 124 mal 170 Zentimetern breitet sich, von unserem leicht erhöhten Blickwinkel aus betrachtet, eine dicht bevölkerte Landschaft aus. Zunächst ist schwer zu erkennen, was dort geschieht. Zu viele Details zerstreuen den Überblick. Unsere Aufmerksamkeit springt hin und her. Ein Betrachter braucht Zeit, um sich zu orientieren. Wir begeben uns in das Bildgeschehen hinein, um zu erkennen, was passiert. Dabei geht die Übersicht einer Betrachterposition verloren, die nur hat, wer nicht auf Einzelheiten achtet. Doch wer sich nicht auf Einzelheiten einläßt, sieht nichts. Das Bild saugt den Blick an, bis es als ganzes Bild verschwindet, und wirft ihn zurück, bis fast nichts mehr zu erkennen ist. Erste Anhaltspunkte für eine Orientierung bietet die Verteilung des Lichts. Der Streifen Himmel über dem hoch angesetzten Horizont verändert sich von links nach rechts dramatisch. Hellem Licht in der linken Bildhälfte, wie es sich am frühen Morgen findet, entspricht auf der rechten Seite ein düsterer, mit schwarz-grauen Wolken verhangener Himmel, der an eine Abend- oder Gewitterstimmung erinnert. Schwarze Vögel ziehen ihre Kreise. Offenbar haben wir es mit zwei unterschiedlichen Zeiten – Morgen und Abend – zu tun. Neben dem zeitlichen Aspekt des Lichts drängt sich eine emotionale Konnotation auf: Links herrscht eine aufbruchsfrohe Stimmung, während rechts eine düstere Atmosphäre überwiegt. Folgen wir diesem Hinweis der Lichtregie, finden sich weitere Anhaltspunkte im Bildgeschehen. Den 7

Vgl. Weismann, A.: Golgotha. Vergangenheit mit Jetztzeit geladen. Kampen 1992.

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Summende Welt

Zeiten wird eine Bewegung auf der Ebene des Ereignisses zugeordnet. Ist die linke Bildhälfte durch Zeichen des Lebens charakterisiert, erscheinen rechts Zeichen des Todes. Von links nach rechts wird die Vegetation spärlich. Rechts erkennen wir eine Hinrichtungsstätte. Es handelt sich um einen Ort des Todes, genauer: der Gewalt und des Mordens. Räder, auf die Gefangene geflochten werden, stehen auf einer kahlen Anhöhe. Im Kreis einer zuschauenden großen Figurengruppe werden Kreuze errichtet. Ganz rechts ragt ein nackter Stamm in die Höhe, auf dem ein Rad befestigt ist. Darauf hockt ein Rabe vor einem Fetzen, der vermutlich einem Opfer gehörte. Die meisten Figuren sind in einer Bewegung von links nach rechts begriffen. Am Tor einer Stadt, links am Horizont in dunstigem Frühlicht aufschimmernd, nimmt sie ihren Ausgang und zieht nach rechts zur Hinrichtungsstätte. Nur einige Bauern begeben sich am frühen Morgen mit ihren Produkten in die umgekehrte Richtung, zur Stadt, um ihre Erzeugnisse auf dem Markt anzubieten. Unterschiedliche soziale Gruppen sind vertreten: Männer, Frauen, Kinder, Tiere (Pferde, Hunde, Schafe und Vögel), Bauern, Handwerker, Gefangene, Mönche, Kleriker, Adlige, Bettler, Soldaten und Zigeuner. Auffallend in der sanft nach oben rechts ansteigenden Landschaft ragt, knapp links neben der vertikalen Mittelachse des Bildes, schroff ein steiler Felsen empor. Darauf thront in aberwitzig anmutender Position eine Mühle, die auf einer radförmigen Plattform angebracht ist. Diese Plattform befindet sich auf genau gleicher Höhe wie das Folterrad auf der rechten Seite. Klüftungen im Fels deuten auf einen spiralartigen Aufstieg im Inneren des Felsens hinauf zur Mühle hin. Winzig klein lehnt eine Figur am Fuß der Mühle – offenbar der Müller, dem Treiben unter ihm zuschauend. Seine Position im Bild – oben, im Himmel – erinnert an die Position Gottes im christlichen Bildvokabular. Was er von dort aus erblickt, ist ein Geschehen, das in einer kontinuierlichen Zeit stattfindet – im Unterschied zu den zwei Zeiten, die sich an der Verfärbung des Himmels andeuten. Das Gemälde arbeitet mit verschiedenen Zeitebenen, die zudem symbolische Bedeutung tragen. Unterstützt wird dieser Eindruck durch eine auffällige Figurengruppe vorn rechts. Neben einem Felsen, der mit aufragenden Knochen und einem drapierten Pferdeschädel ein Vanitasmotiv bildet, zieht eine typische biblische Szene der Beweinung Christi die Aufmerksamkeit an: eine andächtige Gruppe um die zusammengesunkene Maria, der Johannes zu Hilfe kommt. Von ihrer Kleidung her fällt 94 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

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dieses Personal aus der Zeit der Bildhandlung heraus. Sie entspricht der Mode des 15. Jahrhunderts, während alle anderen Figuren nach der Mode des 16. Jahrhunderts gekleidet sind. Perspektivisch wirken diese Figuren leicht vergrößert. Ihr Blick richtet sich nicht auf die Handlung, sondern bleibt in sich gekehrt. Dem zentralen Bildgeschehen wenden die Gestalten den Rücken zu. Es scheint sie nicht zu interessieren. Blicken sie auf ein unsichtbares Kreuz im Raum vor dem Bild? 8 Eine weinende Frau betrachtet Maria jedoch, als ob sie eine Figur der Bildrealität wäre. Von Maria ist sie sogar so gefesselt, daß sie den dringenden Hinweisen ihres Mannes und ihres Kindes nicht Folge leistet, ihre Aufmerksamkeit dem Geschehen in der Bildmitte zuzuwenden. Ihre Trauer über die Trauer Marias hindert sie, das Ereignis in ihrem Rücken zu bemerken. Während Handwerker direkt hinter Maria Magdalena, ins Gespräch vertieft, gleichgültig vorbeiziehen, betet eine ältere Frau, direkt vor ihnen, ehrfürchtig die Heiligen an. Heilige scheinen dazu da zu sein, angebetet und beweint zu werden, aber auch, um von der Welt abzulenken. Dem Hügel, vor dem die Gruppe der Heiligen plaziert ist, korrespondiert am linken Bildrand im Vordergrund ein weiterer Felsbrocken. Hinter den Felsen ragt jeweils ein Baumstamm empor: ein blühender Baum links, ein kahler Stamm mit Folterrad rechts. Gemeinsam mit dem Mühlenfelsen bilden sie ein Dreieck aus Stein. Zieht man eine Diagonale von rechts unten nach links oben, liegen die Häupter von Maria und Johannes fast genau auf dieser Linie, mit der sich die Vertikalachse der Mühle am Fuß des schroffen Felszahns schneidet. Die Mariengruppe erscheint wie aus einer früheren Zeit in die Gegenwart des Bildgeschehens versetzt und doch für einige Personen real. Überdies ist ihre Position in der Chronologie der Passionsgeschichte eine spätere: Ihre Trauer ist nach dem Kreuzestod Jesu angemessen. Einen Gekreuzigten jedoch sehen wir auf dem Bild nicht. Stattdessen wird offenbar auf der Hinrichtungsstätte eine Kreuzigung erst vorbereitet. Zwei Kreuze stehen bereits, ein drittes wird gerade errichtet. Auch entspricht das Gemälde keineswegs einem Andachtsbild, auf dem die Mariengruppe eine definierte Funktion hätte.

So die Vermutung von Brückle, W./Müller, J.: Der innere Christus. Zur mnemotechnischen Tradition der Passionsandacht und einer mystischen Vergegenwärtigung des Gekreuzigten bei Pieter Bruegel d. Ä. In: Bern, J. J. (Hrsg.): Seelenmaschinen: Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne. Wien 2000, S. 605–638.

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Summende Welt

Dennoch fesselt die Klarheit und Eleganz dieser Figuren den Blick des Betrachters. Deren Malweise entspricht einer italienischen Tradition, die Bruegel ansonsten in seinem Gemälde vermeidet. Der Blick des Betrachters bewegt sich zunächst zwischen der auffälligen Mühle auf dem Felsen und der Mariengruppe hin und her, um sodann in die Links-rechts-Bewegung des Bildes hineingezogen zu werden. Über diese Bewegung werden die Figuren in Beziehung versetzt und eine Handlungsfolge erkennbar. Immer wieder verliert der Blick sich aber in der Fülle der Details, kleiner Parallelhandlungen und einzelner Szenen. Das Ganze gerät in der Bewegung des Sehens aus dem Blick. Es erschließt sich erst nach und nach, wenn wir diesem sich verlierenden Sehen Aufmerksamkeit schenken und Bezüge herstellen, die sich allmählich aufbauen. Was wir sehen hängt damit zusammen, wie wir sehen. Schweift unser Blick von links nach rechts, wird er von einer langen Reihe rot gekleideter Reiter geführt, die sich wie Perlen auf einer Schnur von links oben durch die Bildmitte nach rechts oben ziehen. Das dominierende Rot rhythmisiert das Gemälde farblich. Im Kontrast von Rot und Weiß, wie es sich auf Pferden, Kleidungsstücken oder Gegenständen findet, entsteht eine lebendige Farbigkeit. Das Rot verbindet auch die Kleidung des Militärs mit dem üppigen Tuch, in dem Maria Magdalena in fassungslosem Schmerz ihr Gesicht verhüllt. Dieses Tuch, mit der Eleganz des klassischen Stils gemalt, ist der größte rote Farbfleck des Bildes. 9 Maria Magdalena kniet in der Masse des um sie drapierten faltenreichen roten Stoffes wie in einer Rose. Auch das Kleid der Frau, die hinter Maria, dieser zugewandt und damit Maria Magdalena direkt gegenüber, deren Trauer betrauert, ist rot. Um die rotberockten Reiter herum gruppieren sich unterschiedliche Figuren, deren Bewegungsdynamik, bis auf wenige Ausnahmen, ebenfalls von links nach rechts führt. Es handelt sich um spanische Soldaten, die Gefangene zum Richtplatz eskortieren. Ein Reiter mit einer flatternden Fahne des Habsburgerreiches lenkt die Aufmerksamkeit auf eine dichte Figuration, deren Zentrum ein Karren bildet, auf dem zwei Gefangene hocken, jeweils von einem Geistlichen – einmal grau, einmal schwarz gekleidet – begleitet, der auf den Gefangenen einspricht. Der linke der beiden Delinquenten hält ein Kruzifix in der Hand. Hier wird im Namen des Kreuzes von der Militärmacht, unterstützt durch die Geistlichkeit, gerichtet und hinge9

Vgl. dazu Gibson, M. F.: The Mill & The Cross. A. a. O., S. 98 f.

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richtet. Die Prozession überquert einen Bach, was den Lenker des Karrens übermütig dazu verleitet, auf der Deichsel sitzend seine Füße anzuheben. Bruegel setzt diese Szene in Kontrast zu einer Begebenheit etwas weiter unterhalb des Karrens. Hier trägt ein großer Mann ein Kind auf seinen Schultern über das keineswegs tiefe Wasser – andere Kinder können es mit bloßen Füßen leicht durchwaten. Die Anspielung auf Christophorus ist unmißverständlich: Während Christophorus Jesus – das Kind, das die Last der Welt trägt – über den Fluß trägt, überqueren Soldaten und Kirchenvertreter das Wasser vergnügt und bequem mit einem Wagen, um ihren Passagieren nicht Leben, sondern den Tod zu geben. Der Bach erinnert damit an den Styx, den Fluß der Toten. Fast zuletzt, beinahe unsichtbar im Trubel des Geschehens, entdecken wir, hinter dem Karren, einen Mann, der unter seinem Kreuz zusammengebrochen ist, das er zur Richtstätte schleppt. Vor ihm her tanzt eine Art Harlekin, ein Horn blasend. Verspottet er als Hofnarr den vermeintlichen König der Juden? 10 Umstehende versuchen, den gefallenen Mann wieder aufzurichten. Sein Sturz hält den Verkehrsfluß auf und verzögert das Vergnügen der Hinrichtung.

2.3

Bildform und Sehform

Genau im Zentrum des Bildes also befindet sich eine Christusfigur. Bildlogisch scheint sie das wichtigste Element des Gemäldes zu sein. Bildphänomenologisch ist sie ein schwer zu findendes, gut verborgenes Detail. Wir erkennen sie beinahe zuletzt. Bruegel tut alles, um unsere Aufmerksamkeit zunächst vom Zentrum des Bildes abzulenken. Erst wenn wir bemerkt haben, wie wir sehen, begreifen wir, was wir im Zentrum des Bildes sehen und können die Phänomenologie des Sehens mit der Logik des Gesehenen in Verbindung bringen. Im Kreuz schneiden sich die Bilddiagonalen. Wir können es als eine Form betrachten, die das ganze Bild formal und inhaltlich organisiert. Benutzen wir es als ein Schema, dessen Linien wir verlängern, teilt das Kreuz in der Vertikalen die Hälften des Himmels und damit die symbolischen Bereiche von Leben und Tod. Unsere Position als Vgl. Denns, K.: Pieter Bruegel d. Ä. im Kunsthistorischen Museum. In: Seipel, W. (Hrsg.): Pieter Bruegel d. Ä. im Kunsthistorischen Museum Wien. Wien 1997, S. 17– 149, hier S. 68 ff.

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Summende Welt

Betrachter ermöglicht es, das Bild selbst als kreuzförmige Ordnung zu lesen, die vier Rechtecke mit ihren jeweiligen Handlungsschwerpunkten miteinander in Beziehung setzt. Morgen und Abend, Leben und Tod werden so unterschieden. Haben wir das Kreuz als Bildmittelpunkt entdeckt, stellen sich jedoch auch Bezüge auf der unteren Bildhälfte her. Formale Relationen ergeben inhaltliche Kontraste. Hier stehen sich die Heiligengruppe rechts und ein Ereignis gegenüber, das in der linken unteren Bildhälfte stattfindet. Ohne das Kreuz erkannt zu haben, erhält die Szene wenig Sinn. Es handelt sich um Simon von Cyrene, den römische Soldaten zwangen, Jesu Kreuz zu tragen. 11 Nun wiederholen spanische Soldaten diese Zwangsmaßnahme. Simon sträubt sich nach Kräften und wird dabei von seiner Frau unterstützt. Statt seine Zeit damit zu verschwenden, Jesus zu helfen, will das Paar Waren auf dem Markt verkaufen. Im Handgemenge wurde die Milch bereits verschüttet. Ein Lamm mit gebundenen Füßen liegt neben dem Milchgefäß. Das Lamm – das Lamm Gottes? – soll verkauft werden. Aus der Tasche von Simons Frau baumelt ein Rosenkranz. Sollen wir das als Kritik daran verstehen, daß ihre Frömmigkeit sich in Andachtsritualen erschöpft? Oder weiß sie nur nicht – wie der Bildbetrachter, der den Mann mit dem Kreuz im Zentrum noch nicht gefunden hat – daß es sich um Christus handelt? Warum soll ihr Mann einem Verurteilten helfen, statt daß einer der Soldaten von seinem Pferd absteigt? Schließlich kann die Willkür der Militärmacht jeden, auch Simon und sie, treffen. Simons Frau jedenfalls hat keine Zeit für das Leiden in der Welt. Ein weiß gekleideter Reiter auf einem Schimmel hält genau unterhalb des Kreuzes und wendet sich zu Simon um. Das Weiß des Pferdes und seiner Kleidung verbindet die Figur mit der Mariengruppe vorn rechts. Farblich schafft es einen Übergang zwischen dem linken und dem rechten unteren Bildrechteck. Viele der Passanten tun es dem Reiter gleich. Simons Gegenwehr zieht erheblich mehr Interesse auf sich als das Los des Kreuzträgers. Für Jesus interessiert sich niemand. Er soll nur so schnell wie möglich zur Richtstätte geschafft werden. Dort erwartet das Publikum bereits das Spektakel seiner Kreuzigung. Hingegen hat die Mariengruppe, im rechten unteren Bildviertel, all das bereits erlebt. Deren andächtige Trauer ist nicht falsch wie – vielleicht – die Frömmigkeit von Simons Frau, doch hilft auch sie

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Vgl. Mk 15, 21; Lukas 23, 26; Mt 27,32.

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nicht dem aktuell gestrauchelten Kreuzträger. Ihre Trauer ist kontemplativ und erinnernd, ergreifend, aber folgenlos. Prachtvoll und elegant ist sie dem Weg des Todes gegenübergestellt, den wir im oberen rechten Bildviertel verfolgen. In der Form ihrer Darstellung, in der eleganten Pose der Trauer, erblicken wir, indem wir zwischen dem oberen und unteren Bildviertel auf der rechten Seite des Kreuzes wechseln, die schöne Seite des Opfers, das Gott an seinem Sohn vollzieht. Sie überdeckt leicht, vor allem in der Sprache der Malerei, die häßliche Seite von Gleichgültigkeit und Grausamkeit. Während Abraham das befohlene Opfer an Isaac erspart bleibt, läßt Gott seinen eigenen Sohn exekutieren. Die spanischen Soldaten, gemeinsam mit Vertretern der organisierten Kirche, wiederholen insofern Gottes Opfer. Trifft sie dann eine Schuld? Wer wäre zu verurteilen? Ist überhaupt klar, wer den Tod Jesu zu verantworten hat? Pilatus? Die Bevölkerung? Philipp II.? Kein Weg führt zurück zur vermeintlichen Unschuld, wie wir sie im oberen linken Bildviertel dargestellt finden. Von dort nahm der Zug seinen Ausgang, aber er kehrt nicht dorthin zurück. Der Morgen ist vergangen, das Verbrechen wird geschehen. Wer in die Stadt strebt, verfolgt seine eigenen Interessen. Zum Beispiel, weil er zum Markt will wie Simon und seine Frau. Benutzen wir das Zeichen des Kreuzes zur Lektüre des Bildes. Versetzen wir es in Bewegung, um Unterscheidungen zu vollziehen, Kontraste herzustellen und Vergleiche anzubahnen. In diesem lesenden Sehen betrachten wir mit Hilfe des Kreuzes das Geschehen in der Welt, wie Bruegel das Leben in Flandern darstellt. Das Kreuz, als Zeichen, um zu lesen, was wir sehen, versetzt das Sehen und das gesehene Bild in Bewegung. In der Sichtbarkeit der einfachen Kreuzform zeigt sich ein Zeichen, das darauf hinweist, es ginge um Unsichtbares, das durch das Kreuz erschlossen werden muß. Die Form weist über sich hinaus. Das tut sie, im Falle des Gemäldes, innerhalb eines Unterscheidungsraumes, der den Betrachter in seiner Distanziertheit zum Bild anspricht, indem es eindeutige Ordnungen linearer Art blockiert. Anhand der multiplen Zeitform des Bildes können wir das erkennen. Es entsteht eine bewegte Form. Lesen müssen wir das Bild, weil es eine Bewegung des Entzifferns und der Kombination von Einzelheiten verlangt. 12 Doch von wo aus fällt unser Blick auf das Kreuz und auf das Bild? Welches ist die Position des Betrachters? Hier Zur textanalogen Betrachtung des Bildes bei Bruegel vgl. Müller, J.: Bild und Zeit. Überlegungen zur Zeitgestalt in Pieter Bruegels »Bauernhochzeitsmahl«. In: Pochat,

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Summende Welt

stoßen wir auf das Thema des Beobachters. Bruegel widmet ihm große Sorgfalt. Im Bild und in der Position des Bildbetrachters werden verschiedene Beobachterperspektiven unterschieden. Erleichtert wird unsere Lektüre nämlich durch die erhobene Position des Bildbetrachters, die sich leicht unterhalb der Höhe der Mühle hält. Weil sie keiner räumlichen Gegebenheit im Bildraum entspricht, macht sie auf die bildexterritoriale Position des Betrachters aufmerksam. Dessen Blick fällt aus einem ganz anderen Raum in den Bildraum. Schon durch diese perspektivische Verschiebung wird deutlich, daß, dieses Bild zu sehen verlangt, ins Verhältnis zu ihm zu treten. Betrachter müssen eine Beziehung herstellen, die sie selbst in Relation zum Gegenstand ihrer Beobachtung beschreibt. Wir schauen der Figur eines Hausierers über die Schulter, der vorn am Bildrand neben dem rechten Felsen und direkt gegenüber dem Felszahn mit der Mühle Rast macht. Auch er scheint das Geschehen zu beobachten. Kommt er des Weges wie der Betrachter? Offenbar ist er auf der Durchreise. Der Betrachter wiederum schaut aus einer komplementären Position wie der Müller oben vor seiner Mühle. So wirkt das Geschehen einerseits überschaubar und andererseits leicht entrückt. Was verbindet den Bildbetrachter mit dem Müller? Die Zeit des Betrachters erscheint jedenfalls als eine weitere Zeit, die für das Bild als Ganzes eine Rolle spielt: Weder ist unsere Zeit diejenige der Bildhandlung noch diejenige der Andachtsgruppe oder eine der Tageszeiten. Es ist offensichtlich eine andere Gegenwart, durch die sich die Relation von Zeitformen überhaupt bemerkbar macht. Das Kreuz im Zentrum übernimmt dabei eine doppelte Funktion: Als Zeichen eines vergangenen Geschehens – der Kreuzigung von Jesus Christus – verweist es auf unsere Gegenwart, in der wir uns an das Geschehene erinnern; indem wir uns erinnern, verweist es auf die Zukunft, die zum einen diejenige der Bildhandlung und zum anderen unsere, die Zukunft des Betrachters, ist. Ändert die Erinnerung an eine vergangene Gegenwart unsere Zukunft? Oder wiederholt sich das Geschehen immer wieder? Besteht womöglich die Wahrheit der Trauer Marias und Magdalenas im Wissen um die ewige Wiederkehr des Mordens und des Opfers? Drehen sie sich gar nicht mehr um, weil sie wissen, was kam und kommen wird? Wird das Kreuz, in Bewegung versetzt, zum Rad des Immergleichen, des unerlösten Elends G. (Hrsg.): Erzählte Zeit und Gedächtnis: narrative Strukturen und das Problem der Sinnstiftung im Denkmal. Graz 2005, S. 72–81.

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Im Zeichen des Kreuzes

der Welt? Lösen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Bewegung des Kreuzes auf? 13 Wäre Jesus dann umsonst gestorben, das Opfer Gottes vergeblich? Wenn der Mann am Kreuz tatsächlich tot ist, hat sein Zeichen keine Bedeutung mehr für die Gegenwart. Dann wäre, was war, Vergangenheit für jede spätere Gegenwart. Auch das Bild des Kreuzes diente lediglich der Erinnerung. Doch so funktioniert die Bewegung des Bildes nicht. Bruegel verschränkt die Zeiten. Im Blick des Betrachters auf das Kreuz im Zentrum des Bildes zeigt sich die Form des Bildes selbst, sich ein Bild machen zu müssen, das sich im Sichtbaren nicht erschöpft. Ein Bild ist eine Darstellung, durch die hindurch wir etwas sehen, was ohne das Bild unsichtbar bliebe und womit das Bild als materiales Zeichen keine Ähnlichkeit hat. Ähnlichkeit zwischen Sichtbarem erster und zweiter Ordnung – dem auf der Bildfläche erkennbaren Geschehen einerseits und dem, worauf dieses Geschehen für den Betrachter verweisen kann andererseits – entsteht durch die Operation des Unterschiede unterscheidenden Sehens des Betrachters. Er macht ähnlich und bedient sich dabei der Form des Bildes. Der tote Jesus lebt als Christus im Zeichen und durch das Zeichen des Kreuzes, das, als Form, Welt zum Bild ordnet, indem es Beziehungen stiftet. Das Kreuz besitzt eine mehrfache bildorganisierende Funktion. Es gliedert die Fläche, ermöglicht Zuordnungen, stiftet Kontraste, eröffnet Relationen und stellt symbolische Beziehungen dar, die der Bildhandlung ihre mehrfache Bedeutung verleihen. Keine Form in Bruegels Bild ist, obwohl für sich klar umrissen und in einzelnen Konstellationen definiert, für sich allein, was sie beschreibt. Jede Form ist ein Übergang zu anderen Formen. Das gilt sowohl für ihre malerische oder grafische Form wie auch für ihre symbolische Form. Malerisch wählt Bruegel eine Darstellungsweise, die sich markant vom italienischen Stil unterscheidet. Einer typologisch orientierten, oft stilisierenden Darstellungsform konfrontiert Bruegel eine individualisierende Form. Sie erinnert an Hieronymus Bosch, dessen Arbeiten Bruegel nach seiner Italienreise studiert hat. Natürliche Haltungen und Ausdrucksgebärden stehen dekorativen oder dramatischen Posen gegenüber. Um so traditioneller, wie aus der Zeit gefallen, ist darum die Heiligengruppe. Ist die Form dieser Trauer und Andacht womöglich Vergangenheit? Sollen wir sie als vergangene Vgl. wenngleich mit anderer Akzentuierung, Müller, J.: Das Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d. Ä. München 1999, S. 142.

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Option gegenwärtigen? Fordert Bruegel uns auf, darüber nachzudenken, ob sie der zeitgemäße Umgang mit dem Kreuz ist oder zur falschen Auflösung der Zeiten verleitet? In der Auflösung der Zeiten wäre Erlösung kaum vorstellbar. Oder ist es womöglich an der Zeit, das Kreuz neu zu betrachten, aus den Traditionen seiner Darstellung auszubrechen, um seine Bezüge wieder in Bewegung zu versetzen? Jedenfalls zeigt Bruegel Menschen in Interaktionssituationen. Sie sind, was sie sind, in den Beziehungen, die sie miteinander eingehen. Was zählt, was Gesellschaft zusammenhält, sind offenbar Handlungen. Alles in diesem Bild ist konkret. 14 Auch das Kreuz? Die Lebendigkeit der Welt ist eine der Arbeit, des oft rohen Vergnügens – zum Beispiel dem Besuch einer Exekution – und des Leidens. Ihr fehlt jede Verklärung. Betrachter – der Müller im Himmel und wir als Betrachter des Bildes – schauen zu. Andacht konzentriert sich auf eine aus der Zeit gefallene typische Figurengruppe biblischen Personals. Doch zwei andere Beobachterfiguren komplizieren das Thema des Bildes als eines Beobachtungsverhältnisses. Anders als der Müller und der Bildbetrachter sind sie Teil des Handlungsraumes. Ganz außen am rechten Bildrand, neben dem Baum mit dem Rad, stehen zwei Männer, die jeweils eine leicht verschobene Sicht auf das Geschehen haben. Die erste dieser Figuren lehnt ihren Kopf an den Stamm. Entsetzt beobachtet der Mann das Geschehen im Mittelpunkt des Bildes. Erschütterung und Anteilnahme sind unübersehbar. Direkt neben ihm, doch mit stoischem Gesichtsausdruck, steht ein anderer Mann in weißem Mantel. Vielleicht handelt es sich um ein Selbstporträt des Malers. 15 Dieser Mann ist nicht ergriffen. Er beobachtet das Geschehen wie ein Bild. Wenn der Blick des Betrachters das Gemälde wie einen Text von links nach rechts liest, endet er bei dieser Figur. Wir kommen nicht umhin, unsere eigene Sicht mit dem Blick dieser Figur zu vergleichen. Sehen wir nicht mit den Augen des Malers? Als Betrachter sind wir außerstande, fassungslose Trauer zu empfinden. Ein Bild weckt kein Mitleid. Der entsetzte Mann sieht ersichtlich kein Bild, doch sein Nachbar blickt auf die Szene wie auf ein Bild. Der Maler-Beobachter ist, lesen wir das Bild wie einen Text von links nach rechts, die letzte Figur, die wir sehen. Für eine Phänomenologie des Sehens heißt das, der Maler erscheint am Ende der Betrachtungszeit,

14 15

Vgl. Gibson, M. F.: The Mill & The Cross. A. a. O., S. 47, 65 f. Vgl. ebenda, S. 101 f.

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am äußersten Bildrand, halb abgeschnitten, also sowohl innerhalb wie außerhalb des Bildraumes. Überdies steht die Figur in der Bildhälfte des Abends. Erst nachdem die Zeit des Geschehens vergangen ist, so läßt sich diese Figur lesen, ist ein Bild möglich: das Bild, das der Maler als Zeitgenosse sieht und das er uns als Beobachter anbietet. Unser Blick vergleicht beide Blickweisen der Figuren im Blick auf die Funktion von Bildern. Aber können wir mit den Augen des Malers vielleicht nur deshalb sehen, weil wir darin sehen, wie der Maler sieht? Ist es uns möglich, ergriffen zu sein, wenn wir nicht Teil des Geschehens sind? Könnte darin der Sinn eines Bildes bestehen? Oder hat die Bilderkritik der Reformation darin Recht, daß sie das Wort der Schrift für bildlich undarstellbar hält? Andererseits: machten wir uns ein Bild, wenn wir von dem geschilderten Ereignis überhaupt nicht berührt wären? Könnten wir das Ergriffensein verstehen, würden wir uns kein Bild machen? Welcher Blick ist erforderlich, um in einer Gegenwart – hier: derjenigen Bruegels – ein Bild dieser Gegenwart zu gewinnen? Wie hängen Verstehen, Beobachtung und Darstellung zusammen? Das Gemälde stellt Fragen danach, was ein Bild und was Wirklichkeit sind. Diese Fragen wiederum verweisen auf Verhältnisse von Bild und Text. Bruegels Gemälde setzt eine gewisse Vertrautheit mit der Heiligen Schrift voraus. Andernfalls bliebe die Handlung unverständlich. Zugleich versetzt es uns in die Situation, zwischen Bild und Text, auf den das Bild verweist, unterscheiden zu müssen. Erst diese Unterscheidung stiftet den Zusammenhang zwischen Texttradition und Gegenwartsbezug. Es macht den Text insofern zum Bild, als wir mit seiner Hilfe die Gegenwart deuten, um uns zu ihr – mitleidig, gleichgültig, traurig oder tatkräftig – verhalten zu können. Was Bruegel an Haltungen im Bildraum unterscheidet, beschreibt auch Haltungen gegenüber dem Text der Bibel. Nur wenn wir den Text im Lichte einer Darstellung lesen, wird er als Text, mithin als Form des Unterscheidens in der Gegenwart, aktuell. Bilder wie die »Kreuztragung« verstellen nicht etwa den Blick auf die Thematik Gottes, sondern öffnen die Tradition für die Lebendigkeit gegenwärtiger Probleme. Weder ein glaubendes noch ein wissendes Verhältnis lösen die Schwierigkeiten, die Menschen angesichts der Kontingenzen ihres Lebens haben. Zugleich brauchen sie, um sich zu ihrer Gegenwart verhalten zu können, Darstellungen, die zeitliche Differenzen nutzen und ins Spiel der Unterscheidungen versetzen. Dazu dient der Text der Bibel. Die Schrift wird durch das Bild, das wie ein Text gelesen werden muß, 103 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

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zum Bild, in dem die jeweilige Gegenwart – die Gegenwart Bruegels und die Gegenwart des jeweiligen Bildbetrachters – sich, jedoch indirekt, erkennt. Nur die Schrift zu lesen, ohne sich Bilder der jeweiligen Gegenwart zu machen, würde die Schrift zu einer toten Vergangenheit werden lassen. Im Blick auf den Bilderstreit der Reformation legt Bruegel mithin eine weitere Antwort nahe: Bilder sind weder falsch, weil sie das Heilige inkorrekt darstellen, noch sind sie bloße Stützen der Erinnerung oder der Meditation, sie sind konstitutiv für die Lebendigkeit der Schrift. Denn lebendig ist die Schrift – der Gedanke Gottes – durch die Unterschiede, die er im Blick auf eine konkrete Gegenwart gewinnt. Die Frage nach Gott ist die Frage nach der Welt, und diese Frage ist die Frage nach dem Bild, durch das wir Welt in eine jeweils konkrete Unterscheidungsordnung bringen.

2.4

Bewegungsmatrix

Diese Fragen führen zur Symbolik der Kreuz-Form. Mit vielfältigen Bedeutungsnuancen ist diese Form aufgeladen. Das Kreuz zu sehen heißt – und erfordert –, dessen religiöse, politische, ästhetische oder soziale Konnotation zu erfassen. Wer die christliche Lehre gar nicht kennt, kann das Bild nicht lesen. Nur wer um die Ereignisse weiß, vermag sich mit Hilfe des Bildes ein Bild von der Lehre der Schrift zu machen. Im Zeichen des Kreuzes erschließt sich, betrachten wir es als Frage-Form, eine jeweils konkrete Welt. Wir sehen, wie der Maler sieht, indem dieser uns eine Ordnungsform anbietet, die wir denkend vollziehen müssen, um sie zu sehen. Bruegels Antwort auf die Frage des Kreuzes bezieht sich nicht nur auf die Frage des Bildes. Sie lautet, daß Wirklichkeit selbst symbolisch ist. Darum brauchen wir Bilder, um sie zu erkennen. 16 Verhältnisse von Sehen und Denken, Bild und Schrift, Gedanke und Wirklichkeit sind im Kern bildhaft. »Bildhaft« meint hier eine Relationalität, wie sie Platon im Blick auf die Kunst dialektischen Unterscheidens entfaltet. Hier erst zeigt sich der Unterschied zwischen falschen und wahren Bildern. Wahre Bilder sind keine Abbilder, es sind bewegte Formen, die Sinnliches in Relation versetzen. Wie Bruegels Gemälde. Bezogen auf dieses Gemälde handelt es sich darum, Kontraste mit Relationen der Unterscheidungsord-

16

Vgl. Gibson, M. F.: The Mill & The Cross. A. a. O., S. 109.

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nung des Bildes so zu verknüpfen, daß die symbolische Natur des Wirklichen konkret wird. Bilder sind, so betrachtet, Darstellungen, die immer wieder wirklich werden müssen. Anschaulich wird dieser Zusammenhang an den Motiven von Mühle und Rad. Versetzen wir das Kreuz in Bewegung, verwandelt es sich zu einem Rad – bildlich wie gedanklich. Geometrische Formen von Kreuz und Kreis sind einerseits sinnlich prägnant auf Bildern zu sehen, andererseits zeigen sie ihre Ähnlichkeit durch die gedankliche Operation, Linien des Kreuzes um ihren Schnittpunkt zu drehen. Gesehene und gedachte Form verschränken sich zu einer Operation, die Übergänge unterschiedlicher Art eröffnet. Räder finden sich mehrere auf dem Bild: Die Mühle steht auf einer radförmigen Plattform, Mühlenflügel, wären sie in Bewegung, erschienen uns wie ein kreisendes Rad, im Innern der Mühle drehen sich, obwohl im Bild unsichtbar, Räder, Gefangene werden auf Räder geflochten wie wir sie rechts groß am Bildrand erkennen, und die Kreuzigungsstätte ist von einem Rund an Zuschauern umgeben. Gefangene werden zu ihrer Kreuzigung gefahren, während Christophorus zu Fuß den Fluß überquert. Kreuz und Rad sind menschliche Erfindungen. Ihre Form erleichtert das Leben. Doch Kreuze und Räder eignen sich auch als Tötungsapparaturen: Menschen werden gekreuzigt und aufs Rad geflochten. Dann zeigt sich an ihnen die Versehrbarkeit menschlichen Lebens wie die Fragilität des Friedens in der Gesellschaft. In dieser Ambivalenz gleichen Räder und Kreuze der menschlichen Vernunft – Vehikel des Fortschritts einerseits, Instrumente des Schreckens andererseits. Gedanklich wird das Kreuz zum Rad, indem wir Bezüge entfalten, die das Zeichen eröffnet. Wir treffen Unterscheidungen und ordnen die Bildfläche mit Relationen. Wir kreuzen die Grenzen dieser Unterscheidungen und schaffen Übergänge. Übergänge ermöglichen den inhaltlichen Reichtum der Kontraste ebenso wie sie einzelne Figuren kontextualisieren und vergleichbar machen. Die Form des Kreuzes wird auf diese Weise zu einem Verfahren des Unterscheidens, Vergleichens und Kreuzens von Unterscheidungen. Was wir dann sehen, ist nicht bloß ein Sichtbares, sondern ein verstehendes Sehen, das sich vom ersten Eindruck stark unterscheidet. Im Bild verschränken sich Sehen und Gesehenes zur Oszillation einer Welt. Das Bild ist, wie die Wirklichkeit, die es darstellt, ein Prozeß. Darin verbindet sich der Blick des Malers am Bildrand mit unserem Blick, der aus unserer jeweiligen Gegenwart auf den Zeit-Raum des Bildes fällt. 105 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

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Der Umgang mit den Unterscheidungen erschließt Wirklichkeit. Doch tut er es als Frage. Mühlen versetzen Räder in Bewegung. Kräfte der Natur werden zu einem nützlichen Zweck gelenkt. Dank ihrer Maschinerie verwandelt sich Korn in Brot. Technik hilft den Menschen, zu essen und zu leben. Einfache Formen wie Kreuz und Rad sind Grundlagen dieser Technik und Mechanik. Beim Abendmahl bricht Jesus das Brot für seine Jünger. Im 15. Jahrhundert dient die Mühle als bekanntes Symbol der Eucharistie. 17 Ein niederländisches Sprichwort, das Bruegel, der auch Sprichworte dargestellt hat, kannte, lautet: »Das dreht sich wie Windmühlenräder.« 18 Gemeint ist, daß alles sich wiederholt. Matthäus erwähnt eine Mühle am Ende der Zeiten. 19 Zwei Frauen mahlen, doch nur eine wird erlöst. In der theologischen Tradition werden Mühlsteine mit dem Alten und dem Neuen Testament verglichen, Christus mit dem gemahlenen Korn, Brot mit der Eucharistie. 20 Mechanische Konnotationen verbinden sich mit heilsgeschichtlich-religiösen und weltgeschichtlich-zeitlichen Bedeutungen in den Motiven von Kreuz, Rad und Mühle. Wiederholung, Leben und Tod, Werden und Vergehen verweben sich in der Textur einer bewegten Form, die sowohl konkret und dinghaft als auch symbolisch und intelligibel ist. Michael Gibson hat darauf hingewiesen, daß der Kirche die innerweltliche Aufgabe zufällt, das Brot der Eucharistie unter den Menschen zu verteilen. Auf Petrus, dem Felsen, ist die Kirche erbaut wie die Mühle im Gemälde. Doch in Bruegels Gegenwart ist die Kirche zu einer Organisation geworden, die mit der repressiven Macht paktiert. Das Kreuz in der Hand eines der Verurteilten verhöhnt das Kreuz als Symbol von Vergebung und Erlösung. 21 Im sich drehenden Rädergefüge der Mühle offenbart sich Betrachtern ein Metapherngeflecht und ein Horizont gelehrter Texte. Bis in die Antike reicht deren Tradition zurück. Das Bild erweitert sich zu einem Text-Bild, das sich, ausgehend von der bewegten Form des Kreuzes, als Aufgabe einer Hermeneutik der christlichen Welt präsentiert. »The mill wheel Vgl. etwa Sellink, M.: Bruegel. The Complete Paintings, Drawings and Prints. Brügge 2007, S. 192. 18 Vgl. Jedlicka, G.: Pieter Bruegel. Der Maler in seiner Zeit. Erlenbach-Zürich 1938, S. 155. 19 Vgl. Mt 24, 41; auch Lk 17, 35. 20 Vgl. Weismann, A.: Golgatha. Vergangenheit mit Jetztzeit geladen. Kampen 1992, S. 20 f. 21 Vgl. Gibson, M. F.: The Mill & The Cross. A. a. O., S. 32 ff. 17

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crushing the grain, and the incline of the shaft and sails of the windmill, made the latter a convenient and familiar metaphor of the starry skies. For just as the mill crushes the grain to produce flour, so too, the complex movement of the heavenly mill – according to the poetic perception of that period – caused destiny to shimmer down on peoples’ heads like some fine powder, ground out of substances unknown, now good, now bad (…) – one might conceivably say, out of the substance of the stars. Such an image reveals poetics that are at the root of astrology which sought to identify the source of all the substances out of which the fates of individuals and of the world itself were ground from day to day.« 22 Die christliche Botschaft, verkörpert im Opfer des Gottessohnes, verkündet das Durchbrechen der bloßen Mechanik natürlicher Gesetze. Ein Detail am äußersten rechten Bildrand, in der Zone des Todes, direkt unter dem drohenden Rad der Folter und dem verdüsterten Himmel, mag diese Botschaft aufgreifen und als Zeichen der offenen Zukunft jenseits einer Mechanik des Todes dienen: Direkt über den beiden Beobachtern der Szene, von denen der eine ergriffen und fassungslos, der andere distanziert schaut, wächst ein grüner Baum. Er korrespondiert der grünen Eiche am linken Bildrand. Gibt Bruegel hier einen Hinweis auf die Aktualität der christlichen Botschaft des Kreuzes? 23 Ziehen wir diese Möglichkeit in Erwägung, führt sie erneut auf die Frage der Zeitlichkeit. Bruegel arbeitet im Bild mit verschachtelten Zeiten: Morgen und Abend, die Gleichzeitigkeit des Geschehens, die aus der Vergangenheit ins Bild versetzte Mariengruppe markieren Zeit-Formen. Sie entfalten sich allerdings erst in der Zeit, die der Betrachter braucht, um sich im Bild zu orientieren. Die Übersicht, die er schließlich gewinnt, ist eine eigene Form der Zeit, denn in ihr unterscheiden und verbinden sich die innerbildlichen Zeitformen. Vor allem markiert sie die jeweilige Gegenwart des Betrachters als einer Relation zu anderen Gegenwarten, Vergangenheiten und Zukünften. Im Jetzt der Reflexion, in der Bild und Betrachter verwechselbar werden, weil sich Wirklichkeit symbolisch konfiguriert, ist der Fluß der Zeit als einer Kette der Geschehnisse durchbrochen. Eben das verbindet die Reflexionszeit des Betrachters mit der christlichen Zeit der Erlösung durch den Tod von Jesus Christus. Heilsgeschichte ist und ist nicht innerweltliche Geschichte. Als Ereignis ist sie nicht 22 23

Ebenda, S. 36. So Gibson. Vgl. ebenda, S. 107 f.

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abbildbar. Wir können sie nicht direkt sehen. Darum kann Bruegel sie auch nicht direkt malen. Es handelt sich um, wie Markus sagt, »erfüllte« Zeit. Sie zeigt sich in einer Haltung: »Kehret um und glaubt an die Heilsbotschaft.« 24 Solche – christliche – Zeit wird indirekt sichtbar im Zeichen des Kreuzes. Wir müssen mithin das Kreuz betrachten, um die unzeitliche Zeit der Heilsgeschichte in der Weltgeschichte, deren Räder sich erbarmungslos drehen, zu unterscheiden. Weil das direkt unmöglich ist, benötigen wir Bilder, die unterschiedliche Unterscheidungen im Zeichen des Kreuzes unterscheidbar und verwechselbar machen. Unter dieser Perspektive deutet das Desinteresse der Menschen an der leidenden Christusfigur im Bild auf eine notwendige Blindheit gegenüber der Logik des Kreuzes hin. 25 Diese Deutung läßt sich um einen Punkt ergänzen, der sich aus der kalkulierten Einbeziehung des Betrachters in Bruegels Bildkonstruktion ergibt. Die kairologische Zeit des Heilsgeschehens nämlich können wir auch als Reflexionszeit des Betrachters verstehen. In ihm fallen die Zeitformen innerhalb des Bildes zusammen, relationieren sich mit der jeweiligen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft des Betrachters und zwingen diesen zu einer Reflexion seiner Welt in bezug auf die Bildwelt. In diesem Moment wird die symbolische Struktur der Wirklichkeit im Vollzug des Gedankens erkennbar und erfahrbar. Das Reflexions-Jetzt verschränkt die Zeiten ebenso wie Gedanke und Wirklichkeit. Reflexivität fällt nicht etwa mit Erlösung zusammen. Aber es wird deutlich, daß es Erlösung nicht ohne Reflexivität geben kann. Andernfalls wäre sie ein Ereignis in der Welt – was die christliche Botschaft und Bruegels Bildform gerade verneinen. Diese Lesart des Bildes ermöglicht eine weitere Antwortfacette auf das Rätsel der Mariengruppe im rechten unteren Bildviertel. Wenn wir die kairologische Botschaft des Kreuzes als eine Betrachtungsform verstehen, die auf die Frage der Gegenwart führt, erscheint die Haltung andächtiger Trauer als nicht zeitgemäß. Sie wäre, wie Kleidung, Haltung und Malstil dieser Gruppe, Vergangenheit geworden – so anachronistisch wie die Malweise, die Bruegel hier wählt.

Mk 1, 15. So interpretiert H. H. Mann: Überlegungen zum Thema »Zeit« bei Pieter Bruegel d. Ä. In: Thomsen, Chr. W./Holländer, H. (Hrsg.): Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften. Darmstadt 1984, S. 198–207.

24 25

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Bruegel würde uns stattdessen eine andere Haltung – von der Markus bei der »erfüllten« Zeit spricht – nahelegen. Zwar ist, wie der erschütterte Beobachter am äußersten rechten Bildrand beweist, Trauer verständlich und notwendiges Element der realen Welt. Ohne sie gäbe es kein Mitleid. Aber Trauer ist nicht die Haltung, zu der das Kreuz auffordert. Mitleid genügt nicht, um vom Elend der Welt zu erlösen. Dazu brauchen wir einen klaren, »geformten« Blick, für den der zweite Beobachter – der Maler? – steht, vor allem jedoch wir, die Betrachter, die mit den Augen des Malers und mit Hilfe der Form des Kreuzes sehen. Bruegels Gemälde entfaltet ein diagrammatisches Zeichenspiel. Es fordert dazu auf, zur Welt eine Haltung einzunehmen. Nichts in dem Bild sagt, daß diese Haltung bloß kontemplativ, stoisch oder reflexiv zu sein hätte. Im Gegenteil: Wenn wir die Andachtstrauer für nicht zeitgemäß halten, sind wir aufgefordert, in der Figur des leidenden Christus einen Jedermann zu sehen, der immer aufs neue, jeden Tag an vielen Orten der Welt, sein Kreuz zu tragen hat und der Unterdrückung der Herrschenden ausgeliefert ist. Jesus mag gestorben sein, doch Christus ist nicht tot. Er lebt, wie auf dem Bild. Unterdrückung – in Bruegels Gegenwart: durch die Spanier und die verbündete katholische Kirche – ist so lange möglich und wirklich, wie sie nicht durchschaut und mit einer tätigen Haltung beantwortet wird, die aktiv Stellung zum Leid der Menschen nimmt. Wer das Leid und die Tötung menschlichen Lebens hinnimmt, wer sie gar als notweniges Element einer bis auf weiteres nicht erlösten Welt akzeptiert, wer, mit anderen Worten, das Zeichen des Kreuzes als Vertagung der Gerechtigkeit auf den Tag des Jüngsten Gerichtes mißbraucht, der hat das Wichtigste nicht verstanden: daß Wirklichkeit symbolisch ist und deshalb als veränderliche Form betrachtet werden muß. Zwar stellt Bruegel in der »Kreuztragung« keine Figur dar, die Widerstand leistet, doch keine Handlung auf dem Bild ist unvermeidlich. Vor allem: Um Haltung gewinnen zu können, müssen wir die Welt wie ein Bild lesen. Das Bild wendet sich an die Gegenwart des Betrachters. Darin bleibt es aktuell. Wie die Form des Kreuzes, mit der wir eine Beobachtung und Lektüre der Welt im Bild durchführen können.

2.5

Wesen als Übergang

Darstellungen wie Bruegels Gemälde führen Ordnungen von Unterscheidungen ein. Sie ermöglichen es, eine Haltung zur scheinbaren 109 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

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Unmittelbarkeit des Wirklichen zu gewinnen. Dann erscheint Reales als auch anders Mögliches. Ist es nicht das Mögliche, das Wirkliches erst bestimmt – als Dies und nicht Jenes? Dann aber ist das »Wesen« – die Form – des Wirklichen nicht die Substanz des Unveränderlichen, sondern gerade der Übergang des Wirklichen zum Möglichen. Formen in diesem Sinne als Bewegungen von Übergängen zu betrachten öffnet metaphysische und christlich-künstlerische Überlegungen zum Form-Problem füreinander. Die Wirklichkeit der Form und die Wirklichkeit des Wirklichen entspringen aus Kontrasten zum Möglichen und Übergängen zwischen Möglichem und Wirklichem. Ein Denken des Wirklichen, das die Realität als ein für allemal bestehende Ordnung fester Unterschiede klassifiziert, geht an der Funktion des Allgemeinen vorbei. Christlich ausgedrückt, würde ein solches Denken der Welt deren Erlösung verfehlen. In der Sprache der antiken Philosophie würde es das gute Leben verfehlen. Unsere Lektüre der »Kreuztragung« bringt eine Aristotelische Theorie der Form, akzentuiert durch die Auffassung der Handlung und der Grenze in der Poetik und Rhetorik, mit Bruegels reflexivem Bildkonzept in Verbindung. Resultat der Bewegung der Form ist mithin die Ambivalenz des Wirklichen als Aufforderung zu praktischem Verhalten. Deutet darauf ein grünender Baum am äußeren rechten Bildrand hin, der direkt über den Häuptern der beiden Beobachter sprießt? Die Komposition des Gemäldes unterläuft die perspektivische Illusion des Blicks auf eine eindeutige Wirklichkeit. Sie führt vielmehr in Reflexionen auf die Form eines denkenden, weil Unterscheidungen durchlaufenden Sehens. Übersicht gewinnt der Betrachter in der Form diagrammatischer Vollzüge einer Unterscheidungstextur. In der scheinbaren Unbeweglichkeit des Bildes zeigt sich Wirklichkeit als Zeichenfunktion: Sie ist bewegt, nicht substantiell und ewig. Ihre Zeit ist kein einfacher chronologischer Ablauf, sondern eine Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Gegenwart ist die Differenz der Zeiten und insofern unzeitliches Differential von Wirklichem und Möglichem. Darum realisiert sie sich als Vergessen des Ewigen im Weltlichen. Wer nur das kommende Heil der Erlösung als Ende der Welt erwartete, übersähe die Kontingenz des Wirklichen in der Gegenwart. Auseinandersetzungen mit sozialen Konflikten und Interessen würden versäumt. Das Wirklichste am Wirklichen ist das Mögliche des Andersseins. Das Kreuz wird Bruegel zur Form, Welt denkend in Bewegung zu versetzen. Wesenheiten verwandeln sich in Tätigkeiten. Wer die Unveränder110 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

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lichkeit des Seienden postuliert, verleugnet die Veränderungsfähigkeit der Gegenwart. Er sucht auch die Schuld für Unterdrückung und Leid anderswo, womöglich bei einem Gott, der solches zuläßt. Wirklich gottverloren hingegen wäre eine Welt, die auf das Eingreifen Gottes in irgendeiner fernen Zukunft wartet und sich im trauernden, mitleidigen Erdulden des Elends gefällt. Kirche, die das lehrt, macht sich schuldig wie der Einzelne, der versäumt, die Dinge in die Hand zu nehmen. Denn das tun Bruegels Figuren: Sie nehmen buchstäblich die Dinge in die Hand. Sie demonstrieren, daß alles, was »ist«, Beziehung und Tätigkeit ist. Erst recht gilt das für Gott: Er ist die Beziehung der Welt zu sich selbst im fragenden Blick der Menschen, die ein Verhältnis zu dieser Wirklichkeit gewinnen müssen. Als Entschuldigung für das Versäumnis des Handelns taugt Gott nicht. Wir alle sind aufgerufen, wenn wir die Form des Kreuzes für die Darstellung unserer Welt benutzen, Relationen von Wirklichem und Möglichem konkret zu bestimmen und handelnd zu realisieren. Ist deshalb der Müller, in der Gottesposition christlicher Kunst, komplementär zur Blickposition des Bildbetrachters dargestellt? Der Müller betrachtet die Welt, sein Gesichtsausdruck ist, im Unterschied zu dem der übrigen Beobachterfiguren des Bildes, unerkennbar. Auch wir, als Bildbetrachter, greifen in die konkrete Realität der Bildwirklichkeit nicht ein, wohl aber in unsere eigene Wirklichkeit, von der wir uns ein Bild machen müssen. Wir können uns nicht heraushalten. Die Position des Müllers ist, wie schon die Konstruktion seiner Mühle, empirisch nicht möglich. Darum müssen wir, scheint Bruegel uns zu sagen, das Kreuz in Bewegung versetzen, während die Flügel der Mühle stillstehen. Bezogen auf Flandern zur Zeit Bruegels: Es geht darum, Widerstand gegen Mord und Unterdrückung zu leisten, auch wenn diese im Namen der Macht und der weltlichen wie geistlichen Obrigkeit geschieht. Das wäre Handeln im Zeichen des Kreuzes. Die Form der Darstellung wird mit der Form der Welt aber nur verwechselbar, wenn wir Form als Prozeß begreifen, der vollzogen werden muß. Er bewegt sich nicht von selbst. Das tun die Naturkräfte und die Technik, wie die Windmühle sie repräsentiert. Welt als Zeichenprozeß und als Handlungsraum zu denken verlangt, Unterscheidungen zu vollziehen. Bloß vorfinden werden wir sie in der Welt nicht. So wie in Bruegels Gemälde jede Figur in der Interaktion mit anderen Figuren Identität als tätige Funktion gewinnt, verlangt die Lektüre des Bildes – und der Welt – Vergleiche von Unterscheidungen. Das wiederum wird in der Bewegung der Bildlektüre erfahrbar. 111 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

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In dieser Bewegung entfalten sich Unterscheidungen zu einer Textur von Übergängen, die Verweisungen mehrfacher Art organisieren: Sie stiften Relationen – zwischen Zeitformen, sozialen Gruppen und Tätigkeiten, Symbolen und deren historischen Konnotationen, Fragen und möglichen Antworten –, die konkrete Kontraste akzentuieren, über die solche Relationen mikrologische Bedeutung für empirische Details gewinnen: etwa das Rot der Kleidungsstücke, die Malweise einzelner Figuren, die Farbe des Himmels, die Haltung benachbarter Gestalten, die Symmetrie von Bildfeldern, die Anlage von Bildachsen, die Handlungsweisen einzelner Akteure oder den emotionalen Ausdruck der Figuren. Zusammengenommen realisieren sich auf diese Weise Dimensionen einer Zeichenfunktion, die eine verständliche Welt erschließen. Als Bildbetrachter orientieren wir uns in allen diesen Dimensionen sowohl sukzessiv als auch gleichzeitig. Indem wir sie miteinander in Beziehung setzen, entsteht eine Darstellung, die etwas sichtbar macht, was direkt nicht abzubilden ist. Wenn wir uns so zum Bild ins Verhältnis setzen, gewinnen wir ein Verhältnis zu unserer eigenen Gegenwart. Beobachtung bestimmt sich im Bestimmen des Gegenstandes – und umgekehrt. Sie ist keine Konstruktion, sondern Weltzustand, denn sie modifiziert unsere eigene Gegenwart. Wenn Welt als Zeichenprozeß zu begreifen heißt, Wirklichkeit und Gedanke verwechselbar zu halten, klingt darin scheinbar Hegels Diktum der Vernünftigkeit des Wirklichen nach. Doch anders als dialektische Logik löst eine Diagrammatik der Darstellung Unterscheidungen nicht in Vernunft auf. Sie mißtraut dem Totalitätsgedanken der Vernunft. Vielmehr geht es, wie die Beschäftigung mit Bruegels »Kreuztragung« es vorführen sollte, um eine Praxis des Unterscheidens, die unweigerlich perspektivisch bleibt – verstrickt in ihre eigene Zeit, ihre Erfahrungen und Erwartungen, ihre Symbolik und ihre Fragen. An die Stelle der Vernunft tritt darum Kultur, verstanden als Horizont des Möglichen einer Zeit. Unterscheidungen zu treffen, Unterscheidungen zu unterscheiden und angesichts von Unterscheidungen zu entscheiden heißt, Optionen einer Kultur zu realisieren, osmotische Grenzen zwischen Wirklichem und Möglichem ein wenig zu verschieben und Wahrscheinlichkeiten zu adjustieren. Unterscheidungen werden getroffen und unterschieden, ohne daß es dafür klare Regeln gäbe. Diagrammatische Operationen sind keine definierten Operationen im Sinne eines Kalküls. Für sie ist die Mehrdeutigkeit der Werte konstitutiv. Die Reihenfolge, in der wir Unterscheidungen durchlaufen, ist, wie sich an der Lektüre des Bildes 112 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Film und Gemälde: Lech Majewski

andeutete, nicht festgelegt. Bewegungen zwischen dem jeweils Unterschiedenen bleiben wichtig, Gleichzeitigkeit konstitutiv, Ambivalenz unvermeidlich. Allerdings sollten wir, haben wir unsere Darstellung an einer Form ausgerichtet, die Möglichkeiten dieser Form durchlaufen. Als Oszillation von Unterscheidungen ist jeder Zustand der Form relevant. Im Durchlauf durch vielfältige Relationen gelangen materiale Kontraste zur Dichte des Verständlichen. Es handelt sich um eine schlüssige Praxis, für die es keine externe Logik gibt. Welt zu verstehen ist ersichtlich im Zeichen des Kreuzes eine andere Operation als in der Sprache der Mathematik. Relationen, Vergleiche und Kontraste, wie sie die Reflexion auf Bruegels Gemälde sichtbar machen, gelingen nur im Kontext semantischer Ordnungen. Gesellschaften und Kulturen sind wesentlich semantische Ordnungen. Auf sie zu reflektieren heißt jedoch nicht, wie wiederum die »Kreuztragung« zeigt, auf Individuelles abzuzielen. Besonderes gewinnt Bedeutung im Kontext des Allgemeinen. Allgemeines zeigt sich konkret in Vergleichen von Besonderem, die als Reihe von Unterscheidungen und Kontrasten in Darstellungen wirklich werden.

3.

Film und Gemälde: Lech Majewski

Gewalt, die Bruegel in seinem Gemälde zeigt, geschieht jeden Tag. Zwischen Palästina zur Zeit Jesu, Flandern im späten 16. Jahrhundert und der Gegenwart des Betrachters bestehen in dieser Hinsicht keine fundamentalen Unterschiede. Für Lech Majewski mag die christliche Geschichte vom Tod Jesu im Kontext der polnischen Geschichte gedeutet werden. Immer wieder war Polen Opfer von Gewalt und politischer wie religiöser Unterdrückung. Es gab und gibt Stimmen im politischen Katholizismus Polens, die es als ›Christus unter den Völkern‹ betrachten. Majewski rekonstruiert in seinem Film »The Mill & The Cross« (2011) Pieter Bruegels Gemälde. Gemeinsam mit Michael Gibson, dessen Studie über Bruegels Bild Majewski beeindruckte, entwickelte er sein Drehbuch. Unbewegte Bildformen des Gemäldes gewinnen auf der Kinoleinwand eine dynamische Dimension. Formen geraten in andere Bewegungen, und Bewegungen werden im Film auf andere Weise anschaulich. Majewski achtet darauf, die Zweidimensionalität der Bildfläche nicht zu kaschieren, indem er seinen Film als kohärenten Illusionsraum anlegt. In Bewegung versetzte Bildformen erscheinen vielmehr in komplexen Relationen von Zwei113 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Summende Welt

und Dreidimensionalität. Raumstrukturen, die sich der Perspektivenkonstruktion Bruegels oder der Raumwirkung eines Kamerabildes verdanken, überlagern einander auf der Kinoleinwand. Auf diese Weise wird die Bildanlage Bruegels unterstrichen: Das Gemälde will, bei zurückgenommener perspektivischer Anlage, als Fläche betrachtet werden, die sich um die Kreuzform herum strukturiert. Perspektive ist nicht in erster Linie eine Frage der Bildgeometrie, sondern eines reflektierten Sehens von Zeichen und Unterscheidungen. Je nachdem, ob wir es mit einer Zeichnung im Film, einem Gemälde, das die Filmrealität darstellt, Schauspielern im Bildraum eines Gemäldes oder einer quasi-natürlichen Filmwirklichkeit zu tun haben, entstehen andere Räume, Beziehungen und Bedeutungen. Relationen von Hinter- und Vordergrund werden zu bedeutungstragenden Elementen des Films. Malerei, Zeichnung und Kamerabild zeigen sich als unterschiedliche Möglichkeiten des Bildermachens. Computergenerierte Hintergründe, eine Kopie des Bruegel-Gemäldes und gefilmte Schauspieler formieren eine Bildlogik, die weder Gemälde noch klassischer Film ist. Film-Bilder versetzen das Bruegel-Bild in Bewegungen, durch die einzelne Motive, Personen oder Gruppen in Geschichten eintreten, die bei Bruegel möglich bleiben, ohne dargestellt zu sein. Was der Betrachter anhand des Gemäldes an Erzählungen imaginieren kann, führt der Film ihm ausschnittweise vor. Bereits die erste Szene ist in ihrem Wirklichkeitsstatus verwirrend: Schauspieler, die auf Bruegels Gemälde als seltsam aus der Zeit gefallene Heiligenfiguren im rechten Bildvordergrund auftauchen, werden in ihre Kleider gewandet. Ihre bereits 1564 anachronistischen Gewänder sind nun Kostüme in einem Film, der seine Figuren gemalten Figuren ähnlich macht. Filmische Bildrealität wird durch den Einsatz von Geräuschen betont. Dinge, still auf einem Bild zu sehen, beginnen zu klingen. Sie setzen Welt in Bewegung. Knarrend kommt das Räderwerk der Mühle in Gang, am frühen Morgen erwacht das Leben im Wald, Äxte schlagen in einen Baumstamm, ein Kalb blökt, und eine Familie erwacht. Sichtbares präsentiert sich als Hörbares. Bild und Ton überlagern einander auf eine Weise, die ihre Differenz kontrastiert. Statt das Filmgeschehen akustisch zu grundieren und auf diese Weise illusionsfördernd zu wirken, unterstützt das Hören von Dingen und Handlungen den Bildcharakter und macht das Hören auffällig. Effekte, die sich dadurch einstellen, unterstreichen die Stille des Bildes. Die Kamera (Pawel Edelman) führt den Blick. Wechselnd zwi114 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Film und Gemälde: Lech Majewski

schen Nähe und Distanz, bewegt sie sich zwischen Szenen und Figuren. Stille, die den Film prägt, verleiht ihren Bildern einen malerischen und poetischen Charakter. Wechsel zwischen gefilmten, gemalten und gedrehten Szenen unterstreichen diese Ambivalenz. Manchmal stehen Schauspieler vor gemalten Kulissen – so, als ob sie eine gemalte Szene wie eine gewesene Wirklichkeit betreten würden. 26 Aus bis zu sieben Bildebenen wird eine Filmsequenz generiert. Jederzeit ist dem Film die Artifizialität seiner Bilder anzusehen. Der Eindruck von Stille, akzentuiert durch die sparsame Musik (Lech Majewski, Jósef Skrzek), resultiert nicht zuletzt aus dem Schweigen der Figuren. Gesprochen wird nur von den Figuren des Malers (Rutger Hauer), seines Mäzens Jonghelinck (Michael York) und von Maria (Charlotte Rampling). Bruegel und Jonghelinck besprechen als Figuren im Bild Entstehung und Aufbau des Gemäldes, das Bruegel malt und Jonghelinck kauft. Während Bruegel die Anlage seines Werkes erläutert, kommentiert Jonghelinck die schwierige Situation Flanderns unter spanischer Herrschaft. Politisch steht den Niederlanden ein Unabhängigkeitskampf bevor, der 1568 beginnen und Jahrzehnte andauern wird. Sie präsentieren sich als die beiden Beobachter, die am rechten Rand des Gemäldes zu erkennen sind. Maria spricht mit einer Off-Stimme: Ihre Worte sind zu hören, während ihre Lippen unbewegt bleiben. Ein Akzent des Films liegt auf dem Alltagsleben der Menschen im Jahre 1564, zum Beispiel der Familie des Malers oder dem Alltag des Müllers und seiner Frau. Die Kamera führt in visuelle Wirklichkeiten, die das Gemälde nicht zeigt, etwa das Innere der Mühle oder das Gefängnis, in dem Jesus auf seine Hinrichtung wartet. Das tragische Schicksal eines jungen Mannes, der willkürlich von spanischen Truppen aufgegriffen und aufs Rad geflochten wird, während er mit seiner Frau ein Kalb zum Markt bringt, wird vorgeführt. Grell kontrastiert die Unschuld des jungen Paares und des Tieres mit der Brutalität der Miliz. Raben hacken dem Unschuldigen die Augen aus. Auf der Kinoleinwand ist diese grausame Szene deutlich zu sehen, auf Bruegels Leinwand stellen Betrachter sie sich vielleicht vor. In diesen

Dazu wird mit den Darstellern vor einem blauen Hintergrund gedreht, um die Bilder digital in den gemalten Bildraum übertragen zu können. Wolkenbilder beispielsweise wurden in Neuseeland aufgenommen und digital integriert. Vgl. Drzazga, D.: Lech Majewski: The World According to Bruegel. In: Gibson, M. F./Majewski, L.: Bruegel. The Mill and the Cross. A. a. O., S. 119–197, hier S. 150.

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Summende Welt

Dingen ist der Film direkter und expliziter als die Malerei. Doch Grausamkeit ist in der Blendungsszene kein Selbstzweck der Darstellung: Nicht mehr sehen zu können, bildet in der symbolischen Logik des Bildes die schwerste Strafe. Zeit-, Ereignis- und Bedeutungsschichten bringt Majewskis Film zusammen. Er zeigt, daß symbolisch sehen muß, wer verstehen will, was er sieht. Die Figur Marias, von der Bruegel im Film sagt, seine eigene Frau habe Maria sowohl als junge wie als ältere Frau als Modell gedient, verbindet die junge Mutter, die Muttergottes und die Mutter, die den Tod ihres Kindes betrauert, mit einer Person, die dem Maler ihre Gestalt als Bildvorlage zur Verfügung stellt. Menschlich nahe, bleibt sie doch distanziert als heilige Figur und unwirklich als Gestalt, deren Stimme nicht filmreal, sondern aus dem filmischen Off erklingt. Majewski schichtet Zeit- und Bedeutungsebenen übereinander und unterstreicht damit die symbolische Funktion des Bildes, Vergleiche anzubieten und Beziehungen herzustellen. Maria korrespondiert der Figur Jonghelincks, der, am Fenster seiner Wohnung stehend, dem Zuschauer und seiner Frau, die im Hintergrund sitzt, erzählt, er kenne den Mann Jesus, der zur Hinrichtung geschleppt wird. Von Erneuerung habe er gesprochen. In dieser Hinsicht gleichen Kinozuschauer Jonghelinck. Jesus ist für sie eine Figur in Erzählungen – von denen der Film und das Gemälde jeweils eine Variante liefern. Jesu Geschichte ist ein Typus für viele Geschichten, auch in der Malerei, auf die Bild und Film sich beziehen: die Mitte des Netzes, das wir entwerfen, wie Bruegel erläutert, um ein Bild zu machen und es zu lesen. Ein Spinnengewebe betrachtend, erklärt der Maler die Funktion des Zentrums auf seinem Bild. Majewski zeigt, wie Bruegel sein Bild zuerst zeichnet. Die Zeichnung der Mühle, hochoben auf dem Felszahn thronend, tritt im Film in Kontrast zur Arbeit des Mahlens. Die Malerfigur erläutert die symbolische Dimension des Sichtbaren: Wie das Bild einem Spinnennetz ähnlich ist, so ist die Figur des Müllers der Figur Gottes in traditionellen Bildkompositionen ähnlich. Beide sind im Himmel plaziert. Schaut Gott aus den Wolken herab, blickt der Müller auf die Welt unter ihm. Er mahlt das Brot des Lebens und des Schicksals. Wie der Erlöser im Getriebe der Welt zermahlen wird wie das Korn, spendet die Mühle Leben. Sie ist die Achse, um die das Leben kreist. Brot, aus ihrem Mehl gebacken, trägt der Hausierer aus. Auf der profanen Ebene der Ökonomie wiederholt sich der Zyklus von Leben und Heil, für den das Bild im Ganzen steht. 116 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Film und Gemälde: Lech Majewski

Morgen und Abend, die beiden Zeiten der Gemäldehälften, lösen einander ebenso zyklisch ab. Nie ist die Geschichte zu Ende. Sie dreht sich mit der gleichen unermüdlichen Mechanik wie das Räderwerk der Mühle oder die Räder am Karren, der Opfer zur Hinrichtung befördert. Räder, zugleich reale und symbolische Formen, deuten auf Mechanik, Ambivalenzen und Wiederholungen hin. Natur verbinden sie mit der Gesellschaft der Menschen. Zu Beginn des Films rollt ein Mann ein Wagenrad durch einen Wald. Das Kreuz der Mühlenflügel fängt den Wind ein und ermöglicht es, Brot zu backen, von dem die nach Stand, Geschlecht, Alter und Herkunft unterschiedlichen Menschen leben. Das Räderwerk der Mühle arbeitet für alle gleich. Soziale Unterschiede zählen hier nicht. Gleichmütig schaut der Müller auf das Treiben der Welt. Gemeinsam mit seiner Frau haust er in der Mühle wie in einer großen, mechanisch vor sich hinächzenden Höhle. Das Kreuz der Mühlenflügel treibt die Räder des Mahlwerkes an. Die Natur des Windes verwandelt sich in die Technik der Mühle und hilft, die Lebenskraft des Korns zu erschließen. Dreht sich auch das Leben um die immergleiche Achse? Wohin führt der Weg, auf dem der Karren rollt? Ist sein Ziel der Tod, wie das Golgotha-Motiv es nahelegt und der Pferdeschädel am rechten unteren Bildrand es unterstreicht? Auf dem Gemälde treten Fragen als Ambivalenzen hervor. Im Film werden Bewegungen der Reflexion, die symbolische Ambivalenzen entfalten, als bewegte Zeichen anschaulich. Bruegel erklärt Jonghelinck, er, der Maler, könne im Bild die Zeit anhalten. Zeit anzuhalten heiße, die Macht der Willkür zu brechen. Majewski läßt dazu im Film den Maler und den Müller, deren Blickachsen aufeinander verweisen, jeweils ihre Hand heben. Als der Müller seine Hand hebt, nachdem der Maler sie gehoben hat, bleiben die Räder der Mühle stehen. Der Maler bestimmt, was die Figuren in seinem Bild tun, auch wenn diese Figuren Gott repräsentieren, der in seiner Bildwelt die absolute Macht über die Zeiten und Unterscheidungen ausübt. Gott hält, als symbolische Filmfigur, die Welt in einer Filmwirklichkeit an, um auf die Zeichenfunktion des Gemäldes und die Macht des Malers zu verweisen, einen gottähnlichen, nämlich die Zeit momenthaft aufhebenden Blick auf die Welt zur Darstellung zu bringen. So wird Majewskis Film zu einer Transformation des Bruegel-Gemäldes und zu einer metaphorischen Reflexion auf die Macht des Unterscheidens. Zuschauer vollziehen mit, was es heißt, (sich) ein Bild zu machen. Sichtbar wird, wie die Kame117 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Summende Welt

ra, das Medium der Beobachtung, Raum und Welt erzeugt. Die Kamera, das Sehen, bewegt sich, nicht die Dinge, Menschen und Handlungen in einem definierten Welt-Raum. Worte und Bilder kombiniert der Film auf andere Weise als das Gemälde, das auf den Text der Bibel stumm verweist. Schweigen im Film hebt die Bedeutung der Worte und der Tradition der Schrift hinter und in den Bildern anders hervor, weil Filmzuschauer es gewohnt sind, Filmfiguren sprechen zu hören. Gemälde und Film vollziehen im Kontrast ihrer Zeichen jeweils die Funktion des Zeichens zum Symbol. Auf unterschiedliche und darum vergleichbare Weise bringen sie das Zeichen des Kreuzes in Bewegung. Im Kontext ihrer Darstellungen wird Jesus zu Christus. Mann und Symbol werden in der Form des Bildes verwechselbar. Indem Betrachter sich jeweils Bilder ihrer Gegenwart im Lichte von Bildern und Erzählungen machen, aktualisieren sie das Symbol und verleihen ihm potentiell Wirklichkeit. Dann erscheint Hoffnung als politische Größe. Spanische Truppen sind es, die 1564 Mord und Gewalt über das Land bringen. Terror ist nicht abstrakt. Es gibt Personen mit einem Namen, die ihn ausüben und auf die man zeigen kann. Mit den Gewalthabern verbünden sich sinistre Angehörige des Klerus, die sich, wie Majewski in einer Seitenerzählung vorführt, schließlich erhängen wie einst Judas. Klerus und Christentum sind nicht identisch. Die christliche Geschichte ermöglicht auch eine Distanzierung zur organisierten Kirche. Ohne Symbole hätte Gegenwart es schwer, ein Bewußtsein ihrer eigenen Zukunft zu gewinnen. Bilder, in denen es sich entfaltet, sind zugleich abstrakt und konkret, anschaulich und allgemein. Wissen im engeren Sinne vermitteln sie nicht. Marias Stimme sagt, sie verstehe nichts mehr. Nichtverstehen, das Bruegels Gemälde und Majewskis Film thematisieren, ist ein Verstehen davon, daß Wissen nicht die Lösung für die Übel der Welt ist. Verstehendes Nichtverstehen mündet nicht in Wissen. Es führt zu einer Haltung, die sich vielleicht in Handlungen ausdrückt, durch die Erneuerungen in die Welt kommen. Ein neuer Tag wird anbrechen, wie der Film es zeigt. Gesang, Spiel und Fröhlichkeit bringt er mit. Kreise bilden sich eben auch durch den Tanz, zu dem sich Menschen verbinden. Ob sich alles wiederholen wird, bleibt offen. Vielleicht ja, denn Böses verschwindet nicht einfach aus der Welt. Vielleicht nein, denn Welt ist kein Mechanismus wie eine Mühle. Die Mühle ist ein Symbol, das ebenso auf andere Möglichkeiten wie auf gleichbleibende, fortwährend sich wie118 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Film und Gemälde: Lech Majewski

derholende Wirklichkeiten verweist. Die letzte Einstellung des Films zoomt aus der gemalten Filmwirklichkeit hinaus und erfaßt zunächst das Bild in seinem Rahmen, um es schließlich an seinem Ort im Museum zu zeigen, einem Saal mit vielen Bildern. Es ist ein Bild in einer Reihe von Bildern. Auf zwei Weisen läßt es sich betrachten: Als ein Bild unter vielen, dann rückt es von uns weg. Oder als exemplarisches Fenster zur Wirklichkeit. Dann tauchen wir in das Bild ein, wie der Film es zeigt.

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II. Vergleiche

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Inszenierte Individualität

1.

Versuchsanordnung: Disabled Theater I

Elf Stühle sind auf einer Bühne halbkreisförmig angeordnet. Auf dem Boden daneben steht jeweils eine Flasche Wasser. Am rechten Bühnenrand, etwas im Schatten, ist ein Tisch zu erkennen. Darauf befinden sich technische Geräte. Ein junger Mann – es kann, in anderen Aufführungen, auch eine junge Frau sein – hat daran Platz genommen. In englischer Sprache stellt er/sie sich als Assistent von Jérôme Bel vor, dem Regisseur und Choreografen des Stückes »Disabled Theater«. Seine Aufgabe sei es, uns, dem Publikum, zu übersetzen, was die Darsteller sagen. Eine Übersetzung werde gebraucht, weil die Schauspieler nur der schweizerdeutschen Mundart mächtig seien. Auch werde er Aufgaben erklären, die Jérôme Bel den Schauspielern erteile. Sie werden als Bitten formuliert, die alle Darsteller nacheinander zu erfüllen haben: »Then, Jérôme Bel asked the actors …« Der Beginn des Stückes gleicht einer Versuchsanordnung. Theater oder Labor sind gleichermaßen mögliche soziale Rahmungen des Geschehens. Mit dieser Differenz der Rahmungen arbeitet das Stück. Gleich zu Anfang – und dann immer wieder – verweist die Figur des Assistenten auf die Abwesenheit des Regisseurs. Dessen Anwesenheit wird damit viel stärker betont, als es der Fall ist, wenn Zuschauer selbstverständlich davon ausgehen, ein Stück sei von einem Regisseur inszeniert worden. Es verfestigt sich der Eindruck permanenten Eingreifens: Führt üblicherweise die gemeinsame Probenarbeit von Ensemble und Regisseur zu einer Inszenierung, bei der Schauspieler einstudierte Rollen spielen, konfrontiert »Disabled Theater« Zuschauer mit wiederholten Aufforderungen an Darsteller, Aufgaben zu erfüllen. Scheinbar werden Schauspieler mit der Absicht vorgeführt, verglichen zu werden. Zielen diese Vergleiche auf die Figur, beziehen sie sich auf die Person des Schauspielers – oder lenken sie 123 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Inszenierte Individualität

die Aufmerksamkeit auf die Unterscheidung zwischen Figur und Schauspieler? Das Publikum kann sich fragen, ob Schauspieler, die es an zumeist nur einem Abend sieht, von Aufführung zu Aufführung ihre Aufgaben besser erfüllen. Lernen sie oder lernen sie nicht? Könnten sie in dieser Versuchsanordnung gezeigt werden, wenn sie lernen würden? Falls der Regisseur ihnen jedoch Lernen gar nicht zutraut, würden sie ausgestellt als jemand, der auf eine Bitte hin zeigt, was er kann – oder nicht kann. In diesem Fall würden Darsteller sich an den Körper angleichen, der sie auf der Bühne sind. Wie ließen sich dann Schauspieler, Körper und Figur unterscheiden? Zunächst berichtet der Assistent, Jérôme Bel bitte die Darsteller, nacheinander die Bühne für jeweils eine Minute zu betreten. Elf Mitglieder des Zürcher Ensembles HORA, fünf Frauen und sechs Männer, stellen sich der Reihe nach vor. Nicht alle halten sich an die exakte Zeit. Frontal positionieren sie sich in der Bühnenmitte. Schweigend blicken sie das Publikum an. Selten nehmen wir im Alltag Menschen eine volle Minute lang so direkt in Augenschein. Unvermeidlich betrachten wir nun Körper, die sich unserem Blick preisgeben. Sofern wir wissen, daß HORA ein Behindertentheater ist, suchen wir unwillkürlich nach körperlichen Zeichen der Behinderung, ohne doch genau zu wissen, nach was wir Ausschau halten. Woran erkennt man Behinderte? Wie steht es mit der Bekleidung? Warum ist beispielsweise eine junge Frau, die wir später als Julia Häusermann kennenlernen, unvorteilhaft angezogen? Jogginghosen und das enge Top schmeicheln nicht unbedingt ihrer Figur. Fragen schleichen sich an: Was hat das zu bedeuten? Zeigt sich hier jemand so unvorteilhaft oder wird hier jemand so gezeigt? Und weshalb? Sollen wir denken, hier habe sich eine behinderte junge Frau selbst angezogen, und niemand habe sie beraten? Haben Behinderte keinen Sinn für Mode? Wie sehen sie sich selbst? Vor allem: Würden wir so fragen, wenn wir nicht wüßten, daß es sich um behinderte Menschen handelt, die wir gerade anschauen? Nachdem elf Menschen sich auf diese Weise vorgestellt haben, läßt sich jedenfalls wenig über ihre Unterschiede sagen. Allerdings haben wir begonnen, sie zu vergleichen. Damit ist ein Prinzip etabliert, das die folgende Inszenierung wiederholt und in jeder Wiederholung differenziert. Alltag und Kunst, Kunst und Theater, Theater und Stück verschieben jeweils den Blick auf Weisen des Sehens von Menschen und Körpern als Darstellern. Eine Reihe von Form-Kontext Verhältnissen wird unsere Reflexion dessen, was wir gesehen haben, verändern. Im Spiegel dieser Reihe von Verschiebun124 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Versuchsanordnung: Disabled Theater I

gen entsteht allmählich eine Vorstellung davon, was ein »Individuum« ist. Nach der ersten Vorstellung der Darsteller baut der Assistent ein Mikrofon in der Bühnenmitte auf, kehrt zu seinem Tisch zurück und erklärt die zweite Aufgabe: Die Darsteller sollen erneut auf die Bühne kommen, um ihren Namen, ihr Alter und ihren Beruf zu nennen. Weshalb haben sie das nicht sofort getan? Sogleich wird der Unterschied klar: Eine Stimme verändert das Bild des Körpers, aus dem sie erklingt. Dem Sichtbaren der äußerlichen Erscheinung fügt sie eine Dimension hinzu. Der Körper, den wir als lebendigen Leib betrachtet, verglichen und abgesucht haben, gewinnt mit der Sprache eine neue Intensität geistigen Ausdrucks – auch dann, wenn die Stimme nur einfache Informationen mitteilt, die eine Person sozial beschreiben. Ob diese Stimme laut oder leise spricht, ob sie selbstbewußt oder zögerlich wirkt, ob sie klar oder mit undeutlicher Artikulation an unser Ohr dringt, modifiziert die Wahrnehmung des »Körpers«. In der Wiederholung des Auftritts zeigt sich die Differenz, um als Form weitere Unterschiede zu machen. An dieser Stelle der Performance erzeugt die Übersetzung des Assistenten einen auffälligen Kontrast. Denn Name, Alter und Beruf – »Schauspieler« – sind auch im Schweizerdeutschen gut zu verstehen. Hingegen verleiht die englische Übersetzung der Situation eine klinische Note. Sie betont das Vorgeführtwerden der Sprechenden. Was die Schauspieler sagen – was sie ausdrücken – erhält eine neutralisierende Zweitform, adressiert an uns, die Zuschauer. Persönliches wird versachlicht. Ihre Stimme wird ihnen durch die Übersetzung einerseits genommen, andererseits als individuelle Abweichung von einer verständlichen Normstimme unterschieden. Was Ausdruck des Schauspielers war, erscheint als Material der Unterscheidung, des Vergleichs und der Klassifizierung. Irritierend wirkt dieser Effekt, weil er sich in dem Moment bemerkbar macht, da das Publikum beginnt, Körper als Personen, deren Stimme Geist repräsentiert, wahrzunehmen. Gelingt uns das vielleicht deshalb, weil die Stimme des Assistenten uns daran erinnert, einer inszenierten Vergleichsanordnung beizuwohnen? Geht es hier überhaupt um die Schauspieler, oder geht es um uns und unsere Weisen, zu beobachten? Weshalb teilen sie uns neben ihrem Namen und ihrem Alter mit, Schauspieler zu sein? Sind nicht Darsteller, die im Theater auf einer Bühne agieren, schon dadurch Schauspieler? Muß im Falle behinderter Menschen eigens versichert werden, sie übten in dem, was sie dort tun, einen Beruf aus? Halten 125 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Inszenierte Individualität

sie es darum für erforderlich, weil das Publikum möglicherweise davon ausgehen könnte, es nicht mit Schauspielern zu tun zu haben, sondern mit »Behinderten«? Wir erinnern uns an die erste Begegnung mit dem Assistenten: Gleich zu Beginn wurden wir darauf fokussiert, es mit Probanden zu tun zu bekommen, die Aufgaben zu absolvieren hätten. Es wurde eine Erwartung geweckt, die im folgenden als Unterscheidungsform Wirksamkeit entfaltet. Einmal installiert, kann zweifelhaft sein, ob die Figur auf der Bühne, die Anweisungen befolgt, ein Schauspieler ist. Ist, wenn nun das Ausüben eines Berufes betont wird, alles, was das Publikum sieht, Inszenierung? Ist der Mensch auf der Bühne Figur in einem Stück? Gehört seine Behinderung zu dieser Figur? Oder sehen wir Schauspieler, die sich bemühen, trotz ihrer Behinderung einem Beruf nachzugehen, wobei wir, das Publikum, sie vergleichend in Augenschein nehmen? Deutet die Nennung des Berufs also darauf hin, daß wir Figuren in einer Rolle betrachten, anstatt, wie es doch offenbar der Fall ist, Menschen, die sich »selbst« vorstellen? Oder sind wir gewillt, im behinderten Schauspieler den »Menschen« zu suchen, den wir sonst bei Theaterfiguren gern vergessen? Details fallen auf: Einige Darsteller richten sorgfältig die Position des Mikrofons ein, um ihre kurzen Angaben zu machen. Ist das für sie eine besonders wichtige Situation, in der sie nichts dem Zufall überlassen möchten? Peter Keller nutzt die Gelegenheit zu einer kleinen Performance. Statt, wie verlangt, knapp seinen Namen, Alter und Beruf zu nennen, äußert er lange, verworrene Sätze, redet von Blumen im Wasser, einer Kirche, Glocken und vom Beten, wobei er sich zwischendurch umständlich die Schuhe bindet. Schließlich endet er mit einem »Nun ist es gut, ich setze mich«. Zweifellos ist das komisch. Zuschauer lachen. Doch worüber? Kann Peter sich nicht an die Anweisung halten? Spricht er keine zusammenhängenden Sätze? Flackert seine Aufmerksamkeit? Sehen wir nun die Behinderung an einem Körper, dem diese zuvor nicht anzumerken war? Oder folgen wir einer Inszenierung von Behinderung, die Peter gar nicht hat, sondern darstellt? Dafür spricht die ironische Wendung, mit der er schließt. Wird im gewohnten Theater alles, was auf der Bühne geschieht, als Rolle und Inszenierung aufgefaßt, verschwimmt diese klare Grenze bei »Disabled Theater«. Da wir wissen, es handelt sich um Behinderte, die Behinderte darstellen, wird die Grenze zwischen dem, was Rolle ist und was nicht, unscharf. Wenn Dargestelltes und Darstellung – ein Behinderter, der einen Behinderten auf einer Bühne 126 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Versuchsanordnung: Disabled Theater I

darstellt, der er selbst ist – zusammenfallen, beginnen Zuschauer sich zu fragen, wie sie sehen, was sie sehen. Unsicherheit im Publikum macht sich hier und da breit. Denn es ist nicht klar, was so komisch an Peters kleiner Performance ist. Dürfen wir über seinen Auftritt lachen? Gehört sich, was außerhalb des Theaters tabu wäre, im Theater? Vielleicht wäre es eine Mißachtung von Peters Leistung, deren Komik nicht zu würdigen. Vielleicht wäre es aber auch ein Tabubruch, das Agieren eines »Behinderten«, der den Mut aufbringt, sich öffentlich in seiner Behinderung zu zeigen, lustig zu finden und durch Beifall zu verhöhnen. Lachen wir, falls Peter nicht »hat«, was er zeigt, über die Ironie, mit der ein Behinderter eine Behinderung karikiert? Kann Behinderung komisch sein? Oder ist unser Lachen womöglich ein beschämtes Lachen, weil wir unsere Unsicherheit darüber bemerken, was wir hier gerade unterscheiden – sowohl denkend als auch gefühlmäßig? Verflechtungen kognitiver mit affektiven Unterscheidungen werden im Fortgang des Stückes immer deutlicher bemerkbar. Zuschauer verstricken sie in das Unterscheidungsspiel auf der Bühne, bis nicht mehr unterscheidbar sein wird, ob es primär um Schauspieler oder Zuschauer geht. Bei der dritten Aufgabe Jérôme Bels wird die Prozeßlogik klar, der diese Inszenierung folgt: Behinderung wird sichtbarer und ihre Darstellung zugleich rätselhafter. In einem neuen Durchgang sollen die Schauspieler, die nun allesamt auf den elf Stühlen Platz genommen haben, ihre Behinderung benennen. Ihre Stimme, die dem Körper hinzugefügt wurde, bietet jetzt eine Klassifizierung dieses Körpers an. Dessen Differenz zum Normalkörper erhält einen Namen. Trägt die Stimme das jeweilige »Handicap« mundartlich moduliert so vor, daß es personalisiert erscheint, verleiht die Übersetzung dem Begriff wiederum einen klinischen Zug. Nun erhalten die konkrete Figur, ihr Körper und ihre Stimme, ein allgemeines Etikett. Es wird spürbar, wie entscheidend es ist, wer in welcher Funktion Bezeichnungen gebraucht und wie Sprechen gerahmt wird. Für Zuschauer wird dieser Unterschied zwischen Selbst- und Fremdbenennung in der Situation des Theaters irritierend. Da sie wissen, daß es sich um Behinderte handelt, die »haben«, was sie benennen, tritt das Ausstellen der Behinderung im Moment des Benennens unangenehm hervor. Offenbar zweifelt niemand daran, daß die benannte Krankheit wirklich dem Schauspieler auf der Bühne »gehört«. Wir glauben an das von der Bühnenfigur Gesagte, ohne darüber nachzudenken, daß hier ein Schauspieler in seiner Rolle spricht. Zugleich 127 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Inszenierte Individualität

ist es dieser Name, den wir, vielleicht uneingestanden, suchten, als wir die Darsteller zum erstenmal in ihrer Körperlichkeit anschauten. Wenn Remo Beuggert humorvoll erzählt, er habe »Lernschwäche« und sei »ein ganz schlechter Botschafter«, weil er sich nichts merken könne, klingt das sympathisch. Einige im Publikum lachen oder schmunzeln. Indem der Assistent seine Sätze in neutralem Ton wiederholt, wirkt Remos Rede wie eine Karikatur und ihr Inhalt – »Lernschwäche« – wie ein Urteil. Denn diese Klassifizierung ist es, die Remos gesellschaftliche Existenz wesentlich prägt. Der Name seiner Krankheit prägt sein Leben vielleicht stärker als sein Vor- und Familienname. Miranda Hossle erweckt Anteilnahme, als sie davon spricht, langsamer zu sein »als sogenannte Normale«. Meistens wünsche sie sich, »es nicht zu haben«. Bestürzend wirkt es, als Tiziana Pagliaro äußert: »ich weiß es nicht«. Hier kann das Publikum, ohne es doch zu wissen, kaum mehr glauben, es mit einer Darstellung von Behinderung zu tun zu haben. Nun ist unentscheidbar, ob wir Theater anschauen oder Wirklichkeit, die sich im Theater zeigt. Unentscheidbar wird, was wir hier als Zuschauer unterscheiden müssen: Sollen wir die Entscheidung zur Unterscheidung würdigen, also jedes Detail als Inszenierung betrachten, oder sollen wir, was wir sehen, für bare Münze nehmen und der »Natur« der Darsteller zurechnen, die doch unbestreitbar Darsteller in einem Stück bleiben? Bestärkt wird dieser Eindruck, indem Sara Hess von der Langsamkeit ihres Sprechens erzählt: »wenn ich spreche, merken Sie es«. Probleme schimmern auf, als Damian Bright berichtet, seine Langsamkeit gehe manchmal seiner Mutter auf die Nerven. Dann fällt der medizinische Ausdruck: »Down-Syndrom«. Wendet Damian diesen Befund ins Ironische, indem er erläutert, es bedeute, »daß ich ein Chromosom mehr habe als ihr«, dreht Julia Häusermann die Ironie sogleich ins Tragische. Ja, auch sie habe Down-Syndrom, »und mir tut’s leid«. Beim Hinsetzen reibt sie sich die Augen. Schauspiel? Traurigkeit? Inszenierung? Wie drückt sich so etwas aus? Etwas gespreizt korrekt, wie bei Matthias Grandjean, der sich selbst als einen »geistig behinderten Erwachsenen« beschreibt, oder, wie der Assistent drastisch Lorraine Meiers »ich bin mongoloid« übersetzt: »I am a fucking mongo«? In dieser Übersetzung geht plötzlich jede klinische Note verloren. Brutal stellt sie sich der korrekten medizinischen Formulierung Lorraine Meiers an die Seite und artikuliert eine andere Form der Distanz zur Behinderung. Vielleicht haben Be-

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zeichnungen etwas mit dem Leid zu tun. Wieder Lorraine Meier: »es tut mir weh«. Womöglich auch das Wort »fucking mongo«? Allmählich tritt der Kontrast zwischen Vorder- und Hintergrund der Bühne in die Aufmerksamkeit des Publikums. Da immer eine Person im Zentrum steht und alle anderen solange Zuschauer auf einer Bühne bleiben, dauert es eine gewisse Zeit, um auch das Verhalten der jeweils zehn anderen Darsteller zu registrieren. Spielen die Zuschauer-auf-der-Bühne Zuschauer, oder schauen sie zu? In dem Maße, wie sich im Publikum Unsicherheit über die Formen seines eigenen Sehens ausbreitet, wächst seine Aufmerksamkeit für die Zuschauer auf der Bühne. Jetzt wird deren Weise, zuzuschauen, mit der Wahrnehmungsform des Publikums vergleichbar. Eindrücke, die von der jeweils agierenden Person hervorgerufen werden, spiegeln sich. Zuschauer werden dazu verlockt, die scheinbar gerade inaktiven Darsteller als Akteure zu betrachten, die, weil sie wissen, daß sie nun pausieren, spontan und natürlich, also nicht inszeniert, reagieren. Wer so schaut, betrachtet die Bühnenzuschauer ähnlich wie sich selbst, nämlich als Publikum, das bemerkt, wie es spontan auf etwas reagiert, das es nicht klar zu unterscheiden weiß. Gesten der Begeisterung, der Zärtlichkeit, des Anlehnens und Beschützens – die besonders der schwere Remo mit wunderbarer Gutmütigkeit verteilt – könnten wir als privaten Ausdruck von Gefühlen im öffentlichen Raum betrachten, falls wir unterstellen, daß die Darsteller, aufgrund ihrer Behinderung, die Öffentlichkeit dieses Raumes vergessen oder ihnen das Gesehenwerden nun gleichgültig ist. Entweder wüßten sie nicht, daß sie gesehen werden, oder ihnen wäre egal, wie sie gesehen werden. Beide Optionen widersprechen der Aussage: »Ich bin Schauspieler.« Für Zuschauer, die das Stück zum wiederholten Male sehen, wird sichtbar, daß auch scheinbar spontane Reaktionen im Bühnenhintergrund sich wiederholen. Natürlich, möchte man sagen, es ist doch Theater. Szenen dieser Art wiederholen sich. Im Publikum sorgen sie für peinliche Momente, auch für Verlegenheit und Zögern, der Begeisterung für das faszinierende Spiel auf der Bühne durch Applaus Ausdruck zu geben.

