NSU-Terror: Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontexte, Diskurse [1. Aufl.] 9783839423943

Unter dem Namen »NSU« beging eine rechtsextreme Gruppe über mehrere Jahre Banküberfälle und rassistisch motivierte Morde

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German Pages 224 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
WAS GESCHAH? EREIGNIS
Das erstaunliche Erstaunen über die ›NSU-Morde‹
NSU: Rassismus, Staatsversagen und die schwierige Suche nach der Wahrheit
»Das oberste Anliegen der Angehörigen ist Aufklärung.« Ein Interview mit Angelika Lex
Rede anlässlich der antifaschistischen Demonstration zum Auftakt des NSU-Prozesses am 13.4.2013 in München
WIE WURDE ES MÖGLICH? KONTEXTE
drei bögen: böbrach
Böbrach. Flüchtlinge am Ende der Welt
Vor und nach der Stille
Rechter Terror(ismus) in der Bundesrepublik Deutschland. Der NSU als Prisma
Sächsische Demokratie. Ein Erklärungsversuch
Äquidistanz. Der Kampf gegen links im Kontext des Extremismusmodells
Verfasstheit, nicht Verfassung. Der Ver fassungsschutz als Hegemonieapparat
Stolpersteine.Oder: Schland, ein Rätsel in Bildern
Gegen-Aufklärung im Namen der Ordnung.Grundlagen und Konsequenzen des Extremismuskonzepts
»Ich kann nur hoffen, dass die Verantwortlichen wenigstens jetzt die richtigen Schlüsse ziehen.« Ein Interview mit Herta Däubler-Gmelin
WIE WURDE ES THEMATISIERT? DISKURSE
kleine sternmullrede
Brauner Osten? Rechtsextremismus als deutsch-deutscher Einsatz und Effekt
Wer von Rassismus nicht reden will. Einige Reflexionen zur aktuellen Bedeutung von Rassismus und seiner Analyse
Rechtsextremer Terror NSU. Die Konstruktion von Genderstereotypen
»Der Journalismus selbst muss beobachtet werden.« Ein Interview mit Lutz Hachmeister
REFLEXIONEN, ANALYSEN
Eine Soziologie des Rassismus. Nicht mehr als ein Anästhetikum
Anonymität, Rassismus, Kollektivität. Der NSU als Form der Het zmeute
»Vermisst?«Zur Entstehung von Positionen der Unsichtbarkeit
»Wir reden links und leben rechts.« Ein Interview mit Armin Nassehi über die Unterscheidungen der deutschen Diskurslandschaft
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Autorinnen und Autoren
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NSU-Terror: Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontexte, Diskurse [1. Aufl.]
 9783839423943

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Imke Schmincke, Jasmin Siri (Hg.) NSU-Terror

X T E X T E

X T E X T E Das vermeintliche »Ende der Geschichte« hat sich längst vielmehr als ein Ende der Gewissheiten entpuppt. Mehr denn je stellt sich nicht nur die Frage nach der jeweiligen »Generation X«. Jenseits solcher populären Figuren ist auch die Wissenschaft gefordert, ihren Beitrag zu einer anspruchsvollen Zeitdiagnose zu leisten. Die Reihe X-TEXTE widmet sich dieser Aufgabe und bietet ein Forum für ein Denken ›für und wider die Zeit‹. Die hier versammelten Essays dechiffrieren unsere Gegenwart jenseits vereinfachender Formeln und Orakel. Sie verbinden sensible Beobachtungen mit scharfer Analyse und präsentieren beides in einer angenehm lesbaren Form.

Denken für und wider die Zeit

Imke Schmincke, Jasmin Siri (Hg.)

NSU-Terror Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontexte, Diskurse

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-8376-2394-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung Jasmin Siri und Imke Schmincke | 9

W AS GESCHAH ? E REIGNIS Das erstaunliche Erstaunen über die ›NSU-Morde‹ Lotta Mayer | 19

NSU: Rassismus, Staatsversagen und die schwierige Suche nach der Wahrheit Heike Kleffner | 29

»Das oberste Anliegen der Angehörigen ist Aufklärung.« Ein Inter view mit Angelika Lex Imke Schmincke | 43

Rede anlässlich der antifaschistischen Demonstration zum Auftakt des NSU-Prozesses am 13.4.2013 in München Yvonne Boulgarides | 53

W IE WURDE ES MÖGLICH ? K ONTEXTE drei bögen: böbrach Uljana Wolf | 57

Böbrach Flüchtlinge am Ende der Welt Ben Rau | 61

Vor und nach der Stille Imran Ayata | 63

Rechter Terror(ismus) in der Bundesrepublik Deutschland Der NSU als Prisma Fabian Virchow | 71

Sächsische Demokratie Ein Erklärungsversuch Falk Neubert | 79

Äquidistanz Der Kampf gegen links im Kontext des Extremismusmodells Maximilian Fuhrmann und Martin Hünemann | 91

Verfasstheit, nicht Verfassung Der Ver fassungsschut z als Hegemonieapparat Moritz Assall | 107

Stolpersteine Oder: Schland, ein Rätsel in Bildern Marko Pfingsttag | 115

Gegen-Aufklärung im Namen der Ordnung Grundlagen und Konsequenzen des Extremismuskonzepts Matthias Falter | 117

»Ich kann nur hoffen, dass die Verantwortlichen wenigstens jetzt die richtigen Schlüsse ziehen.« Ein Inter view mit Her ta Däubler-Gmelin Jasmin Siri | 125

W IE WURDE ES THEMATISIERT ? D ISKURSE kleine sternmullrede Uljana Wolf | 133

Brauner Osten? Rechtsextremismus als deutsch-deutscher Einsatz und Effekt Stephan Lessenich | 135

Wer von Rassismus nicht reden will Einige Reflexionen zur aktuellen Bedeutung von Rassismus und seiner Analyse Manuela Bojadžijev | 145

Rechtsextremer Terror NSU Die Konstruktion von Genderstereotypen Michaela Köttig | 155

»Der Journalismus selbst muss beobachtet werden.« Ein Inter view mit Lut z Hachmeister Jasmin Siri | 167

R EFLEXIONEN , A NALYSEN Eine Soziologie des Rassismus Nicht mehr als ein Anästhetikum Nadia Shehadeh | 179

Anonymität, Rassismus, Kollektivität Der NSU als Form der Het zmeute Ulrich Bielefeld | 183

»Vermisst?« Zur Entstehung von Positionen der Unsichtbarkeit Jasmin Siri | 193

»Wir reden links und leben rechts.« Ein Inter view mit Armin Nassehi über die Unterscheidungen der deutschen Diskurslandschaft Jasmin Siri | 203

mappa Uljana Wolf | 215

Autorinnen und Autoren | 217

Einleitung Jasmin Siri und Imke Schmincke »Bestimmte Gesichter müssen dem Blick der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, müssen gesehen und gehört werden, wenn ein geschärfter Sinn für den Wert des Lebens, allen Lebens, Verbreitung finden soll. Es ist keineswegs so, daß Trauer das Ziel der Politik ist, doch ohne die Fähigkeit zu trauern, verlieren wir diesen geschärften Sinn für das Leben, den wir brauchen, um der Gewalt entgegenzutreten.« B UTLER 2005: 14 »Wenn wir Journalisten uns über die Taten so erregt hätten wie über die Akkreditierung, hätte es keine Doenermorde geben müssen.« Die Autorin S ABINE R ENNEFANZ auf twitter am 29.4.2013

Der Schrecken des NSU-Terrors hat viele Facetten. Die drastischste sind die mörderischen Terrorakte selbst: Zehn Menschen wurden kaltblütig getötet, neun davon aus rassistischen Motiven aufgrund der ihnen zugeschriebenen Herkunft. Bei einem Nagelbomben-Attentat in der Keupstraße in Köln-Mühlheim wurden viele Menschen verletzt. Eine weitere Facette betrifft die Öffentlichkeit: Durch die von den Medien geprägte Rede von »Döner-Morden« fand eine Entmenschlichung der Opfer statt. In diesem Zusammenhang spielt auch die fatale Ermittlungsgeschichte eine Rolle: Die Umkehrung der Opfer zu Tätern durch die Soko »Bosporus«, die Fokussierung auf Organisierte Kriminalität oder »Ausländerkriminalität« in allen bisher bekannten Fällen sowie ein komplettes Versagen bis hin zum Vertuschen der Sicherheitsorgane angesichts des rechten Terrors und der ihn ermöglichenden und tragenden Strukturen. Angesichts dieser Tatsachen wird in der medialen Öffentlichkeit allenthalben ein ›Erschrecken‹, ›Erstaunen‹ und ›Entsetzen‹ formuliert, was für viele, die sich seit Jahren sowohl mit der Geschichte und den Entwicklungen des

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Jasmin Siri und Imke Schmincke

Rechtsextremismus als auch mit den verschiedenen Formen des Rassismus beschäftigen, verwunderlich ist. Erst ein Jahr vor der Selbstenttarnung des NSU hatte der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin mit seinen rassistisch-eugenischen Thesen die öffentliche Debatte bestimmt und von vielen Seiten Beifall bekommen. Viele erinnern jetzt auch an die 1990er Jahre, in denen mörderische rassistische Übergriffe auf Asylbewerberheime nicht etwa zu Widerstand, sondern sogar zu politischen Zugeständnissen, nämlich zu einer Verschärfung des Asylrechts führten. Durch den Erfolg ihrer politischen Taten erlebten Rechtsradikale eine neue Selbstwirksamkeit und gewannen neues Selbstbewusstsein. In Form des NSU und anderer rechtsextremer Organisationen wirkt nach, was schon damals hätte konsequenter politisch bekämpft werden können. Eine weitere Facette der Taten und ihrer politischen und medialen Bearbeitung ist ein mitleidsloser Umgang sowohl mit dem Andenken der Opfer als auch mit den Angehörigen der Opfer. Z.B. erklärte der SPD-Politiker Heinz Buschkowsky ausgerechnet anlässlich der Trauerfeier für die NSU-Opfer, dass es in Deutschland Probleme mit der Integration gäbe (vgl. Gensing 2012: 10f.). Und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 7.5.2013 schreibt der Journalist Jasper von Altenbockum: »Extremismus und Terror gehören zu den Gründen, warum eine Minderheit der Muslime nicht integrationswillig ist; das wiederum ist einer der Gründe für islamfeindlichen Extremismus und Terror.« Selbst jetzt, nach Bekanntwerden des NSU-Terrors, finden sich Kommentare, die die Opfer zu Tätern machen. »Gute Ausländer – schlechte Ausländer. Integrationswillige Migranten – integrationsunwillige Migranten, erwünschte hochqualifizierte Arbeitskräfte – unerwünschte Flüchtlinge. […] Die NSU-Opfer wurden aber nicht erschossen, weil sie besonders schlecht oder ausgesprochen gut integriert waren – was immer das auch bedeuten soll, darüber ließe sich noch seitenweise schreiben – nein, sie wurden mit Kopfschüssen exekutiert, weil sie Migranten waren. Und weil sie Migranten waren, wurde sogar an dem Tag der Trauerfeier über ihre vermeintlichen Versäumnisse gesprochen […].« (Gensing 2012: 17)

Wir wissen, dass es dem NSU nicht um ›schlecht integrierte‹ Mordopfer, sondern einfach um Migrantinnen und Migranten1 ging. Bleibt die Frage offen, weshalb viele politische und publizistische Akteurinnen und Akteure die Morde derart unsensibel kommentierten. Doch auch wenn man vieles hätte wissen können und auch wenn sich im Laufe der vergangenen zwei Jahre weiteres Wissen rekonstruieren ließ, so erzeugen die im Wochentakt eintreffenden neuen Nachrichten über den NSU 1 | Wir haben es den Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge dieses Bandes selbst überlassen, ob und wenn ja in welcher Weise sie eine gendersensible Schreibweise umsetzen wollen.

Einleitung

und seine Unterstützungsstrukturen noch immer eine gewisse Ungläubigkeit. Das liegt nicht zuletzt daran, wie real seine Schrecken sind, und dass sie hätten verhindert werden können. Eine kurze Chronologie der Ereignisse:2 Am 4. November 2011 überfallen zwei Männer in Eisenach eine Bank. Als die Polizei die beiden bei der Verfolgung in ihrem Wohnwagen sichtet, begehen diese Selbstmord und sprengen den Wohnwagen in die Luft. Im ausgebrannten Wagen wird wenig später eine Waffe gefunden, mit der in den Jahren 2000-2007 zehn Menschen ermordet wurden. Diese Mordserie hatte die Polizei bis dahin nicht aufklären können, ermittelte sie doch ausschließlich in Richtung Organisierter Kriminalität und der Opfer selbst; acht von ihnen hatten einen türkischen, einer einen griechischen Namen. So wurde die Mordserie von der Polizei durch eine »Soko Bosporus« und von den Medien seit 2006 als »Döner-Morde« 3 verkannt. Die beiden Täter lebten seit 1998 im Untergrund zusammen mit einer Frau, Beate Zschäpe, die sich einige Tage später der Polizei stellt, nachdem sie vorher eine Reihe von DVDs verschickt hat, in denen sich die Gruppe als Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) bezeichnet und sich hämisch über die begangenen Morde lustig macht. Nach und nach wird offenbar, dass die Gruppe vollkommen ungestört seit 1998 zunächst in Chemnitz und dann in Zwickau leben und von dort aus diverse Banküberfälle sowie die genannten grausamen Morde und, wie sich ebenfalls später herausstellt, ein Nagelbombenattentat mit vielen Verletzten begehen konnte. Mit der Frage, weshalb die Sicherheitsbehörden, Polizei und diverse Geheimdienste den Neonazis nicht auf die Spur kamen, der Rekonstruktion einer desaströsen, in vielerlei Hinsicht rätselhaft unprofessionellen Ermittlungsarbeit und gezielt vernichteten Informationen beschäftigen sich 2 | Mittlerweile sind einige Bücher erschienen, die die Geschichte des NSU-Terrors aufarbeiten, vgl. dazu bspw. Baumgärtner/Böttcher (2012), Fuchs/Goetz (2012), Gensing (2012), Ramelow (2013), Röpke/Speit (2013) und Wetzel (2013). Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die unabhängige Beobachtungsstelle NSU-Watch: Aufklären und Einmischen, die Hintergründe recherchiert und aktuelle Entwicklungen zum NSU auf dem NSU-Watchblog dokumentiert, www.nsu-watch.info/ (zuletzt aufgerufen am 23.6.2013). 3 | Diese Wortschöpfung taucht erstmals 2005 als Kurzmeldung in der Nürnberger Zeitung auf, ab April 2006 beziehen sich sämtliche Presseorgane darauf und auf Varianten (vgl. Fuchs/Goetz 2012: 182f.). 2011 wird »Döner-Morde« zum »Unwort des Jahres« erklärt mit folgender Begründung: »Mit der sachlich unangemessenen, folkloristischstereotypen Etikettierung einer rechtsterroristischen Mordserie werden ganze Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt und die Opfer selbst in höchstem Maße diskriminiert, indem sie aufgrund ihrer Herkunft auf ein Imbissgericht reduziert werden.« (Zit.n. ebd.: 183) Und auch hier müsste man noch ergänzen: vor allem aufgrund der ihnen zugeschriebenen Herkunft.

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Jasmin Siri und Imke Schmincke

seit 2012 verschiedene Untersuchungsausschüsse (einer eingesetzt vom Bundestag, die weiteren von den Ländern Thüringen, Sachsen und Bayern). Das NSU-Mitglied Beate Zschäpe sowie fünf weitere Angeklagte, denen Unterstützung der Gruppe vorgeworfen wird, müssen sich seit dem 6. Mai 2013 vor dem Oberlandesgericht München verantworten. Der bisher in der Bundesrepublik größte Prozess gegen eine rechtsterroristische Gruppe wird noch mindestens zwei Jahre dauern.4 Die Ermittlungen sind zu dem Zeitpunkt, da wir dieses schreiben, noch lange nicht am Ende. Folglich kann dieser Band auch keine endgültige Bewertung der Ereignisse und der Diskurse um den NSU und seine Opfer leisten. In diesem Buch wollen wir vielmehr das erwähnte »Erstaunen« der Öffentlichkeit zum Ausgang nehmen, als politischen Diskurs analysieren und so einen Beitrag zur Aufarbeitung und Auseinandersetzung leisten. Das bedeutet genauer zu beleuchten, wie das Ereignis der Morde geschehen konnte. Welche Fakten gibt es, die hier Aufklärung bringen können? Uns erscheint aber ebenso wichtig, auf gesellschaftlich-politische Kontexte zu blicken, die die Bedingungen für das Entstehen der Ereignisse bereitgestellt haben. Insofern gilt es, Gründe und Hintergründe zu thematisieren, die das Ereignis kontextualisieren und erklären und dabei verdeutlichen, dass die sogenannte Zwickauer Zelle keineswegs vom Himmel gefallen ist. Es ist ein Ziel des Buches, die Debatte um das Bekanntwerden der Gruppe und ihrer Morde selbst in den Blick zu nehmen und dabei notwendigerweise zu erkennen, dass politische und mediale Diskurse dazu beitragen, politische Ordnungen zu befestigen, Zugehörigkeiten und Teilhabe und vor allem wesentlich den Ausschluss aus dem, was sich als ›Gesamtgesellschaft‹ versteht, zu organisieren. Nicht zuletzt stellt sich daher auch die Frage, welche Erklärungen gesellschaftstheoretische Ansätze, Reflexionen und Analysen zum Thema leisten können, um das Ereignis in seiner Genese und seinem Verhältnis zu gesellschaftlichen Bedingungen und beweglichen historischen Konstellationen zu verstehen. ›Ermittlungen am rechten Abgrund‹ zu unternehmen bedeutet, den Ermittlungen, die diesen Abgrund in der Vergangenheit verleugnet und ihn damit ermöglicht haben, etwas entgegenzusetzen und dabei gleichzeitig zu versuchen, diesen Abgrund zu ergründen. Wir haben hierzu Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen und Genres gewinnen können. Der vorliegende Sammelband geht zurück auf eine von den Herausgeberinnen zusammen mit Paula-Irene Villa und Stephan Lessenich organisierte Adhoc-Gruppe auf dem 4 | Zu erwähnen ist an dieser Stelle auch, dass es seit Beginn des Prozesses in München diverse Anschläge von neonazistischer Seite auf antirassistische bzw. linke Einrichtungen gegeben hat. Vgl. hierzu das Flugblatt Gemeint sind wir alle, abzurufen unter: http://nsuprozess.blogsport.de/2013/05/28/gemeint-sind-wir-alle/ (zuletzt aufgerufen am 23.6.2013).

Einleitung

Soziologiekongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Oktober 2012 in Bochum. Er versteht sich als interdisziplinär angelegtes Mosaik, das aber in der Mehrheit aus sozialwissenschaftlichen Perspektiven zusammengesetzt ist. Da uns angesichts des schwierigen Themas die Mehrstimmigkeit wichtig und auch die Beschränktheit der eigenen Ausrichtung bewusst war und ist, haben wir versucht, für diesen Band weitere Perspektiven und Textsorten zu gewinnen. Dies ist auch der Grund, den Beiträgen drei Gedichte der Lyrikerin Uljana Wolf und ein Gedicht des Publizisten Marko Pfingsttag zur Seite zu stellen. Ergebnis ist ein Mosaik aus Zugängen und Perspektiven.

Z U DEN B EITR ÄGEN IM E INZELNEN Ereignis. Was geschah? Wie kam das Ereignis zustande, was konnte man darüber wissen? Hier setzt Lotta Mayer in ihrem Beitrag an. Sie befasst sich kritisch mit dem in der medialen Öffentlichkeit geäußerten ›Erstaunen‹ gegenüber dem Ereignis der Morde, indem sie einerseits die Geschichte rechtsterroristischer Anschläge und Strukturen rekonstruiert und andererseits den politischen Umgang mit diesen als Verdrängungs- und Abspaltungsleistung deutet. Aufzuarbeiten, welche Rolle die Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit den NSU-Morden gespielt haben, ist die Aufgabe der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse. Heike Kleffner, die Mitglied des durch den Bundestag eingesetzten Ausschusses war, liefert ein vorläufiges Resümee dessen Arbeit, das ambivalent ausfällt. Der Ausschuss hat viele Belege für das Versagen und Vertuschen durch die Sicherheitsbehörden gefunden. Auch wurde in den Befragungen deutlich, dass Rassismus eine der zentralen Ursachen des Staatsversagens war. Dennoch müssen beim bisherigen Stand entscheidende Fragen zur Involviertheit der Geheimdienste noch offen bleiben. Die Rolle der Geheimdienste und vor allem die Ermittlungsarbeit der Polizei ist ebenfalls Thema des Interviews mit Angelika Lex, Nebenklagevertreterin von Yvonne Boulgarides, der Ehefrau eines der Opfer. Sie schildert die Situation der Angehörigen angesichts der skandalösen Ermittlungsarbeit und erklärt die Bedeutung des stattfindenden Strafprozesses. Dass Aufklärung das oberste Anliegen der Angehörigen ist, macht auch die Rede von Yvonne Boulgarides mehr als deutlich, die diese auf der Demonstration anlässlich des beginnenden Prozesses am 13. April 2013 in München hielt und die sie uns freundlicherweise zum Abdruck überlassen hat. Kontexte. Wie wurde es möglich? Zwei zentrale Kontexte des NSU-Terrors sind Rassismus und Rechtsextremismus. Beide haben verschiedene Ebenen, auf denen sie wirken, auf denen sie thematisiert oder eben nicht thematisiert werden. Imran Ayata reflektiert das Verhältnis von Rassismus und antirassistischem Engagement, deren Konjunkturen und Veränderungen. Er fordert eine

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Jasmin Siri und Imke Schmincke

auch selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Zurückdrängen antirassistischer Thematisierungen und Initiativen sowie eine differenzierte Antwort auf neue Formen des Rassismus, wie sie bspw. im Zusammenhang mit dem politischen Islam neu auf die antirassistische Agenda gekommen sind. Rechtsextremismus ist nicht nur die Beschreibung einer politischen Strömung, die, wie Fabian Virchow überzeugend nachzeichnet, in der Bundesrepublik eine längere Geschichte hat, auch wenn diese lange nicht wahrgenommen wurde. Er ist darüber hinaus ein Begriff, der zusammen mit dem des Linksextremismus als politischer Einsatz um Deutungsmacht fungiert. Diesen Komplex thematisieren eine Reihe von Beiträgen. Während Falk Neubert die jüngsten Versuche durch Strafverfolgung zivilgesellschaftliches Engagement zu kriminalisieren anhand verschiedener Beispiele in Sachsen nachzeichnet, setzen sich Maximilian Fuhrmann und Martin Hünemann kritisch mit dem staatlichen Rückgriff auf das Extremismusmodell auseinander und berichten von den Widersprüchen, die sich ergeben, wenn mithilfe dieses Modells ›Linksextremismus‹ problematisiert wird. Moritz Assall liefert in seinem Beitrag eine hegemonietheoretisch inspirierte Deutung des Wirkens und der Ideologie des Verfassungsschutzes, dessen Daseinsberechtigung spätestens durch die NSUMorde fraglich geworden ist. Den Stellenwert des Extremismuskonzepts für das demokratische Selbstverständnis sowie dessen theoretische wie praktische Implikationen beleuchtet Matthias Falter in seinem Beitrag, in welchem er schließlich für einen kritischen Rechtsextremismusbegriff argumentiert. Ein Interview mit Herta Däubler-Gmelin am Ende dieses Kapitels thematisiert den Rechtsextremismus, das Versagen der Sicherheitsbehörden und die Frage nach der Möglichkeit einer politischen Aufarbeitung. Diskurse. Wie wurde es thematisiert? In diesem Kapitel steht im Fokus, wie (medial) über die NSU-Morde berichtet und was dabei jeweils (implizit) verhandelt wird. So wirft Stephan Lessenich in seinem Beitrag ein Schlaglicht darauf, dass und wie in der medialen Berichterstattung und ihrer Fokussierung auf einen »Braunen Osten« Rechtsextremismus auch zum Einsatz deutschdeutscher Gesellschaftspolitik geworden ist. In welcher Weise in der medialen Auseinandersetzung Rassismus benannt wird oder aber als Ursache zurückgewiesen wird, ist das Thema des Beitrags von Manuela Bojadžijev, die diese Zurückweisung mit den verschiedenen Spielarten des Rassismus konfrontiert, welche sich an der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem NSU verdeutlichen lassen. Michaela Köttig zeigt in ihrer Medienanalyse, dass und wie Geschlecht in der medialen Berichterstattung über Beate Zschäpe wirksam wird und welche Folgen der Einsatz von Genderstereotypen für die gesellschaftliche Wahrnehmung von Rechtsextremismus hat. Die Wirkungsweise von Medien ist Gegenstand des abschließenden Interviews mit Lutz Hachmeister, mit dem wir über Selektionsmechanismen des Mediensystems und Restriktionen der Berichterstattung gesprochen haben.

Einleitung

Reflexionen, Analysen. Welche Erklärungen bietet die Gesellschaftstheorie? Tatsächlich steht die Gesellschaftstheorie bisher recht stumm vor einem Ereignis, dessen Einordnung sie bisher anderen Teildisziplinen überlassen hat. Die Gründe hierfür liegen vermutlich sowohl in einer aktuellen Flaute gesellschaftstheoretischer Ansätze und Bezugnahmen als auch in der Thematik begründet. So schreibt Nadia Shehadeh über das Unbehagen und die Scham, angesichts der Morde und Hinterbliebenen nur mit Textproduktion zu antworten. Sie schreibt über das bittere Gefühl, dass eine wissenschaftliche Beobachtung den Verhältnissen zwar beobachtend auf den Grund zu gehen vermag, sie aber gleichzeitig an ihrer Gewaltförmigkeit nichts ändern kann. Statt einer umfassenden theoretischen Einordnung und Einhegung des Themas wird dieses Kapitel Reflexionen und Analysen vorstellen, die einzelne Aspekte beleuchten. Bspw. versucht Ulrich Bielefeld in seinem Beitrag, die NSU-Morde mit dem von Elias Canetti entlehnten Konzept der »Hetzmeute« zu beschreiben und deren gewaltförmige Praxis zu verorten. Jasmin Siri fragt im Anschluss an theoretische Arbeiten von Judith Butler nach der Möglichkeit einer dekonstruktiven soziologischen Kritik und beleuchtet an empirischen Beispielen, wie in der scheinbar alle und jeden inkludierenden Gesellschaft doch De-Thematisierung und Ausschluss an der Tagesordnung sind. Armin Nassehi problematisiert in dem abschließenden Interview aus einer systemtheoretischen Perspektive die Attraktivität rassistischer Ideen für ein bürgerliches Spektrum, die Rolle der Geheimdienste beim NSU und den politischen Umgang mit Migration. Er reflektiert das widersprüchliche Verhältnis von universalen Ansprüchen und partikularer Praxis. Moderne Gesellschaften sind von Widersprüchen durchzogen, die nur allzu häufig durch den Bezug auf partikulare Werte, die Zugehörigkeiten, aber eben auch Ausschlüsse organisieren, aufgelöst werden. Mit diesem Buch wollen wir einen Blick auf das Ereignis der Morde, auf ihre Ermöglichung durch bspw. das Nicht-Sehen-Wollen rechten Terrorismus’, auf die Diskurse der Medien und der Politik werfen. Wir wollen den Gegenstand nicht so zurichten, dass keine Fragen mehr offen bleiben, wollen die Offenheit, mit der die Gewalt sich zeigt, nicht mit theoretischen Immunisierungen beantworten. Das ist, so scheint uns, in der Vergangenheit zu oft geschehen. Rechtsradikale Terroristen und ihre Verdrängung aus dem öffentlichen Bewusstsein sind keine Ausnahmeerscheinung und kein Unfall, um den sich die Gesellschaftstheorie nicht kümmern muss. Terrorismus ist auch ein Produkt gesellschaftlicher Strukturbedingungen. Vielleicht ist es notwendig, wissenschaftliches Wissen gegen Ideologie und Gewalt wieder kritisch in Stellung zu bringen, auch wenn uns die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns eines solchen Ansinnens theoretisch sehr klar ist. Theoretisch mag das Ende der kritischen Soziologie berechtigt ausgerufen worden sein, praktisch wäre ihr weiteres Schweigen zum Terror verheerend.

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Jasmin Siri und Imke Schmincke

Bedanken möchten wir uns bei den Autorinnen und Autoren dieses Bandes für ihre Bereitschaft, mit ihrem Beitrag zum Gelingen des vorliegenden Buches beizutragen. Dem transcript Verlag danken wir für die Initiative und die exzellente Betreuung der Publikation, besonders Michael Volkmer für die konstruktive Zusammenarbeit und Beratung. Bei Julia Feiler und Marc Ortmann bedanken wir uns für die Transkription von Interviews und Hilfe beim Lektorat. Sie haben unsere Arbeit sehr erleichtert. Die Konzeption des Buches profitierte von Diskussionen, Literaturhinweisen und kritischen Kommentierungen von Karl A. Duffek, Gabriele Fischer, Carolin Küppers, Armin Nassehi, Claus Sasse und Paula-Irene Villa. Ihnen allen gilt unser herzlichster Dank. Nicht zuletzt hat Koljas Geduld uns konzentrierte Arbeitstreffen ermöglicht und so ebenfalls zum Gelingen unseres Projekts beigetragen.

L ITER ATUR Altenbockum von, Jasper (2012): »Zumutungen des Rechtsstaats«, in: FAZ vom 7.5.2013, www.faz.net/aktuell/politik/harte-bretter/harte-bretter-zumutungendes-rechtsstaates-12175994.html, zuletzt aufgerufen: 29.6.2013. Baumgärtner, Maik/Böttcher, Marcus (2012): Das Zwickauer Terror-Trio. Ereignisse, Szene, Hintergründe, Berlin: Das Neue Berlin. Butler, Judith (2005): Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fuchs, Christian/Goetz, John (2012): Die Zelle. Rechter Terror in Deutschland, Reinbek: Rowohlt. Gensing, Patrick (2012): Terror von rechts. Die Nazi-Morde und das Versagen der Politik, Berlin: rotbuch. Kermani, Navid (2012): Vergesst Deutschland. Eine patriotische Rede, Berlin: Ullstein. Ramelow, Bodo (Hg.): Schreddern, Spitzeln, Staatsversagen. Wie rechter Terror, Behördenkumpanei und Rassismus aus der Mitte zusammengehen, Hamburg: VSA. Röpke, Andrea/Speit, Andreas (Hg.) (2013): Blut und Ehre. Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland, Berlin: Ch.Links. Wetzel, Wolf (2013): Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf? Münster: Unrast.

Was geschah?

Ereignis

Das erstaunliche Erstaunen über die ›NSU-Morde‹ Lotta Mayer

»Morde an Ausländern, Heilbronner Polizistinnenmord, Nagelbombenanschlag, Banküberfälle: Die Spur des ›Nationalsozialistischen Untergrunds‹ […] ist ebenso blutig wie bislang unvorstellbar«1, so das Hamburger Abendblatt nach der Selbstenttarnung des »beispiellosen« Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Dieses Erstaunen wurde nicht nur unter Boulevardblättern geteilt; es findet sich auch in den Stellungnahmen von Entscheidungsträgern in den NSU-Untersuchungsausschüssen – etwa in der sinngemäßen Aussage des Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble, man habe sich nicht vorstellen können, dass die Rechtsextremen auch noch Morde begingen,2 und der des scheidenden Verfassungsschutzpräsidenten Heinz Fromm, dass man sich »eine braune RAF einfach nicht vorstellen […] konnte«.3 Wieviel Heuchelei dabei im Spiel sei, soll hier nicht weiter interessieren. Vielmehr ist zu fragen: Warum überhaupt dieses Erstaunen? Erstaunen drückt aus, dass man mit etwas nicht gerechnet hat; im Umkehrschluss zeigt es, was für typisch gehalten wird. Im Fall der ›Ceska-Morde‹ äußerte sich das Erstaunen erst, als klar wurde, dass sie eben keine ›Döner-Morde‹ im ›kriminellen Ausländermilieu‹ waren, sondern ›NSU-Morde‹. Der folgende Beitrag möchte zeigen, dass ebendieser Hintergrund der Mordserie keineswegs unvorstellbar war. Anschließend soll untersucht werden, woraus dann das Erstaunen resultiert.

1 | Http://www.abendblatt.de/dossiers/ar ticle2092829/Eine-beispiellose-Serierechten-Terrors.html vom 14.11.2011. 2 | Vgl. www.zeit.de/politik/deutschland/2012-12/schaeuble-nsu-ausschuss/seite-2 vom 14.12.2012. 3 | Http://www.berliner-zeitung.de/neonazi-terror/nsu-untersuchung-nur-bei-den-na zis-nicht-gesucht,11151296,16660752.html vom 20.7.2012.

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Lotta Mayer

W ISSEN STAT T S TAUNEN : I DEOLOGIE UND ORGANISIERTE G E WALT DER E X TREMEN R ECHTEN Häufig ist unklar, worauf sich das Erstaunen über die ›NSU-Morde‹ bezieht – auf Täter, Taten oder Motivation. Dabei sind die gewaltmotivierende Ideologie, Organisationsstrukturen und Gewalttätigkeit des historischen Nationalsozialismus und der gegenwärtigen extremen Rechten hinlänglich bekannt. Die Ideologie der extremen Rechten ist in all ihren verschiedenen Varianten eine Ideologie der fundamentalen Ungleichwertigkeit von Menschen, verbunden mit der Konstruktion einer homogenen ›Volksgemeinschaft‹ (vgl. Pfahl-Traughber 2000: 72) und der Stilisierung der Gewalt zum Wert an sich (vgl. Payne 2006: 20). Im Extremfall wird den als ›unwertig‹ Eingeordneten das Recht auf Leben abgesprochen. Zur Illustration ein Drohschreiben, das 1997 u.a. dem Bundeskanzleramt zuging: »Wir Nationalsozialisten erklären den Führungs- und Funktionseliten dieses Landes den totalen Krieg. Um dies zu demonstrieren, werden wir einen Politiker, zwei Journalisten, einen Richter, einen Gewerkschafter und drei Andersrassige töten. […] Türken, Juden, Fremdrassige, Linke und Liberale, Behinderte und der ganze andere genetische Abfall gehören nach unserer festen Überzeugung nach Auschwitz. Wir wollen die Oberfläche dieses Planeten nicht mit Untermenschen teilen. Wir haben das Recht, fehlgeschlagene Prototypen der Evolution zu töten, und wir werden sie vernichten.« (Zit.n. Benedict 1998: 252f.)

Diese Drohung ist an Klarheit kaum zu überbieten. Im selben Jahr begann der spätere NSU mit dem Bombenbasteln (vgl. Baumgärtner/Böttcher 2012: 50ff.). Weder Taten noch Organisationsstruktur des NSU sind ›beispiellos‹. Im Jahr der NSU-Enttarnung (2011) wurden 16.873 Straftaten mit extrem rechtem Hintergrund gezählt, darunter 755 Gewalttaten.4 Hinzu kommt ein großes Dunkelfeld; so zählt die Amadeu-Antonio-Stiftung allein für die neuen Bundesländer und Berlin mit 706 deutlich mehr rechte Gewalttaten für 2011 als die Behörden für die gesamte BRD.5 Viele dieser Übergriffe hätten tödlich enden

4 | Vgl. www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-rechtsextremismus/zahlen-undfakten-rechtsextremismus/zuf-re-2011-gewalt-gesamt.html, zuletzt aufgerufen am 24.3.2013. 5 | Vgl. www.opferfonds-cura.de/zahlen-und-fakten/jahresstatistik/, zuletzt aufgerufen am 24.3.2013. Für die alten Bundesländer existieren keine Zahlen nichtstaatlicher Stellen. Zu den Ursachen der Abweichungen vgl. den Zwischenbericht des thüringischen NSU-Untersuchungsausschusses, ThL-Drucks. 5/5810: 498.

Das erstaunliche Erstaunen über die ›NSU-Morde‹

können – andere taten es. Von Ende 19906 bis 2011 starben nach Angaben der Stiftung in der BRD mindestens 182 Menschen durch rechte Gewalt.7 Rechte Gewalt ist also alltäglich, nicht erstaunlich – und dass sie mörderisch sein kann, ist nicht unvorstellbar, sondern Realität. Von Beispiellosigkeit kann auch in Bezug auf die Opfergruppen des NSU keine Rede sein: Ein erheblicher Anteil rechter Gewalt ist rassistisch motiviert (2011: 226, also rund ein Drittel)8, auch 75 der Todesopfer rechter Gewalt weisen einen Migrationshintergrund auf. Die Ausschreitungen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sowie die tödlichen Brandanschläge von Mölln und Solingen stellen nur die bekanntesten Vorfälle der rassistischen Gewaltwelle in den frühen 1990er Jahren dar: 1993 wurden allein 284 rassistische Brandstiftungen und -anschläge staatlich dokumentiert (vgl. BMI/BMJ 2001: 286). Bei solchen geplanten und vorbereiteten Taten verschwimmen die Grenzen zwischen ›Randale‹ und ›Terrorismus‹ (vgl. Maegerle 2002: 160). Auch war der Mordanschlag auf Michèle Kiesewetter und ihren Kollegen nicht der erste rechtsmotivierte Mord an Polizisten: Im Februar 1997 erschoss der Neonazi Kay Diesner einen Polizisten und verletzte einen weiteren schwer (vgl. Benedict 1998: 10ff.). Diesner befand sich auf der Flucht, weil er zuvor versucht hatte, einen PDS-nahen Buchhändler zu ermorden (vgl. ebd.: 221ff.). Im Juni 2000 erschoss der Neonazi Michael Berger bei einer Kontrolle drei Polizisten und schließlich sich selbst (vgl. Maegerle 2002: 169). Der Mordanschlag auf den Passauer Polizeipräsidenten Alois Mannichl 2008 wurde gleichfalls durch mutmaßlich extrem rechte Täter verübt.9 Ebenso wenig wie die rassistischen Brandanschläge können diese Taten als rein spontane Handlungen von Einzeltätern abgetan werden. Die Journalistin Laura Benedict bezeichnet Diesner als »Prototyp für die Form von militantterroristischem Rechtsextremismus, mit dem in Zukunft zu rechnen« sei und der sich durch eine »Arbeitsteilung zwischen legal arbeitenden, unabhängigen ›Kameradschaften‹ und konspirativen Zellen« auszeichne (Benedict 1998: 251) – welche nun beim NSU deutlich zu erkennen ist (vgl. Gensing 2012: 89f.). 6 | Für rechte Morde in BRD und DDR 1945-1990 existiert keine Statistik (vgl. Sundermeyer 2012: 9). Auflistungsversuche zählen in der BRD 1980-1990 37 Tote, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Todesopfern_rechtsextremer_Gewalt_in_ Deutschland#Vor_der_deutschen_Wieder vereinigung _.281945.E2.80.931990.29, zuletzt aufgerufen am 24.3.2013. 7 | Vgl. www.opferfonds-cura.de/zahlen-und-fakten/todesopfer-rechter-gewalt/, zuletzt aufgerufen am 24.3.2013. 8 | Vgl. www.opferperspektive.de/Home/1145.html vom 15.3.2013. 9 | Vgl. www.focus.de/panorama/welt/angriff-auf-passauer-polizeichef-neue-spur-imfall-mannichl-fuehrt-ins-rockermilieu_aid_936897.html vom 10.3.2013.

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Bei Berger wurde die Vermutung, er habe einen ›rechtsterroristischen‹ Anschlag geplant, seitens der Behörden ausgeschlossen;10 infolge der Enttarnung des NSU – der drei Monate nach dieser Tat seinen ersten bekannten Mord beging – wird der Fall erneut untersucht.11 Hier wird deutlich, dass die scheinbar klare »Unterscheidung zwischen spontanen Gewalttaten Einzelner und geplantem, ›nachhaltigem‹, politisch gezieltem und von einer Gruppe von mindestens drei Personen verübtem Terror« (Maegerle 2002: 159) in Bezug auf die extreme Rechte nicht zu halten ist, da es sowohl terroristische Gruppierungen im Sinne des § 129a StGB als auch terroristische Einzelaktionen gibt.12 Allein 1980 verübten etwa die später als terroristische Vereinigung eingestuften Deutschen Aktionsgruppen um Manfred Roeder etliche Sprengstoff- und Brandanschläge gegen Behörden und Flüchtlingsunterkünfte; Gundolf Köhler, Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann, zündete auf dem Oktoberfest eine Nagelbombe, die 13 Menschen tötete; ein anderes Mitglied der Gruppe, Uwe Behrendt, erschoss den Verleger Shlomo Lewin und dessen Lebensgefährtin in Erlangen. Ebenfalls 1980 starben in Bologna 85 Menschen bei einem Anschlag der neofaschistischen Gruppe Ordine Nuovo. Von August 1991 bis Januar 1992 schoss der als ›Lasermann‹ bekannte John Ausonius in Schweden auf insgesamt elf ihm unbekannte Menschen, die er als Einwanderer wahrnahm, und tötete dabei einen iranischen Studenten. Nach den Taten flüchtete er auf dem Fahrrad; sein Leben finanzierte er durch Banküberfälle. Ausonius wurde im Jahr 2000 in einer Zeitschrift des in Deutschland im selben Jahr verbotenen transnationalen Nazi-Skinhead-Netzwerks Blood and Honour als ›Vorbild‹ bezeichnet. Die Mitglieder des NSU und ihr Umfeld waren in B&H-Strukturen eingebunden, auch nach dem Untertauchen soll der NSU durch B&H unterstützt worden sein (vgl. u.a. Baumgärtner/Böttcher 2012: 51f.). Aufgrund dieser Parallelen und Verbindungen prüfen die Ermittlungsbehörden mittlerweile, ob Ausonius dem NSU als Vorbild diente.13

10 | Vgl. www.rp-online.de/panorama/behoerden-polizistenmoerder-plante-keinen-ter ror akt-1.2055704 vom 18.6.2000. 11 | Vgl. www.derwesten.de/staedte/dortmund/polizei-prueft-bezug-der-terror-zellezum-polizistenmord-in-dortmund-id6085003.html vom 18.11.2011. 12 | Ausführlich Maegerle 2002: 165ff., Gensing 2012: 36ff. und Sundermeyer 2012: 33ff. und 97ff. Beispiele aus dem Ausland sind aufgenommen, weil sie (wie der 9.11.2001) die Bedrohungswahrnehmung hierzulande hätten verändern können. 13 | Vgl. www.taz.de/!101023/vom 5.9.2012 sowie http://jungle-world.com/artikel/ 2013/22/47781.html vom 30.5.2013.

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1995 wurden 168 Menschen bei einem rechtsmotivierten Bombenanschlag in Oklahoma getötet. 1999 verübten Unbekannte – eventuell der NSU14 – einen Sprengstoffanschlag auf die sogenannte Wehrmachtsausstellung in Saarbrücken, und eine Gruppierung aus dem Umfeld von Combat 18 (C18), dem bewaffneten Arm von B&H, beging Sprengstoffanschläge auf Migranten in London.15 2003 wurde ein C18-Ableger in Pinneberg ausgehoben. Auch von C18 aus führten mehrere Verbindungen zum NSU: Der Polizistenmörder Berger soll zum Umfeld von C18-Strukturen in Dortmund gehört haben,16 von denen Verbindungen zum NSU bestanden;17 der vom NSU 2004 in Köln verwendete Sprengsatz ähnelte den in London eingesetzten.18 2003 hob die Polizei die aus der Kameradschaft Süd herausgebildete Schutzgruppe um Martin Wiese aus, die einen Bombenanschlag auf die Grundsteinlegungsfeier des Jüdischen Zentrums München geplant hatte. Der damalige bayerische Innenminister Günther Beckstein sprach daraufhin von einer »völlig neue[n] Dimension« extrem rechter Gewaltbereitschaft und einer »Braune[n] Armee Fraktion«.19 Seinen zweiten Münchner Mord beging der NSU kurz nach der Verurteilung Wieses und seiner Mittäter.20 2011 wurde im Raum Ludwigsburg, in den der NSU zahlreiche Verbindungen hatte,21 die Standarte Württemberg aufgedeckt, die »Ausländer mit allen Mitteln aus Deutschland […] vertreiben«22 wollte. Somit waren die wesentlichen Elemente der NSU-Mordserie lange vorhanden und öffentlich bekannt: eine menschenverachtende Ideologie mit eliminatorischen Zügen, entsprechende Opfergruppen, eine teils klandestin organisierte Trägergruppe, ein erschreckendes Ausmaß rechter Gewalt einschließlich ›terroristischer‹ Taten. Wenn auch die konkreten Taten des NSU nicht vorhersehbar waren, so kann doch von ›unvorstellbar‹ keine Rede sein (vgl. auch Gensing 2012: 36ff.). 14 | Vgl. www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-11/doener-morde-rechtsextre mismus vom 12.11.2011. 15 | Vgl. http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/328181.stm vom 25.4.1999. 16 | Vgl. www.derwesten.de/politik/terrorgefahr-durch-rechtsradikale-wurde-lange-un ter schaetzt-id7636829.html vom 19.2.2013. 17 | Vgl. https://www.derwesten-recherche.org/2012/05/3248/ vom 15.5.2012. 18 | Vgl. http://taz.de/NSU-Untersuchungsausschuss/!112933/ vom 15.3.2013. 19 | Vgl. www.sueddeutsche.de/muenchen/guenther-beckstein-bedrohung-durch-einebraune-armee-fraktion-1.745933 vom 11.5.2010. 20 | Vgl. www.sueddeutsche.de/muenchen/rechter-terror-in-muenchen-unheimlicheparallelen-1.1221070 vom 29.11.11. 21 | Vgl. Baumgärtner/Böttcher 2012: 207 und http://taz.de/NSU-Verbindungen-nachSchwaben/!109872/ vom 27.1.2013. 22 | Http://www.zeit.de/gesellschaf t/2011-07/Rechtsextremismus-Razzia-Wuer t temberg vom 27.7.2011.

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V ERDR ÄNGEN STAT T W ISSEN ? Ü BER DIE G RUNDL AGE DES E RSTAUNTSEINS All dies zu ›übersehen‹ und von den Taten nicht auf »deutsche Zustände« (Heitmeyer 2012) zu schließen, erfordert aktive Verdrängungs- und Abspaltungsleistungen.

Von Einzeltätern, Terroristen und anderen Randgruppen Der Oktoberfest-Attentäter Köhler und der Polizistenmörder Diesner wurden von den Behörden als ›geistig ver(w)irrte Einzeltäter‹ eingestuft – trotz gegenläufiger Hinweise (vgl. Ganser 2008: 321ff., Benedict 1998: 251). Diese Verkennung der Einbindung rechter Gewalt in organisierte Strukturen ist weit verbreitet (vgl. Schmidt 1993: 264ff.); dabei sind »gerade diese Verbindungen […] die Triebfedern für den Terror« (ebd.: 84). Auch die gleichermaßen motivierenden ideologischen Hintergründe, die auf weitere soziale Zusammenhänge und letztlich die ganze Gesellschaft verweisen, können so ausgeblendet werden. Auch die Verbindungen des NSU zur offen agierenden Naziszene u.a. zur 2011 verbotenen Hilfsorganisation für Nationale Gefangene (vgl. Gensing 2012: 51ff.) scheinen gerichtlich vernachlässigt,23 sind doch neben Beate Zschäpe bisher nur vier von 129 mutmaßlichen Unterstützern angeklagt.24 Eine ähnliche Funktion kommt dem nur scheinbar entgegengesetztem Terrorismusbegriff zu. Schon allein, weil unklar ist, was ›Terrorismus‹ eigentlich bedeutet, verdeckt dieser vor allem seitens der Sicherheitsbehörden bemühte Begriff mehr, als er der Aufklärung dient. Eine allgemein anerkannte Definition von ›Terrorismus‹ existiert nicht (vgl. Weinberg/Pedahzur/HieschHoefeler 2004: 777ff.). Entsprechend ändert sich die Begründung der Unvorstellbarkeit der NSU-Verbrechen ständig, so ist mal die Rede vom Fehlen eines Bekennerschreibens (vgl. Gensing 2012: 21), dann von der Tatausführung als »kaltblütige[r] Exekution« (Fromm, zit.n. Fuchs/Goetz 2012: 5); dies sind jedoch keine Definitionsmerkmale einer terroristischen Vereinigung nach §129a StGB. Wenn aber unklar ist, was ›unvorstellbar‹ war, ist die Behauptung der ›Unvorstellbarkeit‹ nicht widerlegbar. So wird ›Terrorismus‹ zum leeren Signifikanten, der für die Nicht-Schuldhaftigkeit des Versagens der Sicherheitsbehörden bürgt. Zudem ist der Terrorist der ›ganz andere‹ – er steht moralisch außerhalb der Gesellschaft. Eine ähnliche Abspaltungsfunktion haben die empirisch unhaltbaren Annahmen eines ›totalen Bruchs‹ nach 1945 oder die Auffassung, 23 | Vgl. www.neues-deutschland.de/artikel/815350.luecken-in-der-zeugenliste.html vom 11.3.2013. 24 | Vgl. http://tagesschau.de/inland/nsunetzwerk100.html vom 24.3.2013.

Das erstaunliche Erstaunen über die ›NSU-Morde‹

Neonazis seien ein ›Ost-Phänomen‹ (vgl. Gensing 2012: 191ff.) oder ›perspektivlose Jugendliche‹, die extreme Rechte also lediglich ein Konglomerat von gewalttätig-tumben Springerstiefelträgern.

Alles E xtremisten oder was? Die gegenwärtig wirkmächtigste Abspaltungsstrategie ist die Extremismustheorie, die die Gesellschaft in eine ›Mitte‹, die fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehe und ›Extremisten‹, die diese bekämpften, unterteilt. Die inhaltlichen Differenzen der ›Links-‹, ›Rechts-‹ und ›Ausländerextremisten‹ werden gegenüber der angeblichen Übereinstimmung von Zielen und Mitteln als unwesentlich betrachtet (vgl. Backes/Jesse 1996: 252ff.), während ein scharfer Bruch und maximaler Gegensatz sie alle von der ›Mitte‹ trennt.25 Das Konstrukt des ›Rechtsextremismus‹ erlaubt, die gesellschaftliche Eingebundenheit der derart Ausgeschlossenen und die Verwurzelung ihrer Überzeugungen in der politischen Kultur auszublenden (vgl. Winkler 2000: 58ff.) – vor allem den weitverbreiteten Rassismus. So bejahten 1992 51 Prozent der Befragten die Aussage »Deutschland den Deutschen« (vgl. Schmidt 1993: 46), die, mit der Ergänzung »Ausländer raus!« versehen, nach wie vor als Parole auf Nazidemonstrationen zu hören ist. Zehn und zwanzig Jahre später stimmt grob ein Drittel der Befragten Aussagen wie »Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet« voll zu, dazu 15-30 Prozent teilweise (vgl. Decker/Kiess/Brähler 2012: 28f., 50). Ebendieser Rassismus der Mehrheitsgesellschaft bildet die Grundlage rassistischer Gewalt durch Neonazis und andere (vgl. Schmidt 1993: 241ff., Stöss 2004: 67ff.). Diese Zusammenhänge sowie die soziale Einbindung von extrem rechten Individuen und Organisationen 26 abzuspalten, ermöglicht der Begriff des Rechtsextremismus: rassistisch 27, gewalttätig, mörderisch sind immer die anderen. So lässt sich der ›mörderische Hass‹ des NSU aufs Schärfste verurteilen und gleichzeitig die ›Einwanderung in deutsche Sozialsysteme‹ skandalisieren.28

25 | Vgl. hierzu auch die Beiträge von Falter und Fuhrmann/Hünemann in diesem Band. 26 | Vgl. u.v.a. am Beispiel des Studienzentrums Weikertsheim, Heck 2004. 27 | Selbiges gilt für die Bezeichnung als antisemitisch, sozialdarwinistisch, demokratiefeindlich… Ein geschlossenes extrem rechtes Weltbild bezeichnet das gemeinsame Auftreten dieser Einstellungen, vgl. Decker/Kiess/Brähler 2012: 54. 28 | Vgl. u.v.a. www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/bundesinnenministerfriedrich-will-visumfreiheit-von-serben-und-mazedoniern-aussetzen-11923185.html vom 12.10.2012 und www.fr-online.de/politik/schengen-kandidaten-friedrich-bestehtauf-grenzkontrollen-,1472596,22036282.html vom 8.3.2013.

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Die Verdrängung dieser Zusammenhänge wird durch die Delegitimierung derjenigen, die schon lange auf die Zusammenhänge zwischen diesen weitverbreiteten Einstellungen einerseits und der extremen Rechten andererseits hinweisen, stabilisiert. Dies erlaubt die Konstruktion des ›Linksextremismus‹. Insbesondere antifaschistische Gruppierungen werden auf diese Weise außerhalb der ›demokratischen Gesellschaft‹ gestellt (vgl. ThL-Drucks. 5/5810: 547). Teilweise wird unterstellt, ›rechtsextreme‹ Gewalt – auch die des NSU – sei lediglich eine Reaktion auf die der ›Linksextremisten‹. So begann ein Videoclip über ›Extremismus‹ der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) mit den Worten: »Es herrscht Bombenstimmung in Deutschland. Die Linken fackeln Luxuskarossen ab und die Rechten kontern mit den sogenannten Döner-Morden.« 29

So wird jede eigenständige Motivation des NSU verneint; derart verdeckt auch der Linksextremismus-Begriff die Beziehung rechter Gewalt zum gesamtgesellschaftlichen Rassismus. Durch des letzteren Abspaltung verhindert der Extremismus-Begriff die Frage, ob das ›Versagen‹ der Behörden – von deren Komplizenschaft beim Aufbau des Thüringer Heimatschutzes, aus dem heraus sich der NSU entwickelte (vgl. ThL-Drucks. 5/5810: 493 und 552f.) bis hin zur intensiven Ermittlung im ›Ausländermilieu‹ und dem Nichtverfolgen der Hinweise auf einen rechten Hintergrund (vgl. Gensing 2012: 140) – nicht auch auf rassistische Einstellungen ihrer Mitarbeiter (vgl. BMI/BMJ 2001: 292, Gensing 2012: 140ff.) zurückzuführen sein könnte.30 Stattdessen wird von Politik und Sicherheitsorganen ausschließlich über Organisationsstrukturen gesprochen. Entsprechend ist die ›Lösung‹ eine rein institutionelle: Nach dem Auffliegen des NSU wurde hastig ein Gemeinsames Abwehrzentrum Rechtsextremismus/-terrorismus gebildet, zu dem sich dann wie von selbst und nach dem Lehrbuch der Extremismustheorie die Bereiche ›Links-‹ und ›Ausländerextremismus/-terrorismus‹ gesellten, um das Gemeinsame Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum zu bilden. Ob diese Erweiterungen – bzw. die ganze Einrichtung – für die künftige Verhinderung ›rechtsextremer‹ Gewalttaten hilfreich sind, wird sich erweisen.

29 | Zit.n.www.publikative.org/2012/11/23/wenn-die-rechte-mit-donermorden-kon tert/ vom 23.11.2012. 30 | Vgl. u.a. www.taz.de/!107927/ vom 22.12.2012. Auch der NSU-Untersuchungsausschuss befasst sich mit dieser Frage, vgl. www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.nsuopfer familie-ueber-behoerden-blind-fuer-den-rechten-terror.d9dee7fc-d001-489f8062-4f6a8ff6cea7.html vom 8.3.2013.

Das erstaunliche Erstaunen über die ›NSU-Morde‹

Solange aber das, was in der Mord- und Anschlagsserie des NSU einen zurecht als entsetzlich bezeichneten Ausdruck fand, als Werk ›verwirrter Einzeltäter‹ oder außerhalb der Gesellschaft stehender ›Extremisten‹ behandelt wird, statt es endlich als gesamtgesellschaftliches Problem anzuerkennen und als solches konsequent zu bekämpfen,31 wird man über neue Gewalttaten und Morde eines ganz bestimmt nicht sein dürfen: erstaunt.

L ITER ATUR Backes, Uwe/Jesse, Eckhard (1996): Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn: BpB. Baumgärtner, Maik/Böttcher, Marcus (2012): Das Zwickauer Terror-Trio. Ereignisse – Szene – Hintergründe, Berlin: Das Neue Berlin. Benedict, Laura (1998): Sehnsucht nach Unfreiheit. Der Fall Kay Diesner und die rechte Szene, Berlin: Edition Ost. Bundesministerium des Inneren/Bundesministerium der Justiz (BMI/BMJ) (2001): Erster Periodischer Sicherheitsbericht, Berlin, www.bmi.bund.de/ SharedDocs/Downloads/DE/Veroeffentlichungen/erster_periodischer_si cherheitsbericht_langfassung_de.pdf?__blob=publicationFile, zuletzt aufgerufen am 25.3.2013. Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (2012): Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, www.fes-gegen-rechts extremismus.de/pdf_12/mitte-im-umbruch_www.pdf, zuletzt aufgerufen am 25.3.2013. Fuchs, Christian/Goetz, John (2012): Die Zelle: Rechter Terror in Deutschland, Reinbek: Rowohlt. Ganser, Daniele (2008): NATO-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung, Zürich: Orell Füssli. Gensing, Patrick (2012): Terror von Rechts. Die Nazi-Morde und das Versagen der Politik, Berlin: Rotbuch. Heck, Meinrad (2004): »Das Studienzentrum Weikertsheim – Der Club der rechten Denker«, in: Stephan Braun/Daniel Hörsch (Hg.), Rechte Netzwerke – eine Gefahr, Wiesbaden: VS, S. 95-102. Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) (2012): Deutsche Zustände, Folge 10, Berlin: Suhrkamp. Maegerle, Anton (2002): »Rechtsextremistische Gewalt und Terror«, in: Thomas Grumke/Bernd Wagner (Hg.), Handbuch Rechtsradikalismus, Opladen: Leske und Budrich. 31 | Derzeit müssen Organisationen und Einrichtungen, die seit Jahren gegen die rechten Einstellungen aktiv sind, um ihre Finanzierung bangen.

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Payne, Stanley G. (2006): Geschichte des Faschismus: Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung, Wien: Lizenzausg. für Tosa. Pfahl-Traughber, Armin (2000): »Der organisierte Rechtsextremismus in Deutschland nach 1945«, in: Richard Stöss/Wilfried Schubarth (Hg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Bonn: BpB, S. 71-100. Schmidt, Michael (1993): »Heute gehört uns die Straße…«, Düsseldorf/Wien: Econ. Stöss, Richard (2004): »Der Nährboden für rechte Netzwerke: Rechtsextreme Einstellungen und ihre Ursachen«, in: Stephan Braun/Daniel Hörsch (Hg.), Rechte Netzwerke – eine Gefahr, Wiesbaden: VS, S.67-76. Sundermeyer, Olaf (2012): Rechter Terror in Deutschland. Eine Geschichte der Gewalt, München: C.H. Beck. Thüringer Landtag (ThL): Zwischenbericht des Untersuchungsausschusses 5/1, Drucksache 5/5810 vom 7.3.2013, www.thueringer-landtag.de/imperia/ md/content/landtag/drucksachen/drs55810.pdf, zuletzt aufgerufen am 24.3.2013. Weinberg, Leonard/Pedazur, Ami/Hirsch-Hoefeler, Sivan (2004): »The Challenges of Conzeptualizing Terrorism«, in: Terrorism and Political Violence 16/4, S. 777-794. Winkler, Jürgen R. (2000): »Rechtsextremismus: Gegenstand – Erklärungsansätze – Grundprobleme«, in: Richard Stöss/Wilfried Schubarth (Hg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Bonn: BpB, S. 38-68.

NSU: Rassismus, Staatsversagen und die schwierige Suche nach der Wahrheit Heike Kleffner

Mehr als 12.000 Aktenordner und über 70 Zeuginnen und Zeugen sowie ein Dutzend Sachverständige haben die 22 Abgeordneten des Bundestags-Untersuchungsausschusses zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) seit der Einsetzung des Ausschusses Ende Januar 2012 gesichtet und gehört.1 Ihr Auftrag: Antworten auf vier zentrale Fragestellungen zu finden: Wie konnte es dem NSU gelingen, ungehindert den neonazistischen Wahn der ›White Supremacy‹ durch die für zehn Menschen tödliche Inszenierung eines imaginären ›Rassekriegs‹ auszuleben? Und dabei neun migrantische Kleinunternehmer und eine Polizistin zu töten sowie zwei Sprengstoffattentate mit mehr als zwei Dutzend z.T. lebensgefährlich Verletzten und ein Dutzend Banküberfälle innerhalb von zwölf Jahren zu verüben. Zudem sollte der Bundestags-Untersuchungsausschuss Fehler und Versäumnisse von Behörden des Bundes und der Länder im Kontext des NSU-Komplexes aufdecken sowie analysieren, welche Rolle V-Leute von Geheimdiensten und Polizei im NSU-Netzwerk einnahmen. Und nicht zuletzt sollten die Abgeordneten »auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse Schlussfolgerungen für Struktur, Zusammenarbeit, Befugnisse und Qualifizierung der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden und für eine effektive Bekämpfung des Rechtsextremismus ziehen und Empfehlungen aussprechen«. 2

1 | Der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses soll am 2.9.2013 im Plenum des Deutschen Bundestages vorgestellt und verabschiedet werden. 2 | Der Untersuchungsauftrag des 2. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Nationalsozialistischen Untergrund findet sich im Wortlaut in der BundestagsDrucksache 17/8453 vom 24.1.2012, www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/ ua/2untersuchungsausschuss/.

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Fast zeitgleich zum Bundestags-Untersuchungsausschuss nahmen auch in den Landtagen von Thüringen, Sachsen und im Herbst 2012 Bayern weitere parlamentarische Untersuchungsausschüsse ihre Arbeit auf, die die spezifischen Aspekte des NSU-Komplexes in Bezug auf die Verantwortung der jeweiligen Landesbehörden untersuchen sollten – und teilweise noch bis 2014 untersuchen werden. Und schon vor dem Bundestags-Untersuchungsausschuss hatte die zeitweise mehr als 300 Beamte umfassende Ermittlergruppe des Bundeskriminalamtes Besondere Auf bauorganisation (BAO) Trio die Ermittlungen für die Generalbundesanwaltschaft begonnen, deren Ergebnisse jetzt in die Anklageschrift gegen das mutmaßliche NSU-Mitglied Beate Zschäpe sowie die mutmaßlichen Unterstützer Ralf W., Andre E., Holger G. und Carsten S. einflossen.

V IELE OFFENE F R AGEN Auch wenn hinter den Kulissen noch um die parteiübergreifende Einhelligkeit des Bundestags-Untersuchungsausschusses auch in Bezug auf den Abschlussbericht gerungen wird: Ein erstes Resümee der Arbeit des 2. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses bleibt zwiespältig. Denn lediglich auf zwei der vier zentralen Fragen hat der Ausschuss überzeugende Antworten gefunden – die mitsamt der vielen offenen Fragen im nachfolgenden Text ausführlicher dargestellt werden sollen. Nach den über 70 Sitzungen des Bundestags-Untersuchungsausschusses, aber auch der jeweiligen Landtagsausschüsse ist eines überdeutlich geworden: Die vier Untersuchungsausschüsse haben massenhaft Belege zur Untermauerung der These von Versagen, Verharmlosung und Vertuschung durch Polizei und Geheimdienste gefunden, aber keine Belege für eine aktive Unterstützung des NSU aus dem Sicherheitsapparat. Dennoch und auch wenn der Bundestags-Untersuchungsausschuss hier zu einer scheinbar eindeutigen Antwort kommen wird: Kaum jemand kann oder will mit allerletzter Sicherheit ausschließen, dass im weiteren Verlauf der Strafprozesse gegen Beate Zschäpe und mutmaßliche UnterstützerInnen des NSU nicht doch noch Beweise für eine tiefer gehende Verstrickung von V-Leuten der Geheimdienste oder Polizeibehörden in das Netzwerk des NSU auftauchen werden. Die Aussage des Ausschussvorsitzenden Sebastian Edathy (SPD) nach der Akteneinsichtnahme der Obleute beim Bundesamt für Verfassungsschutz am 4. Juli 2012 in Berlin-Treptow, keiner der acht geführten V-Leute sei einer der Beschuldigten, schränkte bspw. der Grünen-Obmann Wolfgang Wieland ein. Er könne keine »vollständige Entwarnung« geben, so Wieland damals. Geklärt werden müsse u.a., ob der Verfassungsschutz möglicherweise Quellen im Umfeld der NSU geführt habe, die nie in Akten dokumentiert worden seien (vgl. Medick 2012).

NSU: Rassismus, Staatsversagen und die schwierige Suche nach der Wahrheit

R ASSISMUS ALS ZENTR ALE U RSACHE DES S TA ATSVERSAGENS In zahlreichen Zeugenaussagen und Aktenvorlagen ist indes eines deutlich geworden: Eine der zentralen Ursachen für das Staatsversagen im NSU-Komplex ist Rassismus – sowohl in Gestalt des institutionellen Rassismus bei Strafverfolgungsbehörden und Geheimdiensten als auch in Form von individuellen, rassistisch motivierten Vorurteilen und dem Verhalten einzelner Beamter. Dies gilt auch und im Besonderen für die Frage nach der Bedeutung von Rassismus bei den Reaktionen staatlicher Strafverfolgungsbehörden auf die sogenannte ›Ceska-Mordserie‹. Besonders deutlich zeigt sich die Wechselwirkung von individuell rassistisch motiviertem Verhalten und institutionellem Rassismus in der Art und Weise der Ermittlungsführung bei der Suche nach den Tätern der Mordserie: Der Blumenhändler Enver Şimşek, der am 9. September 2000 in Nürnberg dem NSU-Terror als Erster zum Opfer fiel, wurde von den bayerischen Ermittlern bspw. verdächtigt, einer bis heute unbekannten »Blumenmafia« anzugehören oder mit seinen im Großhandel in Amsterdam gekauften Blumen gleich auch Drogen ins Land zu schmuggeln. In einem parallelen Ermittlungsansatz machten Polizeibeamte seine Witwe zur Hauptverdächtigen und bedienten sich dabei aus der untersten Schublade rassistischer Klischees: Polizisten hielten der trauernden Ehefrau das Foto einer vermeintlich unbekannten blonden Frau vor und behaupteten, es handele sich um die Geliebte ihres gerade erschossenen Ehemannes. Später stellte sich heraus, dass das gleiche Foto derselben Frau auch anderen Witwen der NSU-Mordopfer mit ähnlichen Lügenkonstruktionen gezeigt wurde. In einer beinahe die gesamten Ermittlungen prägenden Opfer-Täter-Umkehr, mit der fast alle Angehörigen der NSU-Mordopfer von den Ermittlern stigmatisiert und bis weit über alle den Ermittlungen angemessenen Grenzen hinaus gequält wurden, wurden zudem Ehefrauen, Eltern und andere Angehörige der Mordopfer über Monate und manchmal Jahre der Täterschaft verdächtigt: Polizisten hörten ihre Telefonanschlüsse ab, verwanzten ihre PKWs, verdeckte Ermittler wurden in ihrer Nähe platziert und ihre Kontobewegungen minutiös recherchiert. Die Tatsache, dass die unter Verdacht stehenden Communities keine brauchbaren Hinweise auf mögliche Täter lieferten, begründeten leitende Ermittler dann mit der Existenz eines ›milieutypischen Schweigekartells‹. Und als nach den Morden in Kassel und Dortmund im April 2006 mehrere Tausend Menschen aus den betroffenen Communities demonstrierten – und auch auf mögliche rechte Täter verwiesen – nahmen dies Medien und Ermittler, aber auch die deutsche Linke, allenfalls am Rand zur Kenntnis. Nach dem achten und neunten NSU-Mord – am 4. April 2006 starb Mehmet Kubasik (39) in seinem Kiosk in Dortmund und am 6. April 2006 wur-

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de Halit Yozgat (21) in seinem Internet-Café in Kassel erschossen – berichtete die Berliner Zeitung über ein Gespräch mit dem damaligen Leiter der Besonderen Auf bauorganisation Bosporus beim Polizeipräsidium Nürnberg, Wolfgang Geier, der die Ermittlungen der einzelnen Mordkommissionen an den Tatorten koordinieren sollte: Er denke, »dass ihm bei den Befragungen nicht immer die Wahrheit gesagt werde. Oder nicht die ganze Wahrheit. ›Ich denke an Bekannte, Freunde und Verwandte der Opfer. Und ich bin mir nicht sicher, ob sie uns nichts sagen können oder nichts sagen wollen. Von dieser Seite kamen jedenfalls keine wichtigen Hinweise.‹ Geier, so notiert die Berliner Zeitung, spreche von einer Parallelwelt, in die er geblickt habe und in der es kein Vertrauen zu den Behörden gäbe. Vor einiger Zeit hätten sie die Belohnung für Hinweise von 30.000 auf 300.000 Euro erhöht. Sie haben gehofft, dass sich selbst in kriminellen Organisationen jemand findet, der bei einer solchen Summe schwach wird. Aber es blieb still« (Korth 2006).

Nach neun Morden und Hunderten erfolglos abgearbeiteten ›Spuren‹ – gaben die Ermittler der BAO Bosporus dann im Frühjahr 2006 eine zweite Operative Fallanalyse (OFA) bei Spezialisten des Landeskriminalamts Bayern in Auftrag. Deren Ergebnis kam dem Profil des NSU sehr nahe: Ein oder zwei Täter aus dem extrem rechten Milieu, die aus »Türkenhass« handeln und denen die Neonaziszene nicht effektiv genug sei, sollten für die Taten verantwortlich sein. Doch beim Bundeskriminalamt (BKA) und der Mehrheit der qua Tatort zuständigen Sonderkommissionen in den fünf Tatort-Bundesländern wurde diese Analyse der bayerischen LKA-Profiler sofort massiv diskreditiert. Die BAO Bosporus verzichtete im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 darauf, das neue mögliche Täterprofil öffentlich zu machen: vorgeblich aus Angst vor einer »Massenhysterie« unter türkischen Geschäftsleuten.3 Auf Drängen u.a. des BKA wurde stattdessen eigens ein Gegengutachten beim LKA Baden-Württemberg in Auftrag gegeben. Die dortigen Profiler lieferten Ergebnisse ganz im klassischen Muster rassistischer Stereotype: Die Täter kämen aus einer »kriminellen Gruppe«, die durch eine »archaische Norm- und Wertestruktur mit rigiden Regeln der Status- und Machterhaltung« geprägt sei. Dieser »rigide Ehrenkodex« spreche eher für eine Gruppe »im ost- bzw. südosteuropäischen Raum« – und nicht »für einen europäisch westlichen Hintergrund«.4 Das BKA ließ sich auch nicht durch eine Operative Fallanalyse des FBI beeindrucken, dessen Profiler im Sommer 2007 zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Profiler 3 | Vgl. u.a. 3. Sitzung des 2. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses vom 26.4.2012. 4 | Vgl. u.a. 4. Sitzung des 2. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses vom 22.5.2012.

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des LKA Bayern gekommen waren; dass nämlich die Täter von einem »Hass gegen Menschen türkischer Herkunft« motiviert seien. Die Akribie, mit der die Ermittler u.a. familiäre Verhältnisse der NSU-Opfer und ihrer Angehörigen bis in die kleinste Verästelung hinein nachzeichneten und nachspürten, lässt sich weder bei der Bearbeitung der durchaus vorhandenen Spuren in Bezug auf die Herkunft der Tatwaffe – einer aufgrund ihres Schalldämpferaufsatzes seltenen tschechischen Pistole namens Ceska 83, Kaliber 7,65 – noch für eine mögliche Täterschaft von Neonazis und fanatischen Rassisten erkennen: So blieben zwei vom BKA und dem LKA Nordrhein-Westfalen unabhängig voneinander erstellte Operative Fallanalysen zu den Hintergründen des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße im Juni 2004 ohne erkennbaren Einfluss auf die Ermittlungen der EG Sprengstoff beim Polizeipräsidium Köln: die Profiler des BKA waren zu dem Ergebnis gekommen, dass »das Tatmittel eine hohe Menschenverachtung« ausdrücke. »Sieht man diese in direktem Zusammenhang mit der Auswahl des Anschlagsortes, der Keupstraße als herausragendes Beispiel türkischer Kultur und Lebensart, so lässt dies einen ausgeprägten Hass auf die zum Zeitpunkt der Tat im Frisörsalon und auf der Straße aufhältigen Personen vermuten.«

Und die Profiler des LKA Nordrhein-Westfalen stellten schon im Juli 2004 fest: »Unwahrscheinlich: Bereicherungsmotiv und Racheakt. Am wahrscheinlichsten: Persönliches Motiv mit örtlichem Bezug in Kombination der Faktoren«, »Politisch motiviert (unorganisiert/fremden- bzw. türkenfeindlich)« und »Machtausübung/Machtmotiv«.5 Doch beim Polizeipräsidium gab es daraufhin eine schriftliche Anweisung, ein mögliches »fremdenfeindliches« Motiv explizit nicht in einem Pressetermin Ende Juli 2004 zu thematisieren. Ganz auf dieser Linie suchte die EG Sprengstoff die Täter über Jahre unter den Anwohnern der Keupstraße. Einen besonderen Fokus hat der Bundestags-Untersuchungsausschuss auf die Frage nach der Zusammenarbeit der koordinierenden BAO Bosporus beim Polizeipräsidium Nürnberg mit den Ermittlern an den Tatorten und dem BKA gelegt. Knapp zusammengefasst lautet die Antwort: Immer dann, wenn es um vermeintliche oder real existierende Netzwerke der Organisierten Kriminalität aus migrantischen Milieus, um Drogenhändlerringe, Waffenschmuggler und Geldwäscher, aber auch um PKK und Türkische Hizbullah ging, klappte die Zusammenarbeit aller Beteiligten aus lokalen Mordkommissionen, BKA und Geheimdiensten hervorragend.

5 | Vgl. u.a. 32. Sitzung des 2. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses vom 22.11.2012.

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Und solange es um die Täter-Opfer-Umkehr im engsten Sinn ging – nämlich die Ermordeten und ihre Angehörige im Nachhinein zu Mitgliedern krimineller, migrantischer Verbrecherbanden zu erklären – waren Phantasie und Akribie der Ermittler kaum Grenzen gesetzt. Letztendlich spiegeln die rassistischen Vorurteile einzelner Beamter und der institutionelle Rassismus der Strafverfolgungsbehörden auch die gesamtgesellschaftlich verbreiteten rassistischen Vorurteile und Einstellungen wider. Diese werden, wenn man sich die Ergebnisse der Langzeitstudien von Decker und Brähler an der Universität Leipzig und der Forschergruppe um Wilhelm Heitmeyer am Bielefelder Institut für Konfliktforschung anschaut, von mindestens einem Drittel der jeweils Befragten ganz offen vertreten. Dementsprechend sollte es eigentlich kaum überraschen, dass mindestens fünf Polizisten aus Baden-Württemberg in den 2000er Jahren aktiv bei den White Knights of the Ku Klux Klan waren, wie im Verlauf des Bundestags-Untersuchungsausschusses bekannt wurde – darunter auch der Gruppenführer der im April 2007 vom NSU ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter.6

G EHEIMDIENSTE : D ER TÖDLICHE M IX AUS I GNOR ANZ UND I NKOMPE TENZ Besonders eklatant ist das System der Verharmlosung und Vertuschung in den Geheimdiensten bei der Rückschau auf die Phase der Konstituierung neonazistischer Terrorzellen ab Mitte der 1990er Jahre. »In Deutschland gibt es derzeit keine rechtsterroristischen Organisationen«, so lautete der mantra-artig wiederholte Standardsatz in den Jahresberichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz seit 1995. Es mangele den Rechtsextremen an Strategien, Führungspersonen und finanziellen Mitteln. Auch fehlten die Unterstützerszene und die logistischen Voraussetzungen. Für diese komplett falsche Analyse der Geheimdienste gibt es erkennbar zwei eng miteinander verknüpfte Ursachen: Eine davon hat der zurückgetretene Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, bei seiner Vernehmung im Bundestags-Untersuchungsausschuss im Juli 2012 benannt. Zwar hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz im September 2000 auf einer Sitzung der Bund-Länder-übergreifenden Informationsgruppe zur Beobachtung und Bekämpfung rechtsextremistischer/-terroristischer und fremdenfeindlicher Gewaltakte (IGR) darauf gedrungen, die »Ansätze für das Entstehen eines Rechtsterrorismus« auch als solche zu benennen. Dafür hätten u.a. die zahlreichen Aufrufe zur Bildung einer neonazistischen »Bewegung in Waf6 | Vgl. u.a. 68. Sitzung des 2. Parlamentarischen Untersuchungsausschuss vom 25.4.2013.

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fen« und entsprechende Schusswaffen-, Rohrbomben- und Sprengstofffunde gesprochen. Doch sowohl die Polizeibehörden der Länder als auch die Generalbundesanwaltschaft hätten sich mit Verweis »auf die Tatbestandsmerkmale des Paragraphen 129a des Strafgesetzbuches« gegen »eine Ausweitung des Terrorismusbegriffs« gesträubt, so Fromm am 5. Juli 2012 vor dem BundestagsUntersuchungsausschuss. Im Klartext: Man wollte sich offensichtlich nicht von den lieb gewonnenen und altbekannten Feindbildern eines Terrors von Links gegen staatliche Repräsentanten und Vertreter der Eliten verabschieden. Und zugleich wollte man offensichtlich die neuen Bundesländer vor einem Imageverlust als ›gefährliche Zonen‹ bewahren. Ein Jahr später kam ohnehin eine Neuausrichtung der Geheimdienstarbeit nach den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA hinzu. So konnten unter den Augen von Geheimdiensten und Polizei regionale und überregionale rechte Terrorstrukturen entstehen, die gesellschaftliche Minderheiten und die demokratische Verfasstheit des Staates zu ihren Hauptfeinden erklärten und diesem Weltbild ›Taten statt Worte‹ folgen ließen. Dazu jedoch schweigen die Verfassungsschutzberichte: Für die Jahre 2000 bis 2011 finden sich dort die immer gleichen Dementis zur Existenz von rechtsterroristischen Strukturen. Und wenn es denn einmal zu strafrechtlichen Ermittlungen kam, wurden die gut organisierten Neonazi-Strukturen allenfalls mit dem Vorwurf der Bildung einer ›kriminellen Vereinigung‹ nach §129 StGB verfolgt – wie etwa im Fall der Skinheads Sächsische Schweiz oder des Sturms 34 in Sachsen. Eine zweite Ursache lag darin, dass die Geheimdienste und auch die Staatsschutzabteilungen der Polizeibehörden die Generation von Neonazis, die in den Jahren der Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen politisiert und sozialisiert wurden, schlichtweg unterschätzten und entpolitisierten. Diese Generation des bedingungslosen ›Rassekriegs‹, deren zentrale Erfahrung darin bestand, dass sich ihnen niemand in den Weg stellte und sie kaum mit Strafverfolgung rechnen mussten, wenn sie schwerste Straftaten gegen Flüchtlinge und MigrantInnen verübten, zeichnet sich durch ans Wahnhafte grenzende Omnipotenzvorstellungen aus. Der harte Kern dieser Neonazi-Generation – rund 500 Männer und Frauen vor allem der 1970er Geburtsjahrgänge – sammelte sich ab Mitte der 1990er Jahre in der deutschen Sektion des internationalen Neonazinetzwerks Blood&Honour und deren bewaffneter Struktur Combat 18 sowie bei den Hammerskins.

E INE ENDLOSE K E T TE VON POLIZEILICHEN E RMIT TLUNGSFEHLERN Aber auch die polizeilichen Ermittlungen, insbesondere des LKA Thüringen und des BKA, nach dem Untertauchen des NSU-Kerntrios am 26. Januar 1998 in Jena stellen sich nach den Zeugenbefragungen der Untersuchungs-

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ausschüsse im Bundestag und im Erfurter Landtag als eine endlose Kette von fehlerhafter, ungenauer und wenig effektiver Polizeiarbeit dar. Drei besonders eklatante Beispiele sollen hier genannt werden. Bei den Durchsuchungen der Garagen und Wohnungen des NSU-Kerntrios beschlagnahmten die Beamten Ende Januar 1998 auch eine Adressliste von Uwe Mundlos, die sich im Nachhinein wie das Who-is-Who des ersten Unterstützerkreises, aber auch der Tatorte des NSU-Kerntrios liest: mit Telefon- und Handynummern von drei Dutzend mit Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt befreundeten Neonazis u.a. aus Chemnitz, Ludwigsburg, Nürnberg und Rostock. Mittlerweile finden sich viele dieser Männer und Frauen auf der Beschuldigten- und ZeugInnenliste des Generalbundesanwalts wieder. Zudem fanden die Ermittler zwei umfangreiche Ordner mit Briefen, die das Trio an befreundete Neonazis im Knast geschrieben hatte – und zu denen auch nach dem Untertauchen Kontakt bestand. Anstatt die Neonazis auf der Adressliste einzeln als ZeugInnen vorzuladen und zu vernehmen, ließen die Ermittler beides – Adressliste und Briefe – bis zur Selbstenttarnung des NSU knapp vierzehn Jahre kaum bearbeitet in den Asservatenkisten liegen. Ob für diesen massiven Fehler ein BKA-Verbindungsbeamter, der die Adressliste auswerten sollte, oder die LKA-Ermittlergruppe aus Thüringen die zentrale Verantwortung hatten, konnte der Untersuchungsausschuss im Bundestag letztendlich nicht klären. Auch in den folgenden Monaten im Frühjahr 1998 setzte sich die Fehlerkette nahtlos fort: Inzwischen gilt als gesichert, dass das NSU-Kerntrio auf der Flucht vor der Polizei als erstes bei Thomas S. in Chemnitz vor der Tür stand, dessen Korrespondenz mit dem NSU-Kerntrio die Ermittler gerade nach den Durchsuchungen in Jena ungelesen in Plastiktüten verstaut hatten. Thomas S., langjähriger Neonaziaktivist und Blood&Honour-Kader aus Chemnitz, dessen Bekanntschaft mit dem NSU-Kerntrio seit den frühen 1990er Jahren auch aktenkundig war, vermittelte die ersten Unterkünfte bei ›Kameraden‹ in Chemnitz. In dieser Zeit – also im Frühjahr 1998 – hielt das NSU-Kerntrio über Anrufe aus Telefonzellen in Chemnitz, und einmal auch aus der Schweiz, Kontakt mit seinen engen Freunden und Unterstützern aus Jena. Zumindest vier dieser Telefonanrufe wurden u.a. vom LKA Thüringen mitgehört und aufgezeichnet. Doch dass es Uwe Mundlos war, der die Telefonanrufe selbst tätigte und der sich ganz offensichtlich in Chemnitz bzw. im April 1998 auch in der Schweiz an einem Ort befand, an dem gerade ein internationales Neonazi-Konzert stattfand,7 fand das LKA damals nicht heraus – weil es keinerlei Anstrengungen unternahm, die Mitschnitte der Telefonanrufe entsprechend identifizieren zu lassen. Eine engagierte, effektive Fahndung nach drei bewaffneten Neonazis, bei denen gerade 1,4 Kilogramm TNT-Sprengstoff gefunden 7 | Vgl. u.a. 68. Sitzung des 2. Parlamentarischen Untersuchungsausschuss vom 25.4.2013.

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worden war – genug, um einen ganzes Wohnhaus zu verwüsten – stellen sich nicht nur regelmäßige Tatort-ZuschauerInnen anders vor.

D AS V-L EUTE -S YSTEM Inzwischen lässt sich zumindest für den Zeitraum, den die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse im Bundestag sowie den Landtagen von Thüringen, Sachsen und Bayern untersuchen, also von 1992 bis 2011, zweifelsfrei sagen, dass es wohl kaum eine neonazistische Gruppe, Kameradschaft, Organisation oder Partei in Deutschland gegeben hat, in der nicht gleich mehrere V-Leute diversen Geheimdiensten oder auch Landeskriminalämtern Bericht erstatteten. Diejenigen KritikerInnen, die das System der V-Leute schon lange als staatliche Alimentierung neonazistischer Strukturen bezeichnen, können sich bestätigt sehen. Schon im März 2012 hatte das Gutachten der sogenannten Schäfer-Kommission zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des ›Zwickauer Trios‹ eine erste harsche Bilanz über das Versagen von Verfassungsschutz und Polizei in Thüringen für die Jahre 1996 bis 2003 erstellt – jener Zeit also, in der sich der »Nationalsozialistische Untergrund« konstituiert hat (vgl. Schäfer et al. 2012). Darin wird deutlich, dass in den Jahren 1999 bis 2001 mehreren Inlandsgeheimdiensten in Thüringen, Sachsen und Brandenburg sowie dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) Hinweise auf Waffenbeschaffungen, einen ersten Überfall und einen geplanten zweiten Überfall des untergetauchten Trios vorlagen, für die mindestens zehn Jahre Haft drohen würden – ohne dass diese Informationen jedoch zu angemessenen Maßnahmen geführt hätten. Hinzu kam wohl in mehr als nur einem Fall eine auffällige Distanzlosigkeit und wechselseitige Abhängigkeit von V-Mann-Führern und Informanten sowie ein erschreckendes Ausmaß an Inkompetenz bei der Bewertung der gesammelten Informationen.

D IE OFFENEN V-M ANN -F R AGEN : E RFOLG DER G EHEIMDIENSTE Trotz intensiver Beschäftigung des Bundestags-Untersuchungsausschusses mit den zahllosen V-Leuten im NSU-Komplex ist noch immer unklar, wie eng das Netz staatlicher Informanten um den NSU und dessen aus Dutzenden Frauen und Männern der neonazistischen Szene in Ost- und Westdeutschland bestehenden Unterstützernetzwerks tatsächlich war. Ob darüber jemals Klarheit erzielt werden wird, ist derzeit völlig ungewiss. JournalistInnen, die sich intensiv mit dem NSU beschäftigt haben, kommen zu dem Ergebnis, dass sich unter den mehr als einhundert Männern und

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Frauen rund zwei Dutzend V-Leute des Bundesamtes für Verfassungsschutz und diverser Landesämter befinden – und mit Thomas S. auch ein V-Mann des LKA Berlin (vgl. Förster 2013). Man könnte auch sagen, der Kern des NSU und seine engen UnterstützerInnen waren quasi umstellt von einem Ring aus V-Leuten. Doch entweder wurden die wenigen Hinweise, die Letztere auf Aufenthaltsorte oder Aktivitäten des untergetauchten NSU-Kerntrios gaben, nicht zeitnah oder gar nicht an die ermittelnden Polizeibeamten weitergegeben – mit der Standardrechtfertigung, ›Quellenschutz vor Strafverfolgung‹. Oder aber die V-Leute belogen ihre V-Mann-Führer ganz aktiv. Dass es dem Bundestags-Untersuchungsausschuss nicht gelungen ist, wirklich befriedigende Antworten auf die zahllosen offenen V-Mann-Fragen zu finden, muss als Erfolg der Geheimdienste und der politisch Verantwortlichen in den jeweiligen Innenministerien gewertet werden, für die der sogenannte Quellenschutz noch immer Vorrang vor Strafverfolgung und demokratischer Kontrolle hat.

A K TION K ONFE T TI Auch Vertuschungs- und Vernichtungsaktionen wurden im Laufe des Bundestags-Untersuchungsausschusses ans Tageslicht gebracht – wie bspw. die versuchte Vernichtung von sieben, mittlerweile teilweise wieder rekonstruierten Akten am 11. November 2011 im Bundesamt für Verfassungsschutz, die Angaben über V-Leute bei der sogenannten Operation Rennsteig zur Gewinnung von ›Quellen‹ in der thüringischen Neonaziszene enthielten. Dies ist jedoch offenbar nicht die einzige Vertuschungsaktion. So ist mittlerweile bekannt, dass im Bundesamt für Verfassungsschutz bis Ende April 2012 noch weitere Akten von und über Neonazis gelöscht und vernichtet wurden, die u.a. Bezüge zum NSU-Spektrum aufweisen (Gebauer 2012). Im Juli 2012 tauchten dann in Sachsen knapp 100 Seiten mit Abhörprotokollen u.a. eines Neonazis auf, der zeitweise im Verdacht stand, dem NSU möglicherweise Waffen beschafft zu haben (Kohl/Schulz 2012). Und im Oktober 2012 wurde bekannt, dass auch beim Berliner Verfassungsschutz Akten geschreddert worden waren. Die Frage, wie und warum es zu den Aktenvernichtungen kam und wer dafür letztendlich die Verantwortung trägt, hat den Bundestags-Untersuchungsausschuss intensiv beschäftigt. Jeglichen Versuchen, sich bei den oben genannten Aktenvernichtungen auf »datenschutzrechtliche Löschungsverpflichtungen« des Amtes zurückzuziehen, hat der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar in seiner Stellungnahme vom 16. Juli 2012 eine klare Absage erteilt. Schaar verwies darauf, »dass es keine gesetzlichen Löschungsund Prüffristen für Papierakten« gebe. Paragraph 13 des Bundesverfassungsschutzgesetzes sehe »für personenbezogene Daten in Papierakten lediglich

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eine Sperrung, nicht aber eine Vernichtung oder Löschung vor« (Focus Online 2012). Zwar ist nach Protesten der ParlamentarierInnen seit Mitte Juli sowohl in Thüringen als auch in Sachsen und auch beim MAD zugesichert worden, keine Akten in Bezug auf Rechtsextremismus mehr zu löschen. Doch die entscheidende Frage, wer von den Vertuschungsversuchen profitieren sollte und wem sie genützt haben, bleibt weiter offen.

U NBEK ANNTE U NTERSTÜT ZER I NNEN VOR O RT Zu den offenen Fragen des Bundestags-Untersuchungsausschusses gehören auch die Umstände, die zur Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter (28) am 27. April 2007 in Heilbronn geführt haben, wo die Ermittler monatelang die Tatwaffe – ohne je konkrete Anhaltspunkte gehabt zu haben – in der Romaoder Sinti Community vermuteten und diese entsprechend ausforschten und stigmatisierten. Auch bei den Versuchen, die potenziellen UnterstützerInnen des NSU an den jeweiligen Tatorten in Nürnberg, München, Rostock, Hamburg, Dortmund, Kassel und Heilbronn ausfindig zu machen, scheiterte der Bundestags-Untersuchungsausschuss. Die Vermutung, dass der NSU an den Tatorten HelferInnen gehabt habe, teilte nicht zuletzt Bayerns ehemaliger Innenminister Günther Beckstein. Er hatte im September 2012 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung gesagt, er glaube, dass es in Nürnberg Helfer gegeben haben müsse. »Die Tatorte entdeckt man nicht so leicht. Ich glaube auch nicht, dass die Opfer nach dem Zufallsprinzip erschossen worden sind. Es muss jemanden geben, der dem Zufall nachgeholfen hat«, sagte Beckstein (Schultz/Szymanski 2012). Es bleibt abzuwarten, ob das Verfahren vor dem OLG München hier mehr Antworten bringen wird.

U NGE WISSE K ONSEQUENZEN So ungewiss der Ausgang der strafrechtlichen Aufarbeitung der NSU-Mord-, Anschlags- und Raubserien derzeit noch ist, so bitter sind die praktischen Konsequenzen aus den Enthüllungen der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse. Die Forderung aus Regierungskreisen, aber auch der SPD, nach einer Zentralisierung der Geheimdienste – mit »mehr Transparenz« – sowie nach erweiterten Kompetenzen für das BKA bedeutet: Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat in 2013 mehr Geld, mehr Personalstellen und mehr Kompetenzen erhalten als vor dem Bekanntwerden des NSU-Komplexes. Dazu passt die Haltung einer Reihe von Zeugen aus dem Mittelbau der Geheimdienste vor dem Bundestags-Untersuchungsausschuss, die stur darauf beharrten, dass die eigene Arbeit erfolgreich gewesen sei.

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Angesichts der vielen offenen Fragen, der tief greifenden Verunsicherungen in den migrantischen Communities, der in 2012 erneut gestiegenen Anzahl von rechten und rassistischen Gewalttaten und der nach wie vor vorherrschenden Täter-Opfer-Umkehr bei rechten und rassistischen Gewalttaten sowie der anhaltenden Verleugnung rechter und rassistischer Gewalt vor allem in den West-Bundesländern kann das Resümee des Bundestags-Untersuchungsausschusses nur verhalten ausfallen. Das Versprechen einer umfassenden und schonungslosen Aufklärung, das Bundeskanzlerin Angela Merkel den Angehörigen der NSU-Mordopfer und den Verletzten der Bombenanschläge von Köln anlässlich des Staatsaktes im Februar 2012 gegeben hatte, ist jedenfalls erst teilweise eingelöst.

L ITER ATUR Deutsche Presseagentur (2012): »Vernichtung von Akten: Schaar kritisiert Bundesamt für Verfassungsschutz«, in Focus Online vom 19.7.2012, www. focus.de/politik/deutschland/vernichtung-von-NSU-akten-schaar-kriti siert-bundesamt-fuer-verfassungsschutz_aid_782472.html, zuletzt aufgerufen am 19.6.2012. Förster, Andreas (2012): »Im Ku-Klux-Klan waren noch mehr Polizisten«, in: Frankfurter Rundschau vom 12.10.2012, www.fr-online.de/neonazi-terror/ NSU-v-mann-im-ku-klux-klan-waren-noch-mehr-polizisten,1477338,2058 2180.html, zuletzt aufgerufen am 14.4.2012. Förster, Andreas (2013): »Mindestens 24 Spitzel im NSU-Umfeld«, in: Berliner Zeitung vom 3.4.2013, www.berliner-zeitung.de/neonazi-terror/NSUterror-mindestens-24-spitzel-im-NSU-umfeld,11151296,22262670.html, zuletzt aufgerufen am 14.4.2013. Fritzsche, Lara (2013): »In Trauer verbunden«, Interview mit Semiya Simsek und Gamze Kubasik im SZ-Magazin vom 8.3.2013, http://sz-magazin.sued deutsche.de/texte/anzeigen/39655, zuletzt aufgerufen am 14.4.2013. Gebauer, Matthias (2012): »Innenministerium ordnete Vernichtung weiterer Akten an«, in: Spiegel Online vom 19.7.2012, www.spiegel.de/politik/deutsch land/NSU-innenministerium-liess-akten-beim-verfassungsschutz-schred dern-a-845222.html, zuletzt aufgerufen am 15.4.2013. Kohl, Christiane/Schulz, Tanjev (2012): »SMS-Nachrichten im Büroschrank«, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.6.2012. Korth, Wolfgang (2006): »Der Fall Bosporus«, in: Berliner Zeitung vom 15.7.2006, www.berliner-zeitung.de/newsticker/neun-maenner-werden-mitderselben-waffe-erschossen--seit-jahren-sucht-die-polizei-den-taeter---undfindet-einen-verdaechtigen-verfassungsschuetzer-der-fall-bosporus, 109170 74,10403504.html, zuletzt aufgerufen am 18.4.2013.

NSU: Rassismus, Staatsversagen und die schwierige Suche nach der Wahrheit

Medick, Veit (2012): »Zwickauer Trio arbeitete nicht für den Verfassungsschutz«, in: Spiegel Online vom 4.7.2007, www.spiegel.de/politik/deutschland/NSUzwickauer-terrorzelle-arbeitete-nicht-fuer-verfassungsschutz-a-842645.html, zuletzt aufgerufen am 14.4.2013. Schäfer, Gerhard/Wache, Volkhard/Meiborg, Gerhard (2012): »Gutachten zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des ›Zwickauer Trios‹«, einsehbar unter www.NSU-watch.info, zuletzt aufgerufen am 19.6.2013. Schultz, Tanjev/Szymanski, Mike: »Beckstein vermutet weitere Helfer bei NSUMorden«, in: Süddeutsche Zeitung vom 8.9.2012.

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»Das oberste Anliegen der Angehörigen ist Aufklärung.« Ein Interview mit Rechtsanwältin Angelika Lex Imke Schmincke

Angelika Lex ist Rechtsanwältin, hauptsächlich tätig im Bereich Strafrecht, Asyl- und Ausländerrecht, Versammlungs-, Polizei- und Verfassungsschutzrecht in München. Zusammen mit Rechtsanwalt Yavuz Nazin vertritt sie im derzeitigen NSU-Prozess die Nebenklägerin Yvonne Boulgarides, Ehefrau des vom NSU ermordeten Theodorus Boulgarides. Das Interview mit Angelika Lex führten Jasmin Siri und Imke Schmincke am 12. März 2013 in deren Kanzlei. Imke Schmincke: Sie vertreten die Ehefrau des griechischen Münchner Opfers. Vielleicht können Sie noch mal deren Geschichte erzählen? Angelika Lex: Theodoros Boulgarides ist im Westend ermordet worden, einem typischen Münchner Viertel mit hohem Migrantenanteil. In dem Schlüsseldienst, den Herr Boulgarides dort erst ganz kurze Zeit betrieben hatte, ist er regelrecht hingerichtet worden. Es wurden mehrere Schüsse aus unmittelbarer Nähe auf ihn abgegeben und er war sofort tot. Die Familie wurde dann über einen Anruf von Verwandten verständigt. Die Polizei war zunächst zur Mutter des Ermordeten gefahren und hatte dieser aufgetragen, die Familie zu benachrichtigen. Die damals 14-jährige Tochter hat über einen Telefonanruf erfahren, dass ihr Vater erschossen worden ist, was natürlich sehr traumatisierend war. Die Polizei ist von Anfang an nicht sensibel mit der Situation umgegangen. So wurden in den Tagen danach die Familienangehörigen vernommen, die minderjährigen Kinder eingeschlossen, ohne besondere Rücksicht darauf, dass diese gerade ein Familienmitglied verloren hatten. Die Polizei hat zwar sehr akribisch ihre Ermittlungsarbeit durchgeführt, allerdings dabei ausschließlich in eine bestimmte Richtung ermittelt: Organisierte Kriminalität, Prostitution, Rotlicht, Spiel, Waffen. In den ganzen Ermittlungsakten wird nicht ein ein-

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ziges Mal das Thema Rechtsextremismus erwähnt. Auch bei den vielen Zeugenbefragungen ist nie gefragt worden, ob es vielleicht irgendwelche fremdenfeindlichen Übergriffe oder Anhaltspunkte in dieser Richtung gegeben habe. Und das ist eigentlich der Skandal, dass der Punkt Fremdenfeindlichkeit in den Ermittlungsakten schlicht nicht vorkommt. Dieser Fehler war von Anfang an angelegt und zieht sich durch die gesamten Ermittlungen und das bei allen anderen Mordfällen des NSU. Imke Schmincke: Auf welchem Konstrukt basiert diese Ermittlung in genau eine Richtung, nämlich die Organisierte Kriminalität? Angelika Lex: Es war ja sehr schnell von ›Döner-Morden‹ die Rede und die Polizei assoziierte offensichtlich die Mordopfer türkischer Staatsangehörigkeit oder türkischer Herkunft sofort mit organisierter Kriminalität. Auch wenn in andere Richtungen wie private Rachefeldzüge ermittelt wurde, auch wenn Zeugen durch die Bank ausgesagt haben, dass das Opfer nie mit einem kriminellen Milieu in Berührung gekommen war, zog sich die Fokussierung auf organisierte Kriminalität wie ein roter Faden durch die ganzen Ermittlungsakten. Und den Hinweis eines Münchner Profilers auf ein fremdenfeindliches, rassistisches Motiv hatte man auch sehr schnell wieder verworfen. Imke Schmincke: Wieso hat sich diese Ausrichtung so hartnäckig gehalten? Angelika Lex: Das hat viel mit den Strukturen der Polizei zu tun. Es wird kontinuierlich geleugnet, dass es organisierte rechte Gewalt gibt und rechtsterroristische Übergriffe werden immer als Taten einzelner umgedeutet. Diese Linie wird seit Jahrzehnten insbesondere in Bayern politisch vertreten. So bspw. beim Oktoberfestattentat 1980. Da hat man den Attentäter Gundolf Köhler als Einzeltäter eingestuft und sein rechtes Umfeld wie die Wehrsportgruppe Hoffmann nie ernsthaft in die Ermittlungen mit einbezogen.1 Auch die Verfassungsschutzberichte behaupten, dass keine organisierte rechte Gewalt, keine rechten militanten Strukturen existieren würden, obwohl es immer wieder Berichte über unglaubliche Waffen- und Sprengstofffunde gibt. 1 | Am 26.9.1980 explodierte auf dem Oktoberfest eine Bombe. Dabei starben 13 Menschen und 211 wurden z.T. sehr schwer verletzt. Bei diesem Anschlag kam auch der mutmaßliche Attentäter Gundolf Köhler ums Leben. Es handelt sich um den größten Terroranschlag in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Ermittlungen von Polizei und Bundesanwaltschaft gehen bis heute trotz vieler gegenteiliger Indizien (z.B. Mitgliedschaft Köhlers in einer rechtsextremen Vereinigung, Augenzeugenberichte von weiteren Verdächtigen am Tatort) von der Einzeltäter-These aus, vgl. ausführlicher dazu Chaussy, Ulrich (1985): Oktoberfest. Ein Attentat. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand.

Ein Inter view mit Rechtsanwältin Angelika Lex

Imke Schmincke: Kann man sagen, dass sich das fortsetzt in der Art und Weise, wie über die sogenannte ›Terrorzelle‹ berichtet wird, denn da steht ja immer das sogenannte ›Trio‹ im Fokus? Angelika Lex: Es gibt ja eine ganze Reihe von Ermittlungsverfahren, die derzeit auch noch laufen. Von daher beschränkt sich der Fall nicht auf die fünf Angeklagten dieses Verfahrens. Die Konstruktion der Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass drei Personen unmittelbar Mitglieder des NSU waren und deren Unterstützerszene 40 bis 100 Personen umfasst. Würden die alle gemeinsam angeklagt werden, würde man dieses eine Verfahren, das ja schon jetzt extrem umfangreich ist, einfach überfrachten. Aber ich denke schon, dass insgesamt noch sehr viel weitgehender ermittelt werden muss. In den Akten gibt es bisher keine Beweise für die Unterstützung durch lokale Strukturen, aber ich meine, dass es vollkommen lebensfremd wäre, die tatsächlich vorhandenen rechten Strukturen, die ja hier in Bayern (z.B. München und Nürnberg-Fürth) ganz stark organisiert sind, losgelöst von diesen Taten zu sehen. Denn es gibt ja auch in den Akten und in der Anklageschrift bisher noch keine Erklärung dafür, warum genau die Opfer zu Opfer geworden sind. Darum geht es also auch bei diesem Prozess: Die ganze Vorgeschichte aufzuarbeiten, zu beleuchten, wie die Auswahl der Opfer und der Tatorte zustande kam. Das Aufzuklären ist eine der großen Aufgaben dieses Verfahrens. Den Zusammenhang zwischen NSU und lokalen Unterstützerstrukturen herzustellen und auch nachzuweisen. Imke Schmincke: Um noch einmal auf die Angehörigen der Opfer zurückzukommen: Was empfanden diese angesichts der so einseitigen Ermittlungsarbeit? Angelika Lex: Es gab bei etlichen Angehörigen durchaus die Idee, dass es ein fremdenfeindlicher Angriff war. Die haben sich nicht vorstellen können, dass ihr Mann, Sohn oder Vater in kriminelle Machenschaften verwickelt worden sein sollte. Außerdem waren sie von dieser Verdächtigung selbst betroffen, es gab Observationsmaßnahmen, Telefonüberwachungsmaßnahmen u.a. bei Angehörigen. Die Opfer und mit ihnen deren Angehörige haben bis jetzt eigentlich das Problem, dass sie nicht als Opfer anerkannt, sondern dass sie als Teil einer Täterstruktur wahrgenommen werden, dass man ihnen die Opferrolle verwehrt hat. Häufig gibt es bei Mordfällen wie diesen Akte der Solidarität, da wird ein Teddybär an die Haustür geheftet, ein Blumenstrauß abgelegt, es gibt Lichterketten usw. Ich denke, dass diese Beleidsbekundungen doch einen gewissen Trost bieten. Man erfährt als Opfer Anteilnahme, Unterstützung und Rücksichtnahme. Das alles haben die Angehörigen der Opfer des NSU überhaupt

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nicht erleben können, im Gegenteil, sie sind kriminalisiert und ausgegrenzt, sie sind mit Vorwürfen und Unterstellungen konfrontiert worden. Ein Familienmitglied wird auf grausame Weise ermordet und statt Anteilnahme wird der Ermordete verdächtigt und kriminalisiert. Das war für die Angehörigen sehr belastend, zumal dieses Vorgehen ja auch Folgen im sozialen Umfeld gehabt hat. Es haben sich Freunde und Verwandte distanziert, weil ja der Vorwurf der Kriminalität der Opfer im Raume stand. Die Angehörigen waren ganz allein mit ihrer Trauer und Fassungslosigkeit und dem Makel, den die Ermittlungsarbeit und die mediale Berichterstattung hinterließen. Dieser Umgang setzt sich insofern fort, als es zwar die Entschuldigung von Angela Merkel und den Empfang bei Joachim Gauck gab, aber von den für diese fatale Ermittlungsarbeit direkt Verantwortlichen bei Polizei und Verfassungsschutz hat sich noch niemand entschuldigt. Da werden nach wie vor die Verantwortlichkeiten hin- und hergeschoben, von einer Behörde zur anderen, aber niemand übernimmt tatsächlich die Verantwortung für die konkreten Handlungen. Während die politische Verantwortung ganz oben übernommen wird, erlebt man bei den konkreten Verursachern dieser Fehler nur Stillschweigen und Vertuschung. Da werden dann auch gleich noch mal ein paar Akten geschreddert. Imke Schmincke: Das Aufdecken der Täter durch das Auffliegen des NSU im November 2011 hat ja für die Angehörigen der Opfer unterschiedliche Folgen. Einerseits gibt es sicher das Gefühl von Entlastung, endlich eine soziale Anerkennung des Verlustes und eine Rehabilitierung der Opfer. Andererseits gibt es aber auch zunehmende Verunsicherung, weil sich durch die Taten manifestiert, dass es reicht, erkennbar über Namen oder Aussehen nichtdeutscher Herkunft zu sein, um willkürlich Opfer eines Mordanschlags zu werden. Angelika Lex: Seit Bekanntwerden des NSU gibt es bei den Angehörigen natürlich noch mehr Verunsicherung und auch Angst, weshalb viele der Nebenkläger nicht zum Prozess kommen werden. Sie haben Angst vor der Begegnung mit den Tätern. Außerdem kann es zu Begegnungen mit rechten Unterstützern im Umfeld des Gerichtssaals kommen. Diese Ängste sind solange vorhanden, solange nicht geklärt ist, wie die Opfer ausgewählt worden sind, was denn den Anlass gegeben hat und mit wessen Unterstützung Tatorte und Opfer ausgewählt wurden. Imke Schmincke: Was erhoffen oder versprechen sich die Angehörigen von dem Prozess?

Ein Inter view mit Rechtsanwältin Angelika Lex

Angelika Lex: Also das oberste Anliegen der Angehörigen ist nicht, eine möglichst hohe Strafe zu erreichen, sondern Aufklärung. Sie wollen wissen, warum hat es meinen Mann, meinen Sohn, meinen Vater getroffen, warum hier, in dieser Stadt, in dieser Straße. Sie wünschen sich eine restlose Aufklärung, um einfach diese Ungewissheit und diese Angst ein bisschen in den Griff zu bekommen. Nicht verstehen und nicht entschuldigen, aber einfach nachvollziehen können, wie kam’s überhaupt zu diesem Mord. Imke Schmincke: Der Umgang mit der plötzlichen medialen Aufmerksamkeit ist bei den Angehörigen sehr unterschiedlich: Einige meiden die Presse, andere treten etwas offensiver auf, durch Interviews oder Publikationen. Angelika Lex: Das hängt sicher sehr von dem persönlichen Hintergrund ab, wie jemand mit Verletzung, mit Trauer, mit Wut umgeht, um so einen Verlust und das Vorgehen der Behörden zu verarbeiten. Da ist es genauso nachvollziehbar, dass jemand damit an die Öffentlichkeit geht. Die Öffentlichkeit war ja auch heftig beteiligt an der Einordnung dieser rassistischen Morde als ›Döner-Morde‹, als Mord an Personen, die in irgendeiner Weise in kriminelle Machenschaften verwickelt sind. Und das jetzt auch medial richtig zu stellen, kann eine adäquate Bewältigungsstrategie darstellen. Aber die meisten haben eher Angst vor der Presse, denn sie haben aus nachvollziehbaren Gründen kein Vertrauen in eine objektive Berichterstattung. Meine Mandantin lehnt Interviews auch deshalb ab, weil diese eine Retraumatisierung bedeuten, wenn das Erlebte immer wieder vor Augen gehalten wird. Ich glaube, dass sehr viele einfach da ganz bewusst Abstand zur Presse halten, weil die Belastung sonst noch größer wird. Für einige mag es eine Entlastung sein, diesen emotionalen Stau auch mal rauszulassen und in der Öffentlichkeit anzuklagen, aber die meisten wollen nicht mit der Presse konfrontiert werden. Jasmin Siri: Wie sieht die Situation während des Prozesses aus? Wird es denn für die Nebenkläger und Nebenklägerinnen einen Schutzraum im Gericht geben? Angelika Lex: Das Münchner Gericht ist in dieser Richtung sehr kooperativ. Zum Schutz der Nebenkläger wird es einen separaten Eingang sowie einen eigenen Aufenthaltsraum für diese geben. Was den Zugang von Zuhörern angeht, darf das Gericht nicht reglementierend eingreifen, denn sonst besteht die Gefahr eines Revisionsgrundes. Hier ist es so, dass nach der Prozessordnung die Öffentlichkeit zugelassen werden muss. Auch wenn es im Sitzungssaal sicher keiner Übergriffe geben wird, wird natürlich der Anblick von irgendwelchen schwarz gewandeten Glatzen für die Angehörigen unerträglich sein.

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Imke Schmincke: Das Gericht ist ja bereits im Vorfeld verschiedentlich kritisiert worden, u.a. über die Vergabepraxis von Plätzen an MedienvertreterInnen. Ist der Umgang des Gerichts mit der Kritik als provinziell zu bezeichnen oder wird dort die Bedeutung des Prozesses einfach nicht angemessen eingeschätzt? Angelika Lex: Der Saal ist sicher ein sehr großes Defizit. Aber an dieser Stelle muss ich auch für Verständnis werben, weil man in München insgesamt sehr wenig Zeit hatte, sich auf dieses Verfahren vorzubereiten. An einen Saal werden erhebliche Anforderungen die Sicherheit betreffen gestellt und da kommen einfach nur sehr wenige Räumlichkeiten in Frage. Auch wenn die Situation jetzt für die Öffentlichkeit sehr unbefriedigend ist, so ist doch das vordringliche Interesse des Senats, das Verfahren revisionssicher über die Bühne zu bringen. Imke Schmincke: Ein weiteres Thema im Zusammenhang mit den NSU-Morden ist die Rolle der Verfassungsschutzämter. Gibt es in den Akten Erklärungen dafür, warum Verfassungsschutzämter und Polizei so schlecht miteinander kooperiert haben? Waren das ›Pannen‹ oder aktive Vertuschungen? Angelika Lex: Es gibt da unglaubliche Defizite, die auf vielfältige Gründe zurückzuführen sind. Einerseits geht es dabei um Herrschaftswissen, das nicht weitergegeben werden soll. Andererseits ist ein Grund, dass viel an der Grenze zur Legalität und auch darüber hinaus gearbeitet worden ist und diese Tatsache nicht transparent gemacht werden soll. Aber meiner Ansicht nach ist das Hauptproblem, dass es beim Verfassungsschutz, in den Landesämtern und auch im Bundesamt überhaupt kein ausreichendes Bewusstsein für die ganze Entwicklung im rechten Bereich gibt. Wenn man sich die ganzen Verfassungsschutzberichte ansieht, wenn man sich in den Untersuchungsausschüssen die Leiter der Verfassungsschutzämter oder insbesondere die Leiter der Abteilung Rechtsextremismus anhört, dann nimmt man einfach eine gebündelte Inkompetenz wahr. Da werden Informationen nicht richtig bewertet oder gar nicht erst weitergegeben. ›Pannen‹ kann man das eigentlich nicht mehr nennen. Das ist einfach strukturelle Inkompetenz und diese zieht sich wie ein roter Faden durch alles, was der Verfassungsschutz über die ganzen Jahrzehnte betrieben hat. Deshalb ist ja auch die durchgängige Forderung von Leuten, die sich mit dem Thema beschäftigt haben, die Abschaffung des Verfassungsschutzes. Das ist eine Organisation, die nicht reformierbar ist. Imke Schmincke: Manche Leute argumentieren ja für eine Demokratisierung der Verfassungsschutzämter. Könnte eine Chance durch dieses ganze Verfahren auch sein, dass sich die Verfassungsschutzorgane in diese Richtung verändern?

Ein Inter view mit Rechtsanwältin Angelika Lex

Angelika Lex: Ich sehe da überhaupt keine Chance. Es liegt meines Erachtens schon in der Natur des Verfassungsschutzes, der ja als Geheimdienst organisiert und auch tätig ist. Eine Organisation, die im Geheimen wirkt und arbeitet, kann man nicht ernsthaft demokratisch kontrollieren. Dieses Gremium ist nicht überwachbar. Die bisherigen Änderungen gehen in die falsche Richtung, weil durch die jetzige Zentralisierung ausgerechnet der Verfassungsschutz einen Machtzuwachs erhält und damit ein Gremium, das durch die Bank gnadenloses Versagen produziert hat. Anders als in anderen Behörden oder Unternehmen findet hier keine Evaluation statt, um die Legitimation des Gremiums sicher zu stellen. Und deshalb ist meines Erachtens nur die Forderung der vollständigen Auflösung gerechtfertigt. Diese Forderung ergibt sich gerade auch in Hinblick auf den NSU, denn hier haben ja auch aus Steuermittel honorierte Spitzel einen Beitrag zum Auf bau von rechten Organisationen und Strukturen geleistet. Und der ganze Personalaufwand hat überhaupt nichts gebracht, denn über Jahrzehnte wurden die Entwicklungen im rechten Bereich überhaupt nicht richtig eingeschätzt. Die Recherchen von Antifagruppen haben sehr viel mehr Informationen auf ehrenamtlicher Basis gesammelt, als der Verfassungsschutz mit seinen hier in Bayern über 400 Vollzeit-Mitarbeitern. Jasmin Siri: In diesem Zusammenhang ist ja auch erwähnenswert, dass gerade mit Blick auf sogenannte ›Linksextreme‹ sehr viel Aufwand betrieben wird, um antifaschistisches Engagement zu kriminalisieren. Ich erinnere nur an die skandalösen Gerichtsurteile in Dresden und den Prozess gegen Pfarrer Lothar König aus Jena.2 Welche Folgen haben diese Urteile für zivilgesellschaftliches Engagement? Angelika Lex: Die Folge ist natürlich eine Kriminalisierung und Einschüchterung dieses Engagements. In Bayern konnte man das an dem Umgang mit a.i.d.a. deutlich sehen.3 Die verdienstvolle Arbeit dieser Organisation wurde durch die Aufnahme in den Verfassungsschutzberichten seit 2008 massiv kriminalisiert und behindert. Ich habe über Jahre einen Rechtsstreit deswegen geführt und diesen mit einem sehr positiven Ergebnis abgeschlossen. Es wurde vereinbart, dass a.i.d.a. aus allen vergangengen Verfassungsschutzberichten gestrichen und auch in künftige Berichte nicht mehr aufgenommen wird, solange es – wie bisher – diese wichtige und wertvolle Arbeit leistet, und auch die Gemeinnützigkeit ist rückwirkend wieder anerkannt worden. Für a.i.d.a. hatte das 2 | Vgl. auch den Beitrag von Neubert in diesem Band. 3 | Das Kürzel a.i.d.a. steht für antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München e.V. Es handelt sich dabei um einen Verein, der Aktivitäten von Neonazis dokumentiert und Informationen bereitstellt, vgl. http://aida-archiv.de/, zuletzt aufgerufen am 23.5.2013.

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alles auch einen positiven Effekt, weil der Bekanntheitsgrad stieg und der Verein viel Unterstützung erhielt. Aber im Grunde können sich nur wenige Organisationen einen zeitlich und finanziell so aufwendigen Rechtsstreit leisten und gegen die Aufnahme in die Verfassungsschutzberichte Klage einreichen. Diese Verfassungsschutzberichte sind einfach der Freibrief für Kriminalisierung und Einschüchterung von Gruppierungen, die absolut sinnvolle und notwendige Arbeit leisten, die der Staat, der eigentlich diese Aufgabe hätte, nicht erfüllt. Wir haben uns jahrelang gefragt, warum der Staat bzw. die Innenministerien von Bund und Ländern einen solchen Aufwand betreiben, um so wichtige Organisationen zu kriminalisieren. Eine Erklärung dafür ist, dass es dem Staat darum geht, die Deutungshoheit darüber zu behalten, was als rechtsextrem zu klassifizieren ist. So kann der Freistaat Bayern dann fröhlich verkünden, in Bayern sei die Welt noch in Ordnung. Oder mit Franz Josef Strauß: »Rechts neben mir ist nur die Wand und sonst nichts.« Imke Schmincke: Zum Abschluss würden wir Sie gerne nach Ihrer persönlichen Einschätzung des kommenden Prozesses fragen: Was erhoffen Sie sich von dem Prozess? Angelika Lex: Dieses Verfahren wird eines der umfangreichsten sein, die in Deutschland jemals geführt worden sind; allein von der Menge des Aktenmaterials kaum zu bewältigen. Was ich mir von dem Verfahren wünsche, ist natürlich eine umfassende Aufklärung des Sachverhalts und der Hintergründe und damit der Frage, wie es zu der Auswahl der Tatorte und der Opfer kam. Und in diesem Zusammenhang ebenso wichtig ist die Aufdeckung von lokalen Unterstützernetzwerken. Das ist meines Erachtens bisher noch viel zu kurz gekommen. Denn es gibt gerade in München und Nürnberg-Fürth über sehr lange Jahre gewachsene rechte Strukturen, die stark organisiert und sehr aktiv sind. Hier noch mal genau hinzuschauen und genau zu überprüfen und aufzudecken, ob es nicht doch Unterstützungshandlungen gegeben hat, die man auch belegen kann, das wird sicherlich ein großes Anliegen sein in diesem Verfahren. Und für die Opfer wünsche ich mir, dass sie durch das Verfahren ihr Schicksal besser bewältigen können, dass sie einen Abschluss finden können mit einer Geschichte, in denen ihnen viel Unrecht widerfahren ist. Dass sie die Möglichkeit erhalten, auch mit diesem Staat und mit diesen staatlichen Organen einen gewissen Frieden schließen zu können. Auch denke ich, dass hier eine Chance des Gerichts liegt, einen Rechtsfrieden wieder herzustellen. Und dann wünsche ich mir natürlich, dass eine breite Öffentlichkeit erreicht wird, die über das, was hier in der Gesellschaft passiert ist, auch kritisch reflektiert. Niemand hatte sich damals öffentlich gegen die Rede von den ›DönerMorden‹ gewandt und diese Klassifizierung kritisiert. Es geht darum, dass so

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etwas nicht wieder vorkommen darf und dass zukünftig genauer hingeschaut wird, wenn Polizei, Verfassungsämter und Presse in ähnlicher Weise agieren. Mein Eindruck ist aber, dass in dieser Richtung schon etwas passiert ist. In einer Radiosendung wurde berichtet, dass es für die Nebenkläger zu wenig Übernachtungsmöglichkeiten gibt und diese hierfür auch keine staatliche Unterstützung bekommen. Daraufhin hat es eine unglaubliche Welle der Solidarisierung gegeben, sehr viele Leute haben bei uns angerufen und ihre Wohnungen angeboten sowie Geld für Hotelübernachtungen. Man spürte, dass es das Bedürfnis gab, etwas wieder gutmachen zu wollen für das, was nicht nur durch staatliches Fehlverhalten, sondern auch durch gesellschaftliches Nicht-Verhalten oder einfach Akzeptieren oder Übernehmen von diesem Fehlverhalten passieren konnte. Das fand ich sehr berührend und ich denke, das ist ein gutes Zeichen dafür, dass man hier tatsächlich auch einen Wandel und eine Solidarität bewirken kann. Diesen Nebeneffekt sollte der Prozess zumindest haben.

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Rede anlässlich der antifaschistischen Demonstration zum Auftakt des NSU-Prozesses am 13.4.2013 in München Yvonne Boulgarides

Der 15. Juni 2005 war ein gravierender und schrecklicher Einschnitt in das Leben meiner Kinder und in das meine. Mein Ehemann und Vater unserer beiden Kinder, Theo Boulgarides, wurde Opfer der damals so titulierten »Döner-Morde«. Die daraus resultierenden Konsequenzen und die unsägliche Trauer hier zu beschreiben, würde wohl den Rahmen dieser Veranstaltung sprengen und ist in ihrer Intensität gar nicht wirklichkeitsgetreu darzustellen. Als man die Opfer verdächtigte, in kriminelle Strukturen verwickelt zu sein, erfüllte uns dies mit absoluter Fassungslosigkeit, Zweifeln und Schamgefühlen. Heute, fast acht Jahre später, bleibt jedoch nur noch die Fassungslosigkeit über den Hergang dieser widerwärtigen Verbrechen und die für uns noch immer rätselhaft unzulängliche Auf klärung. Diese Morde und Anschläge sind nicht mehr nur eine Frage von Rechtsextremismus, sondern auch der Rechtsstaatlichkeit. Ich wünschte, alle autorisierten Stellen würden mit Nachdruck dafür sorgen, dass die zur lückenlosen Wahrheitsfindung benötigten Fakten und Beweise zur Verfügung gestellt werden würden. Nur so können die meines Erachtens engagiert arbeitenden Mitglieder der Untersuchungsausschüsse – insbesondere des Bundestages – ihre Arbeit zu einem erfolgreichen Abschluss führen. Wir sind der Meinung, nur so ist es möglich einen Teil des Vertrauens in unser Rechtssystem wieder herzustellen – dies gilt nicht nur für unsere ausländischen, sondern auch deutschen Mitbürger. Um die Frage der Daseinsberechtigung des Verfassungsschutzes zu klären, bedarf es sicher kompetenterer Menschen als mich. Vielleicht mag es ein wenig naiv klingen, aber geht es nicht letztlich auch um die Hinterfragung von Ehre, Ehrlichkeit, Rechtsempfinden und dem Schutz der Verfassung?

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Müsste ich jedoch ein Statement abgeben, dann am liebsten mit einem Zitat von Albert Einstein: »Wichtig ist es, dass man nicht auf hört zu fragen.« In der Hoffnung, dass wir alle irgendwann ehrliche Antworten erhalten, möchte ich mich herzlich bei Ihnen bedanken.

Wie wurde es möglich?

Kontexte

drei bögen: böbrach Uljana Wolf man hört auch: in die fichten gehen, verloren gehn, wegkommen G RIMMSCHES WÖRTERBUCH Die Verteilung … soll die Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland fördern DVA SYL BAYERN § 6 A BS . 5

I »ländlicher landstrich«. also lasten verteilen, schneedecken schichten auf ästen, kleines ächzen. dass auch die fichten nicht brechen ins schweigen. denn regen ist kreisstadt, neigen pflicht. entsprechend: »für die lage können wir nichts«. nur für die grenzen und den hellen schein. der forst ist rein, »it welcomes you«. die worte dazu sind weiß oder weg wie der letzte bus aus dem dorf. nachts rumpelt die stille im frost: der wald sei dem fremden

II »zumutbar«. wie wallpaper, wo nur die augen wandern. wie einer am andern die stämme, sie stammen von hier, reichen dir keine papiere. aber einreißen bald, und steht ein stammeln an der haltestelle. oder nacht, die große zelle, sperrt sich selber auf und zu. drin das hämmern, drin die stirn: »schauen bauen schneien freuen.« diese sprache war mal firn, dann feriendings, die leuchtet jeden heim. und wo soll das sein: »schnurz«. aber bärwurz, bärwurz,

III ein rändlicher anstrich im sinne von land, oder glänzender wandsinn brennt dir im kopf. wer kennt ein gespräch über fichten, wen fichts an wenn, »bei stress fallen die nadeln eher ab«. also abnabeln, schnee adeln, die alte unterkunft: »alles markenware«. kalte päckchen, einander in den mund, solange sie reichen. überm deckchen derweil null empfang. nur der wald treibt sein stöberndes amt, er nimmt dich in weiße abführungszeichen.

Böbrach Flüchtlinge am Ende der Welt Ben Rau

1.600 Menschen leben im niederbayerischen Böbrach, nahe der tschechischen Grenze. Verlässt man das überalterte Dorf, trifft man auf einen kleinen Waldweg, an dessen Ende zwischen den Bäumen ein Flüchtlingslager auftaucht. Verbunden mit der Außenwelt ist es nur über den Feldweg, eine selten frequentierte Busverbindung und ein Handynetz, das zumindest außerhalb des Gebäudes einigermaßen funktioniert. Ohne Privatsphäre, in Mehrbettzimmern mit bis zu sieben Personen, müssen 70 Flüchtlinge verschiedenster Herkunft dort in der Perspektivlosigkeit leben, oftmals über Jahre hinweg. »It’s like we’re in prison. Just trees and animals, we’re at the end of the world«, kommentiert einer der Zwangsbewohner. ›Gemeinschaftsunterkunft‹ lautet der behördliche Begriff für die Einrichtung. ›Dschungelcamp‹ sagen die, die wissen, wovon sie sprechen. Rund 10.700 Flüchtlinge leben derzeit in 140 bayerischen Lagern, teils unter desolaten Bedingungen. »Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren«, stellte das Bundesverfassungsgericht zwar 2012 fest und entschied, dass Sozialleistungen für Flüchtlinge angehoben werden müssen. Trotzdem müssen Asylsuchende, die für mindestens ein Jahr einem Arbeitsverbot unterliegen, in Bayern mit einem Taschengeld von 137 Euro auskommen und von Sachleistungen wie Essenspaketen leben. Sie unterliegen der sogenannten ›Residenzpflicht‹, dürfen also Regierungsbezirk oder Bundesland nicht ohne Erlaubnis verlassen. Behördliche Willkür der Ausländerbehörden ist an der Tagesordnung, schon allein, weil meist kein Zugang zu Deutschkursen besteht. Dazu kommt die Angst vor der Abschiebung: 7.000 wurden 2012 bundesweit durchgeführt, aus Bayern sogar nach Afghanistan. Flankiert von der Hetze aus dem Innen- und Sozialministerium nehmen rassistische Diffamierungen und Angriffe derzeit zu. Solche Umstände machen Menschen psychisch krank, immer wieder kommt es zu Suiziden. Doch es regt sich Widerstand. Mit Hungerstreiks und massiven öffentlichen Protesten kämpfen Asylsuchende gegen die rassistische Flüchtlingspolitik.

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Diese zeigt sich in Böbrach in all ihren Facetten. Wegen eines ungeklärten Brandes am 4.9.2012 wurde das Lager zunächst geschlossen. Jetzt soll es wiedereröffnet und Böbrach so erneut zum Symbol von Isolation und Abschottung werden.

Vor und nach der Stille1 Imran Ayata Nach dem Bekanntwerden der NSU-Morde war schon bald viel von der »Stille im Land« die Rede, auch wenn für eine kurze Zeit die Verbrechen des NSU ein öffentlich viel beachtetes Thema gewesen waren. Doch dann verschwand es mehr oder weniger von der Agenda. Darin etwas Spezifisches zu suchen, ist mühselig. Heute kommen und gehen Themen. Sie werden gemacht, inszeniert und wieder von der Tagesordnung verdrängt. Daran beteiligen sich viele: Politiker, Parteien, Organisationen und andere gesellschaftliche Akteure wie Medien. Auch der Prozess gegen Beate Zschäpe und die Nebenangeklagten wird vermutlich einen ähnlichen Verlauf nehmen. Der Prozessauftakt Anfang Mai 2013 war für die Medienlandschaft in Deutschland ein sehr wichtiges Ereignis. Beate Zschäpe im Gerichtssaal – dieses Motiv begegnete einem auf allen Medienkanälen und schmückte Titelseiten von Tageszeitungen und Magazinen. Schnell ließ die Intensität der Berichterstattung nach. Sie wird wieder einen Höhepunkt erreichen, wenn das Gericht das Urteil verkündet. Themen unterliegen Konjunkturen, meine Auseinandersetzung mit Rassismus bleibt. Das hat nicht nur mit meiner Biographie und Sozialisation zu tun. Noch immer sind der Diskurs um Rassismus und die politische Auseinandersetzung für eine antirassistische Gesellschaft nicht in dem Maße im Mainstream angekommen, wie es notwendig wäre. Es sind mehr oder weniger dieselben Personen, Organisationen und Initiativen, die sich diesen Themen annehmen. Ich habe 2011 die sogenannte »Möllner Rede« anlässlich der Gedenkveranstaltung an den Brandanschlag von 1992 gehalten. Sie war auch eine Intervention im Zuge des NSU und markierte Positionen, die möglicherweise seltener ausgesprochen und gehört werden. Es beschäftigt mich schon länger, woher die »Stille im Land« jenseits kurzfristiger medialer Aufregungen rührt, wie der Umgang mit rassistischer Ausgrenzung und Diskriminierung sich

1 | Überarbeiteter Eröffnungsvortrag anlässlich des NSU-Hearings Schweigen und Verschweigen: NSU, Rassismus und die Stille im Land, 2.6.2012, Akademie der Künste, Berlin.