2.

Theater, Körper, Text

Theater und Text bieten klassische Rahmungen für Darstellungen. Seit der griechischen Antike erproben sie im wechselseitigen Blick 129 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Inszenierte Individualität

aufeinander Arenen und Stile der Reflexion. Platon und Aristoteles sehen in der Bestimmung dieses Verhältnisses wichtige Themen ihrer Philosophie. In der Arena des Theaters verbinden sich Text und Bewegung, Wahrnehmungen konkreter Körper, Differenzen von Körper und Rolle, von Sichtbarem und Reflexion. Text und Inszenierung treten als unterschiedliche Formen auseinander, indem sie aufeinander verweisen. Philosophische Texte repräsentieren so wenig einfach die Wahrheit wie das Theater, auch wenn sie darauf verzichten mögen, Gedanken auf Rollen oder Rollen auf Körper zu verteilen, die auf einer Bühne agieren. Anders als der philosophische Text jedoch fasziniert das Theater durch die Direktheit seiner Kommunikation. Bühnen bieten andere Wahrnehmungs- und Reflexionskontexte als Texte. Sehen und Lesen sind verschwistert, doch nicht identisch. »Disabled Theater« inszeniert eine Vergleichsordnung besonderer Art, indem es die Aufmerksamkeit auf den Körper und das Personsein der Schauspieler fokussiert. Ist es bei gewöhnlichen Gegenständen oder Handlungen selbstverständlich und harmlos, Vergleiche anzustellen, wirkt dies im Blick auf Personen – besonders im Blick auf »behinderte« Personen – als problematisch oder sogar anstößig. Denn was ist das Maß des Vergleichs? Zugleich wird bemerkbar, daß niemand um das Vergleichen herumkommt, der danach fragt, was »etwas« ist. Personen sind weder Dinge noch Handlungen, ihre Identität und Grenze sind oft unklar, obwohl sie eindeutige Adressen in der Welt des Sozialen sind. Eindringlich wirft eine Inszenierung wie »Disabled Theater« die Frage nach angemessenen Darstellungsordnungen auf, wenn es um die Frage der Person geht. Es gibt nicht viele Orte, an denen Raum und Zeit, Wirkliches und Mögliches, Welt und Darstellung auf ähnlich konkrete Weise unterschieden und aufeinander bezogen werden wie im Theater. Theateraufführungen sind auf unmittelbare Wahrnehmungen angelegt. Mehr als andere Darstellungsformen – etwa Literatur, Malerei oder Kino – ist Theater Kommunikation. Leibliche Anwesenheit von Darstellern und Publikum ist unabdingbar. Deren Unterschiedenheit erscheint in physischer Direktheit. Darsteller und Zuschauer können einander in derselben Raum-Zeit sehen, wobei sie sich in komplementären Rollen unterscheiden. Bühne und Zuschauerraum bilden zwei Seiten einer Grenze, die im Spiel jeweils gezogen wird. Zwar kann diese Grenze in Frage gestellt werden, indem beispielsweise Schauspieler in den Zuschauerraum hineinagieren; grundsätzlich bleibt die Unterscheidung zwischen Performern und Beobachtern je130 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Theater, Körper, Text

doch konstitutiv für das Theater. 1 Unser Blick fällt anders auf das Gesicht eines Theaterschauspielers als auf dasjenige eines Filmschauspielers. Nur im Theater könnten unsere Blicke sich kreuzen. 2 Körperlichkeit gewinnt eine andere Intensität: Physische Merkmale werden direkt wahrgenommen, wenn ein Darsteller in körperlicher Präsenz vor uns steht. Schauspieler setzen sich dem Gesehenwerden aus. Je mehr der Theaterraum von Requisiten entleert wird, desto massiver tritt das Bedeutungsfeld hervor, das durch die Anwesenheit der Schauspieler entsteht. Das Sehen des Körpers des Schauspielers verweist auf die Unterscheidung von Sehen und Gesehenwerden, wie sie für das Theater ebenso konstitutiv ist wie für jede Art der Interaktion zwischen Anwesenden. 3 Vielleicht ist darin die Ähnlichkeit des Theaters, als Reflexionsform von Gesellschaft, mit alltäglichen Kommunikationen außerhalb des Theaters verankert. Die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum betont, indem sie beide trennt, eine leibliche Komplementarität zwischen Schauspieler und Publikum. Bedeutungsregister, die so ins Spiel kommen, lassen sich nicht auf die Repräsentation eines Textes reduzieren. Vielmehr ziehen sie Gewinn aus der Unterscheidung zwischen Text und Inszenierung, Körpern, Dingen oder Gesten. Solche Bezüge schaffen Kontexte für Unterscheidungen, die wir auf der Bühne sehen. 4 Besonders der Tanz hat Dimensionen von Sichtbarkeit und Bedeutung herausgearbeitet, die wesentlich an der Beweglichkeit des menschlichen Körpers, dessen Beschränkungen und kinetischen Transformationsmöglichkeiten haften. Sinnräume bilden sich hier als Körperräume. 5 Dem Publikum Beispielsweise in Inszenierungen von Rimini Protokoll wie »Situation Rooms« (Ruhrtriennale 2013). Hier sind die »Zuschauer« die Akteure, die sie in Rollen sehen, die sie selbst spielen und die sie von anderen Zuschauern gespielt sehen, während sie sich, geführt durch den Film auf einem iPad, in der Rolle einer realen Person durch eine Art Filmset bewegen, das Bühne und Zuschauerraum zugleich ist. 2 Vgl. Hoffmann, D. (Hrsg.): Körperästhetiken. Filmische Inszenierungen von Körperlichkeit. Bielefeld 2010. Außerdem Fischer-Lichte, E./ Pflug, I. (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen, Basel 2000. 3 Deshalb repräsentiert der Körper des Darstellers nicht etwa Authentizität. Vgl. Foellmer, S.: Am Rand des Körpers. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz. Bielefeld 2009, S. 42. 4 Auch deshalb bildet eine Theateraufführung keinen geschlossenen Bedeutungsraum. Vgl. Lehmann, H.-Th.: Die Inszenierung: Probleme ihrer Analyse. In: Zeitschrift für Semiotik 11 (1989), H. 1, S. 29–49. 5 Vgl. Hubschka, S.: Intelligente Körper. Bewegung entwerfen – Bewegung entnehmen – Bewegung denken. In: Bockrath, F./ Boschert, B./ Franke, E. (Hrsg.): Körperliche Erkenntnis. Formen reflexiver Erfahrung. Bielefeld 2008, S. 135–156. 1

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Inszenierte Individualität

bieten sie Gelegenheiten, Aufmerksamkeit zu fokussieren und Verweisungsmöglichkeiten aufzugreifen, die sich zur »Welt« eines Stükkes verdichten. Es entstehen Möglichkeiten, die Prozessualität von Bedeutung durch Verzicht auf ein »Stück« in den Vordergrund zu rücken. Performance-Kunst arbeitet mit der Verwechselbarkeit von Form und Prozeß, Darsteller und Publikum, Theater und Nichttheater. 6 Kommen Verdichtungen sinnhafter Unterscheidungen in der Reflexion des Publikums zustande, entspinnt sich ein Bedeutungsgewebe, das den Raum des Theaters für Erfahrungen des Publikums öffnet. Dem Körper des Schauspielers fällt eine zentrale Funktion zu. Es »ist« der Körper eines Schauspielers, der Körper einer Figur und ein Alter ego des Publikums. Seine physische Gegenwart verleiht ihm bildliche Eigenschaften. Er muß als etwas betrachtet werden, das nicht auf seine Physis zu reduzieren ist. Der sichtbare Leib macht Unterschiede, wie sie kein anderer Gegenstand hervorruft. Handlungen und Gegenstände zu unterscheiden macht, so betrachtet, erst »Sinn« in bezug auf den Leib. Wahrnehmend, handelnd und denkend erschließt er Welt und fundiert Kommunikation mit Anderen. Dafür ist das Theater eine paradigmatische Arena. Wirklichkeit und Repräsentation sind hier miteinander verschränkt. Maurice Merleau-Ponty spricht vom »Fleisch« (chair) als dem Einrollen des Sichtbaren in den sehenden Leib, der Welt als Sinn hervorbringt. Im Theater werden Relationen zwischen dem beseelten Körper – dem Leib –, dem sichtbaren physischen Körper, dem sozial inszenierten Körper des Schauspielers und dem wahrnehmenden Körper des Zuschauers sozial gerahmt und miteinander als verschiedene Rahmungen vergleichbar. Theater bringt eine »Infrastruktur des Sehens« zur Erfahrung. »Das Denken ist Verhältnis zu sich selbst und zur Welt und ebensosehr Verhältnis zum Anderen; in diesen drei Dimensionen richtet es sich gleichzeitig ein. Und direkt in der Infrastruktur des Sehens muß es zum Vorschein gebracht werden.« 7 Die »magische Beziehung« 8 zwi-

Vgl. Schimmel, P.: Der Sprung in die Leere. Performance und das Objekt. In: out of actions. Zwischen Performance und Objekt 1949–1979. Hrsgg. von P. Schimmel. The Museum of Contemporary Art, Los Angeles. Hrsg. der deutschen Ausgabe: P. Noever. Ostfildern, Los Angeles 1998, S. 17–120. 7 Merleau-Ponty, M.: Das Sichtbare und das Unsichtbare (1964). München 1986, S. 190. 8 Ebenda, S. 191. 6

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Theater, Körper, Text

schen Leib, Ding und Anderen wird im Theater als Verhältnis unterscheidbar, wahrnehmbar und reflektierbar, wenn der Leib des Zuschauers zum Alter ego des Schauspielers wird. Bereits der Anblick eines Körpers auf der Bühne ruft soziale und kulturelle Konnotationen auf, die sich vom Blick auf Dinghaftes unterscheiden. Nacktheit auf der Bühne wirkt provozierender als auf der Leinwand. Was im Alltag meist taktvoll übersehen wird, zieht im Theater den Blick auf sich. Hinsehen wird nicht bloß toleriert, sondern provoziert. Ein Ausweichen des Blicks verweist auf eine vielleicht fragwürdige Disposition des Betrachters. Er spürt seinen eigenen Blick, weil er in die Augen des Darstellers schauen kann und sein Sehen potentiell gesehen wird. Was für den nackten Körper gilt, gilt erst recht für den versehrten oder behinderten Schauspieler. In solchen Fällen tritt die Körperlichkeit des Schauspielers in einen Kontrast zur Rolle, wie sie das klassische Sprechtheater kennt. Im 20. Jahrhundert hat das Theater diesen Aspekt der Darstellung erprobt und radikalisiert. »Der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Theater«, schreibt Wsewolod Meyerhold 1907, »besteht auch darin, daß im letzteren die körperlichen Bewegungen und das Wort dem eigenen Rhythmus unterworfen sind, der sich manchmal mit den anderen nicht deckt.« 9 Physis und Semiotik des Körpers treten in Kontrast, um ihre Verschränkung als Funktion gesellschaftlicher Wahrnehmungs- und Kommunikationsroutinen auszuleuchten. 10 Zuschauer geraten als Kommunikationsteilnehmer in den Blick. Ohne sie würde die Erschaffung des Sinnkontextes nicht gelingen, den die Aufführung anbahnt. Sinn resultiert weniger aus der Transportkette einer Autorintention über die Vermittlungsarbeit des Regisseurs und die Repräsentationsleistungen der Schauspieler hin zu einem Publikum, das versteht, was gemeint war. Eher wird die Bühne als Möglichkeitsfeld für Unterscheidungsbildungen verständlich, die nur kommunikativ gemeinsam mit dem Publikum zu realisieren sind. »Das stilisierte Theater schafft Inszenierungen, in denen der Zuschauer mit seiner Vorstellungskraft schöpferisch beendet, was die Bühne nur andeutet.« 11

Meyerhold, W.: Zur Geschichte und Technik des Theaters (1907). In: Ders.: Schriften in zwei Bänden, Bd. 1. Berlin 1979, S. 97–275, hier S. 129. 10 Vgl. Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M. 2004, S. 127 ff. 11 Meyerhold, W.: Zur Geschichte und Technik des Theaters. A. a. O., S. 135. 9

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Inszenierte Individualität

Bedeutungsräume des Theaters haben sich auf diese Weise erweitert. Darstellungen, die sich nicht auf Repräsentationen von Texten beschränken, finden verstärktes Interesse. »Indem in der Performance der agierende Körper der Künstler/innen selbst zum Bild wurde, konnte die vormalige Entgegensetzung von außerkünstlerischer Wirklichkeit und ästhetischer Repräsentation neu befragt werden. (…) Die vorherrschenden ›normalen‹ Körpergrenzen, -sprachen, -funktionen und -bilder wurden dabei nach ihren gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen, Normierungen und Beschränkungen befragt …« 12 Solche Befragungen setzen die Beteiligung leiblich gegenwärtiger Zuschauer voraus. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Theater vom Kino: Körper der Schauspieler werden selbst inszeniert, damit Darstellungen zustande kommen, die Responsivitäten der Betrachter aufgreifen und in Reflexionen verstricken, zu denen die leibliche Komplementarität von Ego und Alter ego auf der Bühne und im Zuschauerraum gehört. Experimentelle Spiele mit Unterscheidungen und Grenzen bleiben im Körper verankert. Wahrnehmung und Kommunikation innerhalb wie außerhalb des Theaters verschränken sich in ihm. Doch erst auf der Bühne wird jedes körperliche Detail sichtbar und vergleichbar. Schleier aus Scham und Takt, wie sie gewöhnlich körperliche Besonderheiten diskret verhüllen, zieht die Inszenierung weg. Für das Theater gilt in besonderer Weise, was Dirk Baecker für Kunst generell beobachtet: »Sie reagiert auf die Gesellschaft, als sei diese ihr Konkurrent. Während sie mit ihren Bildern und Kompositionen; mit ihren Happenings und Performances die Blicke, das Gehör, das Erstaunen, die Faszination und den Schrecken der Menschen auf sich zu lenken versucht, stellt sie fest, dass dies der Gesellschaft und ihrem Symbolapparat immer schon viel besser gelungen ist. Also dreht sie den Spieß um. Sie nimmt die Kommunikation beim Wort, indem sie in einen Sachverhalt der Wahrnehmung verwandelt und studiert, was sie mit den Körpern macht, an die sie sich richtet.« 13 Je mehr im Theater der Körper zum Fokus eines Unterscheidungsspiels wird, desto mehr werden eingespielte Deutungs- und

Brunner, M.: »Körper im Schmerz« – Zur Körperpolitik der Performancekunst von Stelarc und Valie Export. In: Villa, P. (Hrsg.): Schön normal. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf somatische Selbsttechnologien. Bielefeld 2008, S. 21– 40, hier S. 22. 13 Baecker, D.: Wozu Theater? Berlin 2013, S. 96 f. 12

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Theater, Körper, Text

Bedeutungsregister eine Zeitlang außer Kraft gesetzt. Zuschauer vollziehen dann eine Epoché des Sozialen, gerade weil sie in Kommunikation verstrickt sind. Theater macht sozialen Sinn reflexiv unterscheidbar, indem es zeigt, daß jede Unterscheidung in das Unterschiedene verwoben bleibt. So wenig es einen reinen Geist gibt, so wenig gibt es perspektivlose Beobachtungen. Im Blick auf Körper treten Bedeutungsregister, Handlungslogiken, Typisierungen, Erwartungen und Normen auseinander. War im klassischen antiken Theater der Körper des Darstellers zurückgenommen, um als Maske und Stimme zu erscheinen, fügt das bürgerliche Theater den Schauspieler in imaginäre Textwelten ein, denen sein Spiel Bedeutung und Präsenz verleiht. Idealiter sollen Darsteller ihre Rolle repräsentieren, mithin in der Arbeit der Darstellung möglichst unsichtbar bleiben, obwohl ihr Gesicht nun die Maske ersetzt. Solches Theater ist seiner Idee nach narrativ. Aristoteles’ Poetik konzentriert sich auf Darstellungen, die Handlungen sichtbar und dadurch Welt vergleichbar machen. Text bleibt gegenüber seiner Inszenierung und Aufführung vorrangig. Ohne die Kunst des Mythos wären Grenzen unbeherrschbar, ohne die doch keine Reflexion gelingt. Vor allem das zeitgenössische Performance-Theater hat sich aber von der Textbezogenheit gelöst und den Körper des Darstellers selbst thematisiert. Entsprechend tritt hier der Mythos in den Hintergrund. Bedeutungen entstehen nun in Prozessen der Formfindung. Semantische Kontexte bleiben häufig offen. Das macht Kontexte wie Inszenierungsformen als Möglichkeiten vergleichbar. Ein »Mythos« muß erzeugt werden. Grenzen der Darstellung, denen Aristoteles viel Aufmerksamkeit widmet, erscheinen als Unschärfen. Unterscheidung und Pflege der Grenzen hängen von der Reflexionsarbeit der Zuschauer ab. Diesen wird abverlangt, ihre Unterscheidungsformen zu beobachten. Immer wieder müssen sie herausfinden, ob und warum eine Aufführung geeignet ist, Allgemeines in je diesem Besonderen zu erschließen, indem sie diese Differenz vollziehen. Im Schauspieler betrachten Zuschauer eine andere Form ihrer sozialen Existenz. Ein Selbst und dessen Darstellung sind, auf dem Theater und außerhalb, nicht zu trennen. 14

Vgl. Plessner, H.: Zur Anthropologie des Schauspielers. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M. 1982, S. 399–418.

14

135 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Inszenierte Individualität

3.

Organisierte Grenzen

Je intensiver das Betrachten des Sichtbaren, desto unschärfer erscheint das Was des Gesehenen. Worum es geht und was zu sehen ist, entzieht sich cartesianischen Kriterien des Bestimmtseins: Weder ist es klar noch distinkt. Stattdessen verschiebt sich das Was hin zu einer Reflexivität, die, als Oszillation von Unterscheidungen, festhält, was sich als Differenz meldet. Zwar sind die Körper der Schauspieler deutlich zu sehen; wohl ist zu verstehen, was gesagt wird. Doch im Bemühen festzuhalten, was auf der Bühne geschieht, drängen sich Fragen nach Unterscheidungsmustern in den Vordergrund, mit denen überhaupt ein »Etwas« Gestalt und Bedeutung gewinnt. Nun ist der Zuschauer ins Spiel involviert. Sind diese Fragen gestellt, springen Weisen des Umgangs mit Unterscheidungsformen ins Auge. »Theater« arbeitet mit organisierten Erwartungen. Zunächst mit der Grenze zwischen Theater und Gesellschaft: Wer eine Theatervorstellung besucht weiß, daß hier eine Grenze zwischen Alltäglichem und Darstellung gepflegt wird. Diese Grenze ist die Inszenierung. Auch dann, wenn im Theater eine Szene des Straßenlebens nachgespielt würde, existierte sie als Grenze. Findet das Theater außerhalb des Theaters – beispielsweise auf der Straße – statt, bleibt jeweils zu entscheiden, ob es hier um Darstellung oder Alltag, um Schauspieler oder Publikum geht. Müssen Passanten eingreifen, wenn sich jemand auf der Straße selbst verletzt? Darf damit gerechnet werden, daß in solchen Fällen Theater gespielt wird, so daß Passanten ihr Handy zücken und fotografieren, statt zu »helfen«? Das Theater zieht Grenzen der Kommunikation, die, was auch immer geschieht, als Grenze markiert bleiben – und deshalb Gelegenheiten bieten, kalkuliert gekreuzt zu werden. Sodann organisiert das Theater den Zeit-Raum eines Stückes. »Disabled Theater« dauert neunzig Minuten und hat keine Pause. In diesem Fall ist der Verzicht auf eine Pause wichtig, weil so vermieden wird, daß Zuschauer in eine Distanz zur Wahrnehmungssituation geraten und ihre Eindrücke vergleichen. Das würde den Reflexionsprozeß unterbrechen, den die Inszenierung als Steigerung und Wiederholung von Vergleichssituationen initiiert. Für diesen Reflexionsprozeß spielt es eine Rolle, nicht zu wissen, wie andere Zuschauer gerade die Situation empfinden. »Disabled Theater« hält die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum wach: Unsicherheiten, die sich im Publikum entwickeln, gehören konstitutiv zum Stück. Unklarheit 136 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Organisierte Grenzen

über Affekte forciert die Suche nach kognitiven Unterscheidungsregistern. Beispielsweise meldet sie sich in einem kurzen Zögern, ob nun spontan applaudiert werden darf – oder ob das peinlich wäre. Wobei die nächste Frage lautet: peinlich für wen? Nach dem Ende des Stücks sind im Foyer Gespräche zu hören, in denen es um solche Ambivalenzen geht. Theatertypisch ist die organisierte Grenze zwischen Darstellern und Publikum. Auch diese Grenze wird gepflegt, um sie befragen und kreuzen zu können. »Disabled Theater« tut das immer wieder. An der Stelle der Inszenierung, an der ich die Beschreibung gerade unterbreche, ist die Grenze zum Gegenstand der Reflexion geworden. Sie verweist auf eine weitere Grenze, die nur Organisationen kennen: von Person, Organisation und Individuum. Schauspieler arbeiten in der organisierten Form des Theaters an inszenierten Unterscheidungen, die unter anderem die Differenz zwischen der Bühnenfigur und der Person des Darstellers wachhalten. Indem das moderne Theater sich mit der Rolle des Körpers explizit beschäftigt, lotet es Möglichkeiten und Tragweite dieser Unterscheidung aus. »Disabled Theater« verknüpft damit die Frage, was Individualisierung bedeutet. Die Unterscheidungsform Person, im modernen Sinne, entsteht im Zuge von Organisationsbildungen. Sie bezeichnet die jeweils andere Seite eingeschränkter und konditionierter Verhaltenserwartungen, die durch Mitgliedschaft in einer Organisation festgelegt werden. Jemand wird als Person behandelt, sofern nicht die Totalität seiner Erscheinung und Zustände eine Rolle spielt. Jeweils rücken sozial anschlußfähige Facetten der Verhaltensmöglichkeiten, Erfahrungen, Wahrnehmungen, Vorlieben oder Überzeugungen in den Fokus. »Disabled Theater« thematisiert diese Differenz, die zum Personsein gehört. Personen sind nur begrenzt individualisiert: dieser bestimmte Mensch, in all seinen Merkmalen und Beziehungen, ist nicht identisch mit der sozialen Form seiner Person. Die Form Person macht einzelne Menschen gerade verwechselbar. 15 Indem dieses Verhältnis im Blick auf die soziale Rahmung behinderter Menschen zum Thema wird, gewinnt die Frage eine schmerzhafte Schärfe. Wer »ist« jemand? Wie soll er unterschieden werden? Was dürfen andere erwarten? Welche Unterscheidungsregister sind im Spiel? Die Stelle eines Schauspielers im Theater kann, wie die Rolle in einem Stück, von verschiedenen Menschen 15

Vgl. Kapitel Ungleiche Gleiche, Organisierte Vergleiche.

137 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Inszenierte Individualität

besetzt werden. Jérôme Bels Inszenierung befragt dieses Verhältnis und damit Möglichkeiten der Individualisierung. Im Laufe des Stückes lernen Zuschauer, jeden einzelnen der elf Darsteller zu »sehen«, indem sie immer wieder eingeladen werden, Vergleiche anzustellen, die, auf den ersten Blick, gerade die Individualisierung »behindern«. Ein jeder der elf Darsteller hat eine Funktion im Stück, und doch stellt er sich dar, indem er ist, was er ist. Aufgaben, denen Darsteller sich unterziehen, um von Zuschauern verglichen zu werden, scheinen zunächst alle Verglichenen gleich zu machen und damit ihre Individualität zu ruinieren: Wird hier nicht, wie eine Darstellerin die Meinung ihrer Mutter wiedergibt, Behinderung vorgeführt wie in einer »Freak Show«? Bei genauerem Hinsehen kehrt sich dieser Eindruck jedoch um: Von Vergleich zu Vergleich individualisiert sich der Blick mehr. Sukzessive werden Reflexionsmöglichkeiten des Publikums reicher. Zuschauer müssen Individualität unterscheiden, weil sie direkt nicht zu »sehen« ist. Individualität, von der wir vielleicht etwas scheinheilig behaupten, sie ganz besonders an den Fähigkeiten behinderter Menschen sehen zu wollen, da diese doch anders sind als andere, ist ein Konstrukt, das gesellschaftlich eingespielte Unterscheidungen voraussetzt. »Disabled Theater« demonstriert mit seiner Ordnung von Unterscheidungen und Vergleichen, daß Individualität paradoxe Typisierungen voraussetzt. Erst im Vollzug von Unterscheidungen – und zwar sowohl in der Wahrnehmung der Zuschauer als auch in der Kommunikation der Schauspieler sowie zwischen Schauspielern und Publikum – werden Rolle und Person, Körper und Rolle, Allgemeines und Besonderes im Theater so verwechselbar, daß sie ein Verständnis von »Individualität« hervortreiben. Vergleiche individualisieren, indem sie in mehrfachen Hinsichten Differenzen akzentuieren und als Reihen des Vergleichbaren vorführen. Individualisierungen der Schauspieler durchkreuzen auf den ersten Blick die Allgemeinheit der Figuren, die sie ebenso »sind« wie sie diese »spielen«. Auch das klassische Theater kennt Individualisierungen. Vornehmlich geht es dabei um die Verbesonderung einer Rolle, die sich der Schauspieler zueigen macht. Individualisierende Spielweisen interpretieren, besonders im Falle klassischer Bühnenstücke, Figuren, denen allgemeine Bedeutung zugesprochen wird. Inszenierung, Rolle und Darstellung erscheinen als Verbesonderung des Allgemeinen in der aktualen Verwirklichung einer Form. Auffassung von Mythos, Katharsis und Erkennen, wie Aristoteles sie entwickelt, werden darin unterstützt. Überhaupt fundieren sie die phi138 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Organisierte Grenzen

losophische Relevanz des Theaters als einer Arena der Reflexion von Welt, selbst wenn das Verhältnis von Schauspieler und Figur gebrochen dargestellt wird. Im Stück erblickt der Zuschauer gleichnishaft sich selbst. Um die Individualität des Schauspielers geht es deshalb nur insofern, als sie einer Verbesonderung der Allgemeinheit der Figur dient. Hamlet, weniger sein jeweiliger Darsteller, sind für das Theater relevant. Im Falle von »Disabled Theater« scheint das Gegenteil zu passieren. Unterscheidungsführungen des Stücks zeigen die Individualisierung des Schauspielers als eines Menschen mit körperlicher Präsenz. Julia ist »diese« Julia. Das zu begreifen, scheint die Leistung des Publikums zu sein. Individuelles – diese Julia – entsteht als unendliche Arbeit des Unterscheidens und Vergleichens in Kontexten des Vergleichbaren. Im Theater wird dieser Zusammenhang beobachtbar. Bei näherem Hinsehen melden sich jedoch auch hieran Zweifel. »Diese« Julia wird ein besonderer Mensch im Kontext der Inszenierung: als eine – wie sie deutlich erklärt hat – »Schauspielerin«. Zuschauer könnten »diese« Julia von der Julia-Figur im Stück gar nicht unterscheiden, gäbe es diese Grenze nicht, die das Theater zieht, um sie unterscheidbar zu machen. Julias Besonderheit bietet der Inszenierung Gelegenheiten, sie als Form des Allgemeinen zu benutzen. Um »diese« Julia geht es, weil es nicht um »diese« Julia, sondern um Julia geht, deren Name Julia Häusermann lautet und die in einem Stück sich selbst darstellt. Gefragt wird nach der »Person« der Schauspielerin. Diese Person »gibt es«, indem sie in Unterscheidungs- und Vergleichsordnungen eintritt. Unmittelbar gibt es sie nicht. Würde das Publikum denken, am Ende der Aufführung der Individualität der Darsteller gerecht geworden zu sein, hätte es den organisierten Rahmen des Theaters vergessen. Es wäre dem Fehlschluß erlegen, es ginge um das Individuum in seiner nicht repräsentierbaren Besonderheit. Das Stück jedoch verweist auf die Verwechselbarkeit von Allgemeinem und Besonderem. Unverwechselbar ist Julia – wie alle anderen Darsteller –, indem sie als »Diese« mit ihrer Figur und den anderen Figuren und Darstellern verglichen wird. Im Theater Jérôme Bels ist ihre Besonderheit eine allgemeine, weil sie, mehr vielleicht als im klassischen Theater, eine besondere bleibt. Diese besondere Besonderheit resultiert aus Unterscheidungen, die am Körper der Schauspielerin ansetzen, aber Register kultureller Unterscheidungen aktivieren, die sich in Erfahrungs- und Reflexionsprozessen des Publikums realisieren. Paradoxerweise sehen wir Individualität im 139 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Inszenierte Individualität

Theater, weil es Exemplarisches vorführt. Indem Darsteller sich in der Differenz von Körper, Name, Alter und Beruf vorstellen, verweisen sie auf ihr Personsein: Es sind Schauspieler einer Theatergruppe, mit Körper und Geist, die, markiert durch soziale Etikettierungen, als nichtnormal unterschieden und klassifiziert sind. Individualität »hat« man nicht, man wird individualisiert – und trägt dazu bei, indem man sich selbst vergleicht und vergleichbar macht. Unterscheidungen kommen zur Anwendung. Oder nicht. »Disabled Theater« führt diese Verschränkung von Unterscheidungsordnungen vor. Eine weitere Grenze fällt dabei ins Auge, die sich ebenfalls dem organisierten Kontext »Theater« verdankt: Der inszenierte Prozeß des Stückes gelingt, wenn er sich in gesellschaftlich sedimentierten Unterscheidungsregistern des Publikums festhakt. Dort muß er reflexiv Unterscheidungen aktivieren, um unbefragte Erwartungen, die plötzlich mobilisiert werden, vergleichbar zu machen. Gelingt das, wird die Grenze zwischen Bühne und Publikum so gekreuzt, daß unklar wird, ob es in der Inszenierung um die Schauspieler, deren Personsein, deren Individualität, um die Zuschauer oder um den kulturellen Kontext verfügbarer Wahrnehmungs- und Unterscheidungsregister geht. Identität erscheint als Arbeit an Unterscheidungen. Sie steht, im Theater explizit, auf dem Spiel.

4.

Versuchsanordnung: Disabled Theater II

Kehren wir zurück zum Stück. Die nun folgende Aufgabe für die Darsteller steigert die Sichtbarkeit von Unterscheidungen um einen weiteren Grad. Der Assistent kündigt an, sieben der Schauspieler seien aufgefordert worden, eine Performance zu zeigen, die sie zu einem selbst ausgewählten Musikstück eigenständig choreographiert hätten. Etwas Selbstgemachtes, sozusagen, an dem nun die Besonderheit der Einzelnen direkt hervortritt. Wieso jedoch soll im Theater vergleichend gezeigt werden, was einzelne Menschen, ohne Regie, selbst zeigen möchten? Ist es nicht zynisch, Behinderte in ihrer Individualität vergleichbar zu machen, indem ihre unvergleichlichen Leistungen unterscheidbar werden? Würde man das von Nichtbehinderten auch verlangen? Könnte man so etwas überhaupt interessant finden? Außerdem fragt sich das Publikum, warum nur sieben von elf? Wie lauteten die Auswahlkriterien? Ist die Selektion so zu verstehen, daß vier Darsteller den Anforderungen nicht gerecht werden konnten? 140 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Versuchsanordnung: Disabled Theater II

War, was sie zeigen wollten, so schlecht, daß Jérôme Bel sie schützen mußte? Unmut schleicht sich in diese Fragen: Darf man das? Zwischen Darbietungen Behinderter eine Auswahl treffen? Wer sich das fragt, kann sich auch fragen, ob man überhaupt Leistungen Behinderter bewerten darf. Wenn aber nicht – wäre das nicht eine eklatante Art der Diskriminierung? Schlüge Individualität, so gefaßt, nicht in Stigmatisierung um? Die folgenden Darbietungen stellen das Publikum auf die Probe. Gewohnt, Theatervorstellungen irgendwie zu beurteilen, scheitern Urteilskriterien, wie es den Anschein hat, in diesem Fall. Nach ästhetischen Maßstäben erscheinen die Vorstellungen auf den ersten Blick zweifelhaft. Wenn zu Popmusik klischeehafte Gesten von Sängern eher unbeholfen imitiert werden, wirkt das ungelenk, sofern es nicht in den Mantel der Spielfreude gehüllt wird, die da gerade bei einem Behinderten sichtbar wird. Doch behalten solche Urteile einen schlechten Geschmack. Sie wären allzu pädagogisch. Außerdem würden sie die Aussage »Ich bin Schauspieler« ins Lächerliche ziehen oder nicht ernst nehmen. Daß es zumindest vorschnell wäre, einer solchen Deutung zu folgen, wird klar, als Remo Beuggert eine witzige, rhythmisch exzellente Nummer mit einem Stuhl präsentiert. Alle zehn Mitspieler reagieren auf die packende Musik. Peter Kellers Auftritt beweist erneut Humor: Zu dem Volksmusiklied »Du bist mein Stern« vollführt er linkische Bewegungen und tapsige Drehungen, die dem Verdacht, es hier mit Kitsch zu tun zu haben, eine ironische Tönung verleihen. Lorraine Meiers Tanzdarbietung zu »Dancing Queen« hingegen arbeitet mit einem rührend anmutenden Kontrast zwischen der Welt von Video-Kultur und populärer Tanzästhetik einerseits und Versuchen, diese zu kopieren, andererseits. Lorraine Meier imitiert Modelle, denen sie nicht gerecht wird. Allerdings ist dieser Kontrast nicht typisch für Behinderte. Den meisten Zuschauern würde es kaum anders ergehen. Eher macht die Inszenierung auf die Funktion kultureller Typen und Modelle aufmerksam, die in unserem Sehen und Bewerten wirksam sind. Ist womöglich das Bewertungsschema für »Behinderung« analog zu popkulturellen Typisierungen gelagert? Was ist Vorbild und was Nachbildung? Wenn schlechte Kopien von Typen und Modellen bei anderen Menschen peinlich wirken – warum fällt uns so selten auf, wie wenig die meisten von uns diesen Modellen selbst genügen? Aber weshalb bemerken wir diese Diskrepanz sofort, wenn wir Behinderten zusehen, die Aufgaben zu erfüllen versuchen? 141 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Inszenierte Individualität

Exemplarisch verdichten sich diese Fragen bei Julia Häusermanns Performance. Sie bewegt sich zu Michael Jacksons »They don’t care about us«. Im Video zu Jacksons Song aus dem Jahr 1996 – das im Theater nicht gezeigt wird – tauchen Ausschnitte anderer Videos auf, beispielsweise von den Rodney-King-Unruhen 1992 in Los Angeles. Zum Teil sorgten sie in den Massenmedien für Aufruhr. Gewalt wird im Video in vielfältiger Weise ausgeübt. Polizisten, Ku-Klux-Klan, Soldaten und wehrlose Menschen werden gezeigt, schließlich Gefangene, an langen Tischen sitzend und, im Zentrum von allen, ein Michael Jackson mit Handschellen. Sein rhythmischer Song kreist um den Refrain »All I wanna say is that/They don’t really care about us«. Im Genre der Popkultur geht es um Gewalt und fehlende Zuwendung gegenüber Schwachen, Unterdrückten und Gefangenen. Indem Julia Häusermann diese Musik zur Grundlage ihrer Performance macht, ruft sie Assoziationen des Songs und, noch deutlicher, des Videos auf. Ihr Tanz ist engagiert, sie verausgabt sich offenkundig, imitiert Jacksons Bewegungen – auch dessen obszönen Griff in den Schritt – und akzentuiert damit Kontraste zwischen Vorbild und Nachbild. Um so mehr stellt sich beim Publikum die Frage ein, warum dieser Song im Theater zum Einsatz kommt. Offensichtlich ist die Schauspielerin Julia Häusermann, schon wegen ihrer physischen Konstitution, nicht in besonderer Weise geeignet, den androgynen, schlanken, sich zackig bewegenden Michael Jackson zu kopieren. Eine peinliche KaraokeNummer also? Nicht, wenn der Kontext des Songs und der Refrain in Betracht gezogen werden. Gerade die vordergründige Plumpheit, die, in Verbindung mit der anrührenden Intensität von Julia Häusermanns Tanz, ihr »Handicap« sichtbar machen, verweist auf den Protest gegen Benachteiligung, von dem der Song handelt. Bezieht sich »They don’t care about us« nicht auch auf Behinderte? Ist nicht sogar der Protest gegen Benachteiligung wiederum zum konsumierbaren Stereotyp geworden? Es verkauft sich gut als Pop-Song. Haben nicht auch Zuschauer solche Stereotype im Kopf, wenn sie versuchen zu beurteilen, was Behinderte ihnen auf einer Bühne vorführen? Müßten sie dann vielleicht auch die Thematisierung der Benachteiligung von Behinderung im Theater als »Pop«-Stereotyp betrachten? Warum ist, was »Disabled Theater« zeigt, kein sozialpädagogischer Kitsch? Wer sich auf diese Fragen einläßt, fragt nach der Grenze zwischen Populärkultur und Kunst. Sie könnte, wie die weitere Inszenierung demonstriert, im Umgang mit der Reflexivität von Unterscheidungsformen liegen. 142 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Versuchsanordnung: Disabled Theater II

Was sollen wir über das Stück denken, das wir sehen? Eben diese Frage stellt Jérôme Bel nun seinen Schauspielern. Sie sollen kommentieren, was sie tun. Antworten reichen von »speziell«, »Ich weiß nicht so recht« über »Es ist direkt«, »Meine Rolle in diesem Stück ist es, ich selbst zu sein, niemand anderes« und »Es ist gutes Theater« bis zu »Meine Mutter sagt, daß es eine Art Freak-Show ist. Aber mir hat es gefallen« (Damian Bright). Wohl die meisten Zuschauer würden ihren Eindruck in diesem Spektrum abgebildet sehen. Doch um diese Ambivalenzen »gut« zu finden, bedarf es einer Unterscheidungspraxis, die die Theatersituation einbezieht, statt davon auszugehen, im Theater werde bloß etwas gezeigt. Matthias Brücker formuliert das pointiert: »Es ist super. Meine Eltern denken anders darüber. Sie mögen es nicht. Nach der Vorstellung hat meine Schwester im Auto geweint. Sie sagt, wir seien wie Tiere im Zoo.« Applaus brandet auf. Warum? Schließlich der ironische Abschluß: Jérôme Bel, erklärt der »Assistent«, entschied, die Soli zu zeigen, die er nicht ausgewählt hat. Im Publikum ist heitere Erleichterung zu spüren. Offenbar war die Selektion doch nicht so hart. Warum wurde sie dann angedeutet? Um dem Publikum erfahrbar zu machen, wie es auf die vermeintliche Selektion der Leistungen behinderter Schauspieler reagiert? Oder vielleicht aus pädagogischen Gründen? Wenn das der Fall sein sollte – warum wird dann diese pädagogische Entscheidung zu einem konstitutiven Element der Inszenierung? Wäre dem Publikum womöglich egal, ob es sich um eine pädagogische Entscheidung handelt, solange sein eigenes Empfinden, Behinderte besser nicht zu bewerten, respektiert bliebe? Doch weshalb dann ins Theater gehen? Schließlich haben wir es, wie alle Darsteller uns zu Beginn eingeschärft haben, mit Schauspielern zu tun. Ihnen das kritische Unterscheiden vorzuenthalten, wäre respektlos. Theater als Form würde nicht ernstgenommen, ginge es lediglich um das Ausstellen von etwas und eine eventuelle pädagogische Bestärkung des gut Gemeinten. Dann handelte es sich tatsächlich um eine »Freak-Show«. Matthias Grandjean beendet das Stück mit einer präzisen Tanznummer. Wie um letzte Zweifel an der Professionalität der Darstellungen zu zerstreuen.

143 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Inszenierte Individualität

5.

Inszenieren

»Disabled Theater« verwendet Unterscheidungen zwischen Schauspielern, Rollen und Individuen so, daß die Inszenierung als Arbeit des Unterscheidens sichtbar wird. Geleistet wird diese Arbeit nicht nur auf der Bühne. Vielmehr setzt sie die Mitwirkung des Publikums voraus. Wir, die Zuschauer, sind es, die alsbald beginnen, sich zu beobachten, wie sie das Geschehen auf der Bühne beobachten. Sowenig Behinderte hier repräsentiert werden, so sehr sind sie auch Individuen, die durchaus Behinderung spielen: Es sind Schauspieler. Erst auf den zweiten Blick wird unterscheidbar, wo der Blick des Zuschauers sich selbst reflexiv unterscheiden muß, um nicht das auf den ersten Blick Sichtbare für das Dargestellte zu halten. Gleiches gilt für die Form des Stücks insgesamt. Unterscheidungen, die hier vollzogen werden, sind durch nichts anderes zu repräsentieren. Sie müssen vollzogen und gezeigt werden. Man kann nicht dasselbe auf andere Weise sagen. In diesem Theater gelangt etwas zur Sichtbarkeit, was erscheinen will, um unterschieden werden zu können. Wird es unterschieden, bestimmt es sich in dem Maße, wie Unterscheidungen an Eindeutigkeit verlieren. Stellen Behinderte Behinderte dar, werden sie mit der Figur, die sie spielen, verwechselbar, jedoch nicht identisch. Für das Publikum ist diese Differenz nicht ohne Schwierigkeiten mitzuvollziehen. Es neigt dazu, Behinderung, die auf einer Theaterbühne dargestellt wird, für bare Münze zu nehmen, ohne die Arbeit des Unterscheidens – die Inszenierung – in das Sehen einzubeziehen. Daraus resultieren Unsicherheiten in der Bewertung: Darf man applaudieren? Worüber lacht man? Was unterscheidet »Behinderung«? Am Körper des Behinderten wird Anderssein real, das sonst im Theater gespielt wird. Ist jedoch Behinderung nicht eindeutig auf der Oberfläche des Erscheinenden sichtbar, wird die Arbeit des Unterscheidens bewußt, die leisten muß, wer Behinderung zu bestimmen versucht. »Disabled Theater« präsentiert Behinderung als erlernte Unterscheidungsform. Unverzichtbar hierfür ist die Präsenz des Körpers der Schauspieler. Im Film wären ähnliche Effekte schwer zu erzielen. Ohne diese Präsenz würde ein Kreuzen der Grenzen zwischen Akteur, Individuum und Publikum, würde auch die Verschränkung kognitiver mit affektiven Unterscheidungen nur schwer gelingen. In »Disabled Theater« sehen nicht nur Zuschauer Darsteller; sie werden von diesen auch angeblickt. Zuschauer wissen um ihr Gesehenwerden 144 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Inszenieren

als Zuschauer. Das erklärt manche Unsicherheit im Publikum, wie es reagieren soll. Es weiß, daß es in seinen Reaktionen beobachtet wird – von jedem einzelnen – und weiß zugleich, daß es nicht genau weiß, was es sieht: Die Darsteller sind behindert, und doch spielen sie Behinderte. Was sie zeigen, ist nicht identisch mit dem, was sie sind, obgleich sie eben zeigen, und nicht nur spielen, was sie sind. Sie »haben« nicht etwas – zum Beispiel Down-Syndrom –, sie sind etwas, das benannt und unterschieden wird, um in bestimmter Weise dargestellt und verglichen werden zu können. Wie im Theater. Was immer schon unterschieden ist – Normalität und Behinderung – wird als Unterscheidungsleistung vorgeführt, die in sozialen Kontexten gelernt wird. Darum fällt es dem Publikum nicht leicht, das Gesehene als Theater zu unterscheiden. Wird diese Schwierigkeit bemerkt – wie können wir unterscheiden, inwieweit der Mensch auf der Bühne Behinderung spielt, wenn er doch behindert ist? – werden die Zuschauer ebenso auf sich selbst aufmerksam wie auf das Bühnengeschehen. Durch die betonte Abwesenheit des Regisseurs wird dessen Anwesenheit als desjenigen unterstrichen, der unterschieden hat und Unterscheidungen anbietet, die das Publikum zu eigenen Unterscheidungen herausfordern. In der Unterscheidungsarbeit auf der Bühne spiegelt sich die Suche nach angemessenen Unterscheidungsfindungen im Publikum. Peinlich mag bewußt werden, daß zunächst für bare Münze genommen wurde, was doch Inszenierung war. Die Form des Stücks arbeitet mit Vergleichen, die auch den Vergleich zwischen Weisen einschließt, Behinderung zu sehen. Es ist unvermeidlich, zu vergleichen. Vergleichen ist Form der Kultur, mit deren Hilfe Verschiedenes ähnlich und Ähnliches verschieden gemacht wird. Unter anderem Individualität und Person. Über solche Differenzen kann niemand einfach hinwegsehen. Faktisch nicht im Theater, außerhalb des Theaters nur im Modus von Takt. Takt wiederum ist taktvoll zu dosieren, kann er doch diskriminierend sein, weil er offensichtlich ignoriert, was offensichtlich ist. Resultat dieser Operation des Unterscheidens und Vergleichens ist nicht etwa, das Was des Behinderten oder seiner Behinderung zu erfassen. Im Gegenteil: Wir beobachten einen Prozeß der Individualisierung als einer Verwechselbarkeit von Besonderem und Allgemeinem. Individualisierung – nicht: Individualität – entspringt Praktiken des Unterscheidens und Vergleichens. Individuen werden gemacht. Einzelne Körper sind daran ebenso beteiligt wie kulturelle Muster, soziale Erwartungen, Etikettierungen, Verfahren der Dokumentation 145 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Inszenierte Individualität

und des Vergleichens, Organisationen und Empfindungen. 16 Je mehr verglichen wird, desto individueller wird das Unterschiedene. Statt größere Allgemeinheit zu erzeugen, entsteht im Vergleich Besonderheit. Das Ensemble von HORA und Jérôme Bel wiederholen nicht einfach die immer gleiche Operation. Sukzessive lassen sie das Konkrete des Besonderen hervortreten. Unterscheiden geschieht als Vergleichen, das sich auf seine eigenen Differenzierungen rekursiv bezieht. Zuschauer bemerken das an sich selbst. Im Kontext des Theaters führen Wiederholungen zu Individualisierungen statt zu Allgemeinheiten im Sinne von Begriffen oder Definitionen. Individualisierung bedeutet nicht, Unterschiedenes sei unvergleichbar. Theater wird als organisierte Form bewußt, Unterschiede herzustellen und Individuelles als Vergleichbares sichtbar zu machen. Das gelingt auf der reflexiven Ebene des sich seines Sehens bewußt werdenden Publikums. Theater ist der Kontext einer Vergleichs-Ordnung, die Reflexivitäten des Unterscheidens erzwingt, mit denen kulturell eingespielte Unterscheidungen als kontingente Formen sichtbar werden. Diese Reflexivität unterscheidet Julia Häusermanns Performance zu Michael Jacksons Song von Kitsch: Es ist eine Verwandlung von Unterscheidungsformen in neue Kontexte. Weniger im Körper des Behinderten wohnt die Behinderung als in Unterscheidungsregistern, mit denen Behinderung – und damit vermeintliche Normalität – unterschieden wird. Natürlich heißt das nicht, es gäbe keine Behinderung. Julia Häusermanns Weinen erscheint so gespielt wie echt. Was wir sehen, ist eben deshalb Theater, weil es mehr als Theater ist. Betrachten wir »Disabled Theater« als Inszenierung der Form von Behinderung – unterscheiden wir es mithin als Darstellung der Reflexion der Form –, realisiert diese Form sich nach und nach in einer Gleichzeitigkeit von Unterscheidungsmöglichkeiten im Modus der Reflexion. Gleichzeitigkeiten möglicher Formen des Unterschiedenwerdens erscheinen erst in der Zeit des Stückes und nur für uns, die anwesenden Zuschauer. Am Ende des Stückes haben wir einen Vgl. dazu die Studien von Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (1963). München 1973; Ders.: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (1961). Frankfurt/M. 1973; Ders.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975). Frankfurt/M. 1977; Ders.: Sexualität und Wahrheit Bd. 1: Der Wille zum Wissen (1976). Frankfurt/ M. 1981; Ders.: Sexualität und Wahrheit Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste (1984). Frankfurt/M. 1986; Ders.: Sexualität und Wahrheit Bd. 3: Die Sorge um sich (1984). Frankfurt/M. 1986.

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Inszenieren

Prozeß des Unterscheidens und des Bemerkens von Gefühlen – wie Anteilnahme, Unsicherheit, vereinzelt vielleicht sogar Beschämung über voreilige Unterscheidungen – durchlaufen, der nicht einfach in einem Resultat endet. Unterschiedenes hat sich nicht zu einem transparenten Bild geordnet, in dem Widersprüche beruhigt wären. Damit verweist das Theater auf eine alternative Form des Inszenierens von Unterscheidungsprozessen, nämlich Hegels Modell einer Phänomenologie des Geistes. Theater und Philosophie werden als komplementäre Reflexions- und Darstellungsformen vergleichbar. Hegels Reflexionen zur Bildungsgeschichte des Geistes und zum Werden des Absoluten wählen die Form des philosophischen Bildungsromans. Endet Hegels Phänomenologie mit einer Transparenz, die eine Wiederholung des Weges unnötig macht, weist »Disabled Theater« darauf hin, daß dieser Weg immer aufs neue zu bahnen ist. Hegels Phänomenologie steht insofern in der Tradition Descartes’, als der Weg des Bewußtseins zum Wissen nur einmal beschritten zu werden braucht. Das jedoch ist eine Fiktion der Theorie, die ihre Arbeit des Unterscheidens für eine Praxis hält, die in eine Zeitlosigkeit selbstreflexiven Unterschiedenwordenseins mündet. Theater erweist sich als eine Form des Schauens – der Theoria –, die mehr und anderes ist als reines Wissen. Darin gleicht sie einer Arbeit der Philosophie, die sich ihre Wege immer aufs neue bahnen muß. An überzeitlichen Kategorien findet sie keinen Halt. Die Form logischer Widersprüche, der Hegels Weg folgt, bleibt ihr verdächtig, weil sie die Vielfalt der phänomenalen Welt allzu sehr einebnet. Unterscheidungen wie die in »Disabled Theater« zeigen sich als performative Formen, zu deren Wirklichkeit wesentlich die Reflexivität gehört, zwischen Unterscheidungsmöglichkeiten zu unterscheiden, ohne sie in reinem Wissen aufzuheben. Theorieansprüchen genügen Formen als Prozesse, die zugleich Erfahrung und Reflexion realisieren. HORA demonstriert in »Disabled Theater«, daß keine Unterscheidung je fertig ist. Werden Unterscheidungsformen, die kulturell eingespielt sind wie diejenige von Normalität und Behinderung, einfach wiederholt, machen sie gleich, was zu unterscheiden war. Betrachten wir jedoch die Rekursivität des Unterscheidens als Verschiebung des Kontextes des Unterscheidens – wie im Theater –, wird in der Wiederholung die Verschränkung unterscheidbarer Unterscheidungen reflexiv sichtbar. Das gilt nicht nur für das Geschehen auf der »Bühne«, es bezieht die Grenze zwischen Bühne und Publikum ein. Der Mythos, dem das Publikum in »Disabled Theater« folgt, ist dessen eigene Erfahrungs147 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Inszenierte Individualität

geschichte mit unsicher werdenden Unterscheidungen. Grenzen erweisen sich als konstitutiv unscharf. »Klarheit« und »Distinktheit« bieten keine unbezweifelbaren Kriterien für Bestimmtheit. Wege der Reflexion folgen den Phänomenen. Stets aufs neue sind sie zu bahnen. Darin unterscheidet sich eine philosophische Praxis der Kulturreflexion von einer Reflexion der Logik und Phänomenologie des Geistes. An Stücken wie »Disabled Theater« läßt sich manches über Unterscheidungsformen und über Behinderung ablesen, ohne ein Modell des Ganzen gewonnen zu haben. Je aufs neue stimulieren sie reflektierte Transformationen von Erfahrung. Bei dem nächsten Unterscheidungsproblem wäre von vorn zu beginnen. Nicht Gesellschaft als ganze wird in solchen Darstellungen sichtbar. Es geht nicht um eine Phänomenologie »der« Erfahrung oder »des« Geistes. Jede Erfahrung verlangt besondere Unterscheidungen. Reflexivität in diesem Sinne benötigt mimetische Verhältnisse zu ihrem Gegenstand. Weniger mit Logik muß sie sich nähern als mit einer Aufmerksamkeit für Unterscheidungen, die zu treffen unumgänglich ist. Unterscheidungen sind nicht per se logisch. Ihre Ursprünge sind vielfältig, ihre Reichweite schwer abschätzbar, ihre Begründungen oft zweifelhaft, ihre empirische Unterscheidungskraft manchmal schwach. Wie im Falle der »Behinderung«. Sichtbarmachen des Verborgenen kann deshalb nicht nur bedeuten, einen Schleier wegzuziehen, um aufgeklärte Beobachtung an die Stelle des Vorurteils zu setzen. Es wäre auch nicht damit getan, etwas zu zeigen, wie es erscheint. Bloßes Hinstarren wäre so verfehlt wie die Suche nach einer Logik des Erscheinenden jenseits seines Erscheinens als eines Unterschiedenwerdens. Erforderlich ist das Schaffen von Kontexten, in denen ein Sich-zeigen von etwas möglich wird, das doch ohne ein Ziehen von Grenzen nicht unterschieden werden kann. Theorie ist Arbeit am Unterscheiden. Wie das Theater. Dieser paradoxen Aufgabe entspricht »Disabled Theater«. Theater entfaltet sich als performative Unterscheidung, die sehen läßt, was außerhalb des Theaterkontextes schwer zu sehen ist. Zu dessen Sichtbarkeit gehört, Wechsel der Kontexte des Sichtbarwerdens im Bewußtsein zu halten. Vielleicht ist es eine der wichtigsten Leistungen dieses Theaters, die Grenze zwischen Theater und Gesellschaft als eine zugleich reale, artifizielle und performative Grenzziehung hervorzuheben, die kreuzen muß, wer mitentscheiden will. Wer »Disabled Theater« gesehen hat, wird deshalb nicht ohne weiteres »besser« imstande sein, auf behinderte Menschen zu reagieren. Darin bleibt auch dieses Theater 148 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Inszenieren

theoretische Praxis. Die Praxis dieses Theaters besteht im Ziehen von Unterscheidungen und in der Reflexionsarbeit an der Form des Performativen. Formen sind, weil sie Unterscheidungen entfalten, nicht unschuldig. An der Unterscheidung von behindert/normal springt das ins Auge. Aber sie sind auch nicht schuldig in einem religiösen oder moralischen Sinne. Es sind Formen, mit denen Kultur ihre Welt ordnet. Deshalb sind sie massiv und dennoch kontingent. Angesichts des Fragmentarischen allen Unterscheidens wird Kultur konkret. Fragmentarisches, Unabgeschlossenes, Zeitverhaftetes und Perspektivisches in der Arbeit des Unterscheidens ermutigen und nötigen dazu, weitere Unterscheidungen einzuführen. Solche Unterscheidungen sind empirisch statt logisch motiviert. Während eine dialektische Phänomenologie, wie Hegel sie entfaltet, ihre Unterscheidungen an der Form der Logik kontrolliert, kann eine empirische Phänomenologie der Form Unterscheidungspfade weder logisch limitieren noch kontrollieren. Fragmentarisches ist nicht bloß Unvollständiges; es ist eine Form des Konkreten. Wäre Konkretes bloß konkret, wäre es auf bedrohliche Weise unendlich, denn es wäre nicht vergleichbar. Ohne Vergleichbarkeit wäre es nichts. Doch ist das Theater eine Gelegenheit, Konkretes zum Individuellen zu bestimmen, indem es durch Register des Allgemeinen hindurchgeleitet wird. Hier wird verwechselbar, was ansonsten falsch identisch wäre. Etwas zu verwechseln kann deshalb, im Theater, heißen, die Differenz der Unterscheidungen als Optionen reflexiv in den Blick zu nehmen, die ansonsten unbefragt fungieren. Bleiben sie latent, steht das Spiel um Identität in den Arenen des Sozialen nicht zur Disposition. Dazu bedarf es einer Grenze, die unter anderem das Theater zieht. Weil sie organisiert ist, kann diese Grenze Rollen, Identitäten, Personen und Individuen, Schauspieler und Publikum trennen und deshalb aufeinander beziehen. Auf dem Spiel steht immer wieder die Gegenwart. Theater erprobt Unterscheidungsregister, deren Unbefragtheit außerhalb des Theaters die Sicherheit einer Welt bloß suggeriert. Im Spiel der Unterscheidungen wird unentscheidbar, ob es hier um Stile des Glaubens, des Erkennens oder der Erfindung geht. »Das Theater ist mir immer wie die Übung einer gefährlichen und schrecklichen Handlung erschienen, wo übrigens die Idee des Theaters und des Schauspiels ebenso verschwindet wie die jeder Wissenschaft, jeder Religion und jeder Kunst.« 17 Artaud, A.: Das Theater und die Wissenschaft (1948). In: Ders.: Schluß mit dem Gottesgericht / Das Theater der Grausamkeit. München 2002, S. 71–76, hier S. 71.

17

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Ungleiche Gleiche

1.

Öffentliche Bilder

1.1

J. Edgar Hoover

Achtundvierzig Jahre lang war J. Edgar Hoover Chef des FBI. Ein halbes Jahrhundert besaß er überragende Bedeutung für die US-amerikanische Öffentlichkeit. An seiner Person und seinem Verständnis von Öffentlichkeit und Amt entzündeten sich Debatten über das Verhältnis von Freiheit und Staat. Noch nach seinem Tod blieb er eine die Öffentlichkeit faszinierende Figur. Clint Eastwood hat mit »J. Edgar« (2011, 137 Minuten) eine Fallstudie über das Verhältnis von Amt und Person in einer Gesellschaft gedreht, die sich als freie Gesellschaft versteht. Ein Thema des Films ist das Verhältnis von Amt und Person in Relation zum Verhältnis von Öffentlichkeit und Massenmedien. Zu diesen Medien gehört das Kino, in dessen Format Eastwoods Darstellung angefertigt ist und in dem die Relation des Kinos zu anderen Medien wiederum thematisiert wird. Von 1924 bis 1972 leitet Hoover die amerikanische Bundespolizei. Von Anfang an ist das FBI mehr als eine Organisation zur Durchsetzung des Rechts. Es dient der Durchführung illegaler Aktivitäten und der politischen Kriegsführung. 1 Hoover kennt und dokumentiert Geheimnisse und Schwächen von acht amerikanischen Präsidenten. Sexuelle Neigungen von Eleanor Roosevelt werden ebenso protokolliert wie das Bettgeflüster John F. Kennedys. Nach jedem Präsidentenwechsel verläßt Hoover mit neuen Kompetenzen das Weiße Haus. Auf seine Initiative hin wird die Polizeiarbeit auf wissenschaftliche Grundlagen gestellt. Ihm gelingen Erfolge gegen das organisierte Verbrechen. Hoovers Leidenschaft für das Datensammeln und seine Furcht vor kommunistischen Verschwörungen lassen ihn über Per1

Vgl. Weiner, T.: FBI. Frankfurt/M. 2012.

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Öffentliche Bilder

sonen des öffentlichen Lebens Dossiers anlegen. In den 1930er Jahren entwickelt das FBI sich unter seiner Führung zu einer Organisation, die systematisch die amerikanische Bevölkerung bespitzelt. Unter Präsident Roosevelt baut Hoover das FBI von einer Polizeiorganisation zu einem Geheimdienst aus, der auf dem Boden der USA ebenso wie im Ausland tätig ist. Der Kongreß ist über Hoovers Aktionen gar nicht oder allenfalls unvollkommen im Bilde. Zeit seines Lebens beruft Hoover sich bei seinen illegalen Aktivitäten auf eine zeitlich unbefristete mündliche Anweisung Roosevelts, Geheimoperationen gegen Feinde Amerikas durchzuführen. Eine schriftliche Fassung dieser Direktive existiert nicht, und auch Hoover hat nicht deren Wortlaut notiert, sofern es eine solche Direktive gegeben hat. 2 Richard Nixon wird vor dem Watergate-Untersuchungsausschuß aussagen, was Hoover ihm über seine Maßnahmen erzählte, um dem Parlament gegenüber nicht lügen zu müssen: Einen Monat, bevor die Anhörung vor dem Bewilligungsausschuß anstand, wurden illegale Abhöraktionen unterbrochen, so daß Hoover die Frage, ob abgehört werde, verneinen konnte. 3 Nixon, der bis zu einem gewissen Grade ein politischer Freund Hoovers war, wurde bei seiner Amtsübernahme vom FBI-Direktor gewarnt, Telefonate des Weißen Hauses würden abgehört. Angst vor Kommunisten und Vorbereitungen auf den Krieg motivieren alle Maßnahmen als scheinbare Verteidigung amerikanischer Unabhängigkeit. Im Namen der Freiheit entsteht im Laufe der Jahre eine Praxis tendenziell totaler Überwachung. Sogar auf die Spitze des politischen Systems, den Präsidenten, übt Hoover Macht aus. 1945 bemerkt Präsident Truman, Hoover sei im Begriff, eine neue Gestapo aufzubauen. 4 Unter Präsident Eisenhower gehört Hoover dem Nationalen Sicherheitsrat an. Auf sämtliche politischen Strategien, die sich mit Fragen der Nationalen Sicherheit und der Bürgerrechte befassen, nimmt er Einfluß. 5 Lyndon B. Johnson setzt 1958 ein Gesetz durch, das Hoover bis an sein Lebensende die Position des FBI-Direktors garantiert. 6 Hoover weiß um die Bedeutung der Öffentlichkeit für die Dafür kursierten natürlich Gerüchte. Ein Gerücht lautet, daß Außenminister Hull Roosevelts Anweisung mit den Worten weitergab: »Nur zu, ermitteln Sie gegen die Schwanzlutscher.« Ebenda, S. 113. 3 Vgl. ebenda, S. 372. 4 Vgl. ebenda, S. 189. 5 Vgl. ebenda, S. 246. 6 Vgl. ebenda, S. 277. 2

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Ungleiche Gleiche

Schlagkraft seiner Organisation. Deren Wirkung ist von ihrer öffentlichen Wahrnehmung und diese von ihrem Marketing schwer zu trennen. Es geht um die Kontrolle öffentlicher Bilder. Er ist sich nicht zu schade, sich als Comicfigur auf Cornflakes-Packungen abbilden zu lassen, um die Popularität des FBI zu fördern. In den Zeiten von Prohibition und Depression erlebt das Verbrechen in den USA eine Blüte. Hollywood bringt populäre Gangsterfilme auf den Markt. Edward G. Robinson und James Cagney verkörpern im Kino heroische Kriminelle. Oft erscheint die Polizei in diesen Filmen hilflos gegenüber der Macht des Verbrechens. Hoover möchte dieses öffentliche Bild korrigieren. Erzeugt wird es nicht zuletzt im Kino. Dank geschickter Propaganda wird Hoover nach und nach zum genialen Gegenspieler berühmter Verbrecherfiguren wie John Dillinger, »Machine Gun« Kelly oder »Baby Face« Nelson aufgebaut. Der Journalist Courtney Ryley Cooper erschafft mit seinen Artikeln im American Magazin ein neues Schema der Crime-Story. Bis heute begründet es den Mythos des FBI und beeinflußt dessen Selbstdarstellung. Diesem FBISchema zufolge ist die wissenschaftlich arbeitende Polizeiorganisation alles, der einzelne Detektiv nichts. An die Stelle des klassischen Meisterdetektivs soll eine arbeitsteilige Erzeugung von Fahndungserfolgen treten, die mit maschinenhafter Präzision zu Resultaten führt. Das FBI, träumt Hoover, ist die ideale Fabrik des Guten. Wie Frederick Taylor ein Scientific Management entwirft, das Effizienz bis in die kleinsten Bewegungen der Körper hineinträgt, will Hoover sein Büro zum Werkzeug der Produktion einer sauberen, von konservativen Wertvorstellungen der weißen Mittelschicht geprägten Gesellschaft formen. J. Edgar Hoover wird in der medialen Öffentlichkeit als Figur gezeichnet, die alle Fäden des »Büros« in der Hand hält und die Einsätze der Agenten managt. Das FBI geht dazu über, seine Fälle zu publizieren. Bücher und Fernsehsendungen entstehen. Hollywood, die damals wichtigste Mythenmaschine, greift das FBI-Schema, wie es von Hoover und Cooper entworfen worden war, in Polizeifilmen auf. G-Man-Filme präsentieren nun ein siegreiches FBI. Heldenhafte Agenten in guten Anzügen, mit blanken Schuhen und Hut, lassen Verbrechern keine Chance. Radio und Groschenhefte besingen die Legende des FBI und ihres Meisterdetektivs. Der Medienheld Hoover bemüht sich, seinem inszenierten medialen Bild gerecht zu werden. Persönlich beteiligt er sich an den Einsätzen des FBI, um den Gangstern Handschellen anzulegen: J. Edgar Hoover spielt in der Öffent152 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Öffentliche Bilder

lichkeit die Heldenfigur, die er in Groschenromanen bereits geworden ist und die es doch im Selbstverständnis der Fahndungsorganisation FBI eigentlich nicht mehr geben soll. 7 Spätestens jetzt, als Mythos der Populärkultur, sind Amt und Person des FBI-Chefs in den Augen der Öffentlichkeit verschmolzen. Die Wirklichkeit beginnt, sich nach inszenierten Bildern zu richten. Die Identifikation von Amt und Person existiert aber nicht nur in der medial geformten öffentlichen Wahrnehmung. Sie prägt auch das Selbstbild Hoovers. Er versteht sich als Hüter gesellschaftlicher Gesundheit und Moral, als Erzieher und Arzt der Menschen. Religion und Politik bilden für Hoover eine Einheit, über die seine Polizei zu wachen hat. Dazu muß sie alle einzelnen Bürger sehen. Schon bevor eine Straftat begangen wird, muß die Polizei die Gefahr entdecken und gefährliche Individuen aus dem Verkehr ziehen. In Verbrechern erblickt Hoover Exemplare degenerierter Natur. Die Organisation FBI wird mit dem strengen, alles sehenden Vater identifiziert, der zum Besten aller eine Diktatur der Gerechtigkeit ausübt. In einer Rede aus dem Jahre 1939 entwickelt Hoover seine Soziologie des Verbrechens und seine Pädagogik der Überwachung: »Das Buch der Geschichte handelt vor allem vom Aufstieg und Fall von Diktatoren. Es gibt drei Arten von Diktatoren. Zunächst gibt es jene, die ihren eigenen egoistischen Zwecken und ihrer Habgier dienen, indem sie unter der Tarnkappe einer Pseudo-Benevolenz operieren. Dann gibt es Diktatoren von der Art der verbrecherischen Erpresser, die durch Gewalt regieren und sogar Ideologien schaffen, die ihren Zwecken dienen und ihre Untaten rechtfertigen (…) Die dritte Art des Diktators ist den bereits erwähnten Arten genau entgegengesetzt. Es ist die Diktatur des Volkes, für das Volk und durch das Volk. In den Vereinigten Staaten nennen wir sie Demokratie – die Diktatur des Kollektivbewußtseins unseres Volkes. Wir könnten sie ebensogut Gerechtigkeit nennen, denn dafür steht Amerika.« 8 Hoovers »Kollektivbewußtsein« verweist auf eine Idee gesellschaftlichen Zusammenhalts, die an Emile Durkheims Vorstellungen erinnert. Von Zerfall sind Gesellschaften demnach bedroht, wenn kein Moralbewußtsein, das im Staat und dessen Organisationen verankert ist, anomischen Tendenzen

Vgl. Powers, R. G.: Die Macht im Hintergrund. J. Edgar Hoover und das FBI. München 1988, S. 199 ff. 8 Zitiert nach: ebenda, S. 232. 7

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Ungleiche Gleiche

Einhalt gebietet. Staatliche Autorität ist moralische Autorität. 9 So verkörpert auch die Macht des FBI die Macht des Guten gegen Kräfte des Bösen. Hoovers Vision einer guten Diktatur, die er als Demokratie der Gerechtigkeit begreift, kopiert Züge des von ihm verabscheuten Kommunismus. Die vermeintliche Moral der Organisation wahrt pädagogische Distanz zu der moralisch labilen Bevölkerung. Für deren öffentliche Wahrnehmung präsentiert sie sich mittels wohlkonstruierter Bilder. Von sozialen Ursachen des Verbrechens will Hoover nichts wissen. Für ihn bleibt der Einzelne verantwortlich für seine Taten. Der polizeiliche Blick ist medizinisch, moralisch und pädagogisch. Wach und mitleidlos dient er der Besserung der Gesellschaft. Hoover inszeniert sich als rastloser Arbeiter und asketisch lebender Wächter gesellschaftlicher Freiheit und Gesundheit. Er gibt sich als Aufseher über die moralische Integrität seiner Beamten. Kleidungsregeln schreibt er ihnen ebenso vor wie zulässiges Körpergewicht oder Haarlänge. Auch behält er sich vor, Eheschließungen zu genehmigen. Wirkliche Öffentlichkeit, unabhängige Beobachtung und dezentrale Macht sind Hoover zuwider. Im Laufe der Zeit wird J. Edgar Hoover zum Mythos – bewundert, gefürchtet und gehaßt. Über seine Person hingegen ist wenig bekannt. Sie umweht eine Aura des Geheimnisvollen. Vermutet und nicht selten hämisch kolportiert wird Homosexualität, Beweise dafür gibt es nicht. Eng ist Hoovers Verhältnis zu seiner ehrgeizigen Mutter nach Krankheit und Tod des Vaters. Geheiratet hat Hoover nie. Als Erben bestimmt er seinen langjährigen Stellvertreter Clyde Tolson. Möglicherweise war Tolson sein Lebenspartner. Mit ihm verbinden Hoover alltägliche Rituale wie das gemeinsame Mittagessen. In Begleitung Tolsons unternimmt er Reisen. Die beinahe fünf Jahrzehnte von Hoovers Amtsführung beSo spricht Emile Durkheim in seiner Vorlesung über Erziehung, Moral und Gesellschaft an der Sorbonne von 1902/1903 davon, daß Staat und Erziehung für die Moral einer Gesellschaft verantwortlich sind. »Denn wenn die Gesellschaft nicht jene Einheit besitzt, die die Folge ist, daß die Beziehungen zwischen ihren Teilen genau geregelt sind und daß eine gute Disziplin die Harmonie der Funktionen sichert, noch jene Einheit, die daher kommt, daß alle Willensanstrengung auf ein gemeinsames Ziel gerichtet ist, dann ist sie nur mehr eine Sandburg, die der geringste Stoß oder kleinste Wind über den Haufen wirft. Unter den gegenwärtigen Umständen muß man also vor allem den Glauben an ein gemeinsames Ideal zu erwecken suchen.« Durkheim, E.: Erziehung, Moral und Gesellschaft. Frankfurt/M. 1984, S. 149.

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Öffentliche Bilder

schreiben eine wichtige Periode amerikanischer Politik. Außen- wie innenpolitisch, militärisch, ökonomisch, sozial und kulturell erleben die Vereinigten Staaten tiefgreifende Veränderungen. Obwohl das Land eine Nation von Immigranten ist, grassiert die Furcht vor politischen Gefährdungen durch Einwanderer. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts, nach der russischen Revolution, spielt die Sorge vor vermeintlichen Bedrohungen Amerikas durch das Einsickern umstürzlerischer Elemente in die politischen Institutionen eine bemerkenswert kontinuierliche Rolle. Nach Erfolgen faschistischer Parteien in Europa und nach dem Beginn des Krieges gegen Japan und HitlerDeutschland weitet sich diese Phobie auf rechtsradikale Gefahren aus. Wie läßt sich gewährleisten, daß die richtigen Personen die wichtigen Ämter besetzen? Am Beispiel Richard Nixons und der Watergate-Affäre wird, nicht lange nach Hoovers Tod, in aller Öffentlichkeit deutlich, daß Verflechtungen politischer Führung mit illegalen Praktiken keine – oder nicht ausschließlich – Wahnvorstellungen Hoovers waren. Offensichtlich droht die Gefahr nicht nur von kommunistischer Seite. Für Hoover war selbstverständlich, daß der richtige Mann und nicht formale politische oder juristische Verfahren den Sieg des Guten über die Kräfte des Bösen garantiert. Organisation, Amt und Person werden in dieser Wahrnehmung, die Hoover auch auf sich selbst anwendete, eins. In der Watergate-Affäre machen Massenmedien sinistre Praktiken einer Regierung öffentlich, die demokratischen Prinzipien zynisch gegenübersteht. Hoovers FBI war daran nicht unbeteiligt. Auch die Jahre der Bush-Administration und die Ausweitung polizeilicher wie nachrichtendienstlicher Kompetenzen zur systematischen Kontrolle der Bevölkerung nach »9/11« zeigt, daß Hoovers Phantasien einen Traum der Macht und eine Vision der Kontrolle beschreiben, die nicht auf seine Person beschränkt waren. An der Person Hoovers und der Organisation des FBI stellen sich grundlegende Fragen nach der Funktion von Öffentlichkeit und Massenmedien in einer demokratischen Gesellschaft.

1.2

J. Edgar: Clint Eastwood

Auf diese Entwicklungen geht Clint Eastwoods Film nicht explizit ein, wenngleich der Zusammenhang von Organisation, Amt, Person, Öffentlichkeit und Medien ein zentrales Thema ist. Doch fordert er seine Zuschauer auf, Fragen nach Kontinuitäten und Differenzen von 155 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Ungleiche Gleiche

Hoovers Amtszeit bis in die Gegenwart zu stellen. Der Film inszeniert seine heutige Perspektive auf die Vergangenheit als Ermöglichung von Vergleichen in der Gegenwart. Diese Perspektive ist wiederum durch die mediale Darstellungsgeschichte aufgeladen. Sie reicht bis tief in die Geschichte des Kinos und dessen Typisierung der Polizeiarbeit hinein. Clint Eastwood legt seinen Film als Rückblick an. Zuschauer sehen und hören, wie Hoover (Leonardo DiCaprio) verschiedenen Assistenten seine Memoiren diktiert. Von Anfang an ist klar, daß ohne Hoovers eigene Perspektive auf das Verhältnis von Amt und Person keine Beobachtung Hoovers möglich wäre. Eastwood bedient sich einiger fiktiver Annahmen, um die Figur darzustellen. Es gibt offensichtlich keine reine Dokumentation des Gewesenen – weder grundsätzlich noch im Falle Hoovers. Tatsachen sind Fiktionen: Gemachtes. Im Kino wird das offensichtlich. Das heißt nicht, daß es keine Wahrheit gäbe – weder grundsätzlich noch im Falle des Kinos. Allerdings heißt Wahrheit, eine Darstellung zu geben, die mehr und anderes ist als die vermeintliche Repräsentation von Fakten. Erforderlich ist eine Reflexion, die Form und Inhalt verwechselbar hält, indem sie das Werden einer Unterscheidungsform entwickelt. Deshalb wäre es im Film unnötig – wenn nicht sogar falsch –, Faktentreue zu simulieren. Faktisches und Fiktives verschränken sich in einer Darstellung, die es der Gegenwart erlaubt, ein Verhältnis zu sich selbst zu gewinnen. Bereits ganz zu Anfang des Films macht Eastwood klar, daß seine Darstellung mit Kunstgriffen arbeitet. Zu diesen Kunstgriffen gehört unter anderem das Diktieren von Erinnerungen. Hoover hat keine Memoiren hinterlassen. Zu Beginn des Films diktiert Hoover, was einen Mann ausmacht, der ein Amt wie das seinige ausübt: »Das Vermächtnis eines Mannes besteht aus dem, was man nicht sieht.« Alles komme darauf an, »daß man klarmacht, wie der Schurke sich vom Helden unterscheidet.« Die Figur Hoover spricht zu einem Schreiber, der Literaturwissenschaft studiert hat. Im Film schreibt er als jemand, der um die Besonderheit des Wortes im Verhältnis zum Bild wissen muß, nieder, was man nicht sieht und nicht sehen soll. Wir sehen ihn als schreibende Figur in einem Film, dessen Hauptfigur, Hoover, viel Wert auf sein Gesehenwerden legt. Denn öffentliche Sichtbarkeit suggeriert ein Verschmelzen von Amt und Person, was wiederum, in Hoovers Augen, die Voraussetzung für die politische und pädagogische Wirksamkeit seiner Polizeiorganisation ist. Schreiben, das im Filmbild als Sprechen – als Diktat – begegnet, öffnet den Blick des Zuschauers auf Verborgenes. 156 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Öffentliche Bilder

Zugleich bestätigt es das Verbergen, beschreibt der Text doch im Nachhinein, was vielleicht gewesen ist und was den Mythos »Hoover« ausmacht. Eastwood wiederum zeigt in den Szenen des Diktierens, daß Hoover den Film, den wir sehen, nicht diktiert. Eine komplette Kontrolle der Bilder, die es über ihn gibt, hat er zwar angestrebt, aber nicht erreicht. »J. Edgar« ist eine Beobachtung anderer Art. Der Film fragt nach dem Verhältnis von Amt und Person, Text und Bild, Medien und Öffentlichkeit, ohne das zu tun, was Hoover für wichtig hält: eindeutige Unterscheidungen zwischen Helden und Schurken zu treffen. Hoovers Dramaturgie ist diejenige des Heldenfilms, in dessen Klischees er sich und das FBI gern inszeniert hat. Bis heute prägt sie den Polizeifilm. Aber Eastwood verweigert das Schema, mit dem Hoover das Verhältnis von Amt und Person öffentlich darstellen wollte. Es würde verdecken, worin das Problem der Unterscheidung besteht, nämlich das Ineinanderübergehen von Amt und Person. Rückblenden zeigen Episoden aus Hoovers Leben. Kameratechnisch (Tom Stern) und dramaturgisch (Buch: Dustin Lance Black) wird eine Identifikation des Zuschauers mit der Figur J. Edgars verhindert. Um ein Heldenepos geht es so wenig wie um die Entlarvung eines Neurotikers bzw. Paranoikers oder eines politisch Besessenen. Es wäre verharmlosend, Hoover als Opfer seiner Obsessionen zu betrachten. Daß er seine Mutter abgöttisch liebt und seine sexuellen Neigungen vor ihr verbergen muß, wird gezeigt, ist jedoch für die öffentliche Funktion der Person in ihrem Amt nicht entscheidend. Wir sehen vielmehr, wie wir beobachten. Daß wir beobachten, ist nicht davon zu trennen, was eine Kamera uns wie zeigt. Kamerabilder zeigen sich als Bilder im Kontext dramaturgischer Entscheidungen und der Montage von Perspektiven. Für Zeitschnitte gilt das ebenso wie für parallele Ereignisse oder unterschiedliche Blickwinkel. Die Einheit der Darstellung, die dieser Film ist, ist zugleich das Durchkreuzen einer scheinbaren Einfachheit der Sache. Was wir sehen, ist ein brillanter, ehrgeiziger, unter Zwängen leidender Mann, der sein Amt mit seiner Person so sehr in eins setzt, daß er sie miteinander identifiziert. Ohne Hoover kann Hoover sich sein Amt nicht mehr vorstellen. Sogar in den Augen der Öffentlichkeit sind Amt und Person derart miteinander verschmolzen, daß es keine »zwei Körper des Königs« beim FBI zu geben scheint. Selbstwahrnehmung und öffentliche Wahrnehmung kommen in dieser Fusion von Amt und Person überein. Über das Verhältnis von Mann und Institution sagt J. Edgar: »Beides ist nicht zu trennen. Der eine 157 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Ungleiche Gleiche

hat das andere erfunden und umgekehrt.« In Reklamesendungen und Werbespots der Wochenschau möchte Hoover erreichen, daß Kinder davon träumen, zum FBI zu gehen. Er weiß, daß Organisationen und Kulturen auf Mythen beruhen, die Inszenierung und Pflege brauchen. Medien sollen im Erzeugen von Öffentlichkeit verdecken, wie sie unterscheiden. »Das wahre Wesen unserer Demokratie ist in dem Glauben an den Wert des Einzelnen verankert.« Würden wir den Einzelnen als privaten Menschen sehen, zerbräche der Mythos makelloser Passung von Amt und Person allzu leicht. Verbergen ist nicht Lügen, denn vollständige Offenheit würde die Funktion des Amtes und der Organisation zerstören, weil sie ihre Legitimation untergraben könnte. John F. Kennedy dient im Film als Beispiel: Der Mythos dieses Präsidenten, den Hoover gehaßt haben muß, beruhte auf dem Verbergen persönlicher Schwächen und auf der medialen Inszenierung eines charismatischen Mannes in seinem Amt. Als FBI-Direktor hat Hoover sowohl Kennedy abgehört als auch den Mythos »JFK« gedeckt. Intern konnte er mit den Protokollen den Präsidenten und dessen Bruder Robert erpressen. Eastwoods Film untersucht, mit den Mitteln filmischer Fiktion, Relationen von Entdeckung und Verbergung. Hoovers Persönlichkeit ist von den Beziehungen zu seiner Mutter (Judi Dench), seiner Sekretärin (Naomi Watts) und seinem Stellvertreter Clyde Tolson (Armie Hammer) geprägt. Verzerrungen des Blicks, die Hoovers neurotische bzw. paranoide Persönlichkeit auf seine Umgebung mit sich bringt, werden geschildert. Seine Mutter, die lieber einen toten als einen schwulen Sohn wollte, bringt J. Edgar dazu, seine Homosexualität zu verleugnen. Clyde Tolson, der einzige Mensch, den Hoover, nach seinen eigenen Worten, im doppelten Sinne je gebraucht hat, ist die Liebe seines Lebens. Vermutlich scheitert sie an dem Amt, mit dem er verschmolzen ist. Im Film kann Hoover Tolson seine Liebe nur gestehen, als dieser, enttäuscht und wutentbrannt über seine demütigende Zurückweisung, bereits das Zimmer verlassen hat. Niemand hat – dem Film zufolge – Hoover gesehen, wie er privat gewesen ist. Wir, die Kinozuschauer, sind die ersten, die ihn als Menschen in der Einheit der Differenz von Amt und Person beobachten – im Medium der Fiktion und mit den Mitteln des Films. Einen Menschen zu sehen bedeutet, eine Darstellung anzufertigen. Diese Darstellung verwendet die Unterscheidung von Öffentlichem und Privatem, um die Besonderheit einer Person als Variante des Allgemeinen einer Welt und um das Allgemeine einer Welt als 158 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Öffentliche Bilder

Variante der Wirklichkeit einer Person zu unterscheiden. Für J. Edgar Hoover gilt das in exemplarischer Weise. Als Kinozuschauer sind wir aufgefordert, den Film als Unterscheidungsangebot zu betrachten. Unterscheidungsformen führt er vor, indem er deren Kontingenz in gezielter Fiktionalisierung auffängt, und lädt zum Vergleich mit der Gegenwart ein. Für Zuschauer gilt, was J. Edgar, am Fenster seines Büros stehend und auf die Amtseinführung von Richard Nixon blikkend, zu sich – und zum Publikum – sagt: »Wir dürfen niemals unsere Geschichte vergessen.« Weder erklärt noch verurteilt Eastwoods Film seine Figur. Er hütet sich davor, den Mann als pathologischen Einzelgänger zu zeichnen. Vielmehr beobachten wir an der Figur J. Edgars Obsessionen der politischen Kultur Amerikas. Hoovers Kommunistenhaß, den er früh erwirbt, ist nicht untypisch für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die Vereinigten Staaten von Angst vor kommunistischen Umstürzen, Feindseligkeit gegenüber Immigranten und sich verschärfendem Rassismus getrieben sind. Im Zweiten Weltkrieg und nach dessen Ende setzt sie sich fort und überlagert sich mit Widerständen gegen die Aufhebung der Rassengesetze. Hoovers Karriere – und der Film – beginnt mit dem Attentat auf Justizminister Palmer am 2. Juni 1919. Das Ereignis ist in gewisser Weise zufällig. Der Minister bleibt unverletzt, der Attentäter kommt ums Leben. Aber eine Kampagne gegen Radikale wird nun ins Leben gerufen, die Hoover bis an die Spitze des FBI führt. Seine Beschäftigung mit kommunistischen Gruppierungen und Ideen prägt seine politische Haltung und begründet seine Überzeugung, Experte für kommunistische Umtriebe zu sein. Mit Emma Goldman, der charismatischen Feministin und Anarchistin, gibt Hoover dem anonymen Feind öffentlichkeitswirksam ein Gesicht. Er stilisiert die damals fünfzigjährige Frau zum Kopf einer Umsturzbewegung. Hoovers Bild vom FBI und seiner eigenen Arbeit ist sorgfältig inszeniert. Es bedarf wiederum einer sorgfältigen Inszenierung, um den Bildern eine Darstellung entgegenzusetzen, die das Verhältnis von Amt und Person, Öffentlichkeit und Privatheit, Biographie und Zeitgeschichte reflexionsfähig macht. Ohne Darstellungen bleiben Darstellungen undurchschaut. Der Blick, den Eastwoods Darstellung eröffnet, ist schonungslos und gnädig zugleich. Eine Schlüsselszene zeigt Hoover nach dem Tod der abgöttisch geliebten Mutter. Fassungslos betrachtet er sich in deren Kleidern vor dem Spiegel. Aus dem mächtigen Mann ist hier, nur für Kinozuschauer sichtbar, ein verzweifeltes Kind geworden. Im Bild 159 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Ungleiche Gleiche

seiner selbst betrachtet es sich in den Kleidern der Mutter, die es angelegt hat, um sich mit ihr als der Person zu identifizieren, mit deren Augen es sich selbst gesehen hat. Und doch sieht es, wie der Kinozuschauer sieht, nur sein Spiegelbild, das es ist und doch nicht ist. Der Wunsch nach Einheit zerbricht an der Form, in der er erfüllt werden könnte: am Bild. Diese Differenz sehen Zuschauer im Kino als Bild über Bilder. Schließlich zerreißt J. Edgar die Kette seiner Mutter. Symbolisch sprengt er in seiner Verzweiflung und Einsamkeit ein Band, das ihn Zeit seines Lebens gehalten wie gefesselt hat. Der mütterliche Blick auf ihn, den Sohn, der für J. Edgar der wichtigste Blick seines Lebens war, in dem er sich gespiegelt hatte, war blind für seine Homosexualität. Im Blick seiner Mutter begegnet der Sohn nun einem Zerrbild seiner selbst. Im Spiegel schaut er Verzerrungen im Verhältnis zu seiner Mutter und zu sich selbst an. Um ein »Mann« zu werden, der nicht so enden sollte wie sein schwacher, kränklicher Vater, durfte der Sohn nicht der Mann werden, der er doch, sexuell gesehen, im Film war. Vielleicht war darum, läßt der Film fragen, Hoovers Sensibilität für die Bedeutung des Gesehenwerdens so ausgeprägt? Angefangen mit der Sorgfalt, die J. Edgar auf die Auswahl seiner Anzüge und Krawatten verwendet, bis zur möglichst kompletten Kontrolle über sein Bild in den Medien rechnet Hoover mit seinem Gesehenwerden. Welche Bilder besaß J. Edgar, in denen er sich als öffentliche Person oder als Individuum betrachten konnte? Damit wird er für Kinozuschauer zu einem Spiegel, in dem sie ihrem Blick auf die mythische Figur J. Edgars begegnen. Auf der Kinoleinwand sehen wir, wie wir sehen. In der Figur und ihrer Geschichte beobachten wir unseren Blick auf die Geschichte, auf die Bedeutung von Personen und auf unser Verständnis politischer Ämter. Eastwood legt dem Zuschauer die Frage vor, was es heißt, einen Menschen in der Differenz von Amt und Person zu betrachten. Wo schlägt Verstehen in Verurteilung um? Was bedeutet das für ein Verständnis von Amt und Person, wo doch jedes Amt von fehlbaren und verletzlichen Menschen bekleidet wird? Seine Verletzlichkeit verbirgt Hoover auch durch seine korrekte Kleidung, mit der er seine öffentliche Erscheinung inszeniert und die sein Inneres verdeckt. Hoovers Kleidung ist ein Thema des Films. Der Mann, der großen Wert auf perfekte Anzüge legt und das Erscheinungsbild seiner Agenten genau reglementiert, legt in der Sterbeszene seiner Mutter Frauenkleider an. Makellose männliche Kleidung wiederum verdeckt 160 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Öffentliche Bilder

seine Unfähigkeit, Kontakte zu Frauen aufzubauen, die mehr und anderes umfassen als professionelle Arbeit im Amt. Kontakte zum anderen Geschlecht gehören zu J. Edgars öffentlichen Aufgaben. Doch körperliche Nähe zu Frauen erzeugt bei ihm Abwehr. Er flüchtet bei Annäherungsversuchen in vorgeschützte berufliche Pflichten. Emotionen zu zeigen fällt ihm schwer. Kühl und knapp informiert Hoover am 22. November 1963 Robert Kennedy, zu dem er ein persönlich gespanntes Verhältnis hat, über die Ermordung seines Bruders John in Dallas: »Ich habe eine Nachricht für Sie. Der Präsident ist erschossen worden.« Eastwood zeigt diese kalte Szene, indem er J. Edgars Gesicht in tiefe Schatten taucht. Wie ein sinistrer und sich an seinen Fundstücken erotisch berauschender Geheimdienstchef hockt er im Dunklen hinter einem Tonbandgerät und lauscht dem Liebesgeflüster John F. Kennedys, der – im Film – zur selben Zeit in Dallas ermordet wird. Für dessen Bruder findet er kein persönliches Wort der Anteilnahme. Hoover bewegt sich zwischen den Bildern seiner selbst, wie wir uns zwischen den ihn darstellenden Bildern im Film bewegen. Die Person bleibt ungreifbar in den Facetten ihrer Darstellung – im Film wie im Leben. Symbolisch ist die Schlußszene: Die Kamera zeigt den toten J. Edgar als ein Stück bleiches, aufgedunsenes Fleisch auf dem Boden liegend. Als Clyde Tolson ihn findet, verhüllt er den Leichnam gnädig mit einer Decke. Im Film ist er der einzige Mensch, der J. Edgar in der Verschränkung von Amt und Person als einen Menschen in all seiner Fehlbarkeit sieht, ohne ihm die Loyalität zu verweigern. Der Film versetzt den Zuschauer in die gleiche Perspektive, ohne ihm Loyalität zuzumuten. Deshalb kann er ihm die Frage nach dem Verhältnis von Amt, Person und Loyalität, Freiheit und Kontrolle stellen. Während Nixon, der amtierende Präsident, öffentlich alle Pathosformeln bemüht, um Hoovers Tod vor den Medien bekanntzugeben, durchwühlen seine Mitarbeiter Hoovers Büro auf der Suche nach geheimen Akten. Sie finden nichts. J. Edgars Sekretärin hat das Material vernichtet. Das Fehlen der Geheimnisse stützt im weiteren den Mythos eines Mannes, der sein Amt gewesen sein wollte.

1.3

Öffentlichkeit und Gerechtigkeit

Weder hüllt »J. Edgar« das Amt und dessen Inhaber in ein Tabu, noch verfällt er in einen Gestus der Verurteilung. Je näher wir im Film der 161 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Ungleiche Gleiche

Person durch die Bilder kommen, desto fragwürdiger erscheinen moralische Urteile. Aufmerksamkeit für den Einzelnen entsteht, indem wir ihn als etwas sehen, was direkt und eindeutig nicht zu sehen ist. Indirektheit wird dem Gesehenen wie auch dem Sehen der eigenen Perspektive gerecht. Ohne Gesehenwerden – ohne Öffentlichkeit – wiederum gäbe es keine Gerechtigkeit. Gerechtigkeit erweist sich als Modus des Sehens in Gestalt einer Reflexion im Modus des Darstellens. »J. Edgar« demonstriert, daß solche Darstellungen auch unter den Bedingungen einer massenmedial geformten Öffentlichkeit möglich bleiben. Anders als andere Massenmedien, von deren Rolle der Film handelt, deckt das Kino in diesem Fall auf, wie unterschieden wird. Das ermöglicht es Zuschauern, zu sehen, wie sie sehen. Das Kino bietet sich als Form einer öffentlichen Beobachtung an, deren Sicht eine differenziertere Darstellung erlaubt als sie in schnellebigen Massenmedien möglich wäre, die wesentlich an Hoovers mythischer Erscheinung beteiligt waren. Ohne Massenmedien keine Öffentlichkeit, aber Massenmedien unterscheiden sich in den Formaten, in denen sie Welt beobachten. »J. Edgar« fragt nach angemessenen medialen Formaten der Öffentlichkeit. Wo Zeitungen, Radio und Fernsehen gern plakativ zuspitzen, sich auf die Neuigkeit der Nachricht kaprizieren, von Werbung manchmal schwer zu unterscheiden sind und Personen oft moralisch skandalisieren, kann der Film komplexe Darstellungen anbieten, deren Wert sich vielleicht im Rückblick erweist. Gerechtigkeit muß weder moralisch sein noch braucht sie sich immer in materialen Forderungen auszudrücken. »J. Edgar« ist ein Vorschlag, Organisation, Person und Amt auf eine Weise zu betrachten, die den Zeitgenossen kaum möglich war. Solche Darstellungen entfalten die Differenz von Organisation, Amt und Person in einer demokratischen Gesellschaft, die sich mit Paradoxien von Organisationen konfrontiert sieht. Debatten über neue Ethiken oder die Moralfähigkeit von Organisationen angesichts widersprüchlicher Handlungslogiken, Erwartungen und Entscheidungsparameter wiederholen ein Vertrauen in die Kraft von Moral und weisen doch zugleich auf deren offenkundige Grenzen hin. 10 Eastwoods Film wahrt Distanz zu solchen Betrachtungsweisen. Er erinnert an die Hartnäckigkeit des Problems, für das Moral eine Lösung sein soll, aber selten ist. Unterscheidungen von Organisation, Amt und Person bleiben unvermeidlich und riskant. Ohne sie wäre Politik 10

Vgl. Ortmann, G.: Organisation und Moral. Die dunkle Seite. Weilerswist 2011.