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verändert und warum wir uns im Kontext von Rassismusdebatten kritischer gegenüber dem politischen Islam verhalten müssen. Ich will eine Anekdote aus meiner Kindheit erzählen. Es war ein sehr heißer Tag und wir spielten nach der Schule Fußball. Schon immer ist es beim Fußball so gewesen, dass es schlechte, mittelmäßige, gute und eben außergewöhnlich gute Spieler gibt. Unser Starkicker hieß Thorsten Goulu. Ich erinnere mich vor allem daran, dass er ein knochenharter Spieler war. Wenn man mit ihm in einen Zweikampf geriet, bekam man seine Knochen zu spüren. Dass man das nicht so schnell vergaß, dafür sorgten schon die blauen Flecken, welche man davon trug, wenn man sich auf dem Feld Thorsten in den Weg stellte. Auch außerhalb des Platzes war mein Mitschüler nicht gerade zimperlich. Konflikte klärte er selten mit Argumenten, sondern schon einmal lieber mit Fäusten. Ich fürchtete Thorsten besonders, weil er mit Ausländerkindern viel zu klären hatte. Das war in den 1980er Jahren in nicht wohlbehüteten Verhältnissen, einem Leben fern der Mittelschicht und ohne gymnasiale Erziehung eigentlich nichts Ungewöhnliches. Thorsten und ich lebten in einem Stadtteil, wo die meisten lieber nicht wohnten. Wir gingen auf dieselbe Hauptschule, die ebenso keine Komfortzone war. An diesem Sommertag lief es für mich auf dem Fußballfeld anfangs außergewöhnlich gut. Ich schoss nicht nur mehrere Tore, sondern tunnelte gleich zwei Mal Thorsten Goulu. Ich spielte ihm den Ball also durch die Beine. Thorsten wusste, was Tunneln hieß. Es hieß Schmach. Es hieß Erniedrigung. In ihm kam Wut auf. Er fing zu pöbeln an und hörte nicht auf. Scheiß Türke, scheiß Batschake, haut in eure Heimat ab, du und deine acht Geschwister. Ihr Knoblauchfresser vermehrt euch wie Kaninchen, damit ihr mehr Sozialhilfe kriegt. Vielleicht lag es an der Unterstellung von Massengeschwistern – ich habe nur eine Schwester – und seiner Vermutung, dass meine Eltern Sozialhilfe kassieren wollten, was sich mit ihrem schwäbisch-anatolischen Arbeitsethos nicht vertrug. Auf jeden Fall reichte es mir irgendwann. Ich ging auf Thorsten los, obwohl er stärker war und ich unter normalen Umständen keinen Stich gegen ihn machen würde. Es dauerte aber nur Sekunden und Thorsten lag auf dem Boden. Ich saß auf ihm, immer noch in Rage wegen seiner Beleidigungen, drückte mein Knie gegen sein Kinn, schlug ihn abwechselnd ins Gesicht und in den Bauch. Seine Nase blutete, er gab merkwürdige Laute von sich. Hätten die Mitspieler Thorsten nicht gerettet, ich weiß nicht, wie es ausgegangen wäre. Es wird niemanden überraschen, dass mein Wortschatz damals einen Begriff wie ›Rassist‹ nicht kannte. Thorsten war einfach nur Deutscher und Ausländerfeind. Genauer gesagt war er ein ausländerfeindlicher Deutscher. Erst ein Jahrzehnt später, also in den prägenden 1990er Jahren, lernten meinesgleichen und ich das Alphabet der Diskriminierung sowie Ausgrenzung neu zu buchstabieren. Vor unseren Augen brannten Häuser, rassistische Anschläge wurden ausgeübt, erst in Bayern, dann in den neuen Bundesländern, in Solin-

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gen, Mölln, Rostock-Lichtenhagen und vielen anderen Orten in Deutschland. Der rassistische Mob wütete, Menschen wurden ermordet, die Medien berichteten – mal alarmierend, mal nüchtern. Bis heute ist mir in Erinnerung geblieben, dass der damalige Bundeskanzler seinen Regierungssprecher ausrichten ließ, dass er nicht nach Solingen fahren werde, weil er den ›Beileidstourismus‹ anderer Politiker vor dem Tatort ablehne. Dass Neonazis und Rechtsradikale ihr Unwesen trieben, hatte in der Logik der Politiker auch damit zu tun, dass zu viele Flüchtlinge und Ausländer in Deutschland lebten. Die Reaktion der Politik bestand nicht darin, den Rechtsradikalismus ins Visier zu nehmen, sondern im Mai 1993 in einem überparteilichen Konsens aus CDU/CSU, FDP und SPD das Recht auf Asyl abzuschaffen. Die zynische Logik dabei: Wir schotten die Grenzen ab, damit die politische Situation nicht weiter eskaliert und das Land sich nicht weiteren Belastungen durch Flüchtlinge aussetzen muss. Man ignorierte die Autonomie und die Kämpfe der Migration (vgl. Bojadžijev 2012) und konstruierte Zusammenhänge, die so neu nicht waren. Ausländer nehmen anderen Jobs und Wohnraum weg, fallen auf, führen ein Alltagsleben, das sich nicht mit den Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft deckt. Prägend für die 1990er Jahre waren aber auch die Proteste Hunderttausender, die sich gegen die rassistische Gewalt und das Wüten der Neonazis stellten. Aus diesen Protesten heraus gründeten sich neue Initiativen und Gruppen, die Begriffe wie Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit aus ihrem Vokabular verbannten (vgl. Kanak Attak 2013). Die Zeit war längst reif, die Dinge beim Namen zu nennen, und so hielt ›Rassismus‹ Einzug in die öffentliche Debatte. Ganz allmählich bildete sich auch eine neue Haltung heraus, die rassistisches Denken und rassistische Taten nicht nur verurteilte, sondern zu kontextualisieren wusste. Damals habe ich gedacht, damit sei die Grundlage dafür geschaffen, antirassistische Positionen nachhaltig in dieser Gesellschaft zu verankern, um zumindest dann intervenieren zu können, wenn rassistische Gewalttaten ausgeübt werden. Neonazis und Rechtsradikale haben bis zu den NSU-Morden nicht auf Pause geschaltet, sondern weiterhin gepöbelt, gedroht, Gewalt ausgeübt und gemordet. Nur öffentlich verhandelt wurde das kaum noch, was viele Gründe hat, die ich hier nicht weiter ausführen werde. Entscheidend scheint mir, in diesem Kontext auf etwas anders hinzuweisen. Dieser rassistischen Gewalt haben sich Initiativen, politische Gruppen, Parteipolitiker sowie Bürgerinnen und Bürger entgegengestellt – auch wenn es die breite Öffentlichkeit nicht mehr interessierte. Und heute? Warum scheint die »Stille im Land« nach den Morden des NSU die passende Überschrift zu sein, nicht nur für Veranstaltungen wie das NSUHearing an der Akademie der Künste, sondern ganz allgemein für die gesellschaftliche Auseinandersetzung, die bis heute nicht stattgefunden hat. Und warum fällt es vielen heute so schwer, von Rassismus zu sprechen?

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Ein ganz entscheidender Aspekt scheint mit zu sein, wie staatliche Politik auf die NSU-Morde reagiert hat. Wie soll man auf die Straßen gehen, protestieren, der eigenen Wut Ausdruck verleihen, die Taten des NSU verdammen, Netzwerke und Bündnisse bilden, Aufklärung und Konsequenzen fordern, wenn die staatliche Politik dies bereits tut. Natürlich nicht alles, aber vieles davon. Dass die Parteien im Bundestag geschlossen mit einer Schweigeminute den Opfern der NSU-Morde gedachten und dies einige Wochen später sogar in einem Staatsakt erneut getan wurde, stellt für mich eine Zäsur dar. Symbolische Handlungen sind symbolische Handlungen, sie mögen für viele nicht weitreichend sein. Dem will ich nicht widersprechen. Doch mit diesen symbolischen Handlungen wurde demonstrativ herausgestellt, dass die Opfer ›unsere Opfer‹ sind. ›Unsere Bürger‹, die ermordet wurden. Bürger, deren Sicherheit der Staat zuvor nicht gewähren konnte. Es ist entscheidend, wer schweigt. Wenn das der Bundestag tut, kann ich dem, wie gesagt, etwas abgewinnen. Dieses Schweigen war laut. Es hat viele erreicht, vermute ich. Warum aber Migrantenorganisationen und Lobbygruppen zum »Schweigen gegen das Schweigen« aufriefen, verstehe ich nicht. Mir leuchtet nicht ein, was Leute angetrieben hat, Autokorso zu veranstalten, um hupend gegen die NSU-Morde zu protestieren, auch wenn mir klar ist, dass es um demonstrative Anteilnahme und Solidaritätsbekundung gehen sollte. Dass es aber nicht darüber hinaus ging und in der Phrasendrescherei von Sprechern migrantischer Lobbyorganisationen stecken blieb, ist eine verpasste gesellschaftliche Chance. Denn das Gebot der Stunde war hier nicht Schweigen, sondern Reden. Es macht im Nachhinein wenig Sinn, eine solche gesellschaftliche Debatte, der ich das Wort rede, zu konturieren. Ich weiß nicht einmal genau, wer, wie diese Debatte hätte führen und was deren Inhalt hätte sein können. Ich wünschte, es wäre in Ansätzen zu einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung darüber gekommen, wie wir miteinander leben wollen und wie wir Grenzen benennen können, die rassistische Haltungen und Handlungen verdammen. Vielleicht ist diese Debatte auch deswegen nicht in Gang gekommen, weil staatliche Politik schneller war und den Rahmen absteckte, in welchem die NSU-Morde verhandelt werden sollten. Daran alleine lag es wohl kaum. Ich will nicht Teil der Litanei sei, die die Schwäche der antirassistischen Bewegung oder die Zurückdrängung ihrer Positionen beklagt. Dennoch fürchte ich, dass das Fehlen einer solchen Debatte nicht nur politischer und gesellschaftlicher Ignoranz geschuldet ist, sondern auch damit zu tun hat, dass viele derer, die in den 1990er Jahren und später im Feld des Anti-Rassismus tätig waren, es heute nicht mehr sind oder nicht mehr öffentlich durchdringen. Ich selbst bin einer von ihnen. Möglicherweise hat das Schweigen in der Gesellschaft ferner damit zu tun, dass man sich nach all den Jahren an rassistische Gewalt gewöhnt. Schließ-

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lich gehört es zu unserem Alltag, dass irgendwo in Deutschland mindestens drei rechte und rassistisch motivierte Gewalttaten pro Tag stattfinden – mir scheint, als ob wir uns damit abgefunden haben. Wenn wir uns nicht damit abgefunden haben, dann arrangieren wir uns offensichtlich damit, dass es dafür Zuständige gibt – wie z.B. die Opferberatungen. Von der gescheiterten Lüge des Multikulturalismus bis zum Ende der Asylpolitik scheint die Vorstellung einer offenen Gesellschaft nicht mehr zu existieren, weil die einen sowieso nicht daran geglaubt haben und andere wiederum diese vor allem seit dem 11.9.2001 als eine Bedrohung betrachten. Nicht weniger bedeutend scheint mir zudem zu sein, dass eine Migrantengeneration heranwächst, die ihre Zugehörigkeit zu Deutschland und zum ›Deutsch sein‹ manchmal geradezu selbstverständlich reklamiert. Ich erlebe das oft im Alltag und gebe zu, dass mir das immer noch schwerfällt. Das liegt an den schweren Folgen des Diktums vom ›Eigenen‹ und dem ›Fremden‹, das in meiner politischen Sozialisation sehr prägend war und noch ist, weil ich davon ausgehe, dass die Mehrheitsgesellschaft zur eigenen Legitimation diese Konstruktion braucht. Aber genau das scheint immer weniger Teile dieser Generation zu kümmern. lndem sie ihre Zugehörigkeit markieren, weil sie hier geboren sind, einen deutschen Pass besitzen oder ein neues Verständnis vom Deutschsein haben (vgl. Bota/Pham/Topcu 2012), tragen sie gewollt oder ungewollt auch dazu bei, dass sich Deutschland verändert. Die wenig ironisch gemeinte Selbstbezeichnung »Deutsch Plus«, eines Netzwerkes, das Karrierewege für Erfolgskanaken ebnen will, treibt dieses Deutschsein-Wollen auf die Spitze. Schaut her, wir sind erfolgreich, teilen eure Werte, bekennen uns zu unserer Verfassung und bringen zudem einige Extrafeatures mit. Überhaupt trifft es sich gut, wenn Migranten erfolgreich sind – egal, ob in der Privatwirtschaft oder in der Kulturindustrie. Denn die Währung für Zugehörigkeit ist Erfolg. Wer erfolgreich ist, wird im Mainstream gerne willkommen geheißen, weil dieses sich verändernde Land auf den Leistungswillen und das Erfolgsstreben dieser Generation angewiesen ist. Es ist ein Schlüsselfaktor für seine Zukunftsfestigkeit (vgl. Ayata 2011). Nur, Erfolg wird einem nicht geschenkt und nicht jeder hat einen Lebenslauf, der sich wie eine Erfolgsgeschichte liest. Daher ist die Chiffre Erfolg kein Freischein für alle. Nicht für Migrantenkids in Knästen, nicht für arbeitsuchende Jugendliche mit Migrationshintergrund, nicht für Prekarisierte, die auf Namen wie Mamadoo, Feyruz oder Davor hören. Wenn es inzwischen unmöglich ist, in den Kategorien der 1990er und 2000er Jahre rassistische Diskriminierung und Ausgrenzung zu greifen und zu thematisieren, dann lohnt sich möglicherweise der Blick auf die neue Dimension und Qualität der Hierarchisierung von Migranten, in nützliche und unnütze, bereichernde und nicht bereichernde. Neu ist daran auch, dass Erfolgsmigranten diese Hierarchisierung selbst vorantreiben – nicht alle, aber viele. Erfolg mag für sie ein Antrieb sein, aber Erfolg über-

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windet rassistische Ausgrenzung nicht. Wenn heute Afroamerikaner in den USA auf rassistische Diskriminierung zu sprechen kommen, kriegen sie nicht selten zu hören: Was wollt ihr eigentlich? Wir haben doch einen schwarzen Präsidenten. In seiner sehr beeindruckenden, in Teilen auch selbstverliebten Autobiographie, streift der Künstler und Bürgerbewegungsaktivist Harry Belafonte dieses Phänomen: »Dennoch haben die meisten farbigen Amerikaner noch mit Problemen zu kämpfen, die genauso gravierend sind, wie sie es vor einem halben Jahrhundert waren. Und bis heute […] hat der Präsident noch wissen lassen, ob diese Probleme für ihn von belang sind, geschweige denn einen Plan für ihre Lösung vorgelegt.« (Belafonte 2012: 605)

Ein anderer wichtiger Aspekt in der Debatte jenseits des Rassismus vergangener Tage ist der Umgang mit politischem Islam, der weiter an Bedeutung gewinnt, auch in Europa und in Deutschland. Ohnehin artikuliert sich seit 9/11 Rassismus hierzulande vornehmlich als Anti-Islamismus. Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen, mir geht es nicht um den Glauben des Einzelnen und wie er diesen praktiziert. Mir geht es vor allem darum, warum sich so viele schwertun, diesen politischen Islam, der in sich sehr heterogen ist, zu kritisieren, ohne rassistisch zu argumentieren oder als Affirmationskanake ein Loblied auf westliche Werte anzustimmen, um die eigene Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft zu untermauern. Ich bin fest davon überzeugt, dass man gegen den politischen Islam politisch argumentieren muss und dieses Feld in keinem Fall der Politik und selbst ernannten Islamkritikern überlassen darf, weil das Konzept des politischen Islams Folgen hat, die unser Leben betreffen. Es würde unser Leben unfreier, undemokratischer, rassistischer, sexistischer, homophober und unästhetischer machen. Das verdient vor allem eins: Widerstand. Wir werden permanent damit konfrontiert, worum es gehen könnte. Ist es glaubwürdig, dass Salafisten lediglich ein Interesse haben sollen, dass der Koran gelesen wird und gut ist? Wohl kaum. Wenn iranische Geistliche die Fatwa nach einem Rapper in Deutschland ausrufen, ist das wohl kein inner-iranischer Kulturstreit, den wir ignorieren können. Nach Protesten von Islamisten wurde ein Konzert von Lady Gaga in Jakarta abgesagt. Ihrer Meinung nach seien Lady Gagas Auftritte »pornographisch« und verstoßen gegen die indonesische Kultur. Sie fürchteten, Outfits und Tanzstil von Lady Gaga könnten die Jugend des Landes verderben. Wollen wir warten, bis Necla Kelek, Hendrik M. Broder oder Ayaan Hirsi Ali uns mit rassistischen Argumentationsmustern erklären, warum all das geschieht? Weil es keine signifikante politisch-publizistische Intervention jenseits des Anti-Islamismus gegen repressive islamistische Eingriffe in unser Leben gibt, kann z.B. Hirsi Ali von »informeller Zensur« in Europa sprechen. So geschehen jüngst einige Hundert Meter Luftlinie

Vor und nach der Stille

von der Akademie der Künste Berlin. Ayaan Hirsi Ali bekam anlässlich des 100. Geburtstags des Verlegers Axel Springer einen mit 25.000 Euro dotierten ›Ehrenpreis‹. In ihrer mit Standing Ovation bedachten Dankesrede machte sie sich die Argumentation Anders Breiviks zu eigen und berief sich auf das Manifest des Massenmörders. »Er sagt, weil alle Möglichkeiten, seine Ansichten öffentlich kundzutun, zensiert worden seien, habe er keine andere Wahl gehabt als zu Gewalt zu greifen.« (Zit.n. Buchen 2012) Die Kritik des politischen Islam aus der Perspektive säkular-progressiver Kräfte – damit meine ich explizit nicht kemalistische Laizisten – muss immer zwei Richtungen haben: Sie muss den politischen Islam und die rassistischen Islamkritiker gleichzeitig ins Visier nehmen – also gegen Repression und Rassismus argumentieren. Nur so kann diese sehr komplizierte Verschiebung des Diskurses gelingen, die keine Übung für den Einzelheinz ist. Das wird auch nicht ohne die Medien gehen. Das ist insofern ein Hindernis, weil Medien überwiegend Teil der Probleme sind, über die ich sprach. So ging Ayaan Hirsi Alis Auftritt in Berlin nahezu unbemerkt unter. Es reichte, dass Hirsi Ali eine Erklärung später abgab, in der sie festhielt, sie habe Breivik dafür weder entschuldigen, noch seine Tat in irgendeiner Art rechtfertigen wollen. Auch Mely Kiyak entschuldigte sich öffentlich für eine Äußerung. Kiyak hatte in einer Kolumne Thilo Sarrazin als »lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur« bezeichnet. Für die Springer-Medien war es damit längst nicht erledigt. So unterstellte Cora Stephan in der Tageszeitung Die Welt Kiyak einen »Vernichtungswillen« gegen Sarrazin (vgl. Stephan 2012), ohne mit einer Silbe seinen Rassismus zu benennen. In der rechten Blogosphäre baute sich ein Shitstorm auf, der Mely Kiyak diffamierte und zur Zielscheibe erklärte. Ich habe mich gefragt, ob mein ehemaliger Mitschüler Thorsten Goulu sich an diesem Shitstorm beteiligt hat und was ihm durch den Kopf gegangen ist, als er einen Tag nach dem NSU-Prozessbeginn die Bild-Schlagzeile Der Teufel hat sich schick gemacht las und auf das große Foto von Beate Zschäpe blickte. Was bedeutet ihm Zschäpe? Wieso ich mich das frage? Vielleicht, weil es mich weiterhin beschäftigt, wie wir im Lichte der oben skizzierten Entwicklungen auf alte Fragen neue Antworten finden können.

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L ITER ATUR Ayata, Imran (2011): »Von wegen Tabubruch«, in: Hilal Sezgin (Hg.), Manifest der Vielen, Berlin: Blumenbar. Belafonte, Harry (2012): My Song, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Bojadžijev, Manuela (2012): Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster: Westfälisches Dampf boot. Bota, Alice/Pham, Khuê/Topcu, Özlem (2012): Wir neuen Deutschen: Wer wir sind, was wir wollen, Reinbek: Rowohlt. Buchen, Stefan (2012): Wie Ayaan Hirsi Ali Breiviks Massenmord erklärt, www. cicero.de/salon/wie-ayaan-hirsi-ali-breiviks-massenmord-erklaert/49381, zuletzt aufgerufen am 20.5.2013. Kanak Attak (2013): www.kanak-attak.de/ka/down/pdf/textos.pdf, zuletzt aufgerufen am 20.5.2013. Stephan, Cora (2012): Wir brauchen wieder eine richtige Streitkultur, www.welt. de/debatte/kommentare/article106384233/Wir-brauchen-wieder-eine-rich tige-Streitkultur.html, zuletzt aufgerufen am 20.5.2013.

Rechter Terror(ismus) in Deutschland Der NSU als Prisma Fabian Virchow

Als im November 2011 nach einem Banküberfall in Eisenach und der Zustellung von Videos an mehrere Zeitungsredaktionen die Existenz einer Gruppe mit der Bezeichnung Nationalsozialistischer Untergrund allgemein bekannt wurde, war das Erstaunen im politischen Feld, in den Medien sowie bei den staatlichen Sicherheitsapparaten groß. Letztere hatten mit ihren in zahlreichen Berichten regelmäßig wiederholten Formulierungen, dass ein rechter Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland nicht erkennbar sei, die maßgeblich rezipierte Einschätzung vorgegeben. Nutzt man die Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) als Prisma, so wird das Spektrum der Faktoren sichtbar, die für eine Analyse rechten Terrors und Terrorismus relevant sein können. Eine solche komplexe Analyse wird sich mit Faktoren auf der Makro-, Meso- und Mikroebene befassen und einander ergänzende disziplinäre Perspektiven integrieren müssen. Sie kann hier schon aus Platzgründen nicht geleistet werden. Die im Folgenden skizzierten Überlegungen sollen jedoch zu entsprechend systematisierten Suchbewegungen nach den Bedingungsfaktoren rechten Terrors bzw. Terrorismus anregen. In historischer Perspektive ist daran zu erinnern, dass der NSU nicht die erste extrem rechte Gruppe in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands ist, die terroristisches Handeln vorbereitete oder vollzog. Zu erinnern ist an den Bund Deutscher Jugend, dessen klandestin operierender Teil Technischer Dienst in den frühen 1950er Jahren u.a. die Ermordung sozialdemokratischer und kommunistischer Politiker plante. Seit den späten 1960er Jahren agierte eine Reihe kleiner, meist personell aus der NPD hervorgegangener Gruppen wie die Europäische Befreiungsfront, die Gruppe Hengst oder die Nationale Deutsche Befreiungsbewegung im Sinne eines terroristischen Antikommunismus, der gegen westdeutsche Kommunisten, die DDR und die sowjetischen Stationierungstruppen gerichtet war. Mit Ekkehard Weil wurde im März 1971 einer der

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Exponenten dieser Phase rechten Terrors wegen eines Mordversuchs an einem sowjetischen Soldaten zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Noch in dieser ideologischen Tradition stand zunächst auch die sogenannte Otte-Gruppe in den späten 1970er Jahren; im Zuge der verstärkten Propagierung der Holocaust-Leugnung durch Autoren der extremen Rechten ab Mitte der 1970er Jahre führte sie auch »Todeslisten«, auf denen u.a. bekannte Vertreter des Judentums im Nachkriegsdeutschland standen, und verübte Sprengstoffanschläge auf Amtsgerichtsgebäude, in denen gegen Holocaustleugner verhandelt wurde. Die Ausstrahlung des vierteiligen Films Holocaust – die Geschichte der Familie Weiss markierte den »Beginn der Bereitschaft nun auch eines Massenpublikums, sich mit der NS-Vergangenheit überhaupt auseinanderzusetzen« (Reichel 2007: 261); mit Sprengsätzen an ARD-Sendemasten im Hunsrück und im Münsterland wollte Peter Naumann, NPD-Mitglied und Aktivist des Völkischen Bundes, die Ausstrahlung unterbinden. Aus den Reihen der seit 1973 paramilitärisch auftretenden Wehrsportgruppe Hoffmann (vgl. Fromm 1998) wurden einige Monate nach ihrem Verbot schwere Straftaten begangen: der Anschlag auf das Münchner Oktoberfest (26.9.1980) und der Mord an Shlomo Levin und Frieda Poeschke durch Uwe Behrendt (19.12.1980). Diese Phase markiert den Übergang zu rechten terroristischen Strukturen, die Banküberfälle zur Finanzierung ihrer Aktivitäten durchführen (u.a. Hepp-Kexel-Gruppe) und konspirativ Wohnungen anmieten. Die von der Hepp-Kexel-Gruppe verübten Sprengstoffanschläge auf US-Soldaten, wie die von den Deutschen Aktionsgruppen um Manfred Roeder verantworteten Brandanschläge, denen 1980 in Hamburg zwei vietnamesische Flüchtlinge zum Opfer fallen, zielten bewusst auf die Erzeugung von Angst und Einschüchterung bei den entsprechenden Bevölkerungsgruppen und sollten politische Entscheidungen (Abzug der US-Streitkräfte; restriktive Migrationsund Asylpolitik) beeinflussen.1 Regelmäßig führten die Berichte der Inlandsgeheimdienste die bei Razzien gefundenen Waffen- und Sprengstofffunde auf und dokumentierten damit die Militarisierung und Gewaltbereitschaft der neonazistischen Strömung der extremen Rechten in der Bundesrepublik Deutschland, die sich seit Anfang der 1980er Jahre in ihrer Agitation insbesondere der ›Überfremdung‹ widmete 1 | Die internationale Diskussion um eine tragfähige juristische oder sozialwissenschaftliche Definition von ›Terrorismus‹ ist vielfältig (vgl. exemplarisch Tiefenbrun 2003; Weinberg/Pedahzur/Hirsch-Hoefler 2004; Skoll 2007; Rapin 2011), kann hier jedoch nicht entfaltet werden. Diesem Beitrag liegt eine Definition von Terrorismus zugrunde, die geplantes gewaltsames Handeln von (halb-)geheim agierenden Individuen oder Gruppen mit dem Ziel umfasst, Angst und Einschüchterung bei einer größeren Zahl von Menschen zu erzeugen und/oder Entscheidungen politischer Akteure oder sozialer Gruppen zu beeinflussen, ohne dabei auf persönliche Bereicherung zu zielen.

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und durch die Ansprache und Mobilisierung rassistischer Einstellungen politische Verankerung und Unterstützung erhoffte. Der Erfolg der Partei Die Republikaner bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus und zum Europaparlament 1989 war ebenso Ausdruck dieser Schwerpunktsetzung, wie rassistisch motivierte Gewalttaten – bereits im Dezember 1988 etwa starben bei einem Brandanschlag eines Neonazis im bayerischen Schwandorf vier Menschen. Die rassistische Gewaltwelle schwoll mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland und der Kampagne gegen das Asylrecht an: Zwischen 1991 und 1993 wurden über 4.700 Anschläge verübt, bei denen 26 Menschen umkamen und über 1.800 verletzt wurden. In den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock trat – wie Ulrich Bielefeld in Anlehnung an Elias Canetti deutlich gemacht hat 2 – eine ›Hetzmasse‹ auf, die unter weitgehender Verwischung des Unterschiedes zwischen Täter und beobachtender Menge in ihrer unmittelbaren Fixierung auf das Ziel weitgehend gefahr- und straflos agieren konnte und sich als Vollstreckerin des ›Volkswillens‹ imaginierte. Die organisierte extreme Rechte rechtfertigte die rassistische Gewalt offensiv als legitime und unausweichliche, weil ›natürliche‹ Abwehrmaßnahme. Wie in zahlreichen anderen Gegenden der Bundesrepublik Deutschland entstanden in dieser Zeit auch in Thüringen rassistische und neo-nazistische Milieus, die u.a. den Hass auf ›das Fremde‹ und den sozialdarwinistischen Impetus (›Kampf als Lebensprinzip‹) teilten. In Thüringen fand dies einen Ausdruck in der Anti-Antifa-Thüringen und später im Thüringer Heimatschutz. In seinem politischen Profil und seinen Aktivitäten – Aufmärsche, Schießübungen, Propagandaaktionen, Gewalthandeln – unterschied sich dieses »radikale Milieu« (vgl. Waldmann/Malthaner 2012) wenig von dem in anderen Bundesländern; man teilte nicht nur die Weltanschauung, man begegnete und vernetzte sich auch aus Anlass von Konzerten und Aufmärschen (vgl. Virchow 2006b). Dies war eine wichtige Komponente der Dynamik, die Existenz und Profil dieser neonazistischen Bewegung charakterisierte. Mit der aus diesem radikalen Milieu entstehenden Gruppe NSU trat eine ›Hetzmeute‹ an, deren Mitglieder durch das Vorhaben der Realisierung eines in der Ferne liegenden Zieles verbunden sind, das sie unbeirrbar und besessen verfolgen und dem sie durch exemplarische Taten näher zu kommen trachten.3 Nicht zufällig, so scheint es, hat der NSU aus der Vielzahl der ausgespähten Anschlagsziele seine Opfer unter denjenigen gesucht, die mit dem Aufbau einer 2 | Vgl. den Beitrag von Bielefeld in diesem Band. 3 | Ob die bereits vor der Konstituierung des NSU beobachtbare Radikalisierung der Beteiligten zwingend zu der Mordserie geführt hätte, oder ob sich das Trio angesichts der drohenden Haftstrafen nach dem Auffinden des Sprengmaterials Anfang 1998 dazu entschloss, den Kampf für die Palingenese eines völkisch purifizierten Deutschlands aus der Illegalität fortzusetzen, kann und muss hier nicht entschieden werden.

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ökonomischen Basis eine Lebensperspektive in der Bundesrepublik Deutschland verbanden und aufgrund des Lebensalters als besondere Bedrohung der ›völkischen Reinheit‹ erschienen. Auch wenn es in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bereits schwerwiegenden rechten Terrorismus gegeben hat, so ist auf einige Spezifika des NSU hinzuweisen. Hierzu zählt ohne Zweifel die Länge des Zeitraumes, in dem die Gruppe unter Nutzung geliehener Ausweisdokumente lebte und die Mordserie plante und verübte; demgegenüber konnten die rechtsterroristischen Strukturen der 1970er und 1980er Jahre bereits nach kurzer Zeit aufgedeckt werden. Mit Ausnahme des von einem Mitglied der verbotenen Wehrsportgruppe Hoffmann 1980 verübten Doppelmordes hat der rechte Terrorismus bis zum NSU Anschlagsmittel eingesetzt, bei denen die Täter ihren Opfern bei der Tatausführung nicht im Angesicht gegenüberstanden. Insofern zeugt die Tatausführung des NSU von einer extremen Gewaltneigung. Bedeutsam ist auch die Differenz hinsichtlich der zahlenmäßigen Größe und der politischen Verfasstheit des radikalen Milieus, in dem die Kerngruppe des NSU und seine Unterstützerstruktur sozialisiert wurden und aktiv waren: Während in den 1970er und 1980er Jahren die Zahl derjenigen, die sich offensiv zum Nationalsozialismus bekannten und dies auch in den Selbstbezeichnungen und programmatischen Äußerungen markierten, überschaubar war, stellt diese Strömung inzwischen die Mehrheit der handlungsfähigen extremen Rechten dar. Darin wird von vielen die Vorstellung geteilt, dass im Kampf um die Wiederherstellung eines ›weißen Europas‹ Gewaltanwendung unvermeidlich sei und man sich bereits in der Situation des ›Vorbürgerkrieges‹ befinde. Zahlreich kursieren seit Ende der 1980er Jahre fiktionale Erzählungen eines ›Rassenkrieges‹ wie die Turner Diaries (vgl. Michael 2009) und Anleitungen zum bewaffneten Kampf. Die Möglichkeiten, sich mit Waffen und Sprengmitteln auszustatten und deren Gebrauch zu trainieren, sind – das zeigen entsprechende Selbstzeugnisse im Internet sowie die Ergebnisse von Ermittlungsverfahren – zahlreich. Eine Beschreibung und Analyse rechtsterroristischer Praxis in der Bundesrepublik Deutschland wird auch in den Blick nehmen müssen, welche gesellschaftlichen Entwicklungen auf der Makro-Ebene stattgefunden haben und wie sich diese im Weltbild in der extremen Rechten niedergeschlagen haben. Betrachtet man dabei zunächst die Situation Ende der 1960er und frühen 1970er Jahre, so sind als zentrale Felder der politischen Auseinandersetzung die Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und die ›Entspannungspolitik‹ zu nennen. Die territoriale Einheit Deutschlands, die aus extrem rechter Perspektive nicht nur das Staatsgebiet der DDR, sondern zudem mindestens die ›deutschen Ostgebiete‹ umfassen soll(te), gehört zu den grundlegenden, existenziellen Achsen des völkischen Nationalismus. Entsprechend vehement wurden die genannten politischen Entwicklungen bekämpft und

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ihre Exponenten als ›Verräter an Volk und Nation‹ angefeindet (Parole der Aktion Widerstand: ›Brandt an die Wand!‹). Ähnlich wie die Frage der territorialen Verfasstheit – und anders als Fragen der Wirtschafts-, Sozial- oder Bildungspolitik – wird auch die Einwanderung von der extremen Rechten als auf das ›Wesen des deutschen Volkes‹, auf die ›biologische Substanz‹ zielender Angriff interpretiert, dessen Ergebnisse – anders etwa als die EU-Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland – nicht mehr rückgängig zu machen seien. Dieses Politikfeld ist spätestens seit Ende der 1980er Jahre ins Zentrum extrem rechter Strategiebildung getreten und wird mit anderen Politikfeldern (z.B. Arbeitsmarkt, Bildung) verbunden. Diese Zentralität erklärt maßgeblich den Furor und die Gewalt des Rassismus eines Anders Breivik oder des NSU.4 Insofern lässt sich die These formulieren, dass extrem rechter Terrorismus in solchen historischen Situationen verdichtet auftritt, in denen nach extrem rechter Weltanschauung und -interpretation ›Volk und Nation‹ existenziell bedroht sind (Verrats-, Notwehr- und Bürgerkriegsnarrativ). Weitere Faktoren treten jedoch hinzu. So spielen u.a. das Ausmaß des (subjektiv wahrgenommenen) politischen Erfolgs bzw. der Erfolglosigkeit extrem rechter Vereinigungen sowie das Handeln staatlicher Instanzen eine große Rolle. Die personell maßgeblich aus der NPD gespeisten kleinen rechtsterroristischen Zusammenhänge der späten 1960er und frühen 1970er Jahre waren auch Folge des Scheiterns der NPD bei den Bundestagswahlen im Herbst 1969 und Teil der danach einsetzenden Neuorientierung und Aufsplitterung der extremen Rechten in verschiedene Strömungen. Was im Zuge des politischen Meinungskampfes nicht erreicht wurde, sollte nun mit den Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden. Demgegenüber wurden die späten 1980er und frühen 1990er Jahre mit den z.T. gewaltsam herbeigeführten Auflösungen der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens von der extremen Rechten geschichtsteleologisch als Bestätigung des ›völkischen Prinzips‹ interpretiert, das sich notwendig Bahn breche (vgl. Virchow 2006a: 242ff.). Auch die in zahlreichen Massenmedien und von führenden Repräsentanten der im Bundestag vertretenen Parteien forcierte Änderung des Asylrechts wurde von der extremen Rechten als zwar nicht hinreichende, aber längst überfällige Maßnahme gegen die ›Überfremdung‹ gefordert und begrüßt. In dieser Situation konnte die extreme Rechte in Gestalt der Deutschen Volksunion in Bremen 1991 und in Schleswig-Holstein sowie der Partei Die Republikaner in Baden-Württemberg (beide 1992) auch parlamentarische Repräsentanz herstellen – und auf der Ebene der Landtage, wenn auch inzwischen in Gestalt der NPD, bis heute behaupten. 4 | Diese Gemeinsamkeit gilt bei aller Differenz hinsichtlich des Umfangs und der Kontextualisierung (vgl. Walton 2012) sowie der medialen Formen, in denen das dazugehörige Narrativ angeboten wurde – hier ein Video, dort ein 1.500-seitiger Text (vgl. Sandberg 2013).

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Eine Facette, die im Prisma NSU eindringlich sichtbar geworden ist, ist die Tätigkeit von Geheimdiensten in der extremen Rechten, hier konkret: der neonazistischen Strömung. Insbesondere die Arbeit der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse hat erkennbar werden lassen, wie zahlreich die von den verschiedenen Ämtern geführten Informanten sind. Welche Rolle diese im Umfeld des NSU-Kerns gespielt haben, ist bisher nicht abschließend ermittelt. Zu erinnern ist jedoch auch hier daran, dass bereits in anderen rechtsterroristischen Strukturen V-Leute an prominenter Stelle mitgewirkt haben, so etwa Hans-Dieter Lepzien in der o.g. Otte-Gruppe oder Didier Magnien in der sogenannten Schutztruppe um den Münchner Neonazi Martin Wiese, die die Grundsteinlegung des jüdischen Kulturzentrums in München im November 2003 durch einen Sprengstoffanschlag verhindern wollten. Das Interesse an Informationsgewinnung, der ›Quellenschutz‹ und die ›Fürsorgepflicht‹ der Geheimdienste gegenüber den V-Leuten gehen offenbar bis hin zur Behinderung von polizeilichen Exekutivmaßnahmen und resultieren de facto in der maßgeblichen Beteiligung von V-Leuten an der Organisierung zentraler neonazistischer Kampagnen. Dies jedenfalls offenbart eine Stellungnahme der Abteilung Staatsschutz des Bundeskriminalamtes, in der an zahlreichen Beispielen aus den 1990er Jahren, darunter etliche führende Kader des Neonazismus dieser Zeit, dokumentiert wird, dass die technische Ausstattung und finanzielle Alimentierung mancher V-Leute durch Inlandgeheimdienste diese erst in die Lage versetzte, quasi hauptamtlich für die Bewegung tätig zu sein (vgl. Bundeskriminalamt 1997). Auch im Lichte des Einsatzes von V-Leuten in Thüringen, für den Tino Brandt mit seinem Salär von 200.000 DM und 35 eingestellten Ermittlungsverfahren zwar das herausragende, aber nicht das einzige Beispiel ist, muss die ›These 10‹ des BKA, nach der bei den als V-Personen tätigen überzeugten Rechtsextremisten der Eindruck entstehe, dass sie unter dem Schutz des Verfassungsschutzes im Sinne ihrer Ideologie ungestraft handeln könnten und die Exekutive nicht ernst zu nehmen hätten, mit Blick auch auf den rechten Terror(ismus) Aufmerksamkeit finden. Inwiefern staatliches Handeln rechte Gewalt im Ergebnis einschränkt, zulässt oder ermutigt, berührt auch die mögliche Wirkung von Verboten gegen extrem rechte Vereinigungen. Für die zweite Hälfte der 1960er Jahre ist bereits eine sehr zurückhaltende Verbotspraxis staatlicher Instanzen zu konstatieren. 1966 werden in Rheinland-Pfalz die Ortsgruppe Bad Bergzabern des Stahlhelm sowie in Niedersachsen die Vereinigung der ehemaligen SS-Division ›Nordland‹ verboten; 1967 folgt das Verbot einer nationalistischen kroatischen Organisation auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und 1969 noch das Verbot des Bundes Deutscher Nationalsozialisten. Im folgenden Jahrzehnt wird kein einziges Verbot ausgesprochen, sodass es abwegig erscheint, die Entstehung rechten Terrorismus als Reaktion auf staatliche Repressionsmaßnahmen zurückzuführen. Möglicherweise war ein gegenteiliger Effekt wirksam.

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Betrachtet man unter diesem Kriterium die erste Hälfte der 1990er Jahre, so muss einerseits auf den bereits skizzierten ›historischen Optimismus‹ verwiesen werden, der die extreme Rechte in weiten Teilen ergriffen hatte. Zugleich gab es jedoch auch Einschränkungen der Handlungsmöglichkeiten aufgrund zahlreicher Verbote gegen neonazistische Vereinigungen in den Jahren 1992 bis 1995. Die lineare Schlussfolgerung, diese Verbotspraxis habe zu einer Radikalisierung der neonazistischen Szene im Sinne einer Gewalteskalation geführt, die auch in Form des NSU ihren Niederschlag gefunden habe, ist insofern fragwürdig, als Schriften, die den bewaffneten Kampf forderten und entsprechende Hinweise, wie er zu organisieren sei, enthielten, bereits vor den Verboten in der Szene kursierten und rezipiert wurden. Dies schließt vermittelte Effekte staatlicher Verbotspraxis hinsichtlich der als wirkungsvoll angesehenen Organisations- und Aktionsformen jedoch nicht vollständig aus. Eine prismatische Betrachtung des NSU kann die zahlreichen Faktoren5 und Wirkungszusammenhänge verdeutlichen, die für eine Analyse rechtsterroristischer Strukturen und entsprechenden Handelns bedeutsam sein können. Es wird zugleich erkennbar, dass es dabei nicht nur ein einziges Muster des Zusammentreffens von Faktoren auf der Makro-, Meso- und Mikroebene gibt.

5 | Auf die Betrachtung weiterer relevanter Faktoren, etwa der genderspezifischen Aspekte (vgl. Blee 2005), bei denen ebenfalls signifikante Unterschiede zwischen dem Rechtsterrorismus der späten 1960er bzw. frühen 1970er Jahre und den jüngeren Formen zu konstatieren sind, wurde hier verzichtet. Sie werden an anderer Stelle diskutiert (vgl. Köttig in diesem Band).

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L ITER ATUR Blee, Kathleen (2005): »Women and Organized Racial Terrorism in the United States«, in: Studies in Conflict and Terrorism 5, S. 421-433. Bundeskriminalamt (1997): Positionspapier. Betreff Zusammenarbeit zwischen Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt, Meckenheim. Fromm, Rainer (1998): Die ›Wehrsportgruppe Hoffmann‹, Bielefeld: Peter Lang. Michael, George (2009): »Blueprints and Fantasies: A Review and Analysis of Extremist Fiction«, in: Studies in Conflict & Terrorism 2, S. 149-170. Rapin, Ami-Jacques (2011): »What is Terrorism?«, in: Behavioral Sciences of Terrorism and Political Aggression 3, S. 161-175. Reichel, Peter (2007): Erfundene Erinnerung – Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, Frankfurt a.M.: Fischer. Sandberg, Sveinung (2013): »Are self-narratives strategic or determined, unified or fragmented? Reading Breivik’s Manifesto in light of narrative criminology«, in: Acta Sociologica 1, S. 69-83. Skoll, Geoffrey R. (2007): »Meanings of Terrorism«, in: International Journal for the Semiotics of Law/Revue Internationale de Sémiotique Juridique 2, S. 107-127. Tiefenbrun, Susan (2003): »A Semiotic Approach to a Legal Definition of Terrorism«, in: Journal of International and Comparative Law, S. 358-402. Virchow, Fabian (2006a): Gegen den Zivilismus. Internationale Beziehungen und Militär in den politischen Konzeptionen der extremen Rechten, Wiesbaden: VS. Virchow, Fabian (2006b): »Dimensionen der ›Demonstrationspolitik‹ der extremen Rechten in der Bundesrepublik«, in: Andreas Klärner/Michael Kohlstruck (Hg.), Moderner Rechtsextremismus in Deutschland, Hamburg: Hamburger Edition, S. 68-101. Waldmann, Peter/Malthaner, Stefan (Hg.) (2012): Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen, Frankfurt a.M.: Campus. Walton, Stephen J. (2012): »Anti-feminism and Misogyny in Breivik’s ›Manifesto‹«, in: NORA – Nordic Journal of Feminist and Gender Research 1, S. 4-11. Weinberg, Leonard/Pedahzur, Ami/Hirsch-Hoefler, Sivan (2004): »The Challenges of Conceptualizing Terrorism«, in: Terrorism and Political Violence 4, S. 777-794.

Sächsische Demokratie Ein Erklärungsversuch Falk Neubert

Die Monate Januar und Februar des Jahres 2013 sind keine besonders auffälligen gewesen. Die skizzierten Ereignisse sind (sächsische) Normalität, über die sich kaum mehr jemand empören mag. Das Bild dieser Ereignisse eignet sich jedoch sehr gut hinsichtlich des Themas NSU (und Nazis) und des Verbindens der sächsischen mit einer politischen Perspektive. Die Ereignisse und die im Weiteren gewählten Beispiele sollen bei dem Versuch helfen, die spezifisch sächsische Realität begreifbar zu machen. Dabei geht es um den NSU und um Nazis, um staatliche Behörden und ihre immer noch existierende Ignoranz gegenüber rechter Gewalt, es geht um die verheerende Gleichsetzung von ›Rechtsextremismus‹ und ›Linksextremismus‹, um die Kriminalisierung antifaschistischen Protestes, um die Delegitimierung demokratischer Bildungsarbeit und um einen kooperativen Konsens zwischen der sächsischen Judikative und Exekutive. 16. Januar 2013: Der Richter am Dresdner Amtsgericht, Hans-Joachim Hlavka, verurteilt Tim H. wegen seiner Teilnahme an den Anti-Nazi-Protesten im Februar 2011 in Dresden zu einem Jahr und zehn Monaten Gefängnis ohne Bewährung – schuldig der Körperverletzung, des besonders schweren Landfriedensbruchs und der Beleidigung. Tim H. soll als »Rädelsführer« per Megafon Kommandos zum Durchbruch einer Polizeikette gegeben haben. Auf dem Beweisvideo ruft eine Person ins Megafon »Kommt nach vorne!« Der Hauptbelastungszeuge der Staatsanwaltschaft »sagte bereits am ersten Prozesstag, Tim H. sei nicht die Person, die ins Megafon gebrüllt habe. Auch vier geladene Polizeibeamte konnten keine Angaben zum Täter machen« (Jüttner 2013). Aufgrund der vermeintlich ähnlichen Statur wurde Tim H. verurteilt. Seine Strafe wurde nicht zur Bewährung ausgesetzt: mit dem ausdrücklichen Verweis darauf, dass er von seinem Recht Gebrauch gemacht habe, im Prozess zu schweigen. Inzwischen ist die Staatsanwaltschaft sogar in Berufung gegangen: Sie will eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten erreichen (vgl. Rest 2013). Am gleichen Tag

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»bestätigte das Landgericht Dresden eine Verurteilung von fünf Rädelsführern der verbotenen Neonazi-Gruppierung Sturm 34 wegen schwerer Körperverletzung, Sachbeschädigung und Bildung einer kriminellen Vereinigung zu Bewährungs- und Geldstrafen« (König 2013).

21. Januar 2013: Das Innenministerium gibt auf Anfrage eines grünen Landtagsabgeordneten bekannt, wie viele Nazis in Sachsen legal Waffen nutzen dürfen. »In Sachsen verfügen 45 Neonazis über einen Waffenschein. […] 22 Waffenschein-Inhaber seien zudem als rechts motivierte Straftäter bekannt. […] Seit Bekanntwerden der Neonazi-Terrorgruppe NSU vor mehr als einem Jahr seien in Sachsen insgesamt 30 Waffenschein-Inhaber aus der rechtsextremen Szene überprüft worden, darunter 23 NPD-Mitglieder, hieß es weiter. In zwei Fällen wurde den Angaben zufolge die Erlaubnis für die Waffenbesitzkarte widerrufen. Ein Betroffener ging dagegen erfolgreich vor Gericht.« (dpa in DNN 2013)

25. Januar 2013: Das Landgericht Leipzig hat fünf Angeklagte des gemeinschaftlichen Totschlags zu Freiheitsstrafen zwischen drei und 13 Jahren verurteilt. Im Juni 2011 hatten diese in Oschatz den Obdachlosen André K. in einem Wartehäuschen aus dem Schlaf gerissen und so lange auf ihn eingeschlagen, bis er sich nicht mehr rührte. André K. wurde erst am nächsten Morgen gefunden und starb wenige Stunden später im Krankenhaus. Die treibende Kraft der Schlägertruppe war Ronny S., welcher auf Fotos vor einer Reichskriegsflagge bzw. mit NPD-Anhängern zu sehen ist – zudem hat er auf dem Unterarm die Zahlenkombination »88« tätowiert. Die Beweisanträge der Nebenklage, diese Fotos im Prozess in Augenschein zu nehmen, wurden abgelehnt. »Zum Verhandlungsauftakt hieß es seitens der Staatsanwaltschaft lapidar, Hinweise auf einen rechtsextremen Tathintergrund habe es nicht gegeben.« (Stange 2012) Die Beratungsstelle für Betroffene rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt der Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Demokratie und Integration Sachsen e.V. (RAA) kommentiert das Urteil wie folgt: »Angesichts dessen, dass die rassistischen Tatmotive in den durch den NSU begangenen Morden jahrelang nicht gesehen wurden, wäre es angebracht gewesen, entsprechenden Hinweisen im Fall von Andre K. mit angemessener Sensibilität zu begegnen und dem Beweisantrag zu folgen.« (RAA 2013)

30. Januar 2013: Der Sächsische Landtag hebt wegen »grober Störung« des Naziaufmarsches im Februar 2011 in Dresden die Immunität eines grünen Landtagsabgeordneten auf – gegen die Stimmen der Fraktionen DIE LINKE und

Sächsische Demokratie. Ein Erklärungsversuch

SPD.1 Einen Tag später empfiehlt der Immunitätsausschuss des Deutschen Bundestages die Aufhebung der Immunität von zwei sächsischen Bundestagsabgeordneten der LINKEN. Insgesamt hat die Staatsanwaltschaft Dresden bis heute gegen 351 Personen Verfahren wegen der Platzbesetzung am 19. Februar 2011 eingeleitet (Lichdi 2013). 11. Februar 2013: Eine Sprecherin des Dresdner Amtsgerichtes informiert darüber, dass im März der Prozess gegen den Jenaer Jugendpfarrer Lothar König beginnen soll. Auch hier geht es um die Anti-Nazi-Proteste am 19. Februar 2011 in Dresden. Der 58-Jährige ist wegen besonders schweren Landfriedensbruch, versuchter Strafvereitelung und Beihilfe zum Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte angeklagt. Per Lautsprecher soll König zu Gewalt gegen Polizisten aufgerufen haben – er bestreitet das. Schlagzeilen machte im August 2011 die Durchsuchung seiner Jenaer Dienstwohnung durch sächsische Polizisten. Das Verfahren gegen ihn, wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, wurde inzwischen eingestellt (dpa in SZ 2013a). Das NSU-Trio Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt kennt der Jugendpfarrer persönlich aus den 1990er Jahren in Jena. Aus jener Zeit, in der sich die drei im Thüringer Heimatschutz radikalisierten und gewalttätig waren. König dagegen gab in seiner Jungen Gemeinde Punkern und Linken einen Rückzugsraum (Hohnigfort 2011). 12. Februar 2013: Das Netzwerk für Demokratie und Courage (NDC) gibt bekannt, dass es sein Büro in Leipzig schließen muss. Es erhält für 2013 aus dem Landesprogramm Weltoffenes Sachsen 88.000 Euro weniger als im Vorjahr. Das ist eine Kürzung von über 25 Prozent – die mehreren Hundert Projekttage in Schulen mit den vielen engagierten Ehrenamtlichen sind nicht mehr realisierbar. Mit Bekanntwerden der NSU-Morde hatte der sächsische Innenminister das Landesprogramm von 2 Millionen Euro auf 3 Millionen Euro jährlich erhöht. Völlig überraschend hat die CDU/FDP-Koalition in den Haushaltsberatungen im Landtag per Änderungsantrag davon eine Millionen Euro zweckgebunden – für Wasser- und Bergwacht, für den Katastrophenschutz oder für die Jugendfeuerwehr (dpa in SZ 2013b). 13. Februar 2013: Zum vierten Mal in Folge wird der Naziaufmarsch anlässlich der Bombardierung Dresdens zum Ende des Zweiten Weltkrieges erfolgreich blockiert. Zwei Gruppen mit jeweils 400 Nazis wurde durch insgesamt 5.000 BlockiererInnen der Weg zum eigentlichen Veranstaltungsort verwehrt. Dort wartete eine Handvoll NPD-Abgeordneter um den Fraktionsvorsitzenden Holger Apfel vergeblich auf ihre Getreuen. Die Nazis versuchen seit den 1990er Jahren den Jahrestag der Bombardierung für ihren Geschichtsrevisionismus zu instrumentalisieren – 2005 sprach die NPD im Landtag vom »Bom1 | Die Aufhebung der Immunität des Autors wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz erfolgte bereits im September 2012, vgl. http://edas.landtag.sachsen.de/vie wer.aspx?dok_nr=10148&dok_art=Drs&leg_per=5, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013.

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benholocaust von Dresden« (Schurig 2005). 10.000 Menschen nahmen 2013 an einer Menschenkette teil. 18. Februar 2013: Der sächsische Innenminister Markus Ulbig verbietet die »rechtsextreme« Vereinigung Nationale Sozialisten Döbeln. Diese »arbeiteten gegen die ›verfassungsmäßige Ordnung‹ und verherrlichten den Nationalsozialismus. Die Döbelner Vereinigung verwende nationalsozialistische Begriffe und Symbole und zeige damit eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus. Die Vereinigung folgt nach Ulbigs Ansicht dessen Traditionen, bekennt sich zur NSDAP und deren führenden Funktionären.« 2

In Sachsen ist es das dritte Vereinsverbot gegenüber Nazis – im Jahr 2001 wurden die Skinheads Sächsische Schweiz (SSS) und im Jahr 2007 die Kameradschaft Sturm 34 verboten. 27. Februar 2013: Die Staatsanwaltschaft Dresden und das Operative Abwehrzentrum Rechtsextremismus haben im Rahmen der Ermittlungen gegen das Deutsche Polizei Hilfswerk (DPHW) mit über hundert Polizisten in Sachsen sieben Wohnungen durchsucht. Dabei wurden Uniformen, Computer und Schusswaffen sichergestellt. Es wurde ein Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung eingeleitet. Die DPHW steht in Verbindung zu den sogenannten »Reichsbürgern«, welche sich auf das Fortbestehen des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 berufen und die Bundesrepublik Deutschland nicht anerkennen. Für Aufsehen sorgte in Sachsen im November 2012 die »Festnahme« eines Gerichtsvollziehers durch Mitglieder der DPHW mit Uniformen und der Aufschrift »Deutsche Polizei«. Beamte der Landespolizei mussten ihn befreien (Puppe/Schulreich 2013).

NSU IN S ACHSEN Es gab in Sachsen kein gemeinschaftliches Vorgehen der demokratischen Fraktionen, um den NSU-Komplex politisch aufzuarbeiten. Es gab den Versuch, eine Sachverständigenkommission ähnlich der Thüringer Schäfer-Kommission einzurichten, was an der CDU/FDP-Koalition scheiterte. Letztendlich wurde ein Untersuchungsausschuss gemäß Minderheitenrecht durch LINKE, SPD und Grüne eingesetzt, welcher sich erst im April 2012 konstituierte – erst ein halbes Jahr nach Bekanntwerden der Taten. So schleppend geht es seitdem weiterhin voran. Bisher wurden lediglich sechs Zeugenvernehmungen 2 | MDR (2013): »Razzia in Döbeln. Sachsen verbietet rechtsextreme Vereinigung« vom18.2.2013, www.mdr.de/sachsen/verbot-doebeln100.html, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013.

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durchgeführt. Vorgeschaltet waren einige Befragungen von Sachverständigen. Verwertbare Ergebnisse oder gar neue Informationen kamen kaum ans Licht. Vielmehr geht es um ein Nachvollziehen von detaillierten Abläufen, die kaum einer zu überschauen vermag. Zwei Aspekte sollen hier kurz skizziert werden: Zum einen das Chemnitzer Szeneumfeld Ende der 1990er Jahre, durch welches das NSU-Trio unerkannt untertauchen konnte, und zum anderen die Kommunikationsdefizite der Behörden, die rückblickend Unmengen an Fragen aufwerfen. Deutlich wurden die vielfältigen Verbindungen, welche das NSU-Trio bereits vor seinem Untertauchen nach Sachsen hatte, und wie eng verknüpft es mit der sächsischen Sektion von Blood & Honour (B&H) – einer der bedeutendsten in Deutschland – war. Die inzwischen verbotene Gruppierung B&H hat sich als Kampfgemeinschaft für die »weiße Rasse« begriffen. Einer der Führer von B&H Sachsen, Thomas S., war mit Mundlos seit 1993 befreundet und zeitweise mit Zschäpe liiert. Der »Döner-Killer«-Song mit den Andeutungen auf die Morde des NSU erschien 2010 bei einem Chemnitzer Musiklabel. Der Gründer des Labels, B&H-Mitglied Hendrik L., kannte Mundlos seit 1994 (vgl. Röpke 2012). Das LKA Thüringen rechnete im September 1998 Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt »zum harten Kern der Blood & Honour-Bewegung« in Jena (Schmidt 2012). B&H selbst folgte der Strategie des führerlosen Widerstandes. Diese Strategie stammt von Anfang der 1990er Jahre aus dem KuKlux-Klan-Umfeld und kursierte auch in der deutschen Szene: Kleinstzellen von drei bis vier Personen verüben eigenverantwortlich und autark Gewalttaten. Bekennerschreiben sind nicht vorgesehen, Anerkennung und Verständnis der Szene werden erwartet. Das alles klingt wie eine Beschreibung des NSUTrios. Im September 1998 hat eine Quelle des Brandenburger Verfassungsschutzes berichtet, dass Jan W., der aus Chemnitz stammende Chef der sächsischen Blood & Honour-Sektion, den Auftrag habe, das untergetauchte Trio mit Waffen zu versorgen. »Sie planten vor ihrer Flucht nach Südafrika einen weiteren Überfall.« (Schäfer et al. 2012: 207) Das sächsische B&H-Mitglied Antje P. wollte Zschäpe für die Flucht ihren Pass zur Verfügung stellen. Um die Quelle zu schützen, zeigte sich der Brandenburger Verfassungsschutz nicht bereit, die Informationen an die Polizei zu übermitteln. Im Dezember 1998 überfiel das Trio einen EDEKA-Markt in Chemnitz. Zuvor hatten sich die Erkenntnisse des Thüringer Verfassungsschutzes gemehrt, dass sich das Trio im Raum Chemnitz aufhalte und dringend Geld benötige (vgl. ebd.: 193). Im Oktober 1999 gab es in Chemnitz zwei weitere Banküberfälle durch das Trio – sie erbeuteten dabei insgesamt knapp 70.000 DM. Einen Monat später teilte eine Quelle des Verfassungsschutzes mit, »die Drei benötigten kein Geld mehr, weil sie ›jobben‹ würden« (ebd.: 194). Der Verfassungsschutz wusste von der Geldnot der Terroristen, verweigerte jedoch wiederum der Polizei diese

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Informationen. Der für die Verfolgung der Banküberfälle zuständige Beamte sagte im Untersuchungsausschuss aus, dass die Polizei sehr bald von einer Überfallserie ausging. Es waren immer zwei Täter, die sehr brutal vorgingen, sie hatten Strickmützen auf, einer hielt seine Waffe stets links und sie kamen mit Fahrrädern. Hätten die Ermittler der Banküberfälle vom Verfassungsschutz die Mitteilung erhalten, dass das Trio in Chemnitz vermutet wurde und sich in Geldnöten befand, wäre eine Verbindung rasch herzustellen gewesen. Ebenfalls hätte der Verfassungsschutz sich für Banküberfälle interessieren müssen, da solche zur Finanzierung von Terrorismus ein übliches Mittel sind. Im September und Oktober 2000 gab es eine groß angelegte Observation in Chemnitz mit dem Ziel, das Trio zu stellen. In diese Observation war auch die Polizeidirektion Chemnitz eingebunden. Dabei wäre es sehr hilfreich gewesen, wenn wenigstens die Kollegen eines (!) Hauses miteinander gesprochen hätten. Und zwar jene, die in Chemnitz eine Serie von Banküberfällen durch zwei brutal agierende Täter aufzuklären suchten, und jene, die in Chemnitz nach zwei männlichen Bombenbastlern suchten.

E INE L ÄNDLICHE R EGION IN S ACHSEN 2011 haben alternative Jugendliche in einer mittelsächsischen Kleinstadt nahe Chemnitz ein Haus gemietet. Im Oktober findet parallel zum Stadtfest im Haus ein Konzert statt. Gegen Mitternacht tauchen zwei ehemalige Mitglieder der Kameradschaft Sturm 34 (ab dem gemeinsamen Auftreten dreier ehemaliger Sturm 34-Mitglieder verstoßen sie gegen ihre Bewährungsauflagen) vor dem Haus auf. Zwanzig vermummte Nazis greifen kurze Zeit später das Haus an. Die Jugendlichen im Haus verteidigen sich gegen den Angriff. Es gibt einen Verletzten aufseiten der Nazis. Die Rufnummer der Polizei war besetzt, als die Jugendlichen Hilfe rufen wollten. Niemand kommt den Jugendlichen zur Hilfe. Aus Sicht der Polizei hat ein Angriff von Nazis auf das Haus nicht stattgefunden. Für den Bürgermeister lag das Problem denn auch bei den »Linksextremisten« im Umfeld des Hauses. Ein Problem mit Nazis habe die Stadt nicht. Anfang November 2011 wird die 20-Jährige Vereinsvorsitzende des Hauses in einer Nachbargemeinde in ihrem Auto von bis zu zehn vermummten Nazis attackiert. Die junge Mutter gibt Gas und fährt davon. Am nächsten Tag konfisziert die Polizei zur Beweissicherung ihr Auto. Ein örtlicher NPD-Funktionär hat Anzeige gegen sie wegen Körperverletzung erstattet – er sei angefahren worden. Als sich einige Tage später – nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt – ein erstes Bild des NSU-Terrors abzeichnet, recherchiert Spiegel TV auch in Mittelsachsen zum alltäglichen Naziterror. Das Filmteam stellt die Szene mit der jungen Frau nach. Während die Kamera läuft, wird das Auto wie-

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der von Nazis attackiert – sie kann davonfahren. Am nächsten Tag geht sie zur Polizei. Es wurde wieder Anzeige gegen sie erstattet. Der Vorwurf lautet, dass sie auf eine Person zugerast sei und diese bedroht habe.3 Solche Gegenanzeigen durch Nazis sind ein ernsthaftes Problem, wie auch ein weiteres Beispiel aus dieser Region zeigt. Eine kleine Gruppe junger Leute plakatiert im April 2012 für eine Veranstaltung der Partei DIE LINKE. Ein Plakatierer – gewählter Stadtrat der Gemeinde – wird von einem stadtbekannten Nazi angegriffen, erhält mehrere Schläge, geht zu Boden und wird weiter traktiert. Ein Freund kommt zu Hilfe und gerät selbst ins Handgemenge. Sie können beide mit dem Auto flüchten und rufen die Polizei. Die Aktenlage der Polizei für den Prozess jedoch beschrieb etwas völlig anderes: Der Nazi sei aus dem Auto gestiegen und habe die Plakatierer beobachtet, diese hätten ihn daraufhin genötigt. Als der Nazi sich umgedreht habe und weggehen wollte, sei er mit dem Schlagring zweimal auf den Hinterkopf geschlagen worden. So die Erzählung des Nazis und die Bezeugung seiner mit anwesenden Freundin. Nur aus einem bizarren Umstand heraus wurde das Verfahren inzwischen eingestellt: Der Nazi hat seine (inzwischen) Ex-Freundin vergewaltigt, welche darauf hin ihre Falschaussage zurückgezogen hat.

D RESDEN , DER 13. F EBRUAR In Dresden etablierte sich in den 2000er Jahren mit bis zu 7.000 Teilnehmern einer der größten Naziaufmärsche Europas. Der 13. Februar – das Datum der Bombardierung Dresdens – wurde von den Nazis für ihren Geschichtsrevisionismus instrumentalisiert. Gleichzeitig waren die Aufmärsche eines der Prestigeobjekte der seit 2004 im Sächsischen Landtag vertretenen NPD. Der 13. Februar ist in Dresden sehr eng mit geschichtspolitischen Debatten verknüpft. Der Mythos der »unschuldigen Stadt« und der »alliierten Kulturbarbaren« wurde bereits im NS begründet und fand in der DDR Anknüpfungspunkte. Es war nun von den »angloamerikanischen« Bombenangriffen die Rede und der Tag wurde für antiamerikanische bzw. antiimperialistische Propaganda genutzt. Aus dieser Zeit stammt auch ein Gedenkareal auf dem Heidefriedhof, wo zur Erinnerung und Mahnung Stelen mit den Aufschriften »Auschwitz«, »Coventry« und »Dresden« nebeneinander stehen. Bis heute finden dort protokollarische Veranstaltungen zum 13. Februar statt (vgl. Autor_innenkollektiv 2013). 2010 gelang es durch eine Blockade des Neustädter Bahnhofes erstmals, den Naziaufmarsch vollständig zu blockieren. Bereits da gab es Strafverfahren 3 | Vgl. Spiegel TV: »Rechte Gewalt im Osten. Der alltägliche Nazi-Terror« vom 20.11.2011, www.spiegel.tv/filme/alltaeglicher-nazi-terror/, zuletzt aufgerufen am 3.5.2013.

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mit symbolischem Charakter – so wurden die Fraktionsvorsitzenden der LINKEN in Sachsen, Hessen und Thüringen der »Rädelsführerschaft« angeklagt. Im Jahr 2011 sollte eine Blockade durch die Polizei mit allen Mitteln verhindert werden. Die Idee der Polizei bestand darin, die Stadt an der Elbe zu teilen – der eine Teil für die Nazis, der andere für die GegendemonstrantInnen. Trotzdem gelang es mehreren Tausend Menschen, in das Umfeld der Naziveranstaltungen zu gelangen. Angesichts erfolgreicher Blockaden mussten die Nazis am Abend unverrichteter Dinge wieder abziehen. Am Spätabend stürmten über 100 Polizisten des SEK die örtlichen Büros der Partei DIE LINKE. Ihr Ziel war ein Kontaktbüro des Dresdner Bündnisses Nazifrei. Ohne Durchsuchungsbefehl wurden dabei auch eine Privatwohnung und ein Anwaltsbüro durchsucht. Inzwischen wurde diese Durchsuchung vom Gericht insgesamt als rechtswidrig eingestuft. Im Nachgang kam heraus, dass an diesem Tag in Dresden großflächig Mobilfunkdaten erhoben wurden. Betroffen waren über 320.000 Menschen, über eine Million Mobilfunkdaten wurden erfasst und ausgewertet (vgl. Kessler 2013: 146ff.). Auch in den Jahren 2012 und 2013 wurden die Naziaufmärsche erfolgreich blockiert. Die unterschiedlichen Protestformen respektieren sich dabei gegenseitig. Inzwischen entwickelt sich in Dresden sogar fast schon so etwas wie eine gesellschaftliche Akzeptanz von Blockaden.

D AS SÄCHSISCHE »H UFEISEN -M ODELL« Im Dezember 2010 fand im Sächsischen Landtag eine Debatte unter dem von der CDU/FDP-Koalition eingebrachten Titel »Demokratie in Sachsen verteidigen: Extremismus von Rechts und Links konsequent bekämpfen!« statt. Zwei Monate zuvor ließ die Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) über ihren Twitteraccount verkünden, »in Zukunft […] von Initiativen gegen Rechtsextremismus, Linksextremismus oder Islamismus [ein] Bekenntnis zu unserer Verfassung«4 zu verlangen. Im November 2010 verweigerte der sächsische Verein Alternatives Kultur- und Bildungszentrum (AkuBiZ) den Sächsischen Förderpreis für Demokratie – als Gewinner-Verein hätten sie für den Erhalt des mit 10.000 Euro dotierten Preises die sogenannte »Demokratieerklärung« unterschreiben müssen.5 In der Debatte zeigte sich die spezifisch sächsische Realität in ihrem vollen Umfang. Die CDU bezieht sich ideologisch auf die beiden Protagonisten der Extremismustheorie, Uwe Backes und Eckhard Jesse (beide mit einer Profes4 | Schröder, Kristina (2010): https://twitter.com/schroeder_k/status/26557722587, zuletzt aufgerufen am 3.5.2013. 5 | Vgl. MDR (2010): »Verein nimmt Sächsischen Demokratiepreis nicht an«, vom 10.11.2010, www.mdr.de/sachsen/artikel102792.html, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013.

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sur in Sachsen): Extremismus und Demokratie stehen sich laut Backes und Jesse gegenüber. Rechts und Links wird einerseits unterschieden, jedoch andererseits gleichgesetzt. Die Pole des Hufeisens ziehen sich in beide Richtungen gleichermaßen an, wie sie sich abstoßen: Links- und Rechtsextremisten bekämpfen einander. Einig sind sie in ihrem Ziel – der Beseitigung der Demokratie. Am Boden des Hufeisens, umgeben und bedrängt von den extremistischen Rändern, befindet sich die auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung basierende Mitte (vgl. Backes/Jesse 1989: 252). In der besagten Debatte macht die CDU (als Mitte) dann auch deutlich, dass »sowohl […] linksextreme als auch rechtsextreme Parteien hier in diesem Landtag sitzen.« (Bandmann 2010, vgl. auch die Beiträge von Falter sowie Fuhrmann/Hühnemann in diesem Band). Sachsen hat als erstes Bundesland eine an die Extremismusklausel des Bundes angelehnte Erklärung für Landesprogramme gegen »Rechtsextremismus« aufgelegt. Auch wenn bereits unabhängige Gutachten und das Dresdner Verwaltungsgericht die Extremismusklausel für verfassungswidrig befunden haben, hält Sachsen weiterhin daran fest.6 Dies war vor dem Auffliegen der Terrorzelle im November 2011. Auf die Frage eines Journalisten der Wochenzeitung Die ZEIT im Sommer 2012, was er in den letzen Monaten gelernt hätte, antwortete der frisch gebackene NSU-Ausschussvorsitzende Patrick Schreiber (CDU): »Dass Rechtsextremisten genauso schlimm sind wie die Linksextremen. Dass die sich, in der Gewaltbereitschaft, wirklich nicht viel nehmen.« (Zit.n. Machowecz 2012) Der Journalist Christian Bangel kommentiert in der ZEIT die ideologische Fundierung des Regierungshandelns folgendermaßen: »Die Union sollte sich den Begriff Extremismus verbieten. Natürlich muss verfolgt werden, wer Gewalt einsetzt. Doch wer nicht zwischen Rechts- und Linksextremisten unterscheidet, merkt auch nicht, wenn ganze Landstriche in die Hand von Neonazis geraten. Er verliert auch den Blick dafür, welche Form der Dissidenz sich in der Bevölkerung ausbreitet.« (Bangel 2011)

Und tatsächlich steht hier die Frage nach den Beweggründen der CDU/FDPRegierung, die Extremismustheorie als ideologische Basis zu nehmen, im Raum. Vor dem Hintergrund der erschreckend geringen selbstkritischen Reflexion und dem wenig entschlossenen Handeln gegen Nazis kann man nur mutmaßen: Es geht um die (Macht-)Stabilisierung der konservativen Mitte und/oder den Versuch einer Rechtfertigung, indem man die Ursachen bei den 6 | Antonio-Amadeu-Stiftung (2012): Extremismusklausel im Bund und in Sachsen rechtswidrig, www.amadeu-antonio-stiftung.de/aktuelles/extremismusklausel-im-bund-und-insachsen-rechtswidrig/ vom 26.2.2013.

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vertrauten Feindbildern verortet. Möglicherweise ist es aber auch nur eine Arroganz der Mitte – verbunden mit der Ignoranz gegenüber einer differenzierteren gesellschaftlichen Analyse.

F A ZIT Texte mit Kritik an der Extremismustheorie gibt es viele. Gleichzeitig offenbart sich darin die Ohnmacht, wirkungsmächtige alternative Begriffe in der gesellschaftlichen Debatte zu etablieren, um diesem Konstrukt der ›normalen‹ Mitte und der ›extremen‹ Ränder (mit den jeweils höchst beliebigen und instrumentellen Zuschreibungen) entfliehen zu können. Das Extremismuskonzept hat sich in politischen und in medialen genauso wie in alltäglichen Debatten verselbstständigt, dabei wird es erst seit wenigen Jahren diskutiert. 1988 wurde das Konzept erstmals enzyklopädisch kategorisiert (vgl. Oppenhäuser 2011: 39). Dafür hat es jedenfalls schon eine ganze Menge Unheil angerichtet. Die Medien berichten über Nazidemos von »Rechtsextremisten« – zivilgesellschaftlicher Protest dagegen erhält schnell die Zuschreibung »linksextrem«. Es werden »Extremismusbeauftragte« eingesetzt, die fortan einen intensiven kritischen Blick auf alle Veranstaltungsaktivitäten linker bzw. alternativer Jugendlicher richten, weil diese ja unter »Linksextremismus« fallen. 2010 lud der CDU-Landtagsabgeordnete Jan Hippold in Limbach-Oberfrohna zum Gründungstreffen des Bündnisses für Demokratie und gegen Extremismus und Gewalt ein. Ebenfalls mit eingeladen war der Stadtrat der NPD (vgl. Baumgärtner 2010). Als der Protest daran in der Öffentlichkeit zu groß wurde, schloss man den NPD-Vertreter aus – und mit ihm gemeinsam die Vertreter der LINKEN. »Hippold betonte, dass man NPD und Linkspartei nicht auf eine Stufe stelle. Aber auch die Linkspartei stehe unter Beobachtung des Verfassungsschutzes.« (epd/ND 2010). In dieser Gemengelage den Blick immer wieder auf das existierende Problem rassistischer, antisemitischer, menschenverachtender Ideologie und Gewalt zu lenken, ist schwierig. Klare Begriffe zur Beschreibung und Analyse von Nazis sind nötig. Solche, die sprachlich nicht in das Extremismus-Konzept abrutschen können.

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L ITER ATUR Autor_innenkollektiv »Dissonanz« (Hg.) (2013): Gedenken abschaffen. Kritik am Diskurs zur Bombardierung Dresdens 1945, Berlin: Verbrecherverlag. Backes, Uwe/Jesse, Eckhard (1989): Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Band II: Analyse, Köln: Verlag Wissenschaft und Politik. Bandmann, Volker (2010): »Rede zur Aktuellen Debatte: ›Demokratie in Sachsen verteidigen: Extremismus von Rechts und Links konsequent bekämpfen!‹«, in: Sächsischer Landtag, Plenarprotokoll, 14.12.2010. Bangel, Christian (2011): »Schafft das Wort Extremismus ab!«, in: ZEIT ONLINE vom 24.11.2011, www.zeit.de/politik/deutschland/2011-11/schroeder-ex tremismus-kommentar/komplettansicht, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013. Baumgärtner, Maik (2010): »Bürgerbündnis gegen Extremismus – mit der NPD«, in: NPD-Blog.info vom 10.3.2010, www.publikative.org/2010/03/10/sachsennpd-10/, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013. Deutsche Presseagentur (2013): »Innenministerium: 45 Neonazis in Sachsen haben einen Waffenschein«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 21.1.2013. Deutsche Presseagentur (2013a): »Prozess gegen Pfarrer Lothar König«, in: Sächsische Zeitung vom 11.2.2013, www.sz-online.de/nachrichten/prozess-ge gen-pfarrer-lothar-koenig-2506147.html, zuletzt aufgerufen am 26.02.2013. Deutsche Presseagentur (2013b): »Netzwerk gegen Neonazis muss ein Büro in Sachsen schließen«, in: Sächsische Zeitung vom 12.2.2013. Evangelischer Pressedienst (2010): »Bürgerbündnis schließt NPD und Linke aus«, in: Neues Deutschland vom 25.3.2010, S. 6. Hohnigfort, Bernhard (2011): »Drei Freunde aus Jena«, in: Frankfurter Rundschau vom 21.11.2011, www.fr-online.de/neonazi-terror/neonazis-drei-freun de-aus-jena,1477338,11174514.html, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013. Jüttner, Julia (2013): »Haftstrafe wegen Anti-Nazi-Demo. Linke Nummer«, in: Spiegel Online vom 17.1.2013, www.spiegel.de/panorama/justiz/urteil-nachanti-nazi-demo-in-dresden-haftstrafe-fuer-tim-h-a-878169.html, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013. Kessler, Florian (Hg.) (2013): Mutbürger. Die Kunst des neuen Demonstrierens, München: Hanser. König, Katharina (2013): »Hartes Urteil gegen Nazigegner: ein fatales gesellschaftspolitisches Signal«, in: ZEIT ONLINE vom 17.1.2013, http://blog.zeit. de/stoerungsmelder/2013/01/17/urteil-gegen-nazigegner-ein-fatales-gesell schaftspolitisches-signal_11085, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013. Lichdi, Johannes (2013): Persönliche Erklärung des Abgeordneten Johannes Lichdi vom 17.1.2013, www.johannes-lichdi.de/position+M5dd0a7718ac.html, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013.

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Machowecz, Martin (2012): »Waren da noch Fragen? Der Terror hat alte Ansichten erschüttert – nur Sachsens Regierung hat das nicht verstanden«, in: ZEIT ONLINE vom 5.7. 2012, www.zeit.de/2012/28/S-NSU-Landesregierung-Sachsen/komplettansicht, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013. Oppenhäuser, Holger (2011): »Das Extremismuskonzept und die Produktion von politischer Normalität«, in: Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hg.), Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells, Wiesbaden: VS, S. 36-57. Puppe, Matthias/Schulreich, Ekkehard (2013): »Hausdurchsuchung beim Deutschen Polizei Hilfswerk«, in: Leipziger Volkszeitung vom 27.2.2013, www. lvz-online.de/leipzig/polizeiticker/polizeiticker-mitteldeutschland/ hausdurchsuchung-beim-deutschen-polizei-hilfswerk-verbindung-zu-denreichsbuergern/r-polizeiticker-mitteldeutschland-a-176802.html, zuletzt aufgerufen am 27.2.2013. RAA Sachsen e.V. (2013): Urteil im Prozess zur gewaltsamen Tötung von André K. in Oschatz, Pressemitteilung vom 25.1.2013. Rest, Jonas (2013: »Stellvertretend schuldig«, in: Frankfurter Rundschau vom 19.1.2013, www.fr-online.de/politik/anti-nazi-demonstration-in-dresden-stellver tretend-schuldig,1472596,21499332.html, zuletzt aufgerufen am 29.6.2013. Röpke, Andrea (2012): »Die NSU und das Döner-Killer-Lied – was wusste Gigi?«, in: ZEIT ONLINE vom 19.4.2012, http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2012/04/19/ die-nsu-und-das-doner-killer-lied-was-wusste-gigi_8431, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013. Sächsischer Landtag: Drucksache 5/7977 vom 8.2.2012. Schäfer, Gerhard et al. (2012): Gutachten zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des »Zwickauer Trios« vom 14.5.2012, www.thueringen.de/imperia/md/content/tim/veranstaltungen/120515_schaefer_gutachten.pdf, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013. Schmidt, Wolf (2012): Das Terrortrio NSU und Blood and Honour. Blut-undEhre-Mörder aus Jena. In: die tageszeitung, 15.5.2012, www.taz.de/!93371, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013. Schurig, Jörg (2005): »Bombenholocaust von Dresden«, in: stern.de vom 21.1.2005, www.stern.de/politik/deutschland/npd-abgeordneter-bombenho locaust-von-dresden-535592.html, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013. Stange, Jenifer (2012): »Kein Mangel an Beweisen«, in: Jungle World Nr. 37 vom 13.9.2012, http://jungle-world.com/artikel/2012/37/46223.html, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013.

Äquidistanz Der Kampf gegen links im Kontext des Extremismusmodells Maximilian Fuhrmann und Martin Hünemann

Über mehr als ein Jahrzehnt konnte der Nationalsozialistische Untergrund (NSU), von Sicherheitsbehörden weitgehend unbehelligt, in Deutschland morden und leben. Drei Monate nachdem die Mordserie in ihrem Ausmaß und mit ihrem politischen Hintergrund allmählich ins Licht der Öffentlichkeit gerückt war, veröffentlichte die Konrad Adenauer Stiftung (KAS) einen Artikel mit dem Titel An der Schwelle zum Linksterrorismus?. Darin warnt der Autor den Linksextremismus nicht zu unterschätzen: »Die Bundesrepublik versteht sich als eine wehrhafte Demokratie. Auch wenn gegenwärtig alle Blicke auf die Verbrechen der Rechtsterroristen gerichtet sind, bedeutet das nicht, dass vom Linksextremismus gegenwärtig und künftig keine Gefahr mehr ausginge. […] Gerade in einer momentan sicherheitspolitisch höchst sensiblen Situation bedarf es erst recht des Blickes auch nach ›links‹, um zu verhindern, dass Entwicklungen erst wahrgenommen werden, wenn das Kind bereits in den berühmten Brunnen gefallen ist.« (Baron 2012: 58)

Es gilt demnach den Linksextremismus nicht trotz, sondern wegen des NSU in den Blick zu nehmen. Mit der heranzitierten wehrhaften Demokratie, die sich gleichermaßen gegen Extremismen von links und rechts verteidigen müsse, bewegt sich der Autor in dem Begriffshorizont und der Logik der Extremismustheorie. Diese Theorie bestimmt Extremismus als Gegensatz zum demokratischen Verfassungsstaat, den sie als »erfolgreichste Institutionalisierung politischer Freiheit in der Geschichte der Menschheit« (Backes 2010: 31) apostrophiert. Der Extremismus differenziert sich demzufolge danach, welchen Teil des Verfassungsstaats er abschaffen wolle (vgl. ebd. 22). Die Extremismustheorie leugnet zwar nicht, dass es Unterschiede zwischen links und rechts gebe, aber die Differenz Demokratie/Extremismus übersteige sie: »Daher ist es nicht angängig, unter dem Gesichtspunkt der Abwehrbereitschaft zwischen beiden [Rechts- und Linksextremismus] eine Differenzierung vorzunehmen.« (Jesse

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2013: 510) Die Begriffe von Demokratie und Extremismus sind in Hinblick auf Staatsschutz konzipiert und damit wird Demokratie auf den Staat in seiner existierenden Form reduziert.1 Als Gegensatz der Demokratie sind Links- und Rechtsextremismus gleich, Differenzierungen nach der Bedrohung für konkrete Menschen müssen hinter diese Dichotomie zurücktreten.2 Mit Übernahme der Regierungsgeschäfte von CDU/CSU und FDP 2009 kamen auf Bundesebene Akteur_innen in Gestaltungsfunktion, die mit verschiedenen Initiativen maßgeblich dazu beitrugen, diesen Ansatz aus seiner politikwissenschaftlichen Nische herauszuholen und ihm gesellschaftliche Relevanz zu verleihen. Dabei geht es vor allem darum, die Grenze des Demokratischen nach links zu schärfen, da die Grenze zum rechten Rand3 klar bestimmt scheint. Der vorliegende Beitrag soll diese Entwicklung nachzeichnen und dabei herausarbeiten, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung des Linksextremismus darauf abzielen, die unter Linksextremismus gefassten Phänomene klar vom demokratischen Spektrum abgrenzbar und pädagogisch bearbeitbar zu machen und existierende zivilgesellschaftliche Initiativen auf den Staatsschutzgedanken hin zu orientieren. Die Struktur dieses Beitrags berücksichtigt, dass diese Entwicklung nicht auf die Bundesregierung beschränkt ist. Die Institution, die schon lange vor den aktuellen Entwicklungen die Grenze nach links klar bestimmt hatte, ist der Verfassungsschutz. In seinen jährlich erscheinenden Berichten werden anhand vermeintlich objektiver Maßstäbe die Ränder des demokratischen Spektrums bestimmt und Gruppierungen hinsichtlich ihres Gefährdungspotenzials bewertet (1). Jenseits des Verfassungsschutzes ist ein überschaubarer Kreis von Wissenschaftler_innen damit beschäftigt, mittels Meinungsforschung das Phänomen greif bar zu machen und das Extremismusmodell empirisch zu belegen (2). Die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse sollen u.a. die Grundlage für pädagogische Interventionen bilden, wie sie durch die Initiative Demokratie stärken (IDS) gefördert werden. Dass es den Verantwortlichen in erster Linie um Staatsschutz und weniger um menschenverachtende

1 | Vgl. hierzu den Beitrag von Matthias Falter in diesem Band. 2 | In den letzten Jahren mehren sich die Veröffentlichungen, die sich kritisch in die Diskussion um (Links-)Extremismus einmischen: vgl. Feustel/Stange/Strohschneider 2012, Forum für kritische Rechtsextremismusforschung 2011, AK Extremismusbegriff 2012, Hafenegger et al. 2009, Neugebauer 2010. 3 | Die Grenze nach rechts ist mehr als ein sprachliches Konstrukt, das öffentlicher Verhandlung unterliegt. Durch die Paragraphen des Strafgesetzbuchs, die Symbole nationalsozialistischer Organisationen verbieten (§86a StGB) und Hetze gegen Minderheiten, Holocaustleugnung und die Verherrlichung des Nationalsozialismus unter Strafe stellen (§130 StGB), gibt es einen strafbewehrten Rahmen des demokratischen Feldes.

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Einstellungen geht, soll schließlich anhand der sogenannten Demokratieerklärung verdeutlicht werden (3).4

1. V ERFASSUNGSSCHUT Z – D IE G RENZSCHÜT ZER DES D EMOKR ATISCHEN Ob eine Gruppe demokratisch oder extremistisch ist, wird in den Verfassungsschutzberichten der Länder und des Bundes expliziert. Gesellschaftlich wird diese Grenzziehung weitgehend unkritisch anerkannt. Wird eine Gruppe in den Berichten erwähnt, gilt dies als Indiz, in vielen Fällen sogar als Beweis dafür, dass sie verfassungsfeindliche und somit antidemokratische Ziele verfolge. Dabei spielen die Kriterien, anhand derer der Verfassungsschutz Gruppierungen beobachtet, und etwaige Inkonsistenzen bei ihrer Anwendung nur in Ausnahmefällen eine Rolle.5 Der Maßstab, mit dem der Verfassungsschutz seine Beobachtungsobjekte beurteilen soll, ist laut seinem Auftrag die Freiheitlich demokratische Grundordnung (FdGO). Sie umfasst sieben Punkte, die das Bundesverfassungsgericht im Urteil über das Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP) 1952 bestimmte.6 Normiert wurde sie im Bundesverfassungsschutzgesetz. Demnach umfasst die FdGO a) die Volkssouveränität durch Gewaltenteilung, b) die Bindung von Exekutive und Judikative an geltendes Recht und der Legislative an die Verfassung, c) das Recht auf parlamentarische Opposition und weiter wörtlich »d) die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, e) die Unabhängigkeit der Gerichte, f) der Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft und g) die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte« (BMI 2012: 433f.). Die FdGO fixiert die formale staatliche Ordnung als Kernbestand der Verfassung und Rahmen, der als Teil eines Gerichtsurteils nicht aus einer öffentlichen parlamentarischen Debatte hervorgegangen ist und der Aushandlung entzogen bleibt (kritisch hierzu vgl. Liebscher 2012). Die Definitionsmacht über die Grenze des Demokratischen wurde dem Verfassungsschutz überantwortet und damit einer Institution, die sich in Mitteln und Zielen weitgehend einer Kontrolle durch die Öffentlichkeit entzieht. Als Teil der Exekutive sind die Verfassungsschutzbehörden an die Vorgaben der Innenministerien gebunden, denen sie auch zuvorderst berichtspflichtig sind (vgl. BMI 2012: 444). 4 | Wir danken Michael Höttemann für seine konstruktiven Anregungen zu diesem Artikel. 5 | Vgl. hierzu Heribert Prantl (2010), der die Beobachtung der Linkspartei entsprechend kritisiert. 6 | Zum historischen Kontext des Urteils vgl. Schulz 2011.

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Damit sind sie einem politischen Willen unterworfen, was die Inkonsistenzen erklärt, die im Vergleich eines Jahrgangs von Verfassungsschutzberichten zutage treten. Bspw. werden in Bayern alle Mitglieder der Partei DIE LINKE als Extremist_innen gezählt (vgl. STMI Bayern 2012: 208ff.) 7, während der Bundesbericht nur einzelne Gruppierungen als linksextrem einstuft (vgl. BMI 2012: 167ff.), wogegen die Berichte aus Sachsen-Anhalt und Brandenburg 8 die Partei nicht erwähnen (vgl. MI Sachsen-Anhalt 2012, MI Brandenburg 2012). Ob eine Beobachtung unter Voraussetzung der gesetzlichen Kriterien gerechtfertigt wäre, ist für Außenstehende ohnehin kaum nachzuvollziehen, weil nur in Ausnahmefällen die Beobachtung anhand der Kriterien begründet wird. Der Bundesbericht bezieht sich im Abschnitt zu Linksextremismus zwei Mal auf die freiheitlich demokratische Grundordnung, wenn es zum Aktionsfeld »Antifaschismus« in nahezu identischem Wortlaut heißt: »Die Aktivitäten richten sich nur vordergründig auf die Bekämpfung rechtsextremistischer Bestrebungen. Ziel ist vielmehr der Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung als ›kapitalistisches System‹, um die angeblich diesem Gesellschaftssystem immanenten Wurzeln des ›Faschismus‹ zu beseitigen.« (BMI 2012: 213)

Belegt wird diese Aussage mit einem Zitat: »Um diesen [rechtsradikalen] Bewegungen und ihren Ideologien die Grundlage zu entziehen, ist also nicht weniger erforderlich, als die derzeitigen Verhältnisse, das auf Tausch, Konkurrenz und Mehrwert basierende Gesellschaftssystem Kapitalismus zu überwinden.« (Ebd. 213)

Nebenbei sei hier bemerkt, dass die Gleichsetzung der FdGO mit dem Kapitalismus hier vom Verfassungsschutz vorgenommen wird, da keines der genannten Prinzipien (Tausch, Konkurrenz, Mehrwert) Schutzgut der FdGO sind. Von größerer Tragweite ist, dass die Verfassungsschutzberichte aufgrund fehlender Bezüge zu ihren rechtlichen Grundlagen, ihre Aufgabe, Teil der politischen Willensbildung9 zu sein, gänzlich verfehlen. Da diese Bezüge nicht

7 | Dafür wurde im Bericht 2010 die bundesweit aktive Rote Hilfe nicht erwähnt, die in nahezu allen anderen Berichten vorkommt. 8 | Zwar ist die Linkspartei in Brandenburg seit 2009 an der Regierung beteiligt, allerdings wurde die Partei bzw. ihre Vorgängerin die PDS schon unter Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) nicht beobachtet (vgl. z.B. MI Brandenburg 2006). 9 | So beschreibt der konservative Staatsrechtler Dietrich Murswiek die Funktion der Berichte in der »Integration des Volkes auf die Verfassungsgrundlagen sozusagen ex

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hergestellt werden, ist es nicht möglich kritisch nachzuvollziehen, warum eine Gruppierung vom Verfassungsschutz beobachtet wird.10 Obwohl der Verfassungsschutz seine eigenen Kriterien inkonsistent anwendet und Begründungen schuldig bleibt, gelten seine Berichte als seriöse Quellen. Die dort präsentierten Zahlen werden als Gradmesser für die Integrationsfähigkeit bzw. die Gefährdung der demokratischen Gesellschaft gewertet. Steigen die Zahlen der beobachteten Gruppierungen, ihrer Anhängerschaft oder der politisch motivierten Kriminalität (PMK),11 die über die Berichte verbreitet werden, steigt die wahrgenommene Bedrohung und repressive oder pädagogische Interventionen werden als notwendig erachtet.

2. M EINUNGSFORSCHUNG – D IE B EHAUP TUNG DES L INKSE X TREMISMUS Einflussreich sind der Verfassungsschutz und seine Berichte vor allem, weil sie in Bezug auf den Linksextremismus die einzige Quelle sind, die Zahlen zu dem Phänomen nennen. So kommt der Extremismustheoretiker Armin Pfahl-Traughber in einer Expertise für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) nicht umhin, den Phänomenbereich über Daten aus dem Verfassungsschutzbericht zu bestimmen (vgl. Pfahl-Traughber 2010: 6ff.). In den letzten 30 Jahren hat sich die Extremismusforschung in den Politikwissenschaften vor allem theoretisch ihrem Gegenstand genähert,12 fordert aber beständig eine intensivere Untersuchung der als Extremismus gefassten Phänomene. Dennoch zeichnet sich die Forschung zu Linksextremismus durch ihre Lückenhaftigkeit aus (vgl. Neu 2009: 5; Dovermann 2011: 10; BMFSFJ 2011a: 4). So konstatiert Pfahl-Traughber, »dass von einer entwickelten, seriösen und systematischen Linksextremismus-Forschung in einem allgemeinen Sinne wie hinsichtlich jugendspezifischer Bezüge kaum gesprochen werden kann« (Pfahl-Traughber 2010: 35). Im Zuge der verstärkten Thematisierung von Linksextremismus in den letzten Jahren gab es u.a. durch negativo: Den Bürgern wird vor Augen geführt, welche politischen Ziele und Verhaltensweisen mit der Verfassung unvereinbar sind« (Murswiek 2009: 60). 10 | Darüber hinaus lässt die Darstellung in den Verfassungsschutzberichten keine klare Unterscheidung zwischen Verdachtsfällen und »nachweislich extremistischen Gruppierungen« zu (vgl. Murswiek 2009). 11 | Zum Komplex der PMK-Statistik vgl. Feustel 2011. 12 | Zentrale Publikation dieses Ansatzes sind das Jahrbuch Extremismus und Demokratie, welches seit 1989 von Eckhard Jesse und Uwe Backes herausgegeben wird oder das Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung, herausgegeben von Armin Pfahl-Traughber.

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die Bundeszentrale für politische Bildung (vgl. Dovermann 2011) und die Konrad Adenauer Stiftung (vgl. van Hüllen 2012a, 2012b, Lang 2012, Neu 2009, 2012) Bestrebungen, diese Forschungslücken zu bearbeiten. In der jüngeren Einstellungsforschung sind zwei Beiträge der Konrad Adenauer Stiftung erschienen, die sich explizit auf die Extremismustheorie berufen.13 Ihr Vorgehen und ihre Ergebnisse stehen dabei eher für prinzipielle Schwächen der Extremismustheorie, als dass sie ihr eine empirische Fundierung böten. Der erste Beitrag basiert auf zwei Erhebungen aus den Jahren 1997 und 2007 und verfolgt das Ziel, eine allgemeine Extremismusskala zu entwickeln (vgl. Neu 2009). Als theoretische Grundlage dienen die von Uwe Backes bestimmten Strukturmerkmale extremistischen Denkens, bestehend aus Absolutheitsanspruch, Dogmatismus, Fanatismus/Aktivismus, Utopismus/kategorischer Utopieverzicht, Freund-Feind-Stereotypen und Verschwörungstheorien (vgl. Backes 1989).14 In der Auswertung wurden die Zustimmungswerte der Anhänger_innen von NPD, DVU und der Linkspartei zu diesen Merkmalen miteinander verglichen, um einen »Beitrag über die Messung von strukturellen Gemeinsamkeiten extremistischen Denkens« zu liefern (Neu 2009: 5). Anhänger_innen anderer Parteien wurden in der Kategorie »insgesamt« zusammengefasst. Die vor der Auswertung vorgenommene Setzung der Anhänger_innen der Parteien NPD, DVU und DIE LINKE als extremistisch ist fragwürdig. Zum einen sind selbst die Verfassungsschutzämter bei der Einordnung der Linkspartei uneins. Zum anderen müssen Anhänger_innen einer Partei nicht zwingend mit ihren Positionen übereinstimmen, wie auch Neu einräumt (vgl. ebd.: 41-43). Die vorausgesetzte strukturelle Einheitlichkeit der Extremist_innen in Abgrenzung zu den Demokrat_innen leitet auch die Darstellung der Ergebnisse. Hier wird zwischen Links- und Rechtsextremist_innen und der Kategorie »insgesamt« differenziert. Nur an einer Stelle wird der Zustimmungswert einer anderen Partei angegeben. Damit reproduziert die Studie den für die Extremismustheorie insgesamt kennzeichnenden Zirkelschluss, den Extre13 | Lediglich Michael Endinger verfolgt in seiner nach wie vor unveröffentlichten Studie LIREX Links- und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland einen ähnlichen Ansatz. Die vorab veröffentlichten Ergebnisse sprechen von bis zu 45 Prozent Zustimmung zu linksextremen Einstellungen (vgl. Forschungsprojekt LIREX 2010). 14 | Backes bezieht sich in der Herleitung dieser »Strukturmerkmale extremistischer Doktrinen« auf Hannah Arendt sowie Karl Dietrich Bracher und Hans-Joachim Lieber, die der Totalitarismustheorie nahe stehen. Als empirische Belege gelten ihm meist Zitate Lenins (vgl. Backes 1989: 289-311). Vor diesem Hintergrund ist die Setzung der aufgeführten Aspekte als strukturelle Merkmale extremistischen Denkens im Jahre 2009 äußerst fraglich, vor allem da der Marxismus-Leninismus im Linksextremismus zunehmend an Einfluss verliert (vgl. Pfahl-Traughber 2010: 12).

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mismus nur dort zu überprüfen, wo er schon im Vorfeld vermutet wird, nämlich an den extremen Rändern des politischen Spektrums (vgl. Zimmermann 2010). Trotz dieses Vorgehens stehen die Ergebnisse in Widerspruch zu den theoretischen Annahmen: Nur bei einem der zwölf Items ist der Unterschied zwischen den vermuteten Extremisten geringer als zu den Ergebnissen der Rubrik »insgesamt«. Populismus und Utopismus finden sogar höhere Zustimmung »insgesamt« als bei Anhänger_innen der rechtsextremen Parteien (vgl. Neu 2009: 65f.).15 Die Annahme, Anhänger_innen vermeintlich extremistischer Parteien wiesen deutlich höhere extremistische Einstellungen auf als die Gesamtbevölkerung, ist empirisch nicht haltbar. Die empirische Bestätigung der Extremismustheorie mithilfe der Strukturmerkmale extremistischen Denkens ist in dieser quantitativ angelegten Studie gescheitert. Drei Jahre später bilden die gleichen Annahmen die Grundlage einer qualitativen Studie, welche Linksextremismus-affine Jugendliche auf strukturell extremistische Einstellungen untersucht, um Erkenntnisse für die pädagogische Prävention zu gewinnen.16 Die 15 bis 24 Jahre alten Teilnehmer_innen wurden in einem schlichten Verfahren durch ihren Zustimmungsgrad zu vier Items als »Linksextremismus-affine Jugendliche« kategorisiert (vgl. Neu 2012: 18, 19 FN 12). Der Versuch, eine konsistente Gruppe am linken Rand des noch demokratischen Spektrums zu konstruieren, gerät durch die heterogenen und teilweise alles andere als »Linksextremismus-affinen« Ergebnissen der Interviews in Zweifel: Die Proband_innen teilen weitgehend bürgerliche Lebensziele (vgl. ebd.: 42), bejahen das Leistungsprinzip, finden soziale Gerechtigkeit wichtig, lehnen das politische System der DDR ab (vgl. ebd.: 30) und haben ein »durchgängig negativ[es]« Bild der USA (ebd.: 38), das sich v.a. in Verschwörungstheorien bezüglich des 11. Septembers äußert. Teilweise werden Rechtsextremisten mit autoritären Gewaltphantasien wie »Man sollte rigoros alle wegsperren. Die müssen verstümmelt und zusammengeschlagen werden wie die Opfer« abgelehnt (ebd.: 35). Stellenweise »kommen auch Argumente auf, die man eher dem rechtsextremen Spektrum zuordnen würde« (ebd.: 29), was sich vor allem in Ressentiments gegen Hartz-IV-Empfänger_innen (vgl. ebd.: 33), der Glorifizierung einer »ordentlichen DDR« (vgl. ebd.: 30) oder der gelegentlichen »Zustimmung zu den Thesen von Thilo Sarrazin« (ebd.: 39) zeigt. 15 | Grundlage der Interpretation sind die Zahlen der Anhänger_innen der jeweiligen Partei aus der Umfrage von 2007. 16 | Umgesetzt wurde die Studie in 35 Interviews vom Hamburger GMS Institut, dessen Geschäftsführer Helmut Jung ehemaliger Leiter der Abteilung Wahlforschung der KAS ist. Über die Rolle des Instituts als »Haus- und Hof Demoskop der CSU« vgl. Szymanski (2010).

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Aus den heterogenen Aussagen geht hervor, dass im Sample eine breite Palette teilweiser widersprüchlicher politischer Positionen vertreten ist, die durch eine rechts/links Einteilung nicht erklärt werden können. Folglich lassen sich die Ergebnisse dahin gehend interpretieren, dass »strukturell extremistisches Denken« oder menschenverachtende Einstellungen wie bspw. die aufgezeigten Ressentiments gegen Obdachlose oder Hartz-IV-Empfänger_innen, keine Probleme »Linksextremismus-affiner Jugendlicher«, sondern der gesamten Gesellschaft sind. Beide Studien scheitern, weil sie die normativen Setzungen der Extremismustheorie als empirisch gegeben voraussetzen. Dabei zeigt gerade die zweite Studie den Bedarf an pädagogischer Präventionsarbeit auf. Hilfestellung für diese Arbeit liefert die Studie jedoch nicht, da Einzelfallanalysen, die bspw. die autoritären Gewaltphantasien gegenüber Neonazis und die harsche Ablehnung von Obdachlosen erklären könnten, ausbleiben. Auch gibt die Studie keine Ansätze, wie verschwörungstheoretischem Denken zu begegnen wäre und bleibt somit weit hinter ihren eigenen Ansprüchen zurück.

3. F ÖRDERPROGR AMME – D IE S CHAFFUNG EINER ANTIE X TREMISTISCHEN Z IVILGESELLSCHAF T Seit im Jahr 2000 Gerhard Schröder den »Aufstand der Anständigen« ausrief, haben sich staatlich geförderte zivilgesellschaftliche Projekte gegen Rechtsextremismus zunehmend etabliert. Im Jahr 2009 leitete die schwarz-gelbe Bundesregierung einen Paradigmenwechsel in der staatlichen Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen ein: von einer Prävention gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus hin zu einer Stärkung des Anti-Extremismus.17 Die zentralen Elemente des 2009 eingeleiteten Schwenks waren die Einführung der Initiative Demokratie stärken (IDS), durch welche Bildungsprojekte gegen Linksextremismus und islamistischen Extremismus gefördert werden sollen, und der sogenannten Demokratieerklärung. Der politische Durchsetzungswille hinter dem Vorhaben zeigt sich schon in der Förderrichtlinie der IDS. Dort wird der notwendige finanzielle Eigenanteil für Antragssteller auf 10 Prozent festgelegt, wohingegen Träger, die Mittel gegen Rechtsextremismus aus dem Programm Toleranz fördern – Kompetenz stärken (TF-KS) beantragen, 50 Prozent Kofinanzierung aufbringen müssen. Außerdem ist die maximale Fördersumme für dreijährige Projekte auf 300.000 EURO begrenzt, während eine solche Grenze für Projekte der IDS fehlt, was 17 | Meist werden diese Veränderungen an die Person Kristina Schröder geknüpft. Jedoch geht schon aus dem Koalitionsvertrag hervor, dass zukünftig auch Präventionsprojekte gegen Linksextremismus gefördert werden sollen. (Vgl. CDU/CSU/FDP 2009: 71)

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dazu führt, dass Träger wie der Jugendhof Scheersberg oder die Europäische Jugendbildungsstätte Weimar ca. 800.000 EURO in der Programmlaufzeit abrufen werden (vgl. BMFSFJ 2011a: 14; BMFSFJ 2011b: 12; BMFSFJ 2013). Trotz dieser Erleichterungen hatte das Ministerium Schwierigkeiten, Träger für die Linksextremismusprävention zu finden. So setzen sich vier der ersten elf Projektträger mit der Konrad Adenauer Stiftung, der Jungen Union18 sowie den Verfassungsschutzämtern der damals noch schwarz-gelb regierten Bundesländer NRW und Niedersachsen aus regierungsnahen Organisationen zusammen (vgl. Deutscher Bundestag 2010). Träger aus dem Bereich der Rechtsextremismusprävention wurden gezielt angesprochen, Projekte gegen links zu beantragen. Hinsichtlich des inhaltlichen Vorgehens lassen sich die insgesamt 16 Projekte im Bereich Linksextremismus, von denen neun schon beendet sind, grob in zwei Blöcke unterteilen: Etwa die Hälfte der Projekte lehnt in ihrer Arbeit den Bezug auf den Begriff Linksextremismus ab (vgl. Fuhrmann/Johansson/Schau 2012: 36), während sich ein Großteil der restlichen Projekte in ihrer Arbeit stark an der Extremismustheorie orientiert. Letzteres ist nicht verwunderlich, da es sich entweder um Projekte von Verfassungsschutzämtern handelt oder sie von Vertreter_innen des Extremismusmodells geleitet oder wissenschaftlich beraten werden.19 Diese beiden Herangehensweisen verdeutlichen den Mangel an Ansätzen, die sich auf ein soziales Phänomen, welches sich als Linksextremismus bezeichnen lässt, beziehen, was aufgrund der Heterogenität der Phänomene, die unter dieser Kategorie gefasst werden, nicht verwundert. Allen als rechtsextrem deklarierten Gruppierungen sind Rassismus, Antisemitismus und Autoritarismus eigen. Aber was haben Tierrechtler_innen, Stalinist_innen, Antideutsche, antiimperialistische Autonome oder Anarchist_innen gemeinsam? Welche Denkstrukturen und Einstellungen teilen sie, gegen die präventiv vorgegangen werden kann? Für die Gruppierungen, die unter Linksextremismus zusammengefasst sind, lassen sich höchstens (wie auch immer geartete) egalitäre Positionen als Gemeinsamkeit ausmachen. Diese zum Gegenstand der Präventionsarbeit zu machen, wie in der hoch umstrittenen Lehrerhandreichung der Zeitbildstiftung geschehen (vgl. u.a. Schmidt 2012; Deutscher Bundestag 2011 a und b), liefe dem Anspruch des BMFSFJ entgegen, gesellschaftskritische Haltungen nicht delegitimieren zu wollen (vgl. Fuhrmann/ Johansson/Schau 2012: 36). Während die Handreichung keinen Zweifel an der Notwendigkeit der Linksextremismusprävention aufkommen lässt, sehen das violence prevention network, jugendschutz.net und das Institut für soziale Praxis 18 | V.a. die Junge Union geriet mit ihren geplanten »Sauffahrten« nach Berlin in die Kritik und brach das Projekt schon nach wenigen Wochen wieder ab (Vgl. Schmidt 2010). 19 | Die jeweiligen Protagonist_innen haben entweder bei Eckhard Jesse zu einschlägigen Themen promoviert oder publizieren zusammen mit ihm.

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in ihren Arbeitsbereichen keinen Bedarf an Prävention von Linksextremismus (vgl. Möbius/Wendland 2012; Landtag von Baden-Württemberg 2012: 6; Brunner 2012). Die wissenschaftliche Begleitung der IDS konstatierte in ihrem Zwischenbericht zusammenfassend, »dass überprüfenswert erscheint, inwieweit ›Linksextremismus‹ im sozialwissenschaftlichen und im pädagogischen Bereich (insbesondere mit Fokus auf die Jugendphase) einen geeigneten Oberbegriff darstellt« (Fuhrmann/Johansson/Schau 2012: 57). Das zweite Instrument aus dem BMFSFJ, die sogenannte Demokratieerklärung, wird seit dem 1.1.2011 jenen Trägern zur Unterschrift vorgelegt, die Gelder aus den Bundesprogrammen TF-KS oder IDS beantragen. Die Träger müssen sich darin zur FdGO bekennen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten (Literatur, Kontakte zu anderen Trägern, Referenzen, die jährlichen Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder etc.) dafür Sorge tragen, dass sich auch die ausgewählten Partner_innen, Referent_innen etc. zum Grundgesetz bekennen (vgl. BMFSFJ 2011c). Trotz großer Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Erklärung (vgl. Battis 2010; Georgii 2011) unterschrieben die meisten Initiativen und Vereine, da bis zu einer Entscheidung der Gerichte die Mittel zurückgehalten wurden, was für viele das Ende ihrer Arbeit bedeutet hätte. Trotz ihrer Unterschrift kritisierten viele Träger, dass sie sich unter Generalverdacht gestellt sähen und tagtäglicher Einsatz für Demokratie und Menschenrechte nicht wertgeschätzt, sondern in ein schlechtes Licht gerückt werde. Zudem wurde die Kompetenzerweiterung des Verfassungsschutzes, dessen willkürliche Berichte (s.o.) als Grundlage zur Auswahl der Projektpartner dienen sollen, kritisiert. 20 Am stärksten entfaltete sich der Protest am Aufruf zur Durchleuchtung potenzieller Partner_innen, den viele Träger als Aufruf zur Bespitzelung sehen (vgl. www.demokratiebrauchtuns.de). Nach einer Klage des Vereins AKuBiZ erklärte das Landgericht Dresden diesen Teil der Klausel für unrechtmäßig, da »z.B. unklar ist, wer etwa ›Partner‹ ist und welches Verhalten dem Verein konkret abverlangt wird« (Verwaltungsgericht Dresden 2012). Auch wenn die Berufungsverhandlung noch aussteht, hat das BMFSFJ am 14.9.2012 die Klausel leicht verändert (vgl. BMFSFJ 2012). Der Umstand, dass nicht etwa Vertriebenenverbände oder Kirchen, die nicht unerhebliche staatliche Zuschüsse bekommen, eine solche Erklärung unterschreiben müssen, ist aus dem Verhältnis der zivilgesellschaftlichen Initiativen zum Extremismusansatz erklärbar. Da die Projekte in erster Linie gegen Einstellungen wie Rassismus, Antisemitismus, Homophobie etc. arbeiten und deren Akzeptanz in allen Teilen der Gesellschaft u.a. staatlichen 20 | Eine zusätzliche Kompetenzerweiterung plante die schwarz-gelbe Bundesregierung im Steuerrecht. So sollte Vereinen die Gemeinnützigkeit aberkannt werden, sobald sie im Verfassungsschutzbericht genannt werden. Dieser Vorschlag wurde jedoch aufgrund rechtlicher Bedenken zurückgenommen (vgl. Wendt 2012).

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Institutionen kritisieren, ist ihre Distanz zur Extremismustheorie, die gesellschaftliche Probleme an die extremen Ränder des politischen Spektrums verortet, folgerichtig. Somit stellen die Projekte auch die gesellschaftliche Relevanz des Modells infrage und machen sich zur Zielscheibe einer Politik, der die Durchsetzung der Meinungshoheit in diesem Feld wichtiger scheint als die Stärkung zivilgesellschaftlicher Kräfte, die Basisarbeit zum Erhalt eines demokratischen und respektvollen Zusammenlebens leisten.

F A ZIT Im vorliegenden Beitrag konnte herausgearbeitet werden, dass ein auf den Staat als normativen Fluchtpunkt fixiertes Extremismuskonzept, wie es in Teilen der Politikwissenschaften vertreten wird und über Förderprogramme und Demokratieklausel in die Gesellschaft getragen werden soll, sich als ungeeignet herausstellt, gesellschaftliche Phänomene zu erfassen und Probleme zu analysieren oder zu bearbeiten. Bei den Verfassungsschutzbehörden, wo eine Grenze zwischen Demokrat_ innen und Extremist_innen etabliert ist, gibt es einen kruden Umgang mit den eigenen Kriterien. Die vorgenommene Abgrenzung stellt sich bei näherer Betrachtung als willkürlich heraus. Die am Extremismusmodell orientierte Meinungsforschung stellt das Extremismuskonzept durch ihre Ergebnisse infrage, da sie zeigt, dass Linksextremismus als analytische Kategorie nicht trägt. Dass ein Teil der geförderten Projekte für ihren Arbeitsbereich keinen Bedarf der Linksextremismusprävention ausmachen und ein weiterer Teil sich in seiner Arbeit nicht auf das Extremismusmodell bezieht, ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich. Dem Abweichen zivilgesellschaftlicher Initiativen von diesem Modell soll mit der Einführung der sogenannten Demokratieerklärung entgegengewirkt werden, die auf die Zurichtung der Projekte auf den Staatsschutzgedanken abzielt. Ungeachtet aller Widersprüchlichkeiten und den Ereignissen um den NSU beklagen Apologeten des Modells wie Eckhard Jesse und Gerhard Hirscher die »Missachtung des Äquidistanzgebotes im Umgang mit den Extremismen« als »eine Schwäche der politischen Kultur Deutschlands« (Hirscher/Jesse 2013: 12) und behaupten damit, dass dem Linksextremismus zu wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde. Indem diese Sichtweise von einer strukturellen Gleichheit von Rechts- und Linksextremismus ausgeht, die der Demokratie gleichermaßen feindselig gegenüberstehen, bagatellisiert sie mittelbar die mörderische Realität des Neonazismus.

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Äquidistanz

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Verfasstheit, nicht Verfassung Der Verfassungsschutz als Hegemonieapparat Moritz Assall

Seit der Mordserie des ›Nationalsozialistischen Untergrunds‹ (NSU) sind die Verfassungsschutzämter in einer Legitimationskrise. »Wer schützt die Verfassung vor dem Verfassungsschutz?«, fragte Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung (SZ vom 7.1.2012). »Was die deutsche Demokratie heute ist, wurde sie nicht wegen, sondern trotz des Verfassungsschutzes« konstatierten Claus Leggewie und Horst Meier in ihrem jüngst erschienenen Buch Nach dem Verfassungsschutz, bevor sie vernichtend verkündeten, der Nutzwert der »Veranstaltung namens Verfassungsschutz« tendiere »gegen null. Bestenfalls gibt es aus dieser Ecke keine Skandale zu vermelden«. Und selbst in der konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung kam Nils Minkmar zum vernichtenden Urteil: »Die großen, durch niemanden kontrollierten Apparate schaffen sich den Gegenstand, der ihre Existenz rechtfertigt, irgendwann selbst: als dürften Drogenfahnder auch mit Mohnsamen umgehen. Heute können wir nur ihr völliges Versagen feststellen, mindestens zehn Menschen könnten noch leben, wenn sie ihre Arbeit gemacht hätten. Die Dienste dienen nur sich selbst. Es ist darum richtig, sie aufzulösen.« (FAZ vom 20.11.2011)

Die Liste der Kritik ist lang: Die Verfassungsämter seien demokratiefeindlich, sie seien unkontrollierbar, griffen zu weit in Bürgerrechte ein, seien eine Gesinnungspolizei ohne Bezug zu konkreten Gefahren, ein Relikt aus dem Kalten Krieg, sie seien nicht effizient, schützten die Menschen nicht wirklich, hätten versagt und würden es absehbar wieder tun. Sehr viel davon ist richtig, und doch lohnt sich eine Kritik der Verfassungsschutzämter auch abseits von bürgerrechtlichen Bedenken und Zweifeln an der Effizienz. Es lohnt ein abstrakter Blick auf die Ämter aus hegemonietheoretischer Warte – nicht zuletzt, da benannte Liste der Kritik und die Legitimationskrise nach dem NSU (auch) Ausdruck hegemonialer Verschiebungen sein könnte.

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Was soll das nun bedeuten, ›hegemonietheoretische Warte‹? Im Anschluss an den italienischen Philosophen Antonio Gramsci bildete sich eine soziologische Schule, die Gesellschaft anhand der Kategorie ›Hegemonie‹ zu begreifen versucht. Alltagssprachlich wird unter dem Begriff der Hegemonie meist ›Vorherrschaft‹ verstanden. Gramscis Verständnis von Hegemonie ist hingegen viel näher an der ursprünglichen Bedeutung des Wortes im Alt-Griechischen, die durch die Begriffe ›voransein‹, ›führen‹ und ›vorangehen‹ umschrieben werden kann (vgl. Candeias 2007: 19). Die Kernidee ist, dass Führung in modernen kapitalistischen Gesellschaften primär durch die Erzeugung von Konsens und Einsicht in ein »System vergesellschafteter Wahrheiten« stattfindet (Gramsci Gefängnishefte [GH] 1, § 12). In anderen Worten: Politische Macht im modernen kapitalistischen Staat beruht nicht nur bzw. nicht in erster Linie auf der potenziellen oder tatsächlichen Ausübung von Zwang und Gewalt, etwa durch die Polizei, sondern auf der stetig produzierten und reproduzierten Zustimmung der Menschen zu einem System von Werten, Zeichen, Institutionen, Theorien und Praxen, das die Weltanschauung in einer Gesellschaft ausmacht (vgl. Opratko 2010: 8). Treffend befanden Ewick und Silbey (1995), eine solche ›Weltanschauung‹ sei dann hegemonial, wenn der Inhalt ihrer Erzählung zur Reproduktion bestehender Bedeutungs- und Machtstrukturen beiträgt, sie durch ihre kohärente Gestalt das Bewusstsein gleichsam kolonialisieren und für Alternativen verschließen und sie zudem die soziale Produktion ihrer Plausibilität verbergen und darum als Selbstverständlichkeit erscheinen. Es geht also um Narrative, die von den Menschen einer Gesellschaft als selbstverständlich angesehen und verinnerlicht werden, als ›gesunder Menschenverstand‹, als axiomatisches ›Ist-halt-so‹. Gramsci betonte immer wieder, dass die hegemoniale Weltanschauung eine eigene Materialität entfaltet. Sie ist »alles andere als Illusionen und Schein«, sondern »eine objektive und wirkende Realität« (GH 4: 475). Diese Realität versuchte Gramsci mit dem Begriff der »Hegemonieapparate« zu umschreiben (GH 6: 782). Solche Apparate sind bspw. die Schulen, Kirchen, Massenmedien, Verbände oder Gerichte. Hegemonieapparate wirken zirkulär: Sie sind einerseits Vereinheitlichung der Hegemonie zum Apparat, also einer institutionellen Verdichtung. Als solche sind sie Ausdruck der Hegemonie und ›spiegeln‹ die hegemoniale Weltanschauung. Andererseits sind die Hegemonieapparate Teil der Gesellschaft und insofern aktiv am Ringen um Hegemonie beteiligt: Sie organisieren den Konsens und halten für den Fall der Führungskrise im staatlichen Zwangsapparat Disziplinierungsmaßnahmen bereit (GH 12: 1502). Die Verfassungsschutzämter sind geradezu Paradebeispiele für Hegemonieapparate in diesem Sinne. Um dies zu verdeutlichen, lohnt ein Blick auf ihre Geschichte. Diese begann im Jahr 1950, als das »Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes« in Kraft trat. In der Debatte, die dem voran ging, war die Erinnerung

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an die Gestapo noch allgegenwärtig und der Abgeordnete der Kommunistischen Partei Deutschlands, Walter Fisch, warnte, es sei »klar, dass man eine neue Gestapo als verlängerten Arm der Besatzungsmächte und ihrer Militärpolizei« schaffen wolle (Leggewie/Meier 2012: 60). Auch wenn dieser Verdacht unbegründet war, war den Besatzungsmächten sehr daran gelegen, jegliche, auch nur sprachliche Nähe zur Gestapo zu vermeiden. Der Einfall zweier amerikanischer Geheimdienstoffiziere, den neuen Dienst euphemistisch ›Verfassungsschutz‹ zu nennen, stieß auf entsprechende Zustimmung. Um der Gefahr einer neuen geheimen Polizei zu begegnen, wurde seine Rolle von vornherein auf die Sammlung von Informationen begrenzt und ihm Zwangsbefugnisse verwehrt. Die Militärgouverneure der Westalliierten legten im April 1949 im sogenannten Polizeibrief das Trennungsgebot fest: »Der Bundesregierung wird es ebenfalls gestattet, eine Stelle zur Sammlung und Verbreitung von Auskünften über umstürzlerische, gegen die Bundesregierung gerichtete Tätigkeiten einzurichten. Diese Stelle soll keine Polizeibefugnis haben.« Dieses Trennungsgebot gilt bis heute, auch wenn es in der Praxis durch den Ausbau der verdeckten Methoden im polizeilichen Bereich sowie den diversen Zentren der Zusammenarbeit (etwa dem Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum [GTAZ], dem Gemeinsamen Analyse und Strategiezentrum Illegale Migration [GASIM] oder dem Gemeinsamen Abwehrzentrum Rechts [GAR]) allzu oft praktisch ausgehebelt wird. Nichtsdestotrotz ist im Gesetz über den Verfassungsschutz bislang festgeschrieben, dass diese Behörde keiner polizeilichen Dienststelle angegliedert werden darf. Den Verfassungsschutz begleiten also seit seiner Geburtsstunde in Deutschland massive Vorbehalte und ein grundlegendes Misstrauen aus unmittelbarer geschichtlicher Erfahrung. Gleichwohl wurde die Schaffung von Inlandsgeheimdiensten als unumgänglich angesehen. Die Grundlage hierzu war die Vorstellung der ›wehrhaften Demokratie‹, also einer Demokratie, die auch mit rigorosen Mitteln vor ›Feinden‹ geschützt werden soll. Insgeheim war man sich wohl nicht ganz sicher, ob nicht das deutsche Volk dieser Feind und diesbezüglich vor sich selbst zu schützen sei und eine Demokratie in diesem Land auf tönernen Füßen steht. Das mag der Grund sein, warum – wie Claus Leggewie und Horst Meier in ihrem Buch Nach dem Verfassungsschutz formulieren – man »den bloßen politischen Verdacht zur allgemeinen Geschäftsgrundlage des Verfassungsschutzes« machte (Leggewie/Meier 2012: 62). Die Betonung liegt hierbei auf ›politisch‹, denn Kernaufgabe war fortan die Beobachtung ›extremistischer Bestrebungen‹, was nicht zu verwechseln ist mit der Abwehr von Gefahren für die Menschen in Deutschland. Die Verfassungsschutzämter sind nicht angetreten, die Unversehrtheit von Menschen zu schützen. Die Verfassungsschutzämter sind angetreten, die Unversehrtheit der »Freiheitlich Demokratischen Grundordnung« (FdGO) zu schützen, so steht es im Gesetz. Es ist keineswegs so, dass diese Ämter anhand objektiver Gefahren für Menschen oder Verstößen

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gegen die Verfassung aktiv sind, sondern aufgrund vager Vermutungen ›extremistischer‹ Bestrebungen gegen die ›FdGO‹. Was ist diese ›FdGO‹? Man weiß es nicht, sie ist nirgendwo klar definiert, sondern vielmehr eine vage Umschreibung für den gesellschaftlichen status quo in Deutschland. In anderen Worten: Die Ämter werden tätig bei Bestrebungen gegen die hegemoniale Anschauung in Deutschland. Der Verfassungsschutz ist gar kein Verfassungsschutz. Der Verfassungsschutz ist ein Hegemonieschutz. Er schützt nicht die Verfassung dieser Gesellschaft, er schützt ihre Verfasstheit. Als Hegemonieapparat ›spiegelt‹ er die hegemoniale Weltanschauung, die zu schützen er bestimmt ist. Der Verfassungsschutz ist aber auch aktiv am Ringen um Hegemonie beteiligt, indem vermeintliche Gegner_innen dieser Anschauung als ›Extremist_innen‹ gelabelt und die Inhalte der Freiheitlich Demokratischen Grundordnung stets aufs Neue ausgearbeitet werden, wie Erhard Denninger bereits vor 35 Jahren in dem von ihm herausgegebenen Materialband Freiheitliche Demokratische Grundordnung resümiert: »Auch künftig wird nicht etwa die FdGO-Formel die Praxis steuern, sondern umgekehrt werden die aktuellen Bedürfnisse der politischen Ausgrenzungspraxis den Inhalt der juristischen Formel füllen« (Denninger 1977: 70). An dieser Erkenntnis hat sich bis heute nichts geändert. Wie funktioniert die Ausarbeitung einer Weltanschauung nun genau? Zunächst mit der Auseinandersetzung darüber, welche Phänomene vornehmlich unter dem Aspekt der Sicherheit zu betrachten sind und damit als Objekt von Kriminalpolitik zu gelten haben. Es geht, wie Bernd Belina formuliert, um das »Umdefinieren anderer Politiken in Kriminalpolitik, sei es nur diskursiv oder durch tatsächlichen Gebrauch des Strafrechts« (Belina 2006: 23). Die Auseinandersetzung um die Codierung sozialer Themen als Sicherheitsfrage (die sogenannte ›securisation‹) ist allgemein und nicht auf den Verfassungsschutz beschränkt, sie macht aber keineswegs vor diesem Halt. Beispielhaft sind hier die Verschiebungen bei den aktuellen Protesten gegen Gentrifizierung: Kaum, dass sie eine gewisse Wucht entfalten; kaum, dass sie auch die Frage nach Eigentum und Vergesellschaftung von Wohnraum stellen, schon sind sie Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzämter. Weder Protest gegen die Wohnsituation noch die Frage nach Vergesellschaftung von Aufenthaltsfläche sind aus juristischer Warte ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Sie sind aber ein Angriff auf den hegemonialen Konsens, nach dem Wohnraum (mit wenigen Einschränkungen) ganz ›normal‹ als Eigentum gekennzeichnet, entsprechend verteidigt, dem Zugriff fast aller Menschen entzogen und warenförmig gemacht wird. Treffend bemerken Leggewie und Meier: »Wo andernorts an den Rändern des politischen Spektrums die Auseinandersetzung um Meinungen und Parlamentssitze geführt, also demokratische Normalität praktiziert wird, beherrscht hierzulande die Vorfeldaufklärung eines ›Verfassungsschutzes‹ die Szene.« (Leggewie/Meier 2012a: 70)

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Weitere Zutat neben dem ebenso ausgreifenden wie alarmistischen Sicherheitsdiskurs ist die Extremismusdoktrin, nach der eine imaginierte gesellschaftliche ›Mitte‹ von extremistischen Kräften angegriffen werde. Diese Extremismusdoktrin kann gesellschaftlich als hegemonial gelten, in der sozialwissenschaftlichen Fachliteratur wurde sie oft und treffend als nichtssagend und unterkomplex kritisiert und insgesamt zu recht ad acta gelegt. Ein oft übersehener Aspekt dieser Extremismusdoktrin ist allerdings die personalisierende Wirkkraft. Bezogen auf Rechtsradikalismus stellte Freerk Huisken in seinem viel diskutierten und (teilweise zu recht) kritisierten Aufsatz Warum Demokraten (Neo-)Faschisten nicht kritisieren, sondern nur verbieten können treffend fest, wie die Auseinandersetzung mit Rassismus im Rahmen der Extremismusdoktrin meist verläuft. Begonnen wird mit der Identifizierung von Personen und subkulturellen Verhaltensformen. Das bringt mit sich, dass eine komplexe gesamtgesellschaftliche Struktur wie Rassismus auf die Akteure ›Rechtsextreme‹ reduziert wird, die dann wiederum primär als Sicherheitsproblematik angesehen werden. Dem folgend ist es nur logisch, dass soziale Umstände, die Rassismus befördern (wie etwa Armut, Arbeitslosigkeit, mangelnde Bildung etc.), primär als kriminogene Faktoren wahrgenommen werden. Andere Grundlagen für rechtsextreme Auffassungen, wie autoritäre Einstellungen, grassierender Alltagsrassismus oder das bestehende kategorisierende und hierarchisierende System sozialer Konkurrenz, mit der einhergehenden Bewertung von Menschen anhand ihrer Arbeitskraft, bleiben derweil in solcher Problemdarstellung außen vor, genauso wie bestehender struktureller und institutioneller Rassismus. »Demaskierung«, schreibt Huisken, »Stigmatisierung, Ausgrenzung, Kriminalisierung und Verbot seiner Organisation wegen ungehöriger, verbotener, verbrecherischer politischer Auffassungen. Das ist die herrschende Form der Auseinandersetzung mit dem Neofaschismus.« Während also der Verfassungsschutz mit Comics durch die Schulen tourt, um Kinder vor Erscheinungsformen und Auftreten der ›Extremisten‹ zu warnen, während die Landesparlamente Uniformverbote in ihre neuen Versammlungsgesetze schreiben, um Naziaufmärsche nicht ganz so martialisch aussehen zu lassen, werden antifaschistische Initiativen mit denselben Mitteln kriminalisiert oder ihnen soll – wie im Fall des vielfach prämierten Naziausstiegsprogramms Exit – der schon eh, seit jeher nur zaghaft tröpfelnde Geldhahn endgültig zugedreht werden. Der helle Wahnsinn. In der aktuellen Debatte um das Scheitern des ›Frühwarnsystems‹ Verfassungsschutz wird leicht übersehen, dass die Verfassungsschutzämter nicht nur beobachten und reagieren, sondern hegemoniale Anschauungen auch aktiv gestalten. Besonders in den letzten Jahren bemühten sich die Ämter um den weiteren Ausbau ihrer Bildungsarbeit im Rahmen des Konzepts des ›offenen Demokratieschutzes‹ (vgl. bspw. Grumke/Pfahl-Traughber 2010). Der Aktionsradius der Hegemonieapparate wird weit in die Zivilgesellschaft ausgedehnt,

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Mittel für Öffentlichkeitsarbeit werden aufgestockt, PR-Expert_innen engagiert, ›Bildungskonzepte‹ bis hin zu Schulprojekttagen durchgeführt und Informationsmaterial erstellt. Die diskursive Wirkmacht der Verfassungsschutzämter liegt dabei auch in der wechselseitigen Abhängigkeit von den Medien begründet. In seinem Text Bestellte Wahrheiten. Ganz exklusiv legte Thomas Leif kenntnisreich und anhand verschiedener Beispiele dar, wie der Informationshandel zwischen den Behördenquellen und den Medien im Bereich der Geheimdienste funktioniert. Unterm Strich bleibt dabei die bittere Erkenntnis: »Die beiden relevanten Nachrichtenmagazine, ganz wenige führende Tageszeitungen und die ›Geheimdienst-Experten‹ der öffentlich-rechtlichen Anstalten werden privilegiert und abgeschottet ›informiert‹. Im Gegenzug wird von ihnen erwartet, dass sie die platzierten Interpretationen, Warnungen und Analysen eins zu eins übernehmen und möglichst als breaking news agenturfähig vermarkten.«

Zu ähnlichen Erkenntnissen kam Ulli Jentsch in der Zeitschrift CILIP – Bürgerrechte und Polizei: »Selbst als ›Edelfedern‹ gepriesene AutorInnen lieferten im NSU-Komplex Artikel ab, deren Newsgehalt aus einer einzigen, ungeprüften Nachricht von einer nicht genannten Person aus ›Sicherheitskreisen‹ bestand: kein Konjunktiv, keine zweite Quelle, kein Hinweis auf die generelle Fragwürdigkeit der Behördenaussagen in diesem konkreten Fall. Da fällt es den Behörden wahrlich leicht, die Medien für die eigenen PR-Kampagnen einzuspannen. […] Auch der Umgang mit den zu Recht viel gescholtenen VS-Berichten ist oft problematisch. Während antifaschistische Initiativen monatelange Prozesse in Kauf nehmen, um falsche Anschuldigungen aus den VS-Berichten tilgen zu lassen, gelten ansonsten hier nieder geschriebene Wertungen als ›gerichtsfest‹. Es ist praktisch und einfach für die Rechtsvertretung und vor allem für die Medien: Bringe einen Auszug aus einem VS-Bericht und das Gericht ist schon beinahe überzeugt.« (Jentsch 2012)

Es ist, schrieb der Kriminologe Aldo Legnaro, nicht neu, dass Konzepte narrativ aufbereitet werden, um ihre Verständlichkeit und Wirkung zu entfalten. Neu sei allenfalls, »in welchem Ausmaß diese Narrationen um eine Konzeptualisierung von Sicherheit kreisen, was es außerordentlich schwer macht, Narrationen zu erdenken und – vor allem – öffentlichwirksam durchzusetzen, die geeignet wären, diese Hegemonialitäten zu entkräften« (Legnaro 2012: 49).