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Person und Gesellschaft

kaum möglich. Risiken, die in der Unterscheidung stecken, lassen sich weder durch formale Rationalität der Organisation noch durch eine Besserung der Personen auffangen. Dies zu glauben, war einer der Fehler Hoovers. Damit ist nicht gesagt, auf Personen käme es nicht an. »J. Edgar« weist darauf hin, daß es wünschenswert wäre, wenn integre Personen Ämter bekleiden. Integrität beschreibt eine Unabhängigkeit, die Identifikationen von Organisation, Amt und Person sowohl ermöglicht als auch verhindert, weil sie die Person auch für sich selbst verwechselbar macht. Das wäre eine fast antike Vorstellung von reflektierter Gewohnheit als eines philosophischen Ethos der Wahl des eigenen Daimons. Eben das vermochte J. Edgar Hoover nicht: Seine Identifikation mit dem Amt macht ihn unfähig, eigene Grenzen und die Grenzen der Organisation zu sehen. Von seinem Amt kann er sich nicht unterscheiden. Die Unmöglichkeit, den blinden Fleck von Person und Organisation zu reflektieren, läßt das FBI und Hoover zur Gefahr für die Freiheit werden, die sie schützen sollten. Fehler der Person müssen beobachtbar bleiben, sind aber unvermeidlich und verzeihlich. Eastwoods Film legt ein Verständnis von Freiheit nahe, das von Personen nicht zu trennen ist – aber diese an die Beobachtung der Öffentlichkeit bindet, ohne diese Beobachtung zu moralisieren.

2.

Person und Gesellschaft

Moderne Gesellschaften machen von dem Konzept der Person einen anderen Gebrauch als vormoderne. Das hat mit den Vergleichsdynamiken zu tun, die im Zusammenspiel von Kulturen, Märkten und Öffentlichkeit das Bild des Einzelnen in der Gesellschaft umprägen. In der langen Begriffsgeschichte von »persona« treten griechische und römische Bedeutungsmuster mit christlich-mittelalterlichen, neuzeitlichen und modernen Konnotationen in wechselnde Verhältnisse. Sozial- und kulturgeschichtliche Umbrüche spiegeln sich in der Semantik. Von antiken oder christlichen Auffassungen verlagert die moderne Semantik des Begriffs sich zu einer rechtlich-moralischen Konzeption. Auch nicht natürliche Personen – Organisationen – sollen als Rechtspersonen verstanden werden. 11 »Person« bezeichnet Vgl. Artikel: Person. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1971– 2007. Band 7, S. 269–338.

11

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Ungleiche Gleiche

nun die Unterscheidung zwischen »Mensch« und »Gesellschaft«. Soziale Identitäten, die Erwartungen aufeinander beziehen und miteinander vergleichbar machen, können unterschieden werden, da sie immer weniger an natürlichen oder traditionalen Merkmalen abzulesen sind. »Person« ist, wie Hegel betont, eine allgemeine Form, mit der Besonderes gleichgesetzt wird. »Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, daß Ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin Alle identisch sind.« 12 Die »Person ist als das Abstrakte eben das noch nicht Besondere und in bestimmtem Unterschiede Gesetzte.« 13 Politische Gleichheitsforderungen, wie sie die amerikanische oder die französische Revolution artikulieren, lassen sich mit Hilfe des Konzeptes der »Person« begründen: Bürger gelten als frei und gleich. In Hegels Augen bleibt eine solche Freiheit jedoch abstrakt, da sie die »Person« als in ihrer Unterschiedenheit und Individualität noch unbestimmte Form betrachtet. Für das politische Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft wie für die kulturelle Idee des Menschen, der Freiheit und der Vernunft ist gerade die abstrakte Form in ihrer Ambivalenz zu einem Katalysator des politischen Umgangs mit Gleichheit und Ungleichheit geworden. Bei aller Formalität und Allgemeinheit des modernen PersonBegriffs leben darin christliche Motive der Unvertretbarkeit des Einzelnen fort. Römische Auffassungen von persona als einer Rolle, die an typischen Handlungsformen und -erwartungen – vor Gericht, als Amtsinhaber oder in der Familie – haftet, verknüpfen sich mit christlichen Vorstellungen des Einzelnen sowie, im Zeichen der Aufklärung, mit Ideen einer vernünftigen Subjektivität, die urteilend der Welt gegenübersteht. 14 Boethius’ Definition der Person bildet eine Brücke zwischen antiken und neuzeitlichen Auffassungen. Person bestimmt Boethius als »einer verständigen Natur unteilbare Substanz«. Der Ausdruck bezieht sich auf Individuen, nicht auf Universales. »Der Mensch als Lebewesen oder als Gattungswesen hat keine Person, sondern man spricht von der Person Ciceros, Platons oder der einzelnen Individuen.« 15 Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). Werke Bd. 7. Frankfurt/M. 1982, § 209, S. 360 (Hervorhebung im Original). 13 Ebenda, § 49, S. 113. 14 Vgl. Fuhrmann, M.: Persona, ein römischer Rollenbegriff. In: Poetik und Hermeneutik VIII: Identität. München 1979, S. 83–106. 15 Boethius, A. M. S.: Die Theologischen Traktate. Hamburg 1988. V, II, S. 75. 12

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Person und Gesellschaft

Vernünftige Wesen sind in Kants Augen nichts Allgemeines, weil sie individuell unvergleichbar sind. Ihre Unvergleichbarkeit zeigt sich daran, daß ihre spezifische Würde sich nicht nach dem Modell eines Marktes vergleichend ermitteln läßt. Zwischen Vernunft, Moralität und »Heiligkeit« sieht Kant einen Zusammenhang. 16 Die formale Vernunftnatur des Kantischen Subjekts wiederum steht Pate bei Emile Durkheims Rede von einem Kult des Individuums, der den moralischen Zusammenhalt moderner, arbeitsteiliger Gesellschaften begründe. Kants Formalismus und Hegels Gedanke einer im Staat verankerten Sittlichkeit fusionieren bei Durkheim zu der Idee einer im Staat Gestalt gewinnenden Heiligkeit der Person. »Auf diese Weise findet sich die fundamentale Pflicht des Staates dahingehend bestimmt, das Individuum immer stärker ins moralische Dasein zu rufen. (…) Da der Kult der menschlichen Person der einzige zu sein scheint, der überleben dürfte, muß dieser Kult einer des Staates wie auch des Individuums sein. Er hat im übrigen alles, was erforderlich ist, damit er dieselbe Rolle zu spielen vermag, die einst die Religionen gespielt haben. Er ist nicht weniger in der Lage, jene Gemeinschaft des Geistes und des Willens herbeizuführen, die die Grundvoraussetzungen jeglichen sozialen Lebens darstellt.« 17 Hans Joas hat die Geschichte der Menschenrechte in dieser Begriffstradition als Folge einer »Sakralisierung der Person« gedeutet. 18 Die Form Person ist im Kontext der modernen Kultur eine kommunikative Unterscheidung geworden. Zu der Figur eines unverwechselbaren Ichs, wie sie die Frühromantik oder eine christliche Auffassung des Verhältnisses von Mensch und Gott ins Spiel bringen, bietet sie ein begriffliches Gegenstück. 19 Abgestimmt ist die Semantik auf Formen organisierter Kommunikation. Denn Organisationen machen Personen unterscheidbar und vergleichbar. Ämter in Organisationen verknüpfen Menschen mit Gesellschaft über die Verschränkung von Erwartungen, Verfahren, Mitgliedschaften und Wahrscheinlichkeiten. Mit Hilfe der Form Person begrenzen OrganiKant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). In: Werke in sechs Bänden. Hrsgg. v. Weischedel. Darmstadt 1983, Bd. IV, S. 9–102, hier S. 68 f. 17 Durkheim, E.: Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral (1890–1915). Frankfurt/M. 1991, S. 102. – Durkheim hielt diese Vorlesung mehrere Male seit 1890. Publiziert wurde sie zuerst 1950. 18 Joas, H.: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin 2015. 19 Vgl. Kapitel Unvertretbares Ich. 16

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Ungleiche Gleiche

sationen Verhaltenskontingenzen, zähmen vagabundierenden Sinn und machen andere Möglichkeiten des Verhaltens beobachtbar. Ohne »Menschen« keine Gesellschaft, doch »Menschen« werden erst in Gesellschaft als Differenz zur Gesellschaft unterscheidbare Personen. Der Terminus Person markiert diesen Unterschied als Unterscheidungsaufforderung. »Die Form der Person«, konstatiert Niklas Luhmann, »dient ausschließlich der Selbstorganisation des sozialen Systems, der Lösung des Problems der doppelten Kontingenz durch Einschränkung des Verhaltensrepertoires der Teilnehmer.« 20 Obgleich kommunikativ erzeugt, wird die Unterscheidungsform auch vom Bewußtsein zur Identitätsbildung genutzt: »Personen dienen der strukturellen Kopplung von psychischen und sozialen Systemen. Sie ermöglichen es den psychischen Systemen, am eigenen Selbst zu erfahren, mit welchen Einschränkungen im sozialen System gerechnet wird.« 21 Was Erwing Goffman mit der Metapher des Theaters als Spiel der Differenzen zwischen Ego und Alter ins Auge faßt, beschreibt die Oszillationen zwischen Identität und Differenz bei der Konstitution einer »Person«. 22 Für das Modell politischer Souveränität im Übergang von monarchischen zu republikanischen Verfassungsordnungen war diese Verlagerung folgenreich. Die Figur der zwei Körper des Königs bezeichnet die Einheit der Unterscheidung von Amt und Person. 23 Deren Identität als Verschiedene macht den Souverän zum Objekt der Beobachtung. Ein Souverän existiert, indem und solange er sichtbar ist. Er ist eine öffentliche Person, indem er die Sichtbarkeit des Politischen verkörpert. Seine Macht, die auf Sichtbarkeit beruht, entfaltet die Differenz der Identität zur Wirklichkeit einer Welt: Dieser König ist von jenem – seinem Vorgänger oder Nachfolger – verschieden; als König ist er derselbe. Den König als König zu sehen heißt, Amt und Person zu unterscheiden, mithin diesen von jenem König zu unterscheiden, um sie als Personen zu vergleichen und als Vergleichbare zu bestimmen. Durch seine Vergleichbarkeit – in seiner Allgemeinheit – wird der Souverän ein Besonderer. Differenz in der Identität beVgl. Luhmann, N.: Die Form Person. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 6. Opladen 1995, S. 142–154, hier S. 152. 21 Ebenda, S. 153 f. (Hervorhebung im Original) 22 Vgl. Goffman, E.: Wir alle spielen Theater (1959). München 19886; außerdem Kapitel I.1. 23 Vgl. Kantorowicz, E. H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters (1957). München 1990. 20

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Person und Gesellschaft

schreibt seine Realität in einer Welt. Kritik an der Person kann in Kritik des Amtes umschlagen. Mit der Person steht das Amt zur Disposition. Das Schicksal Ludwigs XVI. in der Französischen Revolution liefert ein prominentes Beispiel. J. Edgar Hoover und dessen Darstellung in Clint Eastwoods »J. Edgar« zeigen die Aktualität der Unterscheidungsform für die medial organisierte Öffentlichkeit moderner Gesellschaften. Vormoderne Gesellschaften pflegen diese Differenz mit dem paradoxen Verbot, den König zu kritisieren, weil er der König ist. Am sichtbaren Tabu über der Person wird das Amt sichtbar. Vorbild ist die katholische Kirche. Nach der Abwehr von Reinheitsansprüchen, die das Amt über die Person des Priesters stellen, dürfen auch sündige Menschen, die als Priester amtieren, Sakramente spenden. Heiliges Amt und fehlbare Person bleiben in der Kirche im Zeichen des gnädigen Gottes vereinbar. Fehlbarkeit der Person infiziert nicht die Ordnung des Sozialen mit dem Makel des nicht Perfekten. Vielmehr demonstriert die Vereinbarkeit von Sünde und Heiligkeit die Unantastbarkeit des Amtes. Wegen der Schwäche ihrer Person begegnen einander Priester und Gläubige in der Kirche als Menschen. In der Sünde sind sie einander ebenso gleich wie in der Gleichheit vor Gott – und wie in der Ungleichheit ihrer Positionen in der Gesellschaft. Mit der Umstellung politischer Ordnungen auf demokratische Verfahren verlagern sich Relationen von Gleichheit und Ungleichheit, Politik und Religion, Staat und Kirche. Vor Gott sind Menschen als Sünder auf andere Weise als im Staat – als Ungleiche – gleich. Religiöse Gleichheit bleibt mit politischer Ungleichheit vereinbar. Demokratische Ordnungen behandeln Ungleiche politisch und rechtlich gleich. Menschen gelten, als Bürger, gleich viel. Religiöse Ordnungen wiederum behandeln Gleiche ungleich. Als Sünder gleich, erscheinen Menschen im Blick auf Einsicht, Reue und postmortale Seligkeitschancen als ungleich. Ihre Ungleichheit macht sie vergleichbar. Gleichheit vor Gott mißt jedem das Seine, also Ungleiches, zu. Eine solche Gnade der Differenz duldet die Beobachtung aller – die Öffentlichkeit – nicht. Öffentlichkeit wiederum ist das sichtbare Zentrum demokratischer Ordnung – idealiter das Forum räsonierender Bürger und Medium ihrer Souveränität als freier Personen. Ausweitungen organisierter Kommunikation, von Markt, Kultur und Öffentlichkeit, korrelieren mit einem Umbau gesellschaftlicher Transzendenz- und Souveränitätskonzepte. Gott ist nun – wie bereits 167 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Ungleiche Gleiche

im neutestamentlichen Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg – Symbol einer möglichen Unmöglichkeit gerechter Ungleichheit in einer Gesellschaft, die mit der Fiktion von Gleichheit rechnet und Individuen als Personen vergleichbar macht. Im Namen der Gleichheit wiederum lassen sich Ungleichheiten programmatisch negieren – und, zum Beispiel politisch, organisieren. Wird die Unterscheidung von gleich und ungleich aus dem religiösen in einen politischen Kontext übertragen, gewinnt sie programmatische Signatur. Das Seinsollen des Gleichen wird dem gesellschaftlichen Sein des Ungleichen entgegengehalten. Der Rechtsstaat begibt sich mit dieser Programmatik und mit Hilfe dieser Unterscheidungsform auf den Weg zum Sozial- und Wohlfahrtsstaat. Was Hegel kritisiert, erscheint politisch unvermeidlich: Die Allgemeinheit der Form tendiert zur Gleichsetzung von Gleichheit und Gerechtigkeit – nicht in einem formalen, sondern in einem materialen Sinne. Staat und Kirche, Politik, Wirtschaft und Religion, Recht und Pädagogik entwickeln aufeinander bezogene Sinnformen ungleicher Gleichheiten. Gemeinsam zeigen sie ein Bild geordneter Indeterminiertheiten, das zum Modell von Souveränität taugt. Bereits in den klassischen Formulierungen von Bodin oder Hobbes ist der Souverän nämlich nicht nur derjenige, der entscheiden kann. Er kann entscheiden, weil er von keiner anderen Entscheidungsinstanz determiniert wird. Nicht einmal von seinen eigenen Entscheidungen dürfe ein Souverän, schreibt Bodin, abhängig sein. 24 Er ist der Inbegriff indeterminierten Entscheidens. Wegen ihrer Paradoxie bleibt die Form des Souveräns auf Sichtbarkeit angewiesen, die in vormodernen Gesellschaften der König repräsentiert. In der modernen Gesellschaft erscheint Souveränität eher als Prinzip der Indeterminiertheit von Organisationen und Märkten. Hier muß jedermann mit offensichtlicher Intransparenz rechnen und sein Erwarten darauf abstimmen. Organisationen nutzen »Personen« als Adressen für unterschiedliche Erwartungen, die mit verschiedenen Menschen besetzt werden können. Die Form Person fängt transparente Indeterminiertheit auf und macht sie kommunikativ anschlußfähig, indem sie Personenadressen für individualisierende Zurechnungen bereithält. Individualisierung resultiert nicht zuletzt aus der Verwechselbarkeit ungleicher Gleicher in Organisationen. Verleiht die Kombination

24

Vgl. Bodin, J. Über den Staat (1583). Stuttgart 1994, Buch I, S. 27.

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Person und Gesellschaft

von Person und Organisation der Idee von Individualität in der modernen Kultur Plausibilität, indem sie differentielle Bestimmtheiten sozialer Identitäten – vor allem in Verbindung mit organisierter Kommunikation – normalisiert, gerät sie zunehmend in Konflikt mit »gierigen« Organisationen, die Anspruch auf den gesamten Menschen erheben. Die Institution des Zölibats in der Katholischen Kirche ist für diesen Konflikt exemplarisch: Das Amt des Priesters soll nicht durch familiale Bindungen und Interessen kontaminiert werden, um die Kontrolle der Organisation über ihr Personal, die ökonomische Reproduktion ihres Besitzes und die generalistische Rekrutierung neuer Amtsträger ohne Berücksichtigung ihrer Herkunft nicht zu gefährden. Keine Person im modernen Sinne sein zu dürfen heißt, wie Georg Simmel notiert, eben auch, »daß der Priester keine Individualität im sonst gültigen Sinne, keine differentielle Bestimmtheit besitzen darf, sondern, weil er ganz Priester ist, auch ganz Priester sein muß.« 25 Sichtbarkeit und Indeterminiertheit, Verwechselbarkeit und Identität im Verhältnis von Mensch, Person und Individuum verändern ihre Signatur unter Bedingungen dezentraler und nichthomologer Unterscheidungsformen in modernen Gesellschaften. Organisationen formieren Kommunikation als Entscheidung. Märkte ermöglichen, vollziehen und beobachten organisierte Indeterminiertheiten. Weder kennt die Gesellschaft ein Zentrum, in dem sie repräsentiert wird, noch existieren Steuerungsinstrumente für Probleme, deren Lösung traditionell einem Souverän zugemutet werden darf. Souverän wäre demnach, was so komplex und zugleich öffentlich ist, daß seine Indeterminiertheit unvermeidlich wird und doch durch die Simulation von Steuerung legitim bleibt. Diese Funktion übernimmt Öffentlichkeit. Dabei nutzt sie die Form der Person und das Schema der Moral. Kants Verknüpfung der Begriffe von Person, Würde, Recht und Moral kommt diesem Strukturwandel moderner Gesellschaft entgegen. Gemeinsam erlauben es die Unterscheidungsformen Person und Moral, Differenzen zu skandalisieren und vergleichbar zu machen. Skandalisierung des Verhaltens Einzelner und Vergleiche mit anderen bieten Formen, um Lösungen für komplexe indetermiSimmel, G.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908). Gesamtausgabe Bd. 11. Frankfurt/M. 1992, S. 470 (Hervorhebung im Original).- Zum Begriff der »gierigen Institution« vgl. Coser, Lewis A.: Gierige Institutionen (1974). Berlin 2015, bes. S. 154 ff., dort auch der Verweis auf Simmel.

25

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nierte Zusammenhänge öffentlich zu simulieren: Im Zweifel, heißt es, komme es auf den jeweils richtigen Mann oder die richtige Frau an der richtigen Stelle – oft im Amt einer Organisation – an. Gegen die Unverständlichkeit der Welt hilft vermeintlich die moralisch integre und rational kompetente »Person«. Die Form fungiert als Schema, um Einzelne öffentlich zu vergleichen. In Massenmedien, vor allem im Kino, begegnet diese Form als Typus der Populärkultur. Vielleicht liegt in der Kultivierung der Differenz von Amt und Person eine der wichtigsten Leistungen massenmedial organisierter Öffentlichkeit. Kombinationen von Gleichheit und Ungleichheit in der Form der Moral werden nun möglich und massenmedial eingeübt. Politischer Kommunikation bringt das den Vorteil, Entscheidungsalternativen mit Personen zu verknüpfen. Sachkomplexität wird in der Form Person kommunikativ verdichtet, in ihrer Indeterminiertheit verdeckt, für beliebige Motive freigegeben, auf politischen Märkten vergleichbar und quantitativ bewertbar. Sozial- und semantikgeschichtlich ist diese begriffliche Kombination, mit der moderne westliche Gesellschaften sich beschreiben, voraussetzungsvoll. Aus einer ethnographisch erweiterten kulturvergleichenden Perspektive wirkt die abendländische Verknüpfung des Person-Begriffs mit Vorstellungen von Vernunft, Freiheit, Moral und Öffentlichkeit jedenfalls erstaunlich. »Die abendländische Vorstellung von der Person als einem fest umrissenen, einzigartigen, mehr oder weniger integrierten motivationalen und kognitiven Universum, einem dynamischen Zentrum des Bewußtseins, Fühlens, Urteilens und Handelns, das als unterscheidbares Ganzes organisiert ist und sich sowohl von anderen solchen Ganzheiten als auch von einem sozialen und natürlichen Hintergrund abhebt, erweist sich, wie richtig sie uns auch scheinen mag, im Kontext der anderen Weltkulturen als eine recht sonderbare Idee.« 26 Ihre Verankerung in der westlichen Kultur verweist auf symbolische Formen der Reflexion des Politischen und des Privaten, des Religiösen und des Alltäglichen, wie sie in großen Darstellungen gepflegt und überliefert wurden. In gewisser Weise wird sie dadurch zu einer mythischen Form.

26

Geertz, C.: Dichte Beschreibung. Frankfurt/M. 1987, S. 294.

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Individualität: Religiöse und politische Unterscheidungen

3.

Individualität: Religiöse und politische Unterscheidungen

Religiöse wie politische Ordnungen entfalten – im Blick auf Amt und Person, Gleichheit und Ungleichheit – komplementäre Bestimmungen von Individualität. Papst und Kaiser repräsentieren, als Amt wie als Person, symbolische Funktionen dieser Unterscheidung. In ihnen reflektiert sich die Doppelnatur Christi als Gott und Mensch. Die Geschichte der Rivalität von Papsttum und Königtum spiegelt eine Entfaltung der Unterscheidung, die den Souverän bestimmt. Legitimationsmuster von Macht werden durchgespielt und erprobt. Fragen der Legitimation von Souveränität verweisen auf die Beobachtung der Differenz von Amt und Person im Format einer allmählich entstehenden gesellschaftsweiten Öffentlichkeit. Öffentlichkeit wiederum befördert die Idee von Individualität jenseits eines religiös-christlichen Deutungsrahmens und begünstigt die Umstellung des Ordnungsdenkens auf einen formalen Rationalitätsbegriff. Unter Bedingungen demokratisch-rechtsstaatlicher politischer Ordnungen und massenmedial organisierten Öffentlichkeiten gewinnt die Unterscheidungsform der Moral im Blick auf Personen an Bedeutung. Indem Politik und Wirtschaft sich sukzessive entlang von Organisationsbildungen als Märkte entfalten, gelten Menschen als Bürger, die als Einzelne ihre Interessen verfolgen. Freiheit wird von einem primär religiösen und rechtlichen zu einem ökonomischen und politischen Wert. Umbauten der Sollensvorstellung in Richtung »Moral« werden vorangetrieben: Freie Einzelne sollen ihr Personsein nun durch Kalküle der Folgenabschätzung unter Beweis stellen – sei es politisch als nach Allgemeinheitsgesichtspunkten urteilende Bürger, ökonomisch als rational, mithin interessengeleitet kalkulierende Wirtschaftssubjekte oder moralisch als deontologisch oder utilitaristisch Handlungsfolgen und –regeln abwägende Moralsubjekte. Vernunft, Moral und Politik erscheinen nun als universalistische Ordnungen, die sich an formalen Strukturen und Verfahren orientieren. Indem sie Interessen zusammenführen, so die Vorstellung der frühen Politischen Ökonomie, befördern Märkte das gute Leben aller Einzelnen hinter dem Rücken der Akteure. Sie repräsentieren ein vermeintliches Allgemeines, das als Besonderes nicht zu existieren braucht: Das Beste für alle entsteht, ohne in der Person oder im Wissen der Einzelnen intentional vorhanden zu sein. »Hunger, Durst und Nacktheit sind die ersten Tyrannen, die uns zur Tätigkeit zwingen; 171 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

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später werden unsere Eitelkeit und Genußsucht, unsere Trägheit und Unbeständigkeit die großen Förderer aller Künste und Wissenschaften, aller Gewerbe und Handwerke, während die strengen Fronherren Not, Habsucht, Neid und Ehrgeiz, jeder im Kreise der ihm Zugeordneten, die Mitglieder der Gesellschaft bei der Arbeit festhalten und sie dazu bringen, daß sie sich sämtlich – und die meisten mit Freudigkeit – den Mühen und Plagen ihres Standes unterwerfen, Könige und Fürsten nicht ausgenommen.« 27 Bernard Mandeville rät zur Gelassenheit in moralischen Fragen: »Es ist in der Moral wie in der Natur: nichts in den lebenden Wesen ist so durchaus gut, daß es nicht irgendeinem innerhalb der Gemeinschaft schädlich werden könnte; es ist auch nichts so völlig schlecht, daß es sich nicht dem einen oder dem anderen Geschöpfe als nützlich erweisen könne. Daher sind die Dinge gut oder schlecht nur in Beziehung zu etwas anderem und entsprechend der Stellung und Beleuchtung, die man ihnen gibt.« 28 Gutes erscheint als Allgemeines in der Mechanik des Besonderen. Wirklichkeit gleicht einer symbolischen Simulation von Regeln, die sogar mit ihren eigenen Ausnahmen rechnen. Gleichheit oder Ungleichheit verschwinden als materiale Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit hinter symbolischen Operationen. Gutes bestimmt sich nicht länger als Kohärenz mit überkommenen Ordnungen oder göttlichem Willen. Vormoderne Philosophien politischer Herrschaft, Ökonomie und Religion pflegen ein Verständnis von Individualität, das auf der Unverwechselbarkeit der Person und damit auch von Amt und Person beruht. Gutes ist so wenig mechanisch, wie Individuelles nicht die unsichtbare Innenseite der Unterscheidung des Äußeren – der Gesellschaft, der Handlungen, der Präferenzen und Transaktionen – ist. Individualität bestimmt sich im Verhältnis des Einzelnen zur Polis oder zu Gott. In der Moderne bestimmt es sich im Verhältnis des Einzelnen zu allen anderen. Entsprechend verlagert sich das Ideal des Guten Lebens. Antiken und christlichen Ordnungsvorstellungen entsprechend bleibt das gute Leben in der Tugend des Einzelnen fundiert. Es realisiert sich als reflexiv gewordene Gewohnheit in einer guten Ordnung, der Polis. Vernunft und Polis benötigen einen Reflexionsstil,

Mandeville, B.: Die Bienenfabel (1724). Frankfurt/M. 1980, S. 397. – Die Bienenfabel erschien in unterschiedlichen Ausgaben von 1705 – als Sixpenny-Broschüre – bis 1732. Öffentliche Reaktionen veranlaßten Mandeville immer wieder zu Erweiterungen und Erläuterungen. Das Zitat stammt aus der dritten Auflage von 1724. 28 Ebenda, S. 398. 27

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Individualität: Religiöse und politische Unterscheidungen

der diesen Zusammenhang im Denken und Sprechen darstellt. Er bleibt unmittelbar an den Einzelnen gebunden, insofern er im Modus einer Einheit der Differenz von Wahrnehmung und Denken vollzogen werden muß. Wahrnehmung und Denken wiederum sind durch angemessene und kluge Symbolisierungen reflexiv aufeinander bezogen. Wahre Tugend ist theoretische und praktische Sorge um sich. Deren Zentrum liegt in der Reflexivität des Lebens – sei es als philosophische Einsicht, sei es als christliche Reue. Niemals findet diese Sorge ein Ende. Niemand kann sie an Repräsentanten delegieren. Weder an Politiker noch an Priester können unvertretbare Einzelne sie abgeben. Mit egoistischen Interessen hat das Gute Leben so wenig zu tun wie mit einer Mitleids-, Pflicht-, Wert- oder Diskursethik. Platons Mythos von Er, mit dem die Politeia als große Reflexion über die Ordnung abschließt, faßt diese Figur paradigmatisch als Wahl des Daimons: »Die Schuld ist des Wählenden; Gott ist schuldlos.« 29 Doch Wahlen, die Platon im Auge hat, sind nicht von der Art, wie sie auf ökonomischen oder politischen Märkten stattfinden. Verhältnisse von Bestimmtem und Unbestimmtem werden in organisierten modernen Gesellschaften eher an formalen Funktionen abgelesen denn an gleichnishaft-indirekten Darstellungen von Reflexivität, wie philosophische Texte, Theaterstücke oder religiöse Bilder sie pflegen. Mit Buchdruck und Reformation büßt die Kirche ihr Monopol auf ein kulturelles Vokabular ein, das gleichnishafte Selbstbeobachtungen einer Öffentlichkeit in paradigmatischen Text-BildKombinationen anbietet. Transzendente Sinnformen, auf die innerweltliche Unterscheidungen bezogen werden konnten, weichen innerweltlichen Kontingenzen. Religiöse Texte und Bildnisse geraten im Zeichen der Aufklärung unter Ideologieverdacht. Als symbolische Reflexionsangebote werden sie kaum noch betrachtet. Im aufgeklärten Glauben an innerweltliches Heil erscheinen religiöse Darstellungsformen als bloße Repräsentanten zweifelhafter Botschaften. Deutungsmodelle der modernen Kultur entfalten Bild- und Erzählformen – allen voran der Film –, die Transzendenzbedürfnisse innerweltlich als Imaginäres vorführen. 30 Seit dem 18. Jahrhundert tritt der Markt als welterzeugende Ordnung immer mehr an die Stelle

Platon: Politeia 617a. Vgl. Rustemeyer, D.: Darstellung. Philosophie des Kinos. Weilerswist 2013, bes. S. 80 ff.

29 30

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einer Schöpferordnung. Er gilt als eine Art zweite Natur, die der ersten Natur an evolutionärer Dynamik kaum nachsteht. 31 Personen kommen weniger als vernünftige Entitäten einer antik-christlichen Weltsicht ins Spiel denn als kommunikative Adressen, an denen Organisationen sichtbar werden.

4. 4.1

Modelle Max Weber

Max Webers Genealogie abendländischer Rationalität spricht der modernen Organisation – in Gestalt des kapitalistischen Betriebs, des Anstaltsstaates oder wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen – eine zentrale Rolle zu. Politik, Ökonomie und Wissenschaft bilden, in Verbindung mit dem positiven Recht, ein symbolisches und organisationales Gerüst moderner Gesellschaften. Widerlager dieses Gerüstes ist die Form der Person – befreit von religiösen Bindungen und in der Wahl ihrer Orientierungen auf sich selbst zurückgeworfen. Mit dem Begriff der Bürokratie, an dem Weber die Unterscheidung von Amt und Person entfaltet, werden Vergleiche staatlicher mit wirtschaftlichen Organisationen möglich. Webers Modell der Bürokratie, fundiert in der Unterscheidung von Person und Amt und gerahmt von einer Theorie formaler Herrschaft, zeigt die moderne Gesellschaft als Maschinerie formal-rationaler Prozeduren. »Wie der sogenannte Fortschritt zum Kapitalismus seit dem Mittelalter der eindeutige Maßstab der Modernisierung der Wirtschaft, so ist der Fortschritt zum bürokratischen, auf Anstellung, Gehalt, Pension, Avancement, fachmäßiger Schulung und Arbeitsteilung, festen Kompetenzen, Aktenmäßigkeit, hierarchischer Unter- und Überordnung ruhenden Beamtentum der ebenso eindeutige Maßstab der Modernisierung des Staats, des monarchischen ebenso wie des demokratischen.« 32 Staat und Wirtschaft wiederum entfalten ihre Ordnungen mit Hilfe des positiven Rechts.

Vgl. zum Begriff der »zweiten Natur« Rath, N.: Zweite Natur. Konzepte einer Vermittlung von Natur und Kultur in Anthropologie und Ästhetik um 1800. Münster 1996; Ders.: Jenseits der ersten Natur. Kulturtheorie nach Nietzsche und Freud. Heidelberg 1994; außerdem Kapitel 8. 32 Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft. A. a. O., S. 825. 31

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Modelle

Die Unterscheidung von Amt und Person verknüpft Webers Rekonstruktion okzidentaler Rationalität mit seiner Religions-, Herrschaft- und Rechtssoziologie. Höchstentwickelte Rationalität geht mit einem Legitimationsparadox einher: Formale Rationalitätskriterien sind einerseits universell anschlußfähig, andererseits unterbrechen sie den Zusammenhang politischer Legitimationsverfahren mit dem Ethos einer Lebensform. Eben dieser Bruch wurde durch die Umstellung eines antik-christlichen auf einen modernen, organisationsbasierten Reflexionsstil kulturell erleichtert. Dessen Form ist Zweckrationalität. Weber sieht, daß formale Legitimationsverfahren, deren Modell das positivistische Rechtsverständnis ist, für charismatische, affektive oder traditionale Motive anfällig bleiben. Die alte »überempirische Würde« des Naturrechts sei durch den Siegeszug positivistischer Auffassungen »vernichtet« worden; aber revolutionäre Forderungen nach materialer Gerechtigkeit brächten in ihrem Bestreben nach Rechtsschöpfung immer wieder naturrechtliche oder religiöse Normen ins Spiel. 33 Unvermeidliche Abstraktionen des positiven Rechts laufen ungleichen sozialen Chancen und daran gebundenen Interessen zuwider. 34 Formal gleiche Personen konkurrieren als sozial ungleiche Akteure um Ressourcen und Macht. Auf Märkten besitzen sie unterschiedliche Chancen, ohne daß diese Unterschiedlichkeit im Modell des Marktes abgebildet würde. Materiale Gerechtigkeitszumutungen oder persönliche Affekte gelten im Lichte des formalen Rechts und der Unterscheidung von Amt und Person als irrational. Ihnen mangelt es an legitimatorischer Kraft. Der moderne Rationalitätsglaube spiegelt den Siegeszug organisierter Sozialität: Personen werden juristisch gleichgestellt, aber material ungleich behandelt, eben weil sie von Organisationen gleich behandelt werden. Rationale Legitimationsmuster politischer Herrschaft entwerten affektive und traditionale Motive der Menschen, die als Staatsbürger formal gleichgestellt sind. Auf solche Motive soll sich nicht mehr berufen, wer mit seiner Ungleichheit unzufrieden ist. Denn auf dieser Trennung beruhen Rationalität und Stabilität der staatlichen wie der wirtschaftlichen Ordnung. Was sich formalen Mustern der Begründung nicht fügt, schließen sie aus.

33 34

Vgl. ebenda, S. 502, 497. Vgl. ebenda, S. 470.

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Ungleiche Gleiche

War für Hobbes der Staat eine auf Macht und Angst beruhende Ordnung absoluter Unterwerfung, beschreibt Weber den modernen Staat als eine Gewalt monopolisierende Ordnung, die auf formalen Verfahren und positivem Recht basiert. Die Innenseite der Person tritt in beiden Fällen zugunsten der Außenseite ihrer sozialen Kontrolle und Koordination zurück. Der Staat muß so konstruiert sein, daß er, wie Kant sagt, »für ein Volk von Teufeln« Leidenschaften in Schach zu halten vermag. 35 Von moralischen Gefühlen bei Adam Smith oder vom kategorischen Imperativ Immanuel Kants bleibt bei Max Weber eine formale Logik des Rechts und der Zweckrationalität übrig. Weder Sympathie noch Moral gewährleisten eine konkrete Gleichheit der Ungleichen im Staat. Kants Formalismus verwandelt Natur in Vernunft. Er benutzt einen Begriff der Person als formalen Garanten formaler Vernunft. Zum Menschen werde der Mensch durch die Fähigkeit, eine Vorstellung des Ichs zu entwickeln. 36 Die Einheit des Ichs, das »X« des Bewußtseins, qualifiziert in ihrer formalen Struktur den Menschen zu einem »Zweck an sich selbst« – einer Person. 37 Natur und Vernunft werden in der Form Person vereinbar. Als Person realisiert der Mensch Freiheit als Vollzug seiner formalen Natur im Sittengesetz. Innen- und Außenseite des Sozialen verklammert Kant durch eine formale Vernunftnatur. Doch diese formale Struktur ist es, die in der modernen Gesellschaft, wie Weber zu sehen glaubt, zum stahlharten Gehäuse der Hörigkeit geronnen ist. Je vernünftiger die Einzelnen werden und je rationaler Organisationen in Staat, Wirtschaft und Recht agieren, desto mehr verfallen sie in Desorientierung und metaphysische Einsamkeit. Ihr Reflexionsstil schneidet sie von der Sittlichkeit der Polis wie vom religiösen Ethos vormoderner Gesellschaften ab. Deren Semantik, Erfahrungen und Wertungen prallen an Strukturen formalisierter Rationalität ab. Darum ist die Versuchung groß, diese Differenz als Verlust an Sittlichkeit zu betrachten und diesen Verlust der Gesellschaft anzukreiden, an deren Formalismus Einzelne leiden. Hegel hatte darauf hingewiesen, daß Kants Vorstellung dazu führe, Vernünftiges als »äußeres, formelles Allgemeines« zu fassen, das die Freiheit beschränke, statt Vgl. Kant, I.: Zum ewigen Frieden (1796). In: Werke in sechs Bänden, Bd. VI. Darmstadt 1983, S. 191–251, A 61, hier S. 224. 36 Vgl. Kant, I.: Anthropologie in pragmatischer Absicht (1798). In: Ebenda, S. 395– 690, BA3, S. 407. 37 Vgl. Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). In: Werke in sechs Bänden, Bd. IV. Darmstadt 1983, S. 8–102, BA 65, S. 60. 35

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Modelle

sie als Form der Sittlichkeit zu begreifen. 38 Kants Begriff der Person, der seine Philosophie der Freiheit mit seiner Theorie des Staates verbindet, verlagert vormoderne Auffassungen von Würde ins Formale. Würde erlangen Personen nun dank ihrer formalen Vernunfts- und Freiheitsfähigkeit, nicht aufgrund ihrer Stellung in der Gesellschaft. Das macht sie zu Gleichen. Eine Metaphysik der Freiheit, entstanden aus Reflexionen auf die Doppelnatur Christi, entpuppt sich nun als Form des Allgemeinen. Darin wird sie zum absoluten Wert und Grund des Rechtsstaates. 39 Das Recht soll dank seiner Form die Existenz freier Wesen empirisch sichern. Die Form des Rechts muß die Form der Vernunft selbst vollziehen. Resultat dieses Vollzugs der Form jedoch ist, in Webers Augen, rationale Irrationalität. Kein Weg führt von hier aus zurück in eine Hegelsche Sittlichkeit. Mit Weber läßt sich Kants Person- und Freiheitsphilosophie als Baustein eines Reflexionsstils lesen, der Ausbrüche gesellschaftlicher Irrationalität im Gewand formaler Rationalität vorbereitet. Preis dieser Metaphysik der Freiheit und der abendländischen Idee von Rationalität wäre demnach ein Formalismus der Rationalität selbst. Das Elend reiner Form ist die Form. Darin steckt eine Umkehr des Kantischen Vertrauens in reine Formen der Vernunft. Wird formale Rationalität in Organisationen durch die Unterscheidung von Organisation und Person verankert, rücken Kant und Hobbes perspektivisch eng zusammen. Gesellschaft und Staat entspringen einer Mechanik der Rationalität, die gegenüber der Innenseite der Person gleichgültig bleibt. Darum hat Weber auf Motive Nietzsches zurückgegriffen. Sein melancholischer Heroismus, mit dem er das moderne Individuum betrachtet, nimmt zähneknirschend Leistungen dieser Rationalität zur Kenntnis. Jedoch weiß er darum, daß es nun auf den Einzelnen nicht mehr ankommt. Je vernünftiger die Menschen werden, je gleicher sie in Recht, Wirtschaft und Politik sind, desto weniger findet ihre Ungleichheit noch Ausdruck – es sei denn in den domestizierten Refugien einer entpolitisierten Kunst oder Religion. Sich in diese Gefilde zu begeben, ist in Webers Augen für den Einzelnen legitim. Daraus ein Heilmittel gegen die Folgen formaler Rationalität gewinnen zu wollen, wäre Illusion. Webers Werk gleicht einer Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). A. a. O., § 29, S. 80 f., auch § 135, S. 252 ff. 39 Vgl. Kobusch, Th.: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. Darmstadt 19972. 38

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Ungleiche Gleiche

Tragödie: Als vernünftige Notwendigkeit beschreibt es, was doch kaum erträglich ist. In seiner Darstellung wird es als Paradox der Vernunft erkennbar.

4.2

Thomas Hobbes

Webers Herrschaftssoziologie greift Hobbes’ Begriff der Person auf, der seinerseits eine Zäsur zu früheren Konzepten des Zusammenhangs von Amt und Person markiert. Auch darin erweist sich Webers Unterscheidungstechnik als von der Modernität geprägt, die zu entschlüsseln ihr Anliegen ist. Personsein, so Hobbes, ist eine Form der Repräsentation. »Wer für sich oder im Namen eines andern etwas betreibt, ist eine Person. Tut er es für sich selbst, so ist er eine eigentliche oder natürliche Person, tut er es aber in eines anderen Namen, so ist er seine stellvertretende Person.« 40 Der Ausdruck Person, erläutert Hobbes, gehe auf das griechische »prosopon« und auf das lateinische »persona« zurück. 41 Gesicht und Maske bezeichnen jeweils die sichtbare Außenseite eines Inneren. Indem Sichtbarkeit als Basis des Gesellschaftlichen angesetzt wird, verschwindet das Innen der Person. Modell der Gesellschaft ist die Bühne. Akteure, füreinander intransparent, sind durch sichtbares Handeln aufeinander bezogen. Was sichtbar ist, verhüllt zugleich. Die Innenseite der Person als Maske bleibt das rätselhafte Außen der Gesellschaft. Diese Relation wiederum sieht, wer auf Gesellschaft blickt wie auf eine Theaterbühne. Ausgeschlossenes erscheint bedrohlich. Todesangst wird zum gesellschaftskonstitutiven Motiv. Sie, nicht zuerst die Mordlust wölfischer Einzelner, gebiert den Leviathan. Hobbes’ Staatsphilosophie entspringt einer Physik des Sozialen, die wiederum einer Unterscheidungsform – der Person – entspringt, die dem Theater abgelesen ist. Wie die Einzelnen von Gier und Furcht getrieben werden, so entsteht der Leviathan als gewaltsame Einschränkung destruktiver Kräfte: Er ist die wahre Person, der substantielle Repräsentant aller natürlichen Personen. Ihm schulden sie Gefolgschaft aufgrund der destruktiven Physik ihrer Begierden. Macht ist Gewalt. Legitimität verdankt sich der Macht. Staat und Recht verschmelzen im Leviathan. Dieser »sterbliche Gott« verlangt keinen Glauben; er will Gehorsam. Vor 40 41

Hobbes, Th.: Leviathan (1651). Stuttgart 1980, S. 142 (Hervorhebung im Original). Der Ausdruck geht etymologisch auf das etruskische »phersu« = Maske zurück.

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Modelle

ihm sind alle gleich: Individuen, deren Innenseite des Bewußtseins keine konstitutive Funktion für die Ordnung des Sozialen und die Organisation des Staates besitzt.

4.3

Carl Schmitt

Eric Voegelin hat gegen Weber eingewendet, dessen Blick auf die moderne Gesellschaft und deren Legitimationsparadox resultiere aus einer relativen Unterbelichtung antik-christlicher Ordnungsvorstellungen zugunsten einer Theorie reiner Typen. 42 Tatsächlich entwirft Weber seine Soziologie okzidentaler Rationalität mit Prämissen, die dem Denkstil entspringen, dessen fatale Konsequenzen er beklagt. Seine Beschreibung hebt als dominierenden Reflexionsstil moderner Gesellschaften hervor, was mit antiken und christlichen Vernunftvorstellungen schwer zu harmonisieren ist. Dadurch bringt er tragische Züge abendländischer Rationalität auf den soziologischen Begriff. Fundamental für Webers Sichtweise ist eine Auffassung von Organisation und Person, in der sich Rationalitäts-, Herrschafts- und Rechtssoziologie kreuzen. Aus Voegelins, von Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs geprägter Sicht bleiben in einer Kultur, die dieser Unterscheidungslogik folgt, Faschismus und Kommunismus latente Gefahren. Denn die Logik der Macht legt eine Logik der Dezision nahe, die gegenüber antik-christlichen Vorstellungen einer dem Logos verpflichteten Reflexion immun bleibt. Doch was hilft, so ließe sich gegen Voegelins Beobachtung einwenden, eine solche Kultur der Reflexion in Situationen des Entscheidens? Zeitbedingte Reflexionen fallen je anders aus. In den Augen vieler ihrer Anhänger galten faschistische oder kommunistische Bewegungen keineswegs als unvernünftig. Bietet nicht gerade die Idee formaler Vernunft Schutz vor materialen oder situativen Irrationalitäten? Anders als für Platon, Aristoteles oder das christliche Weltbild ist der modernen Gesellschaft die Vorstellung einer im Prinzip unwandelbaren Ordnung abhanden gekommen. Die Dynamik gesellschaftlicher Prozesse blokkiert das Vertrauen in eine Ordnung, in der das Ganze und die Einzelnen in einem prinzipiell harmonischen Verhältnis stehen, das auf Ungleichheiten beruht. Weder läßt dieses zerbrochene Vertrauen Vgl. Voegelin, E.: Die Neue Wissenschaft der Politik (1952). München 2004, S. 36 ff., 189 f.

42

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Ungleiche Gleiche

sich durch eine Anthropologisierung moralischer Qualitäten noch durch formale Vernunftregulative ohne weiteres kompensieren. Webers Skepsis gegenüber der Legitimation des Entscheidens aus Wertgesichtspunkten tritt dann in ihr Recht. Demokratische Kulturen, wie Voegelin sie in den westlichen Siegermächten des Zweiten Weltkriegs erblickt, müßten sich als fähig erweisen, eine Öffentlichkeit zu institutionalisieren, die einer Logik des Schreckens strukturell Einhalt gebietet. Ein solcher Begriff der Öffentlichkeit kollidiert womöglich mit Strukturen einer organisationsbasierten modernen Gesellschaft. Voegelins Rekonstruktion der abendländischen politischen Kultur und der Weberschen Soziologie tritt einer Sicht auf den modernen Staat entgegen, wie Carl Schmitt sie formuliert. Weber und Schmitt betonen die Logik des Entscheidens angesichts konkurrierender Optionen der Legitimation von Handeln. Beide erkennen die Rolle der Organisation in der modernen Gesellschaft, die auf der Unterscheidung von Organisation und Person aufbaut. Carl Schmitt hat im Amt des Papstes die Form des Amtes schlechthin sehen wollen. Damit möchte Schmitt ein vormodernes Verständnis von Amt, Person, Herrschaft und Ordnung in die gesellschaftliche Konstellation des 20. Jahrhunderts übertragen. Was im Sinne demokratischer Gleichheit und rationalistischer Vernunft als Mystizismus erscheinen mag, ist, so Schmitt, Ausdruck politischer Rationalität. Die Würde eines Amtes sei niemals von der Person zu trennen, die einen Auftrag verkörpert, den das Amt institutionalisiert. Fallen in der Einheit von Amt und Person Rationalität, Autorität und Humanität zusammen, repräsentieren in Schmitts Augen moderne Funktionäre eine Beliebigkeit der Stelle. Dieser kommt die Autorität eines sinnstiftenden, Entscheidungen fundierenden Grundes – kurzum: die kulturelle Autorität, die eine Stelle erst zu einem Amt werden läßt – abhanden. 43 Amts- und Personautorität wären demnach durch das Prinzip der Repräsentation verbunden, das auf einen ersten Grund der Autorität verweist. Das verbindet Schmitt mit Hobbes. Dieser Grund speist sich aus einer mythischen oder, wie Schmitt es sieht, religiösen Quelle. Schmitts Plädoyer für den Katholizismus als politische Form sieht allerdings von dem Moment der Reflexivität ab, das sich im Denken der Einzelnen herstellen und die »Wahl des Daimons« als personale Entscheidung leiten muß. Schmitt überspielt die KorrelatiVgl. Schmitt, C.: Römischer Katholizismus und politische Form (19232). Stuttgart 1984, S. 24 f.

43

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Ethos und Moral

vität, aber auch die Komplementarität der Reflexionsstile vormoderner und moderner Gesellschaften. Die Kirche ist in der Moderne kaum mehr ein paradigmatisches Beispiel für Organisation überhaupt. Weber wiederum war dieses Motiv in anderer Konstellation vertraut. Schmitt versteht die Funktion des Mythos in der kulturellen Legitimation von Amt und Herrschaft einseitig als Hören auf die Autorität einer empirischen Organisation. 44 Platons Mythos hingegen weist auf die Bedeutung des Mythos als eines durchschauten, mithin rationalen, nicht einfach geglaubten und die indirekte Beobachtung des Wirklichen sowie die Reflexion des Faktischen ermöglichenden Scheins hin. Schmitts Vorstellung steht in scharfem Gegensatz zur Funktion der Organisation in der modernen Gesellschaft. Organisationen verzichten auf das Prinzip der Repräsentation und auf die Legitimation aus ersten Gründen. Moderne Gesellschaften akzentuieren die Einheit der Differenz von Organisation und Person im Modus der Stelle und der Legitimation durch Verfahren. 45

5.

Ethos und Moral

Anfälligkeiten moderner Öffentlichkeit für Paradoxien moralischer Kommunikation werden vor dem Hintergrund der argumentativen Konstellation von Weber, Hobbes und Schmitt verständlich. Moral tritt an die Stelle der Reflexion auf ein Ethos, das mit der Ausdifferenzierung von Organisationen, Markt, Kultur und Öffentlichkeit zu verschwinden scheint. Zumindest entzieht es sich begrifflichen Selbstbeschreibungen moderner Gesellschaften, die auf permanente Vergleiche eingestellt sind. Moralisierung des Ethos geht mit einer Formalisierung des Problems einher, auf das Moral reagiert. Fragen der Moral wiederum hängen mit der Unterscheidung von Organisation und Person zusammen. Sie sind mit dem Aufkommen von Organisationen verbunden. Nicht zuletzt werden sie mit dem Aufkommen der Massenmedien als öffentlicher Beobachtungsform der Gesellschaft kulturell etabliert.

Vgl. Rustemeyer, D.: Complexio oder coincidentia? Gegensätze, Politik und Offenbarung. In: Aubry, C./Geiss, M./Magyar-Haas, V./Miller, D. (Hrsg.): Positionierungen. Weinheim, Basel 2012, S. 170–185. 45 Vgl. Lehmann, M.: Mit Individualität rechnen. Karriere als Organisationsproblem. Weilerswist 2011. 44

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Ungleiche Gleiche

Ämter basieren auf funktionaler, weniger auf politischer, kultureller oder religiöser Gleichheit der Ungleichen. Das gibt die Unterscheidung von Amt und Person für Kritik frei. Es erklärt zum Teil Carl Schmitts Unbehagen an der Moderne. Formale Gleichbehandlung, die materiale Ungleichheit handhabbar macht, begünstigt durch die Vergleichbarkeit der Personen Empfindlichkeiten für Ungleiches. Beobachtungen werden tendenziell intolerant gegenüber den Schwächen der Person als eines Menschen. Statt Menschen als wesentlich fehlerhaft – aber deshalb auch als prinzipiell gut – zu begreifen, stimuliert eine Unterstellung von Perfektibilität Postulate nach Besserung jedes einzelnen. In der Realität des Lebens bleibt Besserung eine kontrafaktische Zumutung. Beständig gibt sie Anlaß zur Kritik. Die programmatische Humanität der Moderne, mit ihrem Glauben an bessere Möglichkeiten des Wirklichen und an Steigerungsfähigkeiten des Einzelnen, kann vor dem Hintergrund vormoderner Ordnungsvorstellungen durchaus als tendenziell inhuman erscheinen. Jetzt und Sosein wirken nämlich im Lichte der Zukunft und des Besseren als defizient. Unvollkommenheit verlangt Arbeit an der Besserung – sowohl im Blick auf andere als auch im Blick auf das Selbst. Verweigerungen solcher Zumutungen wirken nun inhuman. Sie widersprechen dem Wesen des Menschen, sich zu optimieren. Arbeit am Besseren ist potentiell rastlos, sie erstreckt sich auf jedermann und auf alles. Durch Organisation gewinnt sie gesellschaftlich Form. Besserungszumutungen liefern Legitimationen für die organisierte Beobachtung von Personen als fehlbaren Wesen. Tabu und Toleranz weichen Redegeboten und Dauerbeobachtungen von Fehlbarkeit. Im Namen von Emanzipation und Vernunftwerdung entsteht eine Anthropologie des Mangels. 46 Vernunft, die innerweltliche Erlösung spenden soll, fahndet nach der Sünde. Zur Stelle, die ein mit kultureller Autorität bewehrtes Amt ersetzt, gehören Verwechselbarkeit und Auswechselbarkeit der Individuen. Exemplarisch ist das an Organisationen zu beobachten, die sich dem Heil der Einzelnen verschreiben. 47 Einzelne werden zu Sündern, die den Ansprüchen des Und weniger die Anthropologie Arnold Gehlens, die vom Menschen als einem »Mängelwesen« spricht, aber damit die erstaunliche Kapazität der offenen menschlichen Natur meint, sich dank der Bildung von Institutionen an jedwede Umwelt anzupassen. Gerade das natürlich nicht Perfekte macht die Überlegenheit des Menschen als eines Gesellschaftswesens aus. Vgl. Gehlen, A.: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Wiesbaden 198613. 47 Vgl. Lehmann, M.: Mit Individualität rechnen. A. a. O. 46

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Ethos und Moral

Amtes sowenig genügen wie den Idealen einer Kirche der reinen Menschen. Auf Verzeihung dürfen sie kaum hoffen. Verwechselbarkeit und Auswechselbarkeit gelten für die vormodernen Ämter von Kirche und Staat – exemplarisch für König und Priester – nur bedingt. Menschliche Fehler bleiben hier von der kulturellen Unantastbarkeit des Amtes gedeckt. Sie gelten als natürlich und damit als unwesentlich. Durch eine Naturalisierung der Vernunft oder eine Vernünftigkeit der Natur, wie sie die Aufklärungsphilosophie inspirieren und in Kants Transzendentalphilosophie ihren formtheoretischen Kulminationspunkt erleben, wird diese Option ausgeschlossen. Priester- und Königsamt sind weniger Stellen als Symbole. Gegenüber dem Unterschiedenen bleibt die Unterscheidung gleichgültig. Traditional geltende Symbole lassen Unterscheidungen, die sie eröffnen, als natürlich erscheinen. In modernen Gesellschaften hingegen wird die Beobachtung der Differenz von Amt und Person zu einer moralischen Unterscheidung umgebaut, die womöglich an juristische Konsequenzen gekoppelt wird. In dem Maße, wie Kommunikation sich an zweiwertigen Unterscheidungen wie Recht und Unrecht, Wahrheit und Falschheit, Gesundheit und Krankheit, Zahlung und Nichtzahlung orientiert, wird die Stabilität solcher Symbole zerrieben. Wo die Kontingenz der Beobachtungen und Bewertungen offensichtlich – öffentlich – ist, lösen sich natürlich anmutende Unterscheidungen auf. Nachdrücklicher als die katholische Beichte besteht die moderne Gesellschaft auf Bekenntnissen menschlicher Mängel. Mängel werden durch unterschiedliche Organisationen – von Ärzten, Polizisten, Richtern oder Lehrern – behandelt, registriert, verwaltet und geahndet. Ämter in modernen Organisationen sind entauratisiert. Differenzen von Amt und Person im Blick der Öffentlichkeit unterliegen zunehmend einer moralisierenden Beobachtung. An das Personal lassen sich Perfektionsansprüche adressieren, die heuchlerisch die Gleichheit der Sünder gegen Inhaber von Ämtern ausspielen. In der Entrüstung einer massenmedial formierten Öffentlichkeit meldet sich schadenfroh das Ressentiment: Hier gab einer vor, besser zu sein als andere. Niemand ist gut genug für das Amt. Makel der Person greifen auf das Ansehen des Amtes über. Gleichheit der Personen als fehlbarer Menschen wird gegen die Symbolik des Amtes ins Feld geführt. Darin liegt eine der Schwächen demokratischer Systeme bei der Legitimation ihrer Symbole, Ämter und Personen. Die Aura des Amtes existiert nun negativ im Ungenügen der 183 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Ungleiche Gleiche

Person, die es jeweils bekleidet. Nur in seltenen Fällen üben Personen Ämter so lange aus, daß ihre Person mit dem Amt zu verschmelzen scheint und die Unterscheidung unscharf wird. Dann wiederholt sich scheinbar, natürlich in den Massenmedien, ein vormoderner Blick auf die Unterscheidung von Amt und Person. Personen, die mit ihrem Amt verwechselbar werden, weil sie die Unterscheidung von Amt und Person vergessen lassen, werden in den Medien gern mythologisiert. In ihnen scheint die Funktion der Verwechselbarkeit von Stelle und Individuum für einen Moment außer Kraft gesetzt. Darin kommt ein Bedeutungswandel des Bildes zum Vorschein, in dem Personen öffentlich sichtbar und vergleichbar werden. Manchmal geht die Aura des Amtes auf die Person über, auch wenn das Amt als Symbol längst entauratisiert wurde. Das wiederum gelingt dank einer weitgehenden Unsichtbarkeit der privaten Seiten der Person in der Öffentlichkeit ihrer Bilder. Öffentlichkeit gleicht dann einer Maske, die das Rätsel der Person kommunikativ attraktiv macht. Sowohl das Verdecken als auch die Sichtbarkeit des Verdeckens vollziehen sich als Öffentlichkeit. Wie im Falle J. Edgar Hoovers.

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Organisierte Vergleiche

1.

Vergleichsordnungen: Kulturen und Märkte

Im 18. Jahrhundert beginnen westliche Gesellschaften, sich als »Kulturen« zu beschreiben. Offensichtlich existieren menschliche Lebensformen im Plural. Andere Menschen leben und denken anders, pflegen unterschiedliche Vorlieben und halten für plausibel, was Europäern als unvernünftig erscheinen mag. Herodot hatte solche Differenzerfahrungen beschrieben 1; im Zusammenhang der Kreuzzüge, der Entdeckung Amerikas und der Expansion über die Meere werden sie erneut thematisiert. Europas Reflexionshorizont erweitert sich. Fernande Magellans Weltumseglung erbringt 1522 den endgültigen Beweis der Kugelgestalt der Erde. Einer Vielfalt natürlicher und sozialer Lebensformen steht die Endlichkeit der Welt gegenüber. Expansion muß nun qualitativ gedeutet werden. Zunächst ist es weniger Neugier auf kulturelle Unterschiede, die aufwendige Expeditionen motiviert. Ökonomische Interessen treiben die Erschließung der Welt und den Kontakt zu fremden Gesellschaften voran. Kulturelle Verschiedenheit und wirtschaftliche Kalkulationen finden in organisierten Unternehmungen zueinander. Wer über Ozeane segelt und Handel treibt, lernt, mit kulturellen Unterschieden umzugehen. Friedlicher Tausch und wissenschaftliche Neugier gehen mit militärischer Gewalt und religiöser Missionierung Hand in Hand. Antonio Pigafetta, Chronist der ersten Weltumseglung Fernande Magellans, faßt in seinem Reisebericht die Motive dieses für damalige Verhältnisse ungeheuerlichen Vorhabens knapp zusammen. Am 6. November 1521 sichtet die Expedition die Molukken: »Die große Freude, die wir beim Anblick dieser Inseln empfanden, werden Euer Hochwohlgeboren zweifellos verstehen, wenn Sie bedenken, dass wir um ihretwillen 27 Monate weniger zwei Tage unter großen Entbehrungen und 1

Vgl. Herodot: Historien. Düsseldorf, Zürich 2000.

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Organisierte Vergleiche

Verlusten auf unbekannten Meeren fuhren und unzählige Inseln aufsuchten. Die Gewürze waren die Veranlassung, diese ungekannte neue Welt zu suchen, und nur ihretwegen setzten wir uns so vielen Gefahren und Wagnissen aus.« 2 In den semantischen Konzepten, die einem »modernen« Gesellschaftsverständnis Ausdruck verleihen, findet der Zusammenhang zwischen kultureller Differenz und ökonomischer Organisiertheit seinen Niederschlag. Differenz wird nicht nur registriert, sie wird normalisiert und methodisch angewendet. Sozialgeschichtlich ziehen Organisationen Gewinn aus einem normalisierten Umgang mit Differenz. Infolgedessen verändert sich das Konzept der Person. Wer wissen möchte, was und wer er ist, sieht sich aufgefordert, Vergleiche anzustellen. Friedrich Nietzsche charakterisiert 1878 seine Epoche als ein »Zeitalter der Vergleichung«. Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts erscheinen seine Beobachtungen als geradezu prophetisch: »Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einem Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. – Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können … Es ist das Zeitalter der Vergleichung!« 3 Wer wissen möchte, was Menschen miteinander teilen, muß Unterschiede ihrer Lebensweisen studieren. Erkennbar ist die »politische«, also die nichtnatürliche Welt, weil Menschen – und nicht Gott – sie gemacht haben. Statt auf die Begründungsfunktion eines selbstreferentiellen Bewußtseins richtet sich das Interesse Giovanni Battista Vicos auf Zusammenhänge zwischen Wissen und Machen als zwei Seiten derselben Ordnung. 4 Vorstellungen hängen von GewohnheiPigafetta, A.: Mit Magellan um die Erde. Ein Augenzeugenbericht der ersten Weltumseglung 1519–1522. Hrsgg. v. R. Grün. Wiesbaden 20143, S. 201. 3 Nietzsche, F.: Menschliches, Allzumenschliches (1878). In: Kritische Studienausgabe, hrsgg. v. G. Colli u. M. Montinari. Bd. 2. München 1988, S. 44. 4 Vgl. Vico, G. B.: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (1725). 2 Bde. Hamburg 1990, hier Bd. 1, S. 142 f. (I.3, 331) 2

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Vergleichsordnungen: Kulturen und Märkte

ten ebenso ab wie von sprachlichen Eigentümlichkeiten oder klimatischen Bedingungen. Statt sich in eine universale Schöpferordnung hineinzudenken, sollen kulturelle Unterschiede empirisch erforscht werden. Um »Ideen«, »Sitten« und »Taten« der Menschen vergleichend zu betrachten, untersucht der menschliche Geist seine eigenen Formen im geschichtlichen Wandel. Eine Geschichte des Menschengeschlechts nimmt die Gestalt einer »Geschichte der menschlichen Ideen« an. Aufschlüsse über Welt und Denken gewinnen wir durch methodische Vergleiche. »Daher wird der eigentliche, immer gleiche Beweis, der hier geführt werden wird, im Anstellen von Überlegungen und im Reflektieren darüber bestehen, ob unser menschlicher Geist in der Reihe der Möglichkeiten die zu fassen uns vergönnt ist, und soweit uns dies vergönnt ist, mehr oder weniger oder andere Ursachen sich denken können als die, aus denen die Erscheinungen dieser politischen Welt hervorgehen.« 5 Auch Johann Gottfried Herder bleibt gegenüber einer universalen Vernunftnatur skeptisch, die doch stets am Denken und Sprechen bestimmter Menschen abgelesen wird. Herder betrachtet die menschliche Geschichte als Entwicklung aus natürlichen Gegebenheiten zu einer sich selbst erzeugenden Ordnung. Aufeinander folgende und parallel existierende kulturelle Formen fügen sich zu einer Erziehungsgeschichte des Menschengeschlechts. Vernunft, Natur und Kultur sind miteinander verschränkt. An Formen »reiner« Vernunft, wie sie Immanuel Kant zur Grundlage einer Theorie der Moral, der Freiheit und des Rechts macht, mag der Kulturphilosoph Herder nicht glauben. Von der Natur des Menschen ausgehend entdeckt er ein Kontinuum, das sich über dessen Lebensweisen und Sprachen bis zu den Formen seiner Kultur erstreckt. Geschichte ist der Prozeß einer Humanisierung. Er gleicht einer sich selbst erzeugenden Ordnung. »Der Mensch ist also eine künstliche Maschine, zwar mit genetischer Disposition und einer Fülle von Leben begabt; aber die Maschine spielet sich nicht selbst und auch der fähigste Mensch muß lernen, wie er sie spiele. Die Vernunft ist ein Aggregat von Bemerkungen und Übungen unsrer Seele; eine Summe der Erziehung unsres Geschlechts, die, nach gegebnen fremden Vorbildern, der Erzogene zuletzt als ein fremder Künstler an sich vollendet. (…) Empfinge der Mensch alles aus sich und entwickelte es abgetrennt von äußern Gegenständen: so wäre zwar eine Geschichte des Menschen, aber 5

Ebenda, S. 152 f. (I.4.345 f.)

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Organisierte Vergleiche

nicht der Menschen, nicht ihres ganzen Geschlechts möglich. Da nun aber unser spezifische Charakter eben darin liegt, daß wir, beinah ohne Instinkt geboren, nur durch eine Lebenslange Übung zur Menschheit gebildet werden, und sowohl die Perfektibilität wie die Korruptibilität unsres Geschlechts hierauf beruhet: so wird eben damit auch die Geschichte der Menschheit notwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition vom Ersten bis zum letzten Gliede.« 6 Wer Gesellschaft und Geschichte in dieser Weise als selbstreferentiellen Prozeß der Ordnungsbildung versteht, wird kaum in Versuchung geraten, die europäische Kultur für die natürliche Form menschlicher Überlegenheit zu halten. »Eitel also der Ruhm so manches Europäischen Pöbels, wenn er in dem, was Aufklärung, Kunst und Wissenschaft heißt, sich über alle drei Weltteile setzt, und wie jener Wahnsinnige die Schiffe im Hafen, alle Erfindungen Europa’s aus keiner Ursache für die Seinen hält, als weil er im Zusammenfluß dieser Erfindungen und Traditionen geboren worden.« 7 Zu einer aufgeklärten Gesellschaft gehört es, sich mit anderen Kulturen zu vergleichen. »Es ziehet sich demnach eine Kette der Kultur in sehr abspringenden krummen Linien durch alle gebildeten Nationen … In jeder derselben bezeichnet sie zu- und abnehmende Größen und hat Maxima allerlei Art.« 8 Nicht für alle Menschen und Gesellschaften, betont auch Montesquieu, sind dieselben Regeln gut. Gesetze eines Volkes müssen zu dessen »Geist« passen. Unterschiedliche Faktoren – vom Klima über die Religion, Sitten und Geschichte bis zu großen Vorbildern und geistigen Neigungen – prägen das Leben der Völker. Kluge Politiker wissen sie zu berücksichtigen. »Verschiedene Dinge beherrschen die Menschen: Klima, Religion, Gesetze, Regierungsgrundsätze, Vorbilder der Vergangenheit, Sitten und Gebräuche; und aus alledem entspringt und formt sich die Geisteshaltung eines Volkes. Je stärker in einem Volk einer dieser Gründe wirkt, um so mehr treten die anderen zurück.« 9 Turgot, Geschichtsphilosoph, Wirtschaftstheoretiker, hoher Verwaltungsbeamter und eine Zeitlang Finanzminister Ludwigs XVI., gibt der ähnlich gelagerten Überzeugung Ausdruck, in Herder, J. G.: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791). Frankfurt/M. 1989, S. 337. 7 Ebenda, S. 358. 8 Ebenda, S. 650. 9 Montesquieu: Vom Geist der Gesetze (1734). 2 Bde. Tübingen 19922, hier Bd. 1, S. 413 (XIX, 4). 6

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Vergleichsordnungen: Kulturen und Märkte

den geographischen Regionen der Welt und den dort herrschenden Lebensformen sei die gesamte Geschichte der Menschheit in einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen anzuschauen. Politisches Handeln kann sich davon belehren lassen. 10 Markt und Freiheit bilden in Turgots Augen wichtige Voraussetzungen des Fortschritts, weil sie selbstreferentielle Ordnungsprozesse stimulieren. »Die Fortschritte führen zu weiteren Fortschritten …« 11 – Kultur und Markt treten als soziale wie als epistemische Ordnungen zutage, deren Erkenntnis politisches Handeln motivieren kann. Wesentlich daran beteiligt ist, wie Adam Smith meint, die marktförmige Organisation menschlicher Arbeit. Arbeitsteilung führt zu Wohlstand. Sie gelingt in organisierten Produktionsformen, die eine Zerlegung der Produktionsschritte erlauben. Statt daß sie Arbeiter, wie Marx später erwidert, von ihrem Produkt entfremde, glaubt Smith an den anthropologischen Segen der Arbeitsteilung, fördert diese doch produktive Kräfte des Einzelnen. Weil nicht jeder Mensch aufgrund seiner Besonderheit zu allen Verrichtungen gleich gut geeignet ist, muß Organisation die Fähigkeiten aller optimieren. Dank des geldbasierten Tausches arbeitsteilig erzeugter Güter steigt der Wohlstand der Nationen wie auch derjenige aller Individuen. Von einer altruistischen Gesinnung ist diese Nutzensteigerung unabhängig. Für Smith entsteht der Markt als gesellschaftliche Folge natürlicher Neigungen. Natürliche und gesellschaftliche Formen menschlicher Existenz werden im Markt so vermittelt, daß sie unterschiedliche Gesellschaften in allseitig vorteilhafte Kommunikationsverhältnisse bringen. Gefühle der Hilfsbereitschaft oder des Wohlwollens sind nämlich wenig verläßliche Ressourcen. Darum wirkt der Markt auch hier segensreich. Nicht Gefühle, Interessen motivieren andere, uns mit ihren Stärken bei unseren Schwächen zu unterstützen. 12 Autonome Einzelne, die dank ihrer Arbeit unabhängig leben können, begegnen einander auf Märkten als Gleiche. Die Ungleichheit der Einzelnen wie ihrer Präferenzen findet auf Märkten einen Ausgleich zum Vorteil aller. Märkte organisieren die Koexistenz von

Sein Projekt, die Einführung des freien Marktes für Getreide in Frankreich, führte jedoch zu politischen Protesten von Adel und Volk. 11 Turgot, A. R. J.: Über die Fortschritte des menschlichen Geistes (1748–1752). Frankfurt/M. 1990, S. 142. 12 Vgl. Smith, A.: Der Wohlstand der Nationen (1776). München 1978, S. 16 f. 10

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Organisierte Vergleiche

Ungleichheit zum allgemeinen Nutzen. Darin realisieren ungleiche Gleiche ihre Freiheit. Ordnungen, die das ermöglichen, entspringen weniger dem Planungsvermögen menschlicher Vernunft als einer Bewegung geschichtlicher Umstände, die sich hinter dem Rücken der Menschen vollziehen. »Wie die Winde, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen, und die wehen, wohin sie wollen, stammen auch die Formen der Gesellschaft von einem dunklen und fernen Ursprung her. Lange vor der Entstehung der Philosophie entspringen diese den Instinkten und nicht den Spekulationen der Menschen. Die Masse der Menschen wird in ihren Einrichtungen und Maßnahmen durch die Umstände geleitet, in die sie versetzt ist. (…) Jeder Schritt und jede Bewegung der Menge wird sogar in denjenigen Zeitaltern, die man die aufgeklärten nennt, mit gleicher Blindheit für die Zukunft gemacht. Die Nationen stoßen gleichsam im Dunkeln auf Einrichtungen, die zwar durchaus das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht jedoch die Durchführung irgendeines menschlichen Planes.« 13 Moderne »bürgerliche« Gesellschaften können sich als Ordnungen begreifen, die einerseits Kontingenzen geschichtlicher Erfahrungen und geographischer Bedingungen entspringen, andererseits aber von der Unruhe performativer Vergleichsordnungen profitieren. Solche Ordnungen ermöglichen es, aus natürlichen Gegebenheiten und Zufällen Nutzen zu ziehen. 14 Entfesselt wird eine Dynamik, die an kein natürliches Ende gelangt: In Ordnungen des Vergleichs entsteht Neues durch Neues. Zwar hat die Gesellschaft kein Telos, doch dafür gewinnt sie eine unendliche Zukunft. »Der menschlichen Kunstfertigkeit geht ihr Stoff niemals aus, und die Mühen des Fleißes kommen deshalb niemals an ihr Ende.« 15 Das unterscheidet moderne Gesellschaften von politischen Ordnungen, die auf Hierarchie und Tradition beruhen. Tausch erscheint für Theoretiker der »commercial society« als Form der Freiheit von Ferguson, A.: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1767). Frankfurt/M. 1986, S. 258. 14 »Es liegt auf der Hand, daß ein Volk, wie sehr es auch durch ein Gefühl der Notwendigkeit und einen Wunsch nach Bequemlichkeit angetrieben wird oder durch irgendwelche Vorteile seiner Lage und politischen Grundsätze begünstigt ist, doch keinen großen Fortschritt in der Pflege der lebenserhaltenden Künste machen kann, bis es die verschiedenen Aufgaben, die jeweils besondere Geschicklichkeit und Aufmerksamkeit erfordern, voneinander getrennt und verschiedenen Personen anvertraut hat.« Vgl. ebenda, S. 337. 15 Ebenda, S. 385. 13

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Vergleichsordnungen: Kulturen und Märkte

Gleichen auf Märkten, die sachliche Äquivalenzen organisieren. Wechselseitiger Nutzen löst politische Autorität oder traditionale Rangordnungen ab. 16 Mit dem Markt verbinden sich Hoffnungen, alte gesellschaftliche Ordnungsformen zu überwinden und eine neue, dynamische Zukunft zu erschließen. Prinzip des Marktes ist Selbstorganisation. Obwohl er dieses Merkmal mit dem menschlichen Bewußtsein teilt, bleibt seine Dynamik von Subjekten und deren Intentionen zunächst ebenso zu unterscheiden wie von politischen Verträgen oder substantiellen Identitäten einer Bürgergemeinschaft. Zu anspruchsvollen politischen Identitätsvorstellungen oder normativen Übereinstimmungen bietet der Markt eine pragmatisch anmutende Alternative. Ohne Ansehen seiner sozialen oder kulturellen Herkunft findet jedermann Zugang. Ohne miteinander zu kollidieren, treffen kulturelle Unterschiede hier aufeinander. Allerdings verbinden und zerstören Märkte menschliche Lebensformen zugleich. Von Adam Ferguson über Emile Durkheim bis zu Robert Bellah oder Jürgen Habermas sind eine vermeintliche Verhärtung der Herzen, der Verlust an Solidarität oder die Austrocknung lebendiger Kommunikation bleibende Themen. 17 Gesellschaftstheorie nimmt Züge einer Kulturkritik an, wenn die Ordnung des Marktes gegen diejenige der Kultur ausgespielt wird. Unter solchen Perspektiven erscheinen Kultur und Markt weniger als komplementäre Ordnungen des Vergleichs, die auf historisch neuartige Weise Stabilität mit Dynamik verbinden. Eher gelten sie als widersprüchliche Ordnungsformen, deren Konkurrenz die Vernunft der Gesellschaft im ganzen bedroht. Versuchungen, so zu argumentieren, werden um so größer, je selbstverständlicher der »Markt« mit einer geldbasierten Vergleichsordnung identisch gesetzt wird. Welche Folgen die Sachlichkeit organisierter Arbeitsteilung für den Staat wie für die Einzelnen mit sich bringen kann, hat Hegel gesehen. Im »System allseitiger Abhängigkeit« ist »jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts«. 18 Vgl. Rosanvallon, P.: Die Gesellschaft der Gleichen. Hamburg 2013, S. 38 ff. »Interesse ernüchtert die Einbildungskraft und verhärtet das Herz.« Ebenda, S. 388. – Vgl. exemplarisch – die Liste ließe sich verlängern – Durkheim, E.: Über soziale Arbeitsteilung (1893). Frankfurt/M. 1988; Bellah, R. u. a.: Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft (1985). Köln 1987; Habermas, J.: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt/ M. 1981. 18 Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7. Frankfurt/M. 1982, §§ 182 f., S. 339 f. 16 17

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Organisierte Vergleiche

Wo Familie und bürgerliche Gesellschaft auseinandergerissen werden, droht sittliche Identität verlorenzugehen. Anerkennung erlangen Einzelne als Eigentümer. Subjekte sind Eigentümer und damit Rechtssubjekte: Personen. Ansprüche, die sie geltend machen, beruhen auf institutionalisierten Rechten. Hierin gründet die Bedeutung des Eigentums für die bürgerliche Gesellschaft. Bleibt Anerkennung mangels Eigentum versagt, führt Allgemeinwohl also nicht zum Wohl des Einzelnen, soll das Recht dafür sorgen, daß staatliche Kompensationen an die Stelle des Marktes treten: »aber indem ich ganz in die Besonderheit verflochten bin, habe ich ein Recht zu fordern, daß in diesem Zusammenhang auch mein besonderes Wohl gefördert werde. Es soll auf mein Wohl, auf meine Besonderheit Rücksicht genommen werden, und dies geschieht durch die Polizei und Korporation.« 19 Wenn Gefühle ausfallen, Moral unzuständig ist und den Markt seine Folgen für den Einzelfall gleichgültig lassen, sollen staatliche Organisationen einspringen. Die Grenze zwischen Marktökonomie und Politik muß von der Politik nachjustiert werden, um Gerechtigkeitsansprüchen zu genügen. Hegel antizipiert den Sozialstaat in den immanenten Schranken der Marktgesellschaft. Er zeigt auf, warum Ökonomie in der bürgerlichen Gesellschaft »Politische Ökonomie« wird: Die Logik des ökonomischen Tausches zieht und negiert zugleich die Grenze zur Logik politischer Vergleichsordnungen. Moral kann diese Differenz nicht heilen. Sie verschiebt auf Intentionen der Einzelnen, was gesellschaftlichen Differenzen entspringt. Weil Hegel an eine korporativständische Organisation des Politischen glaubt, in die sich Arbeitsmassen wie von selbst aufteilen, vertraut er auf die dauerhafte Stabilität eines solchen Systems. Fällt diese Vermutung, wie bei Marx, jedoch weg, zerbricht mit dem Marktprinzip auch das Prinzip des Staates. Nun zeigen sich schonungslos die Folgen der »commercial society«. Wirtschaftliche und politische Egalität, Gerechtigkeit oder Teilhabe hängen, wie Zeitgenossen erfahren müssen, keineswegs notwendig zusammen. Konsequenterweise kennt die Marxsche Politische Ökonomie nach dem finalen Ende des Klassenkampfes keinen Staat. Nur selten diskutiert Marx Rolle und Notwendigkeit von Organisationen. Verschiedenheit soll einer Form der Identität weichen, die weder politische noch ökonomische Interessenvielfalt organisatorisch bewältigen muß. Kultur, Ökonomie und Natur fallen in der 19

Ebenda, § 229, S. 382.

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Komplementäre Dynamisierungen

Vision einer kommunistischen Gesellschaft als Modulationen von Überfluß in einer gemeinschaftlichen zweiten Natur des Menschen zusammen.

2.

Komplementäre Dynamisierungen

2.1

Organisation und Zeichengebrauch

Markt und Kultur liefern Koordinaten des Selbstverständnisses einer sich dynamisierenden Gesellschaft. Zu Vorstellungen eines auf Gewißheit basierenden Wissens und eines sich selbst begründenden Bewußtseins stehen diese Begriffe tendenziell in einem Spannungsverhältnis. Gleiches gilt für das Kantische Modell universalistischer Vernunft. Kultur und Markt setzen auf Vergleiche statt auf Einheit. Differenz steht Synthesis gegenüber. Selbstorganisation kontrastiert Selbstbegründung. Versuche, die Dynamik von Markt und Kultur zu verstehen, schenken Organisationen zunächst wenig Aufmerksamkeit. Arbeit, Arbeitsteilung, Güter und deren geldvermittelte Zirkulation stehen im Vordergrund. Einer Anthropologisierung des Ökonomischen hat diese Sicht Vorschub geleistet. »Arbeit« hebt menschliche Handlungsvollzüge hervor. Marx knüpft seine Entfremdungskritik an sinnliche Bildungsqualitäten menschlicher Arbeit. 20 Von da aus ist es nicht weit, nach Motiven der Akteure – ihren »Zielen« oder »Werten« wie Eigennutz oder Moral – zu fragen, um sich Funktionsweisen von Märkten oder Kulturen zu erklären. Aus einer Anthropologie der Arbeit entsteht eine Hermeneutik des Handelns. Neuartige Formen der Selbstorganisation, die doch auf keinen epistemischen oder natürlichen Grund zurückzuführen sind, werden in ihrer Unberechenbarkeit entschärft, indem sie als Konsequenz rationaler Orientierungen gedeutet werden. Selbstorganisierte, differenzerzeugende Prozesse, die zur Dezentrierung des Selbstbewußtseins und zur Erschütterung An die Stelle vermeintlich falsch abstrakter nationalökonomischer Theorien setzt Marx die Idee lebendiger produktiver Arbeit. Deren Bewegung fördere die Genealogie ökonomischer Konzepte zutage. Eine Genealogie der Arbeit mündet in eine Genealogie der Warenform und in eine Logik der Entfremdung, die zu einer politischen Logik des Klassenkampfes führt, an deren Ende die Wiederaneignung der menschlichen Natur steht. Vgl. Marx, K.: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844). In: MEW Ergänzungsband. Schriften bis 1844. Berlin 1977, S. 465–588.

20

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Organisierte Vergleiche

vieler Gewißheiten führen, korrespondieren eher frühromantischen Ideen unendlicher Reflexion als Vorstellungen von Wissen, Begründung oder transzendentalem Ich, wie sie in der Tradition Descartes’ im deutschen Idealismus durchgearbeitet werden. Soziale Prozesse sollen hier aus Denkformen, Handlungsregeln, Absichten und Orientierungen erklärt werden. Im Hintergrund steht die Figur eines selbstreflexiven, Rationalität begründenden Ich. Indem das Ich Dezentrierungen auffängt, wird es zur paradoxen, zugleich innerhalb und außerhalb der empirischen Welt angesiedelten Instanz von Freiheit und Moral. Moral wiederum erscheint als geradezu unverzichtbares Mittel, die Undurchschaubarkeit, Kontingenz und Vielfalt zu kompensieren, mit der die moderne Gesellschaft Menschen konfrontiert. Das Verständnis ordnungsbildender Formprozesse, die sich kaum oder unzureichend aus Handlungsmotiven von Akteuren begreifen lassen, wird damit erschwert. Dazu hat beigetragen, daß spezifische Ordnungsleistungen von Organisationen lange unberücksichtigt geblieben sind. Sowenig wie Märkte oder Kulturen sind sie durch subjektive Rationalität zu erklären. Organisierte Ordnungen markieren Phänomene der Kommunikation, wie sie für moderne Gesellschaften typisch wurden. Unter anderem resultieren sie aus Formen des Symbolgebrauchs. Zwischen dem Wissen, das in Organisationen erzeugt wird, und der natürlichen Wahrnehmungsdiagrammatik des Menschen wird eine Differenz installiert. Mit bewußtseinsphilosophischen Mitteln ist diese Differenz schwer zu beschreiben. Schon quantitativ überfordert das in Organisationen produzierte Wissen natürliche Auffassungsmöglichkeiten von Menschen. Es entstehen Ordnungsformen, Techniken und Prozeduren, die anders gelagert sind als Bewußtseinsprozesse. Wissen in Organisationen besteht häufig in Verwaltung. Datenförmige Unterscheidungen werden mit Routinen verknüpft. Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik erlauben es, mit Ungewißheit umzugehen. Da solche Wissensformen auf mentale Repräsentationen des Gewußten nicht angewiesen sind, dieses sogar als bloß wahrscheinliche Größe behandeln können, verwandeln sie die Welt allmählich in einen operablen, symbolisch geordneten Unterscheidungsraum. 21 Organisationen verhelfen dem Gedanken des Unendlichen als mathematischer Figur zur praktischen Verankerung in der Wirklichkeit, indem Vgl. Schäffner, W.: Nicht-Wissen um 1800. Buchführung und Statistik. In: Vogl, J. (Hrsg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S. 123–144.

21

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Komplementäre Dynamisierungen

sie mit Wirklichem als Möglichem und Möglichem als Wirklichem umzugehen lernen. Entscheidend tragen sie zur Entfaltung einer Kultur des Messens bei. 22 Sprachliche Urteile bilden so wenig wie bewußtseinsförmige Evidenzen Präzedenzfälle für derartige Wissensregime. Max Webers Rekonstruktion abendländischer Rationalität beschreibt diesen Prozeß als Entzauberung der Welt. Zweckrationale Kalküle, die sich in Organisationen von Wirtschaft, Staat und Wissenschaft kristallisieren, stürzen Menschen in ein Vakuum des Sinns. Orientierungslos stehen sie der Komplexität der Kultur mit ihrer Vielfalt von Wertungsmaßstäben gegenüber. 23 Je mehr Möglichkeiten die kapitalistische Wirtschaft und Kultur hervorbringen, desto einsamer, meint Georg Simmel, lassen sie den Einzelnen zurück. Religion vermag die Leere des Sinns nicht zu kompensieren. Geld ist längst zum neuen Gott geworden. 24 Moderne Kultur und moderne Ökonomie stehen einander in diesen Deutungen komplementär gegenüber. Ihrer entfesselten Dynamik scheinen verläßliche Maßstäbe menschlichen Handelns zum Opfer zu fallen. Organisationen tragen dazu bei, Vergleiche, wie sie Kultur und Markt in der gesellschaftlichen Kommunikation installieren, von Wahrnehmungs- und Denkleistungen der »Subjekte« relativ zu entkoppeln und auf Dauer zu stellen. Auf diese Weise werden sie reflexiv auf sich selbst anwendbar: Organisationen machen, in einem anderen Sinne als das Bewußtsein, entscheidbar, was sie unterscheiden. Entscheidungen bezeichnen hier rekursive Kommunikationen. Bewußtseinsakte bleiben ihnen äußerlich. Mit dem Modell eines rational seine Handlungsoptionen wählenden Subjekts sind sie schwer vereinbar. Dank ihrer Entkopplung von Bewußtseinszuständen erlangen Organisationen andere Freiheitsgrade im Umgang mit Vergangenheit und Zukunft. Durch Planungen, also symbolische Manipulationen von Zuständen und Möglichkeiten, behandeln sie unbekannte Zukunft

Vgl. Manhart, S.: Vermessene Moderne. Zur Bedeutung von Maß, Zahl und Begriff für die Entstehung der modernen Kultur. In: Baecker, D./Kettner, M./Rustemeyer, D. (Hrsg.): Über Kultur. Theorie und Praxis der Kulturreflexion. Bielefeld 2008, S. 191– 219. 23 Vgl. Weber, M.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I (1920). Tübingen 19889. 24 Vgl. Simmel, G.: Philosophie des Geldes (1900). Gesamtausgabe Bd. 6. Frankfurt/ M. 1989. 22

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Organisierte Vergleiche

als planbare Größe, über die sich entscheiden läßt. 25 Reflexivität von Entscheidungen wiederum erfolgt über Verkettungen von Zeichenformen. Reproduzieren sich Märkte primär über Zahlzeichen und Techniken des Rechnens, stützen Kulturen sich vorrangig auf Sprache und Bilder. In Organisationen spielen beide Modi der Zeichenverwendung eine Rolle. Seit dem 19. Jahrhundert werden hier jedoch Zahlen und Rechenprozeduren wichtiger. Das beflügelt einen Reflexionsstil mathematischer Rationalität, der allmählich auch im kulturellen Selbstverständnis eine führende Rolle übernimmt.

2.2

Symbol und Wirklichkeit

Geographische und soziale Reichweiten der Kommunikation expandieren im Zuge von Organisationsbildung. Außerdem beschleunigt sie deren Frequenz. Mehr Themen, Sachverhalte oder Ereignisse geraten gleichzeitig in den vergleichenden Blick. Anwesenheit von Personen bildet nicht länger den Standardfall für Kommunikation. Schnell, selektiv und über große Distanzen hinweg schließt Kommunikation an Kommunikation an. Motive oder Persönlichkeitsmerkmale, in Interaktionen kaum zu ignorieren, brauchen nicht länger beachtet oder taktvoll übersehen zu werden. Zukunft wird in die Gegenwart hineingeholt. Wahrscheinlichkeiten erwarteter Ereignisse beeinflussen die Wirklichkeit des Jetzt. Dazu verhilft der Gebrauch von Symbolen. Ohne Symbole gelingen Organisationsbildungen so wenig wie Bewußtseinsleistungen. Entlang von Zeichenformen werden selektive Unterscheidungen verknüpft und reflexiv im Modus von Entscheidungen bewirtschaftet. Fiktionales kommt als realistische Variante des Wirklichen in Betracht. Kontingenzen des Wirklichen bleiben präsent. Jede Gegenwart führt eigene Vergangenheiten und Zukünfte mit. 26 Zeithorizonte der Gegenwart vervielfältigen sich, wenn simultane zeitliche Differenzen in der Gegenwart einer Entscheidung Berücksichtigung finden. Sachliche, soziale und temporale Bestimmungen erweisen sich als abhängig von Vergleichen und Perspektiven. Eine Strategie, auf Kontingenzerfahrungen zu reagieren, ist der Vgl. Karafillidis, A.: Planung und Kommunikation. Vortragsmanuskript 2005. Vgl. www.karafillidis.com. 26 Vgl. Esposito, E.: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Frankfurt/M. 2007. 25

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Komplementäre Dynamisierungen

Umgang mit Wahrscheinlichkeiten. Mathematische Zeichen bieten sich dafür besonders an. Rechnungsführung und statistische Modellierungen erlauben es Organisationen, mit Möglichkeiten und Zukünften »rational« umzugehen. Dokumentationssysteme und Verfahrensschritte ordnen schriftliche Notationen. Sie strukturieren Entscheidungen, verteilen Zuständigkeiten und Kompetenzen, bauen Legitimität auf und halten Erinnerungen bereit. Welt erscheint in symbolischen Registern des spezifisch Unterscheidbaren. Mathematische Modelle behandeln mögliche Zukünfte als Gegenwart. Allmählich drängt im 19. Jahrhundert das Rechnen die Form der Akte zurück. Rechenregime generieren Zahlen aus der Kombinatorik selbsterzeugter Zahlen. Innerhalb von Organisationen werden sie zur Grundlage des Entscheidens. 27 Zahlenförmige Ordnungen machen beliebige Umweltzustände einer Organisation vergleichbar und bewertbar. Weil Zahlen sich ständig ändern, entsteht der Eindruck einer dynamischen, zur Zukunft hin offenen Welt. Weisen des Zeichengebrauchs ordnen in Organisationen, was für sie Wirklichkeit ausmacht. Beim Zustandekommen von Entscheidungen übernehmen Zeichenoperationen konstitutive Funktionen. Von anderen Sozialformen unterscheiden Organisationen sich, weil sie ihren Operationsmodus aus Entscheidungen beziehen. Numerische Darstellungen eröffnen jeweils eindeutige Optionen des Entscheidens. Zahlen ordnen, was immer sie ordnen, nach Mehr oder Weniger. Unterschiede erscheinen als klar und bestimmt. Wirklichkeit lässt sich als kontingent behandeln, denn Zahlen markieren nichts als in sich abgeschlossene Entität. Rechenoperationen kennen keine Vorstellung von Telos, in dem eine Sache oder eine Handlung ihren natürlichen Zweck fände. Welt, im Format von Zahlzeichen, büßt Qualitäten ein, um deren Beschreibung sich die Aristotelische Logik bemüht: Eigenschaften und Substanzen, Ursachen und Telos, Fragen und Aussageweisen kommen in mathematischen Ordnungen nicht mehr als etwas vor, das Welt verständlich macht. Anschluß finden Organisationen vielmehr in sich selbst: an ihren Entscheidungen. Vgl. Vollmer, H.: Folgen und Funktionen organisierten Rechnens. In: Zeitschrift für Soziologie 33 (2004), H. 6, S. 450–470; außerdem Hopwood, A. G.: The Archaeology of Accounting Systems. In: Accounting, Organizations and Society 12 (1987), H. 3, S. 207–234; Ders.: Accounting, Calculation and Organisation Change. In: Accounting, Auditing & Accountability Journal 3 (1990), S. 125–143. Ich folge hier dem Theorievorschlag von Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung. Opladen, Wiesbaden 2000.