Die aktuellen Debatten um den Verfassungsschutz im Nachgang zu der Mordserie des NSU geben ihm recht. Es duellieren sich, etwas vereinfachend gesagt, zwei Narrative. Das eine Narrativ setzt ganz auf die bewährten Zutaten bis-

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heriger Sicherheitssemantik: Mehr Sicherheitsapparate, bessere Sicherheitsapparate, mehr Befugnisse, mehr Extremismusdoktrin, mehr Observationsmittel und -möglichkeiten der Ämter, Ausweitung des Geheimdienstlichen. Das andere Narrativ sieht im Scheitern des Verfassungsschutzes den endgültigen Beleg dafür, dass der Verfassungsschutz abzuschaffen sei. Diese Forderung ist nicht neu. Bereits 1990 veröffentlichte die Humanistische Union eine Broschüre mit dem Titel Weg mit dem Verfassungsschutz. Darin hieß es: »Der Verfassungsschutz hat durch seine vierzig jährige Tätigkeit nichts zum Schutz der Verfassung beigetragen. Er hat vielmehr durch seine systembedingten, unvermeidbaren Übergriffe und Skandale und durch die Erzeugung von demokratischer und freiheitlicher Unsicherheit die Verfassung geschädigt.« (Humanistische Union 1991: 5)

1993 reichte die Bundestagsabgeordnete Ingrid Köppe von Bündnis 90 mit ähnlicher Argumentation einen Antrag zur Auflösung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) und des Bundesnachrichtendienstes (BND) ein (BT-Drs. 12/4403). Die Anträge wurden ebenso sang- und klanglos abgebügelt wie drei Jahre später der von Manfred Such (Grüne) zur schrittweisen Auflösung des BND (BT-Drs. 13/4347). Auch heute ist äußerst unwahrscheinlich, dass letzteres Narrativ sich wird durchsetzen können. Zu stark sind die Architekt_innen der Sicherheitsarchitektur, zu laut die Apologet_innen und Claqeur_innen der Sicherheitsgesellschaft. Zu stark ist aber vor allem auch die hegemoniale Weltanschauung, deren Ausdruck die Verfassungsschutzämter sind; zu laut der »Schrei nach Sicherheit« (Legnaro 2012: 48), dem Politik wie Menschen ebenso gehorchen, wie sie ihn befördern.

L ITER ATUR Belina, Bernd (2006): Raum, Überwachung, Kontrolle. Vom staatlichen Zugriff auf städtische Bevölkerung, Münster: Westfälisches Dampf boot. Candeias, Mario (2007): »Gramscianische Konstellationen – Hegemonie und die Durchsetzung neuer Produktions- und Lebensweisen«, in: Andreas Merkens/Victor Rego Diaz (Hg.), Mit Gramsci arbeiten. Texte zur politischpraktischen Aneignung Antonio Gramscis, Hamburg: Argument, S. 15-32. Denninger, Erhard (1977): Freiheitliche Demokratische Grundordnung, Bd. I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ewick, Patricia/Silbey, Susan (1995): »Subversive Stories and Hegemonic Tales: Toward a Sociology of Narrative«, in: Law and Society Review 29, S. 197-226. Gramsci, Antonio (1991ff.): Gefängnishefte [GH]. Kritische Gesamtausgabe in 10 Bänden, Hamburg: Argument.

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Stolpersteine Oder: Schland, ein Rätsel in Bildern Marko Pfingsttag

Ein Haus, ein Brand –: aus Trümmern köchelt schwarzer Rauch, der bräunlich mieft. Die Beamten sind dereinst bis zu den Knöcheln in Beweisstücken vertieft. Zwei Männer: tot. Komplizin: flüchtig – Man fahndet tüchtig wie noch nie! Und es gelingt, was jahrelang misslang: Die Polizei sucht – huch! – und findet sie! Anstatt Verfassungsschützer (Fast ein jeder sei ein Rechter, raunt man.) steh’n Frau Z. zur Seite nunmehr vor Gericht als Rechtsverfechter: Herr Stahl, Frau Sturm, Herr Heer. Ein Schelm, wer dabei Böses denkt. (Ach ja: Wer Zeitung liest, ist bald erschüttert: Ein Haufen Akten ward versenkt oder an den Wolf verfüttert.) Unterdes, gedacht als Mahnmal gegen Fremdenhass und Dimpflsinn, pflanzt man – Was passt? Mal überlegen… – in Rostock eine Deutsche Eiche hin.

Spur’n von Blut und Feingefühl zieh’n sich durchs einig’ Vaterland, von der Etsch bis an den Belt. In all den Wirren, dem Gewühl, macht von Ex-SS bis Ku-Klux-Klansmann mancher noch, was ihm gefällt. Ich möchte toben, schimpfen, flüchten… Schrei’n! Und muss doch befürchten: ’s war schon immer so. So wird’s auch immer bleib’n.

Gegen-Aufklärung im Namen der Ordnung Grundlagen und Konsequenzen des Extremismuskonzepts Matthias Falter

Die Mordserie des NSU ist ein tragischer Beweis für das Scheitern der staatlichen Bekämpfung von Rechtsextremismus. Untersuchungen nach dem Auffliegen des ›Terror-Trios‹ machten für eine breitere Öffentlichkeit deutlich, worauf kritische BeobachterInnen schon vorher hingewiesen hatten: den mangelnden politischen Willen und das institutionelle Unvermögen staatlicher Behörden, gegen amtsbekannte gewalttätige Neonazis aktiv vorzugehen, die 1998 aufgrund eines Haftbefehls mehr oder weniger untertauchten. »Den Sicherheitsbehörden gelang es in den folgenden Jahren nicht, den Aufenthalt des Trios festzustellen oder ihm die Mordserie zuzuordnen.« (VS-Bericht 2011: 61). Der Verfassungsschutz als selbsterklärtes »Frühwarnsystem der Demokratie« (ebd.: 16) hat hierbei durch beständige Fehleinschätzungen sowohl auf institutioneller als auch auf individueller Ebene seine Dysfunktionalität bewiesen. Die behördliche und mediale Umdeutung der Morde zu Taten eines kriminellen ›ausländischen‹ Milieus sind Ausdruck eines strukturellen Rassismus, der zugleich Grundlage und Effekt staatlicher Ordnungspraxis ist. Zwischen der Benennung und diskursiven Verhandlung und der behördlichen Praxis besteht eine Wechselwirkung. Verständnis oder Unverständnis des Phänomens haben Einfluss auf das Handeln der einzelnen Akteure, ob individuell oder institutionell. Die Definition des Gegenstandes reflektiert dabei Normen, Werte und Wissen. Das Konzept ›Extremismus‹ liefert insbesondere, aber nicht nur, im Fall der Bundesrepublik Deutschland den begrifflichen Rahmen für Benennung und Verwaltung politischer Devianz.1 Im Zentrum dieses Aufsatzes steht daher die kritische Auseinandersetzung mit den Grundlagen und Konsequenzen des Extremismuskonzepts, insbesondere mit seinen theoretischen und praktischen Implikationen. Ich werde dabei sowohl auf das 1 | Vgl. dazu den Sammelband Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells, der vom Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (2011) herausgegeben wurde.

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damit verknüpfte formalistische Demokratieverständnis, das problematische Motiv der ›politischen Mitte‹ und auf die Tendenz des Verdrängens von Manifestationen rechtsextremer Ideologie aus dem Bereich des Sichtbaren eingehen. Die Kritik des Modells ›Extremismus‹ geht einher mit der Notwendigkeit einer kritischen Reflexion der verwendeten Begriffe und ihres heuristischen Werts. Deshalb werde ich abschließend für einen kritischen Rechtsextremismusbegriff plädieren, der ohne den Bezugsrahmen ›Extremismus‹ auskommt.

D AS E X TREMISMUSKONZEP T. E INE KRITISCHE S KIZ ZE Der Begriff des Extremismus benennt Formen und Manifestationen politischer Devianz, die sich, so seine VerteidigerInnen, gegen zentrale Normen und Institutionen des ›demokratischen Verfassungsstaates‹ richten. Letzterer ist Dreh- und Angelpunkt der Bestimmung von Akteuren und Organisationen als ›extremistisch‹. Hieraus ergeben sich mehrere Kritikpunkte. Erstens weist der Begriff des ›demokratischen Rechtsstaats‹ als signifikantes Anderes des Extremismus einen sehr eindimensionalen und formalistischen Begriff von Demokratie auf. Dieser institutionenzentrierte Blick auf Demokratie verdeckt den Blick auf Fragen der politischen Partizipation und real existierende Strukturen der Exklusion. Der in sich selbst mehrdimensionale Begriff der Demokratie wird damit gewissermaßen gleichzeitig entpolitisiert und fetischisiert, wodurch eine Kritik von Tendenzen der Entdemokratisierung ebenso wie der Herrschaftsmomente von Demokratie selbst verunmöglicht wird. Die damit verbundene »Fixierung des Kontingenten« (Falter 2011: 91) ist verbunden mit einer Entleerung des Begriffs, die sich auch in dessen tendenzieller Abtrennung von der gesellschaftlichen Realität bemerkbar macht. Damit ist zweitens eine wissenschaftstheoretische Problematik verbunden. Der Forschungsgegenstand ›Extremismus‹ wird nicht empirisch in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit gebildet, sondern per definitionem konstruiert (Zimmermann 2010: 268). Extremismus ist extremistisch, weil er nicht demokratisch ist, so die »theoretische Tautologie« (Rensmann 2004: 103), der Zirkelschluss der Extremismusforschung, die sich damit »innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten und logisch Unerlaubten« (Marx 1875: 29) befindet. Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive ist dabei zusätzlich zu beachten, dass ›Extremismus‹ vor allem ein »Arbeitsbegriff für Verwaltungspraxis« ist, »der wegen seiner Eindimensionalität und seiner Fixierung auf den demokratischen Rechtsstaat der Komplexität der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit kaum gerecht wird« (Neugebauer 2000: 13). Drittens impliziert das Konzept des Extremismus die Existenz einer unproblematischen ›politischen Mitte‹ als Repräsentantin der zu legitimierenden

Gegen-Aufklärung im Namen der Ordnung

Normalität. Diese ›demokratische Mitte‹ wird als Antithese zum politischen Extremismus aufgebaut. Buchstäblich an den ›Rändern‹ der mittels Normen und Institutionen definierten politischen Gemeinschaft werden extremistische Ideologien und Tendenzen verortet, welche eben jene normativen Grundlagen ablehnen und, je nach Art und Weise, diskursiv in ›weicher‹ oder gewaltförmig in ›harter‹ Form bekämpfen. Diese Hypostasierung der ›politischen Mitte‹ zum Maßstab für jegliche Form der Devianz ist wiederum verknüpft mit dem statischen und formalistischen Demokratieverständnis. Damit einher geht die Ausblendung antidemokratischer Tendenzen im Mainstream der Gesellschaft, d.h. in eben jener viel beschworenen ›Mitte‹.2 Die Verbreitung von Ideologien der Ungleichheit wie etwa Antisemitismus, Rassismus und Sexismus im Rahmen dessen, was als gesellschaftliche ›Normalität‹ bezeichnet wird, wird dabei ebenso verdrängt wie die Frage nach den Konstitutionsbedingungen. Viertens abstrahiert das Konzept des Extremismus von den jeweiligen Inhalten der als »extremistisch« charakterisierten Phänomene. Die zugrunde liegende Ordnungslogik beurteilt politische Akteure und Organisationen aufgrund ihrer jeweiligen Position zur ›Mitte‹ und nicht aufgrund ihrer politischen Inhalte. Im Zentrum der Extremismustheorie steht die Gegenüberstellung von ›Rechtsextremismus‹ und ›Linksextremismus‹ als sich strukturell angleichende extremistische Ausrichtungen am jeweiligen Ende des politischen Spektrums. Die Abstraktion von den jeweiligen politischen Programmatiken führt zu einer Gleichsetzung unterschiedlicher und widersprüchlicher Phänomene. Die gegen einen Naziaufmarsch protestierende Antifaschistin wird dabei als ebenso ›extremistisch‹ amtsbehandelt wie ein Teilnehmer der rechtsextremen Veranstaltung. Diese Gleichsetzung ist auch eine Strategie der Verharmlosung rechtsextremer Tendenzen und manchmal auch der Versuch rechtsextreme Diskursfragmente im politischen Diskurs als demokratisch legitim zu positionieren.3 Das Bild vom »Narrensaum«, das etwa von Martin Hohmann oder vom österreichischen FPÖ-Ideologen Andreas Mölzer bemüht wurde,4 dient dabei sowohl der strategischen Abgrenzung von Ganz-Rechts-Außen als auch gleichzeitig der Verharmlosung rechtsextremer Diskursfragmente. 2 | Zur Frage der Verbreitung rechtsextremer Einstellungen in der ›Mitte‹ sei an dieser Stelle auf die neueste Auflage der ›Mitte-Studien‹ im Rahmen der Friedrich-Ebert-Stiftung verwiesen (Decker et al. 2012). 3 | Zur politischen Schlagseite zahlreicher Proponenten der Extremismustheorie siehe Kopke/Rensmann 2000 und Falter 2011. 4 | Der Begriff des »Narrensaums« zeichnet das Bild eines zwar nicht gesellschaftlich akzeptierten und mehrheitsfähigen, aber gleichzeitig auch nicht ernst zu nehmenden, ja eben närrischen ›äußeren Randes‹ einer politisch-ideologischen Gruppe. Durch diese Abgrenzung und gleichzeitige Verharmlosung wird ex negativo auch die eigene politische Position legitimiert.

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I NNEN UND A USSEN Die Attraktivität des Extremismuskonzepts beruht auf der Konstruktion einer Dichotomie zwischen ›demokratischer Mitte‹ und dem ›undemokratischen‹ und ›extremistischen‹ Außen. Damit werden unterschiedliche politische Positionen nicht nur gewissermaßen topographisch geordnet und legitimiert oder delegitimiert, sondern es wird vor allem eine Grenze zwischen dem Innen und dem Außen, zwischen dem ›normalen‹ Eigenen und dem ›a-normalen‹ Anderen gezogen. Der Extremismusansatz erlaubt so auch die Verdrängung des eigenen Anteiles an antidemokratischen Einstellungen. ›Rechts‹- und ›Linksextremismus‹ bilden als zwei sich annähernde Enden des beliebten Hufeisenmodells die zentralen, aber nicht ausschließlichen Forschungsfelder des Extremismuskonzeptes als auch Ziele staatlicher Verwaltung. TierrechtlerInnen können sich ebenso darunter finden wie den bürgerlichen Geschlechtervertrag gefährdende ›Radikalfeministinnen‹ (vgl. Jesse 2004: 9). Die auch staatlich-offizielle Kategorie des ›Ausländerextremismus‹ weist nicht nur auf institutionellen Rassismus hin, sondern ist vor allem weiterer Ausdruck der Strategie, all das, was als ›extremistisch‹ betrachtet wird, aus dem politischen Gemeinschaftszusammenhang auszuschließen, zu externalisieren und in diesem Fall auch eine Bedrohung von ›außen‹ diskursiv und verwaltungspraktisch zu reproduzieren. Das Abdrängen des allzu bekannten ›Nicht-Normalen‹ und des ›Anderen‹ wird an der Geschichte des NSU-Terrors und der öffentlichen Rezeption besonders deutlich. Der sowohl institutionell als auch individuell hegemoniale Grundverdacht gegen ›Nichtdeutsche‹ und die damit verbundene Imagination eines ausländischen kriminellen Netzwerkes machten nicht nur eine ernst zu nehmende und damit schließlich erfolgreiche Ermittlungsarbeit unmöglich, sondern projizierten den Verdacht sofort auf die Opfer des rassistischen Terrors und deren Angehörigen. Diese behördliche Praxis der Stigmatisierung wurde begleitet von einem medialen Diskurs, der rassistische Stereotype zur Grundlage und Methode seiner Berichterstattung machte. Im Fall von Rechtsextremismus resultiert die Verdrängung oftmals in einer Entpolitisierung und Psychologisierung der Taten. Diese Strategie war insbesondere in der medialen Rezeption der Anschläge von Norwegen 2011 zu beobachten. Nachdem sich der spontane Verdacht eines islamistischen Terrorkomplotts nicht bestätigt hatte, wurden die ideologischen Positionen des Attentäters Breivik rasch vom Mainstream-Rassismus isoliert und pathologisiert. Auch die Hervorhebung von Breivik als rechtsextremen Einzeltäter diente hauptsächlich dem Ausschluss aus der ›Mitte der Gesellschaft‹ (vgl. Hanisch 2011). Die Strategie der Entpolitisierung wird vor allem auch in Bezug auf rechtsextreme Handlungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit dem Verweis auf ihr Alter betrieben (vgl. Dierbach 2010). Mit dieser Deu-

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tungsstrategie werden gleichzeitig die Opfer rechtsextremer Gewalt aus dem Blickfeld gedrängt (vgl. ebd.: 58). Das Extremismuskonzept selbst ist nicht der Grund für alle vorher angeführten problematischen Deutungen von Rechtsextremismus, aber seine theoretischen Grundlagen und die politischen Implikationen sorgen nicht nur, wie das Beispiel des NSU-Terrors zeigt, für faktische Gegen-Aufklärung im Namen der Ordnung, sondern bieten auch Anknüpfungspunkte für Diskursstrategien der Entlastung und Relativierung. Das Modell des Extremismus verstärkt, stützt und transponiert diese relativierenden und auch im kriminalistischen Sinne buchstäblich gegen-aufklärerischen Diskurse in staatliche Verwaltungspraxis – der Ordnung halber.5

F ÜR EINEN KRITISCHEN R ECHTSE X TREMISMUSBEGRIFF Sowohl die politische als auch wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Ideologien und Politiken der Ungleichheit erfordert die kritische Reflexion der verwendeten Begriffe. Am Begriff des Rechtsextremismus, den ich selbst hier im Artikel verwende, wird Kritik geübt, weil er eng mit dem Konzept ›Extremismus‹ verbunden sei. Dies ist durchaus schlüssig, allerdings spricht nicht nur angesichts der Verbreitung des Begriffs aus pragmatischen Gründen einiges für die Verwendung eines kritischen Rechtsextremismusbegriffs, wie dies auch schon von vielen SozialwissenschaftlerInnen gemacht wird. Dieser kritische Begriff soll durch den Verweis auf das Extreme nicht eine topographische Position am Rande der als ›normal‹ konstruierten Mehrheitsgesellschaft bezeichnen, sondern als eine Steigerung allgemein anerkannter und reproduzierter Prinzipien wie Nationalität, Leistung, Konkurrenz, Geschlecht und verbreiteter Einstellungen wie Autoritarismus und Konservativismus ideologisch verdichtet und gewissermaßen bis ans Äußerste verstanden werden. Das Konzept der Nationalität bspw. wird im rechtsextremen Denken damit von einer sozialen Positionsbestimmung des Individuums zu einem zentralen Prinzip der ideologischen Deutung der sozialen Umwelt überhöht. Strukturelle Ungleichheit wird somit zur expliziten Anleitung von Politiken der Ungleichheit. Es geht sowohl aus den eben skizzierten als auch aus diskursstrategischen Gründen weniger um ein Ersetzen des Begriffs selbst, als um das Arbeiten mit einem kritischen Begriff von Rechtsextremismus. Dies kann deswegen auch wichtig sein, weil Begriffe wie Neonazismus oder Neofaschismus auf eine relativ direkte Kontinuität mit historischen Ideologien und Gesellschaftskonzep5 | Vgl. zur staatlichen Konstruktion des Linksextremismus auch den Beitrag von Fuhrmann und Hünemann in diesem Band.

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ten verweisen.6 Phänomene wie etwa die Neue Rechte, Parteien wie die österreichische FPÖ oder auch das ideologische Konglomerat eines Anders B. Breivik,7 die sich aus tatsächlich inhaltlichen und/oder strategischen Gründen von Nationalsozialismus und Faschismus distanzieren, können mit dem Begriff des Rechtsextremismus besser erfasst werden. Die ist nicht zuletzt notwendig in postnationalsozialistischen Gesellschaften, wo, wie etwa in Österreich, die Verbreitung neonazistischer Ideologie strafrechtlich verfolgt wird, während der Begriff des Rechtsextremismus jene Grauzone zwischen Strafrecht und gesellschaftlicher Akzeptanz bzw. politischer Repräsentation bezeichnet. 8 Notwendig für die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus ist eine grundlegende Kritik der politischen Ideologie und damit verbunden jener ideologischen Verbindungen mit der vom Extremismuskonzept normalisierten ›politischen Mitte‹ und der Konstitutionsbedingungen jener Ideologien der Ungleichheit. Dazu braucht es den politischen Willen zu einer nachhaltigen Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Neonazismus, Antisemitismus und Rassismus. Das ordnungslogische Konzept ›Extremismus‹ leistet dazu keinen Beitrag.

6 | Ideologische Kontinuitäten sind zweifellos oftmals vorhanden und müssen deutlich gemacht werden. Es geht jedoch darum, Transformationen und etwaige inhaltliche Brüche auch begrifflich zu erfassen. 7 | Trotz zahlreicher Überschneidungen begründete Breivik die Anschläge in Norwegen nicht mit nationalsozialistischen Ideen, sondern mit einem eklektischen Ideologiekomplex aus vor allem antimuslimischem Rassismus, Antimarxismus, Antifeminismus, Antisemitismus und apokalyptischen Ideen. 8 | Diese begriffliche Sensibilität ist sowohl im wissenschaftlichen als auch im breiteren öffentlich-medialen Diskurs erforderlich und bedeutet gleichzeitig politische Akteure und ihre ideologischen Standpunkte ernst zu nehmen. So war in der medialen Berichterstattung über den NSU-Terror zu bemerken, dass trotz der expliziten positiven Bezugnahme auf den Nationalsozialismus oftmals vermieden wurde von Neonazis zu sprechen.

Gegen-Aufklärung im Namen der Ordnung

L ITER ATUR Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (2012): Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, Bonn: Dietz. Dierbach, Stefan (2010): Jung – rechts – unpolitisch? Die Ausblendung des Politischen im Diskurs über Rechte Gewalt, Bielefeld: transcript. Falter, Matthias (2011): »Critical Thinking Beyond Hufeisen. ›Extremismus‹ und seine politische Funktionalität«, in: Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hg.), Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells, Wiesbaden: VS, S. 85-101. Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hg.) (2011): Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells, Wiesbaden: VS. Hanisch, Astrid (2011): ›Wirr nicht wir!‹ Die Extremismustheorie am Beispiel der Exklusion Anders B. Breiviks aus der ›Mitte der Gesellschaft‹, in: Regina Wamper/Ekaterina Jadtschenko/Marc Jacobsen (Hg.), »Das hat doch nichts mit uns zu tun!« Die Anschläge in Norwegen in deutschsprachigen Medien, Münster: Unrast, S. 33-39. Jesse, Eckhard (2004): »Formen des politischen Extremismus«, in: Bundesministerium des Innern (Hg.), Extremismus in Deutschland. Erscheinungsformen und aktuelle Bestandsaufnahmen, Berlin, S. 7-24. Kopke, Christoph/Rensmann, Lars (2000): »Die Extremismus-Formel. Zur politischen Karriere einer wissenschaftlichen Ideologie«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 45, S. 1451-1462. Marx, Karl (1875): »Kritik des Gothaer Programms«, in: Marx-Engels Werke, Band 19, Berlin: Dietz, 4. Auflage 1973, S. 13-32. Neugebauer, Gero (2000): »Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus: Einige Anmerkungen zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen«, in: Wilfried Schubarth/Richard Stöss (Hg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Opladen: Leske&Budrich, S. 13-37. Rensmann, Lars (2004): Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik, Wiesbaden: VS. Bundesministerium des Inneren (Hg.) (2011): VS-Bericht 2011: Verfassungsschutzbericht, www.verfassungsschutz.de/de/download-manager/_vsbericht2011.pdf, zuletzt aufgerufen am 24.4.2012. Zimmermann, Jens (2010): »Wissenschaftstheoretische Elemente einer Kritik an der Extremismusforschung und Kritische Diskursanalyse als alternative Perspektive für eine kritische Rechtsextremismusforschung«, in: Regina Wamper/Helmut Kellershohn/Martin Dietzsch (Hg.), Rechte Diskurspiraterien. Strategien der Aneignung linker Codes, Symbole und Aktionsformen, Münster: Unrast, S. 264-284.

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»Ich kann nur hoffen, dass die Verantwortlichen wenigstens jetzt die richtigen Schlüsse ziehen.« Ein Interview mit Herta Däubler-Gmelin Jasmin Siri

Dr. Herta Däubler-Gmelin, Rechtsanwältin, ist seit Jahrzehnten Menschenrechtsaktivistin; sie war von 1972-2009 Mitglied des Deutschen Bundestags und von 1998-2002 Bundesministerin der Justiz. Seit Anfang der 1990er Jahre lehrt sie an der Freien Universität Berlin und anderen Universitäten Rechts- und Politikwissenschaften. Zu den Schwerpunkten ihrer politischen Arbeit gehört seit langem die Bekämpfung von Rassismus, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Als Justizministerin initiierte sie u.a. die Schaffung der EU-Grundrechtecharta und den Beitritt Deutschlands zum ständigen Internationalen Strafgerichtshof. Sie setzte die Gesetze gegen häusliche Gewalt und für die Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften durch – häufig gegen erhebliche Widerstände. Heute berät sie NGOs, Parlamente und junge Demokratien in Menschenrechts- und Verfassungsfragen; sie streitet für eine Ausweitung der Mitbestimmung und der Arbeitnehmerrechte und ist – natürlich – eine passionierte Großmutter. Frau Däubler-Gmelin ist Schirmherrin u.a. der Deutschen Hospizbewegung (DHPV), und Mitglied in zahlreichen Stiftungen und Beiräten, die sich um Demokratie- und Menschenrechtsfragen kümmern. Dieses Interview führten die Herausgeberinnen mit ihr via E-Mail am 7.6.2013. Jasmin Siri: Liebe Frau Däubler-Gmelin, Sie sind seit vielen Jahren persönlich aber auch als Abgeordnete und Ministerin gegen rechts aktiv gewesen. Wissen Sie noch, wie Sie zum ersten Mal vom NSU gehört haben und was Sie damals gedacht haben? Herta Däubler-Gmelin: In der Tat habe ich bereits in den 1960er Jahren als Jura-Studentin und dann als Kreisvorsitzende der SPD Veranstaltungen und Aktionen gegen die Rechtsextremisten initiiert und durchgeführt. Man vergisst heute bisweilen, dass Alt- und Neonazis, Wehrsportgruppen und andere

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Rechtsextremisten in Deutschland leider schon immer aktiv waren; übrigens auch mit Gewalttaten und terroristischen Anschlägen. Mich hat insbesondere das Oktoberfest-Attentat lange beschäftigt und immer wieder beunruhigt, wie wenig unsere Sicherheitsbehörden über rechtsextremistische Strukturen wussten. Deshalb nehme ich auch deren immer klarer hervortretenden Versäumnisse und Fehler im Hinblick auf die NSU-Morde mit großem Ärger und natürlich sehr beunruhigt zur Kenntnis. Ich kann nur hoffen, dass die Verantwortlichen wenigstens jetzt die richtigen Schlüsse ziehen. Erfahren habe ich von den Morden der NSU-Verbrecher erst durch die Medienberichte. Jasmin Siri: Viele Protagonistinnen und Protagonisten aus Publizistik, Wissenschaft und Politik haben ihr Erstaunen ob der NSU-Morde artikuliert. Waren Sie davon überrascht, dass es so eine Gruppe in der BRD gibt? Wenn ja weshalb, wenn nein, warum nicht? Herta Däubler-Gmelin: Natürlich bin auch ich über das Ausmaß der Verbrechen, die breite Unterstützung für diese rechtsextremistischen Täter und über das Ausmaß des Versagens der verschiedenen Verantwortlichen erstaunt und erschreckt. Über die Existenz und über die aggressive Gefährlichkeit solcher Gruppen, wie schon erwähnt, allerdings nicht, zumal mich das Bundeskriminalamt auch mehrfach über die Existenz rechtsextremer Todeslisten informiert hat, allerdings war das ziemlich vage. Jasmin Siri: Wie würden Sie den NSU in die Geschichte rechtsextremistischer Gruppierungen und Anschläge in der Geschichte der Bundesrepublik einordnen? Herta Däubler-Gmelin: Der NSU, mit seinem ganz offensichtlich hervorragendem Netzwerk und den – hoffentlich wenigstens nichts ahnenden und unwissenden – Unterstützern auch in den Sicherheitsorganen von Bund und Ländern, ist ganz sicher einen deutlichen Schritt über die vergangenen rechtsextremistischen Organisationen hinausgegangen. Einzelne Menschen wegen ihres Migrationshintergrunds einfach abzuknallen, und das immer wieder, das ist schon ein Zeichen von unvorstellbarem Hass und unglaublich harter krimineller Energie. Und dann tut Frau Zschäpe noch so, als ginge sie das alles gar nichts an. Unfassbar. Insgesamt aber scheint es so zu sein, als sei dieses rechtsextremistische Terror-Netzwerk mit seinen Unterstützern auch international sehr gut vernetzt. Auch darauf werden wir in Europa und darüber hinaus künftig mehr achten müssen. Jasmin Siri: Welche Möglichkeiten gab und gibt es von staatlicher Seite, rechtsextremistischen Tendenzen in der Gesellschaft entgegen zu wirken?

Ein Inter view mit Her ta Däubler-Gmelin

Herta Däubler-Gmelin: Natürlich werden die Bundes- und die Landesregierungen zunächst einmal darauf achten müssen, dass die unsägliche Vertuschung, die Verdrängung und der Schlendrian gegenüber rechtsextremistischen Gewalttätern in ihrem Verantwortungsbereich endlich aufhört. Ich halte es auch für richtig, dass die Parlamente deren Arbeit mehr kontrollieren, sich also insbesondere auch über die Veränderungen berichten lassen, die dort jetzt Platz greifen müssen. Auch die Richtlinien der Überwachung sollten sie sich vorlegen lassen. Damit Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft zurückgedrängt wird, ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen wichtig, an denen viele mitwirken müssen. Ich will hier nur wenige aufzeigen. 1. Mehr Informationen in den Medien und Aufklärung in Schulen, 2. verstärkte Bildungsarbeit der Landes- und Bundeszentrale für Politische Bildung, 3. Aktivitäten und Veranstaltungen der Parteien ›gegen rechts‹, 4. Klare moralische, politische und finanzielle Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Gruppierungen, die sich gegen diese Rechtsextremisten wehren und 5. Unterstützung von Demonstrationen gegen rechts, gerade auch durch Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker. Heute sehen wir, dass überall in unserem Land Bürgerinnen und Bürger sich gegen Rechtsextreme zur Wehr setzen. Das ist sehr gut. In den letzten Jahren hatte ich bisweilen den Eindruck, dass auch die Regierungen auf dem rechten Auge blind waren. Es ist ärgerlich, dass gerade Gruppierungen, die sich mit der rechten Gefahr auseinandersetzen oder auch Aussteigewilligen helfen, mit Problemen und der Kürzung ihrer Mittel kämpfen mussten. Im Augenblick sieht es so aus, als sei die rechte Gefahr im Bewusstsein auch der Spitzenpolitiker präsenter als früher. Aber das wird man im Auge behalten müssen. Ich bin froh, dass die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages gut gearbeitet zu haben scheint und warte gespannt auf die Vorlage ihres ausführlichen Berichts mit den Schlussfolgerungen und Empfehlungen. Jasmin Siri: Es beginnt nun der große NSU-Prozess in München. Was kann aus Ihrer Sicht als Juristin bei einem solchen Prozess bestenfalls herauskommen? Herta Däubler-Gmelin: Ein Strafprozess hat die Aufgabe, die strafrechtlichen Vorwürfe gegen die Angeklagten strafrechtlich zuverlässig aufzuarbeiten, Tatnachweise und Schuld zu beurteilen und danach zu einem Urteil zu kommen. Die Fakten, die die Bundesanwaltschaft zusammengetragen hat, sind furchtbar, ihre Schlussfolgerungen halte ich für sehr tragfähig. Der Münchner Strafprozess kann allerdings die wichtige Frage, warum die mittlerweile ja bekannten Verantwortlichen in den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder so grauenvoll und erschreckend versagt haben, sicherlich nicht klären. Das ist auch nicht deren Aufgabe.

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Ich wünsche mir, dass die verantwortlichen Richter die Strafvorwürfe klären und die Schuldigen zur Verantwortung ziehen können – und dass sie dabei die Schicksale und die Leiden der Opfer und ihrer Angehörigen angemessen würdigen, denn sie haben genug gelitten. Natürlich wäre es auch angemessen, dass Frau Zschäpe endlich einsieht, dass sie schlimmste Verbrechen begangen und wie viel Leid sie damit über unschuldige Menschen gebracht hat. Ich würde mir wünschen, sie würde sich wenigstens entschuldigen, aber – danach sieht es im Augenblick ja wohl nicht aus. Jasmin Siri: Die Geschichte des NSU ist ja in vielerlei Hinsicht beispiellos skandalös. Diskutiert wurde und wird in dem Zusammenhang zum einen das Versagen bis Vertuschen staatlicher Organe wie Verfassungsschutz und Polizei, der Umgang mit V-Leuten etc., zum anderen aber auch die jahrelangen Ermittlungen in die falsche Richtung, nämlich die Suche nach den Tätern vor allem im Umfeld der Opfer. Wie würden Sie als Kennerin dieser Behörden diese ›Fehler‹ erklären? Kann man in dem Zusammenhang von einem impliziten Rassismus sprechen? Gilt der bekannte Satz, der Staat sei auf dem rechten Auge blind? Herta Däubler-Gmelin: Das Versagen ist ganz offensichtlich – in einem Ausmaß, das alle Verantwortlichen aufrütteln und zu klaren Änderungen veranlassen muss. Das gilt sowohl für personelle Veränderungen, von denen man bisher viel zu wenig hört als auch für neue Richtlinien für die Überwachung rechtsextremistischer Gewalttäter und ihrer Netzwerke. Das alles muss auch von den zuständigen parlamentarischen Ausschüssen eingefordert und überwacht werden. Ich glaube auch, dass es dringend erforderlich ist, der Frage der Bekämpfung von Rassismus, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in der Ausbildung dieser Bediensteten sehr viel mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Hier gibt es ganz offensichtlich viel zu viele Versäumnisse, die unsere ganze Gesellschaft in Gefahr bringen können. Man hat zu häufig den Eindruck, als falle Rassismus und Fremdenfeindlichkeit durch Rechtsextremisten den Mitarbeitern mancher Sicherheitsorgane gar nicht weiter auf, als sei das normal und werde durch unsere Verfassung nicht ausgeschlossen. Das ist unmöglich und muss geändert werden. Jasmin Siri: In einer Rede vom Juni 2012 hat BKA-Chef Ziercke gesagt, die föderalistische Organisation habe versagt. Das Konkurrenzdenken zwischen Behörden habe zum Unglück beigetragen. Würden Sie das unterstreichen? Herta Däubler-Gmelin: Nach allem, was ich höre, stimmt das ziemlich genau. Nur reicht diese Feststellung allein nicht aus. Hier müssen klare Änderungen, die richtigen Folgerungen her. Und zwar bald.

Ein Inter view mit Her ta Däubler-Gmelin

Jasmin Siri: In Sachsen findet gerade der Prozess gegen Pfarrer Lothar König statt, ebenfalls lief in Sachsen gerade ein Verfahren gegen Tim H., einen anderen Antifaschisten. Der Richter des Dresdener Amtsgerichtes Hans-Joachim Hlavka verurteilt Tim H. wegen seiner Teilnahme an den Anti-Nazi-Protesten im Februar 2011 zu einem Jahr und 10 Monaten Gefängnis ohne Bewährung. Tim H. soll als »Rädelsführer« per Megafon Kommandos zum Durchbruch einer Polizeikette gegeben haben. Auf dem Video ruft eine Person ins Megafon »Kommt nach vorne!« Der Spiegel fasste zusammen: »Der Hauptbelastungszeuge – ein Anwohner, der den Vorfall von seinem Balkon aus beobachtet hatte – sagte bereits am ersten Prozesstag, Tim H. sei nicht die Person, die ins Megafon gebrüllt habe. Auch vier geladene Polizeibeamte konnten keine Angaben zum Täter machen. Es sei gar unklar, ob nur eine Person Kommandos gegeben habe. Auf den Polizeivideos sieht man zwei Personen, die das Megafon benutzen – Tim H. ist nicht zu erkennen.« Dennoch wurde Herr H. verurteilt. Und nun erwarten Kenner der sächsischen Justiz ein ähnliches Urteil gegen den Pfarrer König, gegen den auch Vorwürfe ins Feld geführt werden, die anhand der Beweislage mehr als substanzlos wirken. Wie schätzen Sie als Juristin Verfahren ein, in denen Menschen ohne Zeugen und ohne Indizien für die Taten anderer verurteilt werden? Herta Däubler-Gmelin: Ich verfolge diese Prozesse mit großer Aufmerksamkeit. Im Prozess gegen Pfarrer König scheint die Staatsanwaltschaft ja eine besonders bemerkenswerte Rolle zu spielen. Dennoch scheint die Wahrheit so langsam ans Licht zu kommen. Mein Vertrauen in die Instanzgerichte ist im Übrigen noch nicht so zerrüttet, dass ich befürchten müsste, Fehlurteile könnten auf Dauer Bestand haben. Jasmin Siri: Ich kann mich daran erinnern, dass Sie als Justizministerin gegen ein NPD-Verbot argumentiert haben. U.a. war ein Argument, dass verdeckt operierende Neonazis schlechter zu beobachten sind als solche, die sich zumindest den Anschein geben müssen, die demokratische Grundordnung zu achten. Wie sehen Sie das vom heutigen Standpunkt aus? Und wie beurteilen Sie die aktuellen Versuche, ein neues NPD-Verbot zu erreichen? Herta Däubler-Gmelin: Ich war beim ersten Versuch eines NPD-Verbotes aufgrund der vorhandenen Informationen über die Existenz der verdeckten Ermittler skeptisch und habe da die Auffassung des damaligen Bundesinnenministers für eher leichtfertig gehalten. Wie das alles im Augenblick aussieht, kann ich nicht ausreichend beurteilen. Dazu müsste ich sehr viel mehr Einzelheiten kennen. Ich habe keinerlei Zweifel daran, dass auch diese rechtsextreme Gruppierung Ziele verfolgt, die weder rechtsstaatlich oder demokratisch sind; auch von Menschenwürde für alle scheinen sie nichts zu halten. Damit muss

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man sich politisch und gesellschaftlich und da, wo das geht, auch administrativ und dann gerichtlich auseinandersetzen. Jasmin Siri: Abschließend würden wir Sie gerne fragen, wie Sie die aktuelle gesellschaftliche Stimmung im Umgang mit Rassismus und Rechtsradikalismus einschätzen. Während die NSU-Morde als »Döner-Morde« bezeichnet wurden, gab es ja gleichzeitig auch die Auftritte von Thilo Sarrazin, mit seinen genetisch inspirierten Thesen zu ›Kopftuchmädchen‹, ›dummen Gemüsehändlern‹ und ›klugen Juden‹. Hängen diese Phänomene zusammen? Wie beurteilen Sie das? Herta Däubler-Gmelin: Nun, Herr Sarrazin mit seinen unsäglichen Thesen ist und bleibt eine Schande. Es ist auch traurig, dass er die SPD noch immer nicht verlassen hat. Dabei wäre er an sich intelligent genug, um sich Rechenschaft darüber abzulegen, was er mit der Veröffentlichung und Kommerzialisierung seiner grauenvollen Vorurteile anrichtet, schlimm genug, dass er sie überhaupt hat. Er sollte endlich mit seiner Masche aufhören und sich bei den vielen anständigen Leuten entschuldigen, die er damit fortwährend beleidigt. Es ist auch ein schlechtes Zeugnis für unsere Gesellschaft, dass seine Bücher überhaupt gekauft werden. Es zeigt, dass die Dummen nie aussterben und dass man nur verantwortungslos genug sein muss, um Vorurteile finanziell auszubeuten. In allen diesen Fällen hilft nur eines: Klare Worte und Stellungnahmen, auch wenn das leider zur Öffentlichkeit solcher Bücher beiträgt.

Wie wurde es thematisiert?

Diskurse

kleine sternmullrede Uljana Wolf

sist zappenduster im gedicht, welche sprache es wohl spricht? sternnase anstellen, tasten, fahnden. schmale fläche hier, seidene falz. könnten tofuwürfel sein. oder toffee, wenn die ränder schroffer wärn. an den rändern liegt so manches, nur wo lieg ich? verweilung, auch am vertrautesten nicht. lange gänge, mischung der schichten, luft rundum – will sagen: terrine. oder terriersnack. ach käm ich weg, nach draußen, wo die fahnen der namen wehn, ich fänd ein wort für meine lage. aber wo nehm ich, wenn in dunklen regalen, und wo ein sauberes sprechen, eigen rechts und feigen links? ich höre husten, dumpfes traben. naht er schon, der hundefreund? ein grenzermund? oder trecker, ja: verkauf die mal.

»Produkte, die in Deutschland verkauft werden, müssen auch deutsch beschriftet sein.« E RIKA S TEINBACH , M ITGLIED IM VEREIN DEUTSCHE S PRACHE

Brauner Osten?1 Rechtsextremismus als deutsch-deutscher Einsatz und Effekt Stephan Lessenich

Seit dem Selbstmord der beiden mutmaßlichen Täter am 4. November 2011 in Eisenach hat die in der deutschen Öffentlichkeit lange Zeit als migrationsmafiöses ›Dönermord‹-Phänomen verhandelte Reihe neonazistischer Hinrichtungen von neun Männern nicht-deutscher Herkunft in den Jahren 2000 bis 2006 Medien und Politik intensiv beschäftigt. Mit den Hintergründen und insbesondere den politisch-administrativen Ermöglichungskonstellationen dieser neuartigen Eskalationsstufe rechter Gewalt in Deutschland befassen sich seither mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse, die gerichtliche Aufklärung und Ahndung der Tat-Sachen hat mittlerweile – nicht ohne selbst wieder zu bemerkenswerten rechtsstaatlichen Kapriolen zu führen  – begonnen. Im Kontext dieser Geschehnisse sind einige der wesentlichen gesellschaftspolitischen Implikationen der Mordserie bis weit in linksliberale politische Kreise hinein thematisiert und bisweilen auch – zumindest vorsichtig – skandalisiert worden.2 So hat die öffentliche Debatte über die stereotypbehaftete und menschenfeindliche mediale Etikettierung der Mordserie (ebenso wie über die amtsinterne Benennung der zuständigen Fahndungseinheit als Soko ›Bosporus‹) wenigstens ansatzweise den Blick freigegeben auf den tief verankerten deutschen Alltagsrassismus. Das über viele Jahre hinweg auf geradezu absurde Weise inkompetente Gebaren deutscher Strafverfolgungsbehörden und Verfassungsschutzorgane hat auch bei wohlmeinenden Beobachter_innen des Geschehens die beklemmende Frage aufgeworfen, ob hier nicht systematisches Versagen und sympathisierendes Verleugnen nah beieinander liegen oder gar ineinander übergehen. Und wenngleich sich die neuerliche, mittlerweile vom Bundesrat ergriffene Initiative für ein Verbot der NPD nicht zuletzt auf1 | Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um die überarbeitete und erweiterte Fassung eines ›Einspruchs‹, der zuerst unter dem Titel »Brauner Osten? Wie neulich mal wieder die DDR besiegt wurde« in Heft 166 (1/2012) der Zeitschrift ›PROKLA‹ erschienen ist. 2 | Vgl. stellvertretend für viele andere Beiträge in diesem Sinne Prantl 2012.

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grund deren personeller Teilidentität mit dem Verfassungsschutz bzw. mit von diesem bezahlten V-Leuten wohl höchstrichterlich kaum durchsetzen lassen wird, ist die notdürftig angelegte bieder-bürgerliche Maske der Partei und ihrer Führung doch ein weiteres Mal gelüftet, ihre politisch-praktische Vernetzung mit der faschistischen Organisations-Subkultur in diesem Lande breit thematisiert worden. So weit, so ›gut‹. Eine nicht weniger bedeutsame Dimension des neofaschistischen Terrors und seiner gesellschaftlichen Verarbeitung jedoch hat in diesem Prozess politisch-medialer Reflexion deutlich weniger kritische Aufmerksamkeit auf sich gezogen: die gewissermaßen ›deutschlandpolitischen‹ Implikationen der ›Döner-Morde‹ nämlich. In der politischen Semantik der Vorwendezeit ausgedrückt, wirft die Debatte um die Gewalttaten der sich selbst als ›Nationalsozialistischer Untergrund‹ (NSU) bezeichnenden ›Zwickauer Zelle‹ ein grelles Schlaglicht auf den Stand der innerdeutschen Beziehungen, auf ihre gewachsene Struktur und ihre fortdauernde Dynamik. Eine genauere Analyse der Mechanismen, denen die diskurspolitische Bearbeitung des – so wird man sagen können – praktisch gesellschaftsweiten Entsetzens über die herrenmenschlichen Exekutionsexkursionen zweier ostdeutscher Neonazis unter eben diesem Gesichtspunkt folgt, ist durchaus lehrreich. Denn sie vermag in recht anschaulicher Weise den allgemeinen Sachverhalt zu illustrieren, dass sich in der Praxis politischer Diskurse gesellschaftliche bzw. teilgesellschaftliche Identitätsvergewisserung organisiert, sozialer Ein- und Ausschluss vermittelt. Und auf den konkreten Fall deutsch-deutscher Gegenwartsbewältigung bezogen verweist sie in eindrücklicher Weise auf eine gesellschaftliche Vergangenheit, die – horribile dictu – nicht vergehen will.

»A NGST ZONE O ST«

ODER DIE DISKURSIVE

K ONSTRUK TION DES A NDEREN

Sozialer Brennpunkt des in diesem Sinne interessierenden Geschehens ist nicht etwa Zwickau, wo das untergetauchte Trio Böhnhardt-Mundlos-Zschäpe seinen letzten, in Flammen aufgegangenen Schattenwohnsitz genommen hatte, sondern vielmehr Jena, Heimatstadt der drei Hassgetriebenen und Ende der 1990er Jahre Ausgangspunkt sowohl ihres fast vierzehnjährigen Untergrundlebens wie auch des ebenso langen Ermittlungsversagens, der in der Selbstbeschreibung als ›Staatsschutz‹ firmierenden öffentlichen Einrichtungen. Anders als Zwickau, Chemnitz (der zwischenzeitliche Zufluchtsort der Dreierbande) oder praktisch jedes beliebige andere ostdeutsche Mittelzentrum galt und gilt Jena als Leuchtturm der unmittelbar nach der Wende politisch imaginierten ›blühenden Landschaften‹ im Beitrittsgebiet. Dass der ›braune Terror‹ seine organisationspolitischen Wurzeln in Gestalt des ›Thüringer Heimatschutzes‹

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gerade in dem ökonomisch prosperierenden Hochtechnologiestandort geschlagen hatte, dass seine menschenverachtende Brutalität ausgerechnet aus dem Schoß einer dem Anschein nach von akademisch-bürgerlichen Sozialmilieus dominierten Universitätsstadt kroch, musste die interessierte Beobachterin hüben wie drüben auf den ersten Blick überraschen – und bot zugleich das ideale Szenario für eilig produzierte Hintergrundberichte, zumal der (im doppelten Sinne: vermeintlich) gesamtdeutschen Qualitätsmedien. Als diesbezüglich paradigmatisch kann die öffentlich-rechtliche Aufklärungsarbeit des ZDF-Kulturmagazins ›aspekte‹ gelten, das nach Bekanntwerden der Jena-Connection der Wahlzwickauer den deutsch-bengalischen Schriftsteller Steven Uhly zu einem Blitzbesuch in die Stadt an der Saale bewegte, wo dieser dem redaktionellen Auftrag nachgehen sollte, dem bildungsbürgerlichen TV-Publikum hautnah migrantisches Gefühlsleben in der Löwenhöhle des Neonazismus zu vermitteln. ICE-Fahrer: »kommst Du nach Jena und nicht [oder nicht erkennbar] aus Deutschland, dann landest Du keineswegs im ›Paradies‹«: Der Off-Text des parainvestigativen Fernsehbeitrags spielte mit dem Namen des provinzschicken Jenaer Fernbahnhofs, um hinlänglich plakativ deutlich zu machen, dass selbst die vor wenigen Jahren zur ›Stadt der Wissenschaft‹ gekürte Wirkungsstätte Schillers, Goethes, Fichtes, Hegels und eigentlich der gesamten Elite des klassisch-deutschen Geisteslebens für Ausländer_innen integraler Teil der ›ostdeutschen Angstzone‹ sei. Entsprechend erleichtert zeigte sich der Hauptdarsteller des kleinen Antiwerbefilmchens denn auch ostentativ, als er nach einigen Stunden Ortstermins endlich wieder auf direktem Wege in die sichere Dritt(frei)staatlichkeit seiner Wahlheimat München ausreisen durfte: »Ich habe einfach zu viel Angst, um mich hier frei zu bewegen«, lautete seine zu Protokoll gegebene Quintessenz aus der gebührenfinanzierten Stippvisite in der vermeintlichen (so der lokale Touristenwerbeslogan) ›Lichtstadt‹ Dunkeldeutschlands. Was daraufhin in Jena und um Jena herum geschah, zeugte von einem polittheatralischen Facettenreichtum, der nicht im Fokus dieses Beitrags steht, aber durchaus eine eigene sozialwissenschaftliche Untersuchung wert wäre: von dem durchaus berechtigten Protest von Aktivist_innen der lokalen antifaschistischen und radikaldemokratischen Szene gegen die Dethematisierung ihres ebenso unermüdlichen wie erfolgreichen Engagements gegen Rechts, über die zwar verständliche, aber doch auch hinlänglich unsouverän zur Schau gestellte Sorge der örtlichen Politikelite um das Image des Wirtschafts- und Bildungsstandorts, bis hin zu der teils nur peinlichen, teils jedoch aggressiv lokalchauvinistischen Empörung jener selbstgerechten Milieus der Jenaer ›Bürgerschaft‹, die ihr Maß an praktischer Zivilcourage damit erfüllt sahen, vereint gegen die Verunglimpfung ihrer trauten, heilen Lebenswelt durch die böse, fremde Schmutzpresse zu Felde zu ziehen. Es ist ein ganzer Strauß an politisch-kulturellen Blüten, die der Jenaer Nährboden der ›Zwickauer Zelle‹ in der

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Folgezeit auf regionaler wie nationaler Ebene trieb: etwa die Eventisierung und Kollektivierung der ›Trauer‹ um die Opfer der Mordserie in Form eines großen Open-Air-Konzerts, für das politisch-bürokratisch mobilisiert und organisiert wurde wie einst im Mai für zwanglos-gezwungene Arbeiteraufmärsche; die plötzliche, vollkommen unglaubwürdige politische Besorgnis und finanzielle Spendierfreudigkeit einer Landesregierung, die ihre institutionell verankerte Freizügigkeit gegenüber rechten Umtrieben im Lande spontan-sichtbar überkompensieren zu müssen und können meinte; die totalitarismustheoretisch wohl zwangsläufige und wettbewerbspolitisch offensichtlich geradezu zwanghafte Forderung nach einem das nunmehr allseits gewünschte NPD-Verbotsverfahren flankierenden Verbot gleich auch der Linkspartei durch den Generalsekretär der CSU; oder aber – auf einem ganz anderen, aber kaum minder beschämenden Blatt der bundesdeutschen ›politischen Kultur‹ stehend – die auf ihre ganz eigene Weise unerträgliche, seit den Tagen der selbsterklärt avantgardistischen Studentenbewegung über Jahrzehnte hinweg eingeübte Arroganz des juste milieu der linksalternativen Hauptstadtszene gegenüber den politischen Bewegungen und sonstigen Bestrebungen in der als strukturell zurückgeblieben gezeichneten (einst ›westdeutschen‹, nunmehr gesamtdeutschen) Provinz (vgl. Silber 2011). Gesellschaftspolitisch von besonderer und weiterreichender Bedeutung dürfte allerdings sein, dass sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit in der Debatte um die ›Jena Three‹ wieder einmal auf das Schönste in ihren Vorurteilen vom ›braunen Osten‹ bestätigt fühlen durfte – und mit dem moralischen Sieg der politischen Massenmeinung über die von Nazinestern durchzogene »Angstzone Ost« (Pilz 2011) zugleich auch, wie dies seit nunmehr zwei Jahrzehnten in schöner Regelmäßigkeit immer wieder aufs Neue inszeniert wird, der ideelle Gesamtschuldner DDR sein Fett wegkriegte. Müßig darauf zu verweisen – denn in diesem politikhistorischen Spiel geht es erkennbar nicht allein um Fakten –, dass es offenbar die intensive strategische Vernetzung des aus Thüringen stammenden und von Sachsen aus operierenden Terrortrios mit neonazistischen Akteuren und Strukturen auch in den alten Bundesländern (namentlich in Bayern) war, die ihm die Durchführung der Mordtaten und die Organisation seiner Untergrundexistenz überhaupt ermöglichte (vgl. Leyendecker/Schultz 2012). Eigentlich unnötig auch ausdrücklich zu betonen, dass es selbstverständlich ein spezifisch ostdeutsches Neonazimilieu gibt, das eine eigentümliche alltagskulturelle Nähe zu kleinbürgerlich-traditionalistischen Sozialmilieus aufweist und sich durch eine besonders ausgeprägte Gewaltbereitschaft auszeichnet – und das es, dies sei an dieser Stelle sicherheitshalber ausdrücklich hervorgehoben, in keiner Weise zu verharmlosen gilt. Aber derartige Erkenntnisse interessieren die angeblich interessierte Öffentlichkeit ja gerade nicht: Was zählt sind einfache Wahrheiten und schlichte Erklärungen und in diesem Sinne lautet ein seit November 2011 wieder ver-

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stärkt kursierendes Deutungsangebot, dass die neuen Nazis die mentale Saat des untergegangen Arbeiter- und Bauernstaats aufgehen lassen.

D IE R ÜCKKEHR DER S OZIALISATIONSHYPOTHESE UND DIE DISKURSIVE »S UBALTERNISIERUNG « O STDEUTSCHL ANDS Gelegenheiten, die späten und verderblichen Erbschaften des autoritären DDRCharakters anzuprangern, gab es in der Nachwendezeit zuhauf, oder besser: politisch-medial genutzte Anlässe, um soziale Probleme der ostdeutschen Teilgesellschaft als Sozialisationseffekte staatssozialistischer Vergesellschaftung respektive politisch-ideologischer Indoktrination zu rekonstruieren. So wie die unvermeidlichen ›Experten‹ bei der Aufdeckung von Kindesmisshandlungen in Mecklenburg-Vorpommern – anders als bei entsprechenden Vorkommnissen bspw. in Bremen – weniger die postwohlfahrtsstaatliche Pflichtvergessenheit der lokalen Aufsichtsbehörden als vielmehr die frühkindliche Töpfchenpflicht in staatssozialistischen Erziehungsanstalten (vgl. Schochow 2013) erklärend in Anschlag bringen, so stellt selbstverständlich auch der mörderische Rassenhassfeldzug aus den Tiefen des ostdeutschen Raumes (in einstweiliger Ermangelung einer Klassenhassthese à la Ernst Nolte) eine willkommene Gelegenheit dar, die Täter – und damit auch deren Opfer – als DDR-Spätgeschädigte zu beschreiben. Da passt dann für den gesunden Medienmenschenverstand eines zum anderen und irgendwie alles zusammen: freudlose Enge, elternloser Paternalismus, verordneter Antifaschismus, erzwungener Egalitarismus, geduldeter Rassismus – und fertig ist die Gleichung von den intergenerationalen Langfristeffekten des ›menschenverachtenden Systems‹. Immer im Dienste der antisozialistischen Volksaufklärung unterwegs sind dabei die öffentlich-wissenschaftlichen Institutionen der offiziellen DDR-Vergangenheitsbewältigung – allen voran der ›Forschungsverbund SED-Staat‹ an der Freien Universität Berlin, der sich in der jüngeren Vergangenheit u.a. mit der erfreulich zügig widerlegten (aber wissenschaftspolitisch selbstverständlich folgenlos gebliebenen) Behauptung hervortat, der Westberliner Polizeimord an Benno Ohnesorg gehe eigentlich auf das Konto der Staatssicherheit. Seinem volkspädagogischen Auftrag nachkommend, organisierte der Verbund bald nach der Aufdeckung der rechtsterroristischen Mordserie eine öffentlichkeitswirksame Tagung über das »braune Erbe der Diktatur« (vgl. Bisky 2012), deren Beiträge in dem Interpretationsrahmen verortet wurden, dass Ausländerfeindlichkeit und abweichendes Verhalten im Osten Deutschlands nur historisch – und d.h. in diesem Fall: gesellschaftssystemgeschichtlich – zu verstehen seien. Ein Deutungsmuster, dem sich bezeichnender Weise auch linksliberale Medien nicht verschließen wollten:

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»Kann es sein, dass die Selbstmythisierung des DDR-Staates zum antifaschistischen Vorbild viel tiefer, weitreichender auch zum Selbstbild der DDR-Bürger geworden ist? […] Warum ist es den Jenensern so wichtig, nicht als ›brauner Fleck‹ auf der Landkarte zu erscheinen? […] Könnte es nicht auch sein, dass hinter den heftigen Emotionen eine unverdaute Vergangenheit haust?« (Pilz 2011)

Die gekonnte Paraphrase der unvergessenen, 1988er Reichspogromnacht-Erinnerungsrhetorik des damaligen Bundestagspräsidenten Jenninger einmal außer Acht gelassen: Mit unverdauten Vergangenheiten kennt sich Deutschland bekanntlich aus, weswegen sich die gesamtdeutschen Funktionseliten nach 1989/90 – im Sinne eines aufgeklärt anmutenden ›Nie wieder!‹ – mit institutioneller Macht an die politische Digestion des autoritären Staatssozialismus machten. Über all den durch die ostdeutsche Autorenschaft der ›Döner-Morde‹ aktualisierten Fragen nach dem roten Erbe und der braunen Erbfolge in den ›neuen Ländern‹ aber wurden und werden andere Fragen, deren historisch-soziologische Relevanz außer Frage steht, erstaunlicherweise nicht gestellt – oder allenfalls an ostdeutschen Küchentischen und Biertresen, in ostdeutschen Betrieben und Arbeitsagenturen: Kann es sein, dass die Selbstmythisierung der Bundesrepublik zum politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Vorbild viel tiefer, weitreichender auch zum negativen Selbstbild der ehemaligen DDR-Bürger geworden ist? Warum ist es den Ostdeutschen so wichtig, nach fast drei Jahrzehnten, in denen das ›Beitrittsgebiet‹ allenfalls auf der abendlichen TV-Wetterkarte ins Wahrnehmungsfeld der Westdeutschen geriet, nun nicht als ›brauner Fleck‹ auf der Landkarte zu erscheinen? Könnte es nicht tatsächlich sein, dass hinter der ostdeutschen Abwehr gegen die Rede vom ›braunen Osten‹ und der ›Angstzone Ost‹ eine unverdaute Vergangenheit haust – aber eine andere als jene, an die Politik und Feuilleton in Westdeutschland reflexartig denken? In der Tat, das könnte durchaus sein: Eine zwanzigjährige Vereinigungsvergangenheit nämlich von westdeutscher Siegesgewissheit und ostdeutscher Identitätskrise, westdeutschem Institutionentransfer und ostdeutscher Überschichtungserfahrung, westdeutschem Überlegenheitsgestus und ostdeutschem Unterlegenheitshabitus. Zwanzig Jahre der politisch-ökonomischen »Subalternisierung« (Kollmorgen 2011) des Ostens durch den Westen, zwei Jahrzehnte kollektiv-individueller Abwertungserfahrungen in der »Problemzone« (Kolmer 2009: 199) des ›vereinigten Deutschland‹, bald eine Generation des souveränen Desinteresses des westdeutschen Durchschnittsbürgers am ostdeutschen Subventionsempfänger und der erzwungenen Mobilität junger Ostdeutscher in Richtung der westdeutschen Futtertröge. Und dass eine solche Perspektivierung ostdeutscher Erfahrungshorizonte der Nachwendezeit in westdeutschen Ohren wiederum nach undankbaren Schmährufen aus dem Jammertal der Alimentierten klingen muss, kann als eine weitere

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Bestätigung der unaufgeklärten und uneingestandenen deutsch-deutschen Machtverhältnisse gelten – als diskurspolitischer Ausdruck jenes ›Wiedervereinigung‹ genannten, politisch-sozialen »Großversuchs« (Giesen/Leggewie 1991), der die alltäglichen Lebensführungsmuster in Westdeutschland weitgehend unbehelligt ließ, in Ostdeutschland hingegen zu einer gigantischen Kulturschockveranstaltung und Biographievernichtungsmaschinerie geworden ist. Und so steht zu vermuten, dass das neudeutsche Fremd- und Selbstetikettierungsspiel auch in Zukunft munter weitergehen wird – dort der handlungsentlastende Verweis auf die ›böhsen Onkelz‹ von der SED, die in den Köpfen und Seelen der Ostdeutschen noch heute ihr Unwesen treiben, hier die von solchen geographischen wie historischen Ferndiagnosen entkoppelte ökonomische und soziale Realität der ostdeutschen Peripherie, Heimat der armen Verwandten der Beitrittsdemokratie. Auf diese gesellschaftliche Spaltung zu verweisen heißt zugleich Fragen der politischen Deutungshoheit, der kulturellen Hegemonie und der symbolischen Gewalt zu stellen, die im gesamtdeutschen Politik- und Mediendiskurs praktisch keine Rolle spielen – aber im Gefühlshaushalt der ostdeutschen Gesellschaft umso stärker präsent sind. Wer vom alltäglichen Rechtsextremismus im Osten reden will, darf von zwanzig Jahren alltäglicher ostdeutscher ›Wendeerfahrung‹ nicht schweigen. Und wer die spezifischen Formen des Alltagsrassismus und der privaten wie institutionellen Fremdenfeindlichkeit im Osten Deutschlands zu verstehen sucht, wird die auf die ›Wende‹ folgende, diskursive Stilisierung der in Vorwendezeiten geradezu sprichwörtlichen ›Brüder und Schwestern im Osten‹ zu den Schmuddel- und Problemkindern Gesamtdeutschlands in Rechnung stellen müssen. Denn hier wächst diskurspolitisch zusammen, was sozialanalytisch zusammengehört: die strukturelle Ausländerphobie der ostdeutschen Teilgesellschaft auf der einen, die öffentliche Konstruktion des ›Ossis‹ als »symbolischer Ausländer« (vgl. Pates/Schochow 2013) auf der anderen Seite. Mit der politisch-medialen Debatte über die NSU-Morde ist Rechtsextremismus erneut und in besonders sichtbarer Weise – nunmehr in seiner extrem radikalisierten Gestalt als neofaschistischer Terrorismus – zum Einsatz deutsch-deutscher Gesellschaftspolitik geworden. Ein Einsatz, der Rechtsextremismus und rechtsextreme Gewalt als Effekt, nicht zuletzt auch der jüngeren deutschen Gesellschaftsgeschichte, verstanden und zugleich effektiv aus dem gesamtdeutschen Politikdiskurs fernhält. Und so könnte sich die Geschichte, wenn nicht ›ewig‹, so doch durchaus bis auf weiteres fortsetzen. Vielleicht aber regt sich im vermeintlich braunen Osten ja langsam doch auch eine andere, nicht destruktive Form der gesellschaftlichen Selbstermächtigung. Nicht von Ohnmacht oder von der Ansicht, dass ›das System‹ an allem Schuld ist, zeugt jedenfalls jenes neue Selbstbewusstsein junger Ostdeutscher, das manche da-

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rin erkennen wollen, dass etwa mit der Chemnitzer Band ›Kraftklub‹ deren »Verlierergefühl endlich ins Zentrum der eigenen Selbstbeschreibung« (Hensel 2012) rückt – sondern, wenn alles gut geht, von der Geburt einer produktiven politischen Bewegung aus dem Geiste eines kollektiven Minderwertigkeitskomplexes. Wie dem auch sei: Aus soziologischer Warte allemal Stoff und Grund genug, der alltagspraktischen und mikropolitischen Aufarbeitung der Vereinigungsfolgen genauer nachzugehen. Nach herkömmlichem politischmedialem Ritual hingegen vermutlich eher Anlass zu der öffentlich zu verhandelnden Frage, ob ›Kraftklub‹ nicht irgendwie verdächtig nach braunem Erbe der roten Diktatur klingt.