27

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Organisierte Vergleiche

Selbstreferenz, die sich über rekursive Anschlüsse von Entscheidungen als Kommunikation realisiert, hat nicht die Form von Bewußtsein. Innerhalb der Organisation müssen deshalb mögliche Grenzen beobachtet und gepflegt werden – nicht zuletzt die Grenze zum Bewußtsein der Mitarbeiter. Was zur Organisation »gehört«, bedarf der Aufmerksamkeit, um Alternativen sichtbar zu halten und variabel gestalten zu können. »Eine Organisation besteht darin, intern Möglichkeiten zu schaffen, die es extern noch gar nicht gibt, dafür jedoch in Kauf nehmen zu müssen, daß extern ohne weitere Spezifikationen die Kommunikationen der Organisation (ihre Anordnungen, Produkte, Lehrangebote etc.) entweder akzeptiert oder nicht akzeptiert werden.« 28 Nur in Organisationen muß auch über Symbolformen entschieden werden, mit denen Möglichkeiten strukturiert werden. Ob, was als wirklich gilt, in Gestalt von Zahlen, Berichten, Erzählungen, Mythen oder Bildern dargestellt wird, kann erhebliche Unterschiede dafür machen, was als mögliches Entscheidungsproblem überhaupt in Frage kommt. Anders als im simultanen Zeichengebrauch menschlicher Wahrnehmung zieht organisierte Kommunikation Wirklichkeiten und Möglichkeiten entlang verschiedener Zeichenformen auseinander.

2.3

Politik und Ökonomie

Mögliches begegnet in der Kommunikation als Erwartung, mithin als Wirkliches. Für ein Verständnis dessen, was in modernen Gesellschaften Aufgabe der »Politik« werden kann, war diese Normalisierung folgenreich. Gesellschaftliche Mißstände – wie Hunger – gelten nicht länger als natürliche Phänomene, die zyklisch als Plagen oder göttliche Strafen auftreten. Nun wecken sie Erwartungen einer Veränderung des Wirklichen. Ohne Organisationen käme nicht zustande, was moderne Gesellschaften als Politik kennen. Organisierte Politik vollzieht sich wesentlich als Kommunikation. Sie macht Entscheidungen sichtbar, erklärt Zuständigkeiten, behauptet Handlungskausalität und stellt ihren Adressaten attraktive Zukünfte in Aussicht. 29 Vergleiche von allem und allen nähren Vorstellungen einer Baecker, D.: Organisation und Management. Frankfurt/M. 2003, S. 156. Innerhalb dieses Rahmens vollziehen sich natürlich mikropolitische Spiele von Intrigen, Konkurrenz und Manipulation.

28 29

198 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Komplementäre Dynamisierungen

organisierten Veränderbarkeit des Wirklichen. Organisationen reproduzieren sich über die Erwartung, Zukunft sei anders als Vergangenheit. Damit zerreißen ältere Vorstellungen einer geschlossenen oder zyklisch ihre Formen wiederholenden Weltordnung. Politik – im Sinne organisierter Kommunikation – wächst mit unbegrenzten Erwartungen an Veränderungen, die öffentlich, für jedermann sichtbar, formuliert werden. Politik und Ökonomie entfalten, bei aller Eigenlogik ihrer Entscheidungsform, komplementäre Vergleichsordnungen: Märkte. Nachfragern auf Märkten, die keineswegs rational kalkulierende »Subjekte« sein müssen, entsprechen Wähler in der Politik. Über Preise und Stimmen stehen sie miteinander in Verbindung. Indirekt entstehen solche Verbindungen über Ordnungen der Konkurrenz. Hier bestimmt das Verhalten einzelner Akteure sich durch die Beobachtung des Verhaltens anderer. 30 Unterschiedliche Motive oder Präferenzen verschwinden im Mechanismus der Zahl, über den sich Wahlen entscheiden oder Preise bilden. Politik kann – wie das Management in Organisationen – als Sichtbarkeit des Entscheidens dargestellt werden. Da Zukunft offen ist, sind Entscheidungen nicht errechenbar. 31 Mit der Einführung demokratischer rechtsstaatlicher Verfassungen, die gewaltfreie Prozeduren des Wechsels von Regierung und Opposition ermöglichen, formiert Politik sich neben der Wirtschaft als Aufmerksamkeitsmarkt, dessen Operationen quantitativ bewertet werden können. Für Ökonomie und Politik bedeutet das eine Normalisierung von Veränderungserwartungen. Wer heute arm ist, kann morgen reich werden; und wer heute regiert, mag sich morgen in der Opposition wiederfinden. Niemand läßt sich damit trösten, daß, wer früher schon arm gewesen ist, dies auch bleiben wird, da es seiner Natur entspricht. 32 Dynamisierungen von Differenz befördern kulturell neue Bilder der Gleichheit. Sie erscheint als Option, eigene Positionen zu verbessern. 33 Werden Änderungswünsche in die Zukunft verlagert und an Organisationen adressiert, verringert sich umge-

Vgl. Rosa, H.: Wettbewerb als Interaktionsmodus. Kulturelle und sozialstrukturelle Konsequenzen der Konkurrenzgesellschaft. In: Leviathan 34 (2006), H. 4, S. 82– 104. 31 Vgl. Luhmann, N.: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt/M. 2000, S. 102 ff. 32 Natur profiliert sich gegen Markt oder Kultur als Ordnung, die nicht auf Entscheidungen bzw. auf organisierter Reflexivität beruht. 33 Vgl. Rosanvallon, P.: Die Gesellschaft der Gleichen. A. a. O., S. 33 ff. 30

199 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Organisierte Vergleiche

kehrt die Wahrscheinlichkeit, auf Revolution in der Gegenwart zu setzen.

2.4

Homo oeconomicus und epistemisch-moralisches Subjekt

In zwei klassischen Denkfiguren haben sich die Vergleichsordnungen von Markt und Kultur verdichtet: dem Homo oeconomicus und dem epistemisch-moralisch urteilenden Subjekt. Beide Figuren fassen reine Vernunftformen ins Auge. Ihnen liegen Vorstellungen urteilsfähiger, autonomer Akteure zugrunde, die mathematisch-kalkulierend oder epistemisch-moralisch urteilend der Welt begegnen. Verschieden sind, bei Gleichheit einer formalen Urteilsform, jedoch die Zeichenformen, mit denen jeweils hantiert wird. Dem Rechnen des Homo oeconomicus steht die Sprache des epistemisch-moralischen Subjekts gegenüber. Kalkülen korrespondieren Urteile, deren logische Form der Satz ist. Kants Philosophie eines urteilsfähigen, freien, moralisch selbstbestimmten Subjekts korrespondiert solchen Vorstellungen. Allerdings stehen sowohl das Modell des Homo oeconomicus als auch dasjenige des epistemisch-moralischen Subjekts im Widerspruch zur Form organisierter Selbstreferenz, die sie teilweise erklären sollen. Alternative, weniger systemisch angelegte und formalen Prozeduren skeptisch gegenüberstehende Vorstellungen von Subjektivität, wie sie von Friedrich Schlegel, Hölderlin oder Novalis gepflegt worden sind, traten in den Hintergrund. Schematisierungen organisierter Kommunikation, wie sie die moderne Gesellschaft etabliert, waren mit einem Kantischen Modell leichter kompatibel. 34 Mit der Differenz zwischen Zahl und Wort, Rechnen und Urteilen entfalten die Reflexionsfiguren von Markt und Kultur eine Alternative, die sich bereits in der Philosophie von Descartes findet: Zwischen Rechnen und Urteilen, Zahl und Wort bleibt Descartes’ Argument einer Selbstreferenz des Bewußtseins auf instruktive Weise unentschieden. Descartes schwankt bei seiner Beschreibung von Urteil und Evidenz zwischen dem Modell mathematischer und sprachlicher Zeichen. 35 Einerseits ist das Argument des ego cogito (»ich denke, ich bin«) wie auch die Unterscheidung zwischen res Vgl. Kapitel Unvertretbares Ich. Vgl. Descartes, R.: Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen (1685). Hamburg 1972.

34 35

200 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Komplementäre Dynamisierungen

cogitans und res extensa auf der Basis von Aussagen konstruiert. Andererseits soll es die res extensa als mathematisch beschreibbare Größe rechnenden Transformationen nach dem Modell algebraischer Operationen erschließen, weil mathematisches Wissen maximale Evidenz und rationale Manipulation erlaubt. Im Herzen der Figur von Selbstreferenz regiert semiotische Ambivalenz. Wie folgenreich diese Ambivalenz ist, zeigt sich, wenn das Modell der Rationalität in den Vergleichslogiken von Markt und Kultur organisierte Formen annimmt. Differenzieren Märkte sich maßgeblich über quantitative Vergleiche im Modus des Rechnens aus, arbeiten Kulturen mit Vergleichen von je Besonderem. Letztere stützen sich auf semantische Register des jeweils Unterscheidbaren. Wahrnehmungsnahe Bildqualitäten gehören, neben sprachlich Sagbarem, konstitutiv dazu. Besonderes begegnet als zugleich Sichtbares, Sagbares, Bedeutungsvolles, Nützliches, Begehrtes oder Abstoßendes. Seine »Form« bleibt an die Perspektive derjenigen gebunden, die Vergleiche anstellen. Ähnliches und Verschiedenes treten in je besondere Konstellationen, ohne auf Identisches bezogen oder linear transformiert zu werden. Bedeutungen von Etwas für jemanden innerhalb komplexer Vergleichskontexte bleiben irreduzibel auf quantitative Abstände. Märkte neigen hingegen dazu, Alternativen quantitativ auszudrücken. Sie etablieren dynamische Relationen skalierbarer Größen. Zusammen mit der Präferenzregel, Mehr sei dem Weniger vorzuziehen, stimulieren Skalierungen binäre Operationen und Entscheidungen. Daraus resultiert ein Maximum an Selektivität: Andere Vergleichsmöglichkeiten bleiben zunächst außer Betracht. Ökonomische Selektivität läßt sich mit der Cartesianischen Modellierung der res extensa als Ordnung des reinen Ausgedehnten vergleichen. Qualitäten werden ausgeklammert. Universalisierungen quantitativer Operationen kommt das entgegen. Diese führen zur Idee eines homogenen Raumes, der sich in jeder Gegenwart als Transformationsraum zur Transparenz bringen ließe. Kants Lehre von den Formen reiner Vernunft greift ebenfalls auf die Vorstellung eines homogenen Raumes und einer entsprechenden Zeit zurück, wie sie der Newtonschen Physik entspricht. Erst unter dieser Prämisse der transzendentalen Ästhetik wird die Figur eines konsistent und rational urteilenden, sich selbst Gesetze gebenden Subjekts möglich. Vorstellungen eines homogenen Zeit-Raumes »rechnen« mit der Unendlichkeit aneinander anschlußfähiger Operationen. Qualitative Differenzen stehen dieser universellen Anschlußfähigkeit nicht im Wege. Gleichgültig, 201 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Organisierte Vergleiche

worauf sie sich richtet, ist jede Operation wie alle anderen. Kulturen hingegen beruhen auf Vergleichen von je Besonderem. Nur im Vergleich ist herauszufinden, was in welcher Hinsicht zugleich ähnlich und verschieden werden kann. Grenzen der Kultur sind Grenzen der Vertrautheit. Innerhalb einer Kultur konfrontieren Vergleiche meist nicht mit Fremdheitserfahrungen. 36 Ökonomische Märkte dagegen kennen keine Fremdheit. Preise verdichten den Transformationsraum zur eigentlich »ökonomischen« Idee des Marktes. Vergleichskontexte ziehen sie auf einen Jetztpunkt zusammen. Dieser Punkt repräsentiert die Idee des Marktes in der Gegenwart einer Unterscheidung als zu entfaltenden, jedoch im Jetzt unsichtbaren Kontext relevanter Unterscheidungen. Was im einzelnen Fall für die Berechnung des Preises eine Rolle spielt, wird im Preis nicht sichtbar. Das ist kein Mangel, sondern Vorzug der Preis-Form. Kontexte quantitativen Unterscheidens sind durchaus nichtquantitativer Natur. Kulturelle Faktoren wie Neigungen, Gewohnheiten, Moden, Ängste oder Wünsche, rechtliche Bedingungen, geographische Besonderheiten, politische Erwartungen oder religiöse Mahnungen bleiben wirksam. Im Preis selbst wird der Kontext des Vergleiches für die Beobachtung Dritter zunächst verdeckt. Das verweist einerseits auf den Markt als Kontext möglicher Unterscheidungen und andererseits auf die Kultur als Kontext des Marktes. Ohne Kultur könnte die Vergleichsordnung ökonomischer Märkte keine Stabilität gewinnen. Preise operieren mit dem Schema homogener Transformationen im Kontext des Marktes. Homogenität wird in jedem Vollzug unterstellt, unterbrochen und bestimmt. Als Vergleichsordnung existiert der Markt jeweils als Serie der Unterscheidungen und als Zeit-Raum der Preise. Mathematischen Modellierungen des Marktes kommt das entgegen. Zwar kondensiert im Jetzt des Preises der Kontext des Vergleichs zum »Stoff« der Form des Unterscheidens – eben zur Wirklichkeit der Transaktion. Doch der Kontext des Marktes, die nichtquantitativ zu modellierende Vergleichsordnung der Kultur, wird nicht in die Logik des Marktes hineingezogen. Konsum läßt sich unter dieser Perspektive als Re-entry der Kultur in den Markt beschreiben, ist Konsum doch eine sinngenerative, qualitativ bestimmte Aktivität, die sich in Zahlungen von Preisen realisiert. 37 Vgl. dazu Becker, H.: Culture: A Sociological View. In: The Yale Review 71 (1982), S. 513–527. 37 »Märkte sind nicht mehr einfach ökonomische Veranstaltungen, in denen rational 36

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Komplementäre Dynamisierungen

Kritiker wie Theodor W. Adorno haben jedoch das Argument substanzieller Identität ins Spiel gebracht und Markt gegen Kultur ausgespielt. Marktbasierte Gesellschaften gehorchen demnach einem Identitätsprinzip, das Logik und Tausch zur »Totalität« verdichtet. Das Marktprinzip könne deshalb auf die Kultur im ganzen übergreifen. »Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch. Die Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität.« 38 Tausch erscheint in Adornos Augen als Prinzip des Marktes, wie auch der Markt als Realisierung einer abstrakten Form menschlicher Arbeit erscheint, die sich im Preis ausdrückt. Indem Tausch, Kapital und Abstraktion als Abstraktion von lebendiger Arbeit verstanden werden, wirkt der Markt im Verhältnis zur Kultur und der konkreten Arbeit wie das Tote zum Lebendigen. Adornos Argumentation schenkt der semiotischen Unterscheidungslogik wenig Beachtung, die sich in den Vergleichsordnungen von Markt und Kultur jeweils zeigt. Ihre Schärfe gewinnt sie daraus, diese Differenz der Zeichenform zu ignorieren. Der Rekurs auf das Marxsche Konzept lebendiger Arbeit führt zu einer Substanzialisierung des Tausches als einer Identitätsstiftung. Doch macht der Tausch je bestimmtes Verschiedenes als operativ Gleiches verwechselbar. Getauschtes bleibt im Tausch verschieden. Vergleichbarkeit entspringt nicht notwendig einer Umrechnung in menschliche Arbeitszeit, wie die Marxsche Wertlehre es suggeriert, auf die Adornos Argument sich beruft. Zunächst bewahrt ein Tausch den Charakter des Besonderen. Vom Allgemeinen abstrakter Identität wird er nicht notwendig aufgesogen. Erst wenn Vergleiche zwischen Vergleichen ins Spiel kommen, sorgen quantitative Symbolisierungen dafür, Verschiedenes als Identisches behandeln zu können. Nun wird die operative Verwechselbarkeit des je bestimmten Verschiedenen im Blick auf jederactors frei, individuell und unabhängig entscheiden, was für sie das Beste ist, sondern sozial gekoppelte Arenen, in denen die Kommunikation, die Ökonomen für nichtrelevant halten (…), die semantischen und semiotischen Foki ausbilden, denen Entscheider in ihren Wahlvorgängen folgen, wenn sie keine eindeutige eigene Haltung haben.« Priddat, B.: Homo Dyctos. Netze, Menschen, Märkte. Über das neue Ich. Working Paper, Witten 2013, S. 9 (Hervorhebung im Original). 38 Adorno, Th. W.: Negative Dialektik (1966). Frankfurt/M. 1975, S. 149.

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Organisierte Vergleiche

mann beobachtet. Die Operation des Vergleichens wird bewertet, und das ähnlich gemachte Verschiedene erscheint als irrelevant im Vergleich zu seinem Verglichenwerden. Der Fokus verlagert sich von der Verwechselbarkeit des Besonderen auf die Verwechselbarkeit als Tauschoperation. Ohne Preise wäre das nicht möglich. Beobachtungen der Verwechselbarkeit beobachten nicht Besonderes, sondern Zahlen. Es sind Beobachtungen zweiter Ordnung: symbolische Operationen des Rechnens. Ökonomische Märkte organisieren Vergleiche für generalisierte Dritte als kommunikative Optionen der Anschlußfindung. Markt und Kultur können sich nun stärker ausdifferenzieren, ohne auf einem gemeinsamen Identitätsprinzip zu gründen. Kultur und Markt verhalten sich als Vergleichsordnungen zueinander komplementär. Wer den Preis im Kontext des Marktes entfalten möchte, um zu sehen, was er als quantitativ bestimmtes Jetzt einer Operation verdeckt, muß den Kontext des Marktes – die Ordnung des Unterscheidbaren, das quantitative Unterscheidungen auf ihre Weise unterscheiden – entfalten. In der Vergleichsordnung des Marktes stecken nichtquantitative Wertungen, Präferenzen, Sichtweisen, Traditionen, Normen oder Wünsche: Kultur. Um solche Unterscheidungsordnungen sichtbar zu machen, bedarf es qualitativer Kontraste und sprachlicher Beschreibungen, die jeweils unterschiedlich Bestimmbares in bestimmte Verhältnisse setzen. Jeder Preis ist potentiell das Resultat aller Preise als Ausdruck der Tendenzen des Ganzen eines Marktes. Als besonderer Preis bleibt er unbestimmbar und lediglich errechenbar. Kulturell wiederum ist jeder Vergleich ein besonderer und als solcher bestimmbar. Allerdings ist seine Reichweite nicht statistisch, sondern metaphorisch und semantisch bestimmt. Vergleichskontexte der Kultur fördern Kontingenzen des Unterscheidens zutage. Marktförmige Vergleiche nutzen kulturelle Kontingenzen quantitativ aus, um sie in Preisen für generalisierte Dritte beobachtbar zu machen.

2.5

Generalisierte Dritte

Modelle des Homo oeconomicus und des epistemisch-moralischen Subjekts rechnen mit generalisierten Dritten. Zielen Transaktionen auf beliebige Marktakteure statt auf bestimmte Käufer und Verkäufer, entsteht ökonomische Rationalität. Praktische Vernunft kommt 204 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Komplementäre Dynamisierungen

durch die Universalisierung von Gründen in Gang: Jedermann soll einem Urteil zustimmen können, damit es in einem bestimmten Fall für jemanden Besonderes wirklich wird. Utilitaristische Ethiken kombinieren beide Varianten. In ökonomischen wie in philosophischen Texten begegnet die Figur des Dritten in unterschiedlicher Gestalt: als allgemeine Sympathie, Interesse, berechenbare Rivalität, Gewissensinstanz oder moralischer Imperativ bis hin zum generalisierten Anderen. Mit der Figur erweitert sich die doppelte Kontingenz von Ego und Alter durch die Relation auf einen unbekannten dritten Wert. Auf ihn sind alle Referenzen abzustimmen. Operativ bestimmt, bleibt er referentiell unbestimmt. Moralurteilen oder Wahrheitsbehauptungen soll zustimmen können und Preise soll akzeptieren, wer glaubt, jedermann könne zustimmen, da »jedermann« nicht aufgrund bestimmter Eigenschaften zustimmen würde. 39 Mehrdeutigkeiten verschwinden im Bild logischer Urteilsoperationen. Im engeren Sinne ökonomische Marktmodelle beschreiben Spezialfälle einer Theorie des Marktes als einer kommunikativen Vergleichsordnung, insofern sie preisbasierte Tauschverhältnisse als quantitative Relationen ins Auge fassen. Tausch, Knappheit, Wohlstand, Institutionen oder Nutzen sind für ein Verständnis von Märkten dann keine zwingenden Voraussetzungen. 40 In der Theoriegeschichte der Ökonomie erscheinen sie denn auch als mögliche Begriffsoptionen. Entscheidend ist die Organisierung von Vergleichen, die sich an wahrscheinlichen Erwartungen anderer orientieren, jedoch ateleologisch bleiben. 41 Es entstehen Vergleichsordnungen, die Werte als performative Wertungen behandeln. Märkte neigen zur Universalisierung ihres

John Rawls hat diesen Zusammenhang als »Schleier des Nichtwissens« bezeichnet und für eine Moralphilosophie fruchtbar zu machen versucht. Vgl. Ders.: Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971). Frankfurt/M. 19905. 40 Vgl. zur Geschichte der Versuche, eine Theorie des Marktes auf diese Konzepte zu stützen Backhouse, R. E./Medema, St. G.: Retrospectives. On the Definition of Economics. In: Journal of Economic Perspectives 23 (2009), S. 221–233. 41 Friedrich von Hayek hat der Zweckneutralität von Marktordnungen Ausdruck gegeben: »Letztlich gibt es keine ökonomischen Ziele. Die wirtschaftlichen Bemühungen der einzelnen ebenso wie die Leistungen, die die marktliche Ordnung für sie erbringt, bestehen in der Verwendung von Mitteln für konkurrierende letzte Zwecke, die stets nichtökonomische sind.« Ders.: Recht, Gesetz und Freiheit. Eine Neufassung der liberalen Grundsätze der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie (1982). Tübingen 2003, S. 264. 39

205 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Organisierte Vergleiche

Vergleichsschemas. 42 Grenzen der sachlichen Beschaffenheit von Objekten bleiben oft irrelevant. Bestimmtheit entspringt aus der Operation einer Wertung, die nicht absolut, sondern relativ ist. Preise sind Ausdruck für Wertungen neben anderen. Die Wirklichkeit des Wertes hängt von Möglichkeiten ab, Anschlußwahrscheinlichkeit zu gewinnen. Der »Wert« einer Wertung muß sich durch Anschlußunterscheidungen herstellen, die wiederum zeit- und beobachtungsabhängig sind. Es geht um Funktionen. 43

2.6

Anschlußwahrscheinlichkeiten

Märkte koppeln nicht primär Güter oder Akteure. Auch geht es nicht in erster Linie um den Austausch von Äquivalenten. Hingegen werden Wahrscheinlichkeiten für kommunikative Anschlußbildungen reflexiv. Dafür sorgen Organisationen. Wahrscheinlichkeitsfelder stabilisieren sich nun durch die Beobachtung des Beobachtens anderer – statt der Beobachtung von Sachverhalten. »Markt« ist ein Ausdruck für Zustände stabiler Unruhe rekursiver Ordnungen, die sich aus performativen Formen aufbauen. Auch Kulturen können in diesem Sinne marktförmige Züge annehmen. Anschlußwahrscheinlichkeit bestimmt sich weniger durch feste Referenzen als durch die Wahrscheinlichkeit, mit einer Operation Anschluß zu finden. Kulturen verketten Unterscheidungen, indem sie Übergänge zwischen Ähnlichem und Verschiedenem nahelegen. Weder folgen sie bloß einer Logik des Urteils noch orientieren sie sich an abstrakten Werten. Unterscheidungen vollziehen Wertungen, deren Kraft auch hier auf den Anschlüssen beruht, die sie eröffnen. In einer Terminologie der Macht ließe sich davon sprechen, daß Kulturen MachteffekDiese Funktion von Märkten läßt sich besser verstehen, wenn wir sie nicht als Resultat von Arbeitsteilung begreifen, die rational kalkulierende Akteure eingehen. Auch Karl Polanyi wendet sich gegen die Erklärung von Märkten aus der Arbeitsteilung. Er sieht sie vielmehr aus dem Fernhandel entspringen. Vgl. Ders.: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (1944). Frankfurt/M. 1978, S. 90 f. 43 Die Kultursoziologie Pierre Bourdieus hat mit ihrem Konzept des Habitus eine solche Beschreibungsform gewählt. Akteure kommen darin als statistisch ermittelte Wahrscheinlichkeiten in relational definierten Feldern vor. Nicht umsonst spricht Bourdieu von »Kapital«, um die Kräfte eines Feldes zu charakterisieren. Vgl. Bourdieu, P.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/ M. 1982; Ders.: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M. 1987. 42

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Komplementäre Dynamisierungen

te durch die Attraktivität ihrer Unterscheidungen erlangen. Je mehr Beobachter sich an bestimmten Unterscheidungen orientieren, diese wiederholen oder abwandeln, desto fester werden Beziehungen zwischen Vertrautheitsknoten in Verweisungsnetzen. Etwas bestimmt sich jeweils im Blick auf Beobachter und als Differenz zu anderen Möglichkeiten des Bestimmens. Zwischen Markt und Kultur existiert keine ontologische, sondern eine operative, semiotische und performative Differenz. Zahlungen, die in der Wirtschaft anfallen und dort als Kaufentscheidungen registriert werden, markieren immer auch den Wiedereintritt der Kultur in den Markt oder die Kondensierung kultureller Optionen in einer binären Operation. Organisationen verschränken beide Vergleichsformen. Entscheidungen, über die Organisationen sich reproduzieren, bilden Gelegenheiten, Kontexte des Vergleichs zu vergleichen – und zur Entscheidung zu stellen. Eine übergreifende Rationalität des Entscheidens wird dazu nicht benötigt. Was aus der Sicht kultureller Sinnbildungen auf Märkten als eindimensional erscheinen mag, präsentiert sich für eine quantitative Vergleichsausrichtung als operative Reduktion kultureller Hyperkomplexität. Eine unabhängige Realität, die als gemeinsames Drittes des Vergleichs von Vergleichsformen zur Verfügung stünde, existiert nicht. Wer so beobachten wollte, müßte zweiwertig beobachten und damit der Entscheidung entziehen, was doch der Unterscheidbarkeit entspringt und auf Entscheidung verweist. Personen und Organisationen, Motive, Dinge, Wissen, Erwartungen, Präferenzen, Gewohnheiten, Risiken, Rechenoperationen, Berichte, Moral, Mißtrauen, Wünsche oder Erfahrungen, Geld, Wahrheit oder Recht, Normen und Vorstellungen treten in komplexe organisierte Ordnungen, die mit jeder Operation Kontexte des Vergleichs verschieben. Momenthaft bilden sich Relationen und oszillierende Identitäten. Stets ereignishaft, nie dauernd und niemals auf identische Weise entstehen Ordnungen sinnhafter Unterscheidungen. Immer aufs neue werden Zeithorizonte, Erwartungen, Möglichkeiten und Bedeutungen akkordiert. 44 Momentane Festlegungen bleiben reversibel: Organisationen »sind« Prozesse balancierter Kontingenzen – weder Zustände noch Entitäten. »Objekte« erscheinen in Vergleichsordnungen als differenzbasierte, instabile und potentiell

Vgl. Callon, M.: Akteur-Netzwerk-Theorie: Der Markttest. In: Bellinger, A./Krieger, D. J. (Hrsg.): ANThology. Bielefeld 2006, S. 545–559.

44

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Organisierte Vergleiche

mehrdeutige Unterscheidungsformen. 45 Während Kulturen mit Simultankontrasten verschiedener Zeichenketten zurechtkommen und aus der nichthomologen Verschiedenheit von Sprache, Bildern oder Zahlen ihre Dynamik gewinnen, fokussieren ökonomische Märkte Simultandifferenzen in der Form des Preises. Ökonomische Wertungen gelingen, solange sie mit kulturellen Mustern kompatibel bleiben. Mathematische Fiktionalisierungen entlasten Entscheidungen davon, sachliche oder soziale Ähnlichkeiten berücksichtigen zu müssen. In der Zahlenform liegt auch die kulturelle Akzeptanz scheinbar referenzloser Finanzmärkte mitbegründet. 46 Plausibilitäten entstehen, ohne Fragen nach Referenzen auf Nichtmathematisches aufzuwerfen. Wahrscheinlichkeiten werden mit Wahrscheinlichkeiten verrechnet. Sie gleichen Wetten auf die Welt, die sich in der Akzeptanz der Wette als eines Weiterverweisens ausdrückt. Dank ihrer Abstraktheit werden ökonomische Unterscheidungen leicht zu einem Modell von Reflexivität überhaupt. Alles schließen sie ein, weil sie alles Besondere ausschließen. Über semantische Kontraste und Ähnlichkeiten sagen ökonomische Relationen nichts aus. Würden ökonomische Formprozesse an soziale Verpflichtungen und Anerkennungsverhältnisse gekoppelt, wäre der Kreislauf des Marktes unterbrochen. Eine Logik der »Gabe« würde, wie Jacques Derrida zeigt, die Logik der Ökonomie zerstören, weil sie die symbolische Form sprengte. 47

2.7

Gegenwart als Grenze der Form

Märkte und Kulturen steigern ihre Unwahrscheinlichkeiten aneinander. Füreinander bilden sie operative Kontexte des Unterscheidens. Ökonomische Transaktionen lassen sich als preisförmige Kondensate kultureller Wertungen auffassen; kulturelle Wertungen mögen preislich bewertet sein. Märkte und Kulturen sabotieren Vorstellungen feststehender Entitäten. Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten zeigen sich im Blick auf Beobachter. Stabilität verdankt sich Graden der Wiederholungs- und Erwartungswahrscheinlichkeit einer UnterscheiVgl. Baecker, D.: Wirtschaftssoziologie. Bielefeld 2006, S. 85 ff. Umgekehrt können Kritiker solcher Märkte diese Referenzlosigkeit kulturell empörend finden. 47 Vgl. Derrida, J.: Falschgeld. München 1993, bes. S. 24 ff. 45 46

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Komplementäre Dynamisierungen

dungsform. Organisationen verschränken beide Logiken des Vergleichs: Wahrscheinliche Verhaltensregeln, wahrscheinliche ästhetische Präferenzen, wahrscheinliche Tabus, wahrscheinliche Geltungen moralischer oder rechtlicher Verfahren, wahrscheinliche politische Entwicklungen oder religiöse Dogmen »zählen« in den Entscheidungen von Organisationen ebenso wie die Wahrscheinlichkeit von Zahlungen für Preisforderungen. Kulturen und Märkte bleiben hier verwechselbar wie Form und Kontext. Je nach Unterscheidung wechseln deren Positionen. Organisationen, Märkte und Kulturen stabilisieren, so betrachtet, grenzerhaltende Ordnungen entlang symbolischer Operationen. Grenze der Form ist die Grenze der Wahrscheinlichkeit ihrer Wiederholung. Wiederholungswahrscheinlichkeiten erlangen durch Organisationsbildungen eine andere Stabilität, weil es nun um Beobachtungen zweiter Ordnung geht. Was »ist«, zeigt sich im Vergleich. Das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft hat diesen Zusammenhang akzentuiert und als neue Erfahrung formuliert. Unterscheidungen erzeugen Unterschiede, die zugleich Resultate einer Operation und Gravitationspunkte ihres Kontextes sind. Organisationen machen den Unterschied von Unterschied und Unterscheidung als Option des Unterscheidbaren entscheidbar. Auf dieser Grundlage entstehen Märkte als Stabilitätsmuster des Beobachtens zweiter Ordnung. Es sind grenzerhaltende, aber unbegrenzte Ordnungen. Da es sich um Sinn-Ordnungen handelt, tendieren diese nicht per se zu Gleichgewichtszuständen. Daher sind sie nicht entropisch, sondern unendlich. Identität erlangen Sinnordnungen durch die Oszillation der Gegenwart als eines Unterscheidungsgeschehens. 48 Oszillationen »sind«, als Leerstelle des Bestimmtseins, aktuale Grenzen der Ordnung. Im Jetzt und in der Paradoxie einer unbezeichenbaren Verschränkung von Bestimmtem und Unbestimmtem existiert Welt. Je jetzt erscheint sie als Unterscheidbares im Kontext des Unterscheidens, als Profil, das sich in der Supplementierung der Zeichen entlang von deren Verkettungsformen immer aufs neue entfacht. 49 Grenze und Welt realisieren das Jetzt als unbeobachtbares Potential des UnÄhnlich beschreibt Dirk Baecker die Einheit einer Organisation als aktuale Permanenz des Zerfalls in Differenzen. Vgl. Ders.: Organisation und Störung. Frankfurt/M. 2011, S. 100. 49 Vgl. Derrida, J.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M. 2000. 48

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Organisierte Vergleiche

terscheidens. Organisationen wiederum sorgen für Distributionen von Unterscheidungen als Entscheidungen im Kontext von Märkten und Kulturen. Eine so angelegte Theorie von Vergleichsordnungen, deren Spezialfall eine Theorie ökonomischer Märkte darstellt, ist mit Annahmen eines klassischen physikalischen Weltbildes schwer vereinbar, wie es in wichtige Prämissen ökonomischer Marktmodelle und bis in deren statistische Methoden hinein Eingang gefunden hat. 50

3.

Öffentlichkeit

Verbunden werden Markt und Kultur sozialgeschichtlich wie funktional durch die Entstehung von Öffentlichkeit. War der Markt bereits in der antiken Polisgesellschaft Ort der Öffentlichkeit, an dem sich Bürger versammelten, gewinnt der Begriff im späten 18. Jahrhundert einen neuen politischen Sinn. Nun beschreibt er ein semantisches Feld, demgemäß öffentlich ist, was jedermann zugänglich wird, was ohne Geheimnis, klar und deutlich ist und was in kollektiven Urteilen überprüfbar bleibt. Seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wird der Terminus zu einem politischen Kampfbegriff des Liberalismus. 51 Kulturelle, politische und ökonomische Deutungen werden in der Semantik der Öffentlichkeit verflochten. In kulturellen, ökonomischen und politischen Kontexten vollziehen Unterscheidungen sich als Wertungen, die Wahrscheinlichkeiten erzeugen. Wahrscheinlichkeiten verleihen Wertungen ihren Realitätsgrad. Je größer der Kontext der Anschlußwahrscheinlichkeit, desto höher ihr Realitätsgrad. Maximaler Kontext einer Form wäre die Beobachtung durch potentiell jeden Beobachter. Beobachtbarkeit durch potentiell jedermann ist ein Ausdruck für Öffentlichkeit. Damit alle alles beobachten können, muß Beobachtung von direkter Anwesenheit befreit werden. Massenmedien spielen hierbei eine dynamisierende Rolle. Sie virtualisieren Beobachtungen. Jedermann kann sich zu allem verhalten, was öffentlich unterschieden wird. Modus der Öffentlichkeit wird die Vgl. Brodbeck, K.-H.: Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie. Eine philosophische Kritik der modernen Wirtschaftswissenschaften. Darmstadt 20136. 51 Vgl. Artikel »Öffentlichkeit«. In Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6. Basel 1984, S. 1135–1140. 50

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Öffentlichkeit

Meinung. 52 Um politische Vernunft oder den Austausch guter Gründe geht es zunächst weniger. 53 Ohne Öffentlichkeit wäre die organisierte Differenz von Kultur- und Marktordnungen kaum zu stabilisieren. Wer Öffentlichkeit beobachtet, betrachtet Massenmedien. Er beobachtet, was alle beobachten, denn was alle beobachten, ist kommunikativ wirklich. 54 Die Wirklichkeit der Öffentlichkeit ist eine Wirklichkeit von Möglichkeiten, Welt zu unterscheiden. Massenmedien wiederum beobachten, was andere Massenmedien beobachten. Realität entfaltet sich kommunikativ als Aufmerksamkeitsmarkt. Formate, in denen Massenmedien ihre Unterscheidungen zu Neuheiten organisieren, werden zur sichtbaren Ordnung möglicher Wirklichkeit. Zeitungen, deren Anzahl und Auflage seit dem späten 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sich in Mitteleuropa etwa verzehnfachten, bilden für die Vielzahl ihrer Leser Rahmungen der Welt. Leser wissen, was andere Leser ebenfalls gelesen haben – und können vergleichen, wie andere lesen oder wie andere Zeitungen unterscheiden. 55 Zeitungen und Zeitschriften treten in Konkurrenz zueinander. Verschiedene Formatierungen des vermeintlich Selben werden vergleichbar. Neben steigenden Auflagenhöhen sorgt die größere regionale Verbreitung allmählich für die Inklusion der gesamten Bevölkerung in das System der Massenmedien. Für die politische Kommunikation bedeutet das massenhafte Aufkommen von Zeitungen, später von Rundfunk, Wochenschau, Fernsehen und Internet, daß nun Politik als kalkulierte KommunikaArnold Gehlen hat den Zusammenhang von Öffentlichkeit, Massenmedien und der Zumutung von »Meinungen« scharf gesehen. »Jeder trägt im Kopfe eine imaginäre Welt unsinnlicher Informationsbestände mit sich herum, die nur locker zusammenhängen, die nur aus Umrissen von Resultaten und Vorgängen bestehen, deren objektive Wichtigkeit und wirkliche Substanz man unmöglich beurteilen kann, die aber dringlich und aktuell zu sein scheinen. (…) Dem Bombardement mit Informationsbruchstücken entspricht nun, vom Subjekt aus gesehen, die Herausbildung von Meinungen, die sich ein ungefähres Bild aus diesen ungefähren Mitteilungen machen.« Vgl. Ders.: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 134 f. (Hervorhebung im Original). 53 Diese Engführung im Begriff der Öffentlichkeit hat den soziologischen und historischen Blick lange eingeschränkt. Vgl. Baecker, D.: Oszillierende Öffentlichkeit. In: Maresch, R. (Hrsg.): Medien und Öffentlichkeit. Positionierungen, Symptome, Simulationsbrüche. München 1995, S. 89–107. 54 Vgl. Luhmann, N.: Die Realität der Massenmedien. Opladen 19962. 55 Vgl. Faulstich, W.: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700–1830). Göttingen 2002. 52

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Organisierte Vergleiche

tion beobachtet wird, die darauf abzielt, beobachtet zu werden. Bewertungen von Ereignissen lassen sich vergleichen. 56 Wachsende ökonomische Kapazitäten von Zeitungsorganisationen beschleunigen wiederum technologische Innovationen. Eine Industrialisierung des Pressewesens ist die Folge. 57 Vertrieben werden Zeitungen mit modernen Verkehrsmitteln auf Straßen und Schienen. Telegrafie bringt eine zuvor unbekannte Geschwindigkeit der Übertragung von Informationen, ohne die weder das moderne Bankwesen noch der moderne industrielle Großbetrieb oder die Presse denkbar wären. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges erscheinen in Deutschland 4200 Tageszeitungen, von denen siebzig eine Morgen- und eine Abendausgabe anbieten. Einige wenige erreichen sogar drei Ausgaben am Tag. 58 Am Vorabend des Ersten Weltkrieges ist die Massenpresse zu einem Forum der Öffentlichkeit geworden, auf dem auch Regierungen die von ihnen ausgehende Kommunikation wechselseitig beobachten und als Vgl. Wehler, H.-U.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 2. Von der Reformära bis zur industriellen und politischen ›Deutschen Doppelrevolution‹ 1815–1845/49. München 1987, S. 326 ff. – Zwischen 1850 und 1875 verdoppelt sich in Deutschland nicht nur die Zahl der Zeitschriften; vor allem ihre Auflagenhöhe vervielfacht sich. Zensurmaßnahmen erschweren zunächst, daß Zeitungen aktuelle Geschehnisse politisch kontrovers diskutieren. Pressefreiheit und die Aufhebung des staatlichen Anzeigenmonopols entfesseln schließlich die Dynamik einer organisierten Öffentlichkeit. Kulturelle Profilierung und politische Ausrichtung einer Zeitung können nun als ökonomischer Faktor für die Gewinnung von Anzeigenkunden genutzt werden. Vgl. Wehler, H.-U.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3. Von der ›Deutschen Doppelrevolution‹ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914. München 1995, S. 429 ff. 57 Zelluloseverarbeitungstechnik, leistungsfähige Gieß- und Setzmaschinen und die Rotationspresse ermöglichen eine massenhafte Herstellung von Zeitungen mit höchster Aktualität. Techniken der Bildreproduktion erlauben seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts den Abdruck von Fotografien und neuartige Kombinationen von Schrift und Bild. In Verbindung mit Cartoons, deren Verbreitung vor allem Joseph Pulitzer vorantreibt, tragen Fotografien wesentlich zur Popularität von Presseerzeugnissen bei – vor allem, seit die mehrfarbige Rotationspresse auch die Farbgestaltung revolutioniert. Um 1900 sind fast alle Zeitungen illustriert. Für Werbemöglichkeiten ist das ebenso folgenreich wie für die Behandlung möglicher Inhalte. Journalisten gestalten Nachrichten im Blick auf Sichtbarkeit, Verständlichkeit und Attraktivität. Werbung und Information gleichen sich einander an. Design wird nicht nur für die Gestaltung des typografischen Layouts entscheidend. Informationen werden im Blick auf Unterschiede und Anschlüsse, die sie auf dem Massenmarkt der Öffentlichkeit machen, gestaltet. Allmählich differenziert sich eine Boulevardpresse aus, die zu nachrichtenorientierten Zeitungen in einem ähnlich komplementären Verhältnis stehen wie die Hochkultur zur Populärkultur. 58 Vgl. Wehler, H.-U.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3. A. a. O., S. 1238 f. 56

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Öffentlichkeit

beobachtete Kommunikation lancieren. 59 Wenige Jahre später revolutionieren Rundfunk und Film ein weiteres Mal die Öffentlichkeit. Neben neuen propagandistischen Möglichkeiten erreichen sie mit Darstellungsformaten, die nicht mehr an den Druck gebunden sind, noch weitere Bevölkerungskreise. Potentiell jederzeit kann nun jedermann auf aktuelle Ereignisse und deren Bewertungen zugreifen. Nach dem Zweiten Weltkrieg holt das Fernsehen Nachrichten, Unterhaltung, Bilder und Texte, Kommentare und Ereignisse in das private Heim. Im Zeichen des Internet schließlich entfällt jegliche Ortsgebundenheit der Kommunikation. An Unternehmen des Pressemarktes zeigen sich früh Merkmale moderner Organisationsbildungen: Massenproduktion und -konsum erfordern veränderte Umgangsweisen mit Information und Kommunikation. Neue Ebenen des Managements etablieren eine Kultur des Verwaltens. Deren bevorzugte Zeichenform werden quantitative Vergleiche. Innovationen der Informationsverarbeitung (Telegrafie und Telefon) verbinden sie mit solchen des Verkehrs (Eisenbahn) und der Produktionstechnologie (Rotationspresse). Schließlich entsteht ein ökonomischer Markt für kulturelle Unterscheidungen, dessen Dynamik sie einerseits entfesseln und auf den sie andererseits reagieren. Analog dazu entfalten sich moderne Großkonzerne nicht ohne industrialisierte Formen der Informationsverarbeitung und der Kommunikation. 60 Öffentlichkeit etabliert Grenzen, die zwischen Vergangenem und Erwartetem, Personen und Organisationen, Bildern, Worten und Zahlen, Ereignissen und Bewertungen, Unbefragtem und Spektakulärem oszillieren. Massenmedien erzeugen Knappheit durch Neuheit. Neues ist unendlich möglich, bleibt aber von seiner Unterscheidung abhängig. Deshalb ist Neues immer knapp. Öffentlichkeit stiftet Anschlüsse zwischen Neuem und Altem durch permanente Vergleiche von Beobachtetem und Beobachtern. Festlegungen der Kultur auf Gewesenes werden gelockert. Seit ihrer Entstehung pflegen Zeitungen – und später andere Massenmedien – eine Unterscheidung, die ein machtvolles Beobachtungsschema der modernen Kultur installiert: die Unterscheidung Vgl. Clark, Chr.: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2014, S. 298 ff. 60 Vgl. Chandler, A. D.: The Visible Hand. The Managerial Revolution in American Business. Harvard, Cambridge/Mass., London 1977. 59

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Organisierte Vergleiche

zwischen Person und Organisation. Weniges geschieht, was nicht auf organisierte Kommunikation – und damit auf Stellen, Personen und Individuen – verweist. Die Person-Seite der Unterscheidungsform Organisation markiert einerseits das je Individuelle des Unterscheidens, andererseits die Austauschbarkeit der Individuen in Ämtern. Was immer geschieht, läßt sich in doppelter Perspektive beschreiben: Als strukturelles Phänomen organisierter Sozialität einerseits, als individuelles menschliches Verhalten andererseits. Diese Doppelformatierung erleichtert es, für Ereignisse massentaugliche Kausalitäten zu konstruieren und zugleich auf mögliche menschliche Fehler skandalisierend zu beziehen. Politische Kommunikation beutet dieses Schema aus, um es für die Darstellung von Entscheidungsalternativen zu benutzen. Für die Unterscheidungsform von Organisation und Person scheint in besonderer Weise zu gelten, was Dirk Baecker für ein generelles Merkmal der Öffentlichkeit hält: »eine eigentümliche Oszillation zwischen Beobachtung und Diskreditierung.« 61 Politisierung wie Skandalisierung oder Moralisierung werden zu massenmedialen Umgangsweisen mit der Form der Unterscheidung von Organisation und Person. Darstellungen von Politik verlaufen meist über die Personalisierung von Problemen, Alternativen oder Kausalitäten. Zwischen Organisation, Markt, Kultur und Öffentlichkeit entstehen zirkuläre Rückkopplungen. Organisierte Öffentlichkeit erleichtert es, Erwartungsbildungen auf beliebige Dritte einzustellen. Die Funktion des Dritten ist geradezu die Öffentlichkeit. Historisch und gesellschaftsstrukturell entsteht Öffentlichkeit korrelativ zu Marktbildungen. Selbst hängt sie von der Ökonomisierung eines Aufmerksamkeitsmarktes ab. Seit dem 17. Jahrhundert bilden sich allmählich neue Interdependenzen zwischen politisch organisierter Souveränität, einem chronischen staatlichen Kreditbedarf und diesen Finanzbedarf bedienenden privaten Investoren heraus. Finanzmärkte organisieren die Kommunikation zwischen Gläubigern und Schuldnern auf anonyme Weise. Öffentliche und private Ressourcen werden in ihrem Wert von zirkulierenden öffentlichen Meinungen, Wertungen und Zukunftseinschätzungen abhängig. Souveränität, Kredit und Öffentlichkeit, politische Entscheidungen und private Investitionen verschränken sich in ihren unterschiedlichen

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Baecker, D.: Oszillierende Öffentlichkeit. A. a. O., S. 99.

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Öffentlichkeit

Entscheidungslogiken. 62 Zugleich stimuliert »Öffentlichkeit« Vorstellungen einer neuen, aufklärerischen Vernunft. Universeller Austausch soll sich in demokratischer Politik realisieren. Doch geht es weniger um die Offenheit des Selben für jedermann als um die Anschließbarkeit von Unterscheidungen in der Kommunikation. Langfristig sabotiert der Aufmerksamkeitsmarkt der Öffentlichkeit sogar Vorstellungen einer politikzentrierten – und deshalb vermeintlich vernünftigen – Gesellschaft. Vernunft und Öffentlichkeit erweisen sich – nicht zuletzt in der Form öffentlicher Beobachtungen und in der Form öffentlicher Beobachtungen öffentlicher Beobachtungen – als nicht kongruent. 63 Ihr Zusammenhang wird als operative Fiktion sichtbar, die Entscheidungsbildungen in Organisationen als Wirklichkeitsunterstellung zugrunde gelegt wird. 64 An die Stelle von Vernunft, Selbsttransparenz und Repräsentation treten Verhältnisse zirkulären Unterscheidens und Vergleichens, feldabhängiger Wirklichkeitsgrade und beobachtungsabhängiger Ereignisse. Auf Märkten, in Kulturen und deshalb auch in der Öffentlichkeit.

Vgl. vor allem mit Blick auf die Bank of England Vogl, J.: Der Souveränitätseffekt. Berlin 2015, bes. S. 69 ff. 63 Vorstellungen von Öffentlichkeit als dem Bewußtsein der Gesellschaft erscheinen im Blick darauf als sehr optimistisch – wie auch die Idee, Öffentlichkeit wurzele in einer Anthropologie des Politischen. Vgl. Gerhard, V.: Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewußtseins. München 2012. 64 Vgl. dazu Werron, T.: Zur sozialen Konstruktion moderner Konkurrenzen. Das Publikum in der ›Soziologie der Konkurrenz‹. In: Workingpaper des Soziologischen Seminars 05/09 der Universität Luzern. September 2009, 3www.unilu.ch/sozsem. 62

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Romantisches Ich und christliche Reflexion Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen, Wenn die, so singen oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt in’s freie Leben, Und in die Welt wird zurück begeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu ächter Klarheit werden gatten, Und man in Mährchen und Geschichten Erkennt die ewgen Weltgeschichten, Dann fliegt vor Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen sofort. 1

Auf der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert steht für kurze Zeit eine philosophisch-ästhetische Reflexionsfigur in Blüte, die eine Alternative zur Kantianisch geprägten Denkweise gewesen und bis heute geblieben ist. 2 Novalis hat ihr in seinem Gedicht philosophisch und poetisch Ausdruck verliehen. Liebe und Wahrheit, Gelehrsamkeit, Märchen und Gesang werden darin vergleichbar. Licht und Schatten gehören zusammen; reine Transparenz wäre Illusion. Ihr Ziel findet diese Reflexionsform in immer neuen Konstellationen von Besonderem, ohne in allgemeinen Regeln oder Gesetzen zu kondensieren. In Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. I. Darmstadt 1999, S. 406. Novalis stellt diesem Text den Satz voran: »In diesem Gedicht, welches seine Stelle im Ofterdingen finden sollte, hat der Verfasser auf die leichteste Weise den innern Geist seiner Bücher ausgedrückt.« Ebenda. 2 Was aus der Rückschau als Alternative erscheinen mag, ergab sich für Zeitgenossen durch intensive Auseinandersetzung mit den Schriften Kants und Fichtes. Über Kants Kritik der Urteilskraft und Baumgartens Ästhetik haben sich Motive zwar tradiert, blieben jedoch vergleichsweise randständig. 1

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der doppelten Unendlichkeit von Reflexion und Gegenstand entsteht Wirklichkeit im Vollzug von Darstellungen. Frühromantische Denkfiguren erinnern an eine Weichenstellung im semantischen Repertoire der modernen Kultur. An ihnen läßt sich ermessen, welcher Preis für das »moderne« Verständnis von Person, Wissen, Vernunft und Moral zu entrichten war. Für Vergleiche mit einer weiteren vormodernen Reflexionsform öffnen sie den Blick, die ihrerseits eine Kunst des Vergleichens kultiviert: das christliche Gleichnis. Philosophische Frühromantik und christliche Gleichnisreflexion entfalten sich als Darstellungen, deren Form mit ihrem Inhalt verschränkt ist. Weder gehorchen sie dem Schema eines begrifflichen Denkens, das sich in Urteilen ausdrückt, noch sind sie mit neuzeitlich-wissenschaftlichen Vorstellungen einer gesetzesförmigen Natur vereinbar, die alles auf berechenbare Regelmäßigkeiten abzieht. Beide haben in der modernen Kultur an Bedeutung verloren. Aus historischem Abstand betrachtet, bieten diese alternativen Reflexionsformen jedoch Anregungen, moderne und vormoderne Reflexionsstile miteinander zu vergleichen, um Alternativen im Umgang mit Vergleichen genauer zu sehen. In der Kunst Caspar David Friedrichs haben philosophische Frühromantik und christliche Reflexion auf so anschauliche wie eindringliche Weise zueinandergefunden. Friedrichs Bilder bringen zur Erscheinung, wie sich die doppelten Unendlichkeiten eines reflektierenden Ichs und eines im Lichte von Ideen Form gewinnenden Gedachten verschränken. Was Novalis in seinem Gedicht konzipiert, erreicht Caspar David Friedrich mit malerischen Mitteln. Sein »Tetschener Altar/Das Kreuz im Gebirge« 3 (1807/1808) unterläuft klassische Trennungen zwischen Natur, Kunst und Religion. Neben einem religiösen hatte das Gemälde auch einen politischen Bezug: Caspar David Friedrich wollte es dem protestantischen Schwedenkönig Gustav Adolf IV. schenken, der gegen Napoleon im Krieg stand. Bei seiner ersten Präsentation löste es heftige Kritik und Diskussionen aus. Anlage und Thema des Gemäldes lassen es als frühromantisches Programmbild erscheinen. 4 Vor einem dunkel glühenden Himmel zeichnet sich ein steil auf-

Öl auf Leinwand, 115 mal 110,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Galerie Neue Meister. 4 Caspar David Friedrichs Bilder entstehen zu einer Zeit, in der die philosophischästhetische Frühromantik bereits ihre Blütezeit überschritten hat. Dennoch formulieren sie mit malerischen Mitteln die gleiche Reflexionsform. 3

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Unvertretbares Ich

ragender, fichtenbesetzter Fels ab. Breite Lichtstrahlen, die von einem Punkt unterhalb der Horizontlinie ausgehen, beleuchten ihn. Auf der Spitze des Felsens steht, in seitlicher Ansicht, ein Kreuz mit der Christusfigur. Zum Bild gehört ein von Friedrich entworfener Rahmen. Aus zwei gotischen Säulen auf der rechten und linken Rahmenleiste wachsen Palmwedel, aus denen die Köpfe von fünf Engeln hervorschauen. Auf dem Scheitel des Rahmenbogens, der das Bild einem Kirchengewölbe oder -fenster ähnlich erscheinen läßt, sitzt ein silberner Stern. Ihm korrespondiert, im unteren Rechteck des Rahmens, ein goldenes Auge inmitten eines strahlenumkränzten Dreiecks – Symbol der Trinität –, das seinerseits von Ähren und Weinranken – eucharistische Symbole der Anwesenheit Christi – eingefaßt wird. Scheinbare Ungereimtheiten im Bildaufbau irritieren den Betrachter. Natur ins Zentrum eines Andachtsbildes zu stellen, dessen Thema doch eine Schlüsselepisode der Heiligen Schrift ist, galt als Regelverstoß. Naturstimmungen dominieren hier den Eindruck und lassen das Kreuz optisch zurücktreten. Durch die seitliche Ansicht wirkt es besonders zart und fragil. 5 In der Reihe schlanker Fichten, deren Spitzen im Gegenlicht aufragen und deren von links nach rechts ansteigende Kette von der Spitze des Kreuzes abgeschlossen wird, bis der Blick zum rechten Bildrand hin steil abfällt, nimmt es unaufdringlich seinen Platz ein. Fichten, Kreuz und Lichtstrahlen bilden einen vertikalen Fächer, dem fast horizontale Wolkenbänke korrespondieren. Doch ist die Form des Kreuzes von allen anderen Formen der Natur – Bäume und Felsen – wie auch von allen anderen Formen des Bildes – wie den Lichtbahnen oder Wolkenstreifen – deutlich unterschieden. Von einem Lichtstrahl, dessen Quelle links unten hinter dem Felsen zu liegen scheint, wird die Christusfigur angeleuchtet. Klar hebt sie sich vom Himmel ab. Form neben Formen, ist die Form des Kreuzes singulär. Deshalb vermag es das Kreuz, alle anderen Formen auf sich zu beziehen und miteinander ins Verhältnis zu setzen. Friedrich gilt es auch auf anderen Bildern als Form, die Betrachter als Zeichen lesen können – ohne sie so auffassen zu müssen. »Am nackten steinigen Meeresstrande steht hoch aufgerichtet das Kreutz, denen so es sehn, ein Trost, denen so es nicht sehn, ein Auch auf anderen Bildern Friedrichs nehmen Kreuze eine unaufdringliche Position ein, die sich oft erst dem zweiten Blick in ihrer Bedeutung zu erkennen gibt. – Beispielsweise »Gebirge im Nebel« (um 1804), »Abtei im Eichwald« (1809/1810), »Winterlandschaft« (1811).

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Kreutz.« 6 Bedeutung entsteht durch die Weise, wie wir die Welt ansehen. Im Bild, als einem Artefakt, das gemacht ward, um angesehen zu werden, wird dieser Umstand ebenso sichtbar wie als Zeichen verfügbar, das den Blick des Betrachters möglicherweise zu einer bestimmten Auffassung leitet. Im Lichte des Kreuz-Zeichens kann der Fels, auf dem das Kreuz steht, als Fels des Glaubens angesehen werden – oder aber als Fels. Formen und Zeichen treten in allegorische Verweisungsspiele. Alles ist gleichermaßen geeignet, im Zeichen des Kreuzes betrachtet und miteinander verbunden zu werden. Wird das Kreuz darum überlängt dargestellt? Wartet das Kreuz auf den Blick des Betrachters, in dem Form und Bedeutung sich miteinander verbinden, um Sichtbares mit Denkbarem ins Verhältnis zu setzen? Nicht nur mag dieses Sehen die Sehenden trösten, es bringt sie auch dazu, Natur als göttliche Ordnung wahrzunehmen. Mit größter Genauigkeit schildert Friedrich Details der Natur. Indem der Maler auf die Zusammengehörigkeit von Schöpfer und Schöpfung zeigt, gleicht seine Kunst einem Gottesdienst. Ein Blattgespinst umrankt den unteren Teil des Kreuzes, während der obere Teil von allem Bewuchs entblößt ist. Natürliches und Übernatürliches werden im Zeichen des Kreuzes verbunden. Zudem steht die Christusfigur auf der Linie, welche die rechte und linke Rahmensäule verbindet: Damit überragt Christus die bildreale Welt, um sie in einen Bereich des Himmlischen zu übersteigen. Zeichnerische und malerische Momente unterstützen einander. Gegenüber Kontingenzen der Geschichte und dem häufigen Scheitern menschlicher Ideale legt dieser Blick Demut und Besonnenheit nahe. Das Schicksal der Französischen Revolution bietet den Zeitgenossen Friedrichs genügend Anschauungsmaterial. Heroisierende, pathosgesättigte oder politisch-didaktische Historiengemälde scheinen, so betrachtet, vielleicht nicht der klügste Weg zu sein, um Möglichkeiten der Malerei zur Geltung zu bringen. Demonstrativ üben Friedrichs Bilder sich in Abstinenz gegenüber der Darstellung von Handlungen oder pathetischen Posen. Personen werden, oft in Rückenansicht, in stillen, reflektierenden Haltungen gezeigt. Formale Symmetrien beherrschen die Bildkomposition. So zeichnet die Silhouette des Felsens ein Dreieck, das die beiden unteren Bildecken miteinander verbindet. Im Bildraum entsteht auf diese Weise eine massiv wirkende Wand vor dem Himmelsraum. Der FläFriedrich, C. D.: Die Briefe. Hrsgg. von H. Zschoche. Hamburg 2005, Brief Nr. 43, S. 96–99.

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chigkeit des Felsens in der unteren korrespondiert die Raumtiefe in der oberen Bildhälfte, die sich durch glühende Wolkenbänder ergibt. Aus einigem Abstand betrachtet, sind im verschatteten Bildvordergrund kaum Details zu erkennen. Bei Nahsicht hingegen zeigt sich eine hohe Detailgenauigkeit. Was eigentlich zu sehen ist, drängt sich Betrachtern eher als Frage auf, die ihn vom Bild auf sein eigenes Denken zurücklenkt. Zur Reflexion angeregt werden Betrachter nämlich durch Spannungen im Bildaufbau. So wirkt der Standpunkt des Betrachters vor dem Tetschener Altar eigentümlich unklar. Unrealistisch erscheint die Lichtführung. Ob es sich um eine Morgenoder Abendstimmung handelt, bleibt unentschieden. Nah- und Fernsicht wirken im Verhältnis von Detailgenauigkeit und Flächigkeit dissonant, Farbübergänge irreal. Gerahmt, im doppelten Sinne, werden solche Uneindeutigkeiten durch den symbolisch aufgeladenen Goldrahmen, der seinerseits architektonische (Säulen) mit religiösen und eucharistischen (Engelköpfe, Gottesauge, Trinitätssymbol, Ähre und Weinrebe) Zeichen verbindet. Die Zeichenordnung des Rahmens verweist auf die Zeichenordnung des Bildes – und umgekehrt. Rahmen und Bild wirken wie Elemente einer Kirche, in der Gott zur Erscheinung gelangt, indem Gläubigen der Blick auf ihn eröffnet wird. Im Kunstwerk spiegeln sich unterschiedliche Ordnungen und werden durch den Blick des Betrachters vergleichbar. Frühromantische Motive einer Poetisierung der Wirklichkeitsdarstellung macht Friedrichs Bild anschaulich. Wie für Novalis ordnen Gedanken sich hier entlang von Zeichen und Proportionen als miteinander vergleichbare, einander kontrastierende und damit wechselseitig stimulierende Unterscheidungen. In Friedrichs Bildern spielen geometrisch-mathematische Proportionen des Goldenen Schnitts eine wichtige Rolle. Sie unterstützen mögliche Zeichenbedeutungen und sind selbst Zeichen. »Geometrie«, schreibt Novalis, »ist transcendentale Zeichenkunst«. 7 Harmonische Proportionen und religiöse Sinnvorgaben fügen sich bei Friedrich zu einer Darstellung, in der das Verhältnis von Mensch und Welt reflexiv erschlossen, aber dem Einzelnen als unvertretbare Aufgabe zur Explikation überlassen wird. Ähnlich, wenngleich mit stärker spielerischen und assoziativen Zügen, betont Novalis die Nähe zwischen Religion und

Novalis: Das allgemeine Brouillon, 3. Handschriftengruppe (1798), Nr. 842. In: Werke, Bd. 2. Das philosophisch-theoretische Werk. Darmstadt 1999.

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Mathematik: »Das Leben der Götter ist Mathematik.« 8 Friedrichs Gemälde spiegelt Novalis’ Auffassungen einer universalen Poetik: »Wenn Gott Mensch werden konnte, kann er auch Stein, Pflanze(,) Thier und Element werden, und vielleicht giebt es auf diese Art eine fortwährende Erlösung in der Natur. (…) Es ist sehr wahrscheinlich, daß in der Natur auch eine wunderbare Zahlenmystik statt finde. Auch in der Geschichte – Ist nicht alles voll Bedeutung, Symmetrie, Anspielung und seltsamen Zusammenhang? Kann sich Gott nicht auch in der Mathematik offenbaren, wie in jeder andern Wissenschaft?« 9 Möglicherweise kannte Friedrich Novalis’ philosophische Gedanken zur Mathematik über Friedrich Schleiermacher, der, gemeinsam mit Friedrich Schlegel, eine Auswahl der mathematischen Fragmente des Novalis 1803 herausgegeben hat. 10 Werner Busch hat Friedrichs Malerei als »Mittlerin« charakterisiert, die ein Beziehungs-, Ordnungs- und Bedeutungsgewebe aufspannt, das den Betrachter einlädt, sich auf es einzulassen. 11 Für Friedrich selbst ist die Kunst »der Mittelpunkt der Welt, der Mittelpunkt des höchsten geistigen Strebens.« 12 Sehen wird einem schöpferischen Gestalten ähnlich. Mathematische, malerische, religiöse, architektonische und natürliche Sinndimensionen treten zu einem zu denken gebendem Bild zusammen, wenn Betrachter, was sie sehen, in ein reflektierendes Anschauen hineinführen. Sichtbares wird symbolisch durch die Ordnung seiner Darstellung und Reflexion. Poetische Darstellungen entziehen sich allzu eindeutigen Perspektiven. Beim »Tetschener Altar« werden perspektivische Suggestionen von Eindeutigkeit eher verweigert. Proportionen auf der – ohne Rahmen – fast quadratischen Bildfläche folgen dem Goldenen Schnitt: Die rechte Senkrechte verläuft durch den vertikalen KreuzDers.: Mathematische Fragmente (1799/1800). In: ebenda, Bd. 2, S. 791. Mathematiker und Künstler sind einander in Novalis’ Augen darin gleich, daß sie künstliche Welten erschaffen. Vgl. Jahnke, H. N.: Mathematik und Romantik. In: Peckhaus, V. (Hrsg.): Disziplinen im Kontext. Perspektiven der Disziplingeschichtsschreibung. München 1999, S. 163–198. 9 Novalis: Fragmente und Studien III (1799/1800). In: ebenda, Bd. 2, S. 826. 10 Vgl. Busch, W.: Unmittelbares Naturstudium und mathematische Abstraktion bei Caspar David Friedrich. In: Howoldt, J. E./Schneede, U. M. (Hrsg.): Die Entdeckung der Natur von C. D. Friedrich bis Humboldt. Hamburg 2002, S. 17–26. 11 Vgl. Busch, W.: Friedrichs Bildverständnis. In: Caspar David Friedrich. Die Erfindung der Romantik. München 2006. Katalog zur Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle und im Museum Folkwang Essen. S. 32–47, hier S. 35. 12 Friedrich, C. D.: Die Briefe. A. a. O., S. 54. 8

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balken, die linke durch den mittleren Sonnenstrahl. Der Fuß des Kreuzes liegt auf der unteren Waagrechten. Für damalige Darstellungskonventionen wählt Friedrich mit dem Quadrat ein ungewöhnliches Bildformat, das die gewohnte »lesende« Sehweise von links nach rechts erschwert. Verweisen die Lichtbahnen geometrisch auf einen Punkt, der unterhalb des Felsens – etwa auf der Höhe des auf dem Rahmen angebrachten Trinitätszeichens – liegt, richtet sich der Blick des Bildbetrachters, der durch den Rahmen wie durch ein Fenster auf das Bild schaut, in die Höhe auf das Kreuz. Auf der Höhe des Kreuzes schneiden sich die Lichtbahnen, die hinter und unter dem Felsen ihren geometrischen Ursprung haben, mit dem Blick des Betrachters, der vor dem Bild – oder dem Rahmenfenster – postiert ist. Friedrich greift in seiner Lichtgestaltung auf ein barockes Stilmittel zurück: Ein gelb-violetter Farbfächer umgibt Berg und Kreuz wie eine Aureole. 13 Unsichtbare Lichtquelle und Blickpunkt des Betrachters sind einander wie Vorder- und Hintergrund des sichtbaren Felsens zugeordnet und durch das dreieckig gerahmte Auge Gottes auf dem unteren Rahmen symbolisch verbunden. Dieses goldene Dreieck nimmt die Dreiecksform der Felslinie und die Lichtstrahlensymbolik des Himmels auf. Zugleich weist es auf die Bedeutung des Sehens hin, das einerseits an natürliche, andererseits an symbolische Voraussetzungen gebunden ist. Im Symbol des Auges blickt das Bild den Betrachter geradezu symbolisch auf eine Weise an, daß dieser sein eigenes Sehen als zugleich vom Bild (und vom Licht) und von seiner bedeutungsgebenden Denkarbeit gelenkt erfahren kann. Wie um diese Relation zu unterstützen, verweist der Querbalken des in Seitenansicht gemalten Kreuzes zugleich auf beide Seiten des Felsens, auf dem das Kreuz steht. Damit verbindet das Kreuzsymbol den Raum des Bildbetrachters mit dem Bild-Raum »hinter« dem Felsen, in dessen Tiefe der Gekreuzigte hinabzublicken scheint wie in eine Unendlichkeit. Der Maler als Erschaffer des Bildes lenkt den Blick des Betrachters und verweist auf den Schöpfer des Lichtes und zugleich der Sehkraft des Malers wie der des Betrachters, in einer Art von ästhetischem Gottesbeweis. Betrachter des »Tetschener Altars« mögen sich angesichts solcher Ordnungsbezüge an Platons Sonnengleichnis erinnert fühlen. Vgl. Kellein, Th.: Caspar David Friedrich. Der künstlerische Weg. In: Ders: Caspar David Friedrich. Der künstlerische Weg. (Katalog zur Ausstellung Bielefeld 1998). München, New York 1998, S. 9–32, hier S. 27.

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Platon entfaltet in seinen Gleichnissen auf analogische Weise die Frage nach dem Guten und dessen Erkennbarkeit. 14 Wie die Bedingung der Sichtbarkeit – das Licht – beim Sehen normalerweise nicht bewußt ist, so muß auch das Denken erst auf seine Bedingungen aufmerksam werden. Unweigerlich stellt sich dann auch die Frage, was die Sonne im Gleichnis, das zur Formulierung der Frage führt, bedeutet. Eine bloße Äquivalenz von Sonne und Licht wäre trivial, bliebe sie doch im Sichtbaren. Vielmehr wird die Sonne zu einem Ausdruck im Gleichnis, das auf etwas anderes, nämlich das Gute verweist, das seinerseits nicht direkt zu erkennen ist. Platons Gleichnis führt vor, daß Bedingungen des Denkens ebenso denkbar sind wie die Idee des Guten erkennbar, wenngleich nicht im natürlichen Sinne sichtbar ist. Friedrich Schleiermacher übersetzt: »Dieses also, was dem Erkennbaren Wahrheit mitteilt und dem Erkennenden das Vermögen hergibt, sage, sei die Idee des Guten«. 15 Dieses wiederum zu begreifen, hilft das Gleichnis, das die Relationen wie ein Bild entfaltet. Im direkt anschließenden Liniengleichnis entwickelt Platon den Gedanken weiter am Beispiel einer mathematisch-proportional geteilten Linie, die Sichtbares und Denkbares unterscheidet. Bilder unterschiedlicher Art werden vergleichbar und unterscheidbar, indem sie sich jeweils wie Eines zu Vielem verhalten: Schatten und Reflexe, Artefakte, die auch Bilder sein können, Begriffe und Gegenstände der Wissenschaft sowie Gegenstände der Dialektik, die Ideen. 16 Verstehen Leser das Gleichnis wie ein Bild von Bildern, erscheinen Ideen als »wirkliche Voraussetzungen«, als »Einschnitt und Anlauf«, die gemacht haben muß, wer anfängt zu unterscheiden, ohne sie als eigenes Seiendes bestimmen zu können oder zu müssen. Die Linearität der Linie zeigt in der Linearität des Lesens die Bewegungsrichtung des Gedankens, führt aber zugleich auf den Anfang zurück, der das Bild selbst ist, das wirklich wird, wenn es als Prozeß des Unterscheidens entfaltet und in andere Bilder übersetzt wird. Auch der »Tetschener Altar« ist ein Bild-Gegenstand, ein Bild von etwas, etwas gedanklich Konstruiertes und eine Idee, die simultan alles miteinander in Beziehungen bringt. Caspar David Friedrichs Licht- und Sehsymbolik und seine Korrespondenz von Sonne und Betrachter im »Tetschener Altar« entfachen beim Anschauen eine Reflexionsbewegung, die Analogien zu der von 14 15 16

Vgl. Platon: Politeia. Werke in acht Bänden, Bd. IV. Darmstadt 1971, 506b–509b. Ebenda, 508e. Vgl. ebenda, 509c-511e.

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Unvertretbares Ich

Platons Gleichnissen ausgehenden aufweist, die der mit Friedrich bekannte Schleiermacher übersetzt hat. Dessen »Reden über die Religion« (1799/1806) waren für Friedrich ein wichtiger Text. »Religion haben«, sagt Schleiermacher darin, »heißt das Universum anschauen«. 17 Anschauung und Gefühl wollen das Universum weder erklären und bestimmen noch im Zeichen von Moral oder Freiheit als praktische Aufgabe fortbilden, sondern es »andächtig belauschen«. 18 Statt auf die Besserung der Menschen richtet religiöse Anschauung sich auf die Reflexion des Ganzen im Einzelnen. Solche Reflexion urteilt nicht, denn »keiner ist dem andern gleich«. 19 Offenbarung geschieht in jeder neuen und ursprünglichen Anschauung des Universums 20, zu denen man auch Friedrichs »Tetschener Altar« wohl zählen darf. »Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion.« 21 Ereignet sie sich dann nicht auch in der Anschauung von Friedrichs Gemälde, wenn Betrachter das Bild als Zeichen verwenden, um auf den Zusammenhang von Endlichem und Unendlichem, Einzelnem und Universum, Betrachter und Gott zu reflektieren? Denn auf direkte Weise läßt sich Religion nicht fassen oder sagen. Ihre Darstellung bleibt indirekt und deshalb rhetorisch: »Darum ist es unmöglich Religion anders auszusprechen und mitzuteilen als rednerisch, in aller Anstrengung und Kunst der Sprache, und willig zu nehmend den Dienst aller Künste, welche der flüchtigen und beweglichen Rede beistehen können.« 22 Malerei, wie Friedrich sie betreibt, ist gewiß ein rhetorisches Element im Sinne Schleiermachers. Auch Platons Texte und Gleichnisse entfalten ihre Gedankenbewegungen mit rhetorischen Mitteln. 23 Zentrales Symbol, über das alle Unterscheidungen geführt werden und das vielfältige Bedeutungsbezüge organisiert, ist im Falle des »Tetschener Altars« das Kreuz. Das Zeichen des Kreuzes fungiert hier analog zu einer »Idee« bei Platon, die ihrerseits Anfang und Ende, Schleiermacher, F.: Reden über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799/1806). Hamburg 2004, S. 70. 18 Ebenda, S. 29. 19 Ebenda, S. 52. 20 Ebenda, S. 66. 21 Ebenda, S. 74. 22 Ebenda, S. 101. 23 Vgl. Niehues-Pröbsting, H.: Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie. Frankfurt/M. 1987. 17

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Romantisches Ich und christliche Reflexion

Voraussetzung und durchschaute Voraussetzung eines Reflexionsprozesses ist, der stets an Konkretem, in der Welt des sinnlich Wahrnehmbaren Gegründetem, seinen Ausgang nimmt und zu einer gedachten Einheit des Vielen hinleitet. Die Idee, als »wirkliche Voraussetzung« des Denkens, wie Schleiermacher Platon übersetzt, gleicht einem Ursprünglichen, das, zum Beispiel als Bild, selbst geschaffen werden muß, um in der Reflexion je Einzelner schöpferische Kraft zu entfalten. Im Zeichen des Kreuzes lassen sich Bezüge zwischen dieser Vorstellung von »Idee«, die sich wiederum unter anderem in Gleichnissen darstellt, und christlich-religiöser Anschauung, wie Schleiermacher sie entfaltet, herstellen. Gerade in der Vielheit für sich bestehender Anschauungen und in deren perspektivischen Kombinationen zeigt sich die Unendlichkeit des Universums. 24 Denn »in geistigen Dingen ist Euch das Ursprüngliche nicht anders zu schaffen, als wenn Ihr es durch eine ursprüngliche Schöpfung in Euch erzeugt, und auch dann nur auf den Moment, wo Ihr es erzeugt.« 25 Ein solcher schöpferischer Anschauungs- und Reflexionsprozeß kann zustandekommen, wenn Betrachter Friedrichs Gemälde im Zeichen des Kreuzes als Symbol des Universums verstehen. Die Symbolik des Kreuzes ist für die Reflexionstheorie Platons selbstverständlich ohne Belang. Doch entwickeln Friedrichs Bilder ihren christlichen Horizont eher in einer Weise des Fragens denn als konkrete Vorstellung oder gar als Erlösungsgewißheit. Friedrichs protestantischer Glaube findet in seiner Malerei ihren Niederschlag. Indirekt, wie die Quelle des Lichts, zeigt Unsichtbares sich im Zeichen des Kreuzes einem reflexionsbereiten Betrachter. Im Augenblick der Reflexion, die die Vorstellung Gottes entfaltet, können Betrachter nicht handeln. Inmitten der Welt stehen sie vor der Welt wie vor einem Bild. Sie gleichen darin den handlungsabstinenten Figuren auf vielen Gemälden Friedrichs. Imaginäre Linien von Lichtgeometrie und Betrachterblick sind im Kreuz aufeinander bezogen und damit potentiell bedeutsam. Sinn entfaltet das Zeichen des Kreuzes, wenn es als Mittelpunkt eines Formgefüges erkannt werden kann, dessen tragende Architektur zugleich im »Inneren« des Bildes wie auch in dessen »äußeren« Voraussetzungen liegt. 26 Bild- und Rahmenform Vgl. Schleiermacher, F.: Reden über die Religion. A. a. O., S. 138 f. Ebenda, S. 27. 26 Auf die enge Bezogenheit von Bild und Rahmen weist Werner Busch hin: Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar«. In: Siemek, M. J. (Hrsg.): Natur, Kunst, Freiheit. 24 25

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Unvertretbares Ich

erinnern an Kirchenarchitektur, die dem Gedanken Gottes einen Ort gibt. So steht die Christusfigur am Kreuz beinahe auf der horizontalen Linie, welche, als obere Waagrechte im Schema des Goldenen Schnitts, die beiden Säulen des Rahmens miteinander verbindet, aus denen fruchtbare Ähren wachsen. Legen Betrachter sich die Frage vor, von wo aus sie was wie »sehen«, gewinnt die Geometrie der Bildkomposition einen Sinn, der sich auf das Zeichen des Kreuzes stützen kann. Zeichen werden zu beweglichen Figuren und »inneren Bildern«. »Worte und Figuren bestimmen sich in beständigen Wechsel – die hörbaren und sichtbaren Worte sind eigentlich Wortfiguren. Die Wortfiguren sind die Idealfiguren der anderen Figuren – Alle Figuren etc. sollen Wort oder Sprachfiguren werden – so wie die Figurenworte – die innern Bilder etc. die IdealWorte der übrigen Gedancken oder Worte sind – indem sie alle innre Bilder werden sollen. Der Fantasie, die die Figurenworte bildet, kommt daher das Praedicat Genie vorzüglich zu.« 27 Religion und Wissenschaft, Natur und Geschichte, Philosophie, Malerei und Literatur fügen sich als Reflexionsformen in inneren Bildern so zusammen, daß sie jeweils aufs neue vollzogen werden können. Frühromantische und christliche Auffassungen von Reflexion bleiben auf ein unvertretbares Ich angewiesen. Formal läßt dieses Ich sich nicht verstehen. Weder ist es ein rational Interessen kalkulierender homo oeconomicus noch ein epistemisch-moralisch nach universalistischen Maßstäben urteilendes Subjekt oder ein Cogito, das die Welt als res extensa der berechnenden Verfügung freigibt. Leistungen dieses Ichs bleiben konkret, situativ, erfahrungsbasiert, zeichengebunden, emotional und bildhaft. Statt auf Resultate oder Gesetze führen sie zu endlichen Unendlichkeiten der Vergleichsbildung. Form und Inhalt der Reflexion erweisen sich als in der Form, an der Reflexion sich entfaltet, identisch. Das »älteste Systemprogramm« des deutschen Idealismus, ein Text, der maßgeblich durch Friedrich Hölderlins Denken geprägt ist, spricht, unter Berufung auf Platon, von einer ästhetischen »Kraft«. Philosophie, die den Gedanken der Idee ernstnimmt, muß ästhetische Theorie – und darum poetische Praxis – werden. »Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem, platonischem Sinne genommen. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam, Atlanta, BA 1998, S. 263–280. 27 Novalis: Freiberger Studien (1798). In: Werke, Bd. 2. A. a. O., S. 458.

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Romantisches Ich und christliche Reflexion

Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist, und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen wie der Dichter. (…) Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie. Man kann in nichts geistreich sein, selbst über Geschichte kann man nicht geistreich raisonnieren – ohne ästhetischen Sinn.« 28 Um sichtbar zu machen, was sich direkter Anschauung oder Begriffen entzieht, muß die Form der Reflexion mehr tun, als zu unterscheiden. Sie muß »produziren« – zum Bild werden, das sich als Differenz zu dem entfaltet, was es zeigt. Die Aufschlüsselung von Bildlichkeit gehört zu einer Reflexion, die anderes ist als Reflexivität einer reinen Form der Selbstbeziehung, wie sie die Figur des »Cogito« oder eines reinen Bewußtseins beschreibt. Geistige Tätigkeit, die sie ist, geht sie weder in Anschauungen noch in Begriffen oder in begrifflich geformter Anschauung auf. Dichterphilosophen wie Friedrich Schlegel, Hölderlin oder Novalis mißtrauen Ambitionen einer universal auftrumpfenden Vernunft. Poetische Reflexion entwindet sich eindeutigen Zeichenregimen, um eine unendliche Produktivität zu entfesseln. »Unsere innere Pluralität ist der Grund der Weltanschauung«, schreibt Novalis. »Ein Gedicht muß ganz unerschöpflich seyn, wie ein Mensch.« 29 Indem sie an die Wahrnehmung von Menschen und deren Vermögen anknüpft, gleichzeitig mit verschiedenen Zeichenformen Welt zu ordnen, da sie überdies auf unendlichen Vergleichen beruht, zeigen sich in dieser Idee von Pluralität exemplarisch Funktionsweisen von Bewußtsein und Kultur. Zwischen Philosophie, Poesie und Religion braucht für die Romantiker nicht kategorial unterschieden zu werden. Novalis findet in Darstellungen der Dichtung eine Verschränkung von Wissen, Zauber und Heiligem, die in der Unerschöpflichkeit des Einzelnen wie der Welt hervortreten: »Wenn der Philosoph nur alles ordnet, alles stellt, so lößte der Dichter alle Bande auf. Seine Worte sind nicht allgemeine Zeichen – Töne sind es – Zauberworte, die schöne Gruppen um sich her bewegen. Wie Kleider der Heiligen Hölderlin, F.: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (1795/1796). In: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. I. München, Wien 19895, S. 917–919, hier S. 918 (Hervorhebungen im Original). Der Text wurde von Schelling formuliert und von Hegel niedergeschrieben. 29 Zitiert nach Frank, M.: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt/M. 1989, S. 271. 28

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noch wunderbare Kräfte behalten, so ist manches Wort durch irgend ein herrliches Andenken, geheiligt und fast allein schon ein Gedicht geworden. Dem Dichter ist die Sprache nie zu arm, aber immer zu allgemein. Er bedarf oft wiederkehrender, durch den Gebrauch ausgespielter Worte. Seine Welt ist einfach, wie sein Instrument – aber eben so unerschöpflich an Melodieen.« 30 Wirklichkeit wird poetisch allegorisiert und im Rahmen von Darstellungen – Gedichten oder Bildern, Märchen oder Liedern – in der Vielheit ihrer Formen vergleichbar. Über Welt zu reflektieren, läuft auf dasselbe hinaus, wie über Gott zu reflektieren – oder über das Ich, das jeweils Vollzug solcher Reflexionen ist.

2. 2.1

Gleichnisse Gleichnisse im Christentum

Für die christlich geprägte Kultur sind Gleichnisse von zentraler Bedeutung. Im Neuen Testament entfaltet Jesus, als erzählte Figur, seine Lehre in Gleichnissen. 31 Parallelen zwischen der Darstellung von Sokrates in den Texten Platons und der von Jesus in den Evangelien können sich, trotz aller Unterschiede der Erzählformen, Adressaten oder Wirkungsabsichten, nahelegen: Jeweils tritt die Frage nach der historischen Authentizität gegenüber der Frage nach einer Textform zurück, die Form und Inhalt miteinander verschränkt. Beide Lehrerfiguren, Sokrates und Jesus, werden als Personen gezeigt, die ihre Lehre nicht aufschreiben. Ihre Schüler bzw. Anhänger, Platon bzw. Xenophon und die Evangelisten, treten als Autoren hervor, die ihre Lehrer bzw. Meister als erzählte Figuren kenntlich machen. Diese Novalis: Vorarbeiten 1798, Nr. 32. In: Ders.: Werke, Bd. 2. Das philosophisch-theoretische Werk. A. a. O., S. 322. 31 Beispielsweise von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16), vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,30–35), von den Ehrenplätzen bei der Hochzeit (Lk 14,7–14), vom Feigenbaum (Lk 21,29–32; Mk 13,28–29; Mt 24,32–33), vom Gläubiger und seinen Schuldnern (Lk 7,41–43), von Herr und Knecht (Lk 17,41–43), vom Licht unter dem Scheffel (Lk 8,16; 11,33; Mk 4,21–22; Mt 5, 14–15), dem Kamel und dem Nadelöhr (Lk 18, 24 ff.; Mk 10,24 ff.; Mt 19,23 ff.), dem Neuen Wein in alten Schläuchen (Lk 5,37–38; Mk 2,22; Mt 9,17), vom Sämann (Lk 8,5–8; Mk 4,3–8; Mt 13,3–8), vom Senfkorn (Lk 13,18–19; Mk 4,30–32; Mt 13,31–32), dem Verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) oder dem Verlorenen Schaf (Lk 15,4–7; Mt 24,31–36) – um nur einige der bekanntesten zu nennen. 30

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Gleichnisse

Figuren reden jeweils in Texten, die nach ihrem Tod geschrieben werden. 32 Aus der Sicht späterer Leser – und nicht Hörer – werfen diese Texte als geronnene Rede Fragen nach der »historischen« Person von Sokrates oder Jesus auf. Im Vergleich zu den Texten Platons drängt sich im Falle der Evangelien der literarisch-rhetorische Charakter weniger auf, was bei ihren Lesern eher die Illusion authentischer Berichte fördern konnte. Die Textform bringt Zeit-Differenzen ins Spiel, die für mögliche Auffassungen dessen, was der Text bezeichnet, sowohl entscheidend als auch verstellend wirken. Im Text wird eine zeitliche Unterscheidung wirksam, die Sachunterscheidungen als Deutungsoperationen markiert. Texte stellen die Frage nach sachlicher Wahrheit als kaum zu beantwortende dar – liefert das »Wissen« über die Figuren doch eben der literarisch inszenierte Text, der sich vor und über die historische Figur stellt. 33 Wer das Stellen – und Verstellen – dieser historischen Frage nicht nur als methodisches Problem der Quellenanalyse betrachtet, kann in der Frage selbst wie in deren Nichtbeantwortbarkeit die bildliche Funktion einer textbasierten Reflexionsbewegung erkennen. Leser fragen sich, ob ein mögliches Wissen über die historische Authentizität der erzählten Figuren die Funktion der Texte überhaupt bereichern könnte. Steckt in dem Wunsch nach historischer Authentizität vielleicht eine Furcht des Lesers, selbst die Verantwortung der Lektüre übernehmen zu müssen, indem er beginnt, die Darstellung in eine lebendige Unterscheidungsform zu verwandeln? Die Form des Textes führt eine Bewegung der Reflexion, die auf ihren eigenen Vollzug aufmerksam bleiben muß, um die in Rede stehende Sache unterscheiden zu können. Texte bedürfen, wie sich beim Aufwerfen solcher Fragen zeigt, der Entwicklung durch reflexive Leistungen des Lesers oder Hörers. Sie gehören zur Form des Erzählten – des Gleichnisses – ebenso konstitutiv hinzu, wie die Figur Jesu in der Erzählung als erzählte und als Vgl. zur Genealogie der Evangelien Dunn, J. D. G.: Jesus Remembered. Grand Rapids, Mich./Cambridge, U.K. 2003; Schröter, J.: Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas. Neukirchen-Vluyn 1997. 33 Von den Evangelisten könnte allenfalls Matthäus Jesus als Person noch gekannt haben. Vgl. aber Dahlheim, W.: Die Welt zur Zeit Jesu. München 2013, S. 406: »Keiner der Evangelisten kannte Jesus, keiner kannte die an seinem Prozess Beteiligten, keiner hat in das leere Grab geblickt.« Und: »Erst in den Jahren 70 bis 100 traten sie (Biographen Jesu, DR) auf, Männer ohne Namen; spätere nannten sie dann Markus, Matthäus, Lukas und Johannes, um ihnen die Autorität von Aposteln zu verleihen.« Ebenda, S. 400. 32

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redende Figur vorkommt. Texte thematisieren sich als Texte, die Fragen aufwerfen, ohne sie zu beantworten. Als erzählte Figur wird Jesus zu einem Teil der Gleichnisse, die er erzählt. 34 Jesus-Figur und Christus-Figur treten in ein Verhältnis von Identität und Differenz. Jesus »ist« Jesus, weil er Christus »ist« – und umgekehrt. Wer Jesus in Christus und Christus in Jesus »sieht«, sieht sich selbst als jemanden, der so – und nicht anders – schaut. Zwischen Jesus und Christus vermittelt der Text der Evangelien, die nach Jesu Tod von dessen Leben und Lehren berichten. Im Kontext der Evangelien wird »Jesus« zum Gleichnis, mit dem die Unterscheidung Jesus/Christus Blicke auf Welt eröffnet. 35 Wer mit Hilfe der Jesus-Christus-Unterscheidung auf Welt schaut, wird zum »Christen«: Er macht sich Bilder einer besonderen Art. Sehen der Welt wird reflexiv. Denken des Sehens überformt einfaches sinnliches Wahrnehmen. Wir »sehen« nicht zunächst eine Erscheinung, die wir anschließend deuten. Mit Hilfe der Gleichnisform wird das Sehen ein intelligibles Sehen, das Welt anders zeigt, ordnet, deutet und damit verändert. Das Sehen mit Hilfe dieser Unterscheidungsform ist zugleich typologisch, ethisch, heilsgeschichtlich und eschatologisch. Unterscheidungen, die Vergleiche von Besonderem ordnen, verändern, was sie zu erkennen suchen. Evangelium, Gleichnis-im-Evangelium und Jesus-Figur, die Gleichnisse erzählt, formen ein Verhältnis, das den Leser – ebenso wie das erzählte Gleichnis dessen Hörer – etwas als anderes, weil anders sehen läßt. Dank ihrer literarischen Form beugen Evangelien und Gleichnisreden Auffassungen der christlichen Lehre als einer abstrakten Wahrheit vor, die bloß didaktisch zu vermitteln wäre. 36 Bedeutung entfalten sie je neu im Vollzug. 37 Jesus zeigt in seinen Gleichniserzählungen Welt in einem andeVgl. zu dieser Lesart der Gleichnisse im Kontext theologischer Gleichnisforschung Zimmermann, R.: Gleichnisse als Medien der Jesuserinnerung. Die Historizität der Jesusparabeln im Horizont der Gedächtnisforschung. In: Ders. (Hrsg.): Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte. Tübingen 2008, S. 87–137, bes. S. 120. 35 Vgl. Ricoeur, P.: Biblische Hermeneutik (1975). In: Harnisch, W. (Hrsg.): Die neutestamentliche Gleichnisforschung im Horizont von Hermeneutik und Literaturwissenschaft. Darmstadt 1982, S. 248–339, hier S. 315. 36 Vgl. auch zum theologischen Kontext der Gleichnisdiskussion Weder, H.: Die Gleichnisse Jesu als Metaphern: Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen. Göttingen 19904. 37 Robert W. Funk spricht in diesem Sinne davon, daß Gleichnisse »sich nicht verbrauchen«. Vgl. Ders.: Das Gleichnis als Metapher (1966). In: Harnisch, W. (Hrsg.): 34

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ren – dem göttlichen – Licht. Jemand muß seine Reden hören. Adressiert werden sie an ein Publikum oft angesichts einer Frage oder eines beispielhaften Problems. Ohne die Situation, die Angesprochenen und das Gehörtwerden – mithin ohne Bereitschaft der Zuhörer, sich ansprechen zu lassen – mißlingen Gleichnisreden. Deren Wirkung beruht nicht auf einer logischen Form, die jederzeit von jedermann einzusehen wäre. Überzeugung bleibt hier konkret und situativ. Wahrnehmung der Welt und Kommunikation verschränken sich in der Verkündigung zu einer wort- bzw. textbasierten bildlichen Reflexionsform. Gleichnisverstehen ist eine kommunikative, auf andere bezogene Leistung, kein monologischer Akt, wie die Texte es vorführen. Für eine heutige Lektüre der Gleichnisse im Kontext der Evangelien gilt das ebenso. Christliche Haltungen zur Welt – Beobachtungen, die mit der Unterscheidung Jesus/Christus arbeiten – entstehen nicht unbedingt aus der Anwendung einer dogmatisch festgelegten Lehre oder dem gläubigen Annehmen göttlicher Weisungen. Hören unterscheidet sich von Gehorchen, steckt doch im Hören ein kommunikatives Moment selbständiger Responsivität. Glaube und Rede hängen zusammen. Kraft entfalten Gleichnisse, wenn sie immer wieder neu erwogen, vollzogen und auf neue menschliche Lebensumstände angewendet werden. Etwas zeigt sich dabei als ein fragliches Denkbares. Relevanz und Fraglichkeit entspringen einerseits der Situiertheit eines Fragenden und lassen andererseits die unausschöpfbare Bedeutung eines Etwas hervortreten. Form des Ichs und Form der Welt sind im Vollzug der Zeichenfunktion eines Gleichnisses verwechselbar: dasselbe unter verschiedenen, voneinander zu unterscheidenden und komplementär wie simultan aufeinander zu beziehenden Perspektiven. Deshalb ist das unvertretbare Ich des Gleichnisses zugleich ein kommunikatives Ich. Um sich zu bestimmen, vergleicht es sich als unterscheidende Instanz mit dem im Gleichnis Verglichenen. Gleichnisse verhelfen dazu, Denken als Herstellen einer Reflexionsidentität vorzuführen, die jeweilige Vergleiche mit anderen Vergleichsmöglichkeiten und mit dem Vergleichen anderer vergleichbar macht. Darum eignen Gleichnisse wie die biblischen sich dazu, Traditionen zu bilden: Eine Geschichte der Vergleiche ist aufschlußreich, weil sie je aktualem Vergleichen einen Kontext verleiht. Semantische und historische Tiefe wird aufgebaut, ohne den Die neutestamentliche Gleichnisforschung im Horizont von Hermeneutik und Literaturwissenschaft. A. a. O., S. 20–58, hier S. 24.

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jeweils neuen Vergleich damit zu beeinträchtigen. Dessen Offenheit entspringt aus dem unvertretbaren Ich eines nicht generalisierbaren Jetzt. Der Vergleichsraum – die Tradition – eröffnet aktualen Vergleichen den Vergleich mit dem kulturellen Kontext der Gegenwart als eines erinnerten Unterscheidungsraumes. Reflexionen auf Gleichnisse pflegen eine spezifische Zeitlichkeit: Zeit der Erlösung erscheint als Zeit des Vollzugs einer Blickwendung – als eine Form des Jetzt, die sich quantitativen Messungen verweigert. Aus der Perspektive moderner Gesellschaften weist religiöse Zeit eine andere Signatur auf als die abstrakte Raum-Zeit mathematisch fundierter Physik im Weltbild Newtons. Diese Unterscheidung wiederum markiert eine Differenz moderner zu vormodernen Zeitkonzepten, für die eine Differenz von Weltzeit und Heilszeit wesentlich war. Anhand dieser Differenz kann die moderne Kultur ihre eigene Beschreibungsform temporaler und religiöser Unterscheidungen beobachten. Ereignen muß religiöse Zeit sich als Reflexionszeit des Jetzt in einer unendlich ausgedehnten, weil jeweils jetzt stattfindenden Gegenwart. Gegenwart dieser Art ist nicht »zählbar«. Religiöse Zeit ereignet sich im Vollzug glaubenden oder reflexiven Unterscheidens. In Register einer Chronologie paßt sie nicht hinein. Der Abstand des Menschen zum Gottesreich entzieht sich »historischen« Datierungen. Abstand erscheint im absoluten Augenblick. Ausgehend von der Welt, führen Gleichnisse die Reflexion zur Welt zurück. Als Form der Reflexion der Welt mit Hilfe der Unterscheidungen von Gott und Welt, Jesus und Christus, Hörenden und Verstockten, Gläubigen und Ungläubigen blockiert das Gleichnis neuzeitliche Vorstellungen physikalischer Raum-Zeit und Datierungsmuster linearer Geschichtszeit. Gott und Welt werden zu einer verwechselbaren Unterscheidung, wenn die Frage nach Welt sich als Vollzug einer Unterscheidung in der Welt ereignet. Ein Jetzt zeigt sich im überraschenden Kontrast zu Gewohntem und Erwartetem. Die Differenz der Sicht überrascht ein Ich in seiner Situiertheit, um vermeintlich Selbes anders sehen zu lassen und in mögliche andere Bedeutungsbezüge zu rücken. Erlösungszeit geschieht als innerweltliche Überraschung, die (irdische) Zeit als Unterscheidungsform fraglich werden läßt. 38 Gleichnisreflexionen explizieren semantische Strukturen der Vgl. zum Überraschungscharakter der Evangelien auch Eichholz, G.: Gleichnisse der Evangelien. Form, Überlieferung, Auslegung. Neukirchen-Vluyn 19844, S. 94.

38

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Gleichnisse

Welt als einer deutungsbedürftigen Sinnordnung. Niemand vermag sich Welt frontal gegenüberzustellen. Im Jetzt und im Absoluten der Entscheidung, die Gleichnisse als Unterscheidungsform hervorheben, kommen Ähnlichkeiten wie Verschiedenheiten religiösen und politischen Unterscheidens zum Vorschein. Immer wieder geht es um die Frage, wer oder was der »Herr« ist. Wenn Gott die Unterscheidung in der Welt ist, um nach der Welt zu fragen, zielt die Frage nach Gott – die Frage der Religion – darauf, wer entscheidet. Die Frage nach der Entscheidung ist eine politische Frage. Wer entscheidet, ist der Souverän: der »Herr«. Während Gleichnisse diese Verwechselbarkeit auf ein unvertretbares Ich – oder »Wir« der Gläubigen – beziehen, tritt die Paradoxie des Entscheidens in der modernen Gesellschaft vor allem in der Kommunikationsform von Organisationen auf. Darum verlagert sich hier der Rahmen, der das Bild auf »Politik« freigibt – und korrelativ dazu unser Verständnis davon, eine Person zu sein. An zwei Beispielen, die explizit Fragen nach politischen und ökonomischen Deutungen aufwerfen, möchte ich diese Überlegungen konkretisieren.

2.2

Das Gleichnis vom verirrten Schaf

Das Gleichnis vom verirrten Schaf bringt die fundamentale Bedeutung des Einzelnen exemplarisch zur Sprache 39: Matthäus gibt die folgende Variante: »Was meint ihr? Wenn jemand hundert Schafe hat und eines davon verirrt sich, wird er dann nicht die neunundneunzig auf den Bergen lassen und hingehen und das verirrte suchen?/ Und glückt es ihm, es zu finden – wahrlich, ich sage euch, er freut sich mehr darüber als über die neunundneunzig, die sich nicht verirrt haben./ So ist es auch nicht der Wille bei eurem Vater im Himmel, daß eines von den Kleinen verlorengehe.« Lukas überliefert eine leicht abweichende Fassung 40: »Wer von euch, der hundert Schafe hat und eines von ihnen verliert, läßt nicht die neunundneunzig in der Wüste und geht dem verlorenen nach, bis er es findet?/ Und wenn er es gefunden hat, legt er es 39 40

Mt.18, 12–14. Lk 15, 4–7.

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Unvertretbares Ich

voll Freude auf seine Schultern;/ und wenn er nach Hause kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: ›Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.‹/ Ich sage euch, so wird im Himmel mehr Freude sein über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die der Umkehr nicht bedürfen.« Differenzen der beiden Versionen liegen nicht nur in der geographischen Lokalisierung. Den Bergen bei Matthäus entspricht die Wüste bei Lukas. Beides sind wilde Gegenden. Aber Lukas beschreibt ausführlicher die Freude des Schäfers, die ihn Freunde und Nachbarn zusammenrufen läßt. Beide Evangelisten beziehen die Geschichte auf den Himmel und vergleichen die Freude des Schäfers mit der Freude Gottes. Gott und Schäfer werden vergleichbar, insofern beide niemanden verlorengeben. Lukas betont zusätzlich das Motiv einer Umkehr, die der eigentliche Anlaß zur Freude ist. Ohne Sünde zu sein, scheint weniger wichtig, als eine Umkehr vollzogen zu haben. »Schafe« lassen sich im Gleichnis durch »Menschen« ersetzen. Menschen wie Schafe bedürfen eines Hirten, der für sie Sorge trägt. Das Leben ist gefährlich, wie das Leben der Tiere in der Wüste und auf den Bergen. Der Entscheidung des Hirten obliegt es, dem einen verirrten Tier nachzugehen oder nicht. Der ökonomisch zu bemessende Wert des Tieres ist dafür nicht ausschlaggebend – es könnten während der Suche danach andere Tiere verlorengehen oder gar die Herde gestohlen werden. Worum es dem Hirten bei seinem ökonomisch riskanten Verhalten geht, ist das einzelne Wesen in seinem Dasein. Jedes Leben lohnt die Suche nach ihm. Wert bekommt es dadurch, diesen »Wert« nicht bereits zu haben. Es braucht kein vollkommenes Exemplar seiner Klasse oder in seinem Verhalten vorbildlich zu sein. Sein Wert wird ihm verliehen – er entspringt einer Wertung, die dem Hirten zukommt. Weder wird das verlorene Schaf als das beste noch als das schönste beschrieben. Freude weckt die Umkehr: das Finden und die Rückkehr des Verirrten – nicht das Zurückerhalten des Besitzes. Freude darüber ist Anlaß für weitere Freude, nämlich das gemeinsame Sich-Freuen mit Freunden und Nachbarn. In deren Gemeinschaft erhält die Freude des Hirten eine öffentliche Dimension. Die Gemeinschaft blickt auf sich selbst. Aus dem Abkommen vom Weg macht der gute Hirte dem Tier keinen Vorwurf. Niemand ist »schuld« an seiner Verirrung. Weder ist im Gleichnis davon die Rede, noch läßt sich die Geschichte in Katego234 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Gleichnisse

rien des Schuldigseins verstehen. Religiöses Denken ist kein ökonomisches oder juristisches Denken. Es ist auch kein politisches Denken, insofern ein guter Herrscher schwerlich die Mehrheit der Bevölkerung einem ungewissen Schicksal überläßt, um nach einem einzigen Verirrten zu suchen. Blickt der Ökonom auf den Wert, in bezug auf den alle Individuen austauschbar sind, achtet ein Jurist auf Gesetze, die für alle gleich gelten, schaut der Politiker auf die Gesamtheit, in der Individuelles wenig zählt. Politiker, Juristen und Ökonomen würden sich vielleicht in ihrer Weise rational verhalten, indem sie das Ganze und Allgemeine dem Einzelnen vorziehen. Verfehlen würden sie damit jedoch die Form religiösen Unterscheidens. Die Umkehr ist der Unterschied ums Ganze. Im Vergleich zu ihm spielt es keine Rolle, daß nun die ursprüngliche Anzahl der Tiere in der Herde wiederhergestellt ist. Das verirrte Schaf erinnert an den einzelnen Menschen. Wer nicht gelebt hat, mag frei von Sünde sein. Doch wer lebt, sündigt. Mitunter geht er in die Irre. Nur wer sich verirrt hat, gerät in die Möglichkeit, eine Umkehr zu vollziehen und einen neuen Blick auf seine Situation zu gewinnen. Zu retten ist, wer neue Einsichten zu vollziehen imstande ist. Seine Fehlbarkeit, seine Verirrung, gehört ebenso dazu wie jemand, dem an ihm liegt: ein Hirte, der auf den Einzelnen schaut. Irren und Umkehr gewinnen »Wert« über die Reflexion des Einzelnen hinaus, wenn sie von jemandem – dem Hirten oder dem Leser/Hörer des Gleichnisses – gesehen und gewürdigt werden. Legt die Version von Matthäus den Akzent auf die Bewegung des Hirten, nach dem verirrten Schaf zu suchen, akzentuiert die Version von Lukas die Umkehr des Gesuchten: Ein Sünder erhält seinen Wert durch Einsicht und Reue. Was das Gleichnis als Bild vorführt, die Relation von Hirte und Schaf, erscheint in der Doppelperspektive beider Versionen der Geschichte als Frage, auf wen sich jeweils die Aufmerksamkeit richtet. Denn wer Schäfer und wer Schaf ist, sagt das Gleichnis nicht: Die Übertragung der Ausdrücke bleibt Hörern bzw. Lesern überlassen. Das Gleichnis selbst tritt als Bewegungs-Bild einer fragenden Reflexion vor Augen. Erscheinen »Schafe« im Gleichnis substituierbar, gilt das auch für »Schäfer«. Beide Terme sind Namen für Zeichenfunktionen. Gott kann als Hirte betrachtet werden, aber auch ein König oder ein Schäfer – oder jeder Einzelne in bezug auf die ihm jeweils Anvertrauten. Im Gleichnis steht der »Hirte« nicht ausschließlich für »Gott«. Wenn er jedoch nicht nur für Gott »steht« – wie kann er dann »Gott« repräsentieren? Jeder kann in wechselnden Verhältnissen einmal Schaf 235 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Unvertretbares Ich

oder dann wieder Hirte sein. Potentiell jeder Mensch könnte der Nachsicht und der Suchbereitschaft durch andere bedürftig werden. Er muß selbst entscheiden, welche Art »Hirte« er sein will, falls er es sein muß. Diese Entscheidung verweist auf sein unvertretbares Ich: Immer aufs neue ist im Blick auf Situationen und Kontexte zu bestimmen, wie die Ausdrücke des Gleichnisses ausgelegt und angewendet werden. »Gott« entlastet nicht von dieser Notwendigkeit, die das menschliche Leben charakterisiert. Kommt im Gleichnis Gott als Hirte vor, der sich über jeden Einzelnen freut wie der Schäfer über das Schaf, sollte das die Menschen nicht in Sicherheit wiegen. Angelegenheiten ihres Lebens müssen sie für sich selbst regeln. Gott hat nicht alles vorentschieden. Jesu Rede verweist im Gleichnis auf Gott, um den Hörern zu zeigen, daß sie gute Menschen wären, würden sie wie der gute Hirte handeln. Wären sie dann nicht, im Gleichnis, wie ihr »Vater im Himmel«? Dieser Ausdruck ist im Gleichnis umkehrbar: Wäre, wenn die Menschen »wie« er wären, dann nicht der Vater »wie« sie? Wäre Gott nicht Gott in den Menschen? Warum sonst, sagt die Relation von Jesus und Christus, wäre Gott sonst Mensch geworden? Und warum wäre der Gottmensch durch seinen Tod Christus geworden? Zu handeln wie der Hirte im Gleichnis, verlangt von Menschen, Einzelne im Blick zu haben. In den Augen der Welt mag der Hirte im Gleichnis als verantwortungslos erscheinen, läßt er doch neunundneunzig Tiere im Stich, um ein einziges Tier zu suchen. Würde die Verantwortung für »alle« – eine Art mengenlogischer Vorstellung von Gerechtigkeit – den Ausschlag geben, wären der Schäfer oder Gott schlechte Hirten ihrer Herde. Als Führer taugten sie wenig, weil sie nicht »alle« jederzeit im Blick haben. Relativ gesehen zählt der Einzelne nicht, »zählt« er doch nur als gleichartiges Element einer Menge, nicht als unvertretbares Einzelnes. Hingegen zielt die christliche Gleichnisform auf die Unvertretbarkeit des Einzelnen. Unverwechselbar ist der Einzelne, weil er, mithilfe des Gleichnisses, die Unterscheidungen von Jesus und Christus, Welt und Gott, Glaube und Unglaube umzukehren gelernt hat. Verirrung, Suche und Errettung, Umkehr, Freude und Gemeinschaft bilden eine Motivgruppe, für die der »Himmel« steht. Im Gleichnis läßt sich der Ausdruck in unterschiedlicher Weise verstehen: als Hinweis auf ein ausstehendes himmlisches Reich in der Zukunft, als Blick Gottes, der aus einer ganz anderen Sphäre auf die Welt fällt, oder als Form der Welt selbst. In der zweiten Lesart bliebe Gottes Liebe ohne direkte Folgen für die Welt. Seine Freude wäre 236 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Gleichnisse

buchstäblich himmlisch, nicht weltlich. In der ersten Lesart wäre der Kern der Umkehr die Verheißung einer Zukunft. Auch in diesem Fall wäre die Veränderung nicht in der Gegenwart wirksam. Erst die dritte Lesart schöpft die Radikalität der Geschichte aus. »Himmel« wäre keine Bezeichnung eines Ortes außerhalb der Welt noch einer Zeit in der Zukunft der Welt, sondern als gegenwärtiger Vollzug der Welt zu begreifen. Wo der Einzelne irren und umkehren kann, wo seine Umkehr Welt verändert und wo der Einzelne ohne Ansehen seiner Leistungen oder Schwächen gesehen wird, wo er gesucht und vermißt wird und wo die Gesellschaft sich in der Freude über Umkehr und Gemeinsamkeit selbst kenntlich wird, ist »Himmel«. Ob das »Himmelreich« je stattfindet, hängt von allen Einzelnen – als Einzelne, nicht als Gesamtheit – ab. Der »Himmel«, auf den Jesus im Gleichnis die Hörer vergleichend hinweist, gleicht der »erfüllten Zeit«: »Und nachdem Johannes überliefert war, kam Jesus nach Galiläa und verkündete die Heilsbotschaft Gottes,/ indem er sprach: ›die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahegekommen. Kehret um und glaubt an die Heilsbotschaft.‹« 41 Umkehr und Glaube an die Wirkung der Umkehr erfüllen die Zeit als Gegenwart, in der Welt sich verändert, weil sie anders gesehen wird. Im frühen Christentum wurden diese Deutungsalternativen sukzessive entfaltet. Die dritte Variante der Gleichnisauslegung korrespondiert Enttäuschungen über die in naher Zukunft erhoffte, aber ausgebliebene Errichtung des Himmelreiches. Hoffnungen auf den neuen Menschen und das Reich Gottes werden internalisiert. Sakramente trösten die Gläubigen und geben Kraft in der langen Wartezeit. In dieser Funktion sakramentaler Tröstung gewinnt die Organisation Kirche an Bedeutung. Sie verwaltet und spendet Heilsgüter, sorgt für eine Verkündigung der reinen Lehre und wacht über deren Interpretation. Möglicherweise entstehen erst jetzt einige der Jesus zugeschriebenen Gleichnisse.

2.3

Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg

»Denn mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg zu dingen./ Er vereinbarte mit den Arbeitern einen Denar für den Tag und 41

Mk 1, 14–15.

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Unvertretbares Ich

schickte sie in seinen Weinberg./ Und als er um die dritte Stunde ausging, sah er andere müßig auf dem Markte stehen/ und sagte zu denen: ›Geht auch ihr in meinen Weinberg, und was recht ist, werde ich euch geben.‹/ Und sie gingen hin. Um die sechste und neunte Stunde ging er noch einmal aus und tat ebenso./ Und als er um die elfte Stunde ausging, fand er nochmals andere dastehen und sagte zu ihnen: ›Was steht ihr hier den ganzen Tag müßig?‹/ Sie antworteten ihm: ›Weil niemand uns gedungen hat.‹ Da sprach er zu ihnen: ›Geht auch ihr in den Weinberg.‹/ Als es nun Abend geworden war, sagte der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: ›Ruf die Arbeiter und zahle ihnen den Lohn aus, fange bei den letzten an bis zu den ersten.‹/ Und es kamen die von der elften Stunde und erhielten je einen Denar./ Als nun die ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr bekommen. Und auch sie erhielten je einen Denar./ Und da sie ihn erhielten, murrten sie gegen den Hausherrn/ und sagten: ›Diese letzten da haben eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgestellt, die wir die Last des Tages getragen haben und die Hitze.‹/ Er aber erwiderte einem von ihnen und sprach: ›Mein Lieber, ich tue dir kein Unrecht. Hast du nicht mit mir einen Denar vereinbart?/ Nimm das Deine und geh. Ich will aber diesem letzten geben wie dir./ Oder darf ich mit dem Meinen nicht tun, was ich will? Oder ist dein Auge böse, weil ich gut bin?‹/ So werden die Letzten Erste sein und die Ersten Letzte.« 42 Erzählt wird eine Geschichte alltäglicher, harter Arbeit. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten Männer im Dienste eines Grundeigentümers. Ihr Lohn wird morgens mit den ersten der Eingestellten vereinbart. Später Dazukommenden verspricht der Herr gerechtes Entgelt. Nach dessen Höhe wird nicht gefragt. Am Ende des Tages entsteht Streit über die Gerechtigkeit des Lohnes. Der Herr weist auf seine Rechte hin, und Jesus, der von Matthäus erzählte Erzähler der Geschichte, vergleicht das Gleichnis mit einer anders gelagerten Umkehr zwischen Ersten und Letzten. Um abstrakte Wertungen oder Abschätzungen eines größten Nutzens geht es in der Geschichte nicht. Weder im Gleichnis – durch die Rede der Arbeiter – noch im Vergleich, den Jesus zwischen der Situation innerhalb und außerhalb des Gleichnisses zieht, handelt es sich um formale Gleichsetzungen. Wo sonst könnte die Frage nach 42

Mt 20, 1–16.

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Gleichnisse

dem Verhältnis formaler Gleichheit und situativer Gleichsetzung in ihrer Tragweite deutlicher werden als im Blick auf Gerechtigkeit und Arbeitslohn? 43 Durch Arbeit sichern Menschen ihr Leben. Fragen des Lohnes sind auch Fragen nach dem »guten« Leben, insofern dessen Qualität in mancher Hinsicht von Geld abhängt. Gerechtigkeit wird als etwas geschildert, das jemandem durch jemanden gewährt wird. Der Gewährende ist der Herr. Statt nur auf Äquivalenten beruht Gerechtigkeit, wie das Gleichnis nahelegt, auch auf einer Gabe. Niemand kann mehr als das Vereinbarte verlangen. Vorzüge und Schwächen derer, denen sie gewährt wird, werden nicht bewertet. Insofern gleicht die Gabe einer Gnade. An keiner Stelle des Gleichnisses vergleicht und bewertet der Herr Arbeitsleistungen der Einzelnen. Die Qualität ihrer Arbeit scheint so wenig eine Rolle zu spielen wie deren Dauer. Bei den Arbeitern weckt das Murren. Ihr Interesse ist auf äquivalenten Lohn gerichtet, der sich messen lassen muß, um nicht willkürlich auszufallen. Nach Gutdünken bemessener Lohn würde sie gegenüber der Willkür der Grundherren hilflos machen. Und doch stellt das Gleichnis eine Äquivalenz von Gerechtigkeit und Gleichheit in Frage. Quantitativen Kalkülen bleibt Gerechtigkeit ebenso unerreichbar wie formallogischen Schlüssen. Fünfmal stellt der Herr Arbeiter ein. Nur mit den ersten vereinbart er einen Lohn. Den übrigen sagt er: »und was recht ist, werde ich euch geben«. Warum fragt niemand? Ist das Vertrauen gegenüber dem Herrn so groß oder die Not, überhaupt Arbeit zu bekommen, so drängend? Als es zur Lohnauszahlung kommt, stellt sich das Problem der Leistungsbewertung und der Bemessung von Gerechtigkeit konkret in der Frage der Zahl von auszuzahlenden Denaren. Arbeiter erhalten ihren Lohn nun unabhängig von ihrer längeren oder kürzeren Arbeitszeit. Diejenigen, die als erste begonnen und am längsten gearbeitet haben, empfinden das als ungerecht. Alle anderen akzeptieren offenbar den Lohn – sei es, weil sie das Arrangement mit den ersten nicht kennen, sei es, weil sie sich vielleicht im Vorteil glauben. Nach dem Verständnis der ersten Gruppe hätte ein gerechter Lohn sein Maß in der geleisteten Arbeit, bemessen nach ihrer Zeit. Gemessene Zeit fände ihr Äquivalent in einer Lohndifferenz. Entweder Darauf weist auch Luise Schottroff im Rahmen ihrer sozialgeschichtlichen Deutungsmethode hin: Dies.: Die Gleichnisse Jesu. Gütersloh 2005, S. 137. – Meine Beschreibung orientiert sich hingegen an der Frage nach der Bildlichkeit von Darstellungen.

43

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Unvertretbares Ich

könnten die am längsten Arbeitenden mehr Lohn verlangen – den sie jedoch am Morgen nicht ausgehandelt hatten, da sie zu diesem Zeitpunkt mit dem einverstanden waren, was der Herr tatsächlich am Abend zahlte –, oder die zuletzt Eingestellten dürften nur weniger Entgelt bekommen. Entscheidend an der Form der Äquivalenzgerechtigkeit ist weniger die absolute Höhe des Lohns als die Differenz der Entgelte. Wenn ein Arbeiter mehr bekommt, so ist das ein mehr im Vergleich zu einem anderen Arbeiter. Maßstab des Vergleichs wären gezählte Dauer und Preis der Arbeitszeit. Doch der Herr zählt nicht. Im Gegenteil: Die letzten Arbeiter werden zu den Ersten, und die ersten werden zu den Letzten. Demonstrativ kehrt der Herr quantitative Relationen in seinem Verhalten um. Er mißt nicht nur nicht, er verkehrt die Ordnung des Zählens. Seine Arbeiter behandelt er gleich, doch auf andere Weise, als es deren Gerechtigkeitsempfinden verlangt. Für ihn zählt der Einzelne selbst – unabhängig von dessen relativer Arbeitsleistung und unabhängig von dem Nutzen, den er durch seine Arbeit erbringt. Ökonomisch betrachtet, handelt der Herr nicht nur ungerecht gegenüber einigen seiner Arbeiter, sondern auch unklug in bezug auf seinen eigenen Ertrag. Entweder zahlt er zuviel Lohn oder zuwenig. Das erzeugt Unruhe unter seinen Arbeitern und zwingt den Herrn zum Einsatz seiner Autorität. Gibt es also einen gerechten, meßbaren Lohn? Oder ist der Gedanke einer zählenden Gerechtigkeit selbst der Fehler, der Ungerechtigkeit anderer Art – nämlich formal gleiches Unrecht für alle – zur Folge hat? Vollends provoziert können sich die Arbeiter fühlen, als der Herr sein Verhalten nicht etwa »rational« mit Argumenten oder Berechnungen, sondern voluntaristisch erläutert: »Oder darf ich mit dem Meinen nicht tun, was ich will?« Maßstab des Handelns ist ein Wille, der auf sein Recht verweist, mit Eigentum nach Gutdünken zu verfahren. Arbeitern, die das vermeintlich ihnen Zustehende einfordern, begegnet der Herr mit seinem komplementären Recht, zu geben, was er möchte, sofern er sich an den Wortlaut des Arbeitsvertrages – Arbeit für einen Denar – hält. Der Herr beschuldigt die protestierenden Arbeiter sogar, nicht so sehr Gerechtigkeit zu verlangen als vielmehr ihrem Neidinstinkt nachzugeben: »Oder ist dein Auge böse, weil ich gut bin?« In dieser kritischen Situation spricht der Herr einen Einzelnen an. Darin steckt mehr als ein rhetorisches Mittel. Er hütet sich, seine Arbeiter als Kollektiv des Neides zu verdächtigen. Die Pluralform würde die verschiedenen Einzelnen als Gleiche einer Menge behandeln. Neid hingegen 240 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Gleichnisse

ist ein individueller Affekt. Jeder Einzelne muß unterschieden werden können, um seine jeweilige Haltung zu verstehen. Mit rhetorischen Beschuldigungen einer Gesamtheit Gleicher wäre nichts gewonnen. Gerechtigkeit aus Stärke, die gibt, weil sie will und sich nicht von quantitativen Erwägungen beeinflussen läßt, provoziert alltägliches Gerechtigkeitsdenken. Regeln eines Arbeitsmarktes, die für jedermann Geltung haben, widerstreitet sie. Stattdessen pocht sie auf das Recht des Herrn, zu tun, was dessen Wille ist. Allerdings tut der Herr, was er will, nicht aus Eigennutz – in dieser Hinsicht wäre sein Verhalten ökonomisch eher schädlich. Zunächst stellt er so viele Arbeiter ein, wie gerade beschäftigungslos sind. Das Gleichnis ist nicht so erzählt, als ob der Herr dringend noch mehr Arbeiter benötigen würde. Eher zufällig scheint er sie anzutreffen, als er ausgeht. Dann zahlt er ihnen unabhängig von ihrer Leistung den gleichen Lohn. Damit durchbricht er die Logik des Marktes. Seine Zahlung des Arbeitslohnes wird zur Gabe. Meßbaren Kriterien oder symbolischen Äquivalenzen entzieht sie sich. Indem der Herr diese Logik durchbricht und das Gerechtigkeitsempfinden provoziert, läßt er die Arbeiter Verhältnisse des Lebens – Arbeit und Anstrengung, Lohn, Gerechtigkeit, Wortlaut und Sinn eines Vertrages, die Rolle von Arbeiter und Herr – anders sehen. Hätte er den Männern ihren Denar geschenkt, wäre dieser Effekt der Überraschung nicht eingetreten. Der Herr ist Herr, weil er Dinge anders sehen und sehen lassen kann. Er ist derjenige, der Macht hat. Sie auszuüben heißt im Gleichnis, nicht etwa persönlichen Vorteil daraus zu ziehen, sondern Perspektiven zu verrücken, die jedermann für selbstverständlich hält. Ohne Irritation scheint es schwierig, solches Umdenken herbeizuführen. Darin ist die Rolle des Herrn grundsätzlich von derjenigen seiner Arbeiter verschieden. Er muß handeln und reden: Sein Verhalten muß so provozieren, daß die Arbeiter von ihm Rechenschaft verlangen, weil sie erst dann bereit sind, seine Erwiderung zu hören. Redend durchkreuzt der Herr quantitative Maßstäbe von Gerechtigkeits- und Marktlogiken, aber auch Logiken universalistischer Moral, die auf Äquivalenten, Preisen und formalen Regeln der Verallgemeinerung aufbauen. Stattdessen bringt er die Umkehrbarkeit von Zählbarem einerseits und von Blick- bzw. Zählweisen andererseits zur Erfahrung. Die Einforderung ökonomischer Gerechtigkeit, bemessen im leistungsgerechten Lohn, enthält einen neidvollen, affektiv geladenen und potentiell mißgünstigen Blick auf Mitmenschen, wenn 241 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Unvertretbares Ich

diese üblichen Vergleichsordnungen nicht genügen. Wer gerechterweise »das Seine« will, möchte nicht, daß andere Dasselbe bekommen, sofern sie nicht Äquivalentes geleistet haben. Gleichheit aller scheint Ungleichheit im besonderen Fall zu verlangen. Doch setzt Äquivalenz ein tertium comparationis voraus, das im Einzelnen gerade verschwindet. Gerechtigkeit, im Sinne einer Äquivalenzlogik, überläßt den Einzelnen einer Logik von Vergleichsordnungen, die ihn als Unverwechselbaren nicht sieht, weil sie Einzelne nur als Verwechselbare kennt. Einzelnes zu sehen hingegen ist eine Fähigkeit und Bereitschaft, die sich überall zeigen kann. Darum ist das Gleichnis nicht etwa eine Geschichte über den Arbeitsmarkt. Herr wird, dem Gleichnis zufolge, sein, wer die Logik des Preises und der Vergleichbarkeit von Äquivalenten durch eine Haltung der Gabe ersetzt. Gaben unterscheiden sich von Geschenken. Zur Gabe gehört in diesem Fall, daß ihre Form als überraschender Bruch mit Erwartungen gesehen wird. Dazu muß die Zeichenordnung gewechselt werden. Erst mit Hilfe von Zeichen – hier: von Gleichnissen, also von Sprach-Bildern – wird die Welt zu einem Bild, das andere Weisen des Sehens sehenlassen kann. Das ist Jesu’ Rolle in seinen Verkündigungsreden. Wieder verweist das Gleichnis sowohl auf diejenigen, die mit seiner Hilfe sehen, wie auf die Situation, die sie sehen. Der Vergleich hält das Verglichene in der Schwebe. Objektive Kriterien des Vergleichs – die Figur eines generalisierten Dritten – werden außer Kraft gesetzt. An deren Stelle tritt die Entscheidung des Einzelnen. Auch dieses Ich wird im Gleichnis – im Bild – als eine Funktion des Bildes unterscheidbar, da die Frage nach ihm durch das Bild unabweisbar ist. So wie jedermann ein guter Hirte sein kann, ist jedermann potentiell der gute Herr – allerdings nicht in den Registern weltlicher Gerechtigkeits- und quantitativer Äquivalentenlogik. 44 Gerechtigkeit als Gleichheit aller gemäß einer abstrakten Leistungsmessung wäre ungerecht, wie das Gleichnis hervorhebt. Aristoteles hatte Gerechtigkeit als Form bestimmt, Ungleichen Ungleiches zuzuteilen. Wer gerecht ist, wie der Weinbergbesitzer, braucht dafür

Vielleicht auch deshalb agiert der Herr in einigen Gleichnissen »ungerecht« – was die Gleichnistheorie mit der Frage konfrontiert, ob der Herr im Gleichnis mit Gott gleichzusetzen ist. Vgl. Schottroff, L.: Sozialgeschichtliche Gleichnisauslegung. Überlegungen zu einer nichtdualistischen Gleichnistheorie. In: Zimmermann, R. (Hrsg.): Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. A. a. O., S. 138–149.

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Gleichnisse

weder eine Theorie des Lohnes noch moralische Gründe. Gleichnisse bieten Unterscheidungsformen an, die sich gegen die ökonomischen und moralischen Vernunftformen moderner Gesellschaften sperren. Gerechte Taten, die auf den Einzelnen zielen und niemanden verloren geben, verwandeln das Leben, indem sie Handeln in neues Licht rükken. Solche Reflexionen sind keine Beobachtungen zweiter Ordnung. Sie haften an der Unvertretbarkeit von Personen als Einzelnen – und nicht als verwechselbaren Inhabern von Ämtern mit Rechten und Pflichten wie im Falle von Grundherren. Hier liegt ein Quell späterer Differenzen zwischen der Kirche als kultureller, politischer, juristischer und ökonomischer Organisation einerseits und den zu ihrer Reform aufrufenden »Ketzer«-Bewegungen andererseits, die sich auf die Textbasis der Heiligen Schrift berufen.

2.4

Form und Kontext: Gleichnis und Evangelium

Christlich geprägte Vorstellungen vom Personsein, wie sie in den Gleichnissen des Neuen Testamentes vorgetragen werden, verlangen und stimulieren Reflexivität im Umgang mit Optionen der Welt, der jeweiligen Situation und eigenen Möglichkeiten. Das Neue Testament schildert Gleichnisreden Jesu als Formen des Unterscheidens. In den Paulus-Briefen und den Evangelien wird die Jesus-Figur aus der Perspektive der Auferstehung, im Lichte der Christus-Figur, entfaltet. Diese Identität und Differenz ist für den Vollzug der Gleichnisse als Bilder wichtig. Lesend oder hörend vollziehen wir Gleichnisse, indem wir diese Doppelfigur als literarische Konstruktionsform der Evangelien benutzen. Evangelien begegnen als Texte, die Bilder vorführen und sich als Bild von Bildern realisieren. Sinn und Relevanz für das »Leben« gewinnen sie im Vollzug ihrer Deutung, die stets eine Übertragung auf Kontexte verlangt, die außerhalb der Gleichniserzählung liegen. Deutungen von Gleichnisbildern verweisen auf die Gegenwart der Deutung. Statt auf ein Jenseits der wörtlichen Bedeutung lenken sie den Blick auf das Jetzt des Vergleichs, auf Situation und Anlaß der Bildverwendung und auf Perspektiven, Erfahrungen und Erwartungen desjenigen, der mit Hilfe des Gleichnisses fragt. Aus der Perspektive einer Bildtheorie entsprechen einander das Bilderverbot der Thora und die Bilderfülle des Neuen Testamentes. Im Kontrast verweisen sie auf ein jeweils anderes Verständnis von 243 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Unvertretbares Ich

Bildern. Verboten werden Bilder, die keine Gleichnisse sind, ginge es bei ihnen doch um unmögliche konkrete Vorstellungen Gottes. Solche Vorstellungen würden die Idee Gottes vereindeutigen und in die Endlichkeit einer bestimmten Ansichtigkeit bannen, während die Funktion der Unterscheidung, die Gott anbietet, in Vergessenheit zu geraten droht. Bilder, die den Vollzug von Bildlichkeit blockieren, sind unangemessen, da sie Bilder wirkungslos zu machen drohen. Geboten sind hingegen Gleichnisbilder. Sie beziehen, als aktive Bildfunktionen, Betrachter, Leser oder Hörer so in das Differenzierungsgeschehen ein, daß diese fragend auf Welt und auf sich selbst blicken, indem sie auf die Form des Bildes schauen. Im Gleichnis wird die Form des Bildes zu dessen inhaltsgenerativer Funktion, in der Anschauung des Gottesbildes hingegen zu einer funktionslosen Festlegung. Indem Menschen Welt in deren vermeintlicher Selbstverständlichkeit befragen, vollziehen sie ihre Menschlichkeit. Nach ihnen wird gefragt. Als Verhältnis zur Welt und zu sich werden Menschen zu einer bildlich-symbolischen Reflexionsform von Welt. Dadurch werden sie tendenziell göttlich, sofern der Terminus Gott eine Differenz von Welt zu ihr selbst markiert. An Gott gilt es weniger zu glauben – wie an eine Vorstellung – als vielmehr die Differenz »Gottes« zur Welt in der Welt zu vollziehen. Der Terminus im Text verwandelt sich zu einer praktischen Haltung in der Welt. Welt spiegelt sich im Text. Entfaltet der Text innerweltliche Konsequenzen, wird Welt zum »Himmelreich« – nicht als andauernder Zustand oder Sozialutopie, wohl aber als immer neu zu erwerbende Haltung in Welt zur Welt, zu anderen und zu sich selbst. Diese Differenz nimmt die Einheit der Differenz von Jesus und Christus auf, um sie als Aufgabe zu reformulieren. Analog zum Verhältnis des Bilderverbots der Thora und des neutestamentlichen Gleichnisgebots ergeben sich daraus zwei komplementäre politische Konsequenzen religiösen Unterscheidens. Würde das Himmelreich – wie auch der »Herr« im Gleichnis – als konkreter Zustand oder als konkrete Person vorgestellt, ergäbe sich eine Perspektive, die auf eine Art von Gottesstaat hinausliefe: eine ausgezeichnete politische Organisationsform in der Welt. Damit würde die religiöse Unterscheidung zu einem einzigen, endlichen Ergebnis verdichtet. Im Sinne einer bildlogischen Gleichnisauslegung hingegen erscheint die Figur des »Herrn« und des »Himmelreichs« als innerweltliche Funktion des Unterscheidens, die zunächst nicht – und vielleicht nie – mit einem bestimmten politischen Zustand zusammenfällt. Dieser Auslegung zufolge ist das Himmelreich wirklich, 244 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Gleichnisse

wenn im Sinne des Gleichnisses unterschieden und Verschiedenes ähnlich gemacht wird im Blick auf Einzelne. Radikal politisch ist diese Unterscheidungsform, weil sie keine Loyalität zu einer bestimmten politischen Form kennt, aber mit jeder kompatibel bleibt. Politisches tritt als Frage, Bild und Unterscheidung in Welt ein – es kann weder begründet, berechnet noch moralisch gefordert werden. Vollzogen wird es jeweils von Einzelnen – von »Personen«, die nicht die andere Seite einer Organisation darstellen, sondern als unvertretbares Ich Verantwortung übernehmen. Gleichnisse beschreiben mithin eine Reflexionsform, die erst im Kontext einer Kultur gelingt und Blicke auf diese Kultur freigibt. Kulturen entstehen nicht zuletzt durch wiederholende Erinnerungen der Vergleiche, die sie vollziehen und als semantische Räume mitführen. Die christliche Kultur wurde über fast zwei Jahrtausende zu einer Vergleichsordnung, die sich ins Verhältnis zu sich selbst und zu den Gegebenheiten der Welt setzt, indem sie Bilder erzeugt – nicht zuletzt Bilder, deren Kraft aus dem Zusammenspiel von biblischem Text und malerischen, skulpturalen, liturgischen oder architektonischen Bildern entspringt. Deshalb begegnet ein großer Teil der dadurch angeregten Kunst als Reflexion auf das Verhältnis von Bild und Text, Erinnerung und Gegenwart. Zu den Besonderheiten dieses Reflexionsstils gehört, daß er einen Kontrast zwischen der Reflexionspraxis neutestamentlicher Texte einerseits und kirchlich organisierter Religion andererseits eröffnet. Zum kulturellen Paradigma von Gesellschaften wurde das Christentum durch seine Stabilisierung in der Organisation Kirche. Sie beansprucht, unter Leitung der Bischöfe, den Weg des Einzelnen zum Heil zu reglementieren und zu kontrollieren. Dazu trug die zwischen dem späten 2. und dem 4. Jahrhundert erfolgende Einigung auf einen verbindlichen Textkanon bei, der einer allmählichen Dogmatisierung und Kanonisierung der Lehre den Weg bereitet. Das Konzil von Nizäa, zu dem Kaiser Konstantin 324 alle Bischöfe einlädt, formuliert ein Glaubensbekenntnis, das den Streit über ein angemessenes Verständnis der Trinität beenden soll. Hier, wie auch auf den Konzilen von Konstantinopel 381 und Chalkedon 451, findet eine Reflexion biblischer Texte statt, die auf Terminologien antiker Philosophie zurückgreift, um Begriffe wie Wesenseinheit, Sein, Natur oder Substanz zu präzisieren. Als zur Verkündigung der Lehre für nicht griechisch sprechende Menschen ein Bedarf nach lateinischen Übersetzungen der Texte aufkommt, wandern Begriffe juristischen, 245 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Unvertretbares Ich

literarischen oder philosophischen Ursprungs in theologische Reflexionen ein. 45 Hieronymus, von Papst Damasus I. mit einer verbindlichen lateinischen Bibelübersetzung betraut, macht sich mit dem Wissen darum an die Arbeit, daß spätere Leser jede Abweichung von dem bis dahin geläufigen Text als Fälschung oder Gotteslästerung auffassen könnten. 46 Seit dem 4. Jahrhundert verwandelt sich das Christentum von einer kleinen Glaubensgemeinschaft innerhalb des multireligiösen Römischen Reiches zu einer staatstragenden Ideologie, die an die Macht einer Kirchenorganisation gebunden ist. Nun zieht es Eliten an, schafft ökonomische Perspektiven, gewinnt juristische Formen und expandiert zum politischen Machtfaktor. Theologische Fragen nach der Vorstellung von Gott oder der Natur Jesu gewinnen seitdem konkrete politische Signaturen in der Konkurrenz von Gruppen und Interessen. Der Monotheismus des einzigen Gottes schließt andere Götter ebenso aus, wie er Machtbedürfnissen des politischen Souveräns entgegenkommt. Fragen der Texthermeneutik oder der Kultausübung erhalten direkte politische Relevanz. Wer der »Herr« ist, darüber entscheidet die Organisation Kirche als Machtfaktor mit. Das Amt des Bischofs gleicht dem eines monarchischen Regenten. Er verkörpert die Kirche als hierarchisch organisierte Heilsanstalt. Souverän ist, wer sichtbar ist. Darum wird das Bild Gottes zum Politikum – sei es in der Auslegung der Heiligen Schrift, sei es im Verhältnis von Text und Bild. 47 Für viele Jahrhunderte reflektierten christliche Gesellschaften sich im Spiegel dieser Text-Bilder als zugleich religiöse, kulturelle, politische und ökonomische Ordnungen. Solange die Kirche, als Organisation, ökonomisch die kulturelle Bildproduktion kontrolliert, bleiben Textbezüge der Bilder erhalten. Zerbricht dieser ökonomische Zusammenhang, lösen Bilder sich von der christlichen Texttradition ab. Kunst gibt ihre religiösen Rahmungen auf, um sich als Markt mit eigenen Organisationen zu entfalten. Dabei sammeln sich neue Texte über Vergleiche von Form und Inhalt der Werke an, die von Kunstwissenschaft und Kunstkritik hervorgebracht werden. Nicht selten sprechen solche Kommentatoren Kunstwerken eine ähnlich funVgl. Dahlheim, W.: Die Welt zur Zeit Jesu. A. a. O., S. 432 f. Vgl. ebenda. 47 Vgl. Barceló, P.: Das Römische Reich im religiösen Wandel der Spätantike. Kaiser und Bischöfe im Widerstreit. Regensburg 2013. 45 46

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Philosophisch-religiöse Bilder

damentale Bedeutung für die Reflexion von Welt, Kultur und Gesellschaft zu, wie Theologen es zuvor im Blick auf Religion taten. Kirche als Organisation gerät in dem Maße, wie sie bürokratische und politische Effizienz durch Hierarchisierung und Verwaltung entfaltet, in potentielle Widersprüche zu einer Reflexionsform, wie sie ihre heiligen Texte im Neuen Testament nahelegen. Das Aufmerksammachen auf Kontraste zwischen Kirchenorganisation und christlicher Haltung ist seitdem ein Topos christlicher Theologie und Kirchenkritik. Aus Reibungen zwischen Kirchenorganisation und Reflexionspraxis vermochte die christlich geprägte Kultur immer wieder Gewinn zu ziehen. Ökonomische, kulturelle, ästhetische, politische oder soziale Zusammenhänge wurden von Kontrasten zwischen Grundtext und Organisation in Bewegung gehalten. Kontraste ließen sich sowohl als Konflikt austragen als auch in kultureller oder theologischer Deutungsarbeit pflegen. Exemplarisch sichtbar im Aufkommen der Bettelorden, stand das Verhältnis zwischen Ökonomie und Kultur im Zentrum des Interesses. In solchen Debatten und sozialgeschichtlichen Konflikten spiegeln sich ambivalente Funktionen von Organisationsbildungen in der gesellschaftlichen Kommunikation und Kultur. Erst in der Zeit der Französischen Revolution und Napoleons zerbricht dieses ökonomisch-politisch-kulturelle Ordnungsgefüge in Mitteleuropa. 48 Nun wird die Organisation Kirche wesentlicher ökonomischer und politischer Machtressourcen beraubt. Damit ähnelt sie sich anderen Organisationen an und verliert an kultureller Deutungsmacht. Mit dem Aufkommen eines Marktes für Kunstwerke in der Renaissance geht ihr kulturelles Bildmonopol verloren.

3.

Philosophisch-religiöse Bilder

Gleichnisse bieten Reflexions-Bilder, deren Vollzug dem Modell formaler Rationalität Grenzen aufzeigt. Logische und poetische Funktionen schließen sich in Gleichnissen zur fragenden Erschließung von Welt in unabschließbaren Prozessen der Auslegung zusammen. Ihre logische Form entfaltet sich in der konkreten Gestalt einer Aufforderung zum Ähnlichmachen des Verschiedenen. In einer Doppelbewegung bringen sie die endliche Unendlichkeit eines auslegenden Vgl. Schlögl, R.: Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750–1850. Frankfurt/M. 2013.

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Unvertretbares Ich

Ichs und einer konkreten Welt zur Erfahrung. Ihre Funktionsweise entzieht sich einer Logik der Zweiwertigkeit. Gleichnisse eröffnen Übergänge zwischen Unterschiedenem. So stiften sie Ähnlichkeiten ohne Identität. Bestimmt wird die Verschiedenheit des Besonderen als eines Vergleichbaren. Gleichnisse sind keine Schemata, die das in ihrer Anwendung zutage Tretende als gleiche Elemente einer Menge behandeln und denselben Operationen unterwerfen. Eines wird im Anderen als Bestimmtes sichtbar. Deduktion, Induktion oder Mengenlogik beschreiben Leistungen des Gleichnisses nicht angemessen. Weder Teil oder Ganzes noch Besonderes oder Allgemeines, Konkretes oder Abstraktes, Fall oder Gesetz kommen als Ordnungsschemata zum Zuge. Ein tertium comparationis wird für das Gelingen des Vergleichs nicht benötigt. 49 Vielmehr treten Leser/Hörer der Geschichte in die Position des Dritten ein: Sie stiften Verhältnisse von Ähnlichem und Verschiedenem. Als logisch anspruchsvolle Formen können Gleichnisse doch nicht mit einem Gleichheitszeichen geschrieben werden. Diese Notationsform geht an der oszillierenden Funktion der Vergleichsoperation vorbei, die ein Gleichnis etwas zeigen läßt. Deshalb bieten Gleichnisse eine Alternative zur zweiwertigen Logik oder zum Kalkül. Als semantische Operationen werden sie jeweils von jemandem mit Hilfe einer Zeichenform im Blick auf einen perspektivischen Vergleichskontext vollzogen. Unterscheidungen, die Ähnlichkeit herstellen, markieren Differenzen des Verglichenen. Kontexte und Anlässe des Vergleichens geraten im Vergleich in den Blick. Differenzierungen zeigen sich jeweils in einem doppelten Kontext: des miteinander Verglichenen und dadurch Ähnlichen einerseits, des Vergleichsanlasses und der Vergleichsperspektive andererseits. Beide Kontexte stehen in einem Verhältnis, das sie als Kontexte unterscheidbar macht und wechselseitig erhellt. Ihre wechselseitige Erhellung geschieht mit Hilfe einer Sprache, deren Ausdrücke vertauscht werden können. Deren Bestimmungsfähigkeit ist eine besondere, weil die Terme allgemein sind und sich in ihrer Verwechselbarkeit im Rahmen eines Sprach-Bildes bestimmen. Dieses Verhältnis »ist« die Form des Gleichnisses. Als ähnlich Gesetztes macht Unterschiede erst im Blick auf den Kontext, der Unterscheidungen und Vergleiche motiviert, die Ähnlichkeit stiften. Das ist in der Geschichte der Gleichnisforschung nicht immer so gesehen worden. Vgl. Harnisch, W. (Hrsg.): Gleichnisse Jesu. Positionen der Auslegung von Adolf Jülicher bis zur Formgeschichte. Darmstadt 1982.

49

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Philosophisch-religiöse Bilder

Realisiert wird ein semantisches Differenzierungsgeschehen, dessen Relata verwechselbar bleiben. Eines bestimmen sie im Lichte des Anderen. Identität bleibt indirekt: Sie resultiert aus dem Unterscheiden und Vergleichen. Statt um Entitäten handelt es sich um festgehaltene Zustände einer Unterscheidungsoszillation. Im Vollzug von Gleichnissen entstehen keine Resultate, die auf neue Kontexte einfach abzubilden wären. Wiederholungen führen zu immer anderen Resultaten. Die Figur eines generalisierten Dritten kommt für Gleichnisse nicht in Betracht. Je jetzt werden sie von jemandem im Blick auf etwas vollzogen. Das Dritte des Gleichnisses bleibt ein unvertretbares »Ich«: ein bestimmter und deshalb nicht generalisierbarer Jemand. Generalisierbare Einsichten sind durch Gleichnisreflexionen kaum zu gewinnen. Gründe, denen jedermann zustimmen müßte, kommen nicht zum Vorschein. Vergleiche gelingen nicht als Operationen reiner Vernunft. Es bleiben kulturell situierte Ordnungen des Verschiedenen im Blick auf Fragen, die Erfahrungen und Erwartungen einer wahrscheinlichen Welt situativ verdichten. Weil das Ähnlichmachen an der Form der Zeichen hängt – im Bild stellt Ähnlichkeit sich material anders dar als in der Sprache –, stiften Gleichnisse Ähnlichkeiten und Differenzen, deren Modell nicht die formalisierenden Synthesisleistungen eines Bewußtseins sind. Anstatt etwas zur Deckung oder zur Eindeutigkeit zu bringen, präzisieren Gleichnisse Differenzen. Solche Präzisierung geschieht in der artikulierenden Entfaltung von Kontrasten und Möglichkeiten statt in der quantitativen Bemessung von Abständen. Zeichen fungieren hierbei bildhaft, auch wenn es keine Bilder im engeren Sinne sind. Insofern weisen Gleichnisse metaphorische Züge auf. Der erzählten Handlung, weniger dem einzelnen Wort, kommen metaphorische Funktionen zu. Gleichniserzählungen eröffnen Möglichkeiten für überraschende Vergleiche, die die menschliche Existenz neu sehen lassen. In dieser Neuheit der Hinsicht auf Unbefragtes steckt eine Wahrheit, die nicht in die Form wahrer oder falscher Aussagen paßt. »Es ist«, wie Paul Ricoeur es ausdrückt, »ein Para-dox im eigentlichen Sinne des Wortes, eine Denkweise, die dem gewöhnlichen Verständnis fremd ist. Da es nicht mehr unmittelbar in moralische oder theologische Aussagen übersetzbar ist, kann man dem Paradox nur durch die Neuorientierung der ganzen Existenz begegnen.« 50 50

Ricoeur, P.: Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache. In:

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Unvertretbares Ich

Ziel der durch Gleichnisse ausgelösten Reflexion sind weder Begründungen der Welt aus einem absoluten Nullpunkt der Selbstreferenz noch formale Regeln des Urteilens im Blick auf Erscheinendes oder die Evidenz letzter Ursachen. Gesucht wird nach Bedeutungen in sozial wie historisch kontextualisierten, semantisch erschlossenen Traditionen anläßlich konkreter Herausforderungen des Lebens. Resultate gleichnisförmiger Reflexionen führen zu perspektivischen Wertungen mit mehreren Möglichkeiten. Endgültige Lösungen oder Definitionen bleiben meist verwehrt. Weil ihre Sinnbildungen sich gleichwertig nicht auf andere Weise sagen lassen, bleiben Aussagen durch Gleichnisse auf Wiederholungen angewiesen. Schon deshalb kommen sie nicht in einem Wissen zur Ruhe. Gleichnisse sind praktische Formen, die sich bestimmen, indem sie etwas bestimmen. In der Wiederholung der Reflexion zeigen sie Neues, das sie als jeweils – oder immer wieder – Neues vergleichbar machen. Einerseits aktual und welterschließend, profitiert die Sinnform des Gleichnisses andererseits von der Geschichte ihrer Anwendung als je aktualer Erinnerung. Für das Konkrete des Unterschiedenen bleiben Gleichnisse ebenso sensibel wie für Besonderheiten des Ähnlichen und semantische Kontexte jeweiliger Unterscheidungen. Maßstäbe für die Singularität von Entscheidungssituationen sind zu erarbeiten, ohne eigene Unterscheidungen strikt am Unterscheiden anderer auszurichten. »Maß« wird dieser Maßstab, weil er, wie das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg es vorführt, nicht »mißt« wie Ordnungen des Zählens oder des Rechnens. Maßnehmen bleibt eine Operation des Ins-Verhältnis-Setzens, durch die der Maßnehmende selbst bestimmt und – in einem nicht quantitativen Sinne – gemessen wird.

4.

Unendlichkeiten

Einzelne, um die es in Gleichnissen geht, sind ein Ich, das nicht weiß, wer oder was es ist, bevor es seine Welt ausgelegt und sich ins Verhältnis zu ihr gebracht hat. Wie andere, wie die meisten, vielleicht wie alle das beobachten mögen, ist für ein solches Ich zunächst bedeutungslos. Es beurteilt keine Welt, die ihm Erscheinung ist; Welt läßt

Ders./Jüngl, E.: Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache. (EvTh Sonderheft) München 1974, S. 45–70, hier S. 70.

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Unendlichkeiten

es mit Hilfe von Darstellungen erscheinen. Darstellungen gelingen durch Arrangements zeichenförmiger Unterscheidungen. Weil das Darstellen ein unendliches Geschäft und Philosophie, wie Friedrich Schlegel es formuliert, das »Bewußtseyn des Unendlichen« ist, kann das Urteil nicht die Form der Philosophie abgeben. »Das Bewußtseyn ist eine Geschichte.« 51 Es muß als Reflexionsform in der Zeit im Blick auf Welt entfaltet werden, die es als Welt produziert. Solche Geschichten arbeiten wie Bilder. Oder wie Gleichnisse – ohne allerdings unbedingt zu einer Haltung aufzufordern. Darin kommen Ähnlichkeiten zwischen frühromantischen Überlegungen zur Bedeutung des Unendlichen in Darstellungen und Gleichniserzählungen des Neuen Testaments zum Vorschein. Es handelt sich um Praktiken unendlicher Reflexion. Auch wenn es nicht um religiös motivierte Erkundungen einer Haltung zur Welt, sondern, wie in der Frühromantik, eher um poetische Reflexionen der Welt in unendlichen Spiegelungen und Perspektiven geht, bleibt die Form solcher Unterscheidungen an den Vollzug von Darstellungen gebunden, die nicht unabhängig von einem konkreten Ich gelingen. Für die Bildfunktion solcher Darstellungen ist eine Reflexivität der Formgebung wesentlich, die sich als Ironie zeigt. Mathematische Symbole erlauben, anders als Sprache oder Bild, keine Gleichnisform. Ironie bleibt ihnen fremd. Ein Formbegriff, wie Friedrich Schlegel ihn als Alternative zur dialektischen Logik Hegels und zur Philosophie reiner Vernunft Kants ausarbeitet, wäre in der mathematischen Zeichenform kaum möglich. »Das einzige Objekt des Bewußtseyns ist das Unendliche, und das einzige Prinzip des Unendlichen ist das Bewußtsein. Die beyden Elemente machen eine geschlossene Sphäre, in deren Mitte Realität liegt.« 52 Unendlichkeit zeigt sich in einer individuellen »Sehnsucht« nach dem Ideal. 53 Für Schlegel liegt darin der spekulative Kern von »Bildung«. Was mathematische Zeichen messend unterscheiden, wird als Unterschiedenes entqualifiziert. Solche Unendlichkeit ist operativ abstrakt. Das Resultat einer Formel ist ihre Lösung. Dadurch wird Mathematik zum idealen Mittel universalisierender Beschreibungen eines jedweden Ausgedehnten als eines quantitativ Bestimmten. Sie eignet sich als

51 52 53

Schlegel, F.: Transcendentalphilosophie (1800/1801). Hamburg 1991, S. 11. Ebenda, S. 6 (Hervorhebung im Original). Ebenda, S. 7 f.

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Unvertretbares Ich

ideales symbolisches Instrument zum Umgang mit organisierten Erwartungen und zur Modellierung von Entscheidungen. Schlegel beharrt darauf, daß kein System das absolute wäre. Modell des Unterscheidens ist ihm die poetische Reflexion. Die Form der Formen sucht er ästhetisch statt logisch zu bestimmen. Poetische Formbildungen vollziehen sich sowohl in bezug auf Konkretes und Sinnliches als auch auf Symbolisches. Philosophie wird zur Gedankendichtung. Schlegels Metapher ist die eines unendlichen Spiegels: Seine romantische Universalpoesie kann »am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.« 54 Um der tückischen Tendenz der Satzform, Identität zu suggerieren, auszuweichen, greift die poetische Darstellung zur Ironie. Ironisch trägt sie dafür Sorge, Spannungen zwischen Form und Inhalt der Aussage aufrechtzuerhalten. Philosophie schlüpft in die Form der Literatur, oder, wie bei Caspar David Friedrich, Theologie in die der Malerei. So wird verhindert, daß Bestimmung sich im Urteil erschöpft. Unterschiedenes soll weder zirkulär geschlossen noch ineinander transformiert werden. Aufrechtzuerhalten ist eine Schwebe, die in keinem System zum Abschluß kommt. Spiegelt alles sich unendlich ineinander, gibt es kein Resultat. Regeln vernünftiger Logizität scheitern an der UnEndlichkeit eines Prozesses, dessen Formbestimmungen wesentlich der Passivität entspringen: »ja, das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden«. 55 Im Unterscheiden entsteht Besonderes, das das Ganze des un-endlichen Universums expliziert, ohne es zu einer Regel zu verdünnen. Die Reflexivität des Bewußtseins bestimmt mit Hilfe einer symbolischen Form, der Poesie, das unendliche Werden als unendliche – und damit endliche, nämlich bestimmt unendliche – Differenz. »Aus dem Unendlichen entsteht das Bewußtseyn, wenn das Unendliche unendlich endlich wird.« 56 Das geschieht, wenn das Unendliche sich als Unbestimmtes bestimmt: »Das bekannte Moment des Unendlichen ist das Unbestimmte, hieraus ergibt sich … das BeSchlegel, F.: Athenäumsfragment Nr. 116. In: Ders.: Transcendentalphilosophie. Hamburg 1991, S. 107. 55 Ebenda. 56 Ebenda, S. 25 (Hervorhebung im Original). 54

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Unendlichkeiten

stimmte. Das Unendliche besteht also aus dem Unbestimmten und Bestimmten.« 57 Statt eines Grundes oder einer absoluten Totalität erweist sich die Oszillation zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem als Anker eines weltbildenden Unterscheidungsprozesses. Dessen Darstellung muß indirekt verfahren, trifft die Selbstreferenz des sich auf sich beziehenden Ichs doch nicht auf Selbsttransparenz, sondern auf ein in der Unterscheidungsform verdecktes Vorgängiges. Für Schlegel wird die Darstellung zur konstitutiven Form des Wirklichen. Zwischen Unendlichem und Individuellem schlägt sie eine Brücke. Unterscheidend erzeugt sie Welt. In seinen Vorlesungen zur Transcendentalphilosophie im Winter 1800/1801 drückt Schlegel diesen Gedanken so aus: »Warum ist das Unendliche aus sich herausgegangen und hat sich endlich gemacht? – das heißt mit anderen Worten: Warum sind Individua? Oder: Warum läuft das Spiel der Natur nicht in einem Nu ab, so daß also gar nichts existirt? Die Antwort auf diese Frage ist nur möglich, wenn wir einen Begriff einschieben. Wir haben nämlich die Begriffe eine, unendliche Substanz – und Individua. Wenn wir uns den Übergang von dem einen zu dem anderen erklären wollen so können wir dies nicht anders, als daß wir zwischen beyden noch einen Begriff einschieben, nämlich den Begriff des Bildes oder Darstellung, Allegorie (…). Das Individuum ist also ein Bild der einen unendlichen Substanz.« 58 Absolutes und einzelnes Endliches erscheinen in Darstellungen wie zwei Pole einer Oszillation des Bestimmens, die einander wechselseitig voraussetzen und zugleich dementieren. Es »gibt« nur ein Zwischen, das sich im Bestimmungsprozeß endlich-unendlicher Formen zeigt. Dieses Zwischen, eine »Fiction«, macht die Wirklichkeit der Welt aus, anstatt sie entropisch zu vernichten. Philosophie, die dergestalt daran geht, das Göttliche zu »produziren«, wird, wie Schlegel 1801 notiert, zur »Magie«. 59 Kunst – Dichtung – macht die Paradoxie von Welt sichtbar, statt vermeintlich Wirkliches wiederzugeben oder wie ein reines Subjekt zu urteilen. Zahl und Geometrie, Lieder, Märchen und Erzählungen, Gedicht und philosophischer Begriff, Küsse und Gelehrsamkeit fügen sich zu einem Verweisungsgespinst, in dem lebendige Erfahrungen

Ebenda, S. 26 (Hervorhebung im Original). Zitiert nach: Frank, M.: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt/M. 1989, S. 292 f. 59 Schlegel, F.: Athenäumsfragment Nr. 115, a. a. O., S. 105. 57 58

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Unvertretbares Ich

der Welt und ihrer selbst innewerden. Die undarstellbare Einheit des Ichs zeigt sich als undarstellbare in Darstellungen. Schlegels Bestimmung der Form als magische Kunst des bestimmt Unbestimmten führt aus Hegels Sicht in eine Nacht, in der »alle Kühe schwarz« sind. 60 Doch nicht um Unterschiedslosigkeit ist es Schlegel zu tun, sondern um ein anderes Bild von Form-Prozessen. Der alles strukturierenden Form der Logik setzt er ein passiv-unendliches, nie systemisch zu schließendes und in seinen Darstellungen stets fragmentarisches Ordnungskonzept entgegen. In der Reihe von Darstellungen zeigen sich Bezüge und Differenzen, die keiner Logik gehorchen. Schlegel macht auf eine Paradoxie des Bestimmens aufmerksam, die Hegels Philosophie der absoluten Form als finaler Bestimmtheit vermeiden möchte. »Das Unbestimmte geht aus sich selbst heraus, und bestimmt sich. Es hat die Tendenz sich zu bestimmen. Das Bestimmte nun, als das Entgegengesetzte des Unbestimmten, muß also auch die entgegengesetzte Tendenz des Unbestimmten haben, folglich: Das Bestimmte hat die Tendenz, ins Unbestimmte zurückzukehren. Es kann sich diese Tendenz nur äußern durch Bestimmbarkeit des Bestimmten. Diese Bestimmbarkeit muß selbst wieder unbestimmt seyn, da das Bestimmte die Tendenz hat, ins Unbestimmte zurückzukehren, also ins Unbestimmte sich zu bestimmen. Der Charakter alles Bestimmten ist also eine unbestimmte Bestimmbarkeit.« 61 Zu welchen Formen sich Unbestimmtes bestimmt, zeigt sich im Rückblick einer symbolisch kondensierten Darstellung. Im logischen Sinne bleibt sie so unkalkulierbar, wie das ReflexionsIch einer transzendentalen Logizität nicht habhaft wird. Logik, Poesie und Ästhetik verschränken sich. »Magische« Kraft entwickeln Darstellungen, die Ich und Welt, Endliches und Unendliches, Bestimmtes und Unbestimmtes produktiv verwechselbar halten. Reflexivität, die aus der Verwechselbarkeit von Unterschiedenem in Unterscheidungen entspringt, bleibt konkret, material an ihre Gegenstände gebunden, situativ und kontingent. Vollzogen wird sie von einem unvertretbaren Ich, das von keinem generalisierten Dritten, keinem ökonomischen oder moralischen Jedermann, zu vertreten ist. In dieser Sicht auf die Verwechselbarkeit von Wirklichkeit, Darstellung

Vgl. Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik Bd. 1, a. a. O., S. 22. Schlegel, F.: Transcendentalphilosophie (1800/01). Hamburg 1991, S. 28 (Hervorhebungen im Original).

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Unendlichkeiten

und Reflexivität sind Gleichnisse des Neuen Testamentes, frühromantische Texte von Novalis und Friedrich Schlegel oder Bilder von Caspar David Friedrich vergleichbar: Es sind jeweils spezifische Modelle des Vergleichens von Einmaligem.

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III. Reihen

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Fotografische Reihen

1.

Industrielle Bauten: Bernd und Hilla Becher

Über mehr als vier Jahrzehnte dokumentieren Bernd und Hilla Becher Industriebauten. Allmählich entsteht ein systematisches Bildprogramm, das Bauformen vergleichend kontrastiert. Während die Montanindustrie Westeuropas im Niedergang begriffen ist, sammeln sie in typologisierender Absicht Bilder von Förder- und Wassertürmen, Hochöfen, Gasometern, Hallen oder Silos. Früh legen sie sich auf ein Darstellungsformat fest, das alle Spuren »subjektiver« Fotografie zu tilgen scheint. Fotografien werden mit einer Plattenkamera aufgenommen und schwarz-weiß ausgeführt. Unter Verzicht auf dramatisierende Effekte, romantisch anmutende Lichtwirkungen oder atemraubende Perspektiven erscheinen Objekte vertikal angeordnet im Zentrum des Bildes. Aus mittlerer Höhe fällt der Blick auf ein symmetrisch in der Bildmitte zu sehendes Gebäude. Gleichmäßiges Licht bei bedecktem Himmel im Frühjahr oder Herbst, wenn Bäume kaum Blätter tragen, wird bevorzugt. Lange Belichtungszeiten tragen dazu bei, daß auf den Bildern fast nie Personen erscheinen. Im Zentrum steht die Architektur. Entwickelt werden die Bilder in Formaten von 30 mal 40 oder 50 mal 60 Zentimetern, angeordnet in Reihen von drei bis fünf Bildern, die wiederum zu Gruppen von jeweils drei Reihen zusammengefaßt sind. Reihen und Gruppen werden durch die Funktion der Gebäude – Fördertürme oder Gasometer etwa –, durch ihre regionale Herkunft und unter Beachtung von Baumaterialien wie Eisen, Holz oder Beton organisiert. 1 Einzelne Bilder begegnen jeweils als Element einer Reihe. In Verbindung mit gleichbleibenden Kompositionsregeln hebt das die

Vgl. Gronert, St.: Die Düsseldorfer Photoschule. Photographien 1961–2008. München 2009; Lange, S.: Bernd und Hilla Becher. Häuser und Hallen. Frankfurt/M. 1992.

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Fotografische Reihen

Anonymität der Architektur hervor. Zugleich stimuliert es den Betrachter, nach individuellen Abweichungen der jeweiligen Gebäude zu suchen. Das Reihenprinzip der Fotografie und ihrer Präsentation korrespondiert mit dem eigenwilligen Status der geschilderten Architektur. Zum einen dominieren solche Bauwerke aufgrund ihrer Monumentalität das Erscheinungsbild von Städten und Regionen. Zum anderen sorgen ihr Nutzcharakter und ihre Kurzlebigkeit dafür, daß sie selten lange im Bildbewußtsein der Menschen präsent bleiben. Kaum jemand vermißt Gebäude wie diese, wenn sie ihre Arbeit getan haben und abgerissen werden. Langwierige Überzeugungsarbeit war erforderlich, um bei Bevölkerung und Politikern ein Bewußtsein dafür zu wecken, es mit erhaltenswerten Industriedenkmälern zu tun zu haben. Bechers Fotografien locken Betrachter zu einer individualisierten Aufmerksamkeit, die sie »in natura« nur selten für die wiedergegebenen Gebäude aufzubringen bereit sind. Individualität beschränkt sich jedoch auf manchmal minimale Abweichungen. Individuelle Eigenschaften entsprechen wiederum einem Typus. Das Bildprogramm von Bernd und Hilla Becher erscheint mir deshalb in exemplarischer Weise geeignet, den Reihencharakter von Vergleichen ins Auge zu fassen und im Typus, den die Reihe erzeugen kann, Individualisierungen im kontrastierten Material aufzufinden. Im Bild und durch das Bild »zeigt sich« eine Erfahrung mit der »Wirklichkeit«. Dank ihrer präzisen Geometrie und Tiefenschärfe entfalten die Fotoreihen ihre kühle Ästhetik. Klinisch anmutende Sachlichkeit auf dem Abzug kontrastiert mit der Schmutzigkeit und dem Lärm realer Anlagen. Der Blick des Betrachters erfaßt keine rauchenden Schlote oder sich drehende Maschinen, sondern Baukörper, deren Anatomie vergleichend zu betrachten ist. Erst die Fotografien eröffnen den Blick auf eine Architektur, der unter normalen Bedingungen nicht möglich wäre. Ein erheblicher Teil der Arbeit von Bernd und Hilla Becher besteht darin, Genehmigungen für Aufnahmen zu erlangen, die den Zugang zu ansonsten nichtöffentlichen Arealen erfordern. In der künstlerischen Arbeit steckt auch Arbeit gegen die Skepsis von Unternehmen gegenüber der Fotografie und dem Umgang mit derartigen Bildern. Im Laufe der Jahre entsteht aber ein Archiv der Industriearchitektur, dessen Bedeutung mit jedem Förderturm und jedem Gasometer wächst, die einem Abriß oder einer Umnutzung zum Opfer fallen. Anders als in Fotoarbeiten, die sich mit der sozialen Dramatik dieses Verschwindens alter Industrien und dem Wandel ganzer Regionen beschäftigen, konzentrieren Bernd und Hil260 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Industrielle Bauten: Bernd und Hilla Becher

la Becher ihren Blick auf Vergleiche architektonischer Formen. 2 Kontraste zwischen Architektur und menschlichen Gesichtern werden vermieden. Ohne mit narrativen Elementen einer Handlungs- und Personendarstellung zu arbeiten, zeigen diese Bildreihen, ähnlich einem Zeitraffer, Geschichten von Arbeits- und Lebensformen. Konsequent beschränken die Aufnahmen sich auf Außenansichten. Details von Arbeitsbedingungen, wie sie aus Nahansichten von Maschinenteilen oder Arbeitsprozessen zu entnehmen wären, kommen nicht vor. Schlagartig hebt diese Typologisierung Gestalten in die Sichtbarkeit. Gestalthaftigkeit erschließt sich in Vergleichen, die Reihen von Bildern eröffnen. Das Ganze der Reihe verleiht einzelnen Formen Prägnanz. Fördertürme oder Gasometer entwickeln ihre Besonderheit in mikrologischen Formvergleichen. Unterschiede bleiben präzise im Detail. Weil Bernd und Hilla Becher mit größtmöglicher Schärfe Details ihrer Objekte zeigen, lenken sie die Aufmerksamkeit auf eine Ordnung des Sichtbaren, die sich nicht außerhalb der Bildreihe einem natürlichen Sehen darbietet. Reihen lassen Allgemeines über Verschiedenes sinnlich erfahrbar werden. Sie fordern dazu auf, gemeinsame Merkmale wie individuelle Differenzen in den Abbildungen zu suchen. Unterstützt wird diese Sicht durch die Präsentation der Bilder in Gruppen. Zwischen einem Lesen der Bilder von links nach rechts und von oben nach unten, wie es der Lektüre eines Textes entspricht, oder einer diagonalen und vertikalen Betrachtung wechselt der Blick. Einer Ganzheit der Bildgruppe korrespondiert eine Bewegungsfreiheit, die das Bild vom Text unterscheidet, aber gleichwohl textanaloge Züge typologischer Gruppen ausnutzt. Betrachter gewinnen den Eindruck, ein Ganzes zu sehen, das sich im Durchgang durch seine Elemente zu einem Denkbaren ordnet. Derartige Betrachtungsweisen werden durch die Präsentation der Arbeiten in Fotobüchern unterstützt. Fotografien ähneln darin grafisch der Anordnung von Sprachzeichen. Zwar sind fotografische Zeichen in ganz anderer Weise semantisch konnotiert als Begriffe, doch verketten sie im Falle der Becher-Gruppen Einzelnes zu einer Gestalt. In sinnlich wahrnehmbaren Ähnlichkeiten tritt diese Gestalt ebenso hervor wie in der Familienähnlichkeit einer gedachten Einheit. Das Ganze einer Gruppe läßt Allgemeines Vgl. etwa die Dokumentationen von Chris Killip über den Niedergang englischer Industrieregionen: killip, chr.: arbeit/work. Edition Folkwang. Göttingen 2012.

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Fotografische Reihen

sowohl in der Wahrnehmungsgestalt als auch in der Reflexion sehen. Dieses Allgemeine ähnelt einer grammatischen Struktur, ohne sich begrifflichen oder mathematischen Definitionen zu fügen. Historische Datierungen spielen bei der Konstruktion der Reihe sowenig eine dominierende Rolle wie reale Größenverhältnisse der Objekte. Erst diese Vereinheitlichungen in der Form der Reihe ermöglichen eine Form des Allgemeinen, die als Struktur von Unterschieden und Ähnlichkeiten erfahrbar wird. 3 Was die Vergleichbarkeit der Form in der vermeintlich neutralen Objektivität des Bildes möglich macht, entspringt jedoch »subjektiven« Operationen der Fotografen. Nicht Wirklichkeit kommt hier neutral zum Ausdruck ihrer selbst; Wirkliches zeigt seine Prägnanz als performative Formierung einer Reihe, in der Einzelnes und Allgemeines aufeinander bezogen bleiben. Allgemeines dieser Art ist sinnlich, begegnet es doch in der Anschauung als Gestalt. Gestalthaft wahrgenommen, erscheint es als ein Allgemeines, dessen Denkbarkeit nicht unmittelbar einer allgemeinen Definition gehorcht. Welche Definition ließe sich für eine Gruppe von Gasometern oder Fördertürmen geben? Bestünde die Definition nicht in Beispielen familienähnlicher Objekte, mithin in »Gruppen«, wie Bernd und Hilla Becher sie vorschlagen? Einzelheiten behalten in einer Becher-Gruppe diskret bestimmbare Eigenwerte. Formprägnanz gewinnen sie im vergleichenden Sehen mit anderen Bildern und Einzelheiten. Indem der Blick des Betrachters zwischen Bildern und Details wechselt, machen reflexive Ordnungen von Allgemeinem sich bemerkbar. Weder kann auf sie gezeigt werden – wie auf ein Bilddetail – noch lassen sie sich begrifflich definieren. Und doch leiten sie die vergleichende Suche nach Einzelnem. Kompositorische Operationen in Bild und Reihe stiften die Ordnung, die in der Neutralität der Bilder als Sachallgemeinheit zutage tritt. Fällt der Blick des Betrachters auf eine Gruppe von Hochöfen, wie sie oft in der Anordnung von vier mal drei oder fünf mal drei Arbeiten präsentiert werden, stellt sich fast unmittelbar der Eindruck ein, die den Objekten gemeinsame Gestalt zu erfassen. Dieser Eindruck führt jedoch die Aufmerksamkeit nicht an ihr Ende. Nun beginnen Einzelheiten zu interessieren. Rohrleitungen und Behälter gleichen organischen Formen. Assoziationen zu einem maschinalen Vgl. Zweite, A.: Bernd und Hilla Bechers »Vorschlag für eine Sehweise«. 10 Stichworte. In: Bernd & Hilla Becher: Typologien industrieller Bauten. München 2003, S. 13–41, hier S. 22.

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Industrielle Bauten: Bernd und Hilla Becher

Verdauungssystem stellen sich ein und kontrastieren mit dem Wissen, es hier mit unbelebten Gegenständen zu tun zu haben. Unterstützt wird dieser Eindruck dadurch, daß fast nie Menschen auf den Bildern zu sehen sind, die solche Anlagen bedienen. Funktionen des Sichtbaren bleiben unbestimmt. Bildausschnitte erinnern an architektonische Präparate. Welche Bedeutung hat die Führung der Rohre? In welchem Funktionskontext mag eine Anlage stehen? Wohin führen Verbindungen? Bewegt der Blick sich hin- und her, festigt sich der Eindruck von Ähnlichkeit, obwohl zumeist unverständlich bleibt, wie diese Objekte technisch arbeiten. Formen verweisen auf Funktionen, die im Modus einer Ästhetik von Objekten betrachtet werden. Bernd und Hilla Becher ziehen den Aspekt der Sichtbarkeit aus dieser Architektur heraus, um durch dessen Isolierung und Präzisierung Fragen nach der Funktion von Formen anzuregen. Darum hat ihre Ästhetik nichts Idealisierendes. Wer die Bilder anschaut, mag beginnen, sich für Lebensverhältnisse zu interessieren, die mit solchen Bauten in Verbindung stehen. Das Allgemeine der Reihe gleicht einer Öffnung für mögliche Weiterbestimmungen. Erzwingen kann es diese Öffnung nicht. Still bleiben die Gebäude, ohne an den Betrachter zu appellieren. Formvergleiche weisen auf anderes hin, das durch die Grenze des Bildes ausgeschlossen wird. Grenze der BildForm ist nicht unbedingt die Grenze einer Sach-Form. Fragen lassen sich stellen, die die Bildordnung auf nicht Bildhaftes ausweiten. Fotografische Formen wären Katalysatoren eines forschenden Sehens und fragenden Betrachtens. Ein Telos der Reihe würde diese unabschließbare Art forschenden Sehens blockieren. Gruppen von Fotografien heben typologische Familienähnlichkeiten in den Blick, wie Wittgenstein sie für die Funktionsweise sprachlicher Ordnungsbildung analysiert. 4 »Was ist es denn eigentlich, was uns vorschwebt, wenn wir ein Wort verstehen? – Ist es nicht etwas, wie ein Bild? Kann es nicht ein Bild sein?« 5 Wort und Bild organisieren Gruppen des Ähnlichen, die einander wiederum in ihrer Verschiedenheit ähnlich sind. Konkretes – dieses Bild eines Förderturms – muß in der Wahrnehmung unterschieden werden, um ein Dieses zu sein. Doch im gleichen Moment wird Betrachtern der Fotografien bewußt, daß ein Dieses der Wahr4 5

Vgl. Wittgenstein, L.: Philosophische Untersuchungen (1958). Frankfurt/M. 1977. Ebenda, 139, S. 89 (Hervorhebung im Original).

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Fotografische Reihen

nehmung ein Allgemeines geworden ist – eine Form in Reihen und Gruppen –, um als Individuelles bestimmt werden zu können. In diesem Individuellen kreuzen einander zwei Bewegungen: die konkrete Anschauung im Bild einerseits und die Reflexion der Form als Form einer Reihe andererseits. Die Allgemeinheit der Form einer Reihe ist mehr und anderes als unmittelbare Wahrnehmung der Gesamtheit ihrer Elemente. Konstitutiv geht ein Moment der Reflexion der Wahrnehmungsgestalt in sie ein, ohne deshalb ein kategorial Allgemeines zu fassen. Noch immer begegnet eine endliche Menge von Konkretem. Deren Allgemeines transzendiert gleichwohl die Endlichkeit der Reihe gezeigter Bilder. Nur ordnet sich das Allgemeine der Reihe nicht auf ein Telos hin. Zutage tritt eine Vergleichbarkeit, die sich einer Performanz der Form in ihrer Darstellung verdankt. Ähnlichkeit öffnet den Blick auf Wirkliches, ohne dieses zum Telos zu stilisieren. Kategoriales, dem Erkenntniswert zukommt – wie Fördertürme oder Hochöfen – entspringt ebenso der Wahrnehmung des ausgewählt Ähnlichen wie der Ordnung seiner Darstellung in der Reihe und der Reflexion, die sich im Vollzug der Darstellung als konkretes Allgemeines der Form des Bestimmten »zeigt«. Performanz der Form – die konkrete Arbeit des Fotografierens wie die Anordnung der Elemente zur Reihe – erzeugt Prägnanz. Darin zeigt sich etwas über die Form des Bildes als einer Zeichenordnung sui generis – etwa im Unterschied zur Schrift oder zur Mathematik –, aber auch Aspekte der Wirklichkeit, auf die Bilder verweisen. Grenzen der Form bleiben in den Arbeiten der Bechers unscharf. Ihre Unschärfe allerdings ist maximal prägnant. Gesteigert zur Form ästhetisierter Zeichen, die Grenzen zwischen Bildform und Objekt scharf markieren, wird die Differenz zwischen Zeichen und Wirklichkeit in der Zeichenfunktion unabweisbar. Formen von Fördertürmen sind höchst bestimmt im Einzelnen und dennoch als Typus unscharf: Eine Definition der Reihe bleibt unmöglich. Wir müssen immer wieder auf Beispiele zeigen, die im Prinzip unendlich sind, weil es keine logische Grenze der Reihe gibt. Es gibt auch keine Operationsregel der Reihenkonstruktion außer formalen Grundregeln der Bildkomposition. Operative Regeln erzeugen keine Elemente der Reihe. Definition der Form wäre eben die Reihe, das Beispiel, die Aufforderung, »fortzufahren«. Definitionen von Anschaulichem wären keine logischen Definitionen, weil logische Unterscheidungen an der Eigentümlichkeit von Bild-Formen scheitern, deren Allgemeines sich als Regel bestimmt, mit der empirische Schärfe dank logischer Unschärfe 264 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Menschen des 20. Jahrhunderts: August Sander

in der Bestimmtheit der Form und der Grenze eines Dieses zu erzielen ist. Reihen beginnen und enden ohne sachlichen oder logischen Grund. Ihre Auswahl verweist auf die Inszenierung der Formen durch die Künstler. Deshalb besitzen Reihen keine scharfen Grenzen. Einzelnes, also Bestimmtes innerhalb einer Reihe, hingegen ist begrenzt, und es begrenzt. Gruppen bieten Ensembles von Elementen einer Reihe, die innerhalb der Gruppe Grenzen beobachtbar machen und dadurch Vergleiche erlauben. Solche Vergleiche verhelfen dazu, das Schema der Reihe zu erfassen. Grenzen einer Gruppe sind empirisch scharf: Es ist diese Gruppe eines wahrnehmbaren Ensembles von Gasometer-Fotografien. Unscharf hingegen bleibt sie als Form eines Allgemeinen: Sie lädt dazu ein, die Grenze zu kreuzen und das Schema der Reihe anzuwenden. In dieser Doppelbestimmung liegt der epistemische Wert solcher Formen, ihre »ästhetische Logik«. Weil Reihen und Gruppen Darstellungsordnungen von Unterscheidungen realisieren, geben sie Möglichkeiten an die Hand, Empirisches konkret zu bestimmen und diskrete Grenzen zwischen zwei »Diesen« zu ziehen. Darin meldet sich das Unterscheiden als produktives Prinzip des Wirklichen: Konsistenz gewinnt Welt in der paradoxen Stabilität kontingenter Unterscheidungen, die sich als Performanzen der Form in der Wiederholung und Erwartung, im Vergleich und in der Abweichung, in der Differenz und in der Allgemeinheit, im Schlüssigen, Wahrscheinlichen und scheinbar Unmöglichen verankern.

2. 2.1

Menschen des 20. Jahrhunderts: August Sander Antlitz der Zeit

Noch vor dem Fotoprojekt von Bernd und Hilla Becher hat August Sander ein systematisches, mehr als ein halbes Jahrhundert übergreifendes fotografisches Arbeitsprogramm entfaltet. Früh sind Bernd und Hilla Becher mit Sanders’ Bildkonzept bekannt geworden. August Sander möchte mit seiner Fotografie eine Typologie der deutschen Gesellschaft anhand von Portraits erstellen. Angehörige aller sozialen Schichten, schwerpunktmäßig aus der Gesellschaft der Weimarer Republik, kommen unter bestimmten sozialen Rubriken ins Bild. Zum Abschluß gelangte das Projekt nicht. Immer wieder nahm Sander Umgruppierungen vor und ergänzte die Sammlung. 1936 265 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

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wurden Teile des Materials vernichtet. Ein erheblicher Teil des Archivs fiel 1946 einem Brand zum Opfer. Ein Vergleich von Sanders Portrait-Reihen mit den Reihen industrieller Bauten, wie Bernd und Hilla Becher sie erarbeitet haben, lenkt den Blick auf unterschiedliche Funktionsweisen fotografischer Zeichen für die Entwicklung einer Typologie des Wirklichen. 6 Ich kontrastiere diese beiden fotografischen Reihenprojekte nicht zuletzt deshalb, weil sie in ähnlicher, aber verschiedener Weise Zusammenhänge zwischen Typus und Individuum herausarbeiten. Vergleiche zwischen Industriebauten und Portraits machen darauf aufmerksam, worin Besonderheiten der Wahrnehmung von Personen und Typologien des Sozialen bestehen. August Sander entscheidet sich dafür, gesellschaftliche Ordnungen anhand von Einzel- wie von Gruppenportraits darzustellen. Dazu stellt er Personen jeweils in einen Kontext, der ihre Position in der Gesellschaft beschreibt. So entsteht eine Verständlichkeit des Bildes, die es Betrachtern ermöglicht, sich auf das Gesicht des Portraitierten zu konzentrieren. Anders als in der damals üblichen Portraitfotografie verzichtet Sander auf Dekorationen und artifiziell inszenierte Umgebungen. Sein Blick ist sachlich, gerade weil er an der Individualität eines Gesichtes interessiert ist. Unwillkürlich fragen Betrachter sich, ob es gelingt, im Gesicht der Person Entsprechungen zu deren gesellschaftlicher Verortung zu entdecken. Je größer der zeitliche Abstand zur Aufnahme wird, desto naheliegender erscheint es, Einzelheiten, die im Bild erkennbar sind, mit der geschichtlichen Situation und den sozialen Gruppen in Beziehung zu setzen: Kleidungsstücke Ohne auf August Sanders Programm Bezug zu nehmen, hat in den 1980er Jahren auch Thomas Ruff, Schüler von Bernd und Hilla Becher an der Düsseldorfer Kunstakademie, eine Serie fotografischer Portraits angefertigt. Auf diese Arbeiten werde ich im folgenden nicht eingehen, da Thomas Ruff sich nicht mit dem Projekt einer sozialen Typologie beschäftigt. Seine Portraits bilden eine Werkgruppe neben anderen. Zunächst im Format 24 mal 18 Zentimeter, seit 1986 im vergrößerten Format von 210 mal 165 Zentimetern, fotografiert Ruff Freunde und Bekannte aus dem Düsseldorfer Umfeld. Alle Portraitierten werden frontal gezeigt – im Anfang vor farbigen Hintergründen, später vor einem neutral weißen Hintergrund. Die Aufnahmetechnik ist standardisiert, individuelle Ausdrucksbewegungen werden vermieden, alle Bilder sind gleichmäßig ausgeleuchtet. Was Ruff zeigen will, ist eine Oberflächenerscheinung, die jede Illusion von Tiefe oder psychologischer Analyse, geschweige denn sozialer Typologie ausblendet.- Vgl Weski, Th.: Der wissenschaftliche Künstler/the Scientific Artist. In: Enwezor, O./Weski, Th./Liebermann, V.: Thomas Ruff. Works. 1979–2011. München 2012, S. 21–38 (Katalog zur Ausstellung »Thomas Ruff« vom 17. 2. bis 20. 5. 2012 im Haus der Künste, München); zur jüngeren Portraitfotografie vgl. Ewing, W. A.: Faces. The New Photographic Portrait. London 2006.

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und Accessoires wie Brillen, Stöcke oder Werkzeuge gewinnen auf diese Weise Aufmerksamkeit, weil an ihnen kulturelle Differenzen schnell zu bemerken sind. August Sander, der sein Projekt 1910 beginnt und 1929 eine Auswahl der bis dahin entstandenen Arbeiten unter dem Titel »Antlitz der Zeit« veröffentlicht, versteht Fotografie als »Weltsprache«. Diese Sprache, notiert er, führe ihn zu »einem physiognomischen Zeitbild des deutschen Menschen«. 7 Menschen abzubilden bedeutet für Sander, sie als Ausdruck ihrer Gesellschaft und ihrer Zeit zu begreifen. Im Antlitz einer Person erscheint demnach die Anatomie einer sozialen Figuration. Zwischen sozialer Position und physiognomischem Ausdruck vermutet Sander Ähnlichkeiten, die im Bild begegnen. Reihenbildung und Typologisierung sollen es erleichtern, reale Unterschiede zwischen einzelnen Personen und zwischen sozialen Ordnungsformen im Foto zu erfassen. Sander bringt seine Überzeugung folgendermaßen zum Ausdruck: »Da der Einzelmensch keine Zeitgeschichte macht, wohl aber den Ausdruck seiner Zeit prägt und seine Gesinnung ausdrückt, ist es möglich, ein physiognomisches Zeitbild einer ganzen Generation zu erfassen und zum sprachlichen Ausdruck im Photo zu bringen durch die Physiognomik. Dieses Zeitbild wird noch verständlicher, wenn wir Photos von Typen der verschiedensten Gruppen der menschlichen Gesellschaft aneinanderreihen. Denken wir beispielsweise an die Parteien eines Reichstages einer Nation; wenn wir an dem Flügel der Rechten beginnen und bis zur äussersten Linken fortschreitend die einzelnen Typen aneinanderreihen, so haben wir schon ein physiognomisches Teilbild der Nation; jene Gruppen teilen sich wieder in Untergruppen, Vereine und Genossenschaften, alle aber tragen in der Physiognomie den Ausdruck der Zeit und der Gesinnung ihrer Gruppe, die sich aber bei Zitiert nach: Conrath-Scholl, G./Lange, S.: August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts. Ein Konzept in seiner Entwicklung. In: August Sander. Menschen des 20. Jahrhunderts. Hrsgg. v. Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur. München 2010, S. 11–35, hier S. 18. – Auch das Projekt, das Stefan Moses zwischen 1963 und 1965 verfolgt, bleibt hier außer Betracht. Moses fotografiert deutsche Menschen, indem er sie, ausgestattet mit Gegenständen, die ihre Berufe beschreiben, vor einer grauen Plane abbildet, die er am Ort der Begegnung ausrollt. Auf diese Weise werden die Personen dekontextualisiert. Anders als Sander vermeidet Moses eine Studioatmosphäre und besteht auch nicht auf einem neutralen Gesichtsausdruck: Moses’ »Deutsche« dürfen lachen und sich in Szene setzen. Trotz des breiten Querschnitts durch die Berufe liegt das Ziel dieses Projektes nicht in einer Typologie der deutschen Gesellschaft. Vgl. Moses, St.: Deutsche. München 1980.

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einzelnen Individuen besonders ausdrückt, und man bezeichnet diese Menschen mit dem Worte: Typus. Wir können diese Feststellung machen bei sportlichen Vereinen, Musikern, wirtschaftlichen oder ähnlichen Verbänden.« 8 Der Typus, auf den August Sander als Fotograf zielt, ist auf doppelte Weise bestimmt: einerseits durch die gesellschaftliche Position, die verschiedene Menschen einer solchen Gruppe einander ähnlich macht; andererseits durch den konkreten Menschen, der eine soziale Gruppe exemplarisch verkörpert. Sehen, Beobachten und Denken sollen Grundhaltungen sein, mit denen es dem Fotografen gelingt, »Weltgeschichte (zu, DR) bannen.« 9 Mit seinem frontalen Portraitstil und langen Belichtungszeiten unterscheidet Sander sich von zeitgenössischen Moden fotografischen Portraitierens. Er verzichtet auf dramatische Lichteffekte ebenso wie auf extreme Nahsichten, wie sie der zeitgenössische Film vorführt, oder auf die Abbildungsschärfe, die das Foto vom Gemälde unterscheidet. 10 Sein Konzept des Typus nutzt auch keine Reihendarstellung einer Person in verschiedenen Phasen, Zuständen oder Perspektiven. Sander geht es nicht um das Typische einer Person, ihn interessiert die Person als Typus. Mit diesem Vorhaben fand Sander prominente Unterstützung. Alfred Döblin beschreibt in der Einleitung zu Sanders Publikation aus dem Jahre 1929 »Antlitz der Zeit«, in der er sein Bildprogramm der Öffentlichkeit präsentiert, seinen Eindruck folgendermaßen: »Merkwürdig. Man würde glauben, man sieht Individuen. Aber plötzlich – merkt man, man sieht auch hier keine Individuen! Es ist zwar nicht die große, eintönige Mondlandschaft des Todes, deren Licht auf allen Gesichtern liegt, es ist etwas anderes. Und was? Wir sprechen jetzt von der erstaunlichen Abflachung der Gesichter und Bilder durch die menschliche Gesellschaft, durch die Klassen, durch ihre Kulturstufe.« 11 Im Antlitz des Einzelnen entdeckt Döblin weniSander, A.: Wesen und Werden der Photographie. Die Photographie als Weltsprache. Vortrag von 1931. Zitiert nach: Conrath-Scholl, G./Lange, S.: August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts. A. a. O., S. 18 f. 9 Ebenda, S. 19. 10 Vgl. als Überblick über Möglichkeiten der Portraitfotografie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Faber, M./Frecot, J. (Hrsg.): Portrait im Aufbruch. Photographie in Deutschland und Österreich 1900–1938. Wien 2005 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung: Neue Galerie New York, 11. März bis 12. Juni 2005; Albertina, Wien, 5. Juli bis 16. Oktober 2005). 11 Döblin, A.: Von Gesichtern, Bildern und ihrer Wahrheit. In: Antlitz der Zeit. Sech8

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ger die Einmaligkeit des Individuums als die »Allgemeinheit« der Kultur. Diese Allgemeinheit sei »real und wirksam«, eine »Kraft«, nämlich die vereinheitlichende »Kollektivkraft der menschlichen Gesellschaft, der Klasse, der Kulturstufe.« 12 Bemerkenswert an diesem Zitat ist die Behauptung einer unmittelbaren Sichtbarkeit des Allgemeinen einer Form. Sander, meint Döblin, sei ein Realist der Universalien. In der Reihe seiner Portraits »hört das Individuum auf, und nur die Universalien behalten recht. Das Individuum und das Kollektive (oder das Universale) sind dann … Angelegenheiten der wechselnden Entfernung.« 13 Unter dieser Perspektive bietet Sanders Werk nicht weniger als eine Soziologie der deutschen Gesellschaft in der Unmittelbarkeit der Anschauung. Wichtig ist für Döblin, daß die soziologische Qualität der Aufnahmen nicht etwa aus Accessoires wie Kleidung oder Werkzeugen resultiert, sondern aus der individuellen Physiognomie. Natur und Kultur, Ausdruck und Erfahrung verschmelzen auf dem Antlitz des Portraitierten, um sich dem Betrachter auf der Fotografie darzubieten. »Man hat vor sich eine Kulturgeschichte, besser Soziologie, der letzten dreißig Jahre. Wie man Soziologie schreibt, ohne zu schreiben, sondern indem man Bilder gibt, Bilder von Gesichtern und nicht etwa Trachten, das schafft der Blick dieses Photographen, sein Geist, seine Beobachtung, sein Wissen und nicht zuletzt sein enormes photographisches Können. Wie es eine vergleichende Anatomie gibt, aus der man erst zu einer Auffassung der Natur und der Geschichte der Organe kommt, so hat dieser Photograph vergleichende Photographie getrieben und hat damit einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb der Detailphotographen gewonnen.« 14 Einschätzungen, bei Sanders Werk handele es sich um eine wissenschaftliche Typologie der deutschen Gesellschaft mit künstlerischen Mitteln, beflügeln die Rezeption seiner Fotografien auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Nicht zuletzt Walter Benjamins Urteil aus dem Jahre 1931 trug zur soziologischen Nobilitierung der Fotografie Sanders bei. Aus unmittelbarer, also nicht etwa begrifflich oder theoretisch gefilterter Beobachtung heraus, meint Benjamin, habe Sander

zig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts von August Sander (1929). München 1976, S. 6–15, hier S. 10. 12 Ebenda. 13 Ebenda, S. 11. 14 Ebenda, S. 13 f.