L ITER ATUR Bisky, Jens (2012): »›Meine Nazis‹, ›Deine Nazis‹ – ein müßiges Spiel. Wie braun ist der Osten? Eine Debatte, die nicht vorankommen will«, in: Süddeutsche Zeitung vom 1.2.2012. Giesen, Bernd/Leggewie, Claus (Hg.) (1991): Experiment Vereinigung. Ein sozialer Großversuch, Berlin: Rotbuch. Hensel, Jana (2012): »Ich bin ein Verlierer, Baby!«, in: Der Freitag vom 9.2.2012, www.freitag.de/autoren/jana-hensel/ich-bin-ein-verlierer-baby, zuletzt aufgerufen am 28.4.2013. Kollmorgen, Raj (2011): »Subalternisierung. Formen und Mechanismen der Missachtung Ostdeutscher nach der Vereinigung«, in: Raj Kollmorgen/Frank Thomas Koch/Hans-Liudger Dienel (Hg.), Diskurse der deutschen Einheit. Kritik und Alternativen, Wiesbaden: VS, S. 301-359. Kolmer, Christian (2009): »Nachrichten aus einer Krisenregion. Das Bild Ostdeutschlands und der DDR in den Medien 1994-2007«, in: Thomas Ahbe/ Rainer Gries/Wolfgang Schmale (Hg.), Die Ostdeutschen in den Medien. Das Bild von den Anderen nach 1990, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, S. 181-214. Leyendecker, Hans/Schultz, Tanjev (2012): »Chronik der verpassten Gelegenheiten«, in: Süddeutsche Zeitung vom 4./5.2.2012. Pates, Rebecca/Schochow, Maximilian (2013): Der »Ossi«. Mikropolitische Studien über einen symbolischen Ausländer, Wiesbaden: Springer VS. Pilz, Dirk (2011): »Gibt es eine Angstzone Ost?«, in: Frankfurter Rundschau vom 7.12.2011, www.fr-online.de/kultur/jena-gibt-es-eine-angstzone-ost-,14 72786,11271544,item,0.html, zuletzt aufgerufen am 28.4.2013. Prantl, Heribert (2012): »Der deutsche GAU. Wie das systemische Versagen des Verfassungsschutzes aufgeklärt werden muss«, in: Süddeutsche Zeitung vom 12.1.2012.

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Schochow, Maximilian (2013): »Erzählungen über ein fremdes Land. Die Töpfchen-These oder: Von der richtigen Erziehung«, in: Rebecca Pathes/Maximilian Schochow, Der »Ossi«, S. 175-187. Silber, Vid (2011): »In der akademischen Besatzungszone«, in: die tageszeitung vom 8.12.2011, www.taz.de/!83307, zuletzt aufgerufen am 28.4.2013.

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Wer von Rassismus nicht reden will Einige Reflexionen zur aktuellen Bedeutung von Rassismus und seiner Analyse Manuela Bojadžijev »Race does not exist. But it does kill people.« C OLET TE G UILLAUMIN

Theodor W. Adorno hat in einem oft zitierten Artikel für Die ZEIT im Jahr 1969 bemerkt, dass die Kritik an der Kritik in der Öffentlichkeit oftmals mehr Platz einnimmt als die Kritik selbst (vgl. Adorno 1969). Mir geht es hier um eine ganz besondere Kritik, auf die diese Diagnose heute zutrifft, nämlich um eine Kritik am Rassismus, die in Deutschland weiterhin höchst marginalisiert ist. Gerade im Zusammenhang mit der ›Entdeckung‹ der NSU-Mordserie in den Medien erscheint mir das besonders auffällig. Zwar hat diese ›Entdeckung‹ eine Reihe von institutionellen und personellen Folgen gehabt – es arbeitet ein bemerkenswert und erfreulich kooperativer parlamentarischer Untersuchungsausschuss einigermaßen erfolgreich zum Fall, eine Reihe von Entlassungen und institutionellen Umarbeitungen in den bundesdeutschen Sicherheitsapparaten waren die Folge und es wird nun ein Prozess vor dem Oberlandesgericht München gegen Beate Zschäpe und weitere Mitangeklagte geführt. Dennoch, so mein Eindruck nach Lektüre der Medienberichterstattung zum Thema, gereicht der Begriff des Rassismus zur Analyse vielen offenbar nicht zum Vorteil: im Gegenteil, denn warum sonst würde er so eindringlich vermieden werden? Warum sonst gilt als polemisch und unsachlich, wer von Rassismus spricht? U.a. brachte das der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Bernhard Witthaut, in einem Interview mit der taz am 22.12.2012 zum Ausdruck: Die Analyse von Kenan Kolat, dem Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland, nach dem die gescheiterte Aufdeckung der Mordserie des NSU mit institutionellem Rassismus in Verbindung stehe, müsse er zurückweisen und raten, »mit dem Wort Rassismus etwas vorsichtiger umzugehen, wenn einem an einer sachlichen Auseinandersetzung gelegen sei« (Witthaut 2012).

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Alltagsrassismus oder institutioneller Rassismus in Bezug auf Staat und staatliche Apparate wie der Polizei und in Bezug auf Sicherheitsdienste, auf Schulen und Wissenschaft, auf Kindergärten, aber auch in Bezug auf Gewerkschaften und Parteien oder Medien zum Thema zu machen, stößt auf eine persistente Verleugnung. Und zwar bei erstaunlich vielen. Auch wenn die Rassismus aussprechenden Subjekte zahlreicher geworden sind, MigrantInnen heute eine größere öffentliche Präsenz einnehmen als noch vor zehn Jahren, ist dennoch auffällig, wie auch sie – in der Öffentlichkeit wohlgemerkt – tunlichst vermeiden, den Begriff Rassismus im Mund zu führen. Im Repertoire der Vorwürfe gegen seine Verwendung rangieren ›fehlende Sachlichkeit, Übertreibung und Moralismus‹ unter den Favourites. Es fällt aber auf, dass Argumente gegen eine Analyse von Rassismus zirkulär funktionieren: Alle scheinen davon auszugehen, dass es um unwesentliche Situationen geht, die für die herkömmliche Kritik der Politik oder auch in den Sozialwissenschaften darum auch unwesentliche Analysen und unwesentliches Wissen produzieren. In der Tat handelt es sich um marginalisierte Situationen, die uns an die Marginalisierung der von Rassismus Betroffenen im etablierten politischen und wissenschaftlichen Diskurs erinnern. Es geht, wenn wir von Rassismus sprechen, wie Michel Foucault in anderem Kontext sagte, um Denken, um unterworfene Vorstellungen, nicht um etablierte Ideologien.1

R ASSISTEN ODER R ASSISMUS ? Mich hat nun interessiert, wie eigentlich in der medialen Debatte um den NSU das Wort angedeutet, bestärkt oder vermieden wird. Dafür habe ich mich auf bundesdeutsche Printmedien und vorwiegend auf das Jahr 2012 konzentriert. Der erste Befund dieser kleinen Untersuchung lautet: Ich habe in allen Berichten zum NSU nur insgesamt 30 Artikel finden können, in denen das Wort Rassismus überhaupt auftaucht. Mir geht es darum an diesem Beispiel zu verstehen, was der NSU-Komplex erlaubt über Rassismus zu sagen, wo der Diskurs begrenzt ist und was genau verhindert, von Rassismus zu sprechen. Um es vorweg zu nehmen, lässt sich folgendes Resultat zusammenfassen: Die Rede ist von Rassisten und Nazis, von Rechtsextremismus sowie Fremdenfeindlichkeit, aber nicht von Rassismus, nicht von institutionellem oder strukturellem Rassismus. Mit anderen Worten lautet der Grundton: Einzelne können durchaus Rassisten sein, die Gesellschaft insgesamt kann das aber nicht betreffen. Ich werde auf die Ausnahmen dieser diskursiven Verengung immer 1 | So schreibt Foucault: »Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und auch anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen und Weiterdenken unentbehrlich ist.« (Foucault 1084: 15)

Wer von Rassismus nicht reden will

wieder zu sprechen kommen, wenn ich nun auf die einzelnen Aspekte eingehe, die den Diskurs verengen und auf spezifische Weise strukturieren. Ich möchte jene Elemente herausarbeiten, die es nicht nur rechtfertigen, sondern auch verlangen, im Zusammenhang des NSU von strukturellem Rassismus oder von Rassismus als gesellschaftlichem Verhältnis zu sprechen, um verstehen zu können, wie diese Morde und weitere rassistisch motivierte Morde in den letzten Dekaden in Deutschland geschehen konnten. Mir scheint dieses Vorgehen möglich, weil die Personalisierung des NSU als Rassisten kein tragfähiges Argument ist. Die zahlreichen Nachforschungen über den NSU haben inzwischen deutlich gemacht, dass die dreizehnjährige Aktivität der Gruppe und zwölf ihrer Banküberfälle sowie die Exekutionen von zehn Personen nicht ohne ein breites Unterstützerumfeld ausgekommen sein konnte. Inspiriert durch transnationale, rechtsextreme Netzwerke und ihre Aufrufe zum bewaffneten Kampf, zum ›führerlosen Widerstand‹, zur Organisation von Zellen und Einzelkämpfern hat der NSU ganz offenbar während der 1990er Jahren beschlossen, dass er zu jenen gehört, die über Leben und Tod von Einzelnen entscheiden: Taten, die auf den ersten Blick unpolitisch erscheinen, ohne Bekennerbriefe, gerichtet gegen Familien und nicht gegen Figuren des öffentlichen Lebens oder einflussreiche Institutionen oder Organisationen. Taten aber, die dennoch sowohl in der rechten Szene verstanden und rezipiert als auch von den Familien der Opfer als Taten erkannt wurden, deren politische Motivation, deren gesellschaftliche Blaupause Rassismus ist. Selbst wenn wir davon ausgehen wollten, dass Rechtsextremismus das Problem von wenigen ist, wie manche Beiträge nahelegen, bleibt zu erklären, wie es dazu kommen konnte, dass die Mordserie nicht schon zuvor aufgeklärt worden ist und damit weitere Morde verhindert worden wären. Dies kann nur durch eine Gesellschaftsanalyse geschehen, für die Rassismus eine zentrale Rolle spielt. Drei Dimensionen erscheinen mir hier von Relevanz. Hinzu kommt als vierte Dimension, dass eine breite Unkenntnis darüber herrscht, was eigentlich unter Rassismus zu verstehen ist. Das hat wiederum damit zu tun, dass eine Rassismusanalyse weiterhin sehr wenig Raum erhält, um sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft angemessen entwickelt und diskutiert werden zu können.

E INE G ESCHICHTE VON M IGR ATION UND R ASSISMUS Die Geschichte der Migration in die Bundesrepublik Deutschland und das migrantische Leben sind nicht seit jeher oder vorgängig von Rassismus gekennzeichnet, vielmehr konstituierte sich ein spezifischer Rassismus im Verhältnis zur Migration (vgl. Bojadžijev 2012). Dieser bis heute existente kulturalistisch geprägte Rassismus, der sich im engen Sinne von biologistisch argumentieren-

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den Rassemustern löste, verlagerte sich, ganz allgemein gesprochen, auf die Rede über kulturelle und religiöse Identitäten und Ethnien. Er entfernte sich damit immer weiter von seinem Signifikat. Wenn man, hier wieder Adorno paraphrasierend, davon ausgeht, dass Rassismus sein Objekt immer schon erfunden hat, dann trat diese Funktion beim kulturalistischen Rassismus umso stärker in den Vordergrund. Über diese Geschichte ist aber in Deutschland sehr wenig bekannt. Sie beginnt meist, wenn überhaupt, erst mit den Pogromen und Übergriffen nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten in den 1990er Jahren. Auch in der Berichterstattung zum NSU wird dieser Zusammenhang selten hergestellt. Ich habe fünf Artikel gezählt, in denen die Geschichte des Rassismus eine Rolle spielt und die alle um die Zeit veröffentlich wurden, in der die ›Entdeckung‹ der NSU-Zelle sich jährte: Es ist Kenan Kolat, der in einem Interview (Neues Deutschland, 3.11.2012) daran erinnert, es ist Uwe-Karsten Heye (Der Freitag, 31.10.2012), der sich auch zuvor immer wieder öffentlich gegen Rassismus geäußert hat, und es sind zwei Artikel in Die ZEIT, einer davon versucht zu verstehen, woher die Neonazis historisch kommen (vgl. Staud 2012). In allen wird zu Recht deutlich gemacht, dass die Erfahrungen der 1990er Jahre Neonazis durchaus signalisieren konnten, dass nicht sie und ihre Taten im Zentrum gesellschaftlicher und politischer Sorge standen. Rassismus hat nicht nur in Bezug auf Migration eine Geschichte in diesem Land, aber für ein Verständnis der NSU-Morde hat die Kenntnis über ihren Verlauf eine herausragende Relevanz.

I NSTITUTIONELLER R ASSISMUS Wir dürfen aber das Schweigen der Vergangenheit, das Schweigen in Bezug auf die Vergangenheit und jenes in Bezug auf die Gegenwart, nicht verwechseln. Ich sehe einige Aspekte, die es in Bezug auf diese Gegenwart und den NSU-Fall rechtfertigen, auch wenn der Begriff umstritten ist, von ›institutionellem Rassismus‹ zu sprechen. Das soll ausdrücken, dass rassistische Denkund Handlungsweisen nicht Sache einzelner Individuen sind, sondern in der Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens verortet sind, welche ›die Anderen‹ gegenüber den Angehörigen der eigenen Gruppe systematisch entrechtet, die gesellschaftlichen Gruppen und Individuen trennt; sie in Subjekte mit ›ethnischer‹ und ›rassischer‹ Identität überführt. Alltagssprachlich und politisch ist damit meist vom Rassismus die Rede, der institutionell in staatlichen Apparaten verankert ist, d.h. von Behörden praktiziert wird, etwa in der Diskriminierung in Ämtern, wie etwa dem Ausländer- oder Ordnungsamt. Genauer lässt sich ›institutioneller Rassismus‹ nach Robert Miles (1991) in zwei Arten von Verhältnissen definieren. Erstens in Bezug auf Ausgrenzungspraktiken, die direkt aus einem rassistischen Diskurs heraus entstehen

Wer von Rassismus nicht reden will

und ihn materialisieren, ohne dass die Praktiken explizit durch diese Diskurse legitimiert werden müssen. Zweitens beruht er auf Verhältnissen, in denen ein explizit rassistischer Diskurs so abgewandelt wird, dass sein unmittelbar rassistischer Inhalt verschwindet, sich die ursprüngliche Bedeutung aber auf andere Wörter überträgt (vgl. Miles 1991: 113). Die zweite Ausprägungsform charakterisiert Miles als einen »Verschiebungsprozess der Bedeutungen, in dessen Rahmen ein rassistischer Diskurs in einem anscheinend nicht-rassistischen Diskurs Eingang findet« (ebd.: 115). Die metonymische Wandlungsfähigkeit ist dem Rassismus eigen und findet sich im Fall des NSU-Komplexes. Das lässt sich auch mit der entsprechenden Analyse der Berichterstattung nachzeichnen. a) Es geht um das Versagen, einen rechtsextremistischen Kontext bei der Mordserie des NSU zu erkennen und b) damit zusammenhängend die Opfer für Täter zu halten. Dieses Versagen ist inzwischen akribisch dokumentiert und z.B. in dem Artikel Neben der Spur der Süddeutschen Zeitung vom 5.5.2012 nachvollzogen worden (vgl. Goetz et al. 2012). Nicht nur der Drang, in den Kreisen der Mordopfer nach den Tätern zu suchen, ihre Familien zu verdächtigen und die Sonderkommissionen »Halbmond« oder »Bosporus« zu nennen, weil das, wie der damalige Chefermittler Wolfgang Geier zu Protokoll gab, dem Herkunftsort der Opfer galt, spricht für die Banalität von Rassismus. Auch die Tatsache, dass die erste Spur im Jahr 2007, die dem Rechtsextremismus folgte, im Nichts endete: »Im Ergebnis«, schreibt ein Ermittler Ende 2007 über das Meinungsbild bei den Radikalen, »ist festzuhalten, dass eine fremdenfeindlich motivierte Straftat nicht vorliegt, da die Mordopfer für ihren Unterhalt selber sorgten und aufgrund ihrer Berufstätigkeit den deutschen Staat (Steuerzahler) nicht ausnützten.« (Ebd.) Zu diesem eigenartigen Befund passt auch die Schlussfolgerung im genannten Artikel der Süddeutschen Zeitung, dass über Rassismus im Zusammenhang der polizeilichen Ermittlungen nicht zu sprechen lohnt: »Das Stereotyp, was der Nachbar aus der Türkei so macht, wie er gestikuliert, wie er zockt, ist auch ein Teil des Problems. Darin muss kein Rassismus liegen, sondern vielleicht etwas, das ebenfalls verstörend ist: ein automatisiertes Denken, in dem Schlüsse gezogen werden, weil sie ja angeblich zu einem Milieu passen.«

c) Es ist der Rassismusanalyse zu verdanken, dass wir wissen, wie Diskursautomatismen im Zusammenhang von Rassismus funktionieren, und dass explizit nicht sprechen muss, wer rassistisch argumentiert. Die völlige Unkenntnis solcher Analysen, die Abwehr des Begriffs in diesem Beitrag der SZ, der dem strukturellen Rassismus so detailliert nachgeht, die Bezeichnung aber ver-

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meiden will, erscheint mir symptomatisch für die vorherrschende Vorstellung: Pleiten, Pech und Pannen, aber kein Zusammenhang, der erklären könnte, wie es zu so viel Pleiten, Pech und Pannen überhaupt kommen kann. Darin liegt eben die Kontinuität des Versagens, wie Mely Kiyak am 2.11.2012 in der taz schreibt: »Was also ist der Skandal? Mordende Rechtsterroristen? Oder nicht vielmehr die über 14 Jahre lang nicht im Rechtsextremismus ermittelnden Behörden, Nachrichtendiensten, Polizei, Politik? Tatsache ist: Die Opfer der Zwickauer Terrorzelle waren nicht nur Opfer des NSU, sie sind auch Opfer der deutschen Sicherheitsbehörden.« (Kiyak 2012)

d) Darüber hinaus – auch das machen die Ermittlungen und auch die Berichterstattung deutlich – werden die Opfer als Ausländer gesehen, mithin der gesamte Fall deterritorialisiert. Wir wissen um die Implikationen solcher Perspektiven: Sie bedeuten nichts anderes, als dass wie mit der alten Sündenbocktheorie argumentiert wird, die Präsenz der Migranten den Ausgangspunkt bildet, feindlich, eben fremdenfeindlich zu sein. Auf diese Weise, und unter Verwendung des Begriffs der Fremdenfeindlichkeit, wird Rassismus jenseits der Gesellschaft verortet, an einem Ort, der nur künstlich, nur vorübergehend, nur partiell von einer Problematik betroffen ist, die sich auf eine Gruppe, die Migranten und ihre Feinde, eingrenzen lässt. e) Der strukturelle Rassismus wird auch da deutlich, wo er versucht, sich staatstragend und neutral zu geben: In dem Versuch, Gewalt von links und rechts in der Extremismusmetapher gleichzusetzen. Uwe-Karsten Heye weist darauf in seinem Artikel hin, wenn er über die Verstrickung von Medien und Politik spricht. Mit der sogenannten »Extremismusklausel wird die Mitfinanzierung des Bundes für Projekte gegen Rechtsextremismus davon abhängig gemacht, dass Initiativen gegen Rechts sich schriftlich zur freiheitlich demokratischen Grundordnung bekennen. […] Das schwächt den zivilen Widerstand gegen Rechts.« (Heye 2012)

f) Schließlich ist Rassismus auch Teil von mancher Parteipolitik. Populistische Forderungen, in denen vor der ›Einwanderung in die Sozialsysteme‹ gewarnt wird, von Deutschland als dem ›Sozialamt der Welt‹ die Rede ist, kennzeichnen ein übliches Ideologem, mit dem gegen Einwanderung und MigrantInnen mobilisiert wird. Wir hören es auch heute noch und nicht nur in den Reden des SPD-Mitglieds Thilo Sarrazin.

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R ECHTSE X TREMISMUS UND R ASSISMUS IN EINEM E UROPA DER K RISE Neben der historischen und institutionellen Dimension existiert eine weitere, ohne die ein Verständnis von Rassismus heute nicht komplettiert werden kann – es geht um die europäische Konfiguration von Rassismus. Damit geht unter Bedingungen der Europäisierung in der Krise ein erstarkter Nationalismus einher: Durch intensivierte Kommunikation, Stärkung gegenseitiger Abhängigkeiten, Relativierung der Bedeutung von Grenzen, graduelles Auftauchen geteilter politischer und kultureller Räume gelangen wir offenbar keineswegs zu der Auffassung neu zu konstituieren, was Europa sein kann, sondern zu einer Intensivierung von Intoleranz und Destruktion und zu Forderungen nach mehr oder weniger erfundenen kollektiven Identitäten. Der uns in der vergangenen Dekade verfolgende Slogan vom Kampf der Kulturen wurde zu einer self-fullfilling prophecy und prägt unsere Realität. Das Freund-Feind-Schema wird zu einer Verhaltensregel, in die sich viele einschreiben. So wird ein Konsens zwischen denen sich gegenüberstehenden Positionen gestiftet: Es gibt keine Verhandlungen oder Dialoge, denn es handelt sich um unvereinbare ›Kulturen‹. Nebenbei steigerte dies die Signifikanz der Religion als Faktor in der europäischen Politik und führt durch die Überdeterminierung der ›Konflikte zwischen Kulturen‹ in politischen Diskursen zu einer komplexen Interaktion zwischen dem Religiösen und dem Postkolonialen. Sicher ist, dass die Counter-Jihad-Bewegung nach den Anschlägen 2001 ebenso wie der Anti-Islamismus, der sich in ganz Europa gegen die muslimische Bevölkerung richtet, wie der Soziologe Chetan Bhatt (2012) zeigt, einen erheblichen Beitrag zur Verstärkung dieser Tendenz geleistet hat. Sicher ist auch, dass die verschiedenen rechtsextremen, neonationalsozialistischen sowie rechtpopulistischen Bewegungen und Parteien in ganz Europa in den letzten Jahren exorbitante Formen angenommen haben, bisweilen verbunden mit einer Theorieproduktion der Neuen Rechten, die bis zurück in die 1980er Jahre und weiter reicht. Ausdruck fand das im mörderischen Amoklauf von Anders Breivik in Norwegen im Sommer 2011 und in der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds in Deutschland über viele Jahre hinweg. Diese rechten Bewegungen, auch wenn sie eine nationalistische Gesinnung haben, basieren auf transnationalen Netzwerken und artikulieren ihre Politik über den nationalen Kontext hinaus nach Europa hinein, wie etwa die in der Krise gestärkten Anti-Euro-Bewegungen oder die Bürgerbewegungen gegen Moscheen oder die skandalisierenden Debatten um Kopftücher.

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R ASSISMUSVERSTÄNDNIS UND D ELEGITIMIERUNG DER R ASSISMUSANALYSE Inzwischen hat der sogenannte NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte vor dem Oberlandesgericht in München begonnen und überrascht zeigte sich die Presse: ›Sie ist ja eine von uns.‹ Die Artikel geben uns eine paradoxe Botschaft: Einerseits geht es ›um eine ganz normale Frau‹ und damit um eine Verharmlosung auch der Taten. Andererseits geben sie uns zu verstehen, dass wir irgendwie daran beteiligt waren, dass geschehen konnte, was geschah. Aber worin genau besteht diese Beteiligung? Können wir sagen, wie es eine Reihe von Aufrufen und Resolutionen in Folge der Aufdeckung der NSU-Mordserie getan haben: »Das Problem heißt Rassismus?« 2 Ich würde sagen, dass diese Formel den Ausgangspunkt bilden kann. Der Maßgabe Kritischer Theorie folgend, würde ich neben dem soeben dargestellten Phänomen einer Marginalisierung der Rassismusanalyse deshalb gerne abschließend auf einen weiteren Punkt hinweisen, der hier nicht im Detail ausgeführt werden kann: Auch die Theoriebildung zu Rassismus muss der Kritik unterzogen und aktualisiert werden. Schwierigkeiten seiner Analyse liegen nämlich auch in den Defiziten kritischer Rassismustheorie selbst begründet. Wir wissen heute, dass ›Rasse‹ – und ein bisschen weniger klar ist das für ›Ethnie‹ – keine validen Begriffe sind. Die Kritik des Begriffs geht auf eine lange Tradition zurück – es gibt sie im Grunde schon, seit die Aufteilung der Menschen nach Rassekonzepten überhaupt in die Welt gesetzt wurde (vgl. zum Überblick Back/ Solomos 2000). Wir wissen dies nicht nur durch die Geschichte der Kritik des Begriffes, sondern auch weil die Geschichte ebenso voll von Politiken und Praxen ist, durch welche die ›Evidenz‹ von Rasse zu einer materiellen Realität wurde. Das Problem liegt inzwischen in der Unzahl ihrer Manifestationen. Mit der Diskreditierung der Rassen-Konzepte durch den diversen Anti-Rassismus ist es schwierig geworden, Rassismus analytisch abzugrenzen. Denn es stellt sich die Frage: Ist der Begriff des Rassismus überhaupt noch angemessen, wenn es kein vereinheitlichendes Merkmal mehr gibt, das eine Gruppe aufgrund seines Status per se ausschließen würde, wie es durch das Rassenkonzept suggeriert wurde (und noch wird)? Zugleich spielt das Prinzip der Rassialisierung (vgl. Fanon 1966, 180; Miles 1991, 96-103) aber eine herrschende soziale Rolle, insbesondere als ein geneaologisches Prinzip und in Vorstellungen, die eine Mentalität und Fähigkeiten von Individuen sowie Gruppen behaupten, die auf ihren Ursprung und ihre Abstammung zurückgehen (etwa durch Religionsgemeinschaften, Ethnien, im Begriff des Migranten). Das ist Rassismus im weitesten Sinne des Begriffs. Dazu kommt die andauernde und drängende Frage, wie es möglich ist, dass Individuen und ganze Gruppen von Teilhabe am politischen Prozess ausgeschlos2 | Vgl. u.a. Bündnis gegen das Schweigen, http://buendnis-gegen-das-schweigen.de/.

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sen sind. Im Kern ist damit der Universalismus im Staatsbürgerschaftskonzept berührt. In Deutschland wurde die aus dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts erwachsene, auf Ethnizität basierende Staatsbürgerschaft (jus sanguinis), erst durch eine zaghafte Reform im Jahr 2000 modifiziert und durch eine Staatsbürgerschaft nach dem Geburtsort ergänzt, die jedoch mit einem Verfallsdatum bei Volljährigkeit verbunden bleibt. Das mischt sich mit Kulturalisierungsstrategien und Zuschreibungen von Abweichung, die nicht nur diskursiv in die Forderung nach Integration eingebaut sind. Es existieren zahlreiche rechtliche Vorgaben durch Integrationskurse, Integrationsvereinbarungen, Einbürgerungstests, Integrationsgesetze (NRW), Integrationsagenturen, Datenerhebungen zum Migrationshintergrund (Arbeitsagentur) durch die zusammen mit ungezählten Projekten und paternalistischen Sozialprogrammen eine Kulturalisierung gesellschaftlicher Widersprüche immer weiter getrieben wird (vgl. Frings 2013), die aber nicht alle ›Migranten‹ betrifft, sondern stets bestimmte Gruppen. Die schwierige Vereinheitlichung und Universalisierung eines Rassismusbegriffs spricht dafür, dass sich gegenwärtig keine kohärente oder systematische Ideologie des Rassismus verfestigt. Vielmehr stellen die unterschiedlichen Manifestationen von Rassismus ein Gedankengerüst vor allem innerhalb der Neuen Rechten, rechten religiösen Bewegungen bis hinein in Koalitionen mit liberalen und sogar linken Projekten bereit. Es generiert ein Feld des Denkbaren über die Fremde/den Fremden und macht sie/ihn so zum Objekt von Politik. Eine Assemblage von Feldern setzt sich darin immer wieder neu zusammen: Vorstellungen von Zivilisation, Religion und Kultur, Rasse, Ethnizität und Nationalismus werden gemischt und überlagern sich. Dies geschieht unter post- und supra-nationalen Bedingungen, sie setzen das Nahe und das Ferne, das Vergangene und das Gegenwärtige neu zusammen und schaffen eigene Raum- und Zeitlichkeiten. Gerade die Inkonsistenz dieses Felds vermag es, die affektiven Kräfte für eine autoritäre Politik zu generieren, die wir überall in Europa sehen können (vgl. Bhatt 2012). Wir wissen heute ebenso, wie wir es wohl immer wussten, dass Rassismus eine unsere Gesellschaften strukturierende Ideologie ist. Aber es zu wissen und bereit zu sein, es anzuerkennen, sind nicht immer die gleichen Dinge. Adorno hat das im Jahr 1969 im anfangs zitierten Text emphatisch zur Haltung zur Kritik seiner, aber wie für unsere Zeit geschrieben: »Kritik wird gleichsam departementalisiert. Aus einem Menschenrecht und einer Menschenpflicht des Bürgers wird sie zum Privileg derer gemacht, die durch ihre anerkannte und geschätzte Stellung sich qualifizieren. Wer Kritik übt, ohne die Macht zu haben, seine Meinung durchzusetzen, und ohne sich selbst der öffentlichen Hierarchie einzugliedern, der soll schweigen.« (Adorno 1969: 22)

Schweigen und Nicht-Zuhören sind aber zwei sehr verschiedene Aktivitäten.

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L ITER ATUR Adorno, Theodor W. (1969): »Kritik«, in: Die ZEIT, Nr. 26 vom 27.6.1969, S. 2223. Back, Les/Solomos, John (2000): Theories of Race and Racism. A Reader, London/New York: Routledge. Balibar, Etienne (2006): »The return of the concept of race«, in: Modena Philosophy Festival, 15.9.2006), www.springerin.at/dyn/heft_text.php?textid=2097 &lang=en, zuletzt aufgerufen am 8.5.2013. Balibar, Etienne (2011): »The Genealogical Scheme: Race or Culture?«, in: Trans-Scripts: An Interdisciplinary Journal in the Humanities and Social Sciences 1, www.humanities.uci.edu/collective/hctr/trans-scripts/2011_01_ launch.pdf, zuletzt aufgerufen am 8.5.2013. Bojadžijev, Manuela (2012): Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, 2. Aufl., Münster: Westfälisches Dampfboot. Bhatt, Chetan (2012): »The New Xenologies of Europe. Civil Tensions and Mythic Pasts«, in: Journal of Civil Society 8, Number 3, S. 307-326. Buck-Morss, Susan (2011): Hegel und Haiti, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fanon, Frantz (1966): Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michael (1984): Sexualität und Wahrheit. Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Goetz, John/Leyendecker, Hans/Richter, Nicolas/Schulz, Tanjev (2012): »Neben der Spur. Anatomie eines Staatsversagens: Warum es der Polizei nicht gelang, die Terroristen zu finden«, in: Süddeutsche Zeitung vom 5.5.2012. Guillaumin, Colette (1995) 1981: »›I know it’s not nice, but…‹ The changing face of ›race‹«, in: Dies. (1995): Racism, Sexism, Power and Ideology, London/ New York: Routlegde, S. 99-107. Heye, Uwe-Karsten (2012): »Besiegt die Angst«, in: Der Freitag vom 31.10.2012. Kleffner, Heike (2013) »Rassismus und Staatsvertrauen. Vom journalistischen Versagen im NSU-Komplex«, in: Der Tagesspiegel vom 20.3.2013, www. tagesspiegel.de/politik/rechtsextremismus/rassismus-und-staatsvertrau en-vom-journalistischen-versagen-im-nsu-komplex/7958130.html, zuletzt aufgerufen am 10.5.2013. Kiyak, Mely (2012): »Schon wieder – nie wieder«, in: Die Tagezeitung vom 2.11.2012. Miles, Robert (1991): Rassismus. Einführung in die Geschichte und Praxis eines Begriffs, Hamburg: Argument. Staud, Toralf (2012): »Generation Nazi«, in: Die ZEIT vom 31.10.2012. Witthaut, Bernhard (2012): »Ich versteh den Vorwurf nicht.«, Interview von Daniel Bax in: Die Tageszeitung vom 22.12.12, www.taz.de/!107927/, zuletzt aufgerufen am 10.5.2013.

Rechtsextremer Terror NSU Die Konstruktion von Genderstereotypen Michaela Köttig

Der Fall des rechtsextremen Terror Trios, selbst benannt als ›Nationalsozialistischer Untergrund‹ (NSU), weitet sich mehr und mehr zu einem Behördenskandal aus. Nicht nur, dass das Beteiligtsein durch die Verweigerung der Herausgabe von Akten verschleiert wird, auch die desaströsen Versuche der vor den Untersuchungsausschuss Geladenen ihre Unwissenheit über den Vorgang zu demonstrieren erhitzt allenfalls noch die interessierteren Gemüter. Ganz in den Hintergrund gerät dabei das Interesse daran, wie die drei RechtsextremistInnen bei ihren Taten vorgegangen sind, welche unterstützenden Netzwerke es gegeben hat, welche Hintergründe das Schweigen der beteiligten Frau Beate Zschäpe hat und wie die Strukturen dieser Gruppe in die rechtsextreme Szene hinein waren – bzw. ob von diesen Strukturen noch immer Gefahren ausgehen. Mehr Licht in diese ungeklärten Fragen wird hoffentlich der Prozess gegen Beate Zschäpe sowie gegen vier weitere, wegen Unterstützung bzw. Beihilfe angeklagten Männer aus der rechtsextremen Szene bringen, obwohl zu befürchten ist, dass im Verfahren, aufgrund der behördlichen Verstrickungen, auch weiterhin vieles im Dunkeln bleiben wird. Vor diesem Hintergrund möchte ich den Fall aus drei unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Zunächst einmal diskutiere ich Genderstereotype in der Berichterstattung kurz nach der Aufdeckung des Falles. Darüber hinaus ist auch die Konstruktion spezifisch rechtsextrem ideologisierter Genderstereotype durch die Berichterstattung zu beobachten, die dazu führt, dass Mädchen und Frauen nicht als politisch aktiv Handelnde wahrgenommen werden. In einem weiteren Schritt gehe ich Fragen nach der inneren Strukturiertheit der Gruppe sowie der nach außen gerichteten Interaktion der im Untergrund zu einem Trio zusammengeschlossenen zentralen Figuren Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach. Anhand der wenigen Anhaltspunkte wage ich folgende These: Wenn der Fokus der Analyse gezielt auf das Gruppenhandeln gelegt wird, zeigt sich strategisches Handeln insbesondere darin, dass in der 13-jährigen Phase des Untergetauchtseins von der

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Gruppe gesellschaftlich verankerte Genderrollentypen gezielt bedient wurden, um unerkannt zu bleiben.

D IE A UFDECKUNG DES F ALLES UND DIE B ERICHTERSTAT TUNG INNERHALB DIESER P HASE Die Aufdeckung des ›rechtsextremen Terrortrios‹ und der von ihnen sehr wahrscheinlich begangenen Taten erfolgte überraschend und offenbarte innerhalb weniger Tage ein erschütterndes Ausmaß rechtsextremer Gewalt, mit dem bis dahin kaum jemand gerechnet hatte. Durch die Erkenntnisse wurde die Bevölkerung auf unterschiedlichen Ebenen konfrontiert: Zunächst einmal damit, dass es entgegen der weitläufigen Annahme tatsächlich rechtsextremen Terrorismus in Deutschland gibt – was auch durch die professionell mit Terrorismus befassten Stellen bis dahin de-thematisiert oder gar verneint wurde – u.a. mit der Begründung, dass politischer Terrorismus immer von BekennerInnenschreiben begleitet werde (vgl. bspw. Der Spiegel 14.11.2011: 75), was in diesem Fall ausblieb. Daneben wurde die Öffentlichkeit mit der Tatsache konfrontiert, dass RechtsextremistInnen klug und strategisch vorgehen und ihre Taten so planen, dass sie selbst im Verborgenen bleiben, sich nicht öffentlich ihrer Taten rühmen und gleichzeitig gegenseitiges Misstrauen in den migrantischen communities sähen. Damit war offenkundig widerlegt, dass es sich bei RechtsextremistInnen um einige eher dümmlich-verwirrte männliche jugendliche Schläger handelt (vgl. Elverich 2007). Und schließlich: dass eine Frau an diesen rechtsextrem motivierten Gewalttaten beteiligt sein kann und über einen derart langen Zeitraum politisch motiviert im Untergrund lebt – da allgemein Frauen kaum strategische rechtsextremistische Handlungsmuster zugetraut werden (ebd.). Die mit der Enthüllung einhergehende Konfrontation oder gar Infragestellung festgelegter Zuschreibungen sowie das öffentliche Bedürfnis mehr über den Fall zu erfahren, bei gleichzeitigem Mangel an vorhandenen Informationen sind vermutlich u.a. Gründe dafür, dass JournalistInnen daran gingen Spekulationen über die TäterInnen anzustellen. Durch diese Spekulationen wurden TäterInnen-Persönlichkeiten konstruiert, die nur ein sehr eingeschränktes Bild der Biographien der Beteiligten sowie ihrer Motive und Aktivitäten wiedergeben. Allerdings sind diese Konstruktionen sehr wirkmächtig und prägen die Wahrnehmung über die drei Verdächtigen in der Öffentlichkeit. Darüber hinaus steht zu befürchten, dass auch die Verfolgungsbehörden durch sie beeinflusst werden. Anhand der Berichterstattung, und einer Beurteilung des Falles durch eingesetzte Gutachter, werde ich herausarbeiten, dass diese TäterInnen-Konstruktionen sowohl auf allgemeinen genderrollenstereotypen Annahmen basieren als auch spezifischer auf Stereotypen im Hinblick auf Frauen- und Männerrollen im Rechtsextremismus.

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F OKUSSIERUNG DER B ERICHTERSTAT TUNG AUF F RAUENSTEREOT YPE In den ersten Tagen nach der Eröffnung des rechtsextremen Hintergrunds und dem Ausmaß des Falles war die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit sehr groß, Einzelheiten zu erfahren. In dieser Zeit hatten die Ermittlungsbehörden jedoch nur wenige Erkenntnisse vorzuweisen. Daher waren die Medien gezwungen, auf der Basis einer relativ dünnen Faktenlage vergleichsweise viel berichten zu müssen. Hinzu kam, dass es für jedes Publikationsorgan aufgrund der Brisanz unerlässlich war, den Fall aufzugreifen, sodass auch JournalistInnen mit der Aufgabe betraut wurden, die sich in diesem Themenfeld nur wenig auskannten. So entstanden quer durch die Presselandschaft Berichte, in denen über die Tathergänge, die Persönlichkeiten der TäterInnen und ihre Motive spekuliert wurden. Anhand von ausgewählten Artikeln aus der BoulevardPresse (wie dem Berliner-Kurier, der Hamburger Morgenpost und der Bild-Zeitung) und aus eher als seriös geltenden Medien (wie der Frankfurter Rundschau) möchte ich aufzeigen, dass in den Aussagen auf Stereotype zurückgegriffen wurden, die sich in Deutschland sowohl im Bereich von Geschlechterrollen als auch im Hinblick auf Rechtsextremismus entwickelt haben. Relativ eindeutig und wenig subtil lässt sich die Genderrollenfokussierung, bezogen auf die beteiligte Frau Beate Zschäpe, in der Boulevardpresse zeigen: So titelt die Hamburger Morgenpost und der Berliner Kurier mit Fotos am 14.11.2011: »Die Braut des Bösen.« Auf Seite eins, unter der Überschrift »Die eiskalte Killer-Braut«, wird in einem Bericht von Marcus Böttcher und Joachim Ortmann u.a. spekuliert: »[…] und Beate Zschäpe soll ›wechselweise‹ mit dem einen oder anderen Uwe zusammen gewesen sein. Freie Liebe unter Neonazis?« Der Chefkolumnist der Bild-Zeitung Franz Josef Wagner hält insbesondere an den Themen der Liebesbeziehungen und dem ›Nazi-Braut‹-Status fest, erweitert diese jedoch in der Hinsicht, dass er die Rolle der dienenden Hausfrau als Metapher hinzufügt. Am 15.11.2011 schreibt er unter dem Titel »Unheimliche Beate Zschäpe« in Form einer persönlichen Anfrage an die Tatverdächtige: »Wer sind Sie? Mitläuferin? Hörige Komplizin, die das Bett mit den beiden Killer-Nazis teilte? Was für eine Rolle spielten Sie da? Killer-Luder oder Killer-Servicefrau, Geschirr spülen, das Versteck im Untergrund sauber halten? … Entweder sind Sie eine bösartige Kriminelle oder eine tief verzweifelte Frau, die lieber mit Mördern lebt, als einsam zu sein.«

Nur einen Tag später (16.11.2011) titelt die Bild: »Die Nazi-Braut galt als heißer Feger.« Diese Aussage wird als Zitat eines Rechtsextremisten dargestellt, der sagt, er habe Beate Zschäpe bei einer NPD-Weihnachtsfeier in Georgsmarienhütte im Jahr 2004 kennengelernt – also zu einem Zeitpunkt, als sie bereits im

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Untergrund lebte. Und einen weiteren Tag später (17.11.2011) veröffentlicht die Bild-Zeitung Photos, auf denen Beate Zschäpe als Jugendliche verschlafen im Bett mit einem der beiden mutmaßlichen Täter (Uwe Mundlos) gezeigt wird, was dann in der Überschrift mündet: »Die Unheimliche mit dem Schlafzimmerblick.« (Hellmann/Keck/Völkerling/Wilke 2011) In ihren Texten bedienen die AutorInnen klassische sexistische Zuschreibungen an Frauen, wie: das hinterhältige, uneinschätzbare Biest, die sexuell Unersättliche oder Hörige, die Einsame und die dienende Hausfrau. Diese Zuschreibungen an Frauen basieren auf bipolar angeordneten Geschlechterkonstruktionen, in denen der Mann als dominant und die Frau als unterlegen konzipiert wird. Diese Konstruktionen dienen der Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen, wie Simone de Beauvoir bereits 1951 rekonstruiert hat. Oelhaf (2012), die eine kritische Diskursanalyse zur Berichterstattung der Bild-Zeitung in den Tagen 8.-18.11.2011 unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Taten durchgeführt hat, weist denn auch nach, dass im Rahmen der Berichterstattung eine Sexualisierung Zschäpes stattfindet (vgl. Oelhaf 2012: 3). Darüber hinaus zeigt sie auf, dass in diesen »Charakterisierungen Zschäpes Aussagen zu ihrem Liebes-, Sex- und Beziehungsleben einigen Raum ein[nehmen a.d.V.], während dies bei entsprechenden Stellen zu Böhnhardt und Mundlos vollkommen ausgespart bleibt. Das ›Buhlen‹ mehrerer Neonazis und ihr Ruf als ›heißer Feger‹ machen sie zum Sexobjekt (männlicher) Nazis, ihr abwechselndes ›Zugange-Sein‹ mit Böhnhardt und Mundlos rückt sie mit leicht negativem Unterton in Richtung Promiskuität. Ihr Rechtsextremismus wirkt hingegen eher nebensächlich und außerdem passiv: sie ist eine Mitläuferin […] Nichts davon zeichnet das Bild einer Frau, die möglicherweise aus rassistischen Motiven mehrere Menschen getötet hat« (ebd.).

In diesem Zitat wird deutlich, dass neben der Sexualisierung noch eine weitere Dimension wirksam wird, nämlich die der Herstellung geschlechterrollenstereotyper rechtsextremer TäterInnen.

D IE K ONSTRUK TION VON GENDERROLLENSTEREOT YPEN RECHTSE X TREMER T ÄTER I NNEN – P ERSÖNLICHKEITEN Als zentrale genderrollenstereotype Männlichkeitskonstruktion arbeitet Virchow (2010) die seit dem, und trotz des ›Scheiterns‹ des Nationalsozialismus favorisierte Rolle des ›soldatischen Kämpfers/Kriegers‹ heraus. Mit dieser Konstruktion werden Eigenschaften wie Heterosexualität, Familienernährer, Kompromisslosigkeit, Härte, Stärke, Opferbereitschaft, Todesmut, Tapferkeit sowie der Dienst am Volk und an der Nation bis zur Selbstaufopferung verbunden (vgl. Virchow 2010: 42). Die Konstruktion unterliegt der Führer-Gefolgschaftsanordnung,

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d.h. es geht einerseits um die soldatische männliche Elite und andererseits um den proletarisch gewaltaffinen Typus (vgl. Heilmann 2010: 54), worin sich andeutet, dass es sich um eine Einteilung in den ›Vordenker‹ und die ›Umsetzer‹ der Ideologie handelt. Diese Männlichkeitszuschreibungen erhalten sich beständig innerhalb und außerhalb des Rechtsextremismus, obwohl sich nach Heilmann »Ansatzpunkte für eine Modernisierung im Sinne einer flexibel-normalisierenden Anpassung an aktuelle Formen zivilgesellschaftlicher Männlichkeit« (2010: 60) zeigen – d.h. auch im Rechtsextremismus werden sehr unterschiedliche Formen männlicher Selbstpräsentationen lebbar. Ganz ähnlich gilt dies auch im Hinblick auf Weiblichkeitskonstruktionen im Rechtsextremismus. Klassische Zuschreibungen an rechtsextreme Weiblichkeit, die sich ebenfalls aus nationalsozialistischer Ideologie ableiten lassen, beziehen sich vor allem auf Funktionen von Frauen als Gebärerinnen und Erzieherinnen der nachfolgenden Generation (vgl. Bitzan 2011: 116f.). Eigenständige politische Positionen und deren Umsetzung werden ihnen kaum zugetraut, ihr Betätigungsfeld wird vor allem im Bereich der Beziehungsarbeit und der Brauchtumspflege gesehen (ebd.). Allerdings konnten Wissenschaftlerinnen unterschiedlichste Rollen und Funktionen von Rechtsextremistinnen rekonstruieren, die von der Kämpferin auf der Straße, über die erwerbstätige doppelbelastete Ideologin, bis hin zur ideologisierten traditionellen Mutterrolle reichen. Auch konnte aufgezeigt werden, dass Frauen zwar in einem quantitativ geringerem Ausmaß, aber dennoch in allen rechtsextremen Kontexten beteiligt sind (vgl. u.a. Bitzan 2011; Röpke/Speit 2011; Lang 2010; Döring/Feldmann 2005; Köttig 2004). Trotz dieser Erkenntnisse hält sich sowohl im wissenschaftlichen Kontext als auch in der Öffentlichkeit konstant das Bild, dass Frauen unverschuldet in die rechtsextreme Szene ›hineinrutschen‹ und es sich hierbei um unpolitische, friedfertige Mitläuferinnen handelt, die aufgrund ihrer Partner in die Szene ›geraten‹. Ein Bild, welches auch durch Medien reproduziert wird (vgl. Bitzan/Köttig/Schröder 2003). Auch in der Berichterstattung zum NSU kann dies beobachtet werden. Es wird mit den oben genannten stereotypen Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit im Rechtsextremismus gearbeitet (vgl. Büttner/Lang/Sigl 2012). Allen voran die Boulevard-Presse: In einem Artikel, überschrieben mit dem Titel »Der kranke Hass der Nazi-Killer« (Bild 14.11.2011) schreiben Kiewel et al. über die drei zentralen Figuren: »Uwe Mundlos, der skrupellose Vordenker. Professorensohn, wohlerzogen. Seine frühere Schulleiterin beschreibt ihn als ›unauffällig und höflich‹. Seinen behinderten Bruder schiebt er im Rollstuhl durch das Wohnviertel. Er hört Songs von Lindenberg und besucht Prozesse gegen Holocaust-Leugner. Er zeichnet gern – in seinem Zimmer steht ein selbst gezeichnetes Porträt von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß. Uwe Böhnhardt, der stumpfe Waffennarr. Ein Hilfsbauarbeiter, unbeherrscht, skrupellos. Fast immer trägt

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er einen 30-cm-Dolch bei sich. ›Wenn ihr den seht – rennt!‹, heißt es in der linken Szene. Böhnhardt trägt Bomberjacke und Springerstiefel. ›Der hat bei jeder Gelegenheit den rechten Arm hochgerissen‹, sagt ein Bekannter. Beate Zschäpe, die gefährliche Mitläuferin. Gelernte Gärtnerin. Sie weigert sich, die typische Kluft der braunen Szene zu tragen. Mehrere Neonazis buhlen um sie. Mit Böhnhardt und Mundlos hat sie eine Dreierbeziehung: ›Mal war sie mit dem einen zugange, mal mit dem anderen‹, sagt ein früherer Bekannter. Zu Hause hängt sie eine Reichskriegsflagge auf.«

Und obwohl die Berichterstattung der Bild-Zeitung über den NSU, insbesondere im Hinblick auf Beate Zschäpe, auch deren Mitverantwortung thematisiert (vgl. Oelhaf 2012; Lemm 2012), werden fast überzeichnet die klassischen Rollenklischees sowohl für die beiden Männer – das des strategischen radikalen Denkers und das des brutalen Schlägers – entwickelt als auch für die beteiligte Frau – das der kaum politisierten Mitläuferin, die aus sexuell bedürftigen Motiven handelt. Nun ist von der Boulevard-Presse sex and crime zu erwarten, allerdings werden die Genderrollenklischees auch von eher seriösen Medien bedient. Am 14.11.2011 bspw. titelt die Frankfurter Rundschau mit Photos von den Dreien, auf deren Bildunterschriften die jeweilige Person charakterisiert wird (vgl. Förster/Thieme 2011). Zu Beate Zschäpe ist zu lesen: »war eine der wenigen aktiven Frauen in der rechtsextremistischen Szene. Sie soll sich politisch kaum engagiert haben«. Über Uwe Böhnhardt heißt es: »galt als Waffennarr. Seine rechtsextremistischen Gesinnungsgenossen gehen davon aus, dass er der Todesschütze gewesen sein könnte« und über Uwe Mundlos wird gesagt: »galt als der Gebildete in der Gruppe. Es heißt, er sei höflich, rhetorisch begabt und politisch interessiert gewesen«. Gerade diese Konstruktionen sind aufgrund ihrer Eingängigkeit und ihrer seit dem Nationalsozialismus bestehenden Tradition dazu geeignet, Klischees weiterhin festzuschreiben. Neben diesen ›öffentlichkeitswirksamen‹ Konstruktionen rechtsextremer Männlichkeiten und Weiblichkeit deutet sich an, dass auch innerhalb der Ermittlungsbehörden von ähnlichen Einordnungsmustern ausgegangen wurde. In einem Gutachten, angefertigt von drei hochrangigen Juristen zur Einschätzung des Handelns der Thüringischen Behörden, die mit der Verfolgung der Drei in den 1990er und beginnenden 2000er Jahren vor und kurz nach ihrem Untertauchen beauftragt waren, münden Erkenntnisse über die biographische Entwicklung und die politischen Aktivitäten in eine grundsätzliche Charakterisierung der Drei (vgl. Schäfer/Wache/Meilborg 2012: 54ff.). Beate Zschäpe wird dabei u.a. wie folgt beurteilt: »Der Mitarbeiter des TLKA, der auch Zschäpe vor ihrem Untertauchen vernahm, beschrieb sie als verschlagen und bauernschlau. Bei ihrer polizeilichen Vernehmung sei sie sehr selbstbewusst und herablassend aufgetreten. […] Nach seinen Eindrücken sei sie eine ›berechnende gefühllose Dame‹. […] Nach Meinung eines Mitarbeiters des TLKA

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soll sie abwechselnd Böhnhardts und Mundlos Freundin gewesen sein, was der Mitarbeiter der Zielfahndung bestätigte […].« (Ebd.: 57f.)

Zu Uwe Böhnhardt steht dort u.a.: »Böhnhardt soll nach Einschätzung eines Mitarbeiters der Zielfahndung ein ›Durchgeknallter‹ gewesen sein, der rabiat und nicht vorausschauend handelte, sondern einfach machte. Tino Brandt charakterisierte Böhnhardt zudem als Waffennarr, der militärisch interessiert gewesen sei, was bei ihm immer im Vordergrund gestanden habe.«

Etwas später geht es weiter mit: »nicht übermäßig intelligent, wenig geistig interessiert« (ebd.: 55). Über Uwe Mundlos wird u.a. resümiert: »Demgegenüber schätzte der Mitarbeiter des TLKA Mundlos als überlegter und intelligenter ein. Nach Auffassung des Mitarbeiters der Zielfahndung war Mundlos hochintelligent […]. Er sei ein Schwiegermuttertyp gewesen, besonnener und habe viel geredet. Er habe sich auch gut anpassen können.« (Ebd.: 57)

Diese generalisierten Charakterisierungen bedienen ebenfalls rechtsextreme Genderrollenstereotype und es lässt sich die Frage stellen, ob sie in dieser Form geeignet sind, die Hintergründe für die Herausbildung der TäterInnenpersönlichkeiten zu beschreiben. Diese Charakterisierungen basieren auf Befragungen und Recherchen im sozialen Umfeld der Drei. Die recherchierten Fakten werden jedoch nicht systematisch aufeinander bezogen und in ihrer Genese und Widersprüchlichkeit analysiert, sondern münden – wie oben sichtbar – in recht allgemeine diagnostizierende Statements und dies, obwohl es sehr viele Hinweise in den Biographien und den rechtsextremen Aktivitäten gibt, die diese starre Charakterisierung zumindest ergänzen, wenn nicht gar als fragwürdig erscheinen lassen.

B IOGR APHISCHE H INTERGRÜNDE DES ›TRIOS‹ Werden biographische Daten von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt – generiert aus diversen Zeitungsberichten, dem zitierten Gutachten sowie aus den Aussagen eines Sozialarbeiters (vgl. Frenzel 2011) – in einen chronologischen Verlauf gebracht, so könnte vermutet werden, dass sich Zschäpe und Mundlos bereits als Kinder aus der Schule und der Nachbarschaft kannten, denn sie wuchsen im gleichen Stadtteil auf. Beide entstammen akademisierten Familien (Zschäpes Mutter studierte Zahnmedizin und Ökonomie, Mundlos Vater Informatik). Beide politisierten sich im Zuge des gesellschaftlichen Umbruchs ab 1989; erstritten mit anderen zusammen ein Jugendzentrum für ihre Grup-

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pe. Sie haben 17- und 19-jährig 1992 eine relativ kurze Beziehung, die damit endet, dass Mundlos nicht mehr im Jugendzentrum erscheint und Beate Zschäpe mit einem Kampfhund dort auftaucht. Diesen Kampfhund hetzt sie – zumindest bei zwei bekannt gewordenen Gelegenheiten – auf Menschen. Kurze Zeit später führt Beate Zschäpe Uwe Böhnhardt als Freund ins Jugendzentrum ein. Böhnhardt war bis dahin nicht durch rechtsextremes Verhalten aufgefallen. Entgegen der Annahme, er habe einen proletarischen Hintergrund, kommt er ebenfalls aus einem akademischen Milieu. Seine Mutter ist Lehrerin. Allerdings lässt sich in seiner Biographie im Alter von elf Jahren im Jahr 1988 ein Bruch feststellen, der nach dem Tod seines Bruders – über dessen Umstände nirgends zu lesen ist – eintritt. Zunächst werden Schulprobleme deutlich, später fällt er durch Autoauf brüche und Diebstähle auf. 1993 hatte er eine Beziehung zu Beate Zschäpe, allerdings tauchen die beiden schon bald gemeinsam mit Mundlos auf. Spätestens ab 1994 verstehen sie sich als rechtsextreme Gruppe und nennen sich Kameradschaft Jena, später Thüringer Heimatschutz, und gehen nicht mehr in den Jugendclub. Personen aus dieser Zeit unterstützen die Drei während der gesamten Phase des Untergetauchtseins im engeren und entfernten Kontakt – die Bundesanwaltschaft spricht von 100 Personen im Umfeld des NSU (vgl. Schmidt 2012). Ab 1994 treten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt bei diversen rechtsextremen Aktionen immer zu dritt auf, wobei Mundlos die Rolle des Netzwerkers übernimmt. Er wird bei überregionalen Treffen unterschiedlicher rechtsextremer Gruppierungen beobachtet. Ebenfalls fällt er durch das Tragen von NS-, insbesondere SS- oder SA-Uniformen auf. Zschäpe meldet Demonstrationen an und ist später auch die Mieterin der Garage, in der Sprengstoff und Waffen entdeckt wurden. Zwischen 1995 und 1998 radikalisierte sich die Gruppe weiter und es gibt zahlreiche Hinweise, dass sie angedeutete Sprengstoffattentate verübten, sich als terroristische Zelle verstanden und sich auf ein Leben im Untergrund und den Auf bau eines Unterstützungsnetzwerkes vorbereiteten. Mit der Entwicklung dieses Selbstverständnisses geht einher, dass die Drei spätestens in dieser Zeit, ausgerichtet auf bestimmte Ziele, kontrolliert, gezielt und strategisch agierten. Dieses strategisch ausgerichtete Handeln muss sich in der Phase des Untergrunds fortsetzt haben, da es nur so gelingen konnte, über einen derart langen Zeitraum unentdeckt zu bleiben.

S TR ATEGISCHE G RUPPENAUSRICHTUNG IN DER I NTER AK TION MIT DEM A USSEN Diese gruppenbezogene, strategische Ausrichtung ist ein Phänomen im Kontext von Rechtsextremismus, dem bisher wissenschaftlich noch kaum gezielt nachgegangen wurde. Ich würde es als strategische Gruppenausrichtung in

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der Interaktion mit dem Außen bezeichnen. ›Strategische Gruppen‹ wurden bisher u.a. von Evers (1999) für die Entwicklungssoziologie als solche Zusammenschlüsse beschrieben, die gemeinsam für ihre Rechte kämpfen. Goffman (1969) spricht von strategischer Interaktion Einzelner und bezeichnet damit anhand des Konzepts der Vorder- und Hinterbühne (1985) Aktivitäten wie bspw. das Täuschungsmanöver. Vorder- und Hinterbühnen können im Fall der Drei sehr deutlich markiert werden: bspw. durch das Doppelleben, welches sie in ihrem sozialen Nahraum permanent aufrecht erhalten haben. Dies lässt sich insbesondere durch die Diskrepanz zwischen den Aussagen von Bekannten aus dem sozialen Umfeld und den Tatortfunden veranschaulichen. Als »Strategische Interaktionen« von Gruppen sieht Goffman (1969) die Aktivitäten von Parteien. Er sagt, die strategische Interaktion einer Partei kann »be defined as something with a unitary interest to promote. […] The interests of a party are promoted by action taken on the party’s behalf by individuals who are authorized to act for it and are capable of doing so« (ebd.: 86). Und weiter heißt es im Hinblick auf den einzelnen Handelnden: »The player exercises human intelligence, assessing ›his‹ partys situation, selecting from the available courses of action and committing his party to this selection.« (1969: 86). Wird diese Definition ernst genommen, so ist eine Voraussetzung für ›Parteieninteraktionen‹, dass das Handeln des Einzelnen mit dem der anderen seiner ›Partei‹ verhandelt und abgestimmt sein muss. Vor dem Hintergrund der permanenten Aufdeckungsgefahr im Fall der drei tatverdächtigen RechtsextremistInnen wird dieser Abstimmungsprozess notwendigerweise noch zentraler. So kann bspw. die Nichtaufdeckung des rechtsextremen Hintergrundes für die Morde über einen so langen Zeitraum als ein Symbol für die gute Abstimmung und damit verbunden die gemeinsame Ausrichtung der Drei angesehen werden. Eine solche Perspektive könnte auch erklären, warum sie ihre Beziehungen zueinander im sozialen Nahbereich (bspw. in der Nachbarschaft oder aber an dem Urlaubsort – an den sie über mehrere Jahre hintereinander fuhren) unterschiedlich definierten: So gaben sie sich im Urlaub als enge Freunde aus, während sie in der Nachbarschaft als Paar mit Bruder auftraten. Während sie im Urlaub gleichermaßen den Kontakt zu MiturlauberInnen suchten, trat in der Nachbarschaft Beate Zschäpe als diejenige auf, die die sozialen Kontakte pflegte, die beiden Männer blieben hier weitgehend unsichtbar. Beate Zschäpe entschärft mit diesem Handeln mögliche Irritationen in ihrem Wohnumfeld über ihr Zusammenleben mit zwei Männern, indem sie das Rollenklischee der sozial kompetenten und aufgeschlossenen, für ihre Katzen sorgenden Frau bedient. Hier müsste genauer untersucht werden, inwieweit das Handeln der Einzelnen als strategisch ausgerichtete Rollenübernahme angesehen werden kann, die in der Gruppe zur Erreichung bestimmter Ziele abgestimmt wurde. Auch inwieweit diese Genderrollenstereotype die Binneninteraktion der Drei bestimmt haben, ist mit den bisherigen Überlegungen noch nicht beantwortet.

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Zumindest sieht es bisher so aus, als sei von den Dreien nach außen hin auf unterschiedliche gesellschaftlich vorgegebene Genderrollen zurückgegriffen worden, um als ›normal‹ und ›unauffällig‹ angesehen zu werden. Mein Fazit: Würde der Fokus der Analyse stärker auf das Binnenverhältnis der Drei gelenkt, würden sie als strategische Gruppe verstanden, die ihre Interaktionen nach außen abstimmt. Auf diese Weise könnten vielleicht mehr Hinweise gefunden werden, die erklären, welche Rolle Beate Zschäpe bei den Morden und Überfällen gespielt hat.