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mit seiner Kamera eine so zarte wie kühne Empirie erschaffen. In der Sichtbarkeit des Allgemeinen im Individuellen zeige sich ein Umstand, der Sanders Fotografien epochalen Rang verleihe: die Bedeutung der Sichtbarkeit selbst. Gesellschaft werde immer mehr zu einer Form, die sich über Sichtbarkeit reproduziert. »Machtverschiebungen, wie sie bei uns fällig geworden sind, pflegen die Ausbildung, Schärfung der physiognomischen Auffassung zur vitalen Notwendigkeit werden zu lassen. Man mag von rechts kommen oder von links – man wird sich daran gewöhnen müssen, darauf angesehen zu werden, woher man kommt.« 15 Sanders Buch sei ein »Übungsatlas«. 16 Weder Döblin noch Benjamin nehmen Anstoß daran, daß Sanders Typologie, an der er seine Auswahl von Portraitierten orientiert, einem mittelalterlichen Ständemodell und einer organischen Gesellschaftsauffassung verblüffend ähnlich ist. Das Urkonzept von 1925/ 27 sieht als Einteilung vor: Bauern, Handwerker, Frauen, Stände, Künstler, Großstadt und die »letzten Menschen«, womit »Idioten, Kranke, Irre und die Materie« gemeint sind. Später wurde dieses Urkonzept in Unterkategorien differenziert wie etwa »Sport« oder »Industrielle«. Der Bauer gilt Sander als ein Archetypus sozialen Lebens, von dem alle anderen Formen Derivate bilden. Sanders Bild der Gesellschaft als eines Organismus und sein Glaube an den Ausdruck des Gesellschaftlichen in der Physiognomie des Menschen ist um die Jahrhundertwende in der Weimarer Kultur keine Seltenheit. Oswald Spenglers Idee einer Morphologie der Kultur fand breite Aufmerksamkeit. Sander gehörte wohl zu den Lesern Spenglers. 17

2.2

Politische und ästhetische Alternativen: Helmar Lerski und Erna Lendvai-Dircksen

Blieb den »Menschen des 20. Jahrhunderts« anhaltende Wertschätzung beschieden, gerieten parallele fotografische Vorhaben eher in Vergessenheit oder wurden als Dokument faschistischer Ästhetik abgestempelt. Bemerkenswert ist dieser Umstand, weil es sich um Pro-

Benjamin, W.: Kleine Geschichte der Photographie (1931). In: Gesammelte Schriften Bd. II.1. Frankfurt/M. 1991, S. 368–385, hier S. 381. 16 Ebenda. 17 Vgl. Silbermann, R.: August Sander. In: The Burlington Magazine Vol. 145, No. 1201 (2003), S. 316–318. 15

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jekte mit einem zumindest vergleichbaren Anspruch handelt, Menschentypen fotografisch darzustellen. So begann Helmar Lerski, Kameramann und Fotograf, 1928 in Berlin mit fotografischen Portraits, die durch Einsatz starker Hell-Dunkel-Kontraste und extremer Nahsicht Gesichter gestalten. Lerski inszeniert das Gesicht. Formal betrachtet scheinen seine Portraits in maximalem Kontrast zu Sanders nüchterner Bildsprache zu stehen. In der Illustrierten-Presse, von »Vogue« über »Die Dame«, »die neue linie« bis zu »Die Weite Welt« finden seine Arbeiten Interesse. Schauspieler, Sportler, Künstler und Wissenschaftler werden abgelichtet, desgleichen Arbeitslose, Heizer, Stubenmädchen, Näherinnen, Reinmachefrauen, Händler, Angestellte oder Arbeiter verschiedener Branchen. Auf dramatisch wirkenden Gesichtslandschaften korrespondieren Lichteffekte mit tiefdunklen Partien. Lerski entwickelt ein Spiegelsystem, mit dessen Hilfe er Lichteffekte kontrolliert und steuert. Auf diese Weise vermag er Kontraste zu erzeugen, die seinen Portraits beinahe abstrakt anmutende Züge verleihen. Es entsteht eine Artifizialität, die seine Arbeiten von der Portraitweise Sanders ebenso unterscheidet wie von Erna Lendvai-Dircksens Volkstypologie. Vertreter einer sich als links verstehenden Presse erkannten in Lerskis Portraits das Bild des neuen Proletariers und eines deutschen Menschentypen. Lerski selbst hingegen verfolgte eher ein romantisch anmutendes Vorhaben, Unsichtbares durch Inszenierung sichtbar zu machen. Nach seiner Emigration nach Palästina im Jahre 1931 arbeitet Lerski, der bereits Vorarbeiten in einem jüdischen Berliner Altersheim geleistet hatte, daran, den »Urtypus« des jüdischen Menschen fotografisch herauszuarbeiten. Bilder von Juden und Arabern zeigen in extremer Nahsicht Menschen, die in Ausdruck, Haut, Gesichtszügen oder Kopfhaltung einen Typus modellieren sollen. 18 Kraft, Würde, Mut und Intelligenz möchte er aus den Gesichtern eines Jedermann herausarbeiten. Gilt Helmar Lerski mit seiner typologisierenden Zielsetzung als politisch links und ist er als Jude antisemitischer Neigungen unverdächtig, repräsentiert Erna Lendvai-Dircksen vermeintlich das andere Ende des politischen und künstlerischen Spektrums. 1926 präsentiert Erna Lendvai-Dircksen zum erstenmal Fotografien zum Thema »Das Vgl. Eskildsen, U./Horak, J.-Chr.: Israel Schmuklerski Helmar Lerski 1871–1956. Schauspieler, Fotograf und Filmer. In: Helmar Lerski, Lichtbildner. Fotografien und Filme 1910–1947. Hrsgg. v. Fotografische Sammlung Museum Folkwang. Zürich 1983, S. 6–29.

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deutsche Volksgesicht«. 1930 geht daraus eine Buchpublikation hervor. Gearbeitet hat Lendvai-Dircksen an ihrem Projekt da bereits seit vielen Jahren. Nach ersten Anfängen um 1911 konkretisierte sich ihr Vorhaben um 1916. Bei ihrer Flucht aus Oberschlesien 1945, in das sie aus dem bombardierten Berlin evakuiert war, ging das gesamte Negativarchiv verloren. Bereits die Chronologie ihrer Arbeit sollte, ungeachtet späterer politischer Nähen, Vorsicht gegenüber dem Urteil wecken, ihr Bildprogramm sei genuin faschistisch. Sucht August Sander nach einer typischen Physiognomik des modernen Menschen in bezug auf dessen soziale Gruppe und fragt Helmar Lerski unter anderem nach einem jüdischen Urtypus, interessiert Erna LendvaiDircksen sich für eine physiognomische Typologie regionaler deutscher Menschenformen. Legt Sander seine typologische Matrix nach Standesgesichtspunkten an, wählt Lendvai-Dircksen landschaftliche Gesichtspunkte als Ausgangspunkt. Beide sind von der fundamentalen Bedeutung des Bauernstandes für den Aufbau wie für die Entwicklung einer Gesellschaft überzeugt. Im Einleitungstext ihres Bildbandes »Ein deutsches Menschenbild«, das Fotografien aus mehreren Jahrzehnten versammelt, beschreibt Lendvai-Dircksen 1961 ihr Vorhaben: »Es geht um die Erfassung der naturhaft gewachsenen, unverbildeten Physiognomie, wie sie jedem Stamm unseres Volkes in seinem besonders gearteten Lebensgrund eignet – und wie sie nur im bäuerlichen oder ländlich-handwerklichen Lebenskreis klar zu erkennen ist.« Zunehmende gesellschaftliche Differenzierung verwische diesen Grundtypus immer mehr, um sich allmählich zu ganz neuen physiognomischen Typen zu entwickeln. Ziel dieses fotografischen Projektes ist nun nicht die Dokumentation ständischer Differenz, sondern umgekehrt die Dokumentation eines in Auflösung begriffenen Urtypus. »Dem Zeitgeist unterworfen, den nivellierenden Einflüssen von Zivilisation und moderner Arbeitswelt, von erzwungener oder freiwilliger Menschenwanderung anheimgegeben, beginnt das einst klar umrissene Bild sich zu verwischen – in einer Verwandlung, deren in der Ferne liegendes Ergebnis nur geahnt werden kann: neue Formen, die lebend sich entwickeln. Meine lichtbildnerische Arbeit … war und ist vor allem anderen dem Volksgesicht anheimgegeben – und damit dem Bewahren dessen, was festzuhalten in unseren Tagen gerade noch möglich ist.«. 19 Ihr konservatorisches, moderneskeptisches Erkenntnisinteresse 19

Lendvai-Dircksen, E.: Ein deutsches Menschenbild. Frankfurt/M. 1961, S. V.

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und die Idee einer Stammestypologie des »deutschen Menschen« haben dieses Arbeitsprogramm in die Nähe zur nationalsozialistischen Weltanschauung gerückt. Bis heute trägt zu dieser Einschätzung bei, daß Herausgeber ihrer Fotografien wie Helmut Schröcke sie im Vorwort in einen tatsächlich völkisch-rassistischen Kontext rückten, der ihre Fotografien einer germanischen Rassenkunde zuordnet. Solche Nähen und Zuordnungen erschweren es, Parallelen zur Weltsicht August Sanders überhaupt ins Auge zu fassen. Wie Sander auch, glaubt jedoch Lendvai-Dircksen daran, den Typus im Individuum selbst sichtbar machen zu können. Es ist »nicht das Leben einer Frau, das sich hier darstellte, sondern der Typus der Frau in der Lebensmühe ihres Standes, in Haltung, Gebärde und Rede«, das sich im Bildnis einer Bäuerin dem Betrachter zeigen soll. 20 Damit ist nicht gesagt, »diese« Frau mit ihrem individuellen Gesicht spiele keine Rolle. Doch in »diesem« Gesicht komme etwas zum Vorschein: »Ein hintergründiger Raum, eine Atmosphäre liegt um jedes Gesicht, eine Geräumigkeit, gebildet aus einer Zeit und einer Umwelt, in der Physiognomie noch ausreifen konnte – wie denn ein Gebirgsbauer anders dahergeht als der bedächtige Marschbauer über seinen schweren Boden.« 21 Ihre Fotografie versteht sich in der Tradition der Portraitmalerei eines Holbein, Dürer oder Cranach. Von Ähnlichkeiten in Gesichtstypen ist sie überzeugt. Traditionsbezüge werden aufgebaut, indem Bildformen dieser älteren Portraitmalerei fotografisch zitiert werden. Im Kontrast zu kraftvollen Urtypen soll die Maskenhaftigkeit der modernen Menschenbilder hervortreten, »wie sie zunehmend von den großen Städten aus auch das Land überschatten.« 22 Zeitlosigkeit – beziehungsweise die Erinnerungsarbeit an einem vermeintlich in Auflösung begriffenen Ursprung – steht für Erna Lendvai-Dircksen im Vordergrund des fotografischen Interesses. Hingegen möchte August Sander differenzierte soziale Typen der modernen deutschen Gesellschaft seiner Zeit dokumentieren. Ihn beschäftigt das Auseinandertreten eines Urtypus. Beide typologischen Projekte verfolgen komplementäre Ziele. Vorsicht scheint angebracht, wenn sie als gegensätzliche Vorhaben – faschistisch einerseits oder modern andererseits – eingeschätzt werden. 23 Lendvai-Dircksen 20 21 22 23

Ebenda. Ebenda, S. X. Ebenda, S. X. So auch von Hans Belting: Faces. München 2013, S. 108.

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bestreitet nicht, daß die moderne Gesellschaft physiognomische Spuren hinterläßt. Nur glaubt sie, daß physiognomische Typen zu ihrer tatsächlich sichtbaren Ausprägung Zeit benötigen, die ein Mensch innerhalb eines bestimmten Lebenskreises oder Milieus verbringt. Im Bauern einen Urtypus zu suchen erklärt sich mithin auch daraus, daß bäuerliche Menschen oft über Generationen am gleichen Ort leben. Hier werden Züge tiefer in die Physiognomie eingraviert, weil sie von Generation zu Generation nachgezogen werden. Typen verwischen hingegen, wenn der Einzelne aus einer stabilen Lebensform in dynamische Verhältnisse auswandert, die ihn mit schnell wechselnden Anforderungen konfrontieren. Gewiß steht Lendvai-Dircksen der modernen Welt skeptisch bis ablehnend gegenüber. Göttern des Tages mag sie nicht huldigen. Eine »verkünstelte(.) Lebensmanier« war ihre Sache nicht. Dennoch hat ihr Argument Gewicht, weil es nach der Funktion der Zeit, der Tradition, des Erbes und der Herkunft für Typisierungsprozesse fragt. August Sanders Vorhaben wäre aus Sicht Erna Lendvai-Dircksens nur schwer möglich: Wie sollen sich soziale Typen in gesellschaftlichen Kontexten, Ständen oder Milieus physiognomisch ausprägen, wenn doch die Dynamik des Sozialen dazu nicht genügend Zeit läßt? »Verliert der Mensch die Geborgenheit in dieser Gemeinschaft, die für ihn denkt, oder wächst er aus ihr heraus, so verändert sich in diesem Auf-sich-Gestelltsein die alte Sicherheit. Sein Gesicht wird grundanders. Er ordnet sich in eine neue Welt ein, mit der er sich individuell auseinanderzusetzen hat, erkennend, messend, urteilend.« 24 Kollektive Züge gehen in der modernen, vor allem der städtischen Gesellschaft verloren. Wir müßten, so betrachtet, vermuten, daß Sanders Programm entweder oberflächliche Physiognomien zutage fördert oder Gesichter, die von der Hektik und Maskenhaftigkeit des modernen Lebens gezeichnet sind. In beiden Fällen würde Sanders Programm nicht wirklich überzeugende Ergebnisse zeitigen. Damit ist nicht gesagt, daß Lendvai-Dircksens eigenes Bildprogramm immer überzeugend ausfällt. Beispielsweise benutzt es physiognomische Ähnlichkeiten von Menschen, um diese in Bildgruppen zusammenzustellen. Dadurch kann sich der Eindruck physiognomischer Ähnlichkeit ergeben. Besorgen völkisch orientierte Herausgeber wie Helmut Schröcke die Bildauswahl, stellen sich derartige Effekte leicht ein. Werden zwei blonde Mädchen nebeneinander gezeigt oder zwei wetterfeste Bauerngesichter, die format24

Lendvai-Dircksen, E.: Ein deutsches Menschenbild. A. a. O., S. XI.

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füllend aus dem dunklen Bildgrund leuchten, werden überdies Bilder ausgewählt, auf denen Menschen mit oft ernstem Gesichtsausdruck in irgendeine Ferne zu blicken scheinen, dann wird Ähnlichkeit hergestellt, die durch eine Beschränkung auf bäuerliche Bevölkerung an Suggestivität gewinnt. 25 Erna Lendvai-Dircksen inszeniert ihre Typisierung – wie August Sander es auf andere Weise ebenfalls tut.

2.3

Typus und Urtypus

Der Glaube an eine fotografische Physiognomik des Sozialen ist Erna Lendvai-Dircksen und August Sander ebenso gemeinsam wie der Gedanke des Bauerntums als einer sozialen Urformation. Walter Benjamin teilt 1931 diesen Glauben an eine Physiognomik des Sozialen. Er nimmt sogar an, Sanders Bilder eigneten sich als Übungsbuch sozialen Unterscheidens. Skepsis gegenüber dem Prinzip einer Physiognomik, wie sie sich bereits bei Georg Christoph Lichtenberg findet, ist kaum vorhanden. »Physiognomik«, schreibt Lichtenberg 1778, »ist also äußerst trüglich. Die wirkenden Leidenschaften haben zwar ihre Zeichen, und lassen oft merkliche Spuren zurück, das ist unleugbar, und daher rührt, das was die Physiognomik Wahres hat. Es ist aber auch dieses bei dem größten Teil des menschlichen Geschlechts so unsicher und schwankend, daß wir, wenn wir die Köpfe ohne Hut und Perücke, ohne Pflaster, Schminke, Schmarren, Kupfer, Finnen und Bewegung sähen, den Charakter mit eben so vieler Sicherheit herauswürfeln, als aus den Zügen erraten würden.« 26 Stellt man in Rechnung, wie einflußreich ein physiognomisches Prinzip für Versuche geworden ist, den Charakter von Verbrechern oder Kranken in deren Bild typisierend zu erfassen – über die Schädelkunde und die Kriminal- oder Krankenfotografie bis zur Hirnphysiologie mit ihren elektronisch errechneten Bilddaten –, drängt sich die Frage auf, was es heißt, in derartigen Fotografien Typisches im individuellen Gesicht zu »sehen«. August Sanders typisierende Ordnung orientiert sich an weitverbreiteten Überzeugungen der Zeit nach der Jahrhundertwende. Entscheidend ist sein Interesse am Gesicht der Portraitierten – und Vgl. Das Deutsche Volksgesicht. Hrsgg. v. H. Schröcke. Tübingen 2003. Lichtenberg, G. Chr.: Über Physiognomik; wider die Physiognomen (17782). In: Schriften und Briefe III. München 1972, S. 256–308, hier S. 293.

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weniger an deren physiognomischen Besonderheiten. Ginge es nur um eine Physiognomik des Auffälligen, Abweichenden oder Anormalen, gäbe es keine große Differenz zur Kriminalanthropologie. Deren heute obsoleten Ausgangsüberlegungen hat Hans Kurella, Cesare Lombrosos Schüler und Oberarzt an der Provinzial-Irren-Anstalt Brieg, so zusammengefaßt: »Diese Hypothese besagt, daß alle echten Verbrecher eine bestimmte, in sich kausal zusammenhängende Reihe von körperlichen, anthropologisch nachweisbaren, und seelischen, psycho-physiologisch nachweisbaren Merkmalen besitzen, die sie als eine besondere Varietät, einen eigenen anthropologischen Typus des Menschengeschlechts charakterisieren, und deren Besitz ihren Träger mit unentrinnbarer Notwendigkeit zum Verbrecher … werden läßt, ganz unabhängig von allen sozialen und individuellen Lebensbedingungen.« 27 August Sander hingegen geht es um »soziale(.) und individuelle(.) Lebensbedingungen«. Sein Sujet ist nicht das bloß Körperliche, sondern die leib-seelische Komplexität einer sozialen Existenzweise, die sich im Ausdruck des menschlichen Gesichts niederschlägt. Davon, daß es hier Typen zu unterscheiden gibt, die überdies eine urwüchsige Genealogie des Gesellschaftlichen anklingen lassen, ist auch August Sander überzeugt. In seiner viel gelesenen »Morphologie der Weltgeschichte« spricht Oswald Spengler ebenfalls vom Bauern wie von einem Urtypus der Kultur und von den letzten Menschen – den Menschen der »Weltstädte« des 20. Jahrhunderts – als denjenigen, die sich am weitesten vom Wesen des Bauern entfernt haben. Wer Sanders Sozialtypologie, aber auch Lendvai-Dircksens mythisierende Auffassung des Bauerntums, im Lichte von Spenglers morphologischen Formen betrachtet, dem fallen Parallelen ins Auge. Ein Bild des Endes der Menschheit und der Kultur drängt sich auf, das jedoch keineswegs als faschistisch abzutun ist. Die »letzten Menschen« Spenglers wollen als Einzelne, nicht jedoch als »Typus« leben. Weil sie in ihrer rationalistischen Haltung sogar Gründe für das Leben und für den Nachwuchs suchen, versinken sie, da solche Gründe nicht zu finden sind, in Unfruchtbarkeit. Ihre Intellektualität verschließt den natürlichen Zugang zum Leben. Anders der Bauer: »Man versenke sich in die Seele eines Bauern, der von Urzeiten her auf seiner Scholle sitzt oder Zitiert nach Herzog, T.: »Den Verbrecher erkennen«. Zur Geschichte der Kriminalistik. In: Schmölders, C./Gilman, S. (Hrsg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte. Köln 2000, S. 51–77, hier S. 52.

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von ihr Besitz ergriffen hat, um dort mit seinem Blute zu haften. Er wurzelt hier als der Enkel von Ahnen und der Ahn von künftigen Enkeln. Sein Haus, sein Eigentum: das bedeutet hier nicht ein flüchtiges Zusammengehören von Leib und Gut für eine kurze Spanne von Jahren, sondern ein dauerndes und inniges Verbundensein von ewigem Land und ewigem Blute: erst damit, erst aus dem Seßhaftwerden im mystischen Sinne erhalten die großen Epochen des Kreislaufs, Zeugung, Geburt und Tod jenen metaphysischen Zauber, der seinen sinnbildlichen Niederschlag in Sitte und Religion aller landfesten Bevölkerungen findet. Das alles ist für den ›letzten Menschen‹ nicht mehr vorhanden.« 28 Der erste und der letzte Typus im Bildprogramm August Sanders – Bauern und letzte Menschen – entsprechen der Morphologie Spenglers. Sanders Gruppenportraits von Bauernfamilien erscheinen oft wie eine Bestätigung von Spenglers Bauernmetaphysik. Von Lendvai-Dircksens Mythologie des Bauerntums sind sie nicht weit entfernt. Anders als Handwerker oder Intellektuelle zeigt Sander Bauernfamilien inmitten der Natur. So erscheinen sie wie ein Teil der Landschaft, eingelassen in den Wald, als Bewahrer der Fruchtbarkeit des Bodens, in vitaler Nähe zu Rind und Pferd. Stolz präsentieren bäuerliche Frauen ihre große Kinderschar. Bei einer »Gratulation zur Silberhochzeit« (1932) stehen nicht weniger als neunzehn Kinder und Enkel, aufgereiht nach ihrer Größe, an, um dem ehrwürdigen Bauernpaar Blumensträuße zu überreichen. Alt und Jung begegnen einander bei einem Fest lebensgemeinschaftlicher Verbundenheit. Fröhlich und dankbar bezeugen sie den Kreislauf des Lebens wie den Zyklus der Generationen, dessen Ort der gepflegte Bauernhof ist. An Sanders Foto ist nichts Kitschiges. Zu sehen ist eine typologisierende Sichtweise auf den Bauernstand, der zu Zeiten der Weimarer Gesellschaft verbreitet war. August Sanders Typisierung ist selbst typisch für die Kultur der Zeit. Wer mit dieser Typisierung schaut, findet in den Ritualen der Landbevölkerung solche Bilder. Vermutlich entsprechen sie recht genau deren gewünschter Selbstdarstellung. In der Wahl ihrer Kleidung orientieren sie sich oft an bürgerlichen Gepflogenheiten. Der Bauernstand inszeniert sich selbst durchaus in Differenz zu seiner eigenen Alltäglichkeit oder seiner Typik. Noch auffälliger erscheinen Nähen zwischen Spengler und SanSpengler, O.: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1923). München 19889, S. 679 (Hervorhebung im Original).

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der, wenn Portraits bäuerlicher Großmütter in Betracht kommen. »Das Urweib«, schreibt Spengler, »das Bauernweib ist Mutter. Seine ganze von Kindheit an ersehnte Bestimmung liegt in diesem Wort beschlossen.« 29 August Sanders Portraits von Bauernmüttern und -großmüttern können diese Typologie mit oft anrührenden Bildbeispielen unterstützen. So zeigen »Bäuerin mit ihren Kindern« (1920– 1925) und »Großmutter und Enkelkinder« (1920–1925) zwei Muttergenerationen, wie sie jeweils zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, stolz und behütend in ihren Armen halten. Offen und lebensfroh blickt die junge Frau zum Fotografen. Ihre rechte Hand liegt auf der Brust des kleinen Sohnes, dessen speckige Händchen aus dem blütenweißen Kittel ragen. Dessen rechte Hand ruht auf der linken Brust seiner Mutter. Auf dem Weiß der Kinderkleidung läßt die Hand der Mutter deutlich den Ehering erkennen, der auf den im Bild abwesenden Vater und die religiöse wie gesellschaftliche Legitimität der Familie verweist. Währenddessen sitzt die ältere Tochter rechts von der Mutter im Schneidersitz auf dem Grasboden. Ihre Hände hält sie im Schoß auf einer weißen Schürze gefaltet, die sie über ihrem geblümten Kleid trägt. Die Schürze wirkt wie ein Zeichen, das auf spätere Mutterschaft vorausdeutet. Ebenso fröhlich wie ihr kleiner Bruder schaut sie in die Kamera. Alle drei haben nichts dagegen, gesehen und abgebildet zu werden. Gern und selbstbewußt zeigen sie sich dem Fotografen, rundum zufrieden mit ihrem Leben. Gleiches gilt für die Großmutter, die ihre beiden Enkel stolz in den Armen hält. Ist das Gesicht der jungen Bäuerin schmal und ihr Haar blond, zeigt die alte Bäuerin eine breite Gesichtsform und dunkles Haar, das sie streng in der Mitte gescheitelt und straff nach hinten gekämmt trägt. Ihre Züge sind ausgeprägt, Falten durchziehen ihre Stirn und spielen in den Augenwinkeln. Streng wirkt ihre stattliche Figur dennoch nicht, denn der dominierende Eindruck entsteht aus einem warmen Lächeln und den strahlend wirkenden Augen. Sitzt die junge Frau mit ihren Kindern auf dem Boden im Gras, hat die alte Frau offenbar auf einem Stuhl Platz genommen, der aber ebenfalls auf einer Wiese zu stehen scheint. Ihrer dunkel gehaltenen Kleidung kontrastiert das Weiß der Kindertracht. Deutet die weiße Farbe auf die Zukunft und Unschuld hin, für die Kinder stehen? Jedenfalls ist die Geste der Bäuerin gegenüber ihren Enkeln zugleich kräftig und behütend. In ihren Armen

29

Ebenda, S. 680 (Hervorhebung im Original).

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gehalten, schauen die Kleinen dem Leben – in diesem Fall: dem Fotografen – entgegen. Es ist das völlige Fehlen von Süßlichkeit und Kitsch, das diesen Einzel- und Gruppenportraits zeitüberdauernde Faszination und humanistische Kraft verleiht. Sanders Typologie ist nicht bloß ausgedacht. Sichtbarkeitsformen des Sozialen in der deutschen Gesellschaft nach der Jahrhundertwende greift Sander auf und spitzt sie fotografisch zu, indem er seine Sujets sorgfältig inszeniert. Aufschlußreich dafür ist der Kontrast des »Bauernweibes« zum »Ibsenweib«, wie Spengler junge intellektuelle Frauen der Großstadt charakterisiert. Weder mütterlich noch erdverwachsen, sind sie der Typus der Kameradin. »Statt der Kinder haben sie seelische Konflikte, die Ehe ist eine kunstgewerbliche Aufgabe und es kommt darauf an, ›sich gegenseitig zu verstehen‹.« 30 Sollen wir Sanders »Frau eines Malers« (um 1926) oder die »Sekretärin beim Westdeutschen Rundfunk in Köln« (1931) mit ihrer androgynen Erscheinung und in ihrer zigarettenrauchenden Modernität vielleicht als »Ibsenweib«-Typen betrachten? Größer könnte jedenfalls der Kontrast zu den Bildern von Bauernmüttern kaum ausfallen. Ihr männlich-kurzer Haarschnitt, ihre erotisch-herausfordernde oder leicht verkrümmte Körperhaltung, ihre durch Kleidung betonte Schlankheit spielen mit der Grenze der Geschlechter in ihrer Erscheinung und kulturellen Inszenierung. Heißt nicht, sich ein Bild der Gesellschaft zu machen immer auch, typisierende Ordnungsleistungen vielfältiger sozialer Phänomene zu erstellen? Etwa zur gleichen Zeit arbeitet Max Weber an der methodischen Grundlegung der Soziologie, wobei er nach der Konstruktion von »Idealtypen« fragt, ohne die empirische Vielfalt nicht verstanden werden könnte. Weber konzipiert solche Typen in einer wichtigen Hinsicht anders: Sie bleiben für ihn gedankliche Konstrukte, die niemals als Fall der Wirklichkeit auftauchen. Es handelt sich um Denkhinsichten, mit deren Hilfe sich Phänomene gruppieren lassen. Dennoch ist der Unterschied zu einer Vorstellung von Typen nicht allzu groß, die von der empirischen Verkörperung des Typischen in exemplarischen Beispielen ausgehen. 31 Fotografische Reihen von Typischem gehen schließlich nie in einem einzigen Bild auf – ihr Prinzip ist der Vergleich von Konkretem, das jeweils inszenierte Form einer 30 31

Ebenda, S. 681. Vgl. Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 19765, S. 1 ff.

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Reihe ist. Auch Walter Benjamin ist, mit seiner emphatischen Wertschätzung von Sanders Physiognomik, Spengler näher, als ihm wohl lieb sein konnte. Denn auch Oswald Spengler stellt sich Geschichte als ein physiognomisches Projekt vor, das in Symbolen Gestalt gewinnt. »Und so erweitert sich der Gedanke einer Weltgeschichte physiognomischer Art zur Idee einer allumfassenden Symbolik.« 32 Unter fotografischen Aspekten ist an Spenglers Typenkonzept interessant, daß er Symbole nicht als abstrakte, sondern als sinnliche Zeichen versteht, die ungewollt ihre Spuren in der Materialität des Substrates hinterlassen. Ihre konstitutive Passivität ist es, die sie zu lesbaren Zeichen komplexer Prozesse prädestiniert. Was keiner rationalen Klassifikation allein zugänglich wäre, soll in ihnen zum Vorschein gelangen. »Symbole sind sinnliche Zeichen, letzte, unteilbare und vor allem ungewollte Eindrücke von bestimmter Bedeutung. Ein Symbol ist ein Zug der Wirklichkeit, der für sinnenwache Menschen mit unmittelbarer innerer Gewißheit etwas bezeichnet, das verstandesmäßig nicht mitgeteilt werden kann.« 33 Worin würden solche Symbole sich besser zeigen als im menschlichen Gesicht? Eindruck und Ausdruck, Aktivität und Passivität, Natur und Kultur verschmelzen im Antlitz zu einer Sichtbarkeit, die mehr und anderes ist als Oberfläche. Döblin und Benjamin können Sanders Typen für Formen halten, die aus der Erscheinungswelt phänomenologisch abgenommen und fotografisch konserviert worden sind.

2.4

Form und Kontext, Gesicht und Accessoires

Erblicken Betrachter im Portrait des Einzelnen Allgemeines? Wer sind diese Einzelnen? Wie werden sie fotografiert? Repräsentativ jedenfalls ist die Auswahl nicht. Überwiegend handelt es sich um Menschen aus dem sozialen Umfeld des Künstlers mit weitem Freundes- und Bekanntenkreis. Weitere Personen geraten durch Reisen im näheren regionalen Umfeld – besonders des Westerwaldes, aber auch der Eifel, des Bergischen Landes, des Niederrheins und des Saarlandes – in die Auswahl hinein. 34 Sanders Vermutung, gesellschaftliche OrdSpengler, O.: Der Untergang des Abendlandes. A. a. O., S. 210. Ebenda, S. 211. 34 Vgl. dazu Conrath-Scholl, G./Lange, S.: August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts. A. a. O., S, 24. 32 33

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nungsformen drückten sich in der Natur des Menschen aus, trifft auf jedermann zu. Warum sollte der Künstler sich seinen Bekanntenkreis nicht zunutze machen? Ebenso leuchtet dann ein, daß Sander nicht zwischen kommerziellen Portraits und »freien« Aufnahmen unterscheidet. Immer setzt er die Abgebildeten zentral ins Bild, am liebsten arbeitet er mit natürlichem Licht, gern verwickelt er die Fotografierten in ein Gespräch, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen und sie zu studieren. Sein Augenmerk gilt charakteristischen kleinen Bewegungen und Haltungen, die er in seine Aufnahme zu integrieren versucht. Für lange Belichtungszeiten – zwei bis acht Sekunden – entscheidet Sander sich, weil sie den Portraits Weichheit verleihen und das Antlitz atmen lassen. Harte Züge, die sich aus der Wiedergabe feiner Details ergeben, wie die Fotografie sie einzufangen in der Lage ist, entsprechen seinem ästhetischen Konzept nicht. 35 Im Bemühen um Lebendigkeit versucht Sander, dem Eindruck des Toten, Maskenhaften und Vergangenen entgegenzuwirken, der sich manchmal beim Betrachten von Fotografien einstellt. Fotografie und Malerei unterscheiden sich nicht zuletzt darin, daß Fotos durch Abbildungen konkreter Augenblicke Vergangenheiten einfangen, die beim Betrachten immer schon vergangen sind. »Fotos gehören bereits einer anderen Zeit an, sobald wir sie betrachten. Das ›Es ist so gewesen‹ kehrt sich um in das ›Es wird nie mehr so sein‹.« 36 Durch seine Belichtungstechnik arbeitet Sander dem Eindruck entgegen, Fotografien seien bloß indexikalischer Abdruck eines Wirklichen. Ihre Bedeutung entspringt weniger dem Festhalten eines Momentes als einer dauernden Charakteristik, die im Abgebildeten eben einen Typus hervortreten läßt. Während mittenzentrierte Motivdarstellung, natürliches Licht, die Bevorzugung neutraler Hintergründe und Orientierungen an Reihen des Typischen die Bildprogramme der Bechers und Sanders verbinden, unterscheidet sie die Bevorzugung einer leichten Unschärfe durch Sander. Das hängt mit der Differenz der Motive zusammen: Im Gesicht zeigt sich nicht nur die Architektur des Stoffes, nicht nur das Gespinst der Linien, sondern die Zeit einer biographisch organisierten Erfahrung. Sander möchte Lebendiges schildern, die Bechers dokumentieren Artefakte. Im Augenblick der Aufnahme geht es August Sander auch um das Transzendieren des Augenblicks – gerade weil es sich um ein typisches Zeit-Bild handeln soll. Typisches geht 35 36

Vgl. ebenda, S. 21 f. Belting, H.: Faces. A. a. O., S. 194.

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im Moment maximaler Schärfe des indexikalischen Abdrucks nicht auf. Sanders Typen sind Bild-Symbole. Wohl auch deshalb greift er auf Posen zurück. Frontal-, Dreiviertel- und Profilansichten wechseln, doch immer spielt die Haltung der Hände eine wichtige Rolle. Oft halten die Hände Gegenstände, die den Beruf bezeichnen. Bei Aufnahmen von Angehörigen der höheren Klassen verzichtet Sander allerdings eher auf Accessoires, während Bauern und Handwerker in Bewegungen und in Verbindung mit Werkzeugen dargestellt sein können. Lichtenbergs Beobachtungen zur Physiognomik haben auf etwas aufmerksam gemacht, was Sander als Darstellungsregel nutzt: Betrachter sehen Gesichter im Kontext von Kleidung, Haltung, Gegenständen oder Umgebung. Und doch möchte Sander das Gegenteil erreichen, nämlich im Gesicht selbst das Typische zum Vorschein bringen. Besonders der »Urtypus« des Bauern begegnet auf seinen Fotografien in naturverbundener Umgebung – in Begleitung eines Rindes, in der schwungvollen Bewegung des Säens, an einem Spinnrad, neben einem Mistkarren einherschreitend oder im Familienkreis bei einer Mittagspause auf dem Feld. Ein »Westerwälder Bauer« hingegen sitzt in seinem Lehnstuhl, wobei er in der rechten Hand ein Buch, vielleicht die Familienbibel, hält, während die linke Hand die Brille auf dem Buch fixiert. Sein Blick ist ernst und ruhig, der weiße Bart gepflegt. Anzug, Hemd und Halsbinde verraten den »Bauerntypus« so wenig wie Brille oder Buch. Sind es vielleicht die Hände, an denen Betrachter Spuren harter Arbeit zu erkennen meinen? Würden wir überhaupt danach suchen, wenn wir nicht wüßten, hier einen Bauern zu betrachten? Kleinstädter halten ebenfalls ein Buch, posieren mit Musikinstrumenten vor einer Standuhr oder gewähren dem Fotografen einen Blick auf ihren blumengeschmückten Kaffeetisch. Handwerker zeigen sich in selbstbewußter Massigkeit vor einem Zapfhahn, mit blitzenden Schuhen an einer blanken Teigschüssel, lässig mit Pfeife im Mund und Hammer in der Hand am Amboß, aufmerksam an der Nähmaschine oder in dynamischer Haltung am Hobel. Energisch, pfiffig, selbstbewußt, neugierig und müde kann der Gesichtsausdruck sein. Aber zeigt sich die Physiognomie eines Schmieds? Eines Konditors oder Gastwirtes? Eines Bauern oder Maurers? Sieht so der Typus eines Dachdeckermeisters aus: müdes, leicht nach rechts geneigtes Gesicht eines älteren Mannes, dessen längliche Form durch eine betont lange Pfeife unterstrichen wird, die er in der linken Mundhälfte festhält, mit schüchtern vor dem Bauch gefalteten 282 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

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Händen, die einen leicht verbeulten Hut halten, der zu seiner ausgebeulten Jacke zu passen scheint – und das alles plaziert vor einer rohen grauen Mauer, die rechts den Blick in eine trübe Ferne freigibt? Anders der Industrielle: Dessen Hände sind oft gar nicht zu sehen. Wache Augen blicken dem Betrachter durch blitzende Brillengläser hindurch entgegen. Zum gepflegten grauen Bart paßt der elegante graue Hut. Hemdkragen sind blütenweiß, die Krawatte sitzt tadellos, das Einstecktuch lugt aus der Brusttasche. Nachdenklich richtet der Blick sich in die Ferne, wo vielleicht große Probleme und gewichtige Entscheidungen warten, während seine Hände gelassen im Schoß verschränkt bleiben. Drücken sich Willensstärke und Weitblick in einer großen Nase aus? Die aber findet sich gelegentlich auch bei einem Seemann, der in dicker Lederjacke seine Arme verschränkt. Warum schauen Revolutionäre leicht verkniffen, wo sie doch die Zukunft auf ihrer Seite glauben? Werkzeuge ihrer Arbeit sieht man nicht, anders als beim Ingenieur, der tatendurstig zugleich ein Telefon und einen Stift handhabt. Was unterscheidet ein bürgerliches Geschwisterpaar von einem Paar Bauernkinder? Die Physiognomie der Gesichter wird es kaum sein, denn hier hat die Gesellschaft noch nicht genug Zeit gehabt, Signaturen der Stände einzuprägen. Noch immer wirkt das Paar »Bauernkinder« (um 1928) hinreißend: Beide weiß gekleidet, das etwas größere Mädchen, links im Bild, stolz mit großer Schleife im Haar, ihren kleinen Bruder an der Hand haltend, der seinerseits mit neugieriger Aufmerksamkeit beobachtet, was der Fotograf gerade tut. Beide stehen auf einer Wiese mit hohem Horizont, was das Weiße ihrer Kleidung unterstreicht. Und das Bürgerkinderpaar von 1929? Auch hier steht, wie auf allen Paarportraits, das Mädchen rechts von ihrem Bruder, auch hier trägt die Schwester Schleifen im Haar (schwarz), und beide halten einander an der Hand. Nur trägt das Mädchen ein Kleid und der Junge Hemd mit Fliege und kurze Hosen, während die Bauernkinder beide ähnliche Kittel tragen. Bäuerliche Jungen und Mädchen werden in ihrer Kleidung nicht unterschieden. Stehen die Bauernkinder auf einem Feld, so die Bürgerkinder in einer Wohnung auf einem Teppich vor einer doppelflügeligen Tür. Ambiente und Kleidung markieren gesellschaftliche Unterschiede, weniger die Gesichter. Kleidung spielt, auch wenn es sich nicht um Berufskleidung handelt, eine wichtige Rolle. Selbstbewußt präsentiert eine Großstädterin ihren eleganten breitkrempigen Hut, während ihre behandschuhte rechte Hand einen Spazierstock locker hält und die Linke auf einer 283 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

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blumengeschmückten Kommode ruht. Schriftstellergattinnen unterstreichen ihre soziale Position durch öffentliches Rauchen: Hier klemmt zwischen den Fingern der rechten Hand, die den Ehering sehen läßt, eine Zigarette. Die Frau eines Architekten zeigt sich bequem auf der Couch mit einem Schoßtier – Hund oder Katze? Lässig hingegen das Künstlermilieu: Die »Frau eines Malers (um 1926)«, androgyn in ihrer Erscheinung: kurze Herrenfrisur, weiße Hose, weiße Schuhe, in weißem Hemd, jedoch mit Krawatte und wiederum mit Zigarette, die frontal aus ihren Lippen ragt, blickt dem Fotografen in dynamischer Körperhaltung entgegen. Leicht maskuline Züge unterstreichen die Ambivalenz der Pose: Das Gewicht liegt auf dem rechten Bein, während der linke Fuß locker auf dem Ballen abgestützt bleibt, die Arme, wie in spielerisch angedeuteter Kampfbereitschaft, in Bauchhöhe angewinkelt und die Hüfte wie tänzelnd leicht nach vorn rechts verschoben. In der Bewegung liegt etwas zugleich erotisch Einladendes wie latent Aggressives. Schwer vorzustellen, eine Bauersfrau oder Industriellengattin in solcher Pose zu erblicken. Aber sehen wir das typische Mitglied einer Künstlerfamilie? Dem widerspricht bereits das Portrait einer Malertochter (um 1926), die ruhig, breit und ernst, in ausladender Robe und mit sittsam gefalteten Händen in einem Armstuhl Platz genommen hat. Im Rückblick werfen einige Bilder Fragen auf, die aus dem Zeitindex der Zeit-Bilder entstehen. Was mag aus dem Corps-Studenten geworden sein, den Sander 1925 mit Uniform und Kappe, Schmisse quer im Gesicht, fotografiert? Haben dieser junge Mann und die Studentin der Zahnmedizin etwas gemeinsam, die Sander 1914 portraitiert hat? Diese junge Frau sitzt ihm in Dreiviertelansicht, ihren eleganten schwarzen Hut auf dem Kopf, in einem feinen Kleid mit Spitzenkragen, Goldreif am linken Arm, wie in einem RenaissancePortrait. Freundlich, offen und sanft ist ihr Blick, nichts Martialisches, eher etwas Mütterliches haftet ihm an. Hat sie etwas mit dem Leutnant gemeinsam, der zwischen 1911 und 1914 auf August Sanders Platte geriet? Dessen Uniform wirkt etwas zu groß geraten, die Gesichtszüge muten eher bäuerlich an. Ganz anders wirkt sein Ausdruck als der dickbäuchige Stolz des Hauptmanns (um 1915) mit Pickelhaube und Zierdegen, der dem Fotografen posiert als wäre er sein eigenes Denkmal. Wird aus dem jungen Leutnant, sofern er den Ersten Weltkrieg überlebt, vielleicht später ein müder älterer Soldat geworden sein, wie Sander sie um 1942 ablichtet? Und was ist mit den Nationalsozialisten, die in SA-Montur Modell sitzen? Stellen wir uns 284 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

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einen Faschisten wie diesen dicklichen Jungen vor, der in seine HitlerJugend-Kluft wie eingesperrt wirkt und den Betrachter durch große Brillengläser anblickt (Angehöriger der Hitler-Jugend, 1938)? Oder einen SS-Hauptsturmführer mit eher intellektuellem Gesichtsausdruck, der wie eingequetscht wirkt zwischen seiner schwarzen Uniformjacke und der tief in die Stirn gerutschten großen Schildmütze mit Reichsadler und Totenkopfemblem (SS-Hauptsturmführer, 1937)? Das Foto zeigt keinen erkennbaren Bildhintergrund. Betrachter mögen sich fragen, welchen sozialen Hintergrund ein solcher Mann haben mag. Was »ist« ein Nationalsozialist, ein Hitlerjunge oder ein SS-Hauptsturmführer? Wir sehen einen Menschen, dessen Gesicht auswechselbar bleibt. Bauer, Baron, Wissenschaftler oder Ingenieur könnten in dieser Uniform als »SS-Mann« auftreten. Macht also die Kleidung, wie Lichtenberg vermutet, im Bild den Typus? Nehmen wir noch den »Junglehrer, um 1928« hinzu. Ließe sich in ihm, der mit seinem breiten Gesicht, blondem Haar, seiner bulliguntersetzten Figur, die mit beiden Beinen in dicken Kniestrümpfen und Schnürstiefeln Halt auf dem Boden sucht und einen schlanken, aufmerksam in die Welt schauenden Schäferhund an der Leine führt, nicht ebenso gut ein Nationalsozialist sehen wie in dem SS-Hauptsturmführer? Was also macht den Typus zum Typus? Die Physiognomie? Der Kontext der Bilder? Die Kleidung? Oder ist es der Blick des Betrachters – unser Blick –, der aus der Erinnerung an das historisch Geschehene in Sanders Portraits etwas Typisches zu erkennen meint? Viele Bilder von Nationalsozialisten, SA- oder SS-Männern hat ein Betrachter der heutigen Zeit inzwischen gesehen. Nicht zuletzt hat das Kino ihn mit markanten Bildern vertraut gemacht, die einen Typus des Nationalsozialisten ins Bild setzen. Im Rückblick wird es fast unvermeidlich, Sanders Portraits in dieser semantischen Spur zu sehen. Seine fotografische Typologie führt dem Betrachter die Zeitlichkeit seines Sehens ebenso vor Augen wie die Zeit, in der die Portraits entstanden sind. Je länger die Zeit ihrer Entstehung zurückliegt, desto typischer scheinen sie zu werden. Insbesondere bei den Portraits von Nationalsozialisten wird deutlich, wie wichtig für die Wahrnehmung eines Typus die Kleidung – in diesem Fall die Uniform – ist. John Berger hat auf die Bedeutung der Kleidung der Portraitierten aufmerksam gemacht. In seinem Essay zu dem Foto »Jungbauern, Westerwald« von 1914 erläutert er, welche Rolle die Anzüge der drei jungen Bauern für die Wahrnehmung ihrer Klassenzugehörigkeit spielen. Das Foto zeigt drei junge Männer in dunklen Anzügen, Hut 285 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

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auf dem Kopf und Spazierstock in der Hand auf einem ungepflasterten Weg vor einem Feld. Die drei sind für den Fotografen stehengeblieben und wenden ihm ihren Blick über die rechte Schulter zurück zu. Die weiche Horizontlinie schneidet das Bild horizontal in zwei Hälften und hebt die drei Köpfe mit den Hüten hervor, die über dieser Linie liegen, während der Rest der Figuren in der dunklen unteren Bildhälfte verbleibt. Auf diese Weise werden die weißen Hemdkragen unterstrichen, die jeweils den Kopf von dem Dunkel der Anzüge und dem ebenfalls dunklen Bildhintergrund abheben, als ob es tatsächlich nur auf die Gesichter ankäme. So wie die weißen Hemdkragen die Gesichter akzentuieren, können Betrachter sich an niederländische Gruppenporträts erinnern, wie sie Alois Riegl untersucht hat. 37 Wie ein Ausrufezeichen stemmt der Mann rechts im Bild energisch seinen Stock senkrecht in den Boden. Der Mann in der Mitte hält seine linke Hand mit leicht geöffneter Innenfläche in Bauchhöhe wie in einer Geste, die zu nichts führt. Der Mann links wahrt einen kleinen Abstand zu den Vorausgehenden. Sein Spazierstock beschreibt in einer diagonalen Linie eine Pose, die merkwürdig unordentlich wirkt. Seinen Hut hat er etwas aus der Stirn geschoben, so daß eine ungebändigte Haarsträhne darunter hervorschaut. Zwischen den Lippen hält er eine Zigarette. Vielleicht sind die drei Männer, die wie Brüder wirken, unterwegs zu einem Tanzvergnügen. Sie haben sich etwas herausgeputzt und befinden sich auf dem Weg vom Arbeitsalltag zu einem Fest. »Ihre Hände wirken zu groß, ihre Körper zu dünn, ihre Beine zu kurz. (Sie halten ihre Spazierstöcke, wie wenn sie Vieh treiben würden.) … Nur ihre Hüte können sie so tragen, als ob sie zu ihnen paßten.« 38 Daß Bauern bürgerliche Anzüge tragen, in die sie angeblich nicht passen oder in denen ihre ungeschlachten Körper sich nicht zu bewegen wissen, interpretiert Berger als Symptom einer Klassen-Hegemonie. Bauern tragen, wenn sie sich selbst bewußt zeigen möchten, das falsche Kostüm. »Einerseits Körper, die an weit ausholende Bewegungen gewöhnt sind; andererseits Kleider, die das Ruhende idealisieren, das Diskrete, das Mühelose.« 39 Bergers Blick knüpft einerseits an Döblins und Benjamins Lesart von August Sanders Bildprogramm an, kehrt deren Diagnose jedoch in einem Vgl. Riegl, A.: Das holländische Gruppenporträt. 2 Bde., Wien 1931. Berger, J.: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens. Berlin 1991, S. 36 ff., hier S. 41. 39 Ebenda, S. 43. 37 38

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wichtigen Punkt um: Nicht die Physiognomie des Antlitzes charakterisiert demnach die Portraitierten als Angehörige eines Standes – für Berger: einer Klasse –, sondern der Stil ihrer Inszenierung durch Kleidung oder Gegenstände, die sie mit sich führen. Lassen wir dahingestellt, ob sich der Kontrast zwischen Körper und Kleidung in dem Foto der drei jungen Bauern tatsächlich so deutlich zeigt. Berger liefert einen Hinweis, mit dessen Hilfe sich Sanders Fotografien unter formtheoretischer Perspektive deuten lassen. Wer Mühe hat, in den Gesichtern den Stempel zu erkennen, den eine gesellschaftliche Position dem Menschen aufprägt, und wer sich vorstellen kann, die Gesichter auszutauschen und mit wechselnden Kleidungsstücken oder Utensilien zu kombinieren, dem zeigt sich Sanders Projekt einer fotografischen Typologie der deutschen Gesellschaft in anderem Licht. Sanders Prinzip der Bildreihe wird dann mit anderen Reihendarstellungen vergleichbar. Es wirft die Frage nach dem Zusammenhang von Reihe und Sujet auf. Hier liegt eine Differenz zu den Arbeiten von Bernd und Hilla Becher: Industriearchitektur und Portraits funktionieren in Reihenkonstellationen anders, da sie beim Betrachter andere Arten der Verkettung, des Vergleichs, der Assoziation und Verallgemeinerung aufrufen. 40 Portraits sind in anderer Weise bedeutungsvoll als Fördertürme. Um in ihnen Typen von Menschen und Gesellschaftsordnungen zu entdecken, um im Individuellen das Allgemeine zu entziffern oder das Typische in der Anschauung ergreifen zu können, spielt der Kontext der Form und die Ordnung des Arrangements eine in die Augen springende Rolle. Ergibt sich bei Bernd und Hilla Becher der Typus aus der Form des Gegenstandes, entspringt er bei Sander aus dem gewählten Kontext der Form. Dieser Kontext erzeugt eine semantische Formierung phänomenaler Bildformen, die sich nicht zwingend aus der Phänomenologie des Erscheinenden und Sichtbaren ergibt. Sanders Fotografie läßt Grenzen der Typisierung im Portrait verstehen. Grenzen seiner Bildreihen sind konkret bestimmt, ohne doch allgemein zu werden. Gesichter weisen natürliche Ähnlichkeiten auf, ohne scharfe Grenzen nach sozialen Zugehörigkeiten zuzulassen. Im Kontext der Kleidung

Vgl. zum Umfeld Lange, S.: August Sander, Karl Blossfeldt, Albert Renger-Patzsch, Bernd und Hilla Becher: Vergleichende Konzeptionen. In: August Sander, Karl Blossfeldt, Albert Renger-Patzsch, Bernd und Hilla Becher: Vergleichende Konzeptionen. Hrsgg. von der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur Köln. München, Paris, London 1997, S. 11–21.

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oder Accessoires wirkt die Form des Gesichtes oft austauschbar. Je mehr Elemente der Reihe – einzelne Portraits – versammelt werden, desto undeutlicher wird das Allgemeine der Form. Kategorien sozialer Ordnung, wie Theorie – sei sie ständestaatlich oder klassentheoretisch grundiert – sie ins Spiel bringt, bleiben hinter individuellen Gesichtern verborgen. Wirkung entfalten sie in der Inszenierung des Kontextes der Form: in der Auswahl von Typen oder Kombinationen von Accessoires. Sichtbare Formen verschlucken manchmal das Typische. Aber sie werfen Fragen nach einer Geschichte des Individuellen auf. Sanders Personen verlocken den Betrachter, ihnen eine – vielleicht fiktive – Biographie zuzuordnen. 41 So erscheint es naheliegend, wie Walter Grasskamp nach den wiederum soziologisch interessanten Gründen zu fragen, die Döblins und Benjamins Sicht auf Sanders Projekt breite Zustimmung verliehen haben. Für Grasskamp gehört es zu den wichtigsten Erfahrungen bei der Beschäftigung mit den »Menschen des 20. Jahrhunderts«, daß wir keine Typen sehen, sondern Gesichter. Inszenierungsformen wie Kleidung, Interieurs, Hintergründe oder Gegenstände verleiten ebenso wie Bildunterschriften, die auf Namen verzichten, dazu, die Verwechselbarkeit der Gesichter zu übersehen. »Nähme man alle Fotos von Sander, in denen nicht Berufskleidung, Werkzeuge und andere Sehfallen ausgelegt worden sind, und ließe falsche Titel lancieren, niemand würde es merken, denn der Grobschmied kann durchaus als Pfarrer passieren, der Schankkellner als Droschkenkutscher, der junge Kaufmann als Uhrmacher, der Industrielle als Heiratsschwindler und der Dachdeckermeister als Kräuterheilkundiger. Hätte Sander die anderen Handwerker ohne die gefälligen Ingredienzen ihres Berufs fotografiert, mancher Arzt, Kaufmann oder Abgeordnete hätte sich daraus machen lassen.« 42 Es sind oft erst die Bildunterschriften, die individuelle Gesichtsformen in typische Sozialformen verwandeln, weil sie dem Sehen einen Kontext verleihen, der epistemische Qualitäten suggeriert, die Sanders eigene kategoriale Ordnung kaum aufweist. Analoges gilt allerdings auch für das Bildprogramm von Erna Lendvai-Dircksen. »Rassenklischees« begegnen in den Gesichtern

Vgl. als solchen Versuch Powers, R. G.: Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz. Frankfurt/M. 2011. 42 Grasskamp, W.: Augenschein. Über die Lesbarkeit des Portraits und die Handschrift des Fotografen. In: Kunstforum international Bd. 52. Köln 1982, S. 14–49, hier S. 31 (Hervorhebungen im Original). 41

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ihrer Bäuerinnen oder Fischer schwerlich. Wohl stehen viele Gesichter im Kontext einer landschaftlichen Inszenierung, die sich in Kleidungstrachten ausdrückt. Auch werden markante Züge eines Gesichtes durch Nahaufnahmen oder leichte Untersicht hervorgehoben. Gesichter leuchten, mitunter das Bildformat ausfüllend, aus oft schwarzen Hintergründen hervor und gewinnen durch diese Lichtregie etwas Skulpturales. Erkenntnis- und Bildprogramm wirken bei Sander abgestimmter, kühler, konsequenter und einheitlicher. Wie Sander zeigt jedoch Lendvai-Dircksen individuelle Menschen in typisierten Kontexten. Was wäre unter dieser Perspektive zu dem jungen Maurer zu sagen, der auf Sanders Bild wie die Ikone eines – deutschen? – Arbeiters wirkt, Steine auf seinen kräftigen Schultern tragend? Eine Bemerkung von Janos Frecot macht auf die Problematik einer retrospektiven Sicht aufmerksam, die interessante Gemeinsamkeiten in ästhetischen Bildformen zugunsten einer politischen Typisierung abschwächt: »Ihr (Erna Lendvai-Dircksen, DR) geht es nicht um Menschen, sondern um deutsche Menschen, nicht um das Herausarbeiten des Individuellen im typischen Handwerker, Angestellten oder Künstler, sondern um die Nivellierung der Einzelnen zu lauter Gleichen, die nur durch den Boden, dem sie entstammen, unterscheidbar sein sollen.« 43 Wie schwierig diese Einschätzung ist, zeigt sich, wenn Frecot die Fotografien von Lendvai-Dircksen der gleichen Operation unterzieht wie wir sie soeben anhand der Bilder August Sanders durchgespielt haben: »Ist das Mädchen aus der Lausitz (…) nicht auch als Bild einer sozialdemokratischen Photographie zu sehen, deren Thema die Armut auf dem Lande ist?« 44 Eben das macht die Relation von Form und Kontext so relevant. Denn der Kontext der Form, der dem einzelnen Foto seinen typischen Status sichern soll, stammt nicht aus der Form des Gesichts. Betrachter haben es mit interferierenden sozialen und kulturellen Typisierungen – wenn nicht mit Stereotypen – zu tun, die in der fotografischen Reihe tendenziell mit der Form der einzelnen Fotografien kollidieren. Rezeptionsgeschichtlich haben sich durch diese Kontextverschiebungen nach 1945 die Bildprogramme von Lendvai-Dircksen und Sander immer weiter in gegensätzliche politische und ästhetische Ordnungsmuster hinein- und auseinanderentwickelt. Frecot, J.: Das Volksgesicht. In: Faber, M./Frecot, J. (Hrsg.): Portrait im Aufbruch. A. a. O., S. 78–89, hier S. 82 f. (Hervorhebung im Original). 44 Ebenda, S. 83. 43

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Kontexte der Form kollidieren in beiden Bildprogrammen mit der Erscheinung einzelner Formen der Reihe wie auch mit dem »Allgemeinen«, das in der Reihe entsteht. Für eine Philosophie der Form sind solche Dissonanzen aufschlußreich. Kontraste zwischen Form und Kontext eröffnen andere Möglichkeiten des Vergleichs der Formen einer Reihe. Weder bei Sander noch bei Lendvai-Dircksen resultiert die Prägnanz der Reihe aus der Form des Einzelbildes. Im Falle von Bernd und Hilla Becher stellt sich dieser Eindruck hingegen nicht ein. Die Sammlung von Bauern, Industriellen, Frauen, Künstlern, Handwerkern, Ingenieuren, Ärzten, Revolutionären oder Sportlern entbehrt bei August Sander sogar einer zumindest theoretisch stringenten Organisation. Industriearbeiter sind im Vergleich zu Bauern, Handwerkern oder Intellektuellen relativ unterrepräsentiert, Gruppen wie Prostituierte, die durchaus das Großstadtleben der Weimarer Republik mitprägen, fehlen ganz. Hingegen ist der Wunsch, in der Physiognomie von Menschen den Ausdruck sozialer oder rassischer Typisierungen zu finden, in seiner Zeit verbreitet. Rückblickend mag er, wie Grasskamp vermutet, in der Lesart Benjamins die vermeintlich soziologische Relevanz einer phänomenologischen Soziologie miterklären. 45 Liegt der Grund für diese Unterschiede in der Funktion von Form und Kontext innerhalb fotografischer Reihen? Liegt er in der verschiedenen Semantik der Formen? Fördertürme oder Gasometer, Hochöfen oder Fachwerkhäuser werfen in anderer Weise Fragen der Klassifizierung auf. Offensichtlich sieht ein Fachwerkhaus anders aus als ein Förderturm. Niemand fände diesen Unterschied problematisch. Innerhalb solcher Reihen wiederum sind Ähnlichkeiten viel größer als im Vergleich zu Sujets in anderen Reihen. Betrachter fragen sich nicht, ob es berechtigt ist, Gasometer von Hochöfen zu unterscheiden und in einem »Typus« zusammenzufassen. Sehr wohl stellen diese Fragen sich jedoch, wenn es um Gesichter von Personen geht. Keineswegs ist deren Zügen ohne weiteres zu entnehmen, ob es sich um einen Bauern, Revolutionär, Arbeiter oder Arzt handelt. Die Reihe, als Kontext einzelner Formen, scheint im Falle von Gegenständen wie industriellen Bauten den Formen natürlich zu entsprechen. Menschen sozial zu klassifizieren, indem ihre soziale PosiVgl. zum zeitgeschichtlichen Kontext der Typisierungsvorstellung Brückle, W.: Kein Portrait mehr? Physiognomik in der deutschen Bildnisphotographie um 1930. In: Schmölders, C./Gilman, S. L. (Hrsg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte. Köln 2000, S. 131–155.

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Menschen des 20. Jahrhunderts: August Sander

tion mit ihrer physiognomische Erscheinung in der Sichtbarkeitsordnung einer Fotografie zusammengebracht wird, wirft Fragen nach der Inszenierung der Ordnung auf. Wie hängen soziale Klassifikationen und körperliche Erscheinungen zusammen? Wie lassen sie sich entdecken oder zeigen? Erzeugen entsprechende fotografische Dokumentationsvorhaben nicht fatalerweise den Eindruck einer Natürlichkeit dessen, was Ausdruck wechselhafter sozialer Bedingungen ist? Müssen Typologien etwas mit klassifizierender Ordnungsbildung zu tun haben? Bei August Sander jedenfalls erscheint dieser Zusammenhang eher dem zeitgeschichtlichen Kontext geschuldet als aus der Sache heraus entwickelt. Auch darum wirken die Gesichter seiner Personen, der Kontext ihrer Kleidung und Accessoires sowie der Kontext der Bildtitel manchmal dissonant. Im Falle von Bernd und Hilla Becher hingegen entsteht der Eindruck, daß beim Betrachten einer Reihe besser gesehen wird, was ein Hochofen als architektonisches Gebilde ist. Auch wird vermutlich niemand Anstoß daran nehmen, »deutsche« von »belgischen« Fördertürmen zu unterscheiden, oder wird wehmütig das Verschwinden eines Urtypus von Hochöfen zur Kenntnis nehmen. Grenzen zwischen Gegenständen sind andere kulturelle Phänomene als Grenzen zwischen Menschen und sozialen Gruppen. Vergleiche zwischen den fotografischen Programmen Bernd und Hilla Bechers einerseits und August Sanders andererseits rufen Fragen nach der Bedeutung von Grenzziehungen zwischen natürlichen und sozialen Ordnungen in Erinnerung, wenn doch Typisierungen unübersehbar machen, daß jede Grenze auf jemanden verweist, der sie zieht. Typisierungen begegnen als Darstellungsformen, die Ordnungen als Form-Kontext-Verhältnisse zur Erscheinung bringen. Deshalb stellen sich Fragen des Dokumentarischen in ihrem Licht anders: Wirklichkeit erscheint nicht einfach, sie wird in Darstellungen zur Erscheinung gebracht, deren Grenzziehungen und Inszenierungen die Formen des »Wirklichen« mitbedingen. Nicht ob, sondern wie, das heißt wie reflektiert, Darstellungen ihre Grenzen und Kontexte mitthematisieren, ist ein Kriterium für die Qualität der Darstellungen des Wirklichen. An einem Beispiel auf der Grenze zwischen malerischem Portrait und Karikatur läßt sich dies verdeutlichen.

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Fotografische Reihen

3.

Wirkliches und Symbolisches

3.1

Dokumentation und Karikatur im Portrait: Otto Dix

Von Beginn an stehen Portraits in Reihenbezügen, etwa indem sie dynastische Beziehungen zum Ausdruck bringen. Portraits bilden eine der wesentlichen kulturellen Formen, um Konzepte der Person und des Individuums zu entwickeln. Nie streifen sie, trotz allen Interesses am Einzelnen, soziologische Bezüge ab, da immer eine Person als jemand dargestellt wird, der in einem sozialen Kontext lebt. Im Portrait wird das Verhältnis von sichtbarem Gesicht und dem »Geist« dessen, der in der Materialität einer Bildfläche sinnlich »gesehen« wird, sichtbar. Läßt sich »sagen«, was hier »sichtbar« ist? Schildern Erzählungen über eine Person Sichtbares? Müssen individuelle Menschen erzählend in Sinnbezüge eingesponnen werden, die ihre Ansichtigkeit übersteigt? Welche Rolle spielt Sichtbarkeit überhaupt, wenn es um Personen geht? »Eine Person«, schreibt Charles Sanders Peirce, sei »ein Geist, dessen Teile auf eine bestimmte Weise koordiniert sind.« 46 Demnach würde die Bestimmung des Was-seins von Personen eine Arbeit der Koordinierung verlangen, die etwas zusammenstellt, ohne es zu summieren, zu logifizieren oder zu repräsentieren. An Personen stellt sich, wie die Formulierung von Peirce zeigt, das Problem der Form auf eine besonders prägnante, weil zu unscharfen Antworten herausfordernde Weise. Welche Unterscheidungen wären zu treffen, um eine Person maximal »scharf« zu bestimmen? In der Kommunikation zwischen Ego und Alter geht »natürlich« und fraglos vonstatten, was im Phänomen des Portraits als Kultivierung einer unscharfen Grenze thematisch und als zu realisierendes Verhältnis in der Zeichenform des Bildes explizit wird. Künstler heben als zu vollbringende Leistung in die Reflexion, was ansonsten leicht übersehen würde. Sie weisen Betrachter des Bildes darauf hin, daß sie selbst diese Grenze ziehen müssen. »Person« zu sein bedeutet immer auch, sich als Grenze zwischen Natur und Seele, Kommunikation und Bewußtsein, sozialem Rang und individuellem Erleben darzustellen. Michel de Montaigne hat in seinen »Essais« ein grandioses literarisch-philosophisches Selbstportrait als Zeitreflexion verfaßt, dessen reflektierter Bezug auf seine eigene Textgeschichte wie auf die Stimmen anderer und die Möglichkeiten, sich auf sich durch An46

Peirce, Ch. S.: Naturordnung und Zeichenprozeß. Frankfurt/M. 1991, S. 139.

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Wirkliches und Symbolisches

deres zu beziehen, Reflexionen der Portraitmalerei spiegelt und bereichert. 47 Mit Blick auf Montaigne und auf die Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts werden Fragen einer Soziologie der neuzeitlichen Gesellschaft formulierbar. Je mehr die neuzeitlichen Gesellschaften Europas über die Ausdifferenzierung organisierter Kommunikation zu »bürgerlichen« Gesellschaften werden, deren soziale Statusformen nicht länger feudale Hierarchien und Genealogien wiederholen, desto stärker wird das Bedürfnis nach einer Pflege der Grenze zwischen Beruf und Person. Identität wird zu einer Aufgabe und Beobachtungsleistung. Für ein Selbst wie für Andere muß Darstellungsarbeit geleistet werden, die das Bild einer Person als Differenz von Unterscheidungen anbietet und vorführt. Individuum ist niemand allein; man ist es im Vergleich zu anderen. Je »individueller« die Gesellschaft wird, desto mehr gewinnen Formate des Vergleichs an Bedeutung. Von Urtypen läßt sich kaum mehr sprechen. Hochgradig typisierte Bilder einer Person resultieren umgekehrt aus forcierten Wiederholungen und Reproduktionen, aus Vereinfachungen und Kontraststeigerungen. Genealogien des Typischen verschieben sich vom Natürlichen zum Mechanischen. Fotografische Bildformate nehmen in diesem Prozeß eine zentrale Stellung ein, denn sie eignen sich hervorragend für massenmediale Vervielfältigungen. In Zeitungen, Werbung, Politik und Kunst kommen sie zur Geltung. Ein Vergleich zwischen fotografischen und malerischen Bildzeichen kann das Verhältnis zwischen Person und Darstellung, Individuum und sozialem Kontext erhellen. Den Maler Otto Dix hat August Sander einmal zusammen mit dessen Frau (»Malerehepaar«, 1925/26) und einmal im Einzelportrait (»Maler«, 1924) fotografiert. Dix zählt zu den wichtigsten Portraitmalern der Weimarer Zeit, der seinerseits eine typisierende Auffassung der von ihm Portraitierten erarbeitet hat. Im Vergleich der Typisierungskonzepte von Sander und Dix zeigen sich Unterschiede zwischen Fotografie und Malerei im Blick auf Schilderungen des Wirklichen und der Person. Sanders Einzelportrait zeigt Otto Dix im Profil der linken Gesichtshälfte. Die gleiche Haltung nimmt er auf dem Doppelportrait mit seiner Frau ein. In der Profilsicht kommen seine markanten Gesichtszüge, die gerade Nase, seine schmalen Augen mit ihrem scharVgl. Montaigne, M. de: Essais. Übersetzt von Hans Stilett. Frankfurt/M. 1998; Starobinski, J.: Montaigne. Denken und Existenz. Frankfurt/M. 1993, bes. S. 49 ff.

47

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Fotografische Reihen

fen Blick und die Linie zwischen Nasenflügeln und Mund zur Geltung. Das Haar trägt Dix straff nach hinten zurückgekämmt. Gekleidet ist er in einen grauen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte bzw., im Doppelportrait, mit Fliege. Anders als viele sonstige Modelle schaut Dix den Betrachter nicht an. August Sander hat auch andere Künstlerpaare – Tata und Heinrich Hoerle (1925), Dora und Hans Heinz Lütgen (1926) – in dieser Sitzanordnung fotografiert. Doch schaut Heinrich Hoerle seine Frau direkt von der Seite an, während sie ihren Blick auf den Betrachter richtet, und Hans Heinz Lütgen blickt in die Kamera, während seine Frau im linken Profil zu sehen ist. Das Doppelportrait des Ehepaares Dix zeigt eine andere Atmosphäre. Konzentriert blickt Otto Dix – leicht an seiner Frau vorbei – in eine Weite außerhalb des Bildraumes. Sein Ausdruck wirkt scharf, wie Maß nehmend, selbstbewußt und willensstark. Offenbar handelt es sich um jemandem, der die Welt analysiert und beurteilt. Weder sind Künstlerhände zu sehen, noch hat Sander dem Maler eine Gerätschaft zugeordnet, die seine Tätigkeit bezeichnen würde. Daß weder Hände noch berufstypische Accessoires im Bild auftauchen, unterscheidet das Portrait von anderen, in denen Sander die soziale Position des Abgebildeten durch diese Details markiert. Nichts an dem Foto beschreibt erkennbar einen Beruf. Wer nicht weiß, es hier mit einem Maler zu tun zu haben, könnte leicht einen Intellektuellen vermuten. Möchte Dix sich als jemanden zeigen, dessen eigentliche Arbeit im Analysieren besteht? Ist das Malen vielleicht nur die Umsetzung einer gedanklichen Arbeit? Würden Malerkittel, Palette oder Pinsel aus einem gesellschaftskritischen Denker einen kuriosen Kunst-Handwerker machen? Oder sieht Sander Dix auf diese Weise? Im Doppelportrait mit seiner Frau bleibt der Künstler in der gleichen Haltung wie im Einzelportrait, während Martha Dix den Betrachter frontal anschaut. Ihre linke Schulter hat sie dabei vor die rechte Schulter ihres Mannes geschoben. Sanft begegnet ihr Blick dem des Betrachters und kontrastiert mit der Schärfe des Blicks von Otto Dix. Unterstrichen wird diese Sanftheit vom Eindruck, den Marthas Frisur auf den Betrachter macht: einem Ponyschnitt, der wie ein Kissen auf ihrem Schädel zu liegen scheint, das auf Höhe der Ohrläppchen abgeschnitten ist. Sanders lange Belichtungszeit sorgt dafür, daß Marthas Haare unmerklich mit dem Bildhintergrund verschmelzen, was wiederum den Eindruck der Sanftheit unterstreicht. Wirken Ottos Züge scharf, sind Marthas weich. Marthas und Ottos Blick treffen sich nirgendwo. Ottos Blick scheint sogar an seiner Frau vorbeizugehen, was 294 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Wirkliches und Symbolisches

bei der eng zusammengerückten Position des Paares seltsam wirkt. Wohin schaut er, wenn er doch aus sehr kurzer Distanz im Profil auf Marthas linke Gesichtshälfte blickt? Sieht er durch sie hindurch? An ihr vorbei? Ist sein Blick eine Pose, die das scharfe, weitblickende Künstlerauge ironisiert? Schaut er darum so konzentriert und unnahbar? Möchte er erreichen, daß Betrachter sich fragen, welches Bild sie sich von jemandem machen sollen, der ein Bildermacher ist – wie auch der Fotograf Sander, der dieses System der Blicke in seiner Kamera für das Betrachterauge zusammenführt? In der Konstellation der Blicke, die das Foto inszeniert, entsteht eine Relation zwischen Martha, Otto, August Sanders Kamera und dem Betrachter. Marthas Blick richtet sich direkt auf den Bildbetrachter, wodurch der Eindruck einer direkten Kommunikation entsteht, bei dem die Kamera zuschaut: Sie läßt sehen, wie Martha Dix den Betrachter anblickt. Indem Marthas Blick mit demjenigen des Betrachters kommuniziert, betont er Ottos indirekten Blick, der auf ein inszeniertes, mithin reflexiv ins Bild gesetztes Gesehenwerden verweist. Zeigt das Portrait den Abgebildeten als jemanden, der mit seiner sozialen Rolle spielt und Betrachter auffordert, ihn als jemanden zu sehen, der um seine soziale Sichtbarkeit weiß, diese kultiviert, aber in ihr nicht aufgeht? Betrachter sähen dann das »Individuum« Otto Dix nicht, wenn sie sein Portrait sehen. Halten wir diese Hypothese einen Augenblick fest, wäre hinzuzufügen, daß auch kein Typus des Künstlers zu sehen ist. Allenfalls wäre zu sehen, wie jemand mit dem Bild des Künstlers in der Inszenierung seines Gesehenwerdens innerhalb eines typisierenden Bildprogramms umgeht – welches Bild eines Typus er vorführt, um die Bildhaftigkeit des Sehens der Bildbetrachter, aber auch des Sehens des Künstlers, zu demonstrieren. Argumente dafür, daß diese Sichtweise auf Sanders Portrait von Dix vielleicht nicht überzogen ist, liefern Portraits, die Otto Dix selbst angefertigt hat. Zunächst fallen große Unterschiede in der Materialität der Bildform auf: Dix arbeitet als Maler. Aquarelle oder Ölbilder erzeugen andere Arten der Ähnlichkeit als Fotografien. Malerische Portraits weisen materiale Spuren des Gemachtseins auf. Ihre sichtbare Materialität verbindet sie mit dem Gesicht, von dem sie ein Bild geben. Fotos präsentieren glatte Oberflächen, an denen Spuren der Zeit ebenso abzuperlen scheinen, wie Züge des Vergangenen eingefroren wirken. Zum Teil arbeitet Dix mit grellen Farben, beißenden Kontrasten und manchmal grotesken Zuspitzungen. Unterschiede zu fotografischen Portraits könnten, auf den ersten Blick, kaum größer 295 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Fotografische Reihen

sein. Zweifel an dieser Einschätzung melden sich jedoch, wenn der typisierende Stil in Betracht gezogen wird, mit dem Dix seine Modelle darstellt. In seinen Menschendarstellungen zeigt er grelle Portraits der Weimarer Gesellschaft. Rohe sexuelle Begierden, deformierte Körper, Kriegskrüppel, Prostituierte, Ermordete, Selbstmörder, Vergewaltiger, alte Frauen, Intellektuelle, Kunsthändler oder, wie auch Sander ihn fotografiert hat, einen Dienstmann, präsentiert Dix in charakterisierenden Überzeichnungen von Merkmalen und Zügen. Beschönigend ist keines seiner Portraits, im Gegenteil, manche gleichen eher Totenfratzen und sich auflösenden Körpern als Bildern lebender Personen. Harsche Gesellschaftssatire steckt in diesen Arbeiten ebenso wie ein zarter Blick für die Versehrbarkeit des menschlichen Körpers. In der Breite seiner Auswahl der Dargestellten zeigt sich durchaus ein Panorama der Gesellschaft. Allerdings fällt es drastischer und extremer aus als bei August Sander. Ein Beispiel bietet sich für einen Vergleich der Bildstrategien von Sander und Dix besonders an: das Portrait der Journalistin Sylvia von Harden, das Dix 1926 malt. 48 Bereits auf den ersten Blick fallen Parallelen zu Sanders androgynen Frauenfiguren auf. Sylvia von Harden sitzt, in rot-schwarz gemustertem Kleid, in leicht verdrehter Pose auf einem goldverzierten Stuhl, links neben sich einen kleinen Cafétisch mit runder Marmorplatte, in der Hand eine Zigarette. Cocktailglas und geöffnete Zigarettenschachtel nebst Streichhölzern befinden sich auf der Tischplatte. In beißendem Kontrast zum Rot ihres Kleides steht das pastellige Rot der Wände, die sich in der Raumecke durch die Lichtführung seltsam nach innen zu falten scheinen. Die Glutspitze der Zigarette markiert das Bildzentrum. Ziehen wir eine Diagonale von links oben nach rechts unten, schneidet sie die Linie des Unterkiefers der Dargestellten und separiert ihren Kopf vor dem blaßroten Hintergrund. Sylvia von Hardens Kopf wird durch ihre lange spitze Nase, große Ohren, ein riesiges Monokel im rechten Auge, dunkelrot geschminkten Mund und nach vorn gekämmte Herrenfrisur charakterisiert. Ihre Hände zeigt Dix stark vergrößert. Während der Rumpf merkwürdig lang ist, wirken die Beine kurz. Vom rechten Bein, über das Sylvia ihr linkes geschlagen hat, rutscht ein Strumpf. Zeigt dieses Bild eine Karikatur weiblicher Intellektueller der Weimarer Gesellschaft? Ein Spenglersches »Ibsenweib« also? Oder lernen Betrachter eine individuelle Person trotz – oder wegen – der Übertreibungen in 48

Bildnis der Journalistin Sylvia von Harden. Mischtechnik auf Holz, 120 mal 80 cm.

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Wirkliches und Symbolisches

der Darstellung kennen? Erscheint gar, um August Sanders Vorhaben in den Vergleich zu ziehen, ein Individuum als Typus? Vielleicht sehen wir zugleich mehr Individuelles und mehr Typisches als bei Portraits von August Sander, weil Dix den Typus einerseits aus dem Modell und andererseits aus Widersprüchen gesellschaftlicher Sichtweisen und Erwartungen heraus entwickelt. Womöglich vermag die Malerei das in einer differenzierteren Weise zu tun als die Fotografie, da sie ihren Gegenstand zu deformieren versteht. Gegenstandsformen sind in der Malerei variabler als auf Fotografien. Malerische Portraits vermögen auf andere Weise Bewegungsbilder zu sein als Fotografien. Francis Bacons Papst-Portraits, in denen er den Dargestellten zu einem Diagramm aus Farb-FormVektoren verwandelt und in einem schreienden Mund verdichtet, liefern dafür eindrückliche Beispiele. 49 Dix bevorzugt Modelle, die er nicht kennt. Auch er möchte mit seinen Bildern Zeitdiagnosen anfertigen. 50 Distanz, die er gegenüber seinen Modellen pflegt, drückt sich in dem Blick aus, den er in Sanders Portrait von sich selbst inszeniert. Im Portrait der Journalistin beginnen die typisierenden Elemente bei den Gegenständen: Café, Cocktail und Zigaretten bezeichnen das Leben von Intellektuellen. Frisur, Monokel und Lippenstift zeigen im Kontrast ein Spiel mit sexuellen Unterscheidungen, Zuschreibungen und Attributen, was auf das Selbstbewußtsein einer Person hinweist, die weiß, wie sie sich zeigt. Demgegenüber deutet der verrutschte Strumpf auf eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber solchen Inszenierungen hin, was wiederum gedankenschwerer Intellektuellenarbeit entsprechen mag. Möglicherweise wäre eine Sekretärin beim Rundfunk über ihren verrutschten Strumpf bestürzt und eine Industriellengattin verzweifelt. Auch das Kleid entspricht in seinem unförmigen Zuschnitt keineswegs einer körperbetonten Modelinie. Dix’ Bild organisiert ein Ensemble von Widersprüchen: angefangen von den Raumproportionen über die verdrehte Bewegung der Figur, die Verzerrung der Proportionen ihrer Gliedmaßen oder dissonante Farbkontraste bis zu ihrem Alleinsein in einem Café. Ist der Typus einer

Vgl. Rustemeyer, D.: Diagramme. Weilerswist 2009, S. 73 ff. Vgl. zur Portrait-Auffassung von Otto Dix und zum Entstehungskontext dieses Bildes Fuchs, M.: Porträt als Rollenspiel? Anmerkungen zu drei Porträts aus den 20er Jahren. In: Dix. Hrsgg. v. W. Herzogenrath und J.-K. Schmidt. Katalog zur Ausstellung in der Galerie der Stadt Stuttgart vom 4. 9. bis zum 3. 11. 1991 sowie in der Nationalgalerie Berlin vom 23. 11. bis zum 16. 2. 1992. Stuttgart 1991, S. 205–207.

49 50

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Fotografische Reihen

weiblichen Journalistin in der Weimarer Gesellschaft widersprüchlich? Machen Beobachter sich eine solche Vorstellung? Und doch erfassen Betrachter in der Figur ein Individuum. Die Gestalt der Frau ist so prägnant und so individuell, daß wir meinen, sie in einer zugleich geistig-sprechenden wie körperlichen Bewegung zu beobachten. Wir sehen immer auch Typisches: Café, Zigarette oder Frisur, aber wir sehen zugleich, daß diese typischen Formen eine Individualität tragen, beschreiben und unterstreichen. Weil die Malerei nicht die gleiche Weise der Ähnlichkeit ins Spiel bringt wie die Fotografie, die suggeriert, ein Abdruck der Dinge selbst zu sein, werden die Züge des gemalten Modells um so individueller, je weniger fotografisch genau sie sind. Person und gesellschaftliche Position werden in einer derart verdichtenden Darstellung als Form des Individuellen unterscheidbar. Diese Unterscheidbarkeit realisiert sich im Blick auf das Portrait, das Unterscheidungsordnungen entziffern läßt, die der Maler seiner Darstellung zugrunde legt. Wie die Portraitierte sich zeigt, wie sie der Maler sieht, und wie Betrachter beobachten, wie der Maler sein Bild anlegt, fügt sich zu einer Darstellungsordnung, deren Prägnanz in der Artikulation der Frage nach dem Individuellen der Person zutage tritt. Das Allgemeine des Individuellen resultiert aus dem nichtindexikalischen Charakter der Malerei. Subjektiver Blick und Materialität der Form verhindern fotografische Ähnlichkeit. Desto mehr Charakteristisches als Gemachtes lassen sie sehen. Otto Dix macht als Entscheidung sichtbar, wie Individuelles und Typisches im Bild einer Person zu unterscheiden und zu vergleichen sind. Gilt das nicht auch von nichtkünstlerischen Weisen, sich ein Bild von jemandem zu machen? August Sander hofft, daß diese Verbindung sich qua Natur im Gesicht selbst ausdrückt und im Charakter der Fotografie wiederholt werden kann. Otto Dix lenkt durch seine Darstellungsform den Blick darauf, daß Bilder gerade dann Wirkliches zu zeigen vermögen, wenn sie Reflexionen auslösen und Symbole werden. Dann entfalten sie Exemplarisches im Realen und Besonderen. Von einem Typus, der als Gedachtes dem Konkreten ordnend zur Seite tritt, bleibt Exemplarisches verschieden.

3.2

Allgemeines und Typisches

Ist der Kontext der Form im Falle des Portraits und dessen Reihung für eine Prägnanz der Form entscheidend, lohnt es zu fragen, was 298 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Wirkliches und Symbolisches

durch die Grenze, die der Kontext zieht, ausgeschlossen bleibt. Leo Rubinfien hat darauf hingewiesen, daß Sanders »Menschen des 20. Jahrhunderts« seine systematische Bedeutung vor allem im historischen Rückblick – durch die zeitliche Verschiebung des Kontextes, in dem diese Portraits angeschaut werden – erlangt. Sander fotografiert Gewöhnliches in – retrospektiv betrachtet – ungewöhnlichen Zeiten. Gesellschaft und Kultur der Weimarer Republik sind durch vielfältige Umbrüche, Verwerfungen und Übergänge charakterisiert. Retrospektiv werfen seine Fotografien die Frage auf, was aus diesen Menschen geworden ist. Was widerfuhr ihnen im Dritten Reich? Welches Schicksal war ihnen im Krieg beschieden? Wären sie alt genug geworden und hätten die Nachkriegszeit miterleben können – was hätten sie zu ihren eigenen Portraits gesagt, die nach 1945 als Meilensteine der Fotografiegeschichte gelten? Scheinbare Nachteile einer typisierenden Darstellung der Personen verwandeln sich unter dieser Perspektive womöglich in einen Vorzug: Sanders Bilder zeigen weniger das Allgemeine der Gesellschaft in der Physiognomie des Individuums als Modelle der Inszenierung von Sichtbarkeit. Sanders Verzicht auf alles Investigative oder Demaskierende, seine Distanz zu jeder Art der Karikatur im Typus, hebt in seinen Fotografien Typen der Sichtbarkeit hervor. »Sander always lets his subjects wear their masks, and even the children do; he never tries to lift the skirt or sneak the curtain aside.« 51 Fragen der Sichtbarkeit verbinden die Fotografie ebenso mit der Malerei wie mit der Soziologie. Personen, die sich portraitieren lassen, möchten gesehen werden. Individuelles der Person erschließt sich weniger über die besonderen Möglichkeiten der Fotografie, einen Index des Wirklichen zu liefern, als über den Vergleich der Formen des Sichtbaren in kulturellen Typisierungen. Wirklich wird die Form durch den Kontext der Form, weniger durch Analogien zum Wirklichen, von dem Darstellungen ihren Ausgang nehmen. Für fotografische Zeichen gilt das ebenso, obgleich ihnen ein Nimbus besonderer physikalisch-chemischer Nähe zu ihrem »Objekt« zugeschrieben wird. Sanders Projekt, nicht nur Herrschaftsportraits anzufertigen, sondern das Format des Portraits Personen aus allen Schichten zugänglich zu machen, ist ein Schritt dahin, jedem Menschen »sein« Bild verfügbar zu machen. 52 Um welchen Typus es Rubinfien, L.: The Mask Behind the Face. In: Art in America, June/July 2004, No. 6, S. 83–105, hier S. 96–105. 52 Andy Warhols Kunst steht in dieser Hinsicht in der Tradition August Sanders. 51

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Fotografische Reihen

sich dabei handelt, ist eine Frage, die sich in erster Linie dem Betrachter stellt. Er muß vergleichen und im Vergleich Fragen nach Ähnlichkeit und Verschiedenheit stellen. Ob sich dabei allgemeine Formen herauskristallisieren, bleibt offen. Meldet das Allgemeine der Form sich darin, Grenzen der Elemente einer Reihe bei maximaler Schärfe im Detail unscharf zu lassen, gewinnt es Prägnanz in der Fortsetzung der Reihe. Solange eine Reihe fortgesetzt werden kann, bestätigt sie ihre Wirklichkeit. Wie eine Reihe fortzusetzen wäre, entscheidet sich im Blick auf den Kontext der Form. Reihen gleichen Operatoren, die performative Verwechslungen der Form stimulieren. Allgemeines erscheint als Frage und weniger als Telos. Performative Formen wären als solche zu betrachten, bei denen Form und Kontext operativ verwechselbar bleiben, weil es keinen Operator gibt, der außerhalb der Formelemente einer Reihe bleibt, die er reguliert. Bei Sanders Typologie steht die Konstruktionsregel manchmal im Konflikt mit materialen Formen innerhalb der Reihe. Das Allgemeine einer Reihe wäre ein operables Konkretes: Allgemein ist etwas, wenn es hinreichend konkret bleibt oder wird, um in Reihen unterschieden, wiederholt oder transformiert zu werden. Allgemeines »ist« eine operative Qualität oder es »ist« die performative Form des Unterscheidens. Indem August Sander den Wunsch einer Person, ein Bild von sich zu besitzen, im Format des fotografischen Portraits dem Prinzip nach auf »jedermann« in der Gesellschaft ausweitet, fordert er Fragen nach den Möglichkeiten von Vergleichen heraus. Malerei, Fotografie, Soziologie oder Philosophie kommen darin überein, Fragen nach der Logik des Vergleichens und der Ordnung der Form zu stellen. Als kulturelle Praktiken der Reflexion des Gewöhnlichen werden sie miteinander vergleichbar. Bilderreihen besitzen den Vorteil, eine paradoxe Form der Zeit vorzuführen: Zeit begegnet zum einen in der Sukzession der Wahrnehmung von einem Reihenelement zum nächsten. Zum anderen realisiert sie sich in der Simultaneität der unterscheidbaren Formen und in der Erwartung der Fortsetzung der Reihen. Wahrnehmung gewinnt eine »Dauer«, in der sich Erwartung und Gesehenes allmählich zu Gestalten verdichten können. Dazu bedarf es einer Vergleichbarkeit der Bilder und Reihen ihrer Anordnung. Walter Benjamins Faszination durch August Sanders Portraits hebt, ungeachtet ihrer Berechtigung in der Sache, ein Phänomen insbesondere der modernen Gesellschaft hervor: Gesellschaftliche Wirklichkeit ist nicht nur in kommunikativen Verkettungen fundiert, die der 300 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Wirkliches und Symbolisches

Wahrnehmung weitgehend entzogen bleiben. Ohne Fundierung in gestalthaften Sinnformen, die sich der Wahrnehmung aufdrängen und anbieten, kämen auch kommunikative Anschlüsse kaum zustande. Solche Gestalten sind nicht auf Bilder im engeren Sinne beschränkt, doch verweisen sie auch auf visuelle Ordnungen. Physiognomien der Zeit, wie Benjamin sie ins Auge faßt, verknüpfen verschiedene Zeichenkomplexe miteinander. Bilder gehören ebenso dazu wie semantische Plausibilitäten und geschichtliche Zusammenhänge, Konventionen wie Moden oder technische Artefakte, Weisen des sozialen Umgangs und Konflikte. Im Laufe der Zeit verschieben sich deren Prägnanz und Bedeutung. Aufmerksamkeit verdienen Funktionsweisen symbolischer Ordnungen, mit deren Hilfe Unterscheidungen getroffen und Formen kontextualisiert werden. Bilder eignen sich vielleicht besser als Texte dazu, auf einen Blick die Prägnanz einer Gestalt auch an komplexen Gegenständen zu erfassen. Erst wenn Form im Vollzug der Operation realisiert wird, zeigen sich Schärfen oder Unschärfen zwischen Elementen der Reihe. Es bleibt Aufgabe eines Betrachters, sich als Instanz einer performativen Realisierung des Potentials einer Formreihe mit in das Spiel der Unterscheidungen einzubeziehen. Was im Vergleich der Formen hervortritt, ist nicht kategorial bestimmt. Kategorien markieren Formen, die auf vorausgesetzte Kontexte verweisen. Möglichkeitsordnungen legen sich durch Vergleichsoperationen nahe. Portraits verbinden Unterscheidungstexturen: Hier geht es um Personen, deren Identität zugleich individuell und sozial bestimmt ist; es geht um Bildartefakte, die auf eine außerbildliche Wirklichkeit, andere Bilder und wechselnde Betrachter verweisen. Personen gleichen Gegenständen – wie Fördertürmen – darin, daß sie als Sichtbares der Darstellung zugänglich sind – und doch in bloßer Sichtbarkeit verborgen bleiben. Epistemisch erschlossen – unterschieden und reflexiv vergleichbar – wird »Wirklichkeit«, wenn sie nicht indexikalisch abgebildet oder kategorial definiert, sondern in eine operative Reihe von Unterscheidungsformen transformiert wird. Individualität wäre Zeichen der Wirklichkeit als unscharfe Grenze innerhalb möglicher Kontexte des Unterscheidens. Ausbestimmungen einer Form blieben empirisch unmöglich. Sie wären das Ende der »Welt«.

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Ästhetische Evidenz

1.

Zeigen: Ludwig Wittgenstein

Folgt Rechnen einer Notwendigkeit? »Die Wahrheit ist«, antwortet Ludwig Wittgenstein, »daß das Zählen sich bewährt hat.« 1 Um zu verstehen, was Mathematiker tun, gilt es, Gebrauchsweisen mathematischer Zeichen zu betrachten. Nach einer Logik des Logischen oder einer Regel der Regeln zu suchen, bliebe aussichtslos. Gleichwohl entfalten mathematische Regeln zwingende Kraft. Wittgensteins »Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik« helfen, Begriffe der Form, Notwendigkeit, Regel und Grenze als zugleich empirische und logische Unterscheidungen zu verstehen. Wittgenstein entwickelt seine Gedanken, indem er zeigt, statt zu begründen. Praktiken des Zeigens fundieren eine andere Vorstellung von Logos. Beobachtungen zur Bildlichkeit des Mathematischen als einer symbolischen Praxis ergänzen Analysen zur Ordnung des Sprechens. Wittgensteins »Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik« und seine »Philosophischen Untersuchungen« verfolgen komplementäre Aspekte einer Diagrammatik des Zeichengebrauchs. Füreinander wirken sie jeweils wie Form und Kontext; sie erhellen einander wechselseitig. Reihe und Bild, Zahlen und Sätze führen sie als semiotische Praktiken eingewöhnter Welterschließung vor. Evidenz erweist sich als zugleich praktisches – weil in Gewohnheiten fundiertes – und ästhetisches – weil sich anschauend an qualitativ Erscheinendem vollziehendes – Phänomen. »Zeigend« entfaltet sich ein Logos in gemeinsamer Praxis. Kern dieser Praxis ist es, Verschiedenes ähnlich zu machen und Vergleiche anzubahnen. In den »Philosophischen Untersuchungen« widmet Wittgenstein sich der Funktionsweise von Worten und Sätzen im Gebrauch. Wittgenstein, L.: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik (1956). Werkausgabe Bd. 6, Frankfurt/M. 1989, I, 4, S. 37.

1

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Zeigen: Ludwig Wittgenstein

Das »Verstehen« von Sprache wird hier am Beispiel einer »Zahlenreihe« erläutert. Jemand lernt, die Reihe der natürlichen Zahlen anzuwenden. Zunächst die Hand des Schülers führend, zeigt der Lehrer, wie die Ziffern von 0 bis 9 geschrieben werden. Für das Einüben der Regel sind handgreifliche Bewegungen, mit denen das Lernen einsetzt, nicht bedeutungslos. Was scheinbar seinen Ort im Denken hat – das Rechnen – bleibt in habituellen Dispositionen fundiert. Nun soll der Schüler die Reihe nachschreiben. Verstehen hängt davon ab, ob der Schüler das Beispiel nicht bloß kopiert und die Zeichenreihe immer wieder abschreibt, sondern die Reihe irgendwann selbständig fortsetzt. »Und hier können wir uns, z. B., denken, daß er nun zwar selbständig Ziffern kopiert, aber nicht nach der Reihe, sondern regellos einmal die, einmal die. Und dann hört da die Verständigung auf. – Oder aber er macht ›Fehler‹ in der Reihenfolge. – Der Unterschied zwischen diesem und dem ersten Fall ist natürlich einer der Häufigkeit. – Oder: er macht einen systematischen Fehler, er schreibt zum Beispiel immer nur jede zweite Zahl nach …« 2 Woran zeigen sich Unterschiede zwischen zufälligen und systematischen »Fehlern« in der Fortsetzung einer »Reihe«? Wittgenstein meint, daß überhaupt »keine scharfe Grenze« zwischen ihnen existiert. 3 Bleiben Grenzen zwischen »richtigen« oder »falschen« Variationen einer Reihe unscharf, kann es nicht darum gehen, von einer »richtigen« Reihe den absoluten Grund einzusehen. Eine Praxis ist zu erlernen, die von denjenigen als verständig akzeptiert wird, die sie bereits ausüben. Lehrer stellen Schülern ein »Bild vor (…) Augen«, von dem sie hoffen, es finde bei Lernenden »Anerkennung«. Zeigen bedeutet, Anschauungsweisen zu prägen und Vergleiche zwischen »Bildern« anzuregen. »Ich wollte dies Bild vor seine Augen stellen, und seine Anerkennung dieses Bildes besteht darin, daß er nun geneigt ist, einen gegebenen Fall anders zu betrachten: nämlich ihn mit dieser Bilderreihe zu vergleichen. Ich habe seine Anschauungsweise geändert. (Indische Mathematiker: ›Sieh dies an!‹)« 4 Was für Zahlenreihen gilt, wiederholt sich in der Ordnung der Sprache. Worte zu verstehen heißt, Verwendungszusammenhänge mit unscharfen Grenzen kennenzulernen. Auch solche Kontexte betrachtet WittgenWittgenstein, L.: Philosophische Untersuchungen (1958). Frankfurt/M. 1977, I, 143, S. 93 (Hervorhebungen im Original). 3 Ebenda. 4 Ebenda, I, 144, S. 93 f. (Hervorhebungen im Original). 2

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Ästhetische Evidenz

stein als Bilder. »Was ist es denn eigentlich, was uns vorschwebt, wenn wir ein Wort verstehen? – Ist es nicht etwas, wie ein Bild? Kann es nicht ein Bild sein?« 5 Für ein »An sich«, ein »Apriori« oder eine »Wahrheit« der Reihe oder Regel besteht kein Bedarf: »Der Satz: ›es ist wahr, daß das aus diesem folgt‹, heißt dann einfach: das folgt aus diesem.« 6 Weder manifestieren sich im Schließen eine reine Logik noch eine apriorische Synthesis. Praktische, zeitlich und sozial bewährte, mit konkreten Zeichen durchgeführte Unterscheidungen werden vollzogen. 7 Zwingen Bilder Verwendungsweisen auf? Für Praktiken, die an Zeichenordnungen geknüpft, in Wahrnehmungsweisen fundiert und in Tätigkeiten verankert sind, ergibt eine Logik der Bilder wenig Sinn. Kraft, Verschiedenes ähnlich zu machen, gewinnen auch Bilder im Gebrauch. Es sind Funktionen, die unterscheiden und Unterschiedenes ordnend zusammenbringen. Zeichenordnungen, deren Schlüssigkeit in ihrer Reihenform besteht wie die Zahlenreihe, sind weder Vorstellungsbilder von der Notwendigkeit einer evidenten Allgemeinheit, noch handelt es sich um Repräsentanten von Gegenständen. Bilder überzeugen als Praktiken, Verschiedenes vergleichbar zu machen. Beweiskraft erlangen sie durch Anwendungsmöglichkeiten. Ohne Vergleiche entsteht leicht der Eindruck logischer Notwendigkeit. »Unser ›Glaube, das Bild zwinge uns zu einer bestimmten Anwendung‹, bestand also darin, daß uns nur der eine Fall und kein anderer einfiel.« 8 Fehlen praktische Anwendungskontexte für symbolische Formen, springt uns das Zeichen in seiner Nacktheit entgegen: Wir wissen nicht, wie das Wort- oder Zahlbild funktioniert, denn das Bild eröffnet keine Vergleiche. 9 Bilder fordern dazu auf, sie zu benutzen. 10 Wittgensteins Sichtweise auf den Gebrauch von Zeichen löst das Geheimnis der Synthesis in Praktiken des Ähnlichmachens auf. Rückgriffe auf universelle Strukturen sind überflüssig, wenn es einzusehen gilt, wie Welt sich in Zeichenordnungen gliedert. Urteile resümieren weniger, indem sie Verschiedenes zur Einheit zusammenEbenda, I, 139, S. 89 (Hervorhebung im Original). Wittgenstein, L.: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. A. a. O., I, 5, S. 38. 7 Vgl. ebenda, I, 6, S. 39. 8 Ebenda, I, 140, S. 90 f. 9 Vgl. Ebenda, I, 349, S. 174 f. 10 Vgl. ebenda, I, 425, S. 199. 5 6

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Zeigen: Ludwig Wittgenstein

fassen, als daß sie Vergleiche eröffnen und Unterscheidungsreihen stimulieren. »Logische« oder mathematische Operationen werden mit »ästhetischen« – bildlichen oder gestischen – Operationen vergleichbar. Wittgenstein zeigt Mathematisches als Bild. Logik und Praxis, Denken und Wahrnehmen erscheinen als miteinander verschränkt. Grammatische oder logisch-mathematische Regeln bleiben mit Gebrauchsweisen verschmolzen. Jemand »sieht« eine mathematische Reihe ein, wenn er »schließt« oder »fortfährt«. 11 Ebenso versteht und beherrscht er ein »Sprachspiel«. Erklären gleicht einem Zeigen, das Vor-Bild derjenigen Praxis ist, die es erläutert. Im Verstehen »drängt« sich ein »Bild« auf. Mathematik erweist sich als diagrammatische Praxis. Form und Bild sind zugleich kognitive wie ästhetische Phänomene. Am Phänomen der Grenze im Kontext einer Regel wird das deutlich. Regeln bahnen Unterscheidungen an und machen ähnlich, was außerhalb der Regel keinen Ort besitzt. »Und ferner sage ich, daß die Grenze zwischen dem, was wir noch ›denken‹ und dem, was wir nicht mehr so nennen, so wenig scharf gezogen ist, wie die Grenze zwischen dem, was noch ›Gesetzmäßigkeit‹ genannt wird und dem, was wir nicht mehr so nennen.« 12 Unschärfen erzeugen das Was-sein – das Wesen – einer Form und gehen Hand in Hand mit der Bestimmtheit eines Etwas. »Der Mathematiker erzeugt Wesen.« 13 »Wesen« besitzen praktisch zwingende Kraft, Operationen des Unterscheidens zu verknüpfen. Darin sind sie aristotelischen Substanzen ähnlich, deren Funktion darin besteht, in Aussagen als Referenz für Eigenschaften aufzutreten. Begründen lassen sie sich nicht, »gründen« sie doch in einer Evidenz des Tuns. Je mehr Eigenschaften oder Referenzen sie versammeln, desto »realer« – mächtiger – erscheinen sie. Anstatt nach Gründen zu suchen, die vor oder über einer Praxis angesiedelt wären, auf die sie sich regelnd beziehen, zeigt, wer eine Regel »erklärt«, wie sich etwas unterscheiden und verknüpfen läßt, das durch die Reihe unterschieden wird. Evidenz verlagert sich aus dem Kontext einer Philosophie des Bewußtseins in denjenigen einer Praxis, bei der es darum geht, Operationen anhand bestimmter Zeichenformen durchzuführen. Zwischen mathematischen, sprachlichen oder bildlichen Zeichen bestehen Unterschiede, die sich aus der Art der Zeichen und der Pra11 12 13

Vgl. ebenda, I, 14, S. 42 f. Ebenda, I, 116, S. 80. Ebenda, I, 32, S. 50.

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Ästhetische Evidenz

xis ihrer Verkettung erklären. In jedem Falle werden Regeln durch Zeigen gelernt. Wort, Zahl und Bild sind nicht dasselbe, aber, als Zeichen, familienähnlich. Ähnlichkeiten, Reihen und Vergleiche organisieren Beispiele auf jeweils andere Weise. Als graduelles Phänomen entsteht Bestimmtheit durch Praktiken des Unterscheidens. »Schlüssigkeit« wird dem Erfinden ähnlich. »Der Mathematiker ist ein Erfinder, kein Entdecker.« 14 Beweise gleichen Bildern, in denen Wahrnehmung mit Denken und Praxis zusammenfallen. Sie zeigen, »daß« etwas ist, indem sie zeigen, »wie« es ist. Sie ähneln einer »Richtschnur«, an der Prozesse sich ausrichten, die, wie Bilder, Ähnlichkeit erzeugen und Ähnliches vergleichbar machen. Solche Bilder sind dynamisch und prinzipiell unabschließbar. Wittgenstein geht so weit, Beweise mit kinematographischen Bildern zu vergleichen: »Wenn ich sage ›der Beweis ist ein Bild‹ – so kann man ihn als kinematographisches Bild denken.« 15 Derartige Bilder sind »vorbildlich«, insofern sie als Beispiele und Aufforderungen dafür dienen, neue Unterscheidungsoperationen zu vollziehen. Anschlüsse gleichen dem Film-Bild, weil sie ähnlich wie Montagen funktionieren. Das Vorbildliche des Bildes wird in der Gewohnheit des Urteils verankert. Zwischen der Grammatik von Sätzen, mathematischen Regeln und bildlichen Formen bestehen Ähnlichkeiten ohne Identität. Mathematische Beweise, geometrische oder künstlerische Bilder und sprachliche Ausdrücke erzeugen Erkenntnisse durch eine jeweils andere Art der Evidenz. Obwohl sie sich in der Explizitheit der Regeln, die sie entfalten, unterscheiden, können sie jeweils paradigmatisch sein. Wittgenstein führt den gleichen Gedanken am Beispiel der Mathematik vor: »Der Beweis konstruiert einen Satz; aber es kommt eben darauf an, wie er ihn konstruiert.« 16 Form und Erscheinung, Regel und Praxis, Denken und Handeln, Zeichen und Materialität verschmelzen zu Gestalten ästhetischer Evidenz, in deren Licht ein klassisches Verständnis des Logischen abstrakt anmutet. Wirksam wird Evidenz dadurch, daß »ich durch die Konstruktion eines Zeichens die Anerkennung eines Zeichens erzwinge.« 17 Beweise zeigen ihre diagrammatische Natur in der Kongruenz von Form und Voll14 15 16 17

Ebenda, I, 168, S. 99. Ebenda, III, 22, S. 159. Ebenda, III, 28, S. 164. Ebenda, III, 29, S. 164.

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Leben: Georg Simmel

zug, Logik und Ästhetik: »Nicht etwas hinter dem Beweise, der Beweis beweist.« 18 Formen sind Möglichkeiten ihrer Transformation in Reihen von Unterscheidungen. Es sind Varianten ihrer Kontexte, wie Kontexte Varianten der Form sind. Eigenschaften »sind« Transformationsmöglichkeiten – weder fest noch zeitüberdauernd, prozessual, imaginär und singulär. Sofern Unterscheidungspraktiken etwas bestimmen, indem sie es ähnlich machen – und nicht bloß Identisches wiederholen wie ein unverständiger Schüler, der die Zahlenreihe immer wieder kopiert –, beweist die Synthesis ihre Kraft der Evidenz in der metaphorischen Qualität einer Übersetzung von Bestimmungen. Bestätigung finden Regeln im Neuen, das sie als Verschiedenes ähnlich machen. Metaphorische Verschiebungen beschreiben lebendige Reihen, wenn sie Wiederholungen von Formen mit der Verschiebung des Kontextes verknüpfen. Logik »ist« Form der Praxis, etwas zum Erscheinen zu bringen – keine Ordnung über oder hinter der Ordnung. »Unsere Krankheit ist die, erklären zu wollen.« 19 Begriffe gleichen Praktiken wie Zahlen und Zählen. »Begriff ist etwas wie ein Bild, womit man Gegenstände vergleicht.« 20

2.

Leben: Georg Simmel

2.1

Individuelles Gesetz

Georg Simmels soziologisches Interesse an der Frage des Zusammenhangs von Zeit und Form führt ihn zur Beschäftigung mit Fragen der Reihe und des Gesetzes. Exemplarisch treten ihm diese Probleme an Rembrandts späten Portraits vor Augen. Epistemisch-logische Fragen analysiert Simmel am Beispiel von Bildern. In Bildern – speziell in Portraits – erlangen Fragen des Schließens und der Evidenz eine Signifikanz, die weit über das engere Feld der Logik oder Mathematik hinausreicht. Verhältnisse zwischen Gesetz, Allgemeinem und Besonderem lassen sich am Beispiel bildlicher Evidenz entfalten. Rembrandts Portraits gelten Simmel als Modelle zur Erkenntnis dessen, was er ein »individuelles Gesetz« nennt. Die Figur des individuellen 18 19 20

Ebenda, 42, S. 173. Ebenda, 31, S. 333. Ebenda, 71, S. 433.

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Ästhetische Evidenz

Gesetzes wiederum reformuliert klassische Fragen nach dem Wassein eines Etwas, dem Sein der Form und dem Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem. Im Blick auf das Portrait, in dem Simmel einen Spiegel der modernen Kultur und ihres Phänomens von Individualität erblickt, entwickelt er eine soziologische Antwort auf die aristotelische Frage nach der Form. Jedes Etwas begegnet jemandem in der Gegenwart seines Erscheinens. Im Portrait wird das unmittelbar deutlich. Dargestellte Personen präsentieren sich dem Blick des Betrachters im Jetzt des Sehens. Dennoch steht ihre Erscheinung für eine seelische und physische Komplexität, die keine Gegenwart des Bildes je ausschöpft. Das Portrait »ist« nicht die Person, die es darstellt. Simmel fragt, was die Form des Bestimmten ist: Geht es um eine allgemeine Bestimmtheit, die über der Reihe ihrer empirischen Zustände existiert? Gleichen Formen zeitlosen Ideen? Sind es Abstraktionen? Ist Zeitlosigkeit notwendige Eigenschaft der Form, weil Form eben Differenz der Identität gegenüber dem Wechsel der Zustände meint? Fallen Formen aus der Zeit, da an ihnen Zeit sichtbar wird? Wäre darum Zeitloses abstrakt und Abstraktes zeitlos? – Würden Formen als diese Art von Differenz betrachtet, blieben sie von der Reihe phänomenaler Zustände oder Unterscheidungen getrennt wie eine Substanz von ihren Akzidenzen. In der Frage des Portraits, wie Simmel sie entfaltet, melden sich klassische Probleme einer Metaphysik der Form und einer Theorie des Sozialen. Gegenwart und Zeit des Erscheinenden, Materialität und Gestalt des Bildes, Zeit des Dargestellten und Zeit der Beobachtung überlagern einander. Deshalb kritisiert Simmel Zenons Pfeil-Paradox: Die Annahme, ein Pfeil ruhe in jedem Moment seines Fluges, weil er zu jedem Zeitpunkt einen bestimmten Raumpunkt besetzt, hält er nicht für zwingend. Zenons Modell gleiche vielmehr schlechten künstlerischen Darstellungen oder Momentfotografien. Zeitliche Prozesse entstehen nämlich nicht aus Additionen einzelner Momente, sondern als »Hindurchgehen durch räumliche Bestimmtheiten, die, wenn er (der Pfeil, DR) sich eben nicht bewegte, jeweils ›Lagen‹ wären.« 21 So ist es mit dem »Sein« einer Person. Deren Form ist Einheit, die sich in jedem Moment als Ganzheit darstellt: »gespannte Energie«, die sich, in der Darstellung eines bedeutenden Malers wie

Simmel, G.: Rembrandtstudie. In: Ders.: Gesamtausgabe Bd. 13, Frankfurt/M. 2000, S. 26–52, hier S. 33 (Hervorhebung im Original).

21

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Leben: Georg Simmel

Rembrandt, als »erntender Moment« realisiert. 22 In diesem »Moment«, den das Bild in seiner materialen Form darstellt, ereignet sich eine Evidenz, in der Wahrnehmung und Begreifen zusammenfallen. Auf einen Schlag wird die Gesamtheit eines komplexen Prozesses erfaßt. Formen vollziehen prozessuale, energetische Ganzheiten. Jeder ihrer Momente bleibt als Phase durch eine Gegenwart unterschieden, die so wenig wie Momente des Werdens mit scharfen Grenzen fixiert werden kann. Als Ganzes wie als Prozeß erscheinen Formen in je gegenwärtiger Evidenz im »Moment«, der erntend zusammenfaßt, was sich zeitlich entwickelt und im Phänomen versammelt. Darstellungen, die bloß formale Arrangements gleichwertiger Teile zeigen, werden dieser Art von Prozessualität kaum gerecht. Simmel meint, derartige Versuche in italienischen Renaissance-Portraits anzutreffen. Nicht nur formlogisch, auch phänomenologisch hält er solche Darstellungen für verfehlt. Deshalb fragt er nach der Möglichkeit eines »individuellen Gesetzes«. Auf den ersten Blick wirkt der Begriff eines individuellen Gesetzes paradox. Resultiert Allgemeinheit nicht aus ihrer Differenz zum Besonderen? Ist diese Differenz nicht das Allgemeine? Handelt es sich nicht um eine Differenz, die ebenso zeitlicher wie logischer Natur, mithin unhintergehbar ist? Simmel möchte Bestimmtheit nicht als Differenz von Allgemeinem und Besonderem oder zwischen Zeitlosem und Wandelbarem beschreiben. Bestimmtheit macht in seinen Augen das reale Prinzip des Wirklichen aus. Formen in diesem Sinne vollziehen Energie. Sie gleichen vektoriellen Kräften, die in der Bewegung des Bestimmens ihr eigenes Telos ausprägen. Dieses Telos ist keine Allgemeinheit, entfaltet es sich doch als Tendenz im Konkreten. Unabhängig davon existiert es nicht und kann es nicht beschrieben werden. Wirkliche Formen existieren demnach als Prozeß, aber nicht als Reihe. Deshalb stellt Simmel die Energie des »Lebens« begrifflich gegen die Abstraktheit der »Form«. Simmels Überlegungen suchen neue Antworten auf die Aristotelische Frage nach dem Wesen. Im Feld der Portraitmalerei glaubt er eine Analogie dieser logisch-metaphysischen Alternative zu entdecken. Entsprechen Portraits der Renaissance seiner Ansicht nach eher einem metaphysischen Formdenken, drücken Rembrandts Portraits Prozeßvorstellungen aus. Zeigen frühe Portraits logische und abstrakte Beziehungen, die sich wie begriffliche Relationen verhalten, 22

Ebenda, S. 35 und 19.

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Ästhetische Evidenz

stellt Rembrandt dynamische, konkrete und anschauliche Beziehungen dar. Dem Typischen der Renaissance wird nun das Einzige gegenübergestellt. 23 Typus und Individuum erscheinen als zwei Varianten der Bildgestaltung und als zwei Varianten des Problems der Form.

2.2

Bildphänomen

Gottfried Boehm hält Simmels formtheoretische Bildreflexionen für überakzentuiert. Aus kunstwissenschaftlicher Perspektive analysiert er Funktionen des Individuellen in bezug auf Typisierungen und Schematisierungen ebenfalls im Blick auf Traditionen der Portraitmalerei. Sein Blick richtet sich auf phänomenologische Funktionsweisen von Portraits. Habe das gemalte Antlitz sich aus dem weitgehend standardisierten Format eines repräsentativen Schemas erst einmal gelöst, gewinne Individualität einen neuen Wert. Individuelles erscheint als besondere Art des Vollkommenen, nicht als Fehler in einem Muster. 24 Die »Entdeckung der Seele« geht demnach mit darstellungstechnischen Innovationen Hand in Hand. Bilder zeigen Personen nun weniger als Repräsentanten einer sozialen Position denn als Einzelne, die in ihrer Besonderheit auf Allgemeines verweisen. »Wir realisieren die Ähnlichkeit des Dargestellten mit sich, ohne daß wir das Urbild kennen.« 25 Statt einer Repräsentation, die das Einzelne als Fall eines Typus präsentiert, realisiert das Bild eine Selbstähnlichkeit, die über die Reflexion des Betrachters zustande kommt. Bild und Betrachter treten in Verhältnisse komplementärer Bestimmung, bei denen »Innen« und »Außen« einander in der »Person« kreuzen. Im Erscheinenden einer konkreten Darstellung zeigt sich Besonderes als Bestimmtwerden durch Reflexionsleistungen eines Betrachters, der darin zugleich sich selbst bestimmt. Wie kaum ein anderes Sujet der Kunst eignet sich hierfür die Person, begegnet diese doch als Verschränkung von Außen und Innen, Körper und Geist, sozialer Position und Individualität. Personen markieren nicht nur eine Grenze zwischen gesellschaftlicher Kommunikation und BeVgl. ebenda, S. 40 f. Vgl. Boehm, G.: Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance. München 1985, S. 18. – Andy Warhols Siebdruck-Portraits kehren im 20. Jahrhundert dieses Schema wieder um, indem die Individualität eines Portraitbildes nun durch kleine technische Reproduktionsfehler entsteht. 25 Ebenda, S. 28. 23 24

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Leben: Georg Simmel

wußtsein, wie sie mit dem Aufkommen von Organisationen immer offensichtlicher wird. Sie heben auch eine entscheidende Funktion von Darstellungen für die Sichtbarkeit der neuzeitlichen und modernen Kultur hervor, die Georg Simmel dazu bringt, im Blick auf Rembrandts Portraits Fragen nach dem Wesen, der Relation von Besonderem und Allgemeinem oder von Individuum und Typus neu aufzuwerfen. Portraits inszenieren ein Sichtbarkeitsrätsel, das sich im Alltag gesellschaftlicher Kommunikation meist gar nicht bewußt stellt, weil es immer schon habituell beantwortet wird. Dieses Rätsel motiviert August Sanders Fotografie ebenso, wie es Walter Benjamins Bewunderung für Sanders Kunst erklärt. Was die Erscheinung einer Person über ihre geistige Disposition, ihre Leidenschaften, Überzeugungen, sozialen Zugehörigkeiten, Vorlieben und Gewohnheiten sagt, erfassen die meisten Menschen intuitiv und habituell. »Höfliches« Verhalten beruht auf der Kunst des Umgangs mit unscharfen Grenzen zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Sprechen und Meinen in der Kommunikation. Ambivalenzen, wie sie die sich langsam »modernisierende«, auf komplexe Organisationssysteme umstellende und hierarchische Ordnungsformen allmählich abwertende Gesellschaft charakterisiert, drängen sich als Herausforderungen in der Kommunikation ebenso auf wie in der Frage nach dem Was-sein einer Person in der Kunst des Portraits. Für die Öffentlichkeit wird der Umgang mit Bildern von Personen zu einer wichtigen Form der politischen, ästhetischen oder moralischen Kommunikation. Kontrolle über das eigene Bild zu behalten, erscheint bereits Beobachtern wie Gracián als entscheidende Voraussetzung für das Existieren in Gesellschaft. Nur wer stets zu sehen vermag, wie er gesehen wird und sein Gesehenwerden kontrolliert, behält die Möglichkeit, sein eigenes Handeln und das Handeln anderer zu steuern. Er fungiert als Modell, Maler und Betrachter seines eigenen Portraits. »Der ist ein umsichtiger Mann, welcher sieht, daß man ihn sieht oder doch sehen wird.« 26 Gesellschaftlich wie künstlerisch erscheinen Personen als Kreuzungspunkte unterschiedlicher Komplexitätsordnungen, als faszinierende und beunruhigende Knotenpunkte von Kontingenz. Rhetorische Muster wie Düsternis, Ernst, Freundlichkeit oder Lächeln geben zunächst heuristische Schematisierungen an die Hand, mit denen InGracián, B.: Handorakel und Kunst der Weltklugheit (1647). Stuttgart 1992, Nr. 297, S. 124.

26

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Ästhetische Evidenz

dividualität sich künstlerisch darstellen läßt. 27 Die Bestimmtheit des Individuellen verdankt sich einer bestimmten Unbestimmtheit, deren Erscheinung Leistung der Darstellung wird. »Die zunehmende Verschmelzung von Handlung und Charakter, in der sich beide verändern, ist ein für die Geschichte des Porträts entscheidender Vorgang. (…) Die Porträtindividuen erkaufen sich ihre Existenz um den Preis eines vieldeutigen und unbestimmten Verhältnisses zur Handlung. Was in narrativen Bildern nacheinander erzählt wird, verdichtet sich jetzt zur Person.« 28 Von Lotto über Tizian und Tintoretto bis zu Rembrandt, Rubens oder El Greco entdeckt Boehm einen Prozeß der Vergeschichtlichung des Individuellen. Indem die Form des Individuellen als Spur der Zeit erscheint, treten typologische Charakterisierungen zurück. 29 Betrachtet Boehm italienische Portraits des 15. und niederländische Portraits des 17. Jahrhunderts wie Pole eines Kontinuums, das Möglichkeiten der Bearbeitung der Frage, wie Personen darzustellen seien, aufspannt, akzentuiert Simmel Kontraste, die Rembrandt ins Feld der Portraitmalerei einführt. Ihn interessieren Portraits nicht nur als kunsthistorische Phänomene. An ihnen glaubt er das Problem eines soziologischen Individualismus ablesen zu können. In gewisser Weise ist Simmels Interesse demjenigen von Boehm ähnlich: Beide erblicken im künstlerischen Bild der Person eine Reflexionsform auf die gesellschaftliche Konstitution von Individualität. Schärfer als Boehm zieht Simmel aus dieser Beobachtung eine metaphysisch dimensionierte methodische Konsequenz: Kern des Wirklichen ist das Individuelle, und Individuelles hat, als Wirkliches, sein eigenes Gesetz.

2.3

Telos

Doch stützt Simmel sich nicht nur auf formlogische Argumente. Er glaubt, im Wandel der Portraitmalerei einen Formwandel der Gesellschaft zu entdecken. Typische Bilder, wie die Renaissance sie von Menschen verlangt und erzeugt hat, spiegeln aus Simmels Perspektive kommunikative Bedürfnisse einer Gesellschaft wider, die den Ein27 28 29

Vgl. Boehm, G.: Bildnis und Individuum. A. a. O., S. 71. Ebenda, S. 97. Vgl. ebenda, S. 177, 196 f.

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Leben: Georg Simmel

zelnen dadurch als Individuum behandelt, daß er in Vergleichsordnungen wie Ahnentafeln oder soziale Ränge eintritt. Einzelne gehören selbst im Bild, das sie als Einzelne darstellt, einem Typus an, weil die Gesellschaft der Renaissance Individualität im Verhältnis von Element und Reihe unterscheidet. Individuelles ist Typisches, indem es Element einer Reihe wird. Hingegen zeigt Rembrandt in Simmels Augen Menschen, deren Individualität jedem Vergleich entzogen ist. »Sie wird … gar nicht davon berührt, daß vielleicht neben ihr eine andere, genau so qualifizierte Existenz besteht …« 30 Bestimmtheiten, die schlechthin einzig sind, lassen sich demnach nur in Darstellungen zeigen, die selbst wie Energiefelder fungieren. Fotografien teilen, weil sie jeweils einen Moment aus dem Kontinuum der Zeit herausgreifen, aus dieser Sicht mit begrifflichen Ordnungen einen wesentlichen Nachteil, insofern sie das Kontinuum des Lebens in diskrete symbolische Formen zerlegen. Leben nämlich sei »ein stetiges Gleiten, in dem jeder Augenblick das sich fortwährend gestaltende, umgestaltende Ganze darstellt, kein Teil scharfe Grenzen gegen den anderen besitzt und ein jeder nur innerhalb jenes Ganzen und von ihm aus gesehen, seinen Sinn zeigt.« 31 Ähnlich beschreibt Alois Riegl die Malerei des späten Rembrandt als Versuch, feste Formen aufzulösen. Dessen Behandlung von Licht und Farbe führe dazu, daß »uns alle Dinge aus der Ferne erscheinen«. 32 Simmels Interesse gilt der Frage, wie Etwas seine Notwendigkeit durch einen konkret-materialen Anfang hindurch in der Betrachtung seines Dargestelltseins – durch den Maler bzw. durch den Bildbetrachter – realisiert. Individuelles wird darin jeweils zu seinem Allgemeinen bestimmt. Kontext der Form ist ihre Darstellung, doch ihre Darstellung ist keine logische, mathematische, begriffliche – und, ließe sich vielleicht hinzufügen – fotografische Klassifikation oder Reihe, weder Typologie noch Kausalität. Als Ganzes realisiert eine Form sich im Durchlauf durch ihre Momente je jetzt als Gesamtheit der Zeit und als Telos eines Anfangs, der mit nichts anderem vergleichbar ist. Etwas ist Eines, weil es sich dem Vergleich im Sinne einer Unterscheidungsreihe entzieht. Bleibt es aus Sicht der klassischen Logik

Ebenda, s. 45. Simmel, G.: Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik (1913). In: Gesamtausgabe Bd. 12. Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, Band I. Frankfurt/M. 2001, S. 417–470, hier S. 430. 32 Riegl, A.: Das holländische Gruppenporträt. Wien 1931, S. 215. 30 31

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Ästhetische Evidenz

unmöglich, Individuelles rein als solches auszusagen, weil es, um bestimmt zu werden, unterschieden werden muß und jede Unterscheidung nichtindividuelle Zeichen ins Spiel bringt, denkt Simmel an ein Bestimmungskontinuum in der Materialität seiner Differenzen und im Blick eines Betrachters. Bestimmtheit und Evidenz, wie Simmel sie bei Rembrandt sucht, erfolgen eher auf ästhetischem denn logischem Wege. Die Ästhetik der Form, ihr Sein als Erscheinen, erzeugt Energien des Bestimmens, die hinter logischer Stringenz nicht zurückstehen. Ordnung, die sich in solchen Darstellungen zeigt, resultiert aus Verstärkungen und Vertiefungen empirischer Erscheinungen. 33 Dank Kontraststeigerungen werden künstlerische Darstellungen zum Spiegel einer universellen Ordnung, geben sie der Anschauung doch eine geistige Ahnung von einer alles durchwaltenden Ordnung, in der Unterschiedenes nicht gleichgültig gegeneinander wäre. 34 An die Stelle der Figur einer Grenze, die Formen, als Elemente einer Reihe, voneinander trennt, um sie als unterschiedene vergleichbar zu machen, tritt der Gedanke eines Einzelnen, dessen Unterschiedensein sich in der Nichtgleichgültigkeit gegenüber verschiedenen Einzelnen kundtut. Die Idee eines individuellen Gesetzes erhält kulturphilosophische Dimensionen. In Gesellschaften, die immer stärker auf organisierten Vergleichen aufbauen und jeden mit jedem vergleichbar machen, steht es für unvertretbare Besonderheit. Dessen Ausdrucksform sind nicht die üblichen Zeichenformen, sondern je einzelne künstlerische Darstellungen. Deren Wahrheit resultiert aus ihrem singulären Charakter. Ihre Zeichenform bereits unterscheidet sie von allen anderen Zeichen, mit denen die moderne Kultur Kaskaden des Unterscheidens produziert, die doch eher Vergleichbarkeit als Individualität hervorbringen. Für die Prominenz des Konzeptes der Person ist diese Normalisierung von Vergleichen, denen sich niemand zu entziehen vermag, eine wichtige Triebkraft. Das an Rembrandts Portraits abgelesene Bild des Individuellen, das Simmel als Modell seiner Idee individueller Gesetze dient, bekommt daher eine kulturkritische Färbung: Hier soll etwas zur Darstellung gelangen, von dem vielleicht zu hoffen wäre, daß es der Vergleichsdynamik der modernen Kultur nicht zum Opfer fällt. Soziologische Zeitdiagnose geht mit kunstphiVgl. Simmel, G.: Das Problem des Porträts (1918). In: Ebenda, S. 370–381, hier S. 378. 34 Vgl. ebenda, S. 381. 33

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Leben: Georg Simmel

losophischer Bildtheorie und logisch-formtheoretischem Methodenbewußtsein Hand in Hand. Wirkliches in diesem Sinne muß zur Darstellung gelangen, da es sich anders nicht bestimmen kann. Künstlerische Darstellungen, für die Rembrandt als Modell dient, bleiben von sprachlichen oder mathematischen Darstellungspraktiken in einer wichtigen Hinsicht unterschieden: Worte und Zahlen sind Zeichenformen, deren Replika keine Ähnlichkeit mit möglichen Signifikaten aufweisen, deren Verkettungsregeln mehr oder weniger klar vorgegeben sind und die im Prinzip von jedermann leicht, früh und schnell zu erlernen sind. Anwendungsbereiche solcher Zeichen sind, wegen der Abstraktheit der Zeichenform, universell. Für malerische Darstellungsweisen, die Simmel vor Augen hat, gilt das nicht. Jedes Portrait ist hier selbst Individuum. Zwar handelt es sich um ein Artefakt, doch nicht um das Replika einer Zeichenform. Maler wie Rembrandt verwenden keine Grammatik des Malens, sie erfinden malerische Formen. Künstlerisch durchgearbeitete Formen, meint Simmel, unterscheiden sich von Urteilen, Schlüssen oder Regelanwendungen. Regeln ihres Gelingens enthalten sie in sich selbst. Weder formal richtige Verkettungen von Elementen wie in der Mathematik oder in der Sprache noch Korrespondenzen zwischen Sätzen und Tatsachen entsprechen dem Gelingen einer Darstellung, wenn sie ihrer eigenen Idee genügt. Ideen wiederum gelangen erst in ihrer konkreten Gestalt zur Wirklichkeit. Gelingt eine solche Darstellung, wird ein »Versprechen« der Idee eingelöst und das individuelle Gesetz erfüllt. 35 Mit dieser Figur formuliert Simmel den Gedanken einer »Schuld« der Wirklichkeit gegenüber ihrem eigenen Telos. Das Werden einer Idee erscheint im konkreten Ideal, dem sie genügen kann, an dem sie aber auch zu scheitern vermag. Keine Allgemeinheit, weder als Wesen noch als Gesetz, bringt zum Ausdruck, worin das Sein-sollen eines Individuellen besteht. Es ist Maßstab seiner selbst. Was Simmel an Rembrandts Portraits erläutert, gilt ihm als eine Art Paradigma für menschliches Sein. Vor allem wendet er diesen Gedanken gegen Kants Praktische Philosophie und dessen Sittengesetz. »Vielmehr, über jeder besonderen menschlichen Existenz oder in ihr steht, wie mit unsichtbaren Linien vorgezeichnet, ein Ideal ihrer, ein So-SeinSollen. (…) Darum, daß die sittliche Gesetzmäßigkeit für uns ein Simmel, G.: Gesetzmäßigkeit im Kunstwerk (1917/18). In: Ebenda, S. 382–411, hier S. 385.

35

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Ästhetische Evidenz

individuelles Gesetz bedeutet, steht sie nicht weniger streng und souverän, als ein allgemeines und äußeres Gesetz es könnte, über der Wirklichkeit des individuellen Subjekts, deren Werte und Mängel sich an jenem messen.« 36

3.

Eidos: Edmund Husserl

Simmels Figur eines »individuellen Gesetzes« eröffnet Vergleiche mit der Vorstellung eines »Eidos«, wie Edmund Husserl es in seiner Phänomenologie methodisch ins Auge faßt. Ein Eidos, das sich in der Wesensschau als Kernstruktur von Erfahrung von etwas zeigt, ist eine anschaulich gebundene Gestalt. Weder gibt es für sie eine Definition, noch bleibt sie abstrakt gegenüber Varianten des Erfahrbaren. Logischer Grund des Erscheinenden ist sie nicht, wenngleich sie Grenzen möglicher Erfahrung von etwas anzeigt. Implizite Potentialitäten als reine Möglichkeiten von Wahrnehmungen kommen darin zur Geltung. »Wir versetzen gleichsam die wirkliche Wahrnehmung in das Reich der Unwirklichkeiten, des Als-ob, das uns die reinen Möglichkeiten liefert, rein von allem, was an das Faktum und jedes Faktum überhaupt bindet.« Was sich auftut, ist ein anschauliches Allgemeines. »Das Eidos selbst ist ein erschautes bzw. erschaubares Allgemeines … Es liegt vor allen ›Begriffen‹ im Sinne von Wortbedeutungen …« 37 Solche Allgemeinheiten gründen in sinnlicher Wahrnehmung, verwandeln diese jedoch in Idealitäten, ohne zu reinen Gedanken zu werden, die alles Anschauliche abgestreift hätten. Ein Eidos des Einzelnen kann es ebensowenig geben wie es in der konkreten Materialität eines Etwas – zum Beispiel eines Bildes – selbst zutage tritt. Gleichwohl muß das Eidos im Ausgang von konkreten Wahrnehmungen methodisch gewonnen werden. Um es zu erzeugen, wird keine erschöpfende Beschreibung oder statistisch-repräsentative Erfassung aller Elemente einer bestimmten Klasse benötigt. Gewonnen wird das Eidos durch ein Verfahren, das Simmel ausschließen möchte: Reihenbildung qua Variation. Im Modus phantasierender Umgestaltung erzeugt der Phänomenologe »immer neue ähnliche Bilder als Nachbilder (…), die sämtlich konkrete Nach-

36 37

Ebenda, S. 386. Husserl, E.: Cartesianische Meditationen (1931). Hamburg 1977, S. 72 und 73.

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Eidos: Edmund Husserl

bilder des Urbildes sind.« 38 Durchlaufend durch die Reihe der Nachbilder bleibt als Invariante die »notwendige allgemeine Form« erhalten, ein »invariables Was« oder ein »allgemeines Wesen«. 39 Das Allgemeine dieser Form ist anschaulich-konkret, frei, wie Husserl sagt, »von allen metaphysischen Interpretationen«. 40 Zu seiner Erfassung bedarf es keinerlei begrifflicher oder logischer Unterscheidungsarbeit, denn wir »sehen«, »daß es dasselbe ist«. 41 Grundlage dieses »Sehens« ist eine passive Synthesis, die in der Anschauung von etwas verankert bleibt. Sie sorgt dafür, daß die Reihe von Nachbildern »in der Folge ihres Auftretens zu überschiebender Deckung« führt. 42 Auf das Bewußtsein der Reihenhaftigkeit von Bild und Nachbildern kommt es an. Evidenz ereignet sich nicht in der Unmittelbarkeit des Erfassens von Etwas, sondern in der sorgfältigen Variation und der Hervorhebung von Deckungen. Formen gewinnen Bestimmtheit im reflektierten Prozeß einer sukzessiven Transformationsreihe im Bewußtsein. Anders als in der natürlichen Wahrnehmung erlangen eidetische Variationen eine gewisse Unabhängigkeit von empirischen Erscheinungen. Konkretes verwandeln sie zu Möglichem. Innerhalb von Möglichkeitsstrukturen zeigt sich die Erscheinung des Wirklichen als Variante eines Möglichkeitsraumes, der in phänomenologischer Einstellung nach unterschiedlichen Hinsichten differenziert werden kann. Phänomenologische Reihenbildung schildert nicht Faktisches ab, sie differenziert Mögliches aus. Individuelles fällt deshalb nicht mit empirischem Einzelnen zusammen: Als Wesensform ist Individuelles Möglichkeitsform. Doch das Konkrete und Einzelne der empirischen Erscheinung – etwa von diesem Rot – kommt als dieses Besondere erst im Blick auf ein Eidos Rot zur Abhebung seiner Intensität oder Ausdehnung. Jedes Dieses enthält Verweisungen auf ein Allgemeines, dessen Form der Phänomenologe expliziert. Wie Differenzen von Nachbildern in der Variationsreihe Möglichkeitsbedingungen des Allgemeinen einer Form sind, so ist das Eidos Möglichkeitsbedingung der Erscheinungsunterschiede und der Idee von Differenz selbst. 43 38 39 40 41 42 43

Husserl, E.: Erfahrung und Urteil (1939). Hamburg 1985, S. 411. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 412. Ebenda, S. 414. Vgl. ebenda, S. 418 f.

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Ästhetische Evidenz

Nun stößt die Arbeit der Variation auf Grenzen des Variierens. Für Husserl markieren diese Grenzen Gattungen, die so etwas wie das Grundgerüst einer Welt beschreiben. Rot kann variieren und zum Eidos Rot gesteigert werden, Rot und Grün decken sich zum Eidos Farbe, doch eine Farbe läßt sich, meint Husserl, nicht in einen Ton variieren. Es gibt allgemeine Formen, die unüberschreitbare Grenzen bezeichnen. 44 Solche Grenzen lassen sich nicht von außen unterscheiden, denn sie müssen sich aus der Innenperspektive der Variationsarbeit erweisen. Insofern bleiben sie an empirische Ausgangserfahrungen einer Anfangswahrnehmung und der ihr zugehörigen Erfahrungswelt gebunden. Ein Eidos vermag sich aus der konkreten Welt des Phänomenologen nicht loszureißen. Das ist die Kehrseite der Unendlichkeit, die Idealisierungen in die Welt einführen. Erfahrung und eidetische Form unterliegen analogen Regelstrukturen. Phänomenologische Forschung stößt nicht in eine Sphäre ewiger Wesen, sondern in die Erfahrungsstruktur je einer – unserer – Welt vor. Phänomenologie erweitert sich, wie der späte Husserl gesehen hat, zur Auslegung der Lebenswelt als einer praktisch geteilten Erfahrungssphäre. 45 Kann es gelingen, eidetische Untersuchungen bis zur Form eines Eidos-überhaupt fortzutreiben? Immer wieder treffen Variationen auf konkrete Gemeinsamkeiten, die sich bestimmten Verfahren der Ordnung von Ähnlichkeiten verdanken. Damit bleiben sie vom Erfahrungsboden einer – unserer – Welt abhängig. Was sie zutage fördern, ist der mehr oder weniger umfangreiche Raum des Imaginären sinnhafter Bestimmungen, den unsere Welt bereithält. Grenzen der Variation unterlaufen begriffliche Distinktionen. Bildlichkeit ist das Modell der Form, wenngleich Bildlichkeit nicht mit sinnlicher Sichtbarkeit zusammenfällt. Husserl benutzt zur Erläuterung dieses Gedankens visuelle Ausdrücke: Wir müssen die »Ähnlichkeit vor Augen haben«, auch wenn es sich »nicht um ein sinnliches Sehen« handelt. Für »unvermeidlich« hält er die Erweiterung der Redeweise vom Sehen, denn der Ausdruck zielt eben auf das direkte Erfassen von etwas. 46 Sehend erfassen wir Mannigfaltigkeiten als Einheit. Dem Sehen wohnt eine Simultaneität inne, die anderen sinnlichen Wahrnehmungsformen nicht in gleicher Weise zukommt. Wenn Wittgenstein davon spricht, daß Mathematiker Beweise wie 44 45 46

Vgl. ebenda, S. 420. Vgl. Waldenfels, B.: Grenzen der Normalisierung. Frankfurt/M. 1998, S. 31. Husserl, E.: Erfahrung und Urteil. A. a. O., S. 421.

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Eidos: Edmund Husserl

Bilder behandeln, meldet sich darin ein analoges Motiv: Im Bild tritt Unterschiedenes simultan zu einer evidenten Struktur zusammen. Wird eine Reihe – von Zahlen oder von eidetischen Nachbildern – zum Bild, springt eine Struktur in die Erfahrung, die Verhältnisse konkreter Differenzen und Identitäten reguliert. Für Wittgenstein allerdings geschieht Synthesis praktisch im Vollzug von Zeichenfunktionen, ohne den Rückbezug auf ein Eidos zu benötigen. Regeln erscheinen ihm nicht als Allgemeines, das aus empirischen Variationen herauszuschauen wäre. Da Wittgenstein Formen als zeichengebundene Praktiken in den Blick nimmt, vermeidet er Analysen von Bewußtseinsvorgängen, die Husserls Phänomenologie, trotz aller pointierten Kritik an Descartes, mit dessen Philosophie verbinden. Tätigkeiten sind für Husserl Weisen des Vollzugs von Intentionalität, weniger von zeichenbasierten Unterscheidungsgewohnheiten im Alltag einer Kultur. Als erfahrenes Allgemeines entspringt das Eidos der Reihe seiner Variationen. Ob es sich bei solchen Allgemeinheiten um »absolut« reine Möglichkeiten handelt, mag dahingestellt bleiben. Schließlich sind sie doch in konkreten Praktiken verankert. An Wittgensteins Bemerkungen zur Mathematik läßt sich auch hier erinnern: Husserl zieht gern asemantische, vornehmlich mathematische Beispiele heran, um die Reinheit einer Form zu erläutern. Geometrische Figuren wie der Kreis gelten ihm als Wesenheiten, die frei von aller Tatsächlichkeit bleiben. »Demgemäß ist ein rein eidetisches Überhaupt-urteilen, wie das geometrische oder das über ideal mögliche Farben, Töne u.dgl., in seiner Allgemeinheit an keine vorausgesetzte Wirklichkeit gebunden. In der Geometrie ist die Rede von erdenklichen Figuren, in der eidetischen Farbenlehre von erdenklichen Farben, die den Umfang rein erschauter Allgemeinheiten bilden. Mit derart ursprünglich geschöpften Begriffen operiert auch die ganze Mathematik …« 47 Auch asemantische Formen wie Kreis oder Farbe »zeigen sich« in der Variation als Formen einer Praxis. Ideales erweist sich als Imaginäres einer Welt. Dessen Gerüst ist nicht begrifflich. Begriffe fungieren darin eher wie Allgemeinheiten, die unter bestimmten Hinsichten mit konkret Anschaulichem in Verbindung treten. Ist, wie Husserl meint, »Mensch« ein reiner Begriff, weil zu ihm »alle Menschen, die ich irgend fingieren mag« gehören? 48 Was bedeutet Ge47 48

Ebenda, S. 425. Ebenda, S. 429.

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Ästhetische Evidenz

meinsamkeit in der Reihe einer Variation? Wenn er von »Stil«, »Linie« oder »Vorzeichnung« einer Variation spricht, benutzt Husserl ästhetisch konnotierte Ausdrücke. Stil, Linie oder Vorzeichnung konturieren sowohl Erfahrungen einer Welt, von der Variationen ihren Ausgang nehmen, als auch Hinsichten, Richtungen und Ordnungsmöglichkeiten freier Variation von Gegebenem in Richtung auf den Sinnhorizont von Welt. Gegenstand und Auffassung, Was und Wie sind in der Variationsreihe miteinander verschränkt. »Wir stehen also schon in einem System möglicher Variation, wir verfolgen eine Linie der möglichen einstimmigen Erscheinungsgehalte und lassen uns dabei beständig leiten von der Ausgangswahrnehmung mit dem in ihr festgelegten gegenständlichen Sinn – festgelegt aber nur so, daß er mit seinem wirklich und eigentlich anschaulichen Gehalt horizontmäßig den Stil weiterer anschaulicher Erfahrungsgehalte vorzeichnet, in der Weise einer allgemeinen Bestimmbarkeit, die nicht beliebige, sondern geregelte Bestimmbarkeit ist.« 49 Bernhard Waldenfels spricht deshalb von einer Transformation der eidetischen zu einer strukturalen Phänomenologie. Erweist es sich als unmöglich, zwischen perspektivischen Auffassungen einer Sache und der Form der Sache, zwischen Wesen »in re« und Wesen »in mente« zu unterscheiden, tritt in der Arbeit der Variation gerade diese Verflochtenheit zutage, und bleibt alle Wahrnehmung eingelassen in eine gemeinsame Praxis – dann macht es wenig Sinn, von unwandelbaren Wesen zu sprechen. 50 Von einem Sich-zeigen auszugehen heißt, Differenzen zwischen Erscheinung und Erscheinungsweise als Wesen der Sache ernstzunehmen. Zum Wesen gehört die Materialität seines Erscheinens. Ob etwas »als« Bild, Wort, Zahl oder Geste erscheint, macht Unterschiede für das Bestimmtsein von Etwas. »Bild- und Zeichenhaftigkeit beginnen damit, daß im Bereich der Erfahrung eines sich im anderen spiegelt und auf zeitlich-räumlich Benachbartes verweist. (…) Daß etwas zusammen mit anderem auftritt, bereitet den Boden für wiederholte Konfigurationen, aus denen sich etwas als solches herauskristallisiert.« 51 Es gibt kein Eidos vor den Zeichen. Bilder, im Sinne anschaulicher Simultaneitäten von Mannigfaltigem, fungieren als Zeichen, die Praktiken organisieren und nahelegen. Zeichen motivieren Reihen, in denen Differentes und 49 50 51

Ebenda, S. 438. Vgl. Waldenfels, B.: Grenzen der Normalisierung. A. a. O., S. 36 f. Waldenfels, B.: Bruchlinien der Erfahrung. Frankfurt/M. 2002, S. 34.

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Eidos: Edmund Husserl

Identisches sich miteinander verschränken. Im Eidos von Etwas steckt eine Zeichenform, die weniger das reine Wesen einer Sache zutage fördert, als daß sie hervortreibt, was sie sichtbar macht. Anschauliches Erfassen, wie es Husserls Variationsverfahren als Vorbild dient, wäre ein Grenzfall der Reihen- und Allgemeinheitsform. Das Augenmerk richtet sich auf den Aspekt der Variation als einer symbolisch gebundenen Tätigkeit. Ohne das Aufzeigen der Verkettungsweisen von Zeichen ist schwer aufzuklären, wie Übergänge zwischen Unterschiedenem zustande kommen. Welche Rolle spielt hier jeweils die Materialität einer Form und die Gebrauchsweise einer Zeichenkette? Wie wirken sich spezifische Zeichenordnungen auf phänomenale Ordnungsgestalten aus? Mathematische, literarische, malerische, fotografische, musikalische oder tänzerische Variationen erschaffen eigene, nicht homologe Bedeutungsfelder. In ihrer Differenz bleiben sie aufeinander verwiesen. Als aufeinander verwiesene sind sie von Regeln ihrer Erzeugung abhängig, die ihrerseits kontrastierender Erforschung und Darstellung bedürfen. Eine solche Auffassung des Verfahrens eidetischer Variation stärkt Husserls politische Deutung der Potentialität von Ideen. In seinem Wiener Vortrag von 1935 verbindet er seine Kritik des wissenschaftlichen Objektivismus mit dem Glauben an die Macht der Idee: Ideen seien »stärker als alle empirischen Mächte.« 52 Darin liegt nicht allein die verzweifelte Hoffnung eines jüdischen Philosophen auf die Kraft einer Vernunft, die gerade im faschistischen Wahn unterzugehen droht. Wirklichkeit verwandelt sich, indem sie ins Ideelle zu endlichen Unendlichkeiten des Möglichen gesteigert wird. Allerdings macht es einen Unterschied, ob die Macht der Idee sich allein im Objektivismus einer mathematischen Weltauffassung realisiert, die gegenüber Erfahrungen und Leidenschaften der Lebenswelt immun bleibt, oder ob sie sich ihrer Verwurzelung in dieser Sphäre alltäglicher Bedürfnisse und Gewohnheiten bewußt ist. Zu bedenken bleibt, daß wir in unserer Auffassung und gedanklichen Steigerung des Wirklichen die Welt, in der wir leben, als Horizont von Sinn schaffen. Deshalb kommt es letztlich darauf an, an welche Ideen Menschen glauben. Woran sie glauben, ist im Grenzfall das, wofür sie zu sterben bereit sind: Wirklichkeit in Gestalt einer Idee. UnterHusserl, E.: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie. In: Husserliana Band VI: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Haag 19762,S. 314–348, hier S. 335.

52

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Ästhetische Evidenz

scheidungen zwischen Sein und Sollen erweisen sich als zu schwerfällig, um Wirklichkeit als Tendenz prozessualen Bestimmtwerdens zu beschreiben. Wirklich ist Welt, weil sie ideell fundiert ist: als Form des Sinns, der ihr verliehen wird. Vernunft schwebt sowenig über der Welt, wie Glauben sich auf die Anbetung von Göttern reduziert. Ideelle Fundierungen des Wirklichen wiederum organisieren zeichenhafte Arrangements von Bestimmtem und Unbestimmtem, Wirklichem und Möglichem. Anders als Zeichenformen der Mathematik bleiben Bild und Sprache, Malerei und Philosophie an semantische Unterscheidungstexturen gebunden. Anstelle mathematischer Regeln und Plausibilitätsformen liefern sie semantische Kontexte, in denen Fragen des Lebens eine Rolle spielen. Perspektivische Welterfahrungen gehen in ihnen nicht unter. Aus diesen Erfahrungen speist sich Husserls Optimismus. Welt gestaltet sich immer auch im Modus von Fragen, die auf Herausforderungen des jeweils Wirklichen reagieren.

4.

Ideen

Husserls Glaube an Ideen erweist sich unter diesem Blickwinkel als Variante eines Realismus, der Formen als Prozesse und Prozesse als dynamische Gestaltungen des Wirklichen begreift. Ideen sind das Scharnier zwischen Etwas und Bestimmung, Erfahrung und Reflexion, Vielem und Einem. Idealität ist Bedingung der Möglichkeit des Wirklichen: vollzogen je jetzt, erlauben »Ideen« Wiederholungen, die doch in der Reihe ihres Vollzugs nie Wiederholung des Selben, sondern Verschiebung des Bestimmens zum Werden des Realen sind. Sukzessive Zustände einer Prozeß-Form verleihen dieser eine Individualität, die auch Georg Simmel im Auge hat. Formen sind performative Ordnungen. Versuchen, sie zu klassifizieren, fügen sie sich niemals endgültig. Als im Wiederholen Gewordenes existiert Identisches als Variante und Tendenz seiner Zustände und Möglichkeiten. Es realisiert sich im Vollzug von Zeit, die sich als wiederholende Verschiebung von Konkretem und durch den Vergleich der Formen einer Reihe herstellt. Ideen sind wirklich, weil sie im Prozeß des Vollzugs von Sinn Bestimmtes zu einem endlich Unendlichen erweitern. Darum amalgamieren sie sich, wie Hegel wußte, mit Leidenschaften und Interessen. Statt über der Wirklichkeit zu schweben, sind sie in Handlungen, Gefühlen, Wünschen und Gegenständen inkorporiert. Als 322 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Ideen

Wiederholbares sind sie Zeichenfunktionen, die nicht von einem monologischen Bewußtsein benutzt, sondern in Gesellschaften von Zeichenverwendern vollzogen werden. Bestimmtheiten einer Welt, eröffnen sie imaginäre Horizonte, die, weit entfernt davon, bloß ausgedachte Phantasiegebilde zu sein, Wirkliches ins Licht des Möglichen tauchen und praktischen Ideierungen – Realisierungen des Wirklichen als des Potentials seiner selbst – Vorschub leisten. Dann ist Wirkliches etwas, was seiner Idee folgt: als einer Tendenz des Bestimmtwerdens in Feldern des Imaginär-Realen. Zeichentheoretisch gedeutet, verliert der Begriff der Idee seine Konnotation eines Allgemeinen. Er nimmt Züge einer Zeichenfunktion an, weil in ihm Denken und Sein, Bewußtsein und Kommunikation, Beobachter und Beobachtung in der zeitbildenden Wiederholung erwartungsbasierter symbolischer Unterscheidungen ein Etwas zur Form der Gesellschaft von Unterschiedenem bestimmen. Die Figur eines Eidos, wie Husserl sie ausgehend von den Wahrnehmungsleistungen eines Bewußtseins entwickelt, erweitert sich zur Figur eines Feldes kompossibler Unterscheidungen, die das Imaginäre einer Kultur beschreiben. Um in Gang zu kommen, bleiben Ideierungen an konkrete Erfahrungsstrukturen einer Welt gebunden und von Darstellungen abhängig. Auch Mathematik läßt sich, wie Wittgensteins Überlegungen zeigen, als spezifische Praxis regelhafter Zeichenverwendung betrachten, deren Funktionsweise auf lebensweltliche Gewohnheiten zurückbezogen werden kann. Vor allem gewinnen mathematische Bilder ihr spezifisches Rationalitätsprofil erst im Vergleich zu sprachlichen oder malerischen Bildern. Deshalb besteht für kulturpessimistische Besorgnisse über einen Siegeszug mathematischer Rationalität kein übertriebener Anlaß. Sinn geht in einer einzigen Zeichenform nicht auf. Verwandtschaften zwischen Husserls »Eidos« und Simmels »individuellem Gesetz« treten hervor: Akzentuieren wir Husserls Methode der Variation gegen dessen Motiv eines Allgemeinen im Eidos und betonen wir die Reihe als Unterscheidungsform des Wirklichen in seiner spezifischen Differenz zum Möglichen einer Welt, zeigen Reihen sich als vergleichbare Einzelne. Ihre Allgemeinheit tritt als singuläre Form auf, weil sie in Form einer Darstellung unterscheidbar wird. In die Ordnungsmannigfaltigkeiten möglicher Erfahrungen und möglicher Phantasien bleibt sie eingewoben, hebt sich vor solchen Hintergründen jedoch in ihrer zeichenhaften Profilierung zugleich ab. Mit Simmel ließe sich davon sprechen, daß solche Formen im Vollzug ihrer Darstellung Wirklichkeit gewinnen – im Sinne einer 323 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Ästhetische Evidenz

expliziten Signatur im Kontext des Wirklichkeits-Möglichkeitsprofils einer Welt. Individuelle Gesetze jedoch wären ihnen nur insofern zuzusprechen, als ihre Ordnungsform auf Unterscheidungsarrangements in Darstellungen beruht. Sie begegnen als Formen, die stets von der Form des Kontextes abhängig bleiben, den sie ausschließen und als ausgeschlossenen einschließen. Entscheidend ist die Arbeit des Vergleichens, denn Vergleiche machen Verschiedenes ähnlich und zeigen Ähnliches als verschieden. Das Werden einer Form geschieht nicht außerhalb der Bestimmtheit einer Darstellung. Darstellungen unterliegen nicht notwendig einem Telos, sie können Fragen nach einem Telos als Fragen nach der Organisation einer Unterscheidungsreihe aufwerfen. Gleichwohl transzendieren Idealitäten, die sich in Reihen als Stil oder Vorzeichnung eines Und-so-weiter bahnen, einzelne Formen – zum Beispiel Bilder –, aus denen sie sich zusammensetzen. Als praktisch fundierte zeichenhafte Unterscheidungsprozesse ordnen »Idealitäten« Profile des Wirklichen und Möglichen einer Welt, ohne in ihrer potentiellen Unendlichkeit ein Telos zu enthalten, dem sie möglicherweise Erfüllung schulden. Sukzessive ordnen Ideen im Kontext von Darstellungen empirische Erscheinungen zu Gestalten und Mustern, die manches ein-, aber anderes ausschließen. In diesem Prozeß des Werdens von Idealität entsteht Wirklichkeit, die nicht nur dasjenige bestimmt, was sie ein- und ausschließt, sondern die nicht zuletzt sich selbst als Ordnungsform bestimmt. Prozesse sind performative Ordnungsformen, die Allgemeines als konkret bestimmte wirkliche Potentialität erzeugen. Grundsätzliche Differenzen zwischen Anschauung und Begriff existieren hier nicht. So wenig diese Kantische Unterscheidung im Lichte einer Theorie performativer Prozesse tragfähig ist, so sehr bleiben Tendenzen einer Form, die sich in Darstellungen ausprägen, von einem Telos im Sinne Georg Simmels verschieden. Simmels Figur eines individuellen Gesetzes kommt, bei aller kritischen Zuspitzung gegenüber der Kantischen Moralphilosophie, mit dieser doch darin überein, dem Sein ein Gesetz des Sollens zuzuordnen. Betrachten wir Allgemeines hingegen als Prozeßgestalt, erscheinen allgemeine Formen als komplexe Kontraste. Ihre Elemente lassen sich kaum als binäre Relationen, sondern eher als Form-Kontext-Arrangements auffassen. Unterscheidungsreihen im Kontext von Darstellungen lösen das Prinzip zweiwertigen Unterscheidens, analoger Repräsentation und hierarchischer Arrangements von Allgemeinem und Besonderem ab. 324 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Wirklichkeit entwickeln

1.

Heuristische Reihen

Literatur, Wissenschaft, Philosophie und Theater markieren Darstellungsformate, in denen Wirkliches sichtbar wird. Vielleicht dürfen sie beanspruchen, exemplarisch zu sein; erschöpfend sind sie nicht. Indem dieser Text sie der Reihe nach unterscheidet, entwickelt er eine Darstellung, die Wirklichkeitsformate kontrastiert und vergleichbar macht. Darin bietet er sich als Beispiel einer Reflexionspraxis an, die auf die Form der modernen Kultur antwortet. Im Mittelpunkt der Formate stehen jeweils Ideen, die Unterscheidungsfelder strukturieren: Repräsentation, Methode, Gegenwart und Inszenierung. Das Konzept von Darstellung, mit dem dieser Text schließt, betrachtet den Prozeß seiner Unterscheidungen als mögliche Form des Entwickelns von Wirklichem. Als letztes Kapitel dieses Buches macht der Text noch einmal exemplarisch explizit, was das Buch im Ganzen vollzieht: Es schlägt vor, Differenzen von Wirklichkeitsformaten und Symbolformen in Reflexionsgewinne umzuformen. Dieses Vorgehen ist eher heuristisch denn theoretisch, weil es perspektivisch etwas sehen läßt, statt Resultate einzusammeln oder Beobachtungen zu generalisieren. Ihren Zweck hätten Darstellungen dieser Art erreicht, wenn es ihnen gelänge, Bilder des Wirklichen zu entwickeln, die ihre Differenz zum im Bild Erscheinenden, zum Betrachter und zu anderen Bildern markieren.

2. 2.1

Darstellungsformate Literatur: Jorge Luis Borges

Wer war Ireneo Funes? Die ihn kannten, sind eingeladen, von ihm zu erzählen. Ein Bild soll entstehen. Das entnehmen wir einer Geschich325 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

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te, die Jorge Luis Borges über einen Mann erzählt, der berichtet, wie er sich an Funes erinnert. Ein halbes Jahrhundert liegt das zu erinnernde Gespräch zurück. Unwiederbringlich ist dessen Wortlaut vergessen. Auch Leser der Erzählung müssen, wie der erzählte Erzähler, in ihrer Phantasie wiedererschaffen, was in »abgebrochenen Reden« überliefert ist. 1 Ireneo Funes vergaß nichts. »Unerbittlich« war sein Gedächtnis. Gleichmäßig erfaßte seine Wahrnehmung alle Einzelheiten – ohne Schärfefokus, ohne Relevanzen oder Gestaltbildungen. Erinnerung und Wahrnehmung waren deckungsgleich. »Er kannte genau die Formen der südlichen Wolken des Sonnenaufgangs vom 30. April 1882 und vermochte sie in der Erinnerung mit der Maserung auf einem Pergamentband zu vergleichen, den er nur ein einziges Mal angeschaut hatte, und mit den Linien der Gischt, die ein Ruder auf dem Rio Negro am Vorabend des Querbracho-Gefechtes aufgewühlt hatte.« 2 Funes erfindet Zeichensysteme, die jedes Phänomen einzeln markieren, um es genau zu unterscheiden. Unerbittliche Erinnerung verlangt unendliches Vokabular. Für Abstraktionen oder Allgemeinheiten ist kein Raum: »es störte ihn auch, daß der Hund von 3 Uhr 14 (im Profil gesehen) denselben Namen führen sollte wie der Hund von 3 Uhr 15 (gesehen von vorn).« 3 Auf diese Weise kommen Funes die Zeichen abhanden, von denen er immer neue erfindet. Sie geraten ihm zu bloßen Repräsentanten des Individuellen – unendliche Verdopplungen, die nichts in Beziehung setzen. Bloße Reproduktion blockiert Erkenntnis. Was Zeichen ermöglichen: Auswahl, Fokussierung, Bedeutungsverschiebungen, Metaphern, Abstraktionen und Rekombinationen, geht verloren. Zeichen wohnt, weil sie wiederholbar sind, Allgemeines inne. Im Laufe ihrer Wiederholung, durch Gebrauch in neuen Kontexten, sorgen Zeichen dafür, daß vergessen wird, was einmal zum Phänomen zu gehören schien. Vergessen sorgt für ein Erinnern, das neue Verbindungen knüpft, um Gestalten zutage treten zu lassen, die in keinem Bewußtsein je auftauchten. Weil es sich um konkrete Markierungen handelt, bleiben Zeichen abstrakt. Obwohl Ordnungsversuche des Seienden sich unvermeidlich auf Zeichen stützen, verhindern die Zeichen, daß Ordnung Borges, J. L.: Das unerbittliche Gedächtnis (1944). In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. 3/I. Erzählungen 1935–1944. München, Wien 1981, S. 173–182. 2 Ebd., S. 178. 3 Ebd., S. 180 f. 1

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und Sein je zur Kongruenz gelangen. Je unähnlicher Zeichen dem Bezeichneten sind, desto größer ihr Potential, Verschiedenes ähnlich zu machen. Vergessen ist schöpferisch, weil es Neues sehen läßt, indem es die Idee analoger Repräsentation durchkreuzt. Unähnlichkeiten der Zeichen ermöglichen Erkenntnisse des Wirklichen, die in der Unmittelbarkeit des Konkreten nicht aufgehen. Das Wirkliche ist das Neue. Neu ist das, dessen Gewordensein vergessen ward. An dieser Paradoxie geht Ireneo Funes zugrunde. Wegen einer Lähmung ans Haus gefesselt, bleibt er vom Leben ausgeschlossen. Funes verkörpert einen reinen Zuschauer. Ihm fehlt, was Maurice Halbwachs eine »gelebte Geschichte« nennt. 4 Deshalb ist er in der Welt eine Unmöglichkeit. Leben kann er in der Literatur. Deren Gegenwart ist eine des Erinnerns. Denn Erinnerung ist keine bloße Reproduktion des Gewesenen; es ist Bedeutung. Bedeutung entsteht im Gewebe individuellen wie kollektiven Erinnerns. Schematismen, Chronologien, Abstraktionen, Gewohnheiten, Handlungen, Dinge und Assoziationen bilden engmaschige Geflechte. Was Funes verwehrt ist, geht konstitutiv mit Erinnern einher: Erleben und Denken. Leben entfaltet im Bewußtsein »Dauer«, die auf sich zurückkommt, indem sie zeichenhafte Auskörnungen dessen hervorbringt, was als Wirklichkeit infrage kommt. Zeit und Raum, Bewußtsein und Welt erscheinen im Prozeß bewußten Lebens als koextensive Aspekte einer dynamischen, mehrdimensionalen Ordnung. Kontexte, Perspektiven und Konstellationen, in denen Erinnerungen auftauchen, verändern sich im Maße ihrer zeichenhaften Wiederholung. Im Strom bewußten Lebens umhüllen Erinnerungen Gegenwarten und realisieren Tendenzen des Vergangenen auf Zukunft. Im Jetzt gelebter »Dauer« wird, wie Henri Bergson zeigt, Erinnerung so organisiert, daß diese zum Leben der Gegenwart beiträgt. 5 Funes besitzt zwar Gedächtnis, doch keine Erinnerung. Er hat keine »Dauer«, weil er nicht lebt, sondern beobachtet. Sein Zuschauen realisiert ein Modell idealer Repräsentation. Darin herrscht Kongruenz zwischen unendlich differenzierten Signifikaten und eigens für sie geschaffenen Signifikanten, zwischen der Zeit des Gewesenen und der des Gedächtnisses. Es ist das Modell eines absoluten ZeitRaums. Jeder Punkt spiegelt das Ganze wie eine Leibnizsche Monade. Gegenwart kann deshalb für Funes nicht existieren. Wenn die Zeit 4 5

Halbwachs, M.: Das kollektive Gedächtnis (1939). Frankfurt/M. 1985, S. 42. Vgl. Bergson, H.: Materie und Gedächtnis (1896). Hamburg 1991, S. 141.

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des Bewußtseins Dauer ist, ist das Erzählen eine mögliche Form der Artikulation von Dauer – wie es der Erzähler in Borges’ Geschichte eben stellvertretend tut und wie es Ireneo Funes nicht vermag. Über ihn, der nicht erzählen kann, müssen andere erzählen, damit vergessen werden kann und Gegenwart möglich wird. An die Stelle analoger Repräsentation treten perspektivische Verschiebungen. Erzählte »Geschichte« verleiht der Dauer Profil, artikuliert symbolisch Erfahrung und zieht aus Lücken der Erinnerung Gewinn. »Mein« Gedächtnis ist von dem Gedächtnis »anderer« nicht trennscharf zu unterscheiden und doch verschieden. Beide sind eingeschmolzen in eine kulturelle Zeit. Dafür ist die Literatur, die Borges schreibt, ein Beispiel. So betrachtet, verleihen Erzählungen über Funes dem Mann wegen ihres fragmentarischen, auf die Perspektive und das Erleben der Erzählenden bezogenen Charakters »Wirklichkeit«: Sie beziehen den Erzählten in den Prozeß bewußten, zeichenhaft strukturierten »Lebens« ein. Symbolisch verdichtet Erinnertes sich zu einem Bedeutungskern, in dem Welt erscheint. Epistemisch begegnet Welt als entwickelte Wirklichkeit. Weder kann sie einfach beobachtet noch gedacht werden. Denn Welt ist keine Menge oder Gesamtheit von Entitäten und Sachverhalten, deren Strom im absoluten Gedächtnis aufbewahrt und repräsentiert wäre. Die Ordnung des Seins ist nie komplett. An die Stelle eines unerbittlichen Gedächtnisses oder eines absoluten Wissens der Welt, in dem alle Möglichkeiten und Wirklichkeiten zusammenfielen, tritt bei Borges die Literatur. Sie ist eine Praxis des schreibenden Unterscheidens. In der Ordnung des Schreibens werden Grenzen zwischen Natur und Kultur, Ontologie und Repräsentation zugleich markiert und gekreuzt. Literatur wird zu einer Praxis der Reflexion von Weltordnungen, in deren Licht auch wissenschaftliche oder philosophische Ordnungsmodelle als zu erinnernde Optionen bewahrt und transformiert werden können. Wie Stanislaw Lem über die Literatur von Borges gesagt hat, entfaltet diese die Grenze zwischen fiktiven und reellen Ontologien als eine paradoxe Operation. 6

Vgl. Lem, S.: Unitas oppositorum. In: Jorge Luis Borges Gesammelte Werke, Bd. 3/ II. Erzählungen 2. München, Wien 1981, S. 231–239.

6

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Darstellungsformate

2.2

Wissenschaft: Eine Argumentationsmatrix

Borges’ Erzählung spiegelt im Medium der Literatur Fragen, die sich in wissenschaftlichen Kontexten ebenfalls stellen, wenngleich sie dort in Traditionen und Plausibilitäten eingeordnet sind, die sie zunächst als weniger fiktiv erscheinen lassen könnten. Darum liegt es nahe, das literarische Beispiel mit einer wissenschaftstheoretischen Diskussion zu kontrastieren, die sich vor knapp hundert Jahren, wenige Jahre vor der Entstehung der Erzählung über Ireneo Funes, abgespielt hat. Weil natürlich auch diese Erinnerung unvollständig bleiben muß, skizziere ich eine Argumentationsmatrix. Gruppen von Autoren, die nicht immer direkt aufeinander Bezug genommen haben und sogar teilweise kontroverse Ansichten vertraten, treten darin in einer gemeinsamen Konstellation auf. Man könnte diese Konstellation also ebenso als real – denn es gibt diese Texte, Autoren und Kontroversen – wie als fiktiv beschreiben – denn es handelt sich um eine Konstellation in diesem Text, die Gruppierungen von Texten vornimmt und Unterscheidungen trifft. Aus heutiger Sicht erscheinen manche Gemeinsamkeiten womöglich interessanter als Differenzen. Inhaltlich geht es um die Frage, was es heißt, etwas zu erkennen, was eine Tatsache ausmacht und inwiefern jede Tatsache ein kulturelles Phänomen ist. Vier Perspektiven ergeben retrospektiv ein komplementär aufgebautes Bild. Die erste Position beschreibt eine wissenschaftslogische Auffassung. Scharfsinnig und radikal hat Rudolf Carnap 1931 zwischen sinnvollen und sinnlosen Sätzen unterschieden. 7 Als sinnvoll dürfen demnach nur solche Sätze gelten, die auf genau angebbare Weise mit beobachtbaren Erfahrungen verbunden sind. Idealiter wäre die Wirklichkeit in einem Modell logisch verknüpfter Sätze vollständig darstellbar. Sprache und Wirklichkeiten erwiesen sich als homolog, weil Erfahrung homogen ist und Sätze entweder wahr oder falsch sind. Philosophische oder literarische Sätze hingegen hätten geringe Aussichten, als Kandidaten für sinnvolle Aussagen über Welt in Betracht zu kommen. Carnaps Überlegung nimmt den Gedanken einer digitalen Organisation des Wissens vorweg, wie er wenig später in der Computertechnologie realisiert wurde. Sie ist auch reflektiert genug, Vgl. Carnap, R.: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache (1931). In: Schleichert, H. (Hrsg.): Logischer Empirismus – der Wiener Kreis. München 1975, S. 149–171.

7

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ihre problematische Voraussetzung selbst zu benennen: wie nämlich »Protokollsätze« mit nicht sprachförmigen Erfahrungen überhaupt zusammenpassen könnten. Vier Jahre später, 1935, schwächt Karl Popper diese Idee insofern ab, als die »Logik der Forschung« auf einer kritischen Haltung beruhen soll, die unendliche Annäherungen von Sätzen und Tatsachen auf der Basis der Falsifikation falscher Gesetzeshypothesen ermöglicht. Die zweite Position argumentiert wissenschaftsgeschichtlich. Beinahe diametral steht sie der ersten gegenüber. Aus rezeptionsgeschichtlichen Gründen entfaltete sie erst viele Jahre nach ihrer Formulierung Wirkungen. Zeitgleich mit Poppers Logik der Forschung, 1935, weist Ludwik Fleck in einer medizingeschichtlichen Studie auf Verschränkungen von Tatsachen, kollektiven Handlungsvollzügen, sozialen Denkstilen und sprachlichen Gepflogenheiten hin. 8 Demzufolge ist eine strenge Unterscheidung zwischen Tatsachen und Beschreibungen prinzipiell unmöglich. Wirklichkeit und Wissen gleichen einer sich ständig transformierenden, mehr oder weniger tautologischen Ordnung. Jahrzehnte später haben Thomas Kuhn und Paul Feyerabend Flecks Überlegungen aufgenommen und an anderen Materialien vertieft. 9 Auch Michel Foucaults Projekt einer Archäologie des Wissens läßt sich dieser Argumentationslinie zuordnen. 10 Die dritte Position teilt mit den beiden ersten Einsichten in die Bedeutung von Zeichen, mit deren Hilfe Erfahrungen überhaupt erst organisiert und gegliedert werden können. Ihre Argumentation ist jedoch kulturphilosophisch. Ebenfalls 1935 entwickelt Edmund Husserl in seinem Vortrag im Wiener Kulturbund den Gedanken, die Geschichte abendländischer Vernunft drohe einem fatalen Selbstmißverständnis zum Opfer zu fallen. Demnach ist es einer unreflektierten Mathematisierung von Erfahrung zuzusprechen, daß unser Bild davon, was »Rationalität« heißt, sich von einer fragenden Erschließung der Welt ab- und einer rechnenden Nivellierung von Erfahrung zugewandt hat. 11 Weil die Genealogie des Wissens aber in sprach-

Vgl. Fleck, L.: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935). Frankfurt/M. 1980. 9 Vgl. Kuhn, Th.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962). Frankfurt/M. 1967; Feyerabend, P.: Wider den Methodenzwang (1975). Frankfurt/M. 1976. 10 Vgl. Foucault, M.: Archäologie des Wissens (1969). Frankfurt/M. 1981. 11 Vgl. Husserl, E.: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie (1935). In: Husserliana VI, Den Haag 19762, S. 314–348. 8

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Darstellungsformate

lichen Formen der Weltaneignung und in leiblicher Erfahrung – in der »Lebenswelt« – fundiert bleibt, bringt ein derartiges Modell uns um die Fähigkeit, unmenschlichen Entwicklungen Einhalt zu gebieten, wie sie 1935 in Deutschland und Italien bereits politische Gestalt angenommen hatten. Husserls Diagnose korrespondiert Überlegungen, die Ernst Cassirer wenige Jahre vorher zur Funktionsweise symbolischer Formen angestellt hatte. Ohne auf Cassirer Bezug zu nehmen, akzentuiert Husserl seine Beobachtungen des Zusammenhangs zwischen Rationalität und Zeichengebrauch kulturkritisch, indem er einen Formalismus mathematischer Rationalität mit der Vielfalt lebensweltlicher Sinnbezüge kontrastiert. Einen solch starken Kontrast sieht Cassirer nicht. Zwischen 1923 und 1929 entwirft Cassirer in seiner Studie zur »Philosophie der symbolischen Formen« ein Bild, das Wissensformen der modernen Gesellschaft genealogisch aus der Entwicklung von Symbolformen heraus begreift. Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft und Philosophie entfalten sukzessive einen Kosmos simultaner Zeichenordnungen. Diese bringen hervor, was Gegenstand und Form des Wissens sein kann. 12 Einseitige Dominanzen bestimmter Symbolformen oder gar das Vergessen ganzer symbolischer Welten sind darin nicht vorgesehen. Symbolische Ordnungsformen existieren im Plural. Die vierte Position ist eine wissenssoziologische. Was ist, fragt Emile Durkheim im Vorwort zur zweiten Auflage seiner »Regeln der soziologischen Methode« (1895), eine soziale Tatsache? Es ist, so lautet seine Antwort, ein Ding, das nicht »von Natur aus« zugänglich ist und sich auch reinem Denken nicht erschließt, weil es experimentelle Anstrengungen verlangt. Am wichtigsten sei es, meint Durkheim, zu wissen, daß man »absolut nicht weiß, was sie sind« und sie deshalb auch nicht »in diese oder jene Kategorie des Seienden einzureihen« versuche. 13 Phänomene, die erst innerhalb einer Ordnung entstehen, lassen sich nur mit den Eigenschaften des Ganzen dieser Ordnung erklären. Komplexes erschließt sich eben nur aus Komplexem. 14 Max Weber hebt hervor, daß es nicht darum gehe, der Welt ihre Ordnung vollständig abzulesen. Fragend verleihen wir ihr vielmehr Sinn. Um

Vgl. Cassirer, E.: Philosophie der symbolischen Formen (1923, 1925, 1929). Darmstadt 1953 (Bd. I und II), 1954 (Bd. III). 13 Durkheim, E.: Die Regeln der soziologischen Methode (1895). Frankfurt/M. 1984, S. 90. 14 Vgl. Durkheim, E.: Soziologie und Philosophie (1924). Frankfurt/M. 1976. 12

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Wirklichkeit entwickeln

Sinn zu schaffen, muß Wirklichkeit denkend geordnet werden. 15 Doch nicht um irgendeinen Sinn soll es, wie Max Horkheimer einwendet, gehen. Menschen suchen nach einer besseren Alternative zum Gegenwärtigen. Deshalb, so spitzt Horkheimer 1937 sein Plädoyer für eine Kritische Theorie zu, muß jede Gegenwart sich ihr Bild der Zukunft machen. Dieses Bild in größtmöglicher begrifflicher Strenge zu entwickeln verlangt nun aber, dem »Eigensinn der Phantasie« Raum zu geben, der sich auf die Addition und Kategorisierung von Tatsachen nicht reduzieren läßt. 16 Wer Welt wie eine Ansammlung von Dingen oder Tatsachen betrachtet, erdrosselt die Kraft der Phantasie, über das Vergangene hinauszugelangen. Nicht immer steckt kritische Phantasie in wissenschaftlichen Methoden. Oft entfaltet sie sich auf den Flügeln von Kunst und Kultur, wie die Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung in ihren Studien herausarbeiten. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Erzählung von Borges und dem Bild einer wissenschaftstheoretischen Konstellation werden verständlich, wenn man sie als Antworten auf die Frage liest, wie Wirklichkeit, Sinn und Zeichen zusammenhängen. Tatsachen sind Entitäten, die nur im Kontext von Sinn vorkommen. Sinn aber ist eine Struktur, die sich in Verweisungsräumen entfaltet, in denen es weder eine Zentralperspektive noch eine ideale Repräsentation zwischen Signifikaten und Signifikanten gibt. Erst innerhalb sinnhafter Ordnungen, in denen wir uns wie in einem Geflecht von Wegen und Nebenwegen orientieren, entstehen Möglichkeiten der Kategorisierung – etwa zwischen Dingen, Handlungen und Akteuren. Für solche Unterscheidungen sind Zeichen unerläßlich, die ihrerseits verschiedene Ordnungen ausprägen, Wirkliches zu sortieren, zu verbinden und zu unterscheiden. Weil Sinn-Ordnungen ZeichenOrdnungen sind, ist keine Ordnung absolut oder identisch im Wandel der Zeit. Offensichtlich sind epistemische Ordnungen historische Ordnungen. Ihre Evolution beruht auf Selektion, Transformation und relativem Vergessen. Deshalb spielt die Zukunft eine entscheidende Rolle im Willen zum Wissen einer Gegenwart oder dem, was

Vgl. Weber, M.: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904). In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 19887, S. 146–214, hier S. 155. 16 Horkheimer, M.: Traditionelle und kritische Theorie. In: Zeitschrift für Sozialforschung VI (1937), H. 2, S. 245–294, hier S. 273. Reprint München 1980. 15

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Darstellungsformate

Horkheimer ein Interesse an Erkenntnis nennt. Tatsachen erweisen sich als zeitabhängig. Stets ist es jemand, der sich zu einem Zeitpunkt Bilder von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft macht, in denen Ordnungen möglicher Tatsachen eine Rolle spielen. Zwischen Beobachtung, Beobachtungsobjekt und Beobachter existieren zirkuläre Abhängigkeiten. Mit welchen Zeichenarten sich Beobachter ein Bild machen, Tatsachen kategorisieren, Erfahrung strukturieren oder Bedeutungen beimessen, ist von größter Bedeutung. Husserl hatte auf die schrecklichen Konsequenzen verwiesen, die es haben kann, qualitative Differenzen und Vergleiche mathematisch zu nivellieren. Wenn also Wirklichkeit nur in der Form von Sinn zugänglich ist, wenn Sinn außerdem in der Form zeichenhafter Verweisungen vorkommt und Ordnungen im Plural erzeugt, dann fällt zeichenförmigen Arrangements eine fundamentale Bedeutung zu, mit denen Bewußtsein, Kommunikation und Gesellschaft konkurrierende Ordnungen des Wirklichen kultivieren. Welt existiert als Sinn in Darstellungen. Phantasie, die ihre produktive Kraft womöglich in künstlerischen Artefakten entfacht, kann wissenschaftstheoretische Reflexionen auch durch experimentelle Geschichten über unmögliche epistemische Modelle bereichern. Einsichten, um die in der Wissenschaftstheorie gerungen wurde, hätte auch Ireneo Funes erwerben müssen.

2.3

Philosophie: Friedrich Nietzsche und Niklas Luhmann

Sinnhafte Ordnungsformen von Welt verweisen auf ein Jetzt, in dem sie vollzogen werden. Es sind zeitliche Ordnungen. Jegliche Organisation von Erfahrung erfolgt in der Gegenwart, auch wenn sie sich auf Vergangenes richtet. Um je jetzt Gegenstand von Beobachtungen werden zu können, ist Welt als Gewordensein zu betrachten: ein dynamischer Raum des Unterscheidbaren. Deshalb kann ihre Zukunft offen, weil von neuen Gegenwarten abhängig sein. Ireneo Funes’ Traum von der absoluten Erinnerung wäre die Spiegelung des Traums einer homogenen, ohne Rest in Sätzen zu protokollierenden Erfahrung. Vergangenheit und Zukunft verhielten sich äquivalent, so daß Wissen prognostische Qualität hätte. Wer hingegen die Sinn-Form von Erfahrung und Wirklichkeit hervorhebt, muß Wirklichkeit als etwas betrachten, was erzeugt wird. Sie zeigt sich dann in Ereignissen, deren Wirklichkeit aus ihrer Nichtlinearität und ihrer Fähigkeit 333 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Wirklichkeit entwickeln

entspringt, zu überraschen. Vielleicht läßt sie sich, mehr oder weniger lückenhaft, retrospektiv beschreiben, nicht jedoch errechnen. Darin kommen Kultursoziologen mit Symbolphilosophen, Historikern oder Literaten überein. Dann wären Beschreibungen auch nicht an einer Wirklichkeit-wie-sie-ist zu kontrollieren. Ihr Status wäre nicht der von Protokollsätzen, sondern von Interventionen, die etwas sehen lassen. Zwischen den Ordnungen von Wissenschaft, Literatur und Philosophie wären strikte Grenzen nicht vorgegeben. Es käme darauf an, sich eine gute Vorstellung davon zu machen, was es heißt, eine Fiktion – ein in seiner Artifizialität bewußtes Bild – anzufertigen. Dazu kann es hilfreich sein, auf die Form der Grenze zu schauen und Zusammenhänge zwischen Grenze und Gegenwart in Betracht zu ziehen. Deshalb erweitere ich die Unterscheidung zwischen Literatur und Wissenschaftstheorie zeit- und kulturphilosophisch. Grenzen sind Unterscheidungen, die gezogen werden. Sie intervenieren in etwas, das vorgegeben ist und nun in Form und Kontext gespalten wird. Unterscheidungsgesten erzeugen Ordnungsgestalten der Welt. Welt ist Gegenwart, weil sie je jetzt unterschieden wird. Auch Erinnern ist eine Form des Unterscheidens in der Gegenwart, die wiederum von einer wahrscheinlichen Zukunft beeinflußt wird. Ohne Zeichen kommt dieser Prozeß nicht in Gang. Wirkliches zu erkennen heißt, sich auf Gewordenes zu beziehen, das doch im unterscheidenden Erinnern verändert wird. Funes’ Gedächtnis ist kein Vorbild wissenschaftlicher Geschichtsschreibung. Vergangenes muß in Arrangements selektiven Erinnerns eintreten, um in einer Gegenwart bedeutsam für deren Zukunft zu sein. »Ideale Chroniken« wären nicht nur unmöglich, sie wären bedeutungslos. 17 Wie Ireneo Funes’ Gedächtnis. Heißt also Erkennen Vergessen? Geht im Vergessen nicht Unwiederbringliches verloren wie der Wortlaut des Gesprächs, an das der Erzähler sich nicht mehr erinnert? Zerfällt damit nicht im eigentlichen Sinne Welt? Oder ließe sich das Vergessen als produktive Weise des Umgangs mit der Funktion des Erinnerns im Erkennen verstehen, das eigens bedacht und kultiviert sein will, um die Gegenwart des Wirklichen zu gestalten? Friedrich Nietzsche hat seine Kritik des Erinnerns bekanntlich mit einem Plädoyer für das Vergessen verbunden, um das Wissen für die Zukunft zu befreien. Vergangenes wird in Nietzsches Augen zur Last, wenn es die Kraft zur Zukunft 17

Vgl. Danto, A.: Analytische Philosophie der Geschichte (1965). Frankfurt/M. 1980.

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Darstellungsformate

lähmt und den Blick auf Gewesenes fixiert. Vergessen befreit, wenn es dem »Leben« Möglichkeiten eröffnet, sich von hemmenden Bindungen zu lösen. Zum bloßen Zuschauer ist in seinen Augen der moderne Mensch geworden. Er gleicht darin Ireneo Funes: Fixiert aufs Erinnern, verpaßt er das Leben. Als Gegengift zum historischen Denken empfiehlt Nietzsche neben der Kraft des Vergessens die Besinnung auf Kunst und Religion als überhistorische Mächte. 18 Mit der Kraft der Phantasie schmelzen sie nämlich erstarrte Unterscheidungen ein, um neue Figuren und Bilder zu erschaffen. Zuwendung verdient Vergangenes im Dienste gegenwärtigen Lebens. Ein Wille zur Wahrheit, als Wille zur symbolischen Wiederholung dessen, was war, wäre ebenso gefährlich für die Gegenwart wie eine pietätvolle Verehrung des Gewesenen zu Lasten des Neuen. Tödlich wirkt die Allianz von Wahrheitswille und Erinnerungssehnsucht. Vergessen wird Nietzsche zur Geste des Erinnerns mit weltschöpferischer Bedeutung. Nietzsches Perspektive läßt sich erweitern. Sie öffnet den Blick für die Vielfalt der Gegenwarten und die Pluralität der Welt. Wenn Welt immer die Form der Gegenwart hat, gibt es so viele Wirklichkeiten wie Gegenwarten, und so viele Gegenwarten wie Unterscheidungsprozesse. Nicht nur das Bewußtsein der Einzelnen, auch soziale, organische und sogar anorganische Ordnungen realisieren Gegenwart. Damit pluralisieren sich Ordnungen möglicher Tatsachen. Wer Wirkliches unterscheiden möchte, muß beobachten, wie unterschieden wird. Er muß Unterscheidungen vergleichen. Das ist eine Erfahrung, die moderne Kulturen prägt. Es liegt nahe, in der Ordnung des Sozialen neben dem menschlichen Bewußtsein vor allem Organisationen zu betrachten, da Organisationen das Gesicht der modernen Gesellschaft prägen und maßgeblich zur Pflege des Verhältnisses von Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart der Kultur beitragen. Wie das Bewußtsein operieren Organisationen in der Gegenwart. Anders als das Bewußtsein formieren sie nicht Wahrnehmung, sondern Kommunikation. Diese Differenz wiederum bleibt dem bewußten Erleben oft unverständlich und motiviert Entfremdungsgefühle. Ganze Traditionen kulturkritischen Denkens gründen auf solchen Erfahrungen. Vergangenheit und Zukunft bleiben jeweils Vgl. Nietzsche, F.: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Unzeitgemäße Betrachtungen II. In: Kritische Studienausgabe. Hrsgg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. I. München 1988, S. 243–334, hier S. 330.