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»Der Journalismus selbst muss beobachtet werden.« Ein Interview mit Lutz Hachmeister Jasmin Siri

Lutz Hachmeister ist Filmemacher, Medienforscher und Publizist. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. die Geschichte politischer Ideen, politische Biographien und Kommunikationstheorien. Er ist Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik (IfM) in Berlin. Seine Arbeit wurde u.a. mit dem Adolf-Grimme-Preis und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet (für die Dokumentarfilme Schleyer – Eine deutsche Geschichte und Freundschaft! Die Freie Deutsche Jugend). Das Interview wurde am 10.5.2013 telefonisch geführt. Jasmin Siri: Wie haben Sie das Medienecho auf das Aufdecken der sogenannten Terrorzelle wahrgenommen? Lutz Hachmeister: Nur sehr schwach, muss ich zugeben. Das liegt aber an mir, an anderen Interessensschwerpunkten. Natürlich ist mir das Ungeheure des Vorgangs bewusst gewesen, aber ich kann da auf Anhieb keine medienspezifischen Defizite erkennen, was die Aufdeckung der Sache und die erste Phase, in der über diese Vorgänge berichtet wurde, anbelangt. Natürlich wünscht man sich immer spektakulären investigativen Journalismus, so mit filmischen Typen wie Robert Redford und Dustin Hoffman in Die Unbestechlichen. Jasmin Siri: Dem vorhergegangen war eine Berichterstattung, in der viel über sogenannte Ausländerkriminalität geschrieben worden war und in der dann auch das Wort ›Döner-Morde‹ entstanden ist. Nicht nur im Boulevard, sondern auch in den sogenannten ›Qualitätszeitungen‹ wurde die ›Döner‹-Metapher benutzt. Wie schätzen Sie das ein? Lutz Hachmeister: Zunächst einmal handelt es sich um einen Wettbewerb zwischen der Polizei und zwischen Journalisten und anderen Rechercheorganen

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in dieser Republik, wie auch den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Journalisten sind in gewisser Weise Kollaborateure und Konkurrenten von Staatsanwälten und Kriminalisten zugleich. Sie nutzen im Prinzip dieselben Methoden, ohne dass sie direkt der Legislative oder Exekutive angehören. Sie untersuchen Dinge, sie versuchen, Vorgängen auf die Spur zu kommen, sie sind im besten Fall Rechercheure, die andere Fragen stellen. Der Unterschied zwischen einem Kriminalkommissar und einem investigativen Journalisten ist also sehr gering. Das macht man sich häufig nicht klar. Also müsste man fragen: Hätten Journalisten von sich aus, wenn sie einen anderen Blickwinkel eingenommen hätten, anders und besser aufklären können? Das hat natürlich auch etwas mit der Infrastruktur des Journalismus und seiner Institutionen zu tun, also mit Geld und Zeit. Nun zum Begriff ›Döner-Morde‹. Objektiv gesehen ist das eine rassistische Bezeichnung. Aber ich finde es im Rahmen dessen, was Journalismus leistet, ob es nun Boulevard- oder Qualitätsjournalismus ist, nicht besonders auffällig und auch nicht besonders schlimm. Vielmehr handelt es sich um eine folkloristische Bezeichnung für Abrechnungen im sogenannten Ausländermilieu. Frappierend daran ist vielmehr, wie lange man davon ausgegangen ist und andere Möglichkeiten ausgeschlossen hat. Doch abgesehen von einer hohen Sensibilität für semantische Prozesse oder Bezeichnungen kann ich zunächst nichts Außerordentliches daran finden, dass man von ›Döner-Morden‹ gesprochen hat. Ich weiß, dass ich an diesem Punkt eine Minderheitenmeinung vertrete, aber das ist mein Eindruck. Jasmin Siri: Sie würden also sagen, dass so eine Zuspitzung für das Journalistische der normale Vorgang ist? Lutz Hachmeister: Ja. Blenden wir mal all das aus, was wir jetzt wissen. Man würde z.B. Bandenkriege in Marseille mit ähnlich drastisch-folkloristischen, teilweise ungerechten und unscharfen Vokabeln benennen. Das kann dem Journalismus nicht sprachpolizeilich verboten werden. Man darf es aber heftig kritisieren, dann aber bitte möglichst rechtzeitig. Jasmin Siri: Sie sagen, ein investigativer Journalist stehe in Konkurrenz zur Polizei. Gab es vielleicht zu wenig investigative Journalistinnen und Journalisten? Selbstverständlich gibt es sehr fleißige Fachjournalisten und Fachjournalistinnen, die ihre Recherchen in vielen Artikeln und teilweise auch schon in Büchern publiziert haben, aber kann es sein, dass das Verhältnis nicht stimmig ist? Wie kann das kommen, dass so viele Ermittelnde wie auch Journalisten eine Story reproduziert haben, die gar nicht in der Empirie zuhause ist?

Ein Inter view mit Lut z Hachmeister

Lutz Hachmeister: Selbst investigative Journalisten hängen in der Regel von Informationen ab, die sie von der Polizei und von Staatsanwälten bekommen. Es gibt einen Mythos des völlig unabhängig recherchierenden Journalisten, der völlig falsch ist. Vielmehr kann man an Artikeln beobachten, welcher investigative Journalist etwas von welchem Rechtsanwalt oder Staatsanwalt bekommen hat. Und so sehen die Artikel dann aus. Insofern ist die Nachfrage berechtigt: Es gibt vielleicht zu wenig Recherchen und sicherlich zu wenig Mittel für unabhängige Recherchen, die nicht auf Informanten-Strukturen, die klar zu dekodieren sind, beruhen. Es besteht, kognitionspsychologisch gesprochen, das Problem einer funktionalen Fixiertheit. Man nimmt Deutungsmuster auf, die schon von Informanten stammen. Es wäre interessant, empirisch genauer zu untersuchen, inwiefern es abweichende Stimmen gegeben hat. Wenn dem nicht so war oder das nur sehr schwach ausgeprägt war, dann mag es das Muster sein, das ich eben geschildert habe. Jasmin Siri: Welche Rolle spielen Medien für die Aufdeckung von solchen Phänomenen oder für die Aufdeckung von kriminellen Strukturen? Sie haben gesagt, es gebe einen starken Link zwischen Ermittlungsbehörden und Journalisten. Lutz Hachmeister: Die wichtigste Funktion der Medien in einer Demokratie ist, neben Kritik und Machtkontrolle, die der Themensetzung, also der Erzeugung von Aufmerksamkeit in der verschärften Wahrnehmungskonkurrenz. Diese Funktion besteht zunächst einmal unabhängig von der einzelnen Investigation. Wenn also Journalisten für bestimmte gesellschaftliche Problemfelder oder Veränderungsprozesse sensibel genug sind, dann können sie allein durch die Themenkumulation eine gesellschaftliche Aufmerksamkeit für dieses Thema schaffen und der Sache auch einen bestimmten Dreh geben, ein bestimmtes Framing. Der Journalismus ist nicht einfach eine abhängige Variable, sondern er kann gesellschaftliche Prozesse systematisch verstärken und in Gang setzen. Dies gilt natürlich auch für alle Fragen, die Migration und Integration betreffen. So werden Übersensibilitäten sichtbar, wenn Sprache plötzlich nur noch vollkommen politisch korrekt verwandt wird, wofür bspw. der ungeheure Ausdruck ›Menschen mit Migrationshintergrund‹ steht. Das ist sicher gut gemeint, klingt aber doch mehr nach ›zoologischem Garten‹. Daran kann man beobachten, dass die Sensibilität des journalistischen Systems in Richtung political correctness zugenommen hat. Jasmin Siri: In den letzten Monaten haben viele Journalisten ihre Rolle kritisch reflektiert, wie z.B. Hans Leyendecker. Leyendecker sagte selbstkritisch, er habe das Thema zunächst für uninteressant gehalten, weil er es dem Bereich

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Ausländerkriminalität zugerechnet habe. War der deutsche Journalismus auf dem rechten Auge blind? Lutz Hachmeister: Nein, ich denke nicht, dass es ein systematisches Versagen der Publizistik in Deutschland in Hinblick auf das rechtsradikale Umfeld gibt. Es gibt viele publizistische Aktivitäten zu diesem Thema, die teilweise auch staatlich gefördert werden, wie die Webseite »Blick nach rechts« (www.bnr.de). Dort finden sich sehr viele, gut recherchierte Informationen, auch Hinweise auf europäische Verflechtungen des Rechtsradikalismus. Das könnte sicher noch präziser erforscht werden. Frank Jansen vom Tagesspiegel hat für seine langjährigen Recherchen im rechten Milieu den Wächterpreis bekommen, ich habe da in Frankfurt eine Rede gehalten, im Römer. Aber man könnte bei Ihrer Frage auch an Anders Breivik denken, jemanden, der jahrelang im Verborgenen seine Bomben bastelt und sein Manifest schreibt und dann irgendwann um sich schießt. Ich denke nicht, dass es ein Fehler des Journalismus ist, dass man solche Figuren nicht entdeckt. Jasmin Siri: In welchem Verhältnis stehen denn Aufklärungsinteresse und Informationsinteresse und das Bedienen von Sensationslust oder Voyeurismus? Lutz Hachmeister: In dem üblichen im Journalismus vorfindbaren Verhältnis. So entspricht der Bild-Zeitungstitel »Der Teufel hat sich schick gemacht« über Frau Zschäpe dem gängigen Ausdrucksmuster der Bild-Zeitung. Es verblüfft einen natürlich immer wieder, aber es weicht nicht von der Generallinie des Blattes ab. Da gibt es also keine Spezifik im Hinblick auf das rechte Spektrum. Ich denke sogar, dass die Bild-Zeitung als führendes Massenblatt über die Jahrzehnte sensibler geworden ist für rassistische und ähnliche Stereotype. D.h. nicht, dass das Blatt nicht immer noch subkutan rassistisch ist, etwa bei der Griechenland-Berichterstattung, aber in den 1960er und 1970er Jahren war der Rassismus viel offener, als Kritik an »Türken« und »Schwarzen«, formuliert. Würde man das heute lesen, käme es einem Horrorkabinett gleich. Es gibt also Veränderungen. Und ich glaube, dass die Qualitätspresse, wie die FAZ, die SZ oder auch die taz bei diesem Thema ein hohes Reflexionspotenzial haben. Weil man über dieses Thema political correctness oder incorrectness nachweist, ist die Reflexion, auch die Angst, etwas inkorrekt zu formulieren, viel höher als bei anderen Themen. Ich habe viel über strukturelle Abhängigkeitsverhältnisse in der Arbeitswelt nachgedacht, und darüber wird z.B. viel weniger reflektiert als über Rechtsextremismus. Jasmin Siri: Es gibt nun auch Dokumentationszentren, die journalistisch tägig sind, wie NSU-Watch bzw. apabiz oder auch a.i.d.a. Wie schätzen Sie die Rolle dieser unabhängigen Rechercheagenturen ein? Diese sind ja sehr stark in die

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Lücke gesprungen, die der etablierte Journalismus offen gelassen hat, arbeiten journalistisch sehr präzise, haben nachvollzogen, wer wann wo wie was getan hat und stellen das dann zur Verfügung. Das ist ja eigentlich vielleicht eine journalistische Aufgabe solche Dokumentationen anzufertigen. Lutz Hachmeister: Ich finde diese Dokumentationszentren sehr wichtig, wenn sie nicht zu missionarisch daherkommen. Ich habe eben auf den Mythos des unabhängigen Journalisten hingewiesen. Zu glauben, dass der professionelle Journalismus die einzige relevante Instanz der Gesellschaftsbeobachtung sein könnte, wäre fatal. Journalismus ist zu stark mit den anderen Eliten und Machtagenturen des Staates und der Gesellschaft verbunden, als dass er eine Alleinstellung im Hinblick auf kritische Recherche haben könnte. Die Grünen wären von professionellen Journalisten bei ARD, ZDF, Springer oder ZEIT sicher nicht erfunden worden, die Piratenpartei auch nicht. Der Journalismus muss vielmehr selbst beobachtet werden, in seiner déformation professionelle. Und insofern ist es geradezu ein Geschenk für die Demokratie, dass mit einem neuen Verbreitungsweg wie dem Internet aktivistische, halb-professionelle oder gesellschaftlich interessierte Gruppen journalistische Leistungen ergänzen können und kritisieren können. Jasmin Siri: Es haben ganz viele Publizisten, Wissenschaftler, Politiker ihr Erstaunen ob der NSU-Morde artikuliert. Waren Sie selbst davon überrascht, dass es so eine rechtsterroristische Gruppe in der BRD gibt? Lutz Hachmeister: Überhaupt nicht. Nicht von den Aktionen an sich, vielleicht von den Individuen. Man ist ja durchaus immer wieder von den Unheimlichkeiten und Möglichkeiten des menschlichen Handelns überrascht – auch im Sinne von Gruppenbildungen. Als Form der Katharsis und realistischen Erhellung haben solche Geschehnisse einen hohen Krimi-Touch. Deshalb kommen übrigens so viele Rechtsradikale in skandinavischen Krimis vor. Das darf man, bei aller Grausamkeit der Tat, nicht verleugnen. Ich bin eher verwundert, dass es so wenig Rechtsradikalismus und politisch-extremistisches Verhalten gibt. Mich erstaunt, wie stark die ökonomische Wohlstandskohäsion in diesem Staat ist und wie viele Leute diese Gesellschaft wirklich kommod ertragen. Das ist aus meiner Sicht das eigentlich verblüffendere Phänomen. Jasmin Siri: Der NSU selbst scheint ja mit Medien zu rechnen und gerechnet zu haben. Es gibt ein Bekennervideo und man könnte auch den Auftritt von Frau Zschäpe vor Gericht als einen Auftritt betrachten, der mit Medien rechnet, der die eigene Inszenierung im Griff hat. Z.B. hat sie sich drei Anwälte gewählt, die Heer, Sturm und Stahl heißen, was als Ausdruck einer sehr seltsamen Ironie lesbar sein könnte. Angesichts dessen, dass der Rechtsterroris-

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mus in Deutschland nicht, bis wenig thematisiert wurde, scheint die kollektive Erinnerung vom Vorbild RAF geprägt zu sein. Lutz Hachmeister: Man könnte meinen, junge Rechtsradikale haben gelernt, was Medien-Awareness und Medienbewusstsein anbelangt. Das ist etwas, das man bislang eher dem Linksterrorismus zugerechnet hat, dass er von Beginn an sehr medienbewusst war. Bei der RAF kann man das eindeutig nachweisen, Der gehörten ja viele angehende Filmemacher und Journalisten an sowie aktivistische Studenten, denen man um 1970 herum ein gewisses Medienbewusstsein unterstellen kann. Und Ulrike Meinhof war eh eine berühmte Publizistin. Ich denke im Hinblick auf den NSU, dass das Internet bei allen positiven Seiten ex negativo auch ein Medienbewusstsein für alle und für jeden vermittelt hat. Auch rechtsradikale Songs können sich über dieses Medium weitaus ungehinderter verbreiten, als das vor den Zeiten des Internets der Fall war. Es handelt sich also wohl um einen Lernprozess und es wäre soziologisch und politikwissenschaftlich stärker zu untersuchen, inwiefern der Rechtsradikalismus da nicht so sehr eine grundständig ideologische Sache ist, sondern ein radikales Verhalten, zu dem man findet. Eben weil es in einem Moment schick oder modisch erscheint, eben weil die RAF tot und der Linksradikalismus nicht mehr schick ist. Aber das sind Dinge, die empirisch stärker zu untersuchen wären. Jasmin Siri: Jetzt fängt der große NSU-Prozess in München an. Wie schätzen Sie hierbei die Rolle des Journalismus ein und was könnte denn im besten Falle für den Journalismus als Feld dabei herauskommen? Lutz Hachmeister: Es handelt sich bei dem Prozess aus journalistischer Perspektive um ein Event – um ein vernutztes Wort aus der Partymacher- und Messeorganisatoren-Szene zu bemühen. Events bringen gewisse kumulative Effekte mit sich, wie Konkurrenzeffekte zwischen journalistischen Institutionen, die sich z.B. in der absurden Auslosung der Sitzplätze manifestiert haben. Zynisch gesprochen unterscheidet sich der Prozess, was den journalistischen Modus des Zugangs betrifft, zunächst wenig von einem anderen Großereignis wie einem Champions-League-Spiel. Im besten Falle könnte in der Berichterstattung über den Einzelfall hinaus danach gefragt werden, wie groß das Potenzial rechter Gewalttaten ist und in Zukunft sein kann. Das würde bedeuten, sich von der im Sinne der kriminalistischen Aufklärung auch sehr wichtigen Einzelfallberichterstattung zu lösen. Meiner Meinung nach ist das Potenzial für ähnliche Taten sehr hoch. Jasmin Siri: Noch bevor der Prozess richtig angefangen hat, kann man eigentlich anhand der zusammengetragenen Informationen sehr sicher sein, dass

Ein Inter view mit Lut z Hachmeister

es eben nicht nur drei Personen waren, und dass es ein sehr starkes Umfeld gab. Patrick Gensing hat in seinem sehr gut recherchierten Buch z.B. viel über Combat 18, den terroristischen Arm von Blood & Honour, geschrieben. Lutz Hachmeister: Ich glaube, dass die interpersonale Komponente viel stärker ist, als wir annehmen. Vielleicht nicht im Sinne von direktem Austausch aber im Sinne von geistig-symbolischer Beeinflussung und Unterstützung. In der Berichterstattung könnte zumindest hierfür sicher mehr Bewusstsein geschaffen werden. Jasmin Siri: Das klang gerade sehr hart, als Sie erklärt haben, der Prozess sei aus journalistischer Perspektive zunächst nichts anderes als ein Champions League-Spiel. Das Bild erklärt mir etwas besser, weshalb die Opferangehörigen beim Prozessauftakt von einer Meute von Menschen mit den entsprechenden Vorrichtungen, also Mikrophonen, Kameras und Fotoapparaten, so unglaublich bedrängt wurden. Denken Sie, dass es für die Journalisten keinen Unterschied macht, ob da ein Bayern-Spieler steht oder die Witwe eines Mordopfers? Lutz Hachmeister: Ich glaube, es unterscheidet sich dann die zwischengeschaltete Reflexionsebene. Von Zeit zu Zeit kommt es im Journalismus zu kurzfristig reinigenden Reflexionsschüben, zumeist an spektakuläre Ereignisse gekoppelt. Die Funktionsgesetze des journalistischen Systems wie Konkurrenz und Schnelligkeit stehen dieser Reflexion im allgemeinen entgegen. Die alten Rituale stellen sich also bis zur nächsten Welle an Selbstkritik wieder ein. Aber natürlich gibt es Lerneffekte. Man macht dann wahrscheinlich andere Fehler. Jasmin Siri: Ich würde abschließend gerne fragen – und damit das journalistische Feld verlassen –, wie Sie die aktuelle gesamtgesellschaftliche Stimmung im Umgang mit Rassismus und Rechtsradikalismus einschätzen, bspw. die Auftritte von Thilo Sarrazin mit den Thesen zu den ›Kopftuchmädchen‹ und den angeblich klugen und nicht so klugen ›Rassen‹. Sie haben vorhin beschrieben, es gäbe eine Tendenz zur political correctness, die Beispiele die ich genannt habe gehen in eine andere Richtung. Lutz Hachmeister: Beides findet statt und hebt sich, wie ich finde, auf. Wir wissen ja von vielen intelligenteren soziologischen Untersuchungen, dass die Anfälligkeit für Rassismus und im klassischen Sinne ›rechtes‹ Denken bei 25-30 Prozent der Bevölkerung vorhanden ist. Diese Zahl ist komischerweise auch recht stabil. Man hätte ja vermuten können, dass der Generationswandel oder soziologische Aufklärung die Summe rechter Einstellungen etwas abschwächen könnten, aber das ist nicht der Fall. Vielleicht sind dann gesellschaftliche Spannungen, Verwerfungen und auch soziale Ungerechtigkeiten doch stärker

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dafür verantwortlich, dass sich so ein rechtes Potenzial immer wieder nachbildet? Man darf ja nicht vergessen, dass wir auf der anderen Seite in der Gesellschaft ungeheure Liberalisierungstendenzen haben, bspw. bei den gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Es ist ja verblüffend, wie heftig in Frankreich dagegen protestiert wird, wo man eigentlich mehr libertinage vermutet. Viele Menschen, die in konservativen Bezügen groß geworden sind, müssen damit auch erst mal fertig werden. Das mag durchaus zu Sympathien für simplifizierende Erklärungen à la Thilo Sarrazin führen. Ich komme daher in der Gesamtbeobachtung zu dem Schluss, dass es doch verblüffend viel Gegenwehr gegen Rassismus gibt. Und wenn es eben nur symbolische, politisch korrekte Gegenwehr ist. Das mag einem dann manchmal auch auf die Nerven gehen, aber es ist doch gut, dass es sie gibt. Jasmin Siri: Ich habe durch dieses Buch gelernt, dass es ein sehr starkes Stereotyp vom dummen Nazi gibt, der, psychosozial gestört, mit einem Baseballschläger Leute verkloppt. »Du bist wirklich saudumm, darum geht’s dir gut«, singen die Ärzte in den 1990ern in ihrem Song »Schrei nach Liebe.« Ein starkes Bild, das zumindest meine Generation sicher auch geprägt hat. Ist es so, dass die Rechtsintellektuellen in Deutschland systematisch verunsichtbart werden? Lutz Hachmeister: Ja, das kann man schon sagen. Z.T. finden sich hier ehemals angesehene Historiker, die dann abgedriftet sind und Leute, die sich an den Ideen der französischen Neuen Rechten orientiert haben. Es gibt eine große Unsicherheit von Publizisten, sich diesen Figuren auf einer vernünftigen Ebene zu nähern. Sie werden schon so ironisiert und lächerlich gemacht, aus Angst ihnen Sichtbarkeit zu geben, dass man keinen vernünftigen Kommunikationsmodus findet. Und dann gibt es natürlich die Typen wie Anders Breivik, die an der Grenze von Wahnsinn und Verwirrtheit operieren, aber durchaus intellektuelle Interessen artikulieren. Wenn wir die Geschichte des Rechtsradikalismus im 20. Jahrhundert ansehen, dann gab es immer intellektuelle Modelle und intellektuelle Anführer. Auch Adolf Hitlers »Mein Kampf« hat intellektuelle Bezüge und ein Gesellschaftsmodell, so verrückt es war. Und dieses wurde mit einer gewissen Konsequenz auch in die Praxis umgesetzt. Deshalb würde ich das nie unterschätzen. Das Bild des grölenden, betrunkenen Glatzkopfes, den es auch gibt, ist also nur ein gewisser Teil dieser Szenerie. Ich plädiere sehr für ein Forschungsprojekt zur internationalen Verbindung von Rechtsintellektualismus und rechtsradikalen Gewalttaten. Jasmin Siri: Wie sollen denn aus Ihrer Sicht die Publizisten mit Rechtsintellektuellen umgehen – oder eben nicht umgehen?

Ein Inter view mit Lut z Hachmeister

Lutz Hachmeister: Es gibt ja zwei klare Fraktionen. Die einen sagen, man darf ihnen nur so wenig Raum geben, wie es irgendwie geht, und die anderen sagen, dass es eine offene Auseinandersetzung geben sollte. Ich gehöre da der letzteren Fraktion an. Eine offene Gesellschaft muss die Debatte mit den Randständigen, Ausgegrenzten, egal woher sie kommen mögen, auch führen können. Jedes geschlossene Kommunikationssystem führt zu Ausbrüchen an anderer Stelle, wie ja totalitäre System immer wieder feststellen müssen. Ich bin nicht dafür, Rechtsradikalen oder -intellektuellen die beste Sendezeit oder die Titelseiten zur Verfügung zu stellen, aber ich bin gegen den Diskursausschluss. Die wohlanständigen gesellschaftlichen Institutionen, Kirchen, Gewerkschaften, Universitäten, auch der bürgerliche Journalismus, müssen eben lernen, stärker zu sein.

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Reflexionen, Analysen

Eine Soziologie des Rassismus Nicht mehr als ein Anästhetikum Nadia Shehadeh

Die Mitglieder des NSU haben von 2000 bis 2006 Jahren zehn Menschen ermordet. Bei neun von ihnen war Rassismus das Motiv. Und alles, was man wissenschaftlich zu diesem Thema sagen kann, ist für mich am Ende wahrscheinlich nicht mehr als ein Anästhetikum. Als Soziologin war ich bestimmt lange Zeit zufrieden damit, Phänomene einfach zu betrachten, Theorien an ihnen zu entfalten, sie empirisch zu untersuchen. Diese Zufriedenheit gibt es nicht mehr. Analytische Kategorien haben in meiner Welt längst ihre Wertfreiheit verloren, das reine Betrachten hat längst einen bitteren Beigeschmack. Und ich bin nicht die Erste. ›Mensch mit Migrationshintergrund‹ ist für mich keine analytische Kategorie mehr, sondern längst eine bittere Pille: ein Terminus, der meines Erachtens mehr Probleme denn Erkenntnis schafft, weil er auf Dichotomie angewiesen ist. Und Wissenschaftskritik ist nichts, was mich damit und mit vielen anderen Dingen langfristig versöhnen könnte. Alles, was ich zu den NSU-Morden sagen könnte, kommt mir klein vor, lächerlich, verbogen, falsch. Eine Soziologie des Rassismus, so, wie ich sie mithilfe wissenschaftlicher Theorie und empirischer Auswertungen vielleicht zurate ziehen könnte, um mich dieser Mordserie zu nähern, wäre niemals einfach gegeben, sondern immer das kontingente Ergebnis historischer Entwicklungen – mit spezifischen, zur Verfügung stehenden Mitteln hergestellt und interpretiert. Das Ergebnis einer aufwendigen Zitationsarbeit, vielleicht. Und wie bei jedem Sujet gibt es sowieso schon ganze Armeen von Wissenschaftler_innen, die ihre Beiträge leisten und versuchen, den Gegenstand in den Griff zu kriegen. Und dann? Ganze Abende, Semester, Jahrzehnte kann über Rassismus und rassistisch motivierte Gewalt gesprochen, diskutiert, geschrieben und geforscht werden. Das Forschungsfeld ist groß, und die Ausprägungen, in denen Rassismus und rassistische Gewalt Ausdruck finden, sind so vielfältig, wie sie in einem negativen Sinne nur vielfältig sein können. Genauso vielfältig können die Thesen

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sein, die auf rassistische Gewalt und deren Ursachen angewendet werden: Deprivation. Ausformungen einer patriarchalen Protestbewegung. Entsolidarisierungstendenzen, befeuert durch die Ethnisierung sozialer Widersprüche. Und so weiter. Auch ich habe mich mit vielen Theorien, Erklärungsmodellen, empirischen Forschungen beschäftigt, Fragen gestellt, manchmal Antworten bekommen oder zumindest eine kleine Schablone, die ich auf die Brille meiner Weltsicht legen konnte, um kurz, ganz kurz das Gefühl zu haben, zu einer Erkenntnis zu kommen. Ich habe gelesen und geforscht, Fragebögen designt und Interviews geführt, beobachtet und ausgewertet und Texte geschrieben, von denen die meisten am Ende in irgendeiner Schublade oder ausgedruckt auf dem Schreibtisch der Mitarbeiterin des Amtes für interkulturelle Angelegenheiten unserer mittelgroßen Universitätsstadt oder einfach nur in irgendeinem digitalen Ordner landeten, um vielleicht nie wieder erwähnt zu werden. Reine Schreibtischtaten. Sonst nichts. Und in all den Jahren, in denen ich lernte und las und forschte, starben Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter.  Von 2003 bis 2004, als Studentin, befragte ich einst Menschen, die als nichtdeutsch gelabelt wurden, zu ihren Viktimisierungserfahrungen. Fünf NSU-Mordopfer gab es bereits zu diesem Zeitpunkt, und alles, was ich von diesen Morden (die für mich in keinem wirklichen Zusammenhang standen) wusste, war das, was ich aus der Mainstreampresse erfahren konnte. Verdächtigungen. Anschuldigungen. Stereotype Einschätzungen der Vorfallhintergründe. Und was tat ich? Ich stellte keine Fragen. Ich ›studierte‹. Als wir damals unsere Befragung durchführten, sprach man noch von ›Migranten‹, – auch wenn die Menschen, die wir damals befragten, von nirgendwoher migriert waren. Wir gingen von Opfern aus, nicht von Täter_innen. Nicht, weil es keine Täter_innen gab – es gab schließlich genug erlebte Vorfälle, die auf Rassismus beruhten, wie wir bald erfahren sollten. ›Alltagsrassismus‹ war jedoch in unseren jungen Köpfen noch kein Thema – wir gingen bei der Feldvorbereitung von radikalen Neonazis aus, die Menschen angriffen. Und mindestens drei von ihnen taten dies in der Zeit, in der wir im Rahmen der Hochschul-Lehrforschung unser kleines Forschungsprojekt planten und durchführten: Uwe Mundlos. Uwe Böhnhardt. Beate Zschäpe. Wir sprachen nicht von Rassismus, sondern allenfalls von Fremdenfeindlichkeit und zwar unter Anleitung unseres promovierten Dozenten. Auch ›Fremdenfeindlichkeit‹ ist für mich heute eine bittere Pille: Es suggeriert, dass sich der Hass und die rassistische Gewalt nur gegen Personen richtet, die ›fremd‹ sind. Das Eigene und das Fremde.

Eine Soziologie des Rassismus

Ich saß damals in vielen Küchen und Wohnzimmern und wälzte mich mit den Personen unserer Stichprobe durch einen schier endlosen Fragebogen, ich wartete auf Familienväter, die von anstrengenden Arbeitstagen nach Hause kamen, um sie mit meinen lächerlichen Interviews zu behelligen, und zwischendurch wurden mir Kaffee und Tee gebracht und mehr als ein halbes Dutzend Mal wurde auch das Abendessen für mich mitgekocht. Und da spürte ich es dann zum ersten Mal: Scham.  Darüber, dass ich für einen Leistungsnachweis Menschen ihre Zeit stahl und persönliche Fragen zu rassistischen Erlebnissen stellte – ohne das Angebot auf Supervision, ohne irgendeine Art von Aufwandsentschädigung. Mit einem Fragebogen, den wir Student_innen unter Anleitung mehr schlecht als recht zusammengebaut hatten. Erforschung eines sensiblen Themas als Mittel zum Zweck. Das Beforschen von Menschen, um im Studium die nächste Stufe erklimmen zu können. Diese Idee gefiel mir nicht. All die Menschen, die ich während dieser Studie getroffen und befragt habe, sind heute zum Großteil nur noch eine Note auf einem Diplomzeugnis. Das Geschenk jedoch, das ich von ihnen erhielt, war, Forschung ab da immer kritisch zu hinterfragen. »Ich gehe davon aus, dass die Wissenschaft eine geschichtlich eingebundene, soziale Bestätigung darstellt und dass man sie im Rahmen der Kontexte verstehen muss, in denen sie stattfindet« – ohne diese Menschen und ihre Erlebnisse wäre mir diese Aussage Steven Shapins aus Die wissenschaftliche Revolution (1998) niemals in Erinnerung geblieben. Und dennoch, ändert all das irgendetwas? Nein. Denn als diese Morde geschahen, stellte ich keine Fragen, und heute schreibe ich Texte über sie. Die Soziologie des Rassismus kann mich immerhin anästhesieren. Wie mit betäubter Zunge kann ich dann immer noch einigermaßen flüssig reden und schreiben und das Gefühl haben, richtig zu liegen. Manchmal. Doch diese Momente werden immer rarer: Zehn Menschen mussten sterben, und das gibt mir das Gefühl, dass alles, was ich dazu sagen oder schreiben könnte, nur falsch sein kann. Es gibt hinterbliebene Familien, die unter diesen Morden massiv leiden mussten – nicht nur, weil ein Familienmitglied aus ihrer Mitte gerissen wurde, sondern auch, weil sich unser Rechtssystem im Anschluss vor allem durch Ermittlungspannen, Verdächtigungen und Verhöre ›auszeichnete‹. Verbessert mein Text das Leben dieser Menschen? Kann ich irgendetwas dazu beitragen, um etwas erträglicher zu machen? Nein. Denn diese Morde sind nicht zu ertragen, und ebenso wenig sind es die Pannen, die bis heute – bis zu diesem Moment, in dem ich diesen Text niederschreibe – vermeldet werden. Als antirassistische Aktivistin bin ich quasi Nutznießerin eines rassistischen Systems. Das mag ein harter Selbstvorwurf sein, aber mein ›Erfolg‹, meine ›Sichtbarkeit‹ als Autorin speist sich auch aus dem Umstand, dass ein solches Feld sich dazu anbietet, ökonomisch und auch ideologisch ausgebeu-

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tet zu werden. Auch von mir. Würde ich auch zur Abschaffung meiner selbst arbeiten? Ich hoffe es. Aysen Tasköprü, die Schwester von Süleyman, fragte im Februar 2013, bald zwölf Jahre nachdem ihr Bruder erschossen wurde: »Die Menschen, die sich jetzt mit einem Bild von meinem Bruder zeigen: Wo wart ihr 2001? Damals hat niemand um meinen Bruder getrauert. Heute ist er Euch auf einmal so wichtig.« Und wir müssen ihr zustimmen. Ich muss ihr zustimmen. Ich fragte damals nicht nach und heute schreibe ich Texte, und wenn ich ganz ehrlich bin, dann schäme ich mich wieder. Zehn Menschen mussten sterben, und alles was ich schreiben möchte ist: Abdurrahim Özüdoğru. Süleyman Taşköprü. Habil Kılıç. Mehmet Turgut. İsmail Yaşar. Theodoros Boulgarides. Mehmet Kubaşık. Halit Yozgat. Und Michèle Kiesewetter.

Anonymität, Kollektivität, Rassismus Der NSU als Form der Hetzmeute Ulrich Bielefeld

Die nationalsozialistische Rechte in der Bundesrepublik Deutschland war bereits vor den Taten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) und ist heute umso mehr mit Gewalt und Gewaltbereitschaft verbunden. Der Neonazismus war und ist gewalttätig. Die Auflistung rechter Gewalt- und Mordtaten in der Geschichte der Bundesrepublik ist lang, auch wenn sich die offizielle Zahl von der eher realistischen Zahl der aktiven Szenebeobachter deutlich unterscheidet. Die Form der Gewalt reicht vom hinterhältigen Anschlag, so etwa beim Münchener Oktoberfest vom 26. September 1980, und der Brandstiftung an Wohnhäusern in West und Ost in den 1980er und 1990er Jahren bis zur aktiven, öffentlich inszenierten und medial verbreiteten Hetzjagd in RostockLichtenhagen zu Beginn der 1990er Jahre. Auch wenn sich die Parteien der Rechten immer wieder von der Gewalt distanziert haben, so blieb dies doch taktisch motiviert. Die martialischen und ritualisierten Auftritte und Aufmärsche, die nicht nur angedrohte, sondern jederzeit mögliche und ausgeübte Gewalt kann als Bindemittel nach innen angesehen werden und ist als Selbstdarstellung nach außen fester Bestandteil der rechten Szene. In der Szene kann man sich mit der tatsächlich ausgeübten Gewalt und mit den verbalen und symbolischen Gewaltinszenierungen auf den verschiedenen Internetseiten, etwa von Blood & Honour, brüsten. In den Texten der rechten Bands, bei den geheimen und als geheim inszenierten nächtlichen Auftritten und Meetings, die doch auch immer von außen wahrgenommen werden und werden sollen, kann man Besonderheit betonen, die Gruppe bilden und die Akteure binden. Schließlich soll bekannt sein, dass es sie gibt, jene nicht nur gewaltbereiten, sondern immer wieder gewalttätigen nationalistischen Rassisten, die eine nationalsozialistische Rechte des 21. Jahrhunderts bilden. Das Herunterspielen des historischen Massenmordes und seine taktische Leugnung werden von einer manchmal offenen, manchmal halb offenen und dann auch wieder verschlossenen Feier von Gewalt, Gewaltinszenierung,

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Mord und Tötung begleitet. Denn die historisch gewordene Arbeit am Versuch der Herstellung der Reinheit im nationalsozialistischen Reich wird in der heutigen Szene der Nationalsozialisten ebenso bewundert wie diese Bewunderung immer wieder auch camoufliert werden muss. Allerdings steht die Leugnung der Vernichtungspolitik nicht mehr im Zentrum. Es wird nicht nur mit Andeutungen gespielt, sondern es werden offen Forderungen nach einer Verwirklichung ethnisch, völkisch und rassisch reiner Gegenwartsgesellschaften formuliert. Das verletzte Tabu des positiven Bezugs auf rassistische Politik wirkt nach. So deutlich die Gesinnung vor allem in der Gruppe, aber auch nach außen zur Schau gestellt wird, so ›Hände reibend‹, ›feixend‹ wird dessen Verletzung betrieben und die teils martialische Zurschaustellung enthält so, in der Camouflage wie in der betonten Positivierung des Schreckens, einen Hinweis auf ein Bewusstsein dessen, was man tut. Dies kann an einem Beispiel verdichtet gezeigt werden. Ende 2011 wurde öffentlich bekannt, dass schon 1998 bei Durchsuchungen von Garagen eine nazistisch-rassistische Variante von Monopoly gefunden wurde: Pogromly, noch in der Legalität vom Trio des Nationalsozialistischen Untergrunds erarbeitet. Das Tableau ist in Frakturschrift gehalten, die Bahnhöfe sind in Konzentrationslager umgewandelt, die Straßen in Städte, die ›sauber‹, identisch mit judenund ausländerrein zu halten sind, Gemeinschafts- und Ereigniskarten werden zu SA- und SS-Karten. »Du achtest nicht sehr genau darauf, wer in Deinen Städten wohnt. Zahle für eine Kontrolle pro Haus 1000 RM Strafe« lautet ein noch eher harmloser Aufdruck. Noch aus dem Versteck heraus versuchte das NSU-Trio selbst produzierte Kopien in der Szene zu vertreiben (wobei auch der Verfassungsschutz einige Exemplare erwarb), ein Finanzierungsversuch, der ebenso scheiterte wie Geldsammlungen für den NSU auf Rechts-Rock-Konzerten.1 Wir reden nicht nur, so lautet die Botschaft, wir machen etwas. Wir zeigen die Tabuverletzung, indem wir aus dem Schrecken ein Spiel machen. Wir spielen, aber in vollem Ernst. Nach außen aber muss immer wieder die Botschaft vermittelt werden, radikal, aber verfassungskonform zu sein, das Beste zu wollen, wenn auch nur für die ›eigenen‹ Leute. Gewalt gehört zur internen wie zur externen Struktur der rassistischen Rechten dazu. Sie wird ausgeübt und dargestellt, wird in den Auftritten inszeniert und ist ein ebenso gewöhnlicher wie elementarer und unverzichtbarer Teil ihrer Selbstthematisierung. Zudem wird mit ihr gerechnet, sie wird sehr genau registriert und festgehalten. Die von den Rechten praktizierte Gewalt und inszenierte Gewaltbereitschaft steht unter aufmerksamer, genauer und 1 | Die genauesten Informationen zu diesem ›Spiel‹ wie auch eine genaue Recherche und dichte Beschreibung der Herkunft, der Entwicklung der Taten und des Lebens im Untergrund findet sich in Fuchs/Goetz 2012, zu Pogromly vgl. S. 120-123. Weitere Beobachtungen und Überlegungen zum NSU auch bei Erb 2012.

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detaillierter öffentlichen Beobachtung. Das Wissen über ihre Mitglieder und Gruppen, die Kenntnisse ihrer Strukturen und klandestinen Organisationsformen ebenso wie über ihre Handlungen und Taten ist entsprechend breit. Über kaum eine andere Gruppe der Gesellschaft ist so viel bekannt, kaum eine andere Gruppe wird so intensiv von verschiedenen Seiten beobachtet. Der Verfassungsschutz des Bundes und der Länder, der alternative Verfassungsschutz der antifaschistischen Gruppen, die Forschung und große Teile der Öffentlichkeit haben sie seit Jahren im Blick. Ihre Lebenswelt wird studiert, ihre Ökonomie und Untergrundökonomie werden analysiert, ihre Kultur und ihre Musik, ihre Stile und ihre ›Theorie‹ werden beschrieben. Und es ist gibt gute Gründe, diese Beobachtung fortzusetzen und zu verbessern. Praktisch unter den Augen der Polizei, während einer Durchsuchung ihrer Garagen, gingen die drei Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrunds 1998 in den Untergrund ihrer zunächst improvisierten Verstecke. Und sie erhielten alle Zeit, sich darin einzurichten. All die Fehler der Polizei aber, und noch das folgende, wiederholte und dramatische Scheitern der Ermittlungsbehörden können, so glaube ich, weder vollständig mit versteckter Sympathie oder gar implizit geteilten Orientierungen noch ausschließlich durch Unfähigkeit erklärt werden. Denn trotz des Wissens über die große Bedeutung der imaginierten, geforderten und auch ausgeübten Gewalt für die rassistische Rechte, ein Wissen, das bei vielen Beobachtern vorhanden war und ist, existierte kaum eine Idee davon, dass eine Gruppe von Nationalsozialisten aus dem Untergrund über ein Jahrzehnt kontinuierlich rassistische Morde, Exekutionen, begehen würde und tatsächlich auch könnte. Rechtsextreme Gewalttaten und von nationalistischen Rassisten begangene Morde sind, ob sie eher skandalisiert, gleichgültig hingenommen oder bagatellisiert werden, Teil dessen, was wir für möglich erachten. Sie geschehen und sie gehören zu unserem Vorstellungsraum. Während ich diesen Satz schreibe, wird die Nachricht eines Großbrandes mit acht Toten verbreitet. Eine Türkin und sieben Kinder sind die Opfer. Die Vermutung eines rassistischen Anschlages steht umgehend im Raum, sie liegt nahe, wird erwartet, ob sie bestätigt wird oder nicht. Seit Beginn der 1990er Jahre, als die Vereinigungskrise mit einer Serie von Brandstiftungen einherging, wurden die hinterhältigen nächtlichen Brandstiftungen zur exemplarischen Form der rassistischen Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Serie endete, nachdem sie ihren Höhepunkt erreicht hatte. In Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda wurde deutlich, dass es sich um einen Kampf um die gesellschaftliche und politische Institutionalisierung des vorgestellten ›Wir‹ und ›der Anderen‹ handelte. Das politische Versagen lag nicht nur organisatorisch in der Unfähigkeit der Beendigung eines fünftägigen Pogroms, sondern darin, immer wieder die Problemdefinition der sich bildenden Hetzmasse zu stützen und zu teilen – eine Masse, die gefahrlos und straflos agieren konnte. Zwei von Elias Canetti

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herausgearbeiteten Charakteristika der Hetzmasse, Gefahrlosigkeit und Straflosigkeit (vgl. Canetti 1978), wurden so gesellschaftlich zumindest auf Zeit garantiert und gleichzeitig wurden die Opfer der Gewalt, Fremde, Ausländer, ehemalige Kontraktarbeiter und Asylsuchende, im politischen Diskurs als das der Gewalt zugrunde liegende Problem bestimmt und anerkannt. Die Phobie wurde als institutionalisierte sichtbar (vgl. Bielefeld 1993). Die Beendigung dieser Serie (keineswegs aller Brandanschläge) wurde nicht politisch, sondern gesellschaftlich-sozial organisiert. Allmählich wurde klar, dass eine Anerkennung der Gewalt als legitimer Form nicht durchsetzbar war. Selbst diejenigen Teile von Politik und Öffentlichkeit, die immer wieder ihr Einverständnis mit der Problemdefinition gezeigt hatten, mussten mehr und mehr die Realität einer Einwanderungsgesellschaft anerkennen. Kurz: Gewalt als Form und ihre offen rassistische Begründung erwiesen sich als nicht anerkennungs- und nicht anschlussfähig. Rassismus, so wurde in den Auseinandersetzungen praktisch festgestellt, ist keine anerkennungsfähige Rechtfertigungsordnung. Doch waren damit weder die rechte Bewegung und ihr rassistischer Diskurs noch die seitdem immer wieder geführten heterophoben und fremdenfeindlichen Debatten (zur Unterscheidung von Rassismus, Heterophobie und Fremdenhass vgl. Bauman 1992: 76-97, v.a. S. 79) beendet. Die nationalistischen Rassisten (vgl. Bielefeld 2011) reagierten mit taktischer Zivilisierung (vgl. Klärner 2011) und trotziger Radikalisierung auf das Scheitern der Durchsetzung rassistischer Ausschlusspolitiken als legitimer politischer und gesellschaftlicher Praxis. Offene Gewalt wurde z.T. durch symbolische Inszenierung ersetzt, die wenigen Versuche der Parlamentarisierung gelangen nur ansatzweise und regional beschränkt. Der Firniss der Zivilität wurde immer wieder durch das Bedürfnis zur ›Tat‹, dieser mythischen Kategorie der Rechten, durchbrochen. Zum Rassismus als Kategorie der Moderne gehört der Aspekt der Herstellung, der Realisierung des Behaupteten. Eine neue Serie, ein erneuter öffentlicher Versuch der gewaltförmigen Realisierung des Ausschlusses ›der Anderen‹ schien vor dem Hintergrund des Scheiterns der Hetzmasse wenig wahrscheinlich. Gleichzeitig entstand ein Druck das zu tun, was man beständig forderte, inszenierte und behauptete. In diesem Kontext entwickelte sich der NSU, eingebettet in die lokale Umgebung der nationalsozialistischen Rechten (zu einer exemplarischen Analyse: Klärner 2008) und aus ihr entstanden als eine neue Struktur: die Hetzmeute als stille Meute. Die Serie der hinterhältigen Brandstiftungen und der Versuch, rassistische Gewalt als legitime öffentliche Gewalt durchzusetzen, waren mit RostockLichtenhagen und Hoyerswerda exemplarisch in einer Hetzmasse gemündet. Elias Canetti hat diese bestimmt: »Sie bildet sich im Hinblick auf ein rasch erreichbares Ziel. Es ist ihr bekannt und genau bezeichnet, es ist auch nah. Sie ist aufs Töten aus, und sie weiß, wen sie töten will. Mit

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einer Entschlossenheit ohnegleichen geht sie auf dieses Ziel los; es ist unmöglich, sie darum zu betrügen. […] Die Konzentration aufs Töten ist eine besonderer Art und an Intensität durch keine andere zu übertreffen. […] Das Ziel ist alles. Das Opfer ist das Ziel, doch es ist auch der Punkt der größten Dichte: es vereinigt die Handlungen aller in sich. Ziel und Dichte fallen zusammen.«(Canetti 1960: 54)

Die Hetzmasse steigert ihre Zahl und mit ihr Handlungsmöglichkeit und Dichte, d.h. sie wächst und wird mit der Tat dichter. Der Unterschied zwischen Täter, Akteur und bystander verwischt und selbst die beobachtende Menge wird mehr und mehr einbezogen. Die zukünftige Tat richtet die Masse aus und macht die einzelnen zu Gleichen. Nach der Tat aber zerstreut sich die Masse und muss immer wieder neu ausgerichtet werden. Ist die Tat geschehen und zeigt sich keine neue Möglichkeit zur Erregung und baldiger Verwirklichung, löst sie sich auf. Die Meute aber unterscheidet sich deutlich von der Masse. Sie besteht aus einer Gruppe erregter Menschen, die sich wünschen ›mehr zu sein‹. Dichte wird durch Intensität ersetzt. Dichte und Wachstum, Großwerden und Bedeutung muss sich die Meute vorstellen. Sie sind Fiktion. Gleichheit und Gerichtetheit aber, die beiden weiteren Charakteristika der Masse, sind in der Meute nicht nur vorhanden, sondern besonders ausgeprägt. Die Meute ist unbeirrbar in der Richtung und alle Mitglieder sind gleich in der Besessenheit vom selben Ziel: dem Mord. Für die Meute verdichtet sich Gleichheit und Gerichtetheit in der konkreten Gemeinschaft der Tat und in der fiktiven Gemeinschaft eines behaupteten großen ›Wir‹, der fiktiven Größe der Gruppe, die in der Tat einen kurzen Moment einer umgekehrten Realität erlangt – im Angesicht des Todes des ›Anderen‹. Es deutet sich an, warum der NSU den Tod auf der DVD festgehalten hat – nämlich um, in der gleichen feixenden und Hände reibenden Form wie schon im Spiel Pogromly, den Moment der Realisierung der Größe des Fiktiven immer wieder reproduzierbar zu machen. Wird die Masse tatsächlich groß und wird die Gleichheit der Vielen in der Gerichtetheit erfahrbar, so muss die Meute diese Erfahrung auf eine andere Art ersetzen. Die Meute erhält ihre Intensität durch Inszenierung und Wiederholung. Der NSU hat seit 2000 immer wieder gemordet, nicht immer, aber meist in großen Abständen. Im Hellen, aus dem Nichts realisierte sich die »stille Meute« (Canetti 1960) im konkreten Mord als exemplarische Tat. Plötzlich, aus heiterem Himmel, ohne Anlass und ohne jede Rechtfertigung wurde zur öffentlichen Hinrichtung geschritten. Anders als die Masse aber löst sich die Meute nach der Tat nicht auf. Die Mitglieder ziehen sich zurück und erhalten sich dadurch, »dass sie auf etwas Fernes zielen, das nicht sobald da sein kann« (Canetti 1960: 136). Die stille Meute ist Erwartungsmeute, sie kann und muss sich in der Zeit einrichten.

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Die stille Meute ist jedoch nicht allein. Sie steht in einem Ergänzungsverhältnis zur ›lauten Meute‹, die sich wiederkehrend in der Zusammenballung des sichtbaren Haufens nach außen zeigt, sich damit nach innen bestätigt und in einem öffentlichen Akt darstellt, dass es sie tatsächlich gibt. Sich situativ und ritualisiert zeigend, beweist sie ihre Existenz und lenkt den Blick immer wieder auf ihre illegitimen Strukturen und Praxen im Zwielicht und im Dunkeln, an geheimen Orten, an denen der Lärm doch, wie auf den nächtlichen Konzerten des Rechts-Rock, auch die Funktion hat, auf die Existenz des Illegitimen zu verweisen. Im Theater des Konzerts, auf der versteckten Bühne des vermeintlich Heimlichen, das sich doch an die Öffentlichkeit richtet, aber auch im Aufmarsch als öffentlichem Ritual bestätigt man sich im Hier und Jetzt. Es sind nicht zufällig Texte der Lieder, heimlich öffentlich gesungen und im Untergrund auf CD verteilt, die eine Verbindung der lauten und der stillen Meute hergestellt haben (Gigi & die Braunen Stadtmusikanten, »Döner Killer«; der gesamte Text ist nachzulesen u.a. in: Fuchs/Goetz 2012: 221f.). Die laute Meute bezieht sich auf die Gegenwart, die stille Meute richtet sich hingegen mit dem Mord als Ziel auf eine im Sinne einer fiktiven Gesellschaft der Reinheit gestaltbar behauptete Zukunft. Die Tat, der Mord, muss wiederholt werden, um diese Zukunft als reale und realisierbare immer wieder erfahrbar und begreifbar zu machen. Aber nicht nur die Notwendigkeit zur Wiederholung wird deutlich, sondern auch, warum es zu keiner weiteren Rechtfertigung gekommen ist, warum es für die Täter keiner weiteren Rechtfertigung bedurfte. So plötzlich die Tat geschieht, so folgenlos bleibt sie für die Täter selbst. Sie kommen ihrem Ziel nicht näher. So konkret die Tat ist, so fiktiv bleibt das Kollektiv der Reinheit. Es gibt keine Steigerung der Propaganda im Kontext der Tat, kein öffentliches Bekenntnis, keine Bekennerschreiben, kein Versuch, aus der Meute auszubrechen, zu wachsen. Auch das schließlich produzierte Video wird nicht ins Netz gestellt. Nach den Selbstmorden von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos verschickt Beate Zschäpe die DVD zwar an 15 vorbereitete Adressen, aber weder ist die Logik des Verteilers ersichtlich noch kann von einer gezielten PR-Aktion gesprochen werden. Es reichte der Hetzmeute als stille Meute im Verborgenen zu bleiben, solange sie existierte, alleine zu lachen auf dem schmutzigen Niveau rassistischer Witze im Blick auf die Ermordeten. Die Hetzmeute ist anonym und rechtfertigungslos. Trotz aller Ungeheuerlichkeit (und es ist mir wichtig, das Gefühl unmittelbarer Ablehnung zu erhalten) will ich fragen, welche Logik hinter dieser Rechtfertigungslosigkeit steckt. Trotz der vielen Zeit im Versteck wird keine intellektuelle Anstrengung sichtbar, wird die Mühe, zu begründen, was man tut, nicht auf sich genommen. Elias Canetti beschreibt die Erwartungsmeute als eine der Einverleibung und benennt damit eine klassische Form des Verschwindenlassens. Es gibt eine weitere: die Vernichtung des ganz Anderen. Diese ist auf den Mord als

Anonymität, Kollektivität, Rassismus

pure Tat gerichtet, ohne anschließende Einverleibung als einem letzten Akt zerstörerischer Anerkennung und als Gründungsakt der Vergemeinschaftung. Der Mord als Ziel der Meute verbindet sich unmittelbar mit der Zukunft. So, wie die stille Meute sich fiktiv an die Stelle des Kollektivs setzt, so steht der tote Andere für den ausgelöschten, groß geschriebenen Anderen, der nicht nur aus den Augen und aus dem Sinn, nicht nur auf die andere Seite der Grenze, sondern aus der Welt geschafft werden soll. In dieser Konstruktion ist der tote Andere die Rechtfertigung selbst. Mord und Rechtfertigung werden zu einem, fallen zusammen. Anders formuliert: Im rassistischen Mord entfällt der Grund jeder weiteren Rechtfertigung. Hier findet sich zum einen ein Hinweis darauf, warum ›wir‹, die meisten von uns, trotz des Wissens über die mögliche und reale rechte Gewalt fassungslos vor dieser Form der Gewalt standen, zum anderen zeigt sich, warum gerade diese Praxis die doch behauptete Vergemeinschaftung gerade ausschließt. Serien haben einen Anfang – und ein Ende. Die Serie des NSU endete nicht 2011 mit dem Selbstmord der zwei männlichen Täter, sondern am 25. April 2007 mit dem letzten Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter. Auch alle anderen Toten haben einen Namen und ein Datum: Enver Şimşek: 9. September 2000; Abdurrahim Özüdoğru: 13. Juni 2001; Süleyman Taşköprü: 27. Juni 2001; Habil Kilič: 28. August 2001; Mehmet Turgut: 25. Februar 2004; İsmail Yaşar: 9. Juni 2005; Theodoros Boulgarides: 15. Juni 2005; Mehmet Kubaşik: 4. April 2006; Halit Yozgat: 6. April 2006. Erst am 4. November 2011 richteten sich die Täter selbst, viereinhalb Jahre nach dem letzten Mord. Wie lässt sich das verstehen? Aus der Meute, so kann man im Rahmen meiner Interpretation sagen, war eine Gruppe in der Illegalität geworden. Ohne durch die sich wiederholenden Morde gab es keine Rechtfertigung mehr. In den langen Wochen und Monaten zeigte sich, dass die mit den Morden gleichgesetzte Zukunft nur noch eine des weiteren Tötens sein könnte. Dies wurde auch im schon erwähnten Lied »Döner Killer« von 2009, verlegt von einem Bekannten des Trios aus Chemnitz und indiziert 2010, formuliert: »Neunmal hat er bisher brutal gekillt Doch die Lust am Töten ist noch nicht gestillt Profiler rechnen mit dem nächsten Mord Die Frage ist nur wann und in welchem Ort […] Denn er kommt gerne spontan zu Besuch Am Dönerstand, denn neun sind nicht genug« (zit.n. Fuchs/Goetz 2012: 222)

Ist dies eine Verlautbarung oder eine Aufforderung, nach langer Pause weiter zu machen? Noch die Zählweise zeigt den Rassismus: der Mord an der deut-

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schen Polizistin wird nicht mitgerechnet. Der Aufruf zum Mord aber war keine Ankündigung. Der Versuch der Fremd-, vielleicht gar der Selbstmotivation misslang, ohne dass wir wissen warum. Ohne die Mordzukunft jedoch blieb von der Erwartungsmeute nur eine kleine Gruppe von Mördern und Bankräubern ohne jede Zukunftsperspektive, selbst auf ein kleines Leben mit Campingurlaub. Die anonyme Erwartungsmeute als Vernichtungsmeute erweist sich als eine der bloßen Zerstörung, der Zerstörung von allem, inklusive der eigenen (Mord-)Zukunft. Das Ende der Serie ist in die Struktur der anonymen stillen Meute eingelassen. Sie kann den Sinn des Mordens nicht aufrechterhalten, solange noch am eigenen Leben festgehalten wird. Der NSU mordete, bis er ermattete und damit die eigene Zukunft und den mörderischen Sinn verlor. Er konnte nur so lange Jahre morden, da er Zeit genug hatte, an seiner eigenen Struktur der stillen Meute als Hetzmeute unterzugehen. Er hat sich schließlich selbst beendet, ist an seiner eigenen Logik zu Grunde gegangen. Das ist gleichzeitig der bleibende gesellschaftliche Skandal. Denn die kleine Meute der eingebildeten Macht und der selbst zugeschriebenen Stärke konnte von 1998 bis 2011 gefahrlos handeln und wurde dadurch noch zusätzlich von außen stabilisiert. Das Opfer scheint dann nicht nur von den Tätern als für den Mord freigegeben. Um zu Elias Canetti zurückzukehren: Gefahrlosigkeit ist zusammen mit der Straflosigkeit ein Kennzeichen des Mordens aus der Hetzmasse heraus. Die Hetzmeute konnte sich so zusätzlich als groß imaginieren, da sie ungefährdet agieren konnte. Die Bestrafung im Rahmen eines rechtsstaatlich durchgeführten Prozesses erhält umso größere Bedeutung, als sie eben diesen Eindruck zurücknehmen muss: dass es ein auch nur implizites gesellschaftliches Einverständnis mit der Hetzmeute gibt und weiter geben könnte. Anstachelung von Heterophobie und Fremdenhass ist kein Aufruf zum Mord, doch die Skandalisierung der Fremden – quantitativ: es gibt oder es kommen zu viele; oder qualitativ: es gibt oder kommen zu unterschiedliche, selbstverständlich auch die Mischung beider – steht im Verdacht, ein Missverständnis über die Gesellschaft, in der wir leben, zu stärken. Das Missverständnis, dass wir mit den Unterschieden nicht leben könnten; dass Gesellschaft nur dort möglich wäre, wo Gemeinschaft ist; von Kollektivität auszugehen, statt die Prozesse ihrer Bildung zu untersuchen. Solidarität wird dort nötig, wo es darauf ankommt, d.h. wenn es Unterschiede gibt, nicht dort, wo sie immer schon vorausgesetzt wird. Anders Breivik, der norwegische Massenmörder, hat einen Brief an Beate Zschäpe geschrieben (vgl. dapd 2012). In ihm fordert er sie auf, ein Bekenntnis abzulegen, sich als Kämpferin für die Sache, als Märtyrerin der konservativen Revolution zu äußern, ihre Taten zu begründen. Der Unterschied in der Phänomenologie der Taten jedoch könnte kaum größer sein. Breivik stellt nur eine kleine Differenz, eine taktische Feinheit fest. Für ihn sei es sinnvoller, Mitglieder der für den Multikulturalismus verantwortlichen Elite umzubrin-

Anonymität, Kollektivität, Rassismus

gen, als Mitglieder der Minderheiten selbst. Der kleine Unterschied kann den großen nicht verdecken. Allein bereitet sich Breivik auf einen Tag des großen Mordens vor, auf einen Auftritt des grausamen Ritters in Phantasieuniform, der Soldat einer wie auch immer bizarr begründeten Sache ist. Das Morden und das Manuskript gehören zusammen, fallen aber nicht zusammen – keine Scherze, kein Zynismus, kein rosa-roter Panther. Die stille Meute als Vernichtungsmeute existiert im sich wiederholenden Mord ohne Bekenntnis. Sie löst sich auf, ohne zu morden. Die Tat des Anders Breivik hingegen würde den Selbstmord nicht verzeihen.

L ITER ATUR Bauman, Zygmunt (1992): Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt. Bielefeld, Ulrich (1993): »Die institutionalisierte Phobie. Einige soziologischsozialpsychologische Anmerkungen«, in: Hans-Uwe Otto/Roland Merten (Hg.), Rechtsradikale Gewalt im vereinten Deutschland. Jugend im gesellschaftlichen Umbruch, Opladen: Leske und Budrich, S. 34-42. Bielefeld, Ulrich (2011): »Nationalistische Rassisten«, in: Claudia Globisch/Agniezka Pufelska/Volker Weiß (Hg.), Die Dynamik der europäischen Rechten. Geschichte, Kontinuitäten und Wandel, Wiesbaden: VS, S. 41-52. Canetti, Elias (1960): Masse und Macht. Gesammelte Werke, Band 3, München/ Wien: Hanser. dapd in Spiegel Online (2012): »Brief des Massenmörders: Breivik fordert Zschäpe zu rechtsextremer Propaganda auf«, Pressemeldung vom 18.11.2012, www.spiegel.de/panorama/justiz/massenmoerder-breivik-fordert-zschaepezu-rechtsextremer-propaganda-auf-a-867878.html, zuletzt aufgerufen am 12.3.2013. Erb, Rainer (2012): Der »Nationalsozialistische Untergrund«. Beobachtungen und vorläufige Überlegungen, in: Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 21, Berlin: Metropol, S. 392-421. Fuchs, Christian/Goetz, John (2012): Die Zelle. Rechter Terror in Deutschland. Mit einem Vorwort von Hans Leyendecker, Reinbek: Rowohlt. Klärner, Andreas (2008): Zwischen Militanz und Bürgerlichkeit. Selbstverständnis und Praxis der extremen Rechten, Hamburg: Hamburger Edition. Klärner, Andreas (2011): »Taktische Zivilisierung der extremen Rechten in Deutschland und Großbritannien«, in: Claudia Globisch/Agniezka Pufelska/Volker Weiß (Hg.), Die Dynamik der europäischen Rechten. Geschichte, Kontinuitäten und Wandel, Wiesbaden: VS, S. 133-150.

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»Vermisst?« Zur Entstehung von Positionen der Unsichtbarkeit Jasmin Siri »›Döner-Killer‹, wie der Mörder von Türken inzwischen auch genannt wird.« AZ vom 5.8.2006 »Döner-Morde in Deutschland aufgeklärt, Spur führt zu Rechtsextremisten, die nach Bankraub Selbstmord begingen.« NZZ vom 13.11.2011 »Alle Tiere sind gleich, aber manche Tiere sind gleicher als andere.« G EORGE O RWELL

Wir beschäftigten uns in diesem Buch mit einem ungeheuerlichen Stück deutscher Geschichte. Der Vorgang – eine rechtsterroristische Sprengstoffanschlags-, Bankraub- und Mordserie, von der niemand gewusst haben will – eignet sich zum Gruseln und dazu, uns den Atem zu rauben, fast so, als handle es sich um einen Krimi. In den Zeitungen lesen wir 2012 und 2013 viel vom ›Tugendfuror‹, der Übermacht der politischen Korrektheit und dass man so vieles nicht sagen dürfe in diesem Land. Paradox, dass der größte Bestsellererfolg der Nachkriegszeit ein Buch ist, in dem die Reproduktionsfähigkeit von Rassen nachvollzogen und verglichen wird und das in seiner Argumentation immer wieder völkische Motive aufnimmt. »Deutschland schafft sich ab.« (Vgl. Kermani 2012: 34ff.) Was kann nun eine soziologische Perspektive zur Erklärung einer rechtsterroristischen Mord- und Bankenraubserie beitragen?1 Manche meinen: nichts. 1 | Es handelt sich bei diesem Text um eine überarbeitete Version des Redemanuskripts für eine Ad-hoc-Gruppe zum Thema auf dem 32. Kongress der Deutschen Ge-

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Die Vorgänge seien so extrem und außerordentlich, dass sie sich der soziologischen Durchdringung entzögen und sich diese aufgrund ihres exzeptionellen Status auch nicht lohne. Ich sehe das anders, denn erstens sind der ›unsichtbare‹ Rechtsterrorismus und die Zuerkennung der ›Ausnahme‹ bereits soziologisch erklärungswürdige Phänomene und zweitens kann man an ihnen nur zu gut die Spuren der Verdrängung und der Exkulpation betrachten. »Der Teufel hat sich schick gemacht«, schrieb die Bild-Zeitung zum ersten Auftritt von Beate Zschäpe vor Gericht. Auf den Teufel und seine Irrwege, auf die Verrücktheit von Einzelpersonen hinzuweisen, ist freilich einfacher als die eigene Unterscheidungs- und Berichterstattungspraxis und ihren Beitrag zur Verunsichtbarung der Opfer und Täter in den Blick zu nehmen. Ich möchte im Folgenden an Beispielen eine theoretische Perspektive skizzieren, anhand derer eine Auseinandersetzung mit den NSU-Morden und den sie umgebenden Diskursen nicht nur gesellschaftspolitisch notwendig, sondern auch soziologisch lohnenswert erscheint. Die Aufgabe der Soziologie soll dabei darin bestehen, die Alltäglichkeit der scheinbar ungeheuerlichen und exzeptionellen Vorgänge theoretisch und interpretativ zugänglich zu machen. Die NSU-Morde sind keine Ausnahme und nicht die Taten von ›Verrückten‹, sondern sie sind auch Ergebnis kollektiver, politischer und medialer Zuschreibungen und Klassifizierungen. Sie sind die ›Döner-Morde‹ der Gesellschaft.

A LLTÄGLICHE A USSCHLÜSSE In den letzten Jahren ermittelten die Behörden gegen Opferangehörige, Massenmedien schrieben von toten ›Dönern‹, dem ›Döner-Killer‹ und der ›Türkenmafia‹. Derweil übersahen die Ermittelnden, dass die einzigen Gemeinsamkeiten der Opfer, ihr Migrationshintergrund und ihre Ermordung am Arbeitsplatz, nicht nur einen Hinweis auf Schutzgelderpressung oder vermeintliche kriminelle Betätigung geben könnte, sondern die Opferwerdung gerade erst begründeten. Die Namen der Opfer der rassistischen Mordserie lauten Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat. Dass die Mörder sie als Migranten einordneten, war der einzige Grund für ihre Ermordung. Auch die Polizistin Michèle Kiesewetter war ein Opfer des NSU, allerdings vermuteten die Ermittler hier keinen Zusammenhang, sondern suchten den Täter unter Sinti und Roma, die sich in der Nähe des Tatorts aufgehalten haben sollten. sellschaft für Soziologie in Bochum 2012. Für Lektorat und Formatierungen danke ich ganz herzlich Julia Feiler und Marc Ortmann. Denselben sowie Imke Schmincke, Karl A. Duffek und Paula-Irene Villa danke ich für Diskussionen und zahlreiche Anregungen.

»Vermisst?« – Zur Entstehung von Positionen der Unsichtbarkeit

Die Ungeheuerlichkeit des Komplexes der NSU-Morde und das wohlanständige Gruseln über das immense Versagen von Institutionen des demokratischen Rechtsstaats birgt in sich die Gefahr, die Alltäglichkeit der sozialen Vorgänge, die die Ungeheuerlichkeit konstituieren, zu verdecken. Auch viele weniger brachial formulierte mediale und politische Kommunikationen erzeugen Einschließungs- und Ausschließungsverhältnisse, Bilder eines zu bevorzugenden ›normalen‹ Wir-Kollektivs und sind daher von der Ungeheuerlichkeit der Thematisierung des Phänomens NSU und der ›Döner-Morde‹ nicht zu trennen. Die Banalität rassistischer Zuschreibungen in Sprache und medialen Bildern kommt oft viel unauffälliger daher, als im Reden von ›toten Dönern‹. Dies kann man von Judith Butler lernen, die im Anschluss an Theodor W. Adorno danach fragt, weshalb und wie »bestimmte Formen der Trauer nationale Anerkennung und Überhöhung erhalten, wohingegen andere Verluste zu etwas Undenkbarem und Trauerunwürdigem werden« (Butler 2005: 10). Butlers Frage: »Was zählt als ein lebenswertes Leben und als ein betrauernswerter Tod?« (ebd.) lässt für unseren Fall darauf schließen, dass die fehlende Trauer um die Opfer eines angeblichen ›Döner-Killers‹ interpretationswürdig ist.

W ER WIRD BE TR AUERT UND WER NICHT ? Die Frage danach, wer ein betrauernswertes Opfer ist, verdeutlicht, dass Menschen in modernen Demokratien zwar grundsätzlich in alle Systeme der Gesellschaft wie dem Rechtssystem, Erziehungssystem, und dem politischen System integriert sind (vgl. Luhmann 1981), damit aber noch im Dunklen bleibt, welchen Status und welche Art der Anerkennung ihrer Sprecherposition sie innerhalb dieser Systeme besitzen. Der mediale Diskurs um den NSU und seine Opfer macht deutlich, dass die andere Seite von Gleichheitsversprechen und ›politischer Korrektheit‹ auch in einem aufgeklärten Rechtsstaat offenbar das Aberkennen des Subjektstatus und die gesellschaftliche Auslöschung im Sinne einer konsequenten Verunsichtbarung ist. Die Schilderungen von Opferfamilien über den Verlust sozialer und beruflicher Kontakte nach der Ächtung ihrer toten Verwandten als ›kriminelle Ausländer‹ machen deutlich, wie solch eine Auslöschung als Verweigerung der Anrede funktioniert. Ein weiteres Beispiel ist die Anrede der Opfer als ›Döner‹. Innerhalb der systemischen Vollinklusion moderner Gesellschaften gibt es scheinbar präferierte (betrauerungswürdige) soziale Adressen und marginalisierte (weniger oder gar nicht betrauerungswürdige) Positionen. Wir können also nicht davon ausgehen, dass ›gleiche Subjekte‹ einfach ›da sind‹, wie es die Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft impliziert. Vielmehr wird deutlich, dass die Subjekte ein Effekt von Kommunikation, ein Effekt von Adressierungen in der sozialen Praxis sind (vgl. Butler 2007: 15ff., 2001: 125ff.).

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Mit Luhmann stellt sich die wichtige Frage, weshalb es – abseits davon, dass manche Leute Rassisten sind – in so vielen Situationen opportun zu sein scheint, rassistisch zu klassifizieren. Dahinter steht die differenzierungstheoretische Idee, dass es nicht etwa die Aufgabe von Politik ist, einen ontisch gegebenen volonté générale darzustellen, also etwa herauszufinden, was die Bürgerinnen und Bürger ›eigentlich‹ wollen, sondern diese Bürgerinnen und Bürger als soziale Adressen und den volonté générale als demokratische Fiktion überhaupt erst herzustellen. Armin Nassehi hat beschrieben, dass es im Politischen heute nicht mehr nur darum gehe, kollektiv bindende Entscheidungen herzustellen, sondern vor allem auch darum, das Publikum für diese Entscheidungen, das Kollektiv, erst herzustellen (Nassehi 2006: 345). Jede politische Kommunikation liefert also ein Bild des Kollektivs, an das sie sich wendet, mit. Und wie dies geschieht, wer in einem sozialen Kontext als Teil des Kollektivs, als politisch ernst zu nehmende Person mit Teilhaberechten definiert wird, ist laut Butler ein diskursiver Effekt mit harten Konsequenzen für jene, die aus dem Einzugsbereich des Menschlichen ausgeschlossen werden. Ob und wie um einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen getrauert wird, ob und wie der Verlust von Angehörigen von Menschen, die ermordet worden sind, sozial thematisiert (oder dethematisiert) wird, ist also nicht nur eine Frage des individuellen Schicksals, sondern wird vor allem sozial entschieden. Wir können nun bspw. fragen: Was ist der Zweck der Qualifizierung von Mord-Opfern als ›Döner‹? Wie wird dabei ein präferiertes Kollektiv hergestellt? Was wird dabei ausgeschlossen? Diese Fragen lassen sich an alle Formen medialer und politischer Kommunikation stellen. Wir können dann fragen, inwiefern Menschen z.B. in Wahlkampf kommunikationen, Medienberichten oder Reden von politischen Rollenträgern als vereinzelte oder als solidarisch Umworbene, als Teil einer ethnischen oder Interessensgruppe oder gar nicht vorkommen, wie die Hinterbliebenen der Opfer des NSU. Wem wird mit Pater nalismus begegnet und wem nicht? Als Teil einer Gruppe, die eine Stimme hat oder gar als Feindbild? »›Döner-Killer‹, wie der Mörder von Türken inzwischen auch genannt wird«, schreibt die Abendzeitung am 5.8.2006. Für den NSU war das Nicht-DeutschSein das Selektionskriterium für die Opfer, medial wird es zum wichtigsten Merkmal der Opferangehörigen. Hätte der NSU ›richtig deutsche‹ Opfer getötet, wir hätten ihre Namen früher erfahren, wir würden von Angehörigen, Hinterbliebenen, Kindern, Trauernden und Bekannten des Opfers lesen, darüber, wie es ihnen geht. Dass die Mordopfer nicht alle die türkische Staatsbürgerschaft besaßen, ist inzwischen bekannt. Anhand Judith Butlers Forschungen kann diese Argumentationsfigur besser verstanden werden. Sie hat gezeigt, dass die Adressierung und das Anerkennen von Normen ein Prozess ist, dem Menschen nicht ausweichen können, auch wenn die Norm sie verletzt (vgl. 2007: 15ff., 2001: 125ff.). Mit Butler werden wir eines Double-Binds ansich-

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tig, den sexistische und rassistische Figuren häufig für sich nutzen: Einerseits wird durch die Marginalisierung einer Position (bspw. eines mutmaßlich türkischen Menschen als ›Döner‹) ein Ausschluss aus der Gruppe von Menschen, die einen Namen besitzen, vollzogen. Andererseits kommen die Betroffenen nur schlecht daran vorbei, auf diese Anrede zu reagieren, auf sie zu antworten: eine Falle, aus der die so Bezeichneten nur aussteigen können, indem sie sich nicht mehr am gesellschaftlichen Diskurs beteiligen.

›V ERMISST‹: V ON EMPATHIEFREIEN Z ONEN UND DEM P RIVILEG , EIN M ORDOPFER ZU SEIN Soziologie kann – ob in kritischer oder abklärender Absicht – auf die historische Gewordenheit und Kontingenz der Konzepte vom Fremden und Eigenen hinweisen und den Zusammenhang zwischen Norm und Gewalt aufzeigen. Kein neues Anliegen: Theodor W. Adorno argumentiert, dass das in der Moderne unwiederbringlich verlorene kollektive Ethos sich der Gewalt bediene, um den Schein seiner Allgemeinverbindlichkeit aufrechtzuerhalten (Adorno 1996: 32ff., dazu Butler 2007: 9ff.). Es lohnt sich, diese Figur an aktuellen Ereignissen durchzudenken. Inwiefern manifestiert sich im Sinne Adornos z.B. ein Akt institutionell verübter Gewalt, wenn just in der Keupstraße in Köln – hier verübten Mitglieder des NSU ein Sprengstoffattentat – das Innenministerium dazu aufruft, ›islamistische Terroristen‹ in der Familie und im Freundeskreis aufzuspüren (vgl. Abbildungen 1 und 2). Dieselben Personen, denen im Anschluss an ihre Opferwerdung kriminelle Handlungen unterstellt wurden, denen man nicht glaubte, dass Fremdenfeindlichkeit ein mögliches Tatmotiv sein könnte, werden nun vor der potenziellen Anfälligkeit ihrer Söhne, Brüder, Töchter und Freundinnen für islamischen Terrorismus gewarnt. Melden sollen sich die Angehörigen der mutmaßlichen Terroristinnen und Terroristen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. »Diejenigen, die gesichtslos bleiben oder deren Gesichter uns als so viele Symbole des Bösen präsentiert werden, ermächtigen uns, empfindungslos zu werden bei all den Menschenleben, die wir ausgemerzt haben und deren Betrauerung unendlich aufgeschoben wird«, schreibt Butler (2005: 14). Und weiter: »Die Entleerung des Menschlichen durch das Bild in den Medien muß dennoch unter dem Gesichtspunkt des umfassenderen Problems verstanden werden, daß normative Schemata der Intelligibilität die Etablierung dessen bewirken, was als menschlich gelten wird und was nicht, was ein lebenswertes Leben sein wird und was ein betrauernswerter Tod. Diese normativen Schemata wirken nicht bloß, indem sie Ideale des Menschlichen erzeugen die einen Unterschied zwischen denjenigen machen, die mehr oder weniger menschlich sind. Zuweilen erzeugen sie Bilder von Untermenschen in der

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Vorstellung als Menschen, um zu zeigen, wie sich das Untermenschentum verstellt und diejenigen von uns zu betrügen droht, die möglicherweise glauben, in jenem Gesicht einen anderen Menschen zu erkennen. Aber manchmal funktionieren diese normativen Schemata gerade dadurch, daß sie kein Bild, keinen Namen, keine Erzählung liefern, so daß es niemals ein Leben und niemals einen Tod gegeben hat.« (Butler 2005: 173)

Abbildung 1: »Vermisst«-Aktion des BMI »Hassan«

Abbildung 2: »Vermisst«-Aktion des BMI »Fatima«

»Vermisst?« – Zur Entstehung von Positionen der Unsichtbarkeit

Es ist also nicht unerheblich, ob und wie Menschen kollektiv betrauert werden, ob und wie sie sich als Opfer fühlen und auf die Solidarität ›der Anderen‹ zählen dürfen. Und dabei geht es nicht nur um Blumen, Kerzen oder Kuscheltiere, sondern auch um eine spezifische Form der Rücksichtnahme, die trauernden Menschen, wenn sie als solche erkannt werden, üblicherweise zugestanden wird. Den Angehörigen der Opfer des NSU wurde dies lange verweigert. Viele Familienangehörige wurden sogar kriminalisiert und psychisch erheblich unter Druck gesetzt. Ein betrauenswertes Opfer zu sein ist ein Privileg, das nicht jedem grausam ermordeten Menschen zuteil wird. Eine trauernde Witwe zu sein, wird nicht jeder Hinterbliebenen zugestanden. Mediale, politische und behördliche Kommunikationen konstruieren ein Innen und ein Außen, ein ›Wir‹ und ›die Anderen‹, dass der Selbstbeschreibung der funktional differenzierten Gesellschaft (Luhmann 1990) als tolerant und liberal zuwiderzulaufen scheint. Diese Selbstbeschreibungen wurden zumindest ausgehebelt als Rechtsradikale, Ermittlungsbehörden und Massenmedien gemeinsam die Figur des ›Döner-Killers‹ in die Welt brachten. Das Sprechen von ›Dönern‹ entzieht den Opfern ihren Namen und mithin ihre soziale Adressierbarkeit als vollwertiger Mensch. Die Auslöschung und das Nicht-Betrauern stellen die extremste Form der Exklusion aus der modernen Gesellschaft dar.

D IE V ERWEHRUNG DER O PFERPOSITION : F REMD SEID IHR UND F REMDE SOLLT IHR BLEIBEN! Die Konstruktion eines von den Fremden – Hartz IV-Empfängern, ›Kopftuchmädchen‹, Moslems, und aktuell auch: Griechen – bedrohten ›Wir‹ ist stark und erfährt wenig Gegenrede. Hat sich der Umgang mit den Opfern denn inzwischen geändert? Ein Beispiel, das hieran eindrücklich zweifeln lässt, ist die in der Welt vom 5.03.2013 gedruckte Rezension des Buchs von Semiya Şimşek, deren Vater Enver im Jahre 2000 von den NSU-Terroristen ermordet wurde. Die Autorin Necla Kelek steigt ein, indem sie betont, es verbiete sich angesichts Şimşeks Trauer von selbst, das Buch kritisch zu kommentieren (Kelek 2013). Das wäre »so passend wie ein Zwischenruf bei einer Trauerrede«. Doch schnell revidiert Kelek ihren Einstieg, begründet dies damit, dass das Buch moralisch argumentiere und daher eine politische Antwort provoziere (ebd.). Und so kritisiert Kelek u.a. die islamische Erziehung der Şimşek-Kinder und vollzieht eine ausführliche Kritik der »Islamverbände und Türkenlobby« (sic!) (ebd.): Die Morde des NSU würden von islamischen Verbänden instrumentalisiert (ebd.). Die Kritik am Islam scheint Necla Kelek so wichtig, dass Opfern, die der islamischen Religion angehören, der Schutz versagt wird. Das funktioniert u.a., indem der Islam als eigentlicher Angreifer identifiziert wird. Über Ehrenmorde werde geschwiegen, während die NSU-Morde thematisiert

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würden, so Kelek (ebd.). Und weiter: »Über die moralische Betroffenheit soll Kritik am Islam und seiner Kultur wieder einmal tabuisiert und als rassistisch stigmatisiert werden. Darüber hinaus wird eine Kollektivschuld der deutschen Mehrheitsgesellschaft unterstellt.« (Ebd.) So macht die Rezension zwischen den Zeilen aus einer trauernden Tochter eine (Mit-)Täterin im Namen des Islam. Der Beitrag zeigt stellvertretend für andere Kommentare, die bspw. kritisieren, dass den Opferfamilien finanzielle Wiedergutmachung geleistet werde, wie die Einnahme der Opferposition den Angehörigen der Opfer noch immer verweigert wird. Die Umkehrung der Opfer zu Tätern und das Ablenken vom Thema (im Falle der Rezension Keleks in Richtung Salafisten, Ehrenmorden oder »Rassismus gegen Deutsche«) sind dabei wiederkehrende Motive der Argumentation. Wenn wir anerkennen, dass die Konstruktion politischer Kollektive stets über Ausschlüsse vollzogen wird, die die Form von Gewalt annehmen können, sind wir in der Lage zu beobachten, dass auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Konzepte von Fremdheit und er wünschter Kollektivität, wie die mediale Anrufung von ›Dönern‹ und ›Kopftuchmädchen‹, von ›Nazi-Ossis‹, ›HartzIV-Schmarotzern‹ und ›Islamisten‹ miteinander verwoben sind. Dies ist der Grund dafür, dass in diesem Buch Themen eine Rolle spielen, die mit dem Phänomen NSU nicht zu tun zu haben scheinen. Die Frage ›Wer darf hier politisches Subjekt sein?‹ kann für Praktiken der Exklusion und Verunsichtbarung sensibel machen, die die Selbstbeschreibungen einer aufgeklärten, politisch überkorrekten und toleranten Gesellschaft infrage stellen. Die (wenn man so will) ›politische‹ Rolle der Soziologie besteht dann in der Thematisierung und Beschreibung jener Vorgänge, die aus Menschen ›Döner‹ machen, die sie entmenschlichen, ihnen ihren Namen rauben. »Die Forderung nach einem wahrhaftigeren Bild, nach mehr Bildern, nach Bildern, die den ganzen Schrecken und die Wirklichkeit des Leidens übermitteln, ist wichtig und angebracht. […] Es wäre aber ein Fehler, zu glauben, wir müßten lediglich die richtigen und wahren Bilder finden, und dann werde eine bestimmte Wirklichkeit schon übermittelt. Die Wirklichkeit wird nicht von dem vermittelt, was im Bild dargestellt wird, sondern dadurch, daß die Darstellung, welche die Realität übermittelt, in Frage gestellt wird.« (Butler 2005: 14)

In diesem Sinne stellt sich die Frage einer kritischen Soziologie nach der dekonstruktiven Wende. Dekonstruktion und Kritik sind kein Widerspruch. Wie keine andere Disziplin ist die Soziologie – gerade jene, die (de-)konstruktivistisch argumentiert – dazu in der Lage, auf die begrenzte (Deutungs-)Macht von Menschen über ihr eigenes Leben und die Art und Weise, wie sie auf andere wirken, aufmerksam zu machen. Es sind nicht alle gleich in der modernen Gesellschaft. Manche sind gleicher, sind sichtbarer als andere, manche sind

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sogar unsichtbar. Wie zäh der Ausbruch aus einer marginalisierten Position ist, macht die anhaltende Dethematisierung und Verunsichtbarung der NSUOpfer und ihrer Angehörigen deutlich. Diese sind, vielleicht mit Ausnahme der Polizistin Michèle Kiesewetter, wenn auch inzwischen ›ent-kriminalisiert‹, noch immer nicht als ›zu uns gehörende‹ Menschen mit Namen im kollektiven Gedächtnis der Republik verhaftet. Und genauso wichtig: Auch die Terroristen sind Teil der Gesellschaft. Sie sind keine Teufel und keine Verrückten. Sie sind Menschen, die die politischen Diskurse verfolgt haben, die eine mediale Strategie ausgearbeitet haben und die ideelle und praktische Unterstützung erfahren haben. Die Rede vom Terror-Trio verdeckt dies immer wieder. Schlussendlich konnte der NSU deshalb so lange unsichtbar wirken, weil er nicht gesehen werden sollte und weil rechtsradikale Haltungen eben nicht an sogenannten Rändern, sondern in der Breite der Gesellschaft wirken. Für die jahrelange Verunsichtbarung und Kriminalisierung der Opfer sind indes auch weder der Teufel noch der NSU verantwortlich. Dafür haben andere, dezentere, doch letztendlich nicht weniger gewalttätige Mechanismen gesorgt.

L ITER ATUR Adorno, Theodor W. (1996): »Probleme der Moralphilosophie«, in: Nachgelassene Schriften, Abt. IV Band 10, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2005): Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2007): Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kermani, Navid (2012): Vergesst Deutschland. Eine patriotische Rede. Ullstein. Luhmann, Niklas (1981): Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München: Olzog. Luhmann, Niklas (1990): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Nassehi, Armin (2006): Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Kelek, Necla (2013): »Semiya Simseks Trauer um ihren ermordeten Vater«, in: DIE WELT vom 5.3.2013, www.welt.de/kultur/literarischewelt/article1141309 95/Semiya-Simseks-Trauer-um-ihren-ermordeten-Vater.html, zuletzt aufgerufen am 20.6.2013.

»Wir reden links und leben rechts.« Ein Interview mit Armin Nassehi über die Unterscheidungen der deutschen Diskurslandschaft Jasmin Siri

Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Ludwigs-Maximilians-Universität. Als Wissenschaftler und neugieriger Autor, der gerne aus dem Elfenbeinturm heraustritt, äußert sich Armin Nassehi in Interviews, Zeitungsartikeln und Fernsehsendungen zu einer Vielfalt von aktuellen Themen, wie zu Kunst und Kultur, zur Wirtschaft, zu Reformen des Bildungssystems aber auch zu politischen Fragen, wie zu Fragen der Exklusion, des Rassismus und der Zukunft Europas. Seit 2012 ist Armin Nassehi auch Herausgeber des ›neuen alten‹ Kursbuchs, in welchem aktuelle Fragestellungen interdisziplinär und publizistisch verhandelt werden. Das Gespräch wurde am 4.2.2013 in München aufgezeichnet. Jasmin Siri: Im Herbst 2011 wurden die rassistischen Morde des NSU bekannt, und da gab es sehr laute Verwunderung im Sinne eines: »Wir haben das alle nicht gewusst, das konnte man nicht wissen.« Im Herbst zuvor hatte die Causa Sarrazin noch die mediale Landschaft beherrscht. Sarrazin hat von vielen Beifall für seine Thesen und die Geste des Tabubrechers bekommen. Was hat Sarrazin und seine Thesen so attraktiv gemacht? Armin Nassehi: Ich denke für die Attraktivität Sarrazins gibt es zwei Gründe: Erstens bietet er eine einfache Erklärung für sehr komplexe Phänomene an. Das ist natürlich sehr attraktiv, da man bei den meisten Erklärungen ansonsten auch nachdenken muss. Zweitens eröffnet er eine Position gegenüber Migration, an die mit sehr einfachen Mitteln angeschlossen werden kann. In der öffentlichen Diskussion wird Kritik an Phänomenen, die mit Migration verbunden sind, zuweilen in eine Ecke gestellt, in die man nicht gestellt werden möchte. Und jetzt kommt jemand, der sich selbst in diese Ecke stellt, und da kann man dann auf einmal wunderbar anschließen. Das Erstaunliche an dieser Geschichte ist ja keineswegs Sarrazin selbst, sondern dass

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da sehr deutlich wird, wie stark offenbar Ressentiments in der Gesellschaft verankert sind. Es gibt da ohnehin eine interessante Form: Ich würde sagen, die meisten Menschen reden links und leben rechts. Damit meine ich: Sie reden universalistisch und sind an universalistische Argumentationsformen gewöhnt, verhalten sich aber eher partikularistisch und gruppenbezogen. Bekenntnisse sind stets leicht zu bekommen. Die universalistische Rationalität von Argumenten ergibt sich quasi von selbst, aber wenn man die Dinge dann selber machen muss, passt Reden und Tun nicht zusammen. Wir sind z.B. alle dafür, das Bildungssystem universalistisch zu öffnen, aber für die eigenen Kinder möchten wir gerne Klassen ohne großen Migrantenanteil haben. Oder wir sind alle dafür, dass keine zu starke Segregation in Großstädten stattfindet, reden also links, wohnen aber dort, wo es möglichst wenig soziale Brennpunkte gibt, leben also rechts, d.h. gruppenbezogen. Wir sind natürlich dafür, dass jeder Mensch nicht nur die gleichen Rechte, sondern die gleiche Wertigkeit hat, aber am Ende sind wir doch erstaunt darüber, wie kulturelle Differenz sich bisweilen äußert und wie gruppenbezogen partikularistisch unsere Assoziationen, alltägliche Routinen und Formen der Behaglichkeit sind. Ich glaube, es ist fast eine Art Grundgesetz, dass man links redet und rechts lebt. Das sind natürlich sehr starke Polarisierungen, aber die mediale Karriere der Sarrazin-Thesen hat das quasi aufgebrochen. Hier entstand ein Diskurs, bei dem es leicht war sich rechts, also nicht-universalistisch anzuschließen. Was Sarrazin also so attraktiv gemacht hat, ist, dass nun Dinge, die man eher praktisch kennt, nun auf einmal gesagt werden können, auch von jenen, die sich selbst als wohlmeinend und tolerant einschätzen würden. Ich fahre häufig Taxi und rede immer mit den Taxifahrern, die häufig keine Deutschen sind. Und die erleben alle permanent, dass sie vielleicht nicht immer direkt diskriminiert werden, aber es ist für sie stets eine besondere Differenzerfahrung, die gerade von den Wohlmeinenden erzeugt wird. Jasmin Siri: Sie haben im Jahre 2010 im Literaturhaus in München an einer Diskussion mit Thilo Sarrazin teilgenommen. Dieser Abend geriet aus den Fugen, da das Publikum sich wie eine johlende Meute gerierte, als von Ihnen und Gabor Steingart, dem Chefredakteur des Handelsblatts, kritische Nachfragen an Sarrazin gestellt wurden.1

1 | Vgl. hierzu Nassehi, Armin (2010): Mein Abend mit Sarrazin, in: Die ZEIT Nr. 41 vom 7.10.2010, www.zeit.de/2010/41/Nassehi. Vgl. auch Fahrenholz, Peter (2010), Therapeut und Brandstifter in SZ vom 1.10.2013 (Online: 14.3.2011), www.sueddeutsche. de/muenchen/muenchen/sarrazin-wirbel-um-auftritt-in-muenchen-therapeut-undbrandstifter-1.1006734. Jeweils zuletzt aufgerufen am 10.6.2013.

Ein Inter view mit Armin Nassehi

Armin Nassehi: Mich hat nicht erstaunt, dass dieses Bürgerpublikum durchaus mit starken Ressentiments arbeitet, aber dass es sich so daneben benimmt, das fand ich interessant, und ich würde es auch nur in diesem Begriff des ›Danebenbenehmens‹ formulieren. Die Leute haben gejohlt wie auf dem Fußballplatz, die haben geschrien wie die Bekloppten, und eine ältere Dame in feinstem Tuch hat mich nach der Veranstaltung körperlich richtig angegangen. Meine Frau saß mitten im Publikum und meinte danach, sie hätte das Gefühl gehabt, dass das Gejohle gleichzeitig aus verschiedenen Ecken kam, dass das also inszeniert war. Ich glaube das ehrlich gesagt nicht, auch mein Mitdiskutant Gabor Steingart meinte das nicht. Aber ich denke, dass Sarrazin einfach ein kluger Mann ist, zumindest in der Hinsicht, dass er es sehr geschickt versteht, Resonanzen aufzunehmen. Ich hingegen hatte die naive Vorstellung, dass man mit einem bürgerlichen Publikum Argumente austauschen kann, und das hat offenkundig nicht funktioniert. Im Gegensatz zu Leuten, die Migranten in unmittelbarer Konkurrenz in Bezug auf Arbeit, Wohnung, Transferleistungen etc. erleben, kennt aber das Publikum auf einer solchen Veranstaltung Migranten eher als illegal beschäftigte Hausangestellte, als Taxifahrer oder als Müllmänner, d.h. die haben eigentlich keinen lebensweltlichen Grund für Ressentiments. Und das ist ja eigentlich das Bedenkliche. Dass Ressentiments in unmittelbarer ökonomischer, sozialer Konkurrenz entstehen, kann man sich irgendwie erklären und ist letztlich unvermeidlich. Aber diese Gruppe hat doch diese Probleme nicht. Jasmin Siri: Das erinnert mich an die Studien, die beschreiben, dass in den Gegenden Deutschlands, in denen am wenigsten Ausländer leben, die höchste Ausländerfeindlichkeit herrschen würde. Armin Nassehi: Ja, auch für den Antisemitismus ist das gut erforscht; also wer noch nie einen Juden gesehen hat, wird sie am meisten hassen und die besten Gründe dafür haben. Aber ich würde sagen, auch hier gilt die Differenz links Reden, rechts Leben. Und auf einmal konnte man rechts reden, ohne dass es große Kosten verursacht hat, und das ist die besondere Wirkung von Sarrazin gewesen. Jasmin Siri: Wir haben beschlossen, dieses Buch zu machen, weil wir so erstaunt darüber waren, dass in der angeblich so politisch korrekten Medienlandschaft so lange und so ausgiebig über ›Döner-Morde‹ und ›Ausländerkriminalität‹ geschrieben werden konnte. Wie ist das möglich? Armin Nassehi: Ich will es jetzt mal ganz polemisch sagen: Man konnte sich gar nicht vorstellen, dass jemand anderes ein Interesse haben könnte, solche Leute umzubringen, als die ›eigenen Leute‹. Das kam gar nicht in Betracht,

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dass jemand anders einen Vorteil davon haben könnte, irgendwelche Ausländer umzubringen, als Ausländer selbst. Ich würde Redakteuren und Autoren, die für solche Zeitungen arbeiten, daher auch gar nicht den Vorwurf machen, dass sie etwas bewusst falsch gesehen haben. Vielmehr war es so, dass gewisse Unterscheidungen eben so funktioniert haben und nicht anders. Ich bin ja ein Unterscheidungstheoretiker, und der sagt nicht, dass man sich seine Unterscheidungen bewusst sucht, sondern dass die Unterscheidung bereits der Beobachter ist. Und erst wenn man die Unterscheidung wechselt, kann man den ganzen Schlamassel sehen. Die Leute sind ja auch wirklich erschrocken, das ist ja auch nicht ein inszeniertes Erschrecken gewesen. Der Untersuchungsausschuss zeigt aber, dass diese Denkungsart auch bei denen, die dafür bezahlt werden, anders zu unterscheiden, verbreitet war. Man muss wahrscheinlich den Verdacht äußern, dass in den Geheimdiensten durchaus bewusst so entschieden wird – aber bewusst heißt nicht willentlich, sondern diese Leute sind wahrscheinlich so beschränkt, dass sie gar nicht anders konnten. Es würde mich nicht übertrieben wundern, wenn so etwas im Zuge der Aufklärungsbemühungen herauskäme. Im Prinzip hat die Geschichte, so schrecklich sie ist, uns auch beigebracht, wie wir gucken. Jasmin Siri: In der Antifa oder in engagierten Kreisen gegen Rechtsextremismus gab es ja immer schon den Verdacht oder immer den Hinweis, der Verfassungsschutz guckt rechts, und es gab auch immer den Hinweis auf diese rechtsterroristischen Vereinigungen. Armin Nassehi: Das stimmt schon, aber hier liegt doch letztlich auch eine beschränkte Sicht von der anderen Seite vor. Dass es auch Kriminalität und eine alltägliche starke Gewaltbereitschaft gerade unter männlichen jugendlichen Migranten-Communities gibt, sehen diese Blicke dann nicht. Sie sagen es also immer so – und dieses Mal hatten sie recht. Das ist wie bei einer Uhr, die stehen geblieben ist – zwei Mal am Tag geht sie richtig. Das ist ja nur ein Hinweis darauf, dass die Unterscheidungen so gut funktionieren. Vielleicht kann man auch böse sagen: Dass sie, aber eben auch die Verfolgungsbehörden so unterscheiden, ist ja auch irgendwie erwartbar, das ist ihre Geschäftsgrundlage. Wie sollen sie sonst unterscheiden? Man überschätzt die Leute, wenn man glaubt, dass sie autonom sind. Sie sind immer in entsprechenden Unterscheidungspraxen drin. Aber vielleicht hilft es ja weiter, zumindest was den Verfassungsschutz und die Verfolgungsorgane des Staates angeht, da Leute einzusetzen, die über solche Unterscheidungsgeschichten nachdenken können. Strafverfolgung und Terrorismusabwehr ist nicht nur eine technische und polizeitaktische Frage, sondern auch eine intellektuelle Herausforderung – wenn es gut läuft.

Ein Inter view mit Armin Nassehi

Jasmin Siri: Trotz all ihres Wissens haben die Behörden paradoxerweise die Existenz des rechten Terrors nicht zur Kenntnis genommen. Als gefährlicher wurden, wenn man sich die Verfassungsschutzberichte der letzten Jahre anschaut, islamistische Terroristen, für deren Aktivität es aber viel weniger Anhaltspunkte gibt. Gruppen wie Combat 18 und eben der NSU wurden hingegen nicht ernst genommen. Wie beurteilen Sie das? Armin Nassehi: Man kann das nun moralisch, politisch und soziologisch beurteilen. Ich beginne mal mit dem letzteren, mit der soziologischen Bewertung. Sine ira et studio würde ich sagen, kann man hinterher stets rekonstruierend sagen, dass es überall Partikel gibt, die zusammengesetzt ein sicheres und vollständiges Wissen ergeben hätten. Es gibt sicher auch an vielen Stellen Leute, die genau Bescheid wussten. Wir würden wahrscheinlich in kybernetischer Sprache von verteilter Intelligenz sprechen. Systeme mit verteilter Intelligenz zeichnen sich dadurch aus, dass sie lose gekoppelte Einheiten haben, deren Stärke und zugleich Schwäche darin besteht, dass sie in dieser Weise lose gekoppelt sind. D.h., man kann immer nur hinterher sagen, welche Kopplungen möglich gewesen wären. Niemand hat das koordiniert, offenbar war niemand in der Lage, willens oder mutig genug, diese verteilten Intelligenzen zusammenzubringen. Und auch wenn Leute womöglich wohlmeinend gewesen wären, so mag die Wirkung gering gewesen sein, weil sich die verschiedenen Einheiten in den Verfassungsschutzbehörden so stark in ihrer losen Kopplung eingerichtet haben, dass sie ihre Aufgabe eigentlich gar nicht mehr wahrnehmen konnten und womöglich sogar zu Komplizen dieser Geschichten geworden sind. Trotzdem sollte man nicht aufrechnen: Dass der Blick sich nach 9/11 stark auf islamistisches Terrorpotential einspielt, halte ich nicht nur für nachgerade unvermeidlich, sondern auch notwendig. Der Mangel auf der einen sollte nicht durch einen Mangel auf der anderen Seite geheilt werden. Die politische Antwort ist, dass Verantwortlichkeiten neu organisiert werden müssen, d.h. die Verteilung auf verschiedene Länderbehörden und das Fehlen eines Controllings infrage stellen. Hinsichtlich der moralischen Antwort muss man nicht viel Rabulistik betreiben, wie diese auszusehen hat. Ich möchte aber davor warnen, die Verantwortung persönlich auf die Spitzen zuzurechnen, denn das ist das allzu übliche Spiel in Organisationen. Man wechselt die Spitze aus, und es ändert sich gar nichts. Ich glaube, die Vorfälle sind vielmehr wirklich ein Hinweis darauf, dass die Organisation geheimdienstlicher Arbeit überdacht werden muss. Jasmin Siri: Wie kann es sein, dass es so wenig Zugriff auf eine Organisation in einer Demokratie gibt, dass ein Minister aus Thüringen Akten heimlich aus

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dem Land schafft,2 damit die eigenen Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz sie nicht schreddern? Armin Nassehi: Das ist die Geschäftsgrundlage von Geheimdiensten. Die Diskussion wird ja schon länger geführt: Passen eigentlich Geheimdienste in ein demokratisches politisches System? Politik reproduziert sich über kollektiv bindende Entscheidungen, die in Demokratien kollektiv bindend überprüft werden können. Geheimdienstliche Tätigkeiten freilich entziehen sich dieser Kontrolle, sonst könnten sie nicht tun, was sie tun sollen. So ein Geheimdienst hat ja auch seine Funktion. Geheimdienste sind ja nichts anderes als Netzwerke, die mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit arbeiten und gerade von der Unsichtbarkeit ihrer Tätigkeit profitieren. Man kann Organisationen schließen und ansatzweise steuern und führen, Netzwerke aber viel weniger. Aber das ist genau, was Geheimdienste machen, und darum können sie sich stark verselbstständigen – insofern passen sie sich in ihrer Struktur ihrem Gegenstand an, nämlich Unsichtbarkeit zu inszenieren, im Untergrund zu arbeiten, unauffällige Schläfer zu sein etc. Deshalb ist es natürlich außerordentlich schwierig, einen Geheimdienst an die Kandare zu nehmen, es ist auch schwierig einen Geheimdienst parlamentarisch und damit durch die Öffentlichkeit zu steuern. Und da kann ein Minister womöglich seinem eigenen Laden nicht trauen und muss zu Tricks greifen – das scheint ein kluger Mann zu sein, der die Struktur verstanden hat Jasmin Siri: Das Stereotyp der ›dummen Glatze‹ ist in Deutschland sehr stark. Werden die ›neuen Rechten‹ und ihre intellektuellen Anstrengungen ernst genug genommen? Werden sie unterschätzt? Armin Nassehi: Es gab natürlich immer schon auch eine intellektuelle Rechte, die sich von den ›Dumpfbacken‹ unterschied, wie auch der Linksterrorismus der 1970er Jahre nicht ohne begleitende intellektuelle Milieus ausgekommen ist, wobei hier keine eindeutig kausale Beziehung hergestellt werden kann. Aber die intellektuelle Flankierung von sagbaren Sätzen erhöht die Wahrscheinlichkeit von entsprechenden Aktionen. Also kein RAF-Terrorismus ohne ein intellektuelles Milieu, in dem man die Bundesrepublik für einen faschistischen Staat hält – und kein NSU-Terrorismus ohne die Milieus, in

2 | Vgl. zum Hintergrund der Frage Schmidt, Wolf (2012): Minister wittert einen Sumpf, in: taz vom 11.10.2012, www.taz.de/!103348/sowie dpa/dpad (2012): Thüringens Innenminister mißtraut eigenem Verfassungsschutz in Die ZEIT vom 11.10.2012, www.zeit. de/politik/deutschland/2012-10/nsu-ausschuss-akten-anonymisierung-thueringen. Jeweils zuletzt aufgerufen am 10.6.2013.

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denen man intellektuell nach völkischer Reinheit die Differenz von Eigenem und Fremdem sucht. Ganz offensichtlich gibt es derzeit eine Anschlussfähigkeit für rechtsintellektuelles Denken, das weit von den gewaltbereiten Mördern entfernt ist, ihnen aber erst die Möglichkeit gibt, dass, wie Mao sagte, der Revolutionär sich wie der Fisch im Wasser bewegen kann. Die Vorlagen sind freilich nicht neu. So ist Armin Mohlers Konservative Revolution von 1950 irgendwie auch ein bemerkenswertes, weil paradoxes Buch, denn es versucht, das Konservative und das Revolutionäre zusammen zu denken. Es ist ein Versuch, antidemokratischen, rassistischen und antiliberalen Formen intellektuelle Begründungen zu geben. Und mit denen muss man sich auch auseinandersetzen, auch intellektuell, meine ich. Ich selbst bin kurz nach der damaligen Münchner Sarrazin-Veranstaltung von einer der neo-rechten Zeitschriften zu einer Diskussionsveranstaltung eingeladen worden und gestehe, dass ich es einerseits unappetitlich fand, dort zu diskutieren, andererseits war ich auch wohl auch zu feige, dort zuzusagen. Inzwischen meine ich, dass es ein Fehler war, nicht hinzugehen. Man muss sich Argumenten stellen – nicht obwohl, sondern gerade weil man sie für falsch hält. Jasmin Siri: Gibt es einen Zusammenhang zwischen neo-rechtem Denken und Thesen, die eher der Mitte der Gesellschaft zugeordnet werden, also bspw. den Thesen Sarrazins? Armin Nassehi: Ich würde Sarrazin nicht unmittelbar in eine rechtsextreme Ecke setzen. Aber er ist derjenige, der Resonanzformen zusammenbringt. Sein Buch ist für diese intellektuelle neue Rechte ein Gottesgeschenk, worauf ja die Diskussionsveranstaltung hinweist, von der ich gerade gesprochen habe. Etwas Besseres konnte denen gar nicht passieren, als dass jemand aus einer honorigen Ecke, Finanzsenator eines Bundeslandes, SPD-Mitglied, Konstrukteur des Euro etc., daherkommt und Sätze sagt, aus denen man schließen kann, Migranten seien per se dumm, besonders Araber und Türken, Juden aber nicht, auch aufgrund von Genen, Perser übrigens auch nicht, die seien schlau. Und da es in diese Richtung Resonanz erzeugt, ist das Buch ein Geschenk, weil die Rechtsintellektuellen verstanden haben, dass hier offenbar ein bestimmtes Bezugsproblem bearbeitet wird. Und dieses Bezugsproblem besteht aus einer soziologischen Perspektive offenbar darin, dass man sich in einer komplexen Gesellschaft die Mitgliedschaft nicht mehr über ›analoge‹ Formen, sondern nur noch über ›digitale‹ Formen vorstellen kann. Wenn wir diese Gesellschaft bspw. anhand von statistischen Mitteln beschreiben, dann kommt der Konkurrent nur in digitaler Form vor, nicht als konkrete Person, sondern als statistisches Korrelat, als ein anonymer Konkurrent auf Arbeits,- Heirats- und Produktmärkten, als eine unpersönliche Struktur, eben als statistische Grup-

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pe, nicht als soziale Gruppe. Migranten haben nun die Funktion, Analoges zu beschreiben. Da sieht man eine Gruppe, die aus Menschen besteht, die man richtig sehen kann. Sie sehen anders aus, sie sprechen andere Sprachen. Diese Mehrstimmigkeit zu kritisieren, ist eine Kritik, die die Moderne stets in sich getragen hat. Als funktionalistischer Soziologie würde ich immer sagen: Dass solche Kommunikationsofferten auf Resonanz stoßen, ist ein Hinweis darauf, dass ein Bezugsproblem dafür da ist. Und deshalb muss man sich mit dieser Anschlussfähigkeit auch intellektuell auseinandersetzen. Ich meine sogar, dass die Soziologie tiefer in dieses Bezugsproblem verwickelt ist, als man denkt. Die soziologische Gesellschaftstheorie hat mit Spencer und Durkheim durchaus mit dem Gedanken begonnen, Innen- und Außenverhältnisse und starke Integration stark zu machen, sich Gesellschaft letztlich fast nur in der Integrationsfähigkeit durch einen starken Nationalstaat vorzustellen. Also eine gemeinsame Moral, die zwar universalistisch aussehen soll, aber partikularistisch auf die eigene Gesellschaft bezogen ist. Wir kennen das im Prinzip nur als die starke Nation. Bei Durkheim wird erklärt, was Moralwissenschaft ist und wie das Eigene und das Andere voneinander unterschieden werden. Um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich ist das keine rechte Ideologie, aber es verweist auf genau das Bezugsproblem, auf das auch rechte Ideologien verweisen. Eine rechte Ideologie besteht in der Annahme einer unveräußerlichen und unentrinnbaren Zugehörigkeit zu kollektiven Gruppen, Rassen, Völkern, Kulturen, Konfessionen, Weltreligionen. Das ist rechts, weil es inklusive Gruppen erzeugt, die stark integriert werden müssen, und so stellen wir uns auch im Alltag die Gesellschaft vor. Wir können sofort identifizieren, wer dazu gehört und wer nicht. Und deshalb leben wir rechts, denken aber links. Ich glaube, dass eine angemessene Auseinandersetzung mit dem rechtsintellektuellen Denken für die Soziologie nicht ganz einfach wäre – als wissenschaftliche Auseinandersetzung, nicht als moralische. Irgendwie hängt der Gesellschaftsbegriff klassischer Provenienz an der unaufhebbaren Differenz von Mensch (universalistisch – ›links‹) und Bürger (partikularistisch – ›rechts‹). Dass diese Spannung nicht aufzuheben war, hat die Katastrophen Europas im 19. und 20. Jahrhundert mit hervorgebracht. Um andere, komplexere Fragen, Fragen in der Sachdimension nicht stellen zu müssen, ging es stets um die Frage in der Sozialdimension: Wer gehört dazu und wer nicht? Auf mehr kommt die Soziologie oft nicht. Und das ist bitter. Jasmin Siri: Ist die Soziologie damit also entgegen ihrer Selbstbeschreibung auch rechts? Armin Nassehi: Nein, aber es geht immer wieder um die Frage der Zugehörigkeit und das verweist eben auf Grenzen, auf Innen und Außen, auf Partikularitäten. Man kann das schön an Staatsbürgerschaftskonzepten studieren. Es

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gibt Staatsbürgerschaftskonzepte in Frankreich, in den USA, in denen man die Frage der Staatsbürgerschaft von Ethnie löst. Auch in Deutschland hat sich das Staatsbürgerschaftsrecht schließlich in diese Richtung entwickelt. Rechtsradikale Demonstranten, die Gewalt ausüben, werden heute auch von deutschen Polizisten abgeführt, die türkische Namen tragen. Das ist eine schöne historische Ironie. Offensichtlich produziert die moderne Gesellschaft einen Zugzwang, die Differenz von Analogem und Digitalem oder von unreflektierter und reflektierter Zugehörigkeit irgendwie aufzulösen – zugleich aber eben auch die Opposition dagegen. Jasmin Siri: Wieso ist die bei den Rechten verbreitete Semantik des Tabubruchs so erfolgreich? Armin Nassehi: In Deutschland gibt es hinsichtlich des Phänomens Migration verschiedene Tabus. Es gab zunächst mal das Tabu, überhaupt anzuerkennen, dass wir ein Einwanderungsland sind. Wir haben ja eine ganz merkwürdige Migrationsgeschichte in der Bundesrepublik, denn Migration war volkswirtschaftlich nötig, existierte und hat sich entsprechend den inklusiven Dynamiken moderner Gesellschaften entwickelt. Aber offiziell anerkannt wurde diese Migrationsgeschichte nicht, die Feststellung, ein Einwanderungsland zu sein, war tabuisiert. Damit hängt ein zweites Tabu zusammen. Wir durften deswegen auch problematische Migrationsfolgen nicht offen thematisieren, weil wir dann zugegeben hätten, ein Einwanderungsland zu sein. Das dritte Tabu gilt den positiven Migrationsfolgen, die nicht thematisiert werden durften, weil wir dann auch problematischer Migrationsfolgen ansichtig geworden wären. Mit diesen Tabus hat sich lange Zeit kaum jemand, egal welcher politischen Couleur, angemessen auseinandergesetzt. Daher ist auch der Resonanzboden Sarrazins nicht erst von ihm, sondern von allen etablierten Parteien in den Jahrzenten vorbereitet worden. So haben sich die Parteien in ihren unterschiedlichen Zusammenhängen immer nur für Teilaspekte von Migration interessiert. Die CDU hat sich immer nur dafür interessiert, ob die Religionen zusammenpassen, war aber so wirtschaftsnah, dass sie gesehen haben, dass Integration über den Arbeitsmarkt funktioniert. Für die SPD waren die Migranten immer nur ein Gewerkschaftsfall, was sehr naiv ist, wobei Heinz Kühn, langjähriger Ministerpräsident von NRW in den 1960er und 1970er Jahren, das unbestreitbare Verdienst zukommt, als erster deutscher Politiker der ersten Reihe das Thema Migrationsfolgen systematisch, nicht nur moralisch, auf die Agenda gesetzt zu haben. Die Grünen haben ohnehin (wie in fast allen Politikfeldern) eine romantische Vorstellung von Migration. Und für die FDP sind Migranten Arbeitskräfte, was auch gar nicht die dümmste Perspektive ist, denn ich würde ja zynischerweise sagen, dass die beste Integrationsform die ist, dass die Leute angemessen ›ausgebeutet werden‹, wie alle andern auch,

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denn dann sind sie in den Strukturen drin. Die im ganzen erfolgreiche Migrationsgeschichte der Bundesrepublik lief letztlich über erfolgreiche Inklusion in den Arbeitsmarkt – und Probleme entstanden dort, wo dies dann nicht mehr möglich war. Und dann hat man das Thema natürlich den Falschen überlassen, die heute mit großer Geste das Scheitern einer multikulturellen Gesellschaft ausrufen. Selbst eine so liberale Frau wie die Bundeskanzlerin sagt dann irgendwann den Satz in der Öffentlichkeit, Multikulti sei gescheitert. Was bei uns unaufgeklärte Arbeitsmigration war, das sind in Frankreich und Großbritannien unaufgeklärte Folgen von Kolonialismus. Deswegen würde ich politisch immer sagen, wir können über die NSU-Morde reden, wir können über Rechtsextreme reden, bereitet worden ist das Ganze im Prinzip in der Mitte des politischen Spektrums, da sich kein Mensch dafür interessiert hat. Den größten Vorwurf, den ich freilich den Wohlmeinenden gegenüber machen würde, ist der, dass offenbar weder die politische Klugheit noch die intellektuelle Redlichkeit herrschte, problematische Migrationsfolgen auch beim Namen zu nennen. Problematische Gruppen, wie stark segregierte und integrierte Familien mit völlig unangemessenen Erwartungen vor allem an Frauen und Mädchen, gewaltbereite männliche Jugendliche und eine tatsächlich anwachsende Fundamentalisierung und Politisierung des Islam – all das sind ja keine Erfindungen, und es bloß Deklassierungserfahrungen oder Fremdenfeindlichkeit zuzurechnen, halte ich für einen neokolonialen und paternalistischen Gestus, der solchen Gruppen Lernfähigkeit und Verantwortung abspricht. Wer so argumentiert, bereitet den Rechten erst ihren Boden. Jasmin Siri: Wie kann man kritisch-theoretisch mit der neuen Rechten angemessen umgehen? Armin Nassehi: Man sollte die Logik dieser Argumentationen rekonstruieren und ernst nehmen, dass diese durchaus ein echtes Bezugsproblem benennen. Also die setzen schon an, wo es juckt, sonst würd’s ja auch nicht funktionieren. Darüber muss man nachdenken und genau auf dieses Problem bessere Antworten geben. Man darf das Feld weder den Sarrazins noch den Rechtsintellektuellen überlassen, indem man sich der Empirie von Problemen verweigert – die Schwarz-Weiß-Dichotomie auf diesem Feld muss überwunden werden. Das ist doch auch das Einzige, was wir als Sozialwissenschaftler machen können. Politisch muss man sich sicher auf neue Konzepte von Einwanderung einstellen. Und das Gefasel von der Willkommenskultur sein lassen. Was Migranten brauchen, ist exakt genauso gefördert und gefordert zu werden wie andere Gruppen in der Gesellschaft auch. Das beste Willkommen ist es, wenn Menschen die gleiche Chance gegeben wird und wenn man dort, wo Benach-

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teiligungen da sind, kompensatorisch wirkt. Das Wegschauen vor Problemen ist zu billig. Die Sozialwissenschaften könnten dabei helfen, solche Formen migranter Inklusion genauer zu beschreiben und Konflikte und problematische Einstellungen struktureller, und weniger moralisch zu beobachten. Die Frage ist nicht, ob wir Migration brauchen, sondern wie wir sie organisieren. Wenn Soziologen zu stark auf Solidarität, auf Gemeinsamkeit, auf Integration setzen, dann ist das theoretisch und funktionalistisch alles wunderschön zu beschreiben, aber die realen Formen heißen immer, dass man Innen- und Außenperspektiven, Ingroups und Outgroups produziert etc. Da wäre ich soziologischtheoretisch viel gelassener und würde sagen, eine Gesellschaft mit möglichst wenig Integration ist eigentlich die Beste – aber eine, die sich nicht scheut, Standards durchzusetzen. Jasmin Siri: Warum ist die Soziologie aus ihrer Sicht so still beim Thema Rassismus und Rechtsextremismus? Einerseits sagt die Standesvereinigung, wir brauchen jetzt Public Sociology, andererseits hat man nicht das Gefühl, dass sich viele Soziologen und Soziologinnen äußern möchten. Außer eben Leute, die biographisch an der Grenze von Wissenschaft und Engagement stehen, und solche, die nur zu diesem Thema arbeiten und das auch schon lange tun. Aber sagen wir mal, von den etablierten Sprechern und Sprecherinnen hört man wenig. Armin Nassehi: So still ist sie ja nicht. Aber sie ist öffentlich vor allem eine moralische und eine anklagende Sprecherin, statt eine analysierende und überraschende. Darüber kann man freilich trefflich soziologisch streiten und zu durchaus unterschiedlichen Einschätzungen kommen – anders kann im Wissenschaftssystem gar nicht kommuniziert werden. Aber um es provokant auf den Punkt zu bringen: Was soll ein Fach denn schon beitragen, das auf seinem letzten Kongress in Bochum schon im Titel 3 falsch liegt? Auf »Vielfalt« reimt sich dann nur »Zusammenhalt«. Mit solchen Leitunterscheidungen kann man mittelschichtkonforme Politiksemantiken befeuern und sich die Gesellschaft nur in der Sozialdimension anschauen, aber keine überraschende Perspektive bereitstellen, auf die andere öffentliche Sprecher nicht kommen. Die Frage nach der Rolle der Soziologie für dieses Thema ist eigentlich die Frage nach der Soziologie überhaupt. Es ist ein wenig wie bei den Geheimdiensten: Man hat sich in Unterscheidungen eingerichtet, an die man sich gewöhnt hat. Mehr sehen werden wir erst, wenn man sie mit anderen möglichen Unterscheidungen konfrontiert. Und bezogen auf den 3 | Der 36. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie fand 2012 in Bochum unter dem Titel »Vielfalt und Zusammenhalt« statt.

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Rechtsextremismus: Ich sehe hier die Gefahr, dass sich rechte Formen des Denkens tatsächlich intellektuell etablieren können. Auf dem Feld des Diskursiven hilft freilich nur der Diskurs. Den Erfolg von Unterscheidungen ernst zu nehmen, heißt nicht, diese zu akzeptieren, sondern sie in ihren Kontexten zu rekonstruieren, um die Bedingungen ihre Möglichkeit zu herauszuarbeiten. Die NSU-Morde sind dann letztlich in ihrer ganzen Monströsität nur ein sehr extremes und hoffentlich singuläres Ereignis mit schrecklichen Folgen, an dem der demokratische Rechtsstaat auch vorführen kann, dass er zivilisiert mit Zivilisationsbrüchen umzugehen vermag. Man wird das mit dem Strafrecht bewältigen müssen und auch bewältigen können. Ernster zu nehmen sind freilich subkutane Entwicklungen einer entstehenden und wachsenden rechtsintellektuellen Szene. Mit dieser müssen wir uns ernsthaft auseinandersetzen – inhaltlich, nicht nur moralisch. Ob wir wollen oder nicht.

mappa Uljana Wolf

was ist der wohnort? der wohnort ist eine kreuzzehn. was ist die kreuzung? in der verkorksten mundart der wälder ist die kreuzung das wort baum. warum spielen heimatländer in den lüften karten? niemand hat die länder je nach hause gehn sehn. ein baum im wald der nähesprache ist im kartenspiel die zehn. aus seinem holz werden auf der karte kreuze gemacht. die länder tragen ihren wohnort ein und legen die feder ins mäppchen zurück. was ist ein mäppchen? zurück.

mit nelly sachs

Autorinnen und Autoren

Moritz Assall, geb. 1982, Jurist und Kriminalsoziologe, Mitglied im Bundesarbeitskreis kritischer Juragruppen, bei der Kriminologischen Initiative Hamburg und ehemaliges Redaktionsmitglied des Grundrechtereports – Veröffentlichungen v.a. zu polizeirechtlichen, rechtspolitischen und kriminalsoziologischen Themen. Imran Ayata, geb. 1969 in Ulm, lebt und arbeitet in Berlin. Er hat Politikwissenschaft in Frankfurt a.M. studiert, ist Autor und Kampagnenmacher. Ayata ist Mitbegründer von Kanak Attak und legte 2005 den viel beachteten Erzählband Hürriyet Love Express (Köln: KiWi) vor. Sein Roman Mein Name ist Revolution ist 2011 erschienen (Berlin: Blumenbar). Zudem veröffentlicht er regelmäßig Essays und Artikel in unterschiedlichen Medien. Gemeinsam mit dem Münchner Künstler Bülent Kullukcu gibt er im Herbst 2013 die Compilation Songs of Gastarbeiter 1 (Trikont) heraus. Ulrich Bielefeld ist Soziologe am Hamburger Institut für Sozialforschung und hat neben den Themen von Nation, Kollektivität und Rassismus immer wieder das Thema Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt aufgegriffen. Publikationen zu diesen Themen: 1998 (Hg.), Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt? (Hamburg: Hamburger Edition); 2011, Nationalistische Rassisten, in: Claudia Globisch/Agniezka Pufelska/Volker Weiß (Hg.), Die Dynamik der europäischen Rechten. Geschichte, Kontinuitäten und Wandel,  Wiesbaden: VS, S.  41-52; 2013, Migranten in der postsouveränen Nation – Neue Bürger, Gefährder der Ordnung oder Opfer?, in: Elke Ariëns et al. (Hg.), Multikulturalität in Europa. Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft. Bielefeld: transcript, S. 147-163. Manuela Bojadžijev ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Davor arbeitete sie u.a. an der Freien Universität Berlin, als Lecturer am Department of Sociology in Goldsmiths, University of London und als Visiting Lecturer an der New York

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NSU-Terror. Ermittlungen am rechten Abgrund

University in Berlin und der City University in London. Bojadžijev gab zusammen mit Alex Demirovic Konjunkturen des Rassismus (Münster: Westfälisches Dampf boot, 2001) und 2008 mit der Forschungsgruppe Transit Migration Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas (Bielefeld: transcript) heraus. Ihre Monographie Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration wurde 2012 in der zweiten Auflage vom Westfälisches Dampf boot wieder veröffentlicht. Herta Däubler-Gmelin, Dr., ist Rechtsanwältin, Bundesministerin der Justiz a.D. und Professorin für Rechts- und Politikwissenschaft. Ihre Schwerpunkte sind Arbeitsrecht neben Verfassungs-, Europa- und Völkerrecht. Von 1972-2009 war sie Mitglied des Deutschen Bundestags, von 1988-1997 stellv. Vorsitzende der SPD, 1998-2002 Bundesministerin der Justiz. Sie kümmerte sich insbesondere um Menschenrechte, Diskriminierungsfragen, die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Sie initiierte den Beitritt Deutschlands zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und die EU-Grundrechte-Charta. Seit ihrer Zeit im Bundestag kümmert sie sich um die Bewältigung von Datenschutzskandalen und die Verbesserung des Datenschutzrechts; sie berät die EU-Kommission über Fragen der Freiheit und Pluralität der Medien; außerdem hilft sie NGOs und Institutionen in zahlreichen arabischen Staaten und darüber hinaus bei der Erarbeitung von menschenrechtsfreundlichen und demokratischen Verfassungen. Matthias Falter ist Politikwissenschaftler und 2012/13 BMWF Doctoral Research Fellow am Center for Austrian Studies der University of Minnesota. Seine Forschungsgebiete sind moderne politische Theorien, Antisemitismus, Rechtsextremismus und Parlamentarismus. In seiner Dissertation untersucht Matthias Falter den parlamentarischen Diskurs über Rechtsextremismus in Österreich und dabei reproduzierte Vorstellungen von politischer Gemeinschaft. Matthias Falter ist Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (www.fipu.at). Maximilian Fuhrmann forscht zurzeit zu städtischer Entwicklung in Südafrika und arbeitete im Jahr 2011 für das Deutsche Jugendinstitut in der wissenschaftlichen Begleitung der »Initiative Demokratie stärken«. Der Autor ist Soziologe und lebt in Leipzig. Lutz Hachmeister, geb. 1959 in Minden, ist seit 2005 Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik in Berlin. Er hat Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Philosophie in Münster und Berlin studiert und zu medien- und zeithistorischen Themen promoviert und habilitiert. Er war u.a. Direktor des Grimme-Instituts und Medienredakteur des Tagesspiegel. Er zählt

Autorinnen und Autoren

zu den bekanntesten deutschen Dokumentarfilmern und schreibt über politikund zeithistorische Themen, wie zur »Gegnerforschung« der SS (1998), zu Hanns Martin Schleyer (2004) und zum Mediensystem der Berliner Republik (2007). Aktuell arbeitet er an einem Buch über das Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger und einem Film über die »Affäre Wulff«. Martin Hünemann studierte in Marburg und Genf Soziologie. Er ist Teamer im Netzwerk für Demokratie und Courage und befasst sich mit Mobilisierungsstrategien von Neonazis im Web. Heike Kleffner, Jahrgang 1966, ist Journalistin und Rechtsextremismusexpertin. Sie war Referentin für den NSU-Untersuchungsausschuss für die Linksfraktion im Bundestag. Michaela Köttig ist Professorin für Grundlagen der Gesprächsführung, Kommunikation und Konfliktbewältigung am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Frankfurt a.M. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. die rekonstruktive Soziale Arbeit, Frauen und Rechtsextremismus, qualitative Sozialforschung und gendersensible Soziale Arbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen. Zum Thema erschien von ihr 2004 ein Buch über die Lebensgeschichten rechtsextremer Frauen und Mädchen im Psychosozial Verlag. Stephan Lessenich ist Professor für Vergleichende Gesellschafts- und Kulturanalyse am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeitsschwerpunkte: Vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung, Politische Soziologie, Soziologie des Alter(n)s, Strukturwandel des Kapitalismus. Jüngste Buchveröffentlichungen: 2012, Theorien des Sozialstaats zur Einführung, Hamburg: Junius; 2012, Der Vergleich in den Sozialwissenschaften. Staat – Kapitalismus – Demokratie, Frankfurt: Campus (herausgegeben mit Jens Borchert). Angelika Lex, geb. 1958, hat in München Rechtswissenschaften studiert. Seit 1987 ist sie Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Strafrecht, Asyl- und Ausländerrecht, Versammlungs- Polizei- und Verfassungsschutzrecht. Sie ist Richterin am Bayerischen Verfassungsgerichtshof. Von 1990 bis 1995 war sie Stadträtin in München für die Grünen. Angelika Lex vertritt die Nebenklage von Yvonne Boulgarides im NSU-Prozess. Lotta Mayer, geb. 1983, studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie in Heidelberg und Madrid. Von 2005 bis 2011 war sie Mitglied des Vorstands des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung (HIIK). Derzeit promoviert sie mit einem Stipendium der Studienstiftung des deut-

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schen Volkes am Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg über Gewaltdynamiken in innerstaatlichen Kriegen. Ihre Forschungsinteressen sind soziale und politische Konflikte sowie soziologische Theorie. Armin Nassehi ist Professor am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte sind soziologische Theorie, Kultur- und Wissenssoziologie sowie politische Soziologie. Zuletzt ist von Armin Nassehi u.a. der Band Gesellschaft der Gegenwarten: Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft II (Frankfurt a.M.: Suhrkamp) erschienen. Seit 2012 gibt Armin Nassehi das wieder aufgelegte Kursbuch heraus, in dem er zuletzt einen Aufsatz über die Macht von Unterscheidungen präsentiert hat (Kursbuch Nr. 173: Rechte Linke). Falk Neubert ist gelernter Koch und hat in Dresden Kommunikationswissenschaften und Soziologie studiert. Er ist seit 1999 für DIE LINKE Mitglied im Sächsischen Landtag und seit 2009 medienpolitischer Sprecher seiner Fraktion. In den Landkreisen Sächsische Schweiz-Osterzgebirge und Mittelsachsen, in welchen er bisher als Abgeordneter lebte und arbeitete, musste