18

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Wirklichkeit entwickeln

Funktionen der Gegenwart. Allein Gegenwart ist aktual wirklich. Indem sie Kommunikation durch Entscheidungen ordnen, arbeiten Organisationen aber mit der Fiktion einer Zeitumkehr: Zwar bleibt Zukunft unbestimmt, doch operiert die »Entscheidung« mit der Annahme, als Gegenwart durch Vergangenheit nicht festgelegt zu sein und deshalb Zukunft bestimmen zu können. Organisationen führen ein indeterministisches Zeitschema in Gesellschaft ein. Entscheidungen vollziehen Gegenwart, indem sie sich Vergangenheiten suchen, um Zukunft als unbestimmt – und deshalb bestimmbar – bestimmen zu können. 19 Primäre Funktion des Gedächtnisses ist demnach das Vergessen. Ohne Vergessen könnte Gegenwart keine alternativen Zukünfte im Blick auf anschlußreich erscheinende Vergangenheiten entwerfen. »Ohne Vergessen gäbe es weder Lernen noch Evolution.« 20 Ein unerbittliches Gedächtnis wie das von Ireneo Funes wirkt im Blick auf die Wirklichkeit und Zeit von Organisationen fast noch bizarrer als im Blick auf das Bewußtsein. Es ist geradezu das Komplementärmodell für Zeiterfahrungen der modernen Kultur. Das hat Folgen für unser Verständnis der Welt und des Wissens. Wenn immer mehr erinnert wird, weil immer mehr Organisationen – und Bewußtseine, nicht zuletzt Bewußtseine, die in Organisationen verwickelt sind – selektive Vergangenheiten für ihre Zukünfte in diversen Gegenwarten benötigen, fällt immer mehr dem Vergessen anheim. Wissen büßt seine Orientierungskraft ein: Ist alles vergleichbar, bleibt nichts verbindlich. 21 Das scheint ein charakteristischer Zug der modernen Kultur zu sein. Sie multipliziert Vergangenheiten, gibt sie für unendliche Vergleiche frei, macht Verschiedenes ähnlich und entkoppelt Zukunft von Vergangenheit. Vorstellungen linearer, auf Fortschritt ausgerichteter Zeit konkurrieren mit Vorstellungen simultaner Zeiten, paralleler Muster oder konkurrierender Deutungen. An die Stelle weniger »großer Erzählungen« oder wissenschaftlich validierter, politisch orientierender Zeitdeutungen treten Kaleidoskope des Erinnerns. Perspektiven, Fragen, Vergleiche, Hoffnungen, Bedürfnisse oder spezifische Formen des Organisationsgedächtnisses unterminieren die Einheit des Gewesenen. Erinnern und Vergessen bedingen einander wechselseitig, realisieren sie Vergangenes doch Vgl. Luhmann, N.: Organisation und Entscheidung. Opladen, Wiesbaden 2000, S. 165 ff. 20 Luhmann, N.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1997, S. 579. 21 Vgl. ebenda, S. 591 f. 19

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Darstellungsformate

erst in fragmentarischen, nie abgeschlossenen Darstellungen. Wirklichkeit löst sich dadurch nicht etwa auf. Vielmehr spricht einiges dafür, sie als eine besonders belastbare, weil elastische Ordnung zu betrachten. Von punktuellen Zweifeln, Kritiken oder Negationen wird sie nicht erschüttert, weil sie eine Ordnung ohne Zentrum ist. Solche Arten des Vergessens sind mit einem unerbittlichen Gedächtnis nicht vereinbar. Dessen Ideal läßt Selektivität – und Sinn – nicht zu. Es schreibt fest, was doch veränderlich ist. Konstanzzumutungen behalten gegenüber der Freiheit zur Abweichung die Oberhand. Das gilt nicht selten als vernünftig. Aber Nietzsches Kritik eines historistischen Zeitalters trifft ebenso die Sehnsucht der Wissenschaften nach einer möglichst kompletten Beschreibung des Wirklichen. Die Wirklichkeit des Gegenwärtigen erweist sich immer wieder als eine operative Lücke des Unterscheidens. Sich selbst bleibt sie als Aktualität des Unterscheidens unzugänglich. Borges realisiert sie als Unterscheidungsgeste der Literatur. Grenzen – Unterscheidungen – sind es, die den Kern des Wirklichen ausmachen, weil sie unbezeichenbar sind. Wirkliches entsteht im Verketten von Unterscheidungen. Indem Kontingenzen in Relation treten, einander kreuzen, verstärken und einschränken, ohne deswegen homolog zu sein oder einer einheitlichen Logik zu gehorchen, schraubt sich der Prozeß gewesener Wirklichkeit in eine unbekannte Zukunft, die wiederum vom Bild ihrer Vergangenheit beeinflußt wird. Wirklichkeit erscheint als Leerstelle des Bestimmten, Interferenz der Unterscheidungen oder sich entziehendes Wesen, das retrospektiv als Spur seiner Relationen und Kontraste zu entwickeln – darzustellen – ist. Man könnte in der Sprache der Metaphysik sagen, daß Welt stets Gegenwart und Gegenwart das Absolute, weil maximal unbestimmte, aber alles weitere Bestimmende ist. Jedes Wesen ist insofern ein Absolutes, als sich in ihm Welt als unendliche Relationierung zusammenzieht. Unbeobachtbar und doch nur als entfaltetes Bestimmtes ein zugleich Sichtbares und Wirkliches, ist Gegenwart die operative Auswahl des Gewesenen im Dienste des »Lebens« – ein unschuldiges Vergessen. Nicht Substanzen oder einfache Kausalitäten, sondern Lücken, Spiele der Kontraste, Ordnungen der Darstellung und Register des Kompossiblen machen Welt als Praxis verständlich. Ihre Beobachtung erfordert Interventionen in Welt: Erinnern und Erkennen sind weltschöpferische Tätigkeiten, denn in Symbolen wird Natur reflexiv. Von nun an multiplizieren symbolisch geführte Beobachtungen sinnhafte Verweisungen, 337 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Wirklichkeit entwickeln

erschaffen Zeit-Räume simultaner Unterschiedlichkeit, ordnen Verschiedenes auf verschiedene Weise zu Ähnlichem, ziehen aus der Unterscheidung von Bewußtsein und Kommunikation Gewinne, die Kultur und Gesellschaft hervortreiben, und konfrontieren ihre Beobachtung mit dem Rätsel des Wissens: daß jede Bestimmung nur um den Preis der bestimmten Unbestimmtheit ihres eigenen Fortschreitens möglich ist. Im Kontrast von Bestimmtem und Unbestimmtem stellen sich Fragen der Metaphysik, Politik und Religion: Wie wird unterschieden? Wer unterscheidet? Was ist der bestimmte Unterschied von Unterschied und Unterscheidung im Kontext der Welt?

2.4

Theater: Rimini Protokoll

Formen des Bestimmten verweisen auf Formate ihrer Darstellung. In der klassischen Philosophie des Platon und Aristoteles werden zwei Formate in Betracht gezogen, in denen philosophische Reflexionen auf die Form des Bestimmten zur Erscheinung gelangen: Theater und Text. Sie schließen einander nicht aus, konkurrieren jedoch miteinander und entfalten ihre Stärken durchaus im Kontrast zueinander. In beiden Formaten spielt der sorgfältige Umgang mit den Grenzen des Unterscheidens eine wichtige Rolle. Diese Tradition möchte ich aufgreifen, um die wirklichkeitskonstitutive Bedeutung von Darstellungen in einem Format zu spiegeln, das den Vergleich von Literatur und Wissenschaftstheorie durch eine weitere Unterscheidung ergänzt und die zeitphilosophischen Reflexionen zur Funktion gegenwärtigen Unterscheidens exemplarisch verdichtet: das Theater. An ihm zeigt sich, wie produktiv Kontraste in Darstellungen arrangiert werden können, um Wirklichkeit als je gegenwärtigen Bestimmungsprozeß zu bestimmen. Dieses Beispiel ist zugleich ein Modell des Erinnerns, des Erkennens und des Verstehens. Anders als das klassische Theater stützt es sich nicht auf eine Handlungsdramaturgie. Vielmehr weicht es von Empfehlungen der Aristotelischen Poetik ab, um stattdessen dokumentarische Qualitäten zu entwickeln, die es in die Nähe zu ethnografischen Beschreibungen bringen. 22 Es handelt sich

22

Vgl. Kapitel Dramaturgische Logik.

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Darstellungsformate

um eine Performance von »Rimini Protokoll« mit dem Titel »Situation Rooms«. 23 Zwanzig Zuschauer betreten eine Art Filmset in einer Halle, nachdem sie ein iPad mit Kopfhörer ausgehändigt bekommen haben. Auf dem kleinen Bildschirm verfolgen sie einen Film, der die Räume und Gegenstände zeigt, die sie durchwandern. Der Film erzählt jeweils die Geschichte einer Person. Während der Performance lernen wir unterschiedliche Personen und deren Sichtweisen kennen, deren Rolle wir nach und nach einnehmen. Alle Personen sind »real«. Ihre Biographie wurde historisch und dokumentarisch recherchiert. Alle haben, in verschiedener Funktion, mit Krieg und Waffenhandel zu tun. Sie spielen jeweils eine Rolle bei historischen Ereignissen. Diese Ereignisse kennen wir aus den Massenmedien. Bilder, Kommentare, Erklärungen und Konflikte sind mehr oder weniger vertraut. Während wir dem Film folgen, bewegen wir uns durch einen Kontext, den wir mit den kulturell vertrauten Bildern in Einklang zu bringen versuchen. Wir suchen nach Passungen zwischen Bild und Wirklichkeit, die doch zugleich eine offensichtlich artifiziell erzeugte Realität ist, die wiederum mit einer Wirklichkeit zusammenhängt, die wir außerhalb des Theaters zu kennen glauben. Außerhalb des Theaters begegnen wir jedoch analogen symbolischen Formen: Bildern, Erzählungen, Daten und Kommentaren. Auch deren Typik wird bewußt, denn wir kennen sie als inszenierte Formen medialer Berichterstattung. Indem wir nacheinander verschiedene Personen »sind«, beobachten wir auch andere Besucher, die soeben Rollen übernehmen, die wir bereits »waren« oder noch sein werden. So lernen wir verschiedene Menschen und deren Handlungen kennen: Flüchtling, Waffenhändler, Menschenrechtsanwalt, Bundestagsabgeordneter, Sportschütze, Chirurg von Ärzte ohne Grenzen, Journalist, Waffenmechaniker, Rüstungsmanager, Protokollchef eines Unternehmens, Kantinenchefin, Pazifist, Entwickler schußsicherer Kleidung, Bootsflüchtling, Drohnenpilot, Kindersoldat oder Fotograf. Geschichten, Orte, Ereignisse, Gegenstände und Logiken verschlingen sich zu einem labyrinthisch anmutenden Geflecht. Kontraste zwischen Dingen, anwesenden Personen, im Film vorkommenden Personen, Bildern, Kommentaren, Erzählungen oder Daten erzeugen einerseits eine Fülle an Informationen, andererseits aber widersprüchliche Erfahrungen. Alles scheint verständlich, doch 23

Gesehen habe ich das Stück auf der Ruhr-Triennale 2013.

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Wirklichkeit entwickeln

führt es nicht zum Verstehen. Die Erfahrung, in einer Theaterkonstellation auf einer Liege zu liegen, die in einem Buschlazarett für Operationen Verwendung findet, erweist sich beinahe als eindrucksvoller als die Informationen, die wir über das Operieren bekommen. Fotografien in einer Schublade, die schwer verstümmelte Menschen zeigen, verlangen ein eigenes Recht gegenüber der klaren Logik eines Drohnenpiloten, der davon spricht, wie viele Menschenleben und unnötiges Leiden durch die neue Militärtechnik gerettet werden. Wir erleben, wie Bilder der Nachrichten, die uns fast täglich erreichen, ein Kaleidoskop von Unterscheidungen erzeugen, hinter dem das verschwindet, was wir für Wirklichkeit halten. Doch ohne Worte, Bilder oder Zahlen haben wir keinen Zugang zu einer Wirklichkeit, die wir verstehen möchten. Wirklichkeit begegnet eben in der Form von Sinn. Die Inszenierung von Rimini Protokoll verwandelt das Fragmentarische unseres Wissens und die Vagheit unserer Erfahrung in eine Darstellung, die solche Formen der Reflexion verfügbar macht, weil sie auf Kontraste statt vermeintliche Synthesen setzt. Zuschauer bewegen sich durch einen Kontext ohne Zentralperspektive. Eindeutige Urteile erscheinen unmöglich. Gut und Böse sind schwer zu trennen. Ereignisse haben verschiedene Bedeutung, je nachdem, wer darin verstrickt ist. Eindeutige Erklärungen mißlingen. Moral ist ein Faktor im Geschäft mit Krieg und Waffen, keine Alternative zum schlecht Realen. Zusammenhänge sind ebenso offensichtlich wie bruchstückhaft. Eine »wahre« Erzählung gibt es nicht, obwohl alle Ereignisse und Personen akribisch recherchiert sind. Wirkliches begegnet als dissonanter Bedeutungsraum. Wissenschaftliche Erklärungen hoffen jedoch ebenso wie alltägliche Bemühungen des Verstehens auf eine Konsonanz der Erfahrung. Deshalb ist die inszenierte Erfahrung in »Situation Rooms« so anstrengend. Wir vergleichen Dinge, Erinnerungen, Bilder, Rollen und Plausibilitäten, gelangen jedoch nicht zu einer abschließenden Deutung, die der Frage nach dem Was der Sache selbst gerecht würde. Dennoch wird klar, worin das Allgemeine besteht, mit dem wir konfrontiert sind: Krieg und Waffenhandel. Je mehr wir wissen, desto schwieriger werden Bewertungen. Wissen tritt gegenüber dem Denken der »Sache« in den Hintergrund. Tatsachen haben eine Geschichte, doch diese Geschichten zu erzählen, mündet nicht in eine Erklärung, sondern in eine komplexe Darstellung des Wirklichen, der die vermeintliche Logik abhanden kam. Verstehen bleibt perspektivisch. Von Besonderem gelangen wir zu Besonderem. Wir müssen uns, im Theater wie 340 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Darstellungsformate

außerhalb des Theaters, zu etwas verhalten, was uns in seinem Unterscheidungsreichtum überfordert. Das heißt es, sich zu erinnern, zu erkennen und zu denken. Auf Vorstellungen neuzeitlicher Rationalität von der Natur des Erkennens läßt es sich nicht reduzieren, sofern diese auf eine reine Selbstreferenz des Bewußtseins oder auf eine Passung zwischen Sätzen und Tatsachen oder auf mathematische Modellierungen des Wirklichen abzielen. Überhaupt scheint Vollständigkeit keine angemessene Idee des Erkennens zu sein. Welt ist keine Menge von Entitäten oder Tatsachen, die sich sammeln, registrieren und symbolisch repräsentieren ließen. Diesem Zwang ist Ireneo Funes erlegen. Rationalisierungseffekte erweisen sich vielleicht dort am stärksten, wo es auf die Unterscheidung des Verschiedenen statt auf Sammlungen eindeutiger Tatsachen und fester Korrelationen ankommt. Kontingenzen sichtbar zu machen und zu ertragen ist etwas, was zur Grunderfahrung moderner Gesellschaften gehört. In diesen Gesellschaften wird es immer schwieriger, noch von exemplarischen Erfahrungen zu sprechen, die die »eine« Erzählung des Gewesenen oder die Wahrheit des Wirklichen fundieren könnten. Erfahrungen begegnen im Plural. Deutungen oder Erklärungen sind vielfältig. Einer solchen Vielfalt vergleichend zu begegnen ist kein Relativismus. Eher geht es darum, Verhaltensmöglichkeiten zu Erfahrungen zu entwickeln. »Situation Rooms« tut etwas, was Ireneo Funes nicht kann: Die Inszenierung fragt nach der Welt. Damit greift sie ein zentrales Moment geschichtswissenschaftlichen Erinnerns auf, um es sogleich experimentell in eine Entwicklung des Wirklichen zu transformieren. An solchen Darstellungen können wir lernen, warum wir so viel aus Bildern oder im Theater lernen, warum es so wesentlich ist, sich ein Bild zu machen, dessen Wahrheit nicht unbedingt aus seinen wissenschaftlichen Unterscheidungsformen besteht. Darstellungen können Erfahrungen anregen, statt sie einfach zu repräsentieren oder zu resümieren. Rimini Protokoll macht uns den konstitutiven Zusammenhang von Erinnerung und Imagination, Rahmung und Wirklichkeit erfahrbar. 24 Ohne Wirkliches zu entwickeln, entsteht kein Verhältnis zum Wirklichen. Zum Erinnern und zum Wissen gehören Perspektivität, Erfahrung und Erwartungen ebenso wie eine Darstellung, die Vgl. Siegmund, G.: Die Kunst des Erinnerns. In: Dreysse, M./Malzacher, F. (Hrsg.): Rimini Protokoll. Berlin 2007, S. 182–205; Dreysse, M.: Die Aufführung beginnt jetzt. Zum Verhältnis von Realität und Fiktion. In: ebd., S. 76–97.

24

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Wirklichkeit entwickeln

dazu verhilft, Rahmungen zu vollziehen, mit denen sich jetzt Bestimmtes von Unbestimmtem unterscheiden läßt. Reflexion bleibt konkret: im Blick auf die Zeit, darauf, wer hier fragt, mit welchen Zeichen er die Welt erschließt und was in den Fokus seiner Vergleiche rückt. Wir müssen anfangen zu schreiben, Unterscheidungen zu finden und uns zu entscheiden, wie wir unterscheiden wollen.

3.

Vergrößerung: Alfred N. Whitehead

Die Gedankenfigur, die ich mit einer Erzählung von Jorge Luis Borges eingeleitet, wissenschaftstheoretisch kontrastiert, kulturphilosophisch zugespitzt und am Beispiel einer Theaterperformance weiterentwickelt habe, möchte ich abschließend in ihrem Maßstab vergrößern. Zur Entwicklung des Wirklichen gehört das Vergrößern von Beobachtungen hinzu. Vergrößern unterscheidet sich vom Generalisieren. Weniger um allgemeine Gesetze als um Schärfungen symbolischer Unterscheidungen ist es zu tun. Maßstabwechsel, Fokussierungen und Kontraste helfen, neue Vergleiche anzuregen, um Differenzen zu stimulieren. Der größte verfügbare Maßstab ist wohl der kosmologische. Auf was ließe sich also besser Bezug nehmen als auf Überlegungen von Alfred North Whitehead? Seine Schlußreflexion über den »Prozeß der Realität« widmet Alfred North Whitehead einem angemessenen Verständnis von Gott und Welt. Weder ist dieser kosmologische Gott ein Herrscher noch ein unbewegter Beweger, weder ein transzendenter Weltenbauer noch ein strenger Hüter der Moral. Mit Nachsicht und Liebe betrachtet er die Welt. Zufrieden schaut er auf die Gegenwart, ohne diese im Lichte einer besseren Zukunft zu entwerten. Welt nämlich »ist« die Realisierung ihrer unendlichen Potentiale je jetzt. Sich vom unendlichen Werden der Welt ein Bild zu machen ist unvermeidlich, und es ist ein jeweils heutiges Erinnerungsbild. Unendliche Formen verlangen nach unendlicher Geduld. Geduld, nicht Urteil ist der Modus einer Anwesenheit des Vergangenen in der Gegenwart als immerwährender Transformation, deren Ordnung wiederum der Gedanke Gottes ist. Mit seiner Geduld wird Gott zur Vision der Welt, die einem Gedicht ähnelt. »Retter« der Welt ist er als »Poet der Welt«. Die Verschiedenheit der Formen fügt er zur Harmonie konkreter Kontraste. 25 25

Whitehead, A. N.: Prozeß und Realität (1929). Frankfurt/M. 1987, S. 618.

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Vergrößerung: Alfred N. Whitehead

Das Bild poetischen Erinnerns ist tröstlich, weil es auf messianische oder politische Ambitionen der Erlösung verzichtet. Wenn nichts vergebens war und alles mit allem verbunden bleibt, ist Aktualität der Modus des Vergangenen wie des Zukünftigen. 26 Nichts Vergangenes vergeht, aber es wartet auch nicht auf seine Errettung. Wo Natur und Geist unendliche Transformationen von Formen sind, muß für Vergangenes so wenig gekämpft werden wie Erinnern Erlösung verheißt. 27 Hingegen bedarf der Welt-Poet der unermüdlichen Reflexion der Welt. Er existiert in der Welt im Modus ihrer und seiner Darstellung. Darin wird er zur unendlichen, geduldigen, sich stets verändernden Bestimmung des Verhältnisses von bestimmter Unbestimmtheit, die Welt ist. Whiteheads Poeten-Gott realisiert sich als, mit Friedrich Schlegel gesprochen, Universalpoet. Ewig werdend, nie vollendet, Reflexionen potenzierend und sich in einer unendlichen Reihe von Spiegeln vervielfachend, ist es die Poesie, die im Kleinsten das Größte und im Wirklichen das Unendliche darstellend zu erkennen vermag. In dieser romantischen Idee erhellt sich vielleicht auch Horkheimers Vorstellung davon, sich ein »Bild« zu machen heiße, der »Phantasie« Raum zu schaffen. »Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen.« 28 Verstehen wir Welt nicht als Menge von Tatsachen, sondern als dynamische Ordnung dessen, was jeweils unterschieden werden kann, benötigt sie Formen der Darstellung. Darstellungen sind Unterscheidungspraktiken, die Welt zur Wirklichkeit entwickeln. In Darstellungen wird Welt, als Kontext des in einer Gegenwart Bezeichenbaren, auf eine Weise reflexiv, die es dem Bewußtsein und der Vgl. Peirce, Ch. S.: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus. Hrsgg. v. K.-O. Apel. Frankfurt/M. 1976, S. 474. 27 Vgl. Benjamin, W.: Über den Begriff der Geschichte (1940). In: Gesammelte Schriften Bd. I.2. Frankfurt/M. 1991, S. 691–704. 28 Schlegel, F.: Athenäumsfragment Nr. 116. In: Ders.: Transcendentalphilosophie. Hamburg 1991, S. 107; außerdem Kapitel 7. 26

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Wirklichkeit entwickeln

Kommunikation erlaubt, sich mit eigenen Unterscheidungen, Zeichen, Vergangenheiten, Zukünften und Erwartungen anzuhängen. Der absoluten Aktualität des Unterscheidens als weltschöpferischer Praxis trägt diese Reflexivität ebenso Rechnung wie der Vielfalt der Perspektiven und Unterscheidungsmöglichkeiten. Das retrospektive Bild einer wissenschaftstheoretischen Diskussion läßt sich noch einmal aufgreifen und für die Zwecke der Gegenwart erweitern: Darstellungen sind, in Schlegels Worten, universalpoetische Experimente, die auch einmal Register eingewöhnter Ontologien durcheinanderwürfeln, um Verschiedenes ähnlich zu machen, Vergleiche anzuregen und Identitätszumutungen ironisch zu sabotieren. Zwischen Wissenschaft, Kunst und Philosophie gibt es dann keine strikten, wohl aber kontextuelle Grenzen. Was jeweils Stoff oder Form, Bestimmtes oder Unbestimmtes sein kann, bestimmt die Geste des Unterscheidens, die jemand zu einem Zeitpunkt mit Hilfe einer zeichenhaften Intervention in ein Möglichkeitsfeld vollzieht. In der Kette der Unterscheidungen entwickelt sich Wirkliches. Wissenswert ist es weniger als Unveränderliches denn als konkret Vergleichbares. Zwischen einer Expedition in den brasilianischen Busch, wie Bruno Latour sie beschreibt, einem Balinesischen Hahnenkampf und einer Aufführung von Shakespeares »King Lear«, die Clifford Geertz miteinander vergleicht oder einer Inszenierung von Rimini Protokoll entstehen dann interessante Vergleiche, die Wirkliches und Imaginäres ineinanderweben. Katzen auf Sansibar zu zählen, wäre, wie Clifford Geertz notiert, in der Tat kaum der Mühe wert. Wohl aber, neue Gesellschaften zu versammeln, die bislang fremde Entitäten begrüßen, Dinge als Akteure ernstnehmen und sich in labyrinthische Verweisungen des Wirklichen hineinwagen. 29 Tatschen erscheinen als Gelegenheiten und Herausforderungen, Wirkliches sinnhaft zu entfalten. »Unter dem doppeldeutigen Ausdruck Tatsache kommt das Vermögen einer Entität zum Ausdruck, die Diskussion zu Umwegen zu zwingen, die Ordnung des Diskurses durcheinanderzubringen, mit Gewohnheiten zu brechen und eine Definition des Pluriversums zu stören, die man gerne behalten hätte.« 30 Gestalten und Entitäten verwandeln sich je nachdem, in welchen Darstellungen sie ihre Heimat finden. Maß des Wirklichen ist keine Vgl. Latour, B.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt/M. 2000; außerdem Kapitel 1. 30 Latour, B.: Das Parlament der Dinge. Frankfurt/M. 1999, S. 141. 29

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Vergrößerung: Alfred N. Whitehead

feste Ordnung der Repräsentation, sondern das Potential an Überraschung, das Darstellungen erschließen. Wirkliches meldet sich im Ereignis als Störung. Ereignisse sind keine Entitäten. Sie müssen retrospektiv entwickelt werden, damit sie zukünftige Möglichkeiten sehen lassen. Weniger kommt es darauf an, unerbittlich zu erinnern, als Vergangenheit Gegenwart sein zu lassen. Darstellungen erschaffen experimentelle Tatsachen. Sie erlauben es, verschiedene Formen zeichenhafter Organisation von Erfahrung zu vergleichen, Ontologien und Kategorien auf die Probe zu stellen, indem Dinge den Akteuren beigesellt werden, Entitäten als Prozesse zu beschreiben, simultane Perspektiven im Spiel zu halten und die wirklichkeitskonstitutive Rolle von Beobachtungen im Blick zu behalten. »Situation Rooms« von Rimini Protokoll gibt ein gutes Beispiel für solche Darstellungen, weil hier Text und Theater, Bilder und Sprache, Erinnerungen und Wahrnehmungen, Erfahrungsräume und Massenmedien ineinander gespiegelt werden. Solche Darstellungen sind, mit Clifford Geertz gesprochen, zugleich Bild, Fiktion, Modell und Metapher einer Kultur. 31 Bild, weil die Darstellung etwas sehen läßt, indem sie Grenzen des Unterscheidbaren zieht. Fiktion, weil sie sich als Gemachtes begreift statt als bloß Gefundenes mißversteht. Modell, weil sie im Konkreten Vergrößerungen des Bildmaßstabes anregt. Metapher, weil sie Vergrößerungen des Maßstabs als Übungen des Vergleichens mit anderen Möglichkeiten stimuliert. Darstellungen gleichen Inszenierungen des Unterscheidens im gegenwärtigen Vergleichsraum einer Kultur mit Hilfe symbolischer Ordnungen. Sie sind kulturelle Tatsachen, weil sie Tatsachen erschaffen und relativieren.

31

Vgl. Geertz, C.: Dichte Beschreibung. Frankfurt/M. 1987.

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Epilog

1.

Worte, Bilder, Schlüsse: Citizen Kane

Einem Buch wie diesem ist ein »Fazit« kaum angemessen. Kontraste, Vergleiche und Reihen sind zeigend zu entfalten, nicht zu resümieren. Dennoch gibt es Theoriefiguren oder Kunstwerke, an denen sich der Gedanke, der mich hier beschäftigt, in besonderer Weise verdichtet. Die Heuristik diagrammatischer Kulturphilosophie, deren Verfahren ich in unterschiedlichen Konstellationen versucht habe zu demonstrieren, möchte ich abschließend noch einmal explizit machen, indem ich einen Film mit dem philosophischen Konzept der Idee in Verbindung bringe. Der Film – »Citizen Kane« – fragt inhaltlich und ästhetisch nach einer »Person«. Damit nimmt er eine thematische Konstellation auf, die in verschiedenen Kapiteln dieses Buches eine Rolle spielt. Das Konzept der Idee verweist, mit unterschiedlichen Akzentuierungen, bis auf die Platonische Philosophie zurück. In der Lesart, die ich vorschlage, eröffnet es Spielräume für eine dramaturgische Logik der Darstellung. Auf den ersten Blick scheint die Frage, wer Charles Foster Kane war, leicht zu beantworten: the »greatest newspaper tycoon of this or any other generation«, wie es in einem Nachruf heißt. Doch verwandelt Orson Welles die Frage nach der Person Kanes in ein Rätsel. »Citizen Kane« (1941, 114 Minuten) entfaltet raffinierte Spiele von Zeichen und Verweisungen. Zuschauer werden nicht nur mit widersprüchlichen Informationen über Kane konfrontiert, sie müssen sich auch Rechenschaft darüber geben, welche Verbindungen sie zwischen Worten und Bildern herstellen. Die Story des Films ist schnell erzählt. Erbe eines gewaltigen Vermögens, wird Charles Foster Kane (Orson Welles) Publizist aus Leidenschaft. Sein Wunsch, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, scheitert an einer Kampagne seines Kontrahenten, der Kanes Beziehung zu einer unbegabten Sängerin, Susan Alexander (Dorothy Comingore), ausschlachtet. Aus Trotz 346 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Worte, Bilder, Schlüsse: Citizen Kane

heiratet Kane diese Frau. Seine Versuche, mit aller Macht ihren künstlerischen Erfolg zu erzwingen, treiben Susan Alexander zu einem Selbstmordversuch. Als schwerreicher Kapitalist macht Kane sich zu Beginn seiner Karriere zum politischen Fürsprecher der kleinen Leute. Vereinsamt stirbt er als alter Mann in seinem bizarren Schloß Xanadu. Darin hat er eine chaotische Sammlung von Kunstwerken, Lebewesen und Gegenständen aus aller Welt zusammengetragen. Xanadu gleicht einer sonderbaren Arche Noah, einer Welt im kleinen, in der verschiedenste Objekte ohne erkennbare Ordnung nebeneinander aufgestapelt sind. Je mehr Wissen über die Person zusammenkommt, desto rätselhafter wird deren Wesen. Kane war ein Mann, der polarisierte. Den einen gilt er als Kommunist, anderen als Faschist. Sich selbst sieht er schlicht als »Amerikaner«: »I am, have been, and will be only one thing – an American.« Was es an Informationen über ihn gibt, sagt mindestens so viel über diejenigen aus, die sie äußern, wie über Kane. Zuschauer des Films erhalten Einschätzungen aus der Sicht von fünf Personen, deren Leben mit demjenigen Kanes verbunden war. Von Anfang an ist fraglich, wie verläßlich diese Informationen sind. Jede Perspektive, die hinzukommt, verwandelt das Bild von Kanes Leben mehr in ein Puzzle. Nur wollen dessen Einzelteile sich nicht recht zusammenfügen. Zuschauer betrachten den Film als Bild von Bildern, die sich ineinander spiegeln und miteinander durch mancherlei Symbole verknüpft sind. So stehen einander die erste und die letzte Einstellung spiegelbildlich gegenüber: Die Kamera zeigt ein Schild mit der Aufschrift »No Trespassing«. Es gibt keinen einfachen Zugang, weder in der Filmwirklichkeit noch zum Film. Wie schwierig der Zugang – trotz der einfachen Geschichte – ist, zeigt sich an der komplizierten Relation von Zeichen. Oft sind Bilder mehrdeutig. Häufig stehen sie im Kontrast zu Worten. Spiegel-Bilder lassen Zuschauer fragen, was sie sehen oder wo die Position der Kamera gewesen sein muß. Gegenstände besitzen symbolische Bedeutungen. Sie erscheinen als Bilder eigener Art. Auch die Kamera (Gregg Toland) ist als blickgebende Form bemerkbar. Mitunter reißt sie sich von der Filmwirklichkeit los. Beispielsweise nähert sie sich über ein Dach Susan Alexander, schaut in einer gewagten Kurvenbewegung von oben durch ein Glasdach auf sie herab und sprengt so die Illusion eines filmrealen Raumes. Bringt die Kamera sich auf diese Weise als Instrument des Sehens ins Spiel, wissen Zuschauer, daß, was sie sehen, keine Figur im Film sehen kann. Die Illusion, Figuren 347 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Epilog

in einer Filmwirklichkeit zuzuschauen, überlagert sich mit der Gewißheit, einem Film zuzuschauen. Oft zeigt die Kamera Personen in extremer Auf- und Untersicht. Räumliche Perspektiven gewinnen symbolische Relevanz, da sie auf Bedeutungen der Figuren hinweisen. Eröffnet wird die Ordnung von Unterscheidungen, die »Citizen Kane« entfaltet, mit einem Wort: »Rosebud«. Charles Foster Kane spricht es im Augenblick seines Todes aus. Bildfüllend zeigt die Leinwand Kanes Mund. Dem Wort wird in der Kombination mit dem Bild eine scheinbar überragende Bedeutung verliehen. Zuvor war dem sterbenden Kane eine mit Kunstschnee gefüllte Glaskugel aus der Hand geglitten und auf dem Boden zersplittert. Stehen Glaskugel und Wort deshalb in einem Zusammenhang? Könnten die Bilder in dieser Montage anders »verstanden« werden als inhaltlich eng aufeinander verweisend? Im Moment des (ersten) Sehens ist das wohl kaum möglich. Assoziationen stellen sich ein: Sagen letzte Worte nicht etwas über die Gesamtheit eines Lebens aus? »Rosebud« wird, ganz im Sinne dieser Assoziationslogik, von einem Nachrichtenredakteur als Aufhänger einer Story über den verstorbenen Mr. Kane gewählt. Er soll nach dem Ableben Kanes eine dokumentarische Biographie entlang wichtiger Ereignisse anfertigen. Doch für Mr. Rawlston (Phillip Van Zandt) wird die Bedeutung der Ereignisse noch nicht verständlich. Das ist merkwürdig, denn die Wochenschaureportage schildert tatsächlich die wesentlichen Ereignisse, die der ganze Film in der Folge aus unterschiedlichen Perspektiven wiederholt. Nachrichten, die wie Fakten präsentiert werden, beantworten scheinbar keine Fragen des Publikums. Gesucht wird ein »Aufhänger«, eine Perspektive. Fakten brauchen Rahmungen, um Bedeutung zu erhalten. Beispielsweise entsteht Bedeutung, wenn klar ist, wer eine Information liefert. Etwas ist für jemanden bedeutsam. Für Journalisten ist das eine Binsenweisheit. Charles Foster Kane »ist«, was immer er ist, jemand, dessen Identität von seinem Bild in der Öffentlichkeit abhängt. Er ist eine öffentliche Person – bewundert und gehaßt. Als einflußreicher Zeitungsverleger war er außerdem ein »Meister der Meinungsbildung«. Die öffentliche Person beherrschte die Öffentlichkeit. Mr. Rawlston schickt einen Reporter, Mr. Thompson (William Alland), mit dem Auftrag los, herauszufinden, was »Rosebud« bedeutet. »Bedeutung« meint hier weniger die wörtliche Bedeutung, obwohl auch diese rätselhaft wirkt. Gemeint ist die Bedeutung, die ein 348 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Worte, Bilder, Schlüsse: Citizen Kane

Wort gewinnt, wenn es als letztes Wort eines Sterbenden geäußert wird. Für den Film ist Kanes letztes Wort das erste: Es eröffnet die Geschichte und wirft Fragen nach dem Verhältnis von Wort und Bild, Zeichen und Kontext auf. Am Ende des Films werden Zuschauer gesehen haben, daß die Suche nach der Perspektive, die das letzte Wort liefern sollte, sie in ein Labyrinth von Perspektiven gelockt hat. Das zunächst gesehene und gehörte Wort kehrt schließlich als Wort-Bild zurück, das auf einem Schlitten zu sehen ist. Sehen können Zuschauer dieses Labyrinth, wenn sie jede Perspektive als ein Bild und die Reihe der Perspektiven wiederum als ein (Film)Bild betrachten. Sie müssen sich mithin als Betrachter reflektieren, die eine Unterscheidungsordnung durchlaufen, die der Film entwickelt. Erst retrospektiv, wenn der Film gesehen worden ist, entsteht ein Bild des Films, das jedoch kein Film-Bild mehr ist. Indem die Schlußeinstellung die Anfangseinstellung wieder aufgreift, demonstriert sie, daß wir es mit einer geschlossenen Unterscheidungsordnung zu tun haben. Das Diagramm des Unterscheidens, wie »Citizen Kane« es entfaltet, ist zirkulär angelegt. Zu einem eindeutigen Ergebnis in der Sache – wer war Charles Foster Kane? – führt der Film indes nicht. Im Gegenteil, es wird zunehmend schwieriger, Urteile darüber zu fällen, was überhaupt der Fall ist, bis sogar die Frage, was ein Urteil ist, rätselhaft wird. Symbole und Metaphern durchziehen den Film. Identitäten werden uneindeutig. Handelt es sich bei dem Schlitten, von dem der kleine Charles sich trennen muß, um denselben Schlitten, der in der Schlußszene von Flammen verzehrt wird? Ist er mit dem Schlitten identisch, den Charles zu Weihnachten von seinem Vormund geschenkt bekommt? Würde es einen Unterschied machen, wenn es nicht derselbe Schlitten wäre? Wäre dann der Film »Citizen Kane« noch derselbe Film? Unwillkürlich unterstellen Zuschauer Identitäten, obwohl Bilder des Films Identitäten fraglich machen. Zusammenhänge werden auch dann hergestellt, wenn sie problematisch erscheinen – etwa zwischen einer Glaskugel und einem Wort. Darin liegt eine Macht des Films, die Orson Welles demonstriert: Solange wir zuschauen, sind wir dem Film ausgeliefert. Die Glaskugel ist dafür ein gutes Beispiel. Wie eine Welt im kleinen hält der alte Mann sie in der Hand. Im winterlichen Schneegestöber, das beim Schütteln entsteht, wirkt das Haus darin wie ein beschützter Ort. Ein Kinderspielzeug, wie wohl jeder es kennt. Steht es für die Kindheit Kanes? Repräsentiert es etwas? Warum sonst sollte es so ins Bild kommen? 349 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Epilog

Klammert sich der sterbende Charles Foster Kane also an seine Kindheit? Andererseits beschleicht uns beim Zusehen Skepsis, ob es tatsächlich um so einfache Bedeutungsübertragungen geht. Käme ein solches Urteil einem Klischee nicht verdächtig nahe? Derartige Zweifel werden genährt, indem der Film ständig mit Hinweisen auf die Indirektheit des Sehens arbeitet. Wiederholt symbolisieren Spiegel den Bildcharakter eines Bildes. Indirektes Sehen ist kein schlechteres Sehen, denn häufig gibt es gar kein direktes Sehen. Niemand sieht sein Gesicht direkt. Ohne Spiegelungen kein Selbst. Offensichtlich sind auch Kamerabilder Beispiele für indirektes Sehen. Was wir auf der bildlogischen Ebene bemerken, wiederholt sich auf der inhaltlichen Ebene. Filmbilder verweisen auf die Perspektive, mit der sie aufgenommen werden. Analoges gilt für die fünf Perspektiven auf Charles Foster Kane, die der Film erzählend entfaltet. Manche Bilder lassen daran zweifeln, ob das von der Kamera aufgezeichnete Bild überhaupt die physikalische Repräsentation einer »Wirklichkeit« sein kann. Welles’ Umgang mit Licht und Schatten ist dafür beispielhaft. Als Susan Alexander, Kanes zweite Frau und von der Kritik geschmähte Opernsängerin, auf dem Boden eines Zimmers sitzt, umgeben von ausgebreiteten Zeitungen, die ihr Desaster auf der Bühne kommentieren, tritt Kane vor sie hin. Während er von ihr verlangt, weiterzusingen, wirft seine Gestalt einen tiefen Schatten auf Susan Alexander. Sein Schatten verdunkelt ihre Person mehr, als durch die Lichtverhältnisse im Raum eigentlich erklärlich wäre. Eine scheinbar geringfügige Kontraststeigerung verwandelt Kanes Schatten von einem natürlichen Phänomen in ein Symbol, das der Film wiederum als ästhetisch wie als reflexiv bedeutsames Phänomen vorführt. Kane verdunkelt das Leben seiner Frau. In seiner Übermacht wirkt er wie ein zorniger Gott, der die Geschöpfe verdunkelt, die er geschaffen hat und die er strafen kann, wenn sie seinem Willen nicht gehorchen. Gleichzeitig blickt Susan zu Kane auf. Sie bittet um Mitleid. Hätte nicht wenigstens Kanes eigene Zeitung eine positive Besprechung ihrer Darbietung drucken können? Im Mitleid, um das Susan fleht, bestätigt und relativiert sich für Zuschauer Kanes Position des Herrn und Gebieters. Das Verhältnis von Macht und Ohnmacht, Wut und Flehen, zeigt die Stärke des Herrn als eigentümlich schwach – wie ein Bild seiner Eigenliebe, projiziert auf einen abhängigen Menschen. Kanes Macht und Zorn haben Züge von Trotz, wie ein Kind ihn gegenüber der Welt entwickelt, die seinen Wünschen nicht gefügig ist. Kane in dieser Weise, auf der Höhe seiner Macht, wie ein Kind an350 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Worte, Bilder, Schlüsse: Citizen Kane

zusehen, erinnert an den Anfang des Films. Dort haben wir Kane als Kind kennengelernt, das von seinen Eltern in die Obhut eines Vormunds gegeben wird. Er soll ihm eine bessere Erziehung ermöglichen, als die einfachen Leute sie ihm glauben geben zu können. Gerade hat der kleine Charles noch im Schneetreiben getollt, nun muß er seine Eltern verlassen. Emotionale Kälte korrespondiert symbolisch der winterlichen Kälte in der Szene. Sollten Zuschauer also nicht, wenn sie Mitleid mit Susan Alexander empfinden, auch für Kane Mitleid aufbringen? Zugleich dementiert der Film jedoch solche Gefühle, indem er zeigt, daß Mitleid auf einem Bild beruht, das wir uns als Zuschauer aufgrund von Bildern machen, die Orson Welles gemacht hat. Sehen wir das Bild als Bild, wird Involviertheit durchkreuzt, die affektive Identifikationen ermöglicht. Viele Filme möchten Emotionen wecken. »Citizen Kane« fragt nach der Erzeugung von Gefühlen durch Bilder. Zuschauer, die sich dieser Frage stellen, indem sie auf die Bilder achten, werden zu einem reflexiven Sehen eingeladen, das emotionale Identifizierungen mit einer Figur erschwert. »Citizen Kane« entfaltet eine Reihe von Perspektiven, die wiederum eine Reihe von Bildern organisieren, deren Verweisungssystem der Film ist. Verbunden werden sie auf narrativer Ebene durch die Recherchearbeit Mr. Thompsons. Davon erzählt der Film, indem er eine Reihe kontrastierender Erzählungen verfolgt. Den Erinnerungen der Gesprächspartner von Mr. Thompson verleiht der Film Bilder, die eine Suche nach dem Lebensweg und dem Wesen Mr. Kanes beschreiben. Diese Erzählungen greifen auf, was der Wochenschaufilm anfangs bereits erzählt hatte. Mit Hilfe der Kamera blicken Zuschauer Mr. Thompson bei seiner Arbeit über die Schulter. Wir sehen, was er sieht, und doch sehen wir anderes, als Mr. Thompson in seiner Filmwirklichkeit sehen kann, da wir ein Bild von Mr. Thompson sehen, der bemüht ist, sich ein Bild von Mr. Kane zu machen. Perspektiven der Kamera, der Filmfigur Mr. Thompson und des Zuschauers ähneln einander, ohne identisch zu sein. Kontraste zwischen Worten und Bildern verstärken solche Differenzen: Was Mr. Thompson von seinen Gesprächspartnern hört, zeigt der Film als Teil des Bildes. Orson Welles weckt die Aufmerksamkeit der Zuschauer für Übergänge, Kontraste oder Dissonanzen zwischen Zeichen. Zwar fügen sich allmählich Perspektiven, Bilder und Worte zusammen. Dennoch präsentiert auch die Rahmenerzählung von Mr. Thompsons Recherche nicht das Ganze als Ganzes. Das Ganze existiert vielmehr im Vergleich von Perspektiven und im Kontrast von Bildern. Eine dieser 351 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Epilog

Perspektiven ist der Film bzw. die Sicht der Kamera. Sie zeigt ein Bild vieler Perspektiven, ohne eine geschlossene Bedeutung herbeizuführen. Bilder, Perspektiven oder Erinnerungen im Film gleichen Scherben eines Spiegelbildes, dessen Original unbekannt ist. Zuschauer fühlen sich gezwungen, diese Scherben zusammenzusetzen und sich eine eigene Perspektive zu bilden. Durch dissonante Zeichen im Film sabotiert Orson Welles jedoch die Hoffnung des Zuschauers, eine Gesamtperspektive gewinnen zu können, in der Widersprüche des Films aufgelöst würden. Nicht nur zwischen Perspektiven, Bildern und Worten entstehen Dissonanzen, auch zwischen Bildern und Geräuschen. In der Sterbeszene Kanes rollt die Glaskugel über Stufen, um schließlich zu zerbrechen. Vom Aufprall der Kugel auf dem Boden ist nichts zu hören, bis das Glas zersplittert. Wie ein stilles Traumbild mutet der Fall an. Doch wer könnte hier der Träumende sein? Um welche Art von Wirklichkeit handelt es sich? In einer Scherbe fängt die Kamera das Bild einer Krankenschwester ein, die den Raum betritt. Das Zerbrechen der Kugel im Moment des Todes wirkt wiederum wie ein Symbol für die Person Kane. Steckt darin das Geheimnis, das Kane umgibt? Gestützt wird diese Vermutung aber lediglich durch die exponierte Position der Glaskugel im Bild. »Rosebud«, Kanes letztes Wort, spiegelt sich wiederum in der Schlußszene, in der Zuschauer – als einzige, denn keine Person in der Filmwirklichkeit nimmt die Position der Kamera ein – sehen, wie das Wort Rosebud als Schriftbild auf einem Schlitten in Flammen aufgeht. Was also wissen Zuschauer, wenn sie wissen, daß »Rosebud« ein Wort ist, das auf einem Schlitten stand? Die Anfangsszene des Films, in der Kane als kleiner Junge Abschied von seinen Eltern nimmt, wird als Erinnerungsbild aufgerufen. Vordergründig liegt es nahe, diese Bilder so miteinander zu verknüpfen, daß sie das Leben Kanes als Folge seiner frühen Trennung von den Eltern verständlich machen. »Rosebud« stünde dann für einen Schlitten, den ein einsamer alter Mann als Symbol seiner Kindheit betrachtet. Die Schneewelt in der Glaskugel würde Kindheit oder Sehnsucht nach Kindheit, ähnlich einer Sehnsucht nach Geborgenheit in einer kalten Welt, repräsentieren. Verdichtet in einer Schneelandschaft, in der Charles die letzten Augenblicke seiner Kindheit im elterlichen Haus verbrachte, wäre sie einem Traumbild ähnlich, an das wir unwillkürlich denken, wenn wir die Glaskugel im Todesmoment geräuschlos fallen sehen. Im Todesmoment kommen beide Symbole zu-

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Worte, Bilder, Schlüsse: Citizen Kane

sammen. Sie fügen sich zu einem Schluß, mit dem Leben und Film beschlossen werden. Allerdings fängt die Unterscheidungsarbeit des Films mit diesem Schluß – im doppelten Sinne eines Filmendes und eines Urteils – erst an. Würden wir in dieser Weise Symbole verknüpfen, wie es der Film überdeutlich nahelegt, würden wir ein Urteil vollziehen: Vom letzten Bild schließen wir auf das erste zurück, um von dort aus alle dazwischenliegenden Bilder als plausible Kausalkette zu ordnen. Die Reihe der Bilder des Films ergäbe ein kohärentes Ganzes, das sich im Schluß – des Films und im schließenden Sehen des Zuschauers – zusammenfügt. Dabei würden wir in der Filmwirklichkeit ebenso auf durchgehende Kausalität vertrauen, wie wir es zumeist in der »wirklichen« Welt tun. Wirkliches und Imaginäres wären homologe Ordnungen kausaler Kontinuität. Gewohnheiten, so zu sehen, machen viele Filme sich zunutze. Besteht nicht der Sinn einer Montage darin, Bedeutung zu übertragen? Funktioniert nicht die so entstehende Bedeutung wie ein Schlußakt, der, wenn er gelingt und vom Zuschauer vollzogen wird, eine Filmwirklichkeit als Modell der außerfilmischen Welt sehen läßt? In »Citizen Kane« gelingt dieser Schluß nur, wenn Zuschauer außer acht lassen, daß Worte keine Bilder sind. »Rosebud« ist zunächst ein Wort. Das Schriftbild »Rosebud« auf dem Markenzeichen eines Schlittens in der Schlußszene ist ein Bild von einem Wort, das Zuschauern als gehörtes Wort schon begegnet ist. »Rosebud« ist auch nicht der Name eines bestimmten Schlittens. Es ist ein allgemeines Marken-Zeichen, das dadurch zu etwas Besonderem geworden ist, daß wir es in einem Film gehört haben. Am Schluß erkennen wir das zunächst gehörte Wort als Teil eines Bildes, das gerade im Feuer zerstört wird – als das wir es tatsächlich auf der Leinwand wahrnehmen. Daraus einen Schluß zu ziehen, der den gesamten Film erklärt, wäre voreilig. Zuschauer fragen sich, was sie im Verlauf des Filmes von Mr. Kane anderes gesehen haben als Worte und Bilder – also Zeichen, die auch der »Inquirer«, Kanes Zeitung, benutzt. Worte und Bilder – Zeichen – braucht, wer etwas zeigen will, was »mehr« wäre als Worte und Bilder. Das wollen Kanes »Inquirer« in der Filmrealität und Orson Welles Film. Für Leser des »Inquirer« wie für Kinozuschauer sind eben diese Zeichen das, was sie sehen. In ihnen eine Bedeutung zu sehen, die mehr wäre als Zeichen, heißt, von ihrem Zeichenstatus abzusehen. Wie folgenreich das Absehen von der Form der Zeichen sein kann, demonstriert Orson Welles, indem er darauf hinweist, wie Zeichen – Worte und Bilder – mit Schlüssen und Ur353 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Epilog

teilen verbunden sind. Um diesen Zusammenhang zu bemerken, sind wiederum Zeichen – wie der Film – erforderlich. Wer die Logik der Zeichen nicht erkennt, läuft Gefahr, durch die Zeichen hindurch etwas zu sehen, was nur deshalb wirklich ist, weil es so angesehen wird. Eben das tut Charles Foster Kane anfangs in aufklärerischer Absicht mit seiner Zeitung. Information und Manipulation sind dann kaum zu trennen. Für Filme gilt das ebenso. Gerade in einer kapitalistisch organisierten massenmedialen Öffentlichkeit, die Kanes »Inquirer« eine Zeitlang zu beherrschen scheint, wird es für die Leser oder Zuschauer wichtig, sorgfältig auf die Zeichen zu achten, um nicht voreiligen Schlüssen anheimzufallen. Es ist darauf hingewiesen worden, Orson Welles hätte ein fragwürdiges Beispiel in Amateurpsychologie gegeben, wäre »Rosebud« ein Symbol, das über das Motiv der Kindheit die Person Kanes erklärte. 1 Was der Film, indem er zu einem schlußfolgernden Sehen verlockt, tatsächlich liefert, sind Hinweise auf die Fragwürdigkeit solcher Schlüsse. Orson Welles’ Unterscheidungsspiel läßt sich wie ein Diagramm betrachten, das Zusammenhänge von Darstellung, Evidenz und Urteil befragt. Einsam sitzt Susan Alexander in Xanadu und setzt Puzzles zusammen. Zuschauer assoziieren Susans Puzzle mit dem Film, den sie sehen: Ist er nicht auch ein Puzzle? Wird am Ende nicht jedes Stückchen seinen Platz gefunden haben? Ist nicht sogar Charles Foster Kane ein Puzzle, für das der Film eine Art von Puzzle-Bild ist? Fügen sich die Perspektiven auf Kane schließlich zu einem kohärenten Bild zusammen, wenn alle Teile richtig angeordnet sind? Mr. Thompson, der Reporter, unterstützt diese Vermutung, wenn er in der Schlußszene äußert: »Ich glaube, ›Rosebud‹ ist nur ein Stein aus einem Puzzlespiel.« Doch diese Erklärung ist eine scheinbare. Diese Nichterklärung zu durchschauen führt Zuschauer dahin, in der Ordnung der Bilder das eigentliche Thema des Films zu suchen. PuzzleBilder sind einfache Bilder, die ein kohärentes Motiv künstlich verrätseln, aber stets eine Lösung bereithalten. Für Welles’ Film gilt das nicht. Wenn darin Puzzle-Bilder eine Rolle spielen, so als weiteres Symbol für die Problematik der Bilder und unserer Wahrnehmung. Urteilen, die Bilder und Symbole auf den ersten Blick anzubieten scheinen, ist zu mißtrauen. Einen Anhaltspunkt dafür gibt Mr.

Vgl. Carringer, R. L.: Rosebud, Dead or Alive: Narrative and Symbolic Structure in Citizen Kane. In: PMLA, Vol. 91, No. 2 (1976), S. 185–193.

1

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Worte, Bilder, Schlüsse: Citizen Kane

Thompsons Versuch, sich die Bedeutung von »Rosebud« zu erklären: »Entweder ist Rosebud etwas, was er (Kane, DR) nicht bekommen hat, oder was er verloren hat.« Folgen wir dieser Überlegung der Figur, die sich im Film auf die Suche nach einer Erklärung macht, ohne sie zu finden, hätten wir es mit einem Urteil zu tun. Doch Thompson plagen selbst Zweifel an der Form des Urteils: »Aber ich glaube nicht, daß das alles erklären würde.« Nicht erklären würde diese Erklärung nämlich Zweifel an der Logik des Schließens. Überdies zieht Mr. Thompsons Überlegung in Betracht, daß der Schlüssel zum Ganzen – als entweder Verlorenes oder Unerreichtes – in jedem Fall ein Abwesendes ist. Während Mr. Thompson unter etwas Abwesendem eine Art von Entität in einer Filmrealität oder in Mr. Kanes Leben versteht, verleiht »Citizen Kane« dem Abwesenden eine weitere Bedeutung: Es ist das abwesende, aber dadurch das Verweisungsspiel der Bilder organisierende Zentrum des Films. Sind Zuschauer auf die Formen bildlichen Unterscheidens erst einmal aufmerksam geworden, bemerken sie Logiken der Verknüpfung von Unterscheidungen, wie sie von der Kamera nahegelegt werden. Sehen gewinnt eine Doppelstruktur. Unterschiede verweisen auf Unterscheidungen, wie die Bedeutung des Gesehenen auf das Sehen verweist. Der Blick richtet sich auf den Kontext der Formen und die Weise, wie Zuschauer auf Beobachtungen der Filmfiguren reagieren. In einer Schlüsselszene formuliert Charles Foster Kane die »Grundsatzerklärung« seiner Zeitung. Verkündet wird sie wie ein Gesetz. Für die Menschen soll der »Inquirer« das sein, was das Gas für die Beleuchtung der Städte ist: Bedingung der Möglichkeit des Lichts und des Sehens. Zeitungen stellen Öffentlichkeit her, wie Öffentlichkeit Aufklärung ermöglicht. Allerdings muß jemand – Charles Foster Kane – sich darum kümmern, den Prinzipien der Aufklärung Gehör zu verschaffen. Solche Männer sollten unabhängig genug sein, sich ihr Engagement für die Abhängigen, die noch nicht »sehen«, leisten zu können. Mr. Leland (Joseph Cotten), Freund Kanes und Kulturredakteur des »Inquirer«, mit dem Kane sich schließlich überwirft, bittet darum, dieses Dokument aufzubewahren. »Ich habe das Gefühl, daß es eines Tages Bedeutung bekommen wird.« Während Leland das sagt, wandert sein Blick von Kane zur Kamera. Direkt blickt er die Zuschauer an und bezieht sie in die Filmwirklichkeit ein. Film-Raum und Zuschauer-Raum gehen ineinander über. Zum einen weist Leland auf eine mögliche – oder wahrscheinliche – Zukunft im Film hin. Denn als Zuschauer beobachten wir, wie wir als bedeutungsstiftende 355 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Epilog

Akteure aufgefordert werden, Verknüpfungen von Filmzeichen vorzunehmen. Haben wir gelernt, Zeichen zu lesen, können wir Dinge als Metaphern entziffern. Bedeutung entsteht dann als Bild, das von anderer Art ist als sichtbare Bilder. Als die Kamera sodann ein Bild der gedruckten Grundsatzerklärung zeigt, erkennen wir auf der Zeitungsseite ein Stück Bindfaden, mit dem ein Zeitungsstapel zusammengehalten wird. Dieser Faden erscheint auf dem Bild wie eine Schlinge. Der Faden wird als Bild zum Symbol. Das Bild wirkt wie ein Zeichen, das darauf hindeutet, Kanes Erklärung könne der Strick sein, an dem er sich selbst aufhängen wird. Zum anderen appelliert Mr. Leland an die Zuschauer, über Zusammenhänge von Öffentlichkeit, Zeitung, Aufklärung und Unabhängigkeit nachzudenken. Sehen wird doppelbödig. Bilder wecken Zweifel daran, was sie repräsentieren. Offensichtlich verhalten sich auch Bilder, in denen Perspektiven unterschiedlicher Beobachter auf Kane geschildert werden, nicht einfach homolog zu deren Erzählungen. Zuschauer sehen mehr und anderes, als die Erzähler selbst erlebt haben können. Beispielsweise werden Szenen gezeigt, bei denen die Figuren in der Filmwirklichkeit nicht anwesend waren. Inkongruenzen zwischen Wort und Bild blitzen auf: Der Film imaginiert, wenn er – für den Zuschauer – im Bild »wirklicher« ist als Worte. In der filmischen Darstellung entsteht ein Bedeutungsgewebe im Kontrast der Perspektiven, Worte, Bilder und Zeichen. Vergleiche werden unumgänglich, ohne zu eindeutigen Bildern zu führen. Zweifel am Status der Bilder wecken nicht zuletzt vielfältige Spiegelungsverhältnisse im Film. Paradigmatisch dafür ist die Spiegelszene am Ende. Nach dem Auszug Susan Alexanders aus Xanadu geht der einsame Charles Foster Kane durch sein Märchenschloß. Zum ersten Mal hatte er jemanden um etwas gebeten, doch seine Bitte wurde abgelehnt. Susan verläßt ihn, obwohl er ihr seine Schwäche eingestanden und sie gebeten hatte, zu bleiben. Auf dem Weg durch die Gänge Xanadus zeigt die Kamera Vervielfältigungen von Kanes Bild in einem komplizierten Spiegelsystem. Wo die Kamera steht, die den Blick lenkt, ist schwer zu entscheiden. Wirklichkeit und Spiegelung werden ununterscheidbar. Halten wir die linke Figur im Bild zunächst für den »echten« Kane und die Bilder rechts von ihm für seine Spiegelbilder, wird dieser Eindruck sogleich dementiert: Als die Kamera zurückfährt und den Bildausschnitt vergrößert, taucht eine weitere Kane-Figur links im Bild auf. Ist das nun das filmwirkliche Original? Gibt es überhaupt ein Original? Oder haben wir nur 356 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Worte, Bilder, Schlüsse: Citizen Kane

einander spiegelnde Spiegelbilder des Mannes betrachtet, den wir für die Hauptfigur halten müssen, von der alles Geschehen ausgesagt wird? Wäre das Bild Kanes der echte Kane? Existiert Charles Foster Kane nur, indem Bilder und Worte auf ihn hingeordnet werden, ohne ihn doch als Signifikat aller Signifikanten je bestimmen zu können? Spiegel zeigen ein anderes Bild als die Kamera, die Kanes Spiegelbilder und Bilder von Bildern zeigt. Charles Foster Kane war in seinem Leben ein Mann, der den Menschen Bilder geliefert hat. Der »Inquirer« wollte Bilder liefern, die »mehr« darstellen sollten als Druckerschwärze und Fotos auf Papier. »Citizen Kane« wiederum ist eine Darstellung der Person Charles Foster Kanes, die offensichtlich »mehr« ist als ein Streifen Zelluloid, auf dem Bilder und Worte zu unterscheiden sind. Unter anderem sind darin verschiedene Arten, Bilder zu machen, vergleichbar. Spiegelbilder sind nur eine Art von Bildern. Sie haben den Vorteil – oder, je nachdem, den Nachteil –, als Spiegelbilder erkennbar zu sein, sofern der Blickwinkel des Betrachters – der Kamera – dazu geeignet ist. Spiegelbilder vervielfältigen ein Bild, wobei sie die Relationen verkehren. Was rechts ist, erscheint links. Analog dazu hatte der Wochenschaufilm im Anfang hervorgehoben, wie Charles Foster Kane von den einen als »linker« Kommunist, von anderen als »rechter« Faschist bezeichnet worden ist. Spiegelbilder gleichen auch Werbeplakaten, die Kane in seinem Wahlkampf drucken läßt. Auch diese vervielfältigen ein Bild, verändern Größenverhältnisse und lassen manches weg. Plakate zeigen einen Typus, kein Individuum. Doch erst in der Differenz von Typus und Individuum, zwischen der öffentlichen und der privaten Person, können wir uns Bilder einer Person zu machen versuchen. »Citizen Kane« markiert seine Differenz zu Spiegelbildern wie zu Werbebildern oder Zeitungsbildern. Sind Filmbilder, wenn sie keine Spiegelbilder sind, »wahrer«, oder sind sie, weil als Bilder schwerer zu durchschauen, sogar täuschender? Was macht Charles Foster Kane zum »Citizen« Kane – wenn nicht der Umstand, daß er als jemand existiert, der öffentlich ist, weil er gesehen werden will und gesehen wird? Wer, potentiell von allen, also in der Öffentlichkeit, gesehen wird, kann nicht eindeutig sein, bleibt doch sein Bild jeweils an Perspektiven gebunden. Wohl suggerieren Namen Identität: »Charles Foster Kane« oder »Rosebud«. Doch der Name generiert Differenz statt Identität. Er organisiert ein Spiel der Unterscheidungen, die sich ineinander spiegeln. Vielleicht wäre der Wunsch, die Frage nach der Person Kanes zu beantworten, der falsche Umgang mit der Frage, was oder wer er ist? 357 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Epilog

Und woran könnte man das besser sehen als am Spiel der Zeichen, zum Beispiel im Film?

2.

Ideen

Damit möchte ich einen Begriff ins Spiel bringen, der zu den ältesten der abendländischen Reflexionsgeschichte gehört: die Idee. Der Gedanke der Idee eignet sich in meinen Augen dazu, exemplarische Analysen kultureller Phänomene mit einer heuristischen Matrix zu verbinden, die aus dem Begriff des Zeichens Konsequenzen zieht. Inszenierungen von Kontrasten, Vergleichen und Reihen benutzen und explizieren »Ideen«. In Praktiken des Unterscheidens gewinnen Ideen Form und bestimmen »etwas«. Weder entspringen sie logischen Regeln noch transzendentalen oder universalen Strukturen. Ebensowenig verdanken sie sich beliebigen Konstruktionen. Diagrammatische Unterscheidungsordnungen – wie beispielsweise Filme – entfalten »Ideen«, indem sie verschiedene Zeichen miteinander kombinieren. Das unterscheidet sie von rein begrifflichen Darstellungen. Charles Foster Kane läßt sich in diesem Sinne als »Idee« betrachten, die eine komplexe filmische Unterscheidungstextur organisiert. Darin wird die Frage, was eine »Person« ausmacht oder wie ein »Portrait« beschaffen sein kann, zugleich anschaulich und reflexiv zugänglich. Im Durchlauf einer Darstellung, wie beispielsweise Orson Welles’ Film sie bietet, entstehen kohärente Ordnungen an Unterscheidungen und Verweisungen, ohne dabei etwas zu repräsentieren, zu definieren oder logisch zu gliedern. Ordnungen des Unterscheidens vermögen, wie »Citizen Kane« es demonstriert, Gewinn aus dem Arrangement von Kontrasten zwischen verschiedenen Zeichenarten – Worte, Bilder, Dinge, Perspektiven oder Schatten – zu ziehen. Was dabei an sinnhaften Verweisungen zutage tritt, ist weder mit einem Urteil noch durch Begriffe hinreichend zu fassen. Eher erinnert es an frühromantische Vorstellungen poetischer Darstellungen, die ein Verweisungsgeflecht sich ineinander spiegelnder Formen als Schlüssel verstehen, um Welt und Ich in wechselseitig erhellende Relationen zu setzen. Betrachten wir »Citizen Kane« als Reflexion darüber, wie Bilder einer Person möglich sind, zeigt sich das Portrait – in Gestalt des Films – als Rätsel über die Person. Anders als ein Puzzle-Bild, dessen Rätselnatur künstlich bleibt, anders auch als eine Fotografie, die für das Bild einer Person in ihrer Welt stehen mag, 358 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Ideen

webt Orson Welles’ Film eine Textur aus kontrastierenden Bildern, die, werden sie der Reihe nach angeschaut – und im Film so durchlaufen, daß eine Film-Realität entsteht, die den kontrastierenden Vergleich mit der Wirklichkeit der Zuschauer herausfordert –, komplexe, mithin mehrdeutige Vergleiche anregen, von denen es wiederum kein »Bild« geben kann. Von »Ideen« spreche ich, um diese Unterscheidung zu markieren: Ein unsichtbarer, nicht zu repräsentierender, aber im Vollzug sinnlich geführter Reflexionen wirksamer Fluchtpunkt von Unterscheidungsprozessen, der Kontraste, Vergleiche und Reihen miteinander verknüpft, bleibt innerhalb der Ordnung, die er ermöglicht, unbezeichenbar. Im »Spiel« der Differenzen, von denen Jacques Derrida spricht, kommt er als Abwesendes vor, ähnlich wie »Rosebud« in »Citizen Kane«. Diesen Fluchtpunkt als organisierendes Zentrum einer Ordnung zu entfalten, die keine »Totalität« bildet, erfordert Beschreibungen, die sich formaler Logik entziehen, weil sie mit unvermeidlich dramaturgischen Mitteln eine Reihe von Unterscheidungen zur Darstellung bringen, die je eigene Weisen von Evidenz inszenieren. Ideen resümieren, wie ich an »Citizen Kane« versucht habe zu zeigen, nicht das Gefüge der Zeichen; als Ganzes von Differenzen bringen sie es vielmehr zur Erscheinung. Von Platons Überlegungen zur Idee im Kontext einer dialektischen Praxis läßt sich aus der Perspektive einer Philosophie der Zeichen manches lernen. Ideen sind, wie Platon es in Dialogen vorführt, Unterscheidungen, die Unterscheidungen unterscheidbar machen. In dieser Funktion besteht ihr »Sein«. Aus diesem Grund wirft der Rückgriff auf das Konzept der Idee ein erhellendes Licht auf eine Philosophie performativer Formen, die sich als Arrangement von Unterscheidungen in Darstellungen entfaltet. Ideen sind wirklich: Ihr Sein zeigt sich im Vollzug von Unterscheidungen als das, was Unterscheidungen voraussetzen. In Unterscheidungen existieren Ideen empirisch – sie »zeigen sich«. Zugleich sind sie aber auch nicht empirisch – insofern ihr Sein von anderer Art ist als das mit Hilfe der Unterscheidung Unterschiedene. Das Was und Wie des Unterscheidens werden in Ideen verwechselbar. Es macht wenig Sinn, sie gegeneinander auszuspielen. Ideen wirken wie Scharniere der Welt, in denen sich Relationen von Wirklichem und Möglichem, Erscheinung und Denken drehen. Reine Objektivität, unabhängig von ihrer Unterscheidung, wäre Nichts, wäre sie doch für niemanden etwas. Zwischen Sein, Werden und Unterscheiden be-

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Epilog

steht Äquivalenz. 2 Ideen sind nichts von den Dingen einfach Verschiedenes. In diesem Fall stünden sie in derselben logischen Ordnung wie Dinge, nämlich als deren Gegensatz. Doch stehen Ideen quer zur Form binärer Alternativen. 3 Ohne Ideen wäre es unmöglich, Vergleiche anzustellen und Verschiedenes ähnlich zu machen. Über sie zu sprechen heißt, sie zu benutzen. Wir müssen, wie Platon es vorführt, Ideen jeweils in ihrer konkreten Funktion zeigen. Dazu bedarf es der Darstellungen. Dann wird sichtbar, wie sich jedwede Referenz – jedes Sagen von etwas – auf etwas bezieht, das im Unterscheiden seiner Bestimmungen nicht präsent ist, da es die Textur der Unterschiede doch überhaupt unterscheidbar macht. 4 Damit ist nicht gesagt, es handele sich um eine Entität besonderer Art. Ideen ermöglichen Unterscheidungen, die kein »Relat« im Sinne einer Seinsäquivalenz besitzen. Einer zweiwertigen Logik entziehen sie sich. Platon unterscheidet sie von Begriffen, mit denen Ideen ins Spiel des Unterscheidens eintreten. In diesem Spiel muß auch der Ausdruck der Idee als Begriff vorkommen, um zu einer reflexiven Kontrolle der Unterscheidungen zu gelangen. Allerdings gleicht diese Kontrolle keinem positiven Wissen. Formtheoretisch weist diese Unmöglichkeit auf die paradoxe Ordnung des Unterscheidens als einer performativen Logik hin. Ideen (und Unterscheidungen) sind von Dingen oder Vorkommnissen in der Welt zu unterscheiden (oder von dem, worauf sie referieren). Ideen (und Unterscheidungen) fallen nicht in einen newtonschen Raum oder eine newtonsche Zeit. Nähen und Distanzen, Vorher und Nachher machen sie allererst unterscheidbar. Ideen (und Unterscheidungen) sind weder Einheit noch Vielheit, weil sie die Ordnung möglicher Unterscheidungen von Etwas und die Ordnung der Unterschiede, in denen Etwas als Unterscheidbares steht, unterscheidbar und vergleichbar halten. Eben deshalb stiften sie Einheit, denn nur so läßt sich Vielheit als Verwechselbarkeit von Unterscheidungen bestimmen. 5 Wirksam werden Ideen als Differenz der Welt in sich selbst: Nur wenn Etwas in Kontexte des Unterscheidens rückt – wenn wir es idealisieren –, wird es als Etwas in seiner empirischen Konkretheit und sinnlichen Erscheinung reflexiv bestimmbar. Darum

Vgl. Platon: Theaitetos. In: Werke in acht Bänden, Bd. 6. Darmstadt 1970, S. 1–217, 160b,c. 3 Vgl. Platon: Der Sophist. In: Ebenda, S. 219–401, 246a-c. 4 Vgl. Wieland, W.: Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 19992, S. 103 ff. 5 Vgl. ebenda, S. 141 ff. 2

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Ideen

können wir ebenso gut sagen, daß Ideen die Einheit eines Etwas prägen, das sich »empirisch« in der Vielfalt seiner Erscheinungen zeigt, wie daß sie die Einheit der Unterscheidungen organisieren, mit denen wir etwas als Wirkliches ins Auge fassen. Philosophische Unterscheidungskunst entfaltet komplexe Ordnungen von Ähnlichem, Verschiedenem, Kompossiblem und Kontrastivem. 6 Akzentuieren Platons Begriffe, mit denen dialektische Begriffsklärungen ihre eigene Unterscheidungsform unterscheiden, die Reflexionsseite des Unterscheidens, markiert der Terminus der Idee die Gegenstandsseite des Unterscheidens. Beide stehen in komplementären Verhältnissen und setzen einander voraus. Zwischen Seiendem, Ruhe, Selbigem, Verschiedenem und Bewegung muß unterscheiden, wer etwas unterscheidet. Es ist, als Etwas, ein Bestimmtes, das als Bezugspunkt für Relationen dient und deshalb, für sich genommen, von anderem unterschieden werden kann, aber, als Fürsich, von Anderem unterscheidbar bleibt und deshalb ein Bestimmtes in verschiedenen Relationen wird, die es in einer Bewegung des Unterschiedenwerdens durchläuft. 7 Setzt die Reflexion des Unterscheidens konkreter Unterscheidungen diese Operationen voraus, bezieht sie diese doch stets auf ein Etwas, das die Rede bezeichnet. Obwohl es erst in der Rede als Unterscheidbares auftaucht, ist es Anlaß und Grund des Unterscheidens, denn nur so beziehen Begriffe und Reflexion sich auf das überhaupt Unterscheidbare, Welt. Unterscheiden öffnet Welt, indem sie Etwas als des Fragens Würdiges erscheinen läßt und zugleich Welt als Hintergrund dieses Wirklichen verdeckt – um sie sogleich im Kontrast des Wirklichen und Möglichen in der nächsten Unterscheidung wieder ins Spiel zu bringen. Ideen haben ihren Ort weder jenseits der Dinge noch in den Dingen oder in einer Sphäre reinen Denkens. Sie entfalten oszillierende Reflexionsidentitäten. Wie Platon kann Hegel davon sprechen, nichts sei »wirklicher« als die Idee. Ideen machen, als performative empirische Aprioris betrachtet, Welt zu einer imaginären endlichen Unendlichkeit des Unterscheidbaren. Indem Ideen Unterscheidungen stimulieren und operativ im Spiel des Unterscheidens halten, öffnen sie jeweils Bestimmtes auf noch unbestimmtes Bestimmbares hin. Obschon es endliche Operationen – konkrete Unterscheidungen in Welt – sind, 6 7

Vgl. Platon: Der Sophist, a. a. O., 253d-e. Vgl. ebenda, 254b-255c.

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stiften sie potentiell Unendliches. Wirkliches zeigt sich als bewegte Form. Deshalb kann es im Zeigen unterschieden werden. Es ergibt sich nicht aus logischer Deduktion. Im Kalkül des Bestimmten erscheint die Vorhandenheit des Bekannten; in Operationen des Unterscheidens gelangt Schöpferisches als Darstellung zum Ausdruck. 8 »Nur das Unendliche, die Idee ist wirklich …«. 9 Jedoch nicht, so läßt sich hinzufügen, als ein Jenseits der Dinge, sondern als organisierendes Prinzip des Bestimmtwerdens. Zwischen Idee und Wirklichkeit zu unterscheiden, macht vom Gedanken der Idee als Vollzug des Unterscheidens Gebrauch. Der Gedanke der Idee ist nicht dasselbe wie ein Begriff der Idee. Der Begriff der Idee ist paradox gebaut, um das Andere des Begriffs begrifflich zu markieren. Mißverständnisse der »Ideenlehre« können entstehen, wenn Ideen mit Begriffen oder reinem Sein gleichgesetzt werden, statt als operative Voraussetzungen behandelt zu werden. Hegels Rede von der Vernünftigkeit des Wirklichen zielt auf eine ähnliche Beobachtung: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig. In dieser Überzeugung steht jedes unbefangene Bewußtsein wie die Philosophie, und hiervon geht diese ebenso in Betrachtung des geistigen Universums aus als des natürlichen. (…) Darauf kommt es dann an, in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen. Denn das Vernünftige, was synonym ist mit der Idee, indem es in seiner Wirklichkeit zugleich in die äußere Existenz tritt, tritt in einem unendlichen Reichtum von Formen, Erscheinungen und Gestaltungen hervor und umzieht seinen Kern mit der bunten Rinde, in welcher das Bewußtsein zunächst haust, welche der Begriff erst durchdringt, um den inneren Puls zu finden und ihn ebenso in den äußeren Gestaltungen noch schlagend zu fühlen.« 10 Betrachten wir Formen als Zeichenfunktionen, zeigt sich der Gedanke der Idee als paradoxe Figur eines empirischen Apriori. Fragend erschließt sich Welt als Möglichkeitsordnung, wenn Unterscheidungen in Felder des Verschiedenen eingeführt, Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten organisiert und Wirkliches mit Möglichem in Bezie-

Vgl. Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes (1807). Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3. Frankfurt/M. 1980, S. 13 ff. 9 Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7. Frankfurt/M. 1970, S. 291. 10 Ebenda, S. 24 f. 8

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hung gesetzt wird. Was sich als Bestimmtes bestimmt, bleibt abhängig von dem Wie des Unterschiedenwerdens wie von der Materialität des zu Unterscheidenden. Sein Wie hängt mit den Zeichen zusammen, die es leiten und sein Bestimmtsein verknüpfen. Bilder und Worte tun dies, wie an »Citizen Kane« zu sehen ist, auf unterschiedliche, aber vergleichbare – auf ähnliche, aber verschiedene – Weise. Welt legt eine zähe Elastizität der Formen und Unterscheidungen an den Tag, die dem Unterscheiden Schranken der Variabilität setzen. Wovon wir jeweils sprechen, geht in seinen aktualen Unterscheidungen nicht ohne Rest auf. Merleau-Pontys Philosophie der Wahrnehmung akzentuiert diese Beobachtung des Sich-zeigens einer zähen Realität so, daß phänomenale Züge der »Welt-Form« hervortreten. 11 Ideen verknüpfen die Materialität von Welt mit der Leiblichkeit situierter Wahrnehmung und der kontingenten Perspektive jeder Unterscheidung. Sie ermöglichen die »Initiation« von Welt: »Mit dem ersten Sehen, mit dem ersten Kontakt, der ersten Lust findet eine Initiation statt, und das bedeutet nicht Setzung eines Inhaltes, sondern Eröffnung einer Dimension, die fortan nie wieder verschlossen werden kann, es bedeutet Einrichtung einer Ebene, die fortan jede andere Erfahrung mitbestimmen wird. Die Idee ist diese Ebene, diese Dimension, sie ist also nicht etwas faktisch Unsichtbares wie ein Gegenstand, der hinter einem anderen verborgen ist, aber sie ist auch nicht ein absolut Unsichtbares, das mit dem Sichtbaren nichts zu tun hätte, sondern sie ist das Unsichtbare dieser Welt, das, was diese Welt bewohnt, sie stützt, sie sichtbar macht, sie ist ihre innere und ureigene Möglichkeit, das Sein dieses Seienden.« 12 Der Gedanke der Idee ist eine Notwendigkeit empirischen Unterscheidens. Er ermöglicht und verdeckt, daß sich das im Unterscheiden Bestimmte je dieser Operation des Unterschiedenwerdens verdankt. Als Blindstelle ein Apriori, ist die Idee als Operation kontingent und empirisch. Etwas als etwas zu unterscheiden gleicht dem Durchlaufen einer Reflexion im Kontext ihrer Relationen. Kontraste erscheinen in Vergleichen, die sich in Reihen von Unterscheidungen zur Prägnanz entwickeln. Solche Ordnungen begegnen in Form von Darstellungen. Sie legen es nahe, in den Grenzen einer Darstellung Eines mit Vielem zu vergleichen. Was wie verglichen werden kann, bleibt von der Art der Vgl. Merleau-Ponty, M.: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966. Merleau-Ponty, M.: Das Sichtbare und das Unsichtbare (1964). München 1986, S. 198 (Hervorhebung im Original).

11 12

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Epilog

Zeichen abhängig, die verwendet werden. »Citizen Kane« liefert ein gutes Beispiel dafür, wie Kontraste von Zeichen und Perspektiven eine kohärente Darstellung erzeugen können, deren reflexiv zugängliche Stringenz im Kontrast des Unterschiedenen besteht, statt in einem Urteil oder in einer Evidenz aufzugehen. Formen als Zeichenfunktionen zu betrachten heißt, Ideen in diagrammatischen Praktiken des Darstellens fruchtbar zu machen. Für eine solche Perspektive bleibt die Unterscheidung der Materialität der Zeichen und der Konkretion unterscheidender Interventionen in Möglichkeitsfelder elementar. Darstellungen entwickeln phänomenale Unterschiede auf explizierbare Unterscheidungsmöglichkeiten hin. Eine diagrammatische Logik der Darstellung wäre eine dramaturgische Logik inszenierter Unterscheidungen. Sie zielt darauf ab, etwas so zur Darstellung zu bringen, daß es ein Denkmögliches – und darin Wirkliches – wird.

3.

Heuristik des Diagramms

Was kann es heißen, im Blick auf »Ideen« Darstellungen anzufertigen, deren Verfahrensweise sich an Dimensionen einer Zeichenfunktion orientiert? Eine Methode, die, unabhängig von Gegenständen, ihre Operationen gleichförmig wiederholen könnte, eignet sich dafür nicht. Insofern handelt es sich um eine »Beschreibungskunst«, die jedoch explizierbaren Hinsichten folgen kann. Heuristische Hinsichten markieren simultane Aspekte einer Unterscheidungsmatrix. Einzeln lassen sie sich akzentuieren, ohne einander zu substituieren. Jedes »Etwas« erscheint als Bestimmtheit in mehrfacher Hinsicht. Im Zuge einer Darstellung begegnet das simultan Bestimmte in der Sukzession von Unterscheidungen. Weder ist dieses Vorgehen zufällig noch logisch oder willkürlich. Immer nimmt es seinen Ausgang von einem zur Erscheinung kommenden Material. Grenze der Darstellung ist die Grenze der Reihe von Unterscheidungen, mit der Vergleiche gezogen und Kontraste entfaltet werden. Sie ist praktisch, nicht logisch. »Citizen Kane« und die Beschreibung dieses Filmes sind dafür Beispiele. Simultane Dimensionen einer Zeichenfunktion unterscheiden etwas, um Übergänge zu ermöglichen. Keine Dimension wird ohne die jeweils anderen verständlich. Als einzelne wie als Funktionsganzes werden sie im Vollzug einer Unterscheidungsreihe im Kontrast zueinander vergleichbar. Etwas erscheint so als Gravitationszentrum 364 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Heuristik des Diagramms

eines Möglichkeitsfeldes von Bestimmungen. Felder, in denen »etwas« unterscheidend bestimmt wird, sind zeitlich strukturiert, insofern sie über Wahrscheinlichkeiten möglicher Anschlußunterscheidungen Stabilität gewinnen. Sozial sind sie geordnet, weil jede Unterscheidung in einem Wahrscheinlichkeitsfeld von Unterscheidungsinstanzen getroffen wird und auf diese zugerechnet werden kann. Unterscheidungsinstanzen bleiben darum miteinander vergleichbar – auch in bezug auf ihre jeweiligen Zeithorizonte des Erwartens oder Erinnerns. Jede Unterscheidung geschieht anhand bestimmter Zeichenarten – beispielsweise mit Worten oder Bildern, Zahlen oder Gesten. Verschiedene Zeichen lassen sich darauf hin vergleichen, welche Arten wahrscheinlicher Anschlußbildungen sie jeweils motivieren. Sätze, Bilder, Töne, Zahlen oder Gesten fordern jeweils andere Anschlüsse heraus, ohne sie zu determinieren. Vergleiche sind ihrerseits vergleichbar; sie entfalten den Unterscheidungsraum einer jeweiligen Kultur. »Citizen Kane« kann als Beispiel einer Darstellung dienen, die das Zusammenspiel der Dimensionen von Bestimmtheit zur Erfahrung bringt. Der Film erzählt den zeitlichen Prozeß einer Suche nach der Bedeutung eines Wortes und dem Wesen eines Menschen als Rekonstruktion eines Lebens. Zeitlich ist auch der Film, dessen Bilder in der Zeit sukzessive ablaufen. Zeichen-Dinge – wie zum Beispiel eine Glaskugel oder ein Schlitten – gewinnen ihr Bedeutungspotential nicht zuletzt aus den zeitlichen Verweisungen, in denen der Film sie jeweils zeigt – zum Beispiel in der Sterbeszene Kanes. Analoges gilt für Worte wie »Rosebud«. Aber zeitliche Relationen verweisen auf soziale Relationen, insofern sie jeweils Vergangenheits- oder Zukunftshorizonte für bestimmte Erfahrungs- und Erwartungsadressen markieren. Der Film führt das an den verschiedenen Personen vor, denen Zuschauer im Durchgang der Erzählung begegnen. Filmzuschauer reflektieren ihr eigenes Sehen als Relationierung sozialer und zeitlicher Verhältnisse. Was überhaupt unterschieden werden kann und woran zeitliche oder soziale Unterscheidungen auffallen, sind konkrete Zeichen: Bilder oder Worte. Wie eingangs beschrieben, stehen sie häufig in irritierenden Kontrasten zueinander. Indem sie auf diese Weise Eindeutigkeit verweigern, steigern sie die Aufmerksamkeit für das Zusammenspiel simultaner Differenzen. Ihr Zusammenspiel ist präzise, aber uneindeutig. Mit seinen dissonanten Resonanzen verweist es in seiner Mehrdeutigkeit auf die Reflexionsarbeit der Zuschauer. Zuschauern obliegt es, Vergleiche anzustellen und 365 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Epilog

Vergleichsmöglichkeiten zu vergleichen. Wenn sie dabei auf Schwierigkeiten treffen, zu bestimmen, was eine Person »ist«, wird auch ihre eigene Identität thematisch. Einen Film wie »Citizen Kane« zu sehen, ermöglicht es Zuschauern, Fragen zu entwickeln, die sich auch außerhalb der Filmwirklichkeit stellen können. Film-Bilder öffnen Bezüge zur außerfilmischen Wirklichkeit. Mehrfaches Sehen verschränkt Wahrnehmung und Reflexion immer enger. Verschränkungen gleichzeitiger Möglichkeiten des Unterscheidens zu entfalten, erfordert wiederum eine Arbeit der Darstellung, die nicht mit dem Film identisch ist. Filme wie »Citizen Kane« erhellen, wie sich Unterscheidungsmöglichkeiten so verschränken können, daß sie als unterscheidbare zur Bestimmtheit eines Etwas zusammentreten. Die Figur Charles Foster Kane läßt sich als eine Überlagerung von Unterscheidungen in einem Arrangement dramaturgischer Logik verstehen, das vielleicht zu ästhetischer Evidenz, nicht aber zu logischer Eindeutigkeit führt. Darin sind sie exemplarisch für die Arbeit einer Reflexionspraxis, die fragend Welt erschließt, indem sie Unterscheidungstexturen in Darstellungen entwickelt. Darstellungen – wie Orson Welles’ Film – sind exemplarisch, ohne repräsentativ zu sein. Das verbindet sie ebenso mit Darstellungen der Philosophie wie der Umstand, daß ihr Ertrag eher im Aufwerfen und Präzisieren von Fragen als im Liefern von Antworten und Gründen besteht.

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378 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Namenregister

Adorno, Th. W. 51, 203 Albers, J. 60–78, 80–84, 86 f. Aristoteles 21 f., 24–36, 38–40, 46, 49, 52, 57, 75, 80, 130, 135, 138, 179, 242, 338 Artaud, A. 149 Backhouse, R. E. 205 Baecker, D. 53, 134, 195, 198, 208 f., 211, 214 Barceló, P. 246 Baumgarten, A. G. 216 Becher, B. u. H. 259–266, 281, 287, 290 f. Becker, H. 202 Bel, J. 123 f., 127, 138 f., 141, 143, 146 Bellah, R. N. 191 Belting, H. 273, 281 Benjamin, W. 269 f., 275, 280, 286, 288, 290, 300 f., 311, 343 Berger, J. 285–287 Bergson, H. 327 Beuckelaer, J. 91 Bles, Herri met de 91 Bodin, J. 168 Boehm, G. 69, 310, 312 Boethius, A. M. S. 164 Borges, J. L. 325 f., 328 f., 332, 337, 342 Bosch, H. 101 Bourdieu, P. 206 Brodbeck, K.-H. 210 Brückle, W. 95, 290 Bruegel, P. d. Ä. 91 f., 95–97, 99–104, 106–118

Brunner, M. 134 Brunswick Monogrammist 91 Busch, W. 221, 225 Cage, J. 12 Callon, M. 45, 207 Calvin 92 Carnap, R. 329 Carringer, R. L. 354 Cassirer, E. 331 Cézanne 70 Chandler, A. D. 213 Clark, Chr. 213 Conrath-Scholl, G. 267 f., 280 Coser, L. A. 169 Dahlheim, W. 229, 246 Danto, A. 334 Denns, K. 97 Derrida, J. 21, 23 f., 27, 54–58, 208 f., 359 Descartes, R. 68, 147, 194, 200, 319 Dix, O. 292–298 Döblin, A. 268–270, 280, 286, 288 Dreysse, M. 341 Drzazga, D. 115 Dunn, J. D. G. 229 Durkheim, E. 153 f., 165, 191, 331 Eastwood, C. 150, 155–163, 167 Eichholz, G. 232 Eskildsen, U. 271 Esposito, E. 196 Ewing, W. A. 266

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Namenregister Export, S. u. V. 134

Hubschka, S. 131 Husserl, E. 316–323, 330 f., 333

Faulstich, W. 211 Ferguson, A. 190 f. Feyerabend, P. 330 Fichte, J. G. 216 Fischer-Lichte, E. 131, 133 Flashar, H. 22, 30 Fleck, L. 330 Foellmer, S. 131 Foucault, M. 146, 330 Frank, M. 227, 253 Friedrich, C. D. 217–226, 252, 255 Fuchs, M. 297 Fuhrmann, M. 164 Funk, R. W. 230 Geertz, C. 21–23, 46–50, 55, 170, 344 f. Gehlen, A. 182, 211 Gerhard, V. 215 Gibson, M. F. 91, 96, 102, 104, 106 f., 113, 115 Gibson, W. S. 92 Goethe, J. W. 35 Goffman, E. 21, 23, 50–56, 166 Gracián, B. 311 Grasskamp, W. 288, 290 Graubner, G. 62 Gronert, St. 259 Habermas, J. 46, 191 Halbwachs, M. 327 Hayek, F. v. 205 Hegel, G. W. F. 49, 57 f., 83–88, 112, 147, 149, 164 f., 168, 176 f., 191 f., 227, 251, 254, 322, 361 f. Heidegger, M. 29, 44, 56 f. Herder, J. G. 187 f. Herodot 185 Herzog, T. 276 Hobbes, Th. 168, 176–178, 180 f. Hölderlin, F. 200, 226 f. Hoover, J. E. 150–163, 167, 184 Hopwood, A. G. 197 Horak, J.-Chr. 271 Horkheimer, M. 51, 332 f., 343

Jahnke, H. N. 221 Jedlicka, G. 106 Joas, H. 165 Johannes-Evangelium 229 Jonghelinck, N. 92, 115–117 Joyce, J. 34 Jüngl, E. 250 Kane, C. F. 346–359, 363–366 Kant, I. 49, 80, 83, 165, 169, 176 f., 183, 187, 193, 200 f., 216, 251, 315, 324 Kantorowicz, E. H. 166 Karafillidis, A. 196 Kellein, Th. 222 Killip, Chr. 261 Kobusch, Th. 177 Kooning, E. de 63 Kuh, K. 63 Kuhn, Th. 330 Kurella, H. 276 Lange, S. 259, 267 f., 280, 287 Latour, B. 21–23, 38–41, 44–47, 49, 55, 57, 88, 344 Lehmann, H.-Th. 36, 131 Lehmann, M. 181 f. Leibniz G. W. 39, 327 Lem, S. 328 Lendvai-Dircksen, E. 270–277, 288– 290 Lepenies, W. 51 Lépinay, V. 40 Lerski, H. 270–272 Lichtenberg, G. Chr. 275, 282, 285 Luhmann, N. 166, 197, 199, 211, 333, 336 Lukas-Evangelium 98, 106, 228 f., 233–235 Luther 92 f. Majewski, L. 91, 113, 115–119 Mandeville, B. 172

380 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Namenregister Manhart, S. 195 Mann, H. H. 108 Markus-Evangelium 98, 108 f., 228 f., 237 Marx, K. 189, 192 f., 203 Matthäus-Evangelium 98, 106, 228 f., 233–235, 237 f. Medema, St. G. 205 Meier, Chr. 37 Menke, C. 36 Merleau-Ponty, M. 70, 132, 363 Meyerhold, W. 133 Montaigne, M. de 292 f. Montesquieu 188 Moses, St. 267 Müller, J. 95, 99, 101 Niehues-Pröbsting, H. 224 Nietzsche, F. 90, 174, 177, 186, 333– 335, 337 Novalis 90, 200, 216 f., 220 f., 226– 228, 255 Ortmann, G. 162 Peirce, Ch. S. 74, 292, 343 Pigafetta, A. 185 f. Platon 30, 104, 130, 164, 173, 179, 181, 222–226, 228 f., 338, 346, 359– 361 Plessner, H. 135 Polanyi, K. 206 Popper, K. 330 Powers, R. G. 153, 288 Priddat, B. 203 Rath, N. 174 Rauschenberg, R. 11–13 Rawls, J. 205 Rembrandt 307, 309–315 Ricoeur, P. 230, 249 Riegl, A. 286, 313 Rosa, H. 199 Rosanvallon, P. 191, 199 Rothko, M. 62 Rubinfien, L. 299

Ruff, T. 266 Rustemeyer, D. 173, 181, 297 Sander, A. 265–291, 293–300, 311 Schäffner, W. 194 Schimmel, P. 98, 132 Schlegel, F. 200, 221, 227, 251–255, 343 f. Schleiermacher, F. 221, 223–225 Schlögl, R. 247 Schmitt, A. 22, 31 Schmitt, C. 179–182 Schottroff, L. 239, 242 Schröcke, H. 273 f. Schröter, J. 229 Sellink, M. 106 Shakespeare, W. 58 f., 344 Siegmund, G. 341 Silbermann, R. 270 Simmel, G. 51, 169, 195, 307–316, 322–324 Smith, A. 176, 189 Spencer Brown, G. 60, 72–81, 83, 85– 87 Spengler, O. 270, 276–280, 296 Spies, W. 61, 65 Spinoza, B. d. 84 Starobinski, J. 293 Tarde, G. 39 f. Tomkins, C. 13 Turgot, A. R. J. 188 f. Vico, G. B. 186 Voegelin, E. 32, 179 f. Vogl, J. 194, 215 Vollmer, H. 197 Waldenfels, B. 318, 320 Warhol, A. 299, 310 Weber, M. 16, 51, 174–181, 195, 279, 331 f. Weder, H. 230 Wehler, H.-U. 212 Weiner, T. 150 Weismann, A. 93, 106

381 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

Namenregister Welles, O. 346, 349–354, 358 f., 366 Werron, T. 215 Weski, Th. 266 Whitehead, A. N. 67, 81–83, 87–91, 342 f. Wieland, W. 360 Wißmann, J. 61, 64, 67

Wittgenstein, L. 263, 302–306, 318 f., 323 Zimmermann, R. 230, 242 Zupnick, I. L. 92 Zweite, A. 12, 262

382 https://doi.org/10.5771/9783495813782 .

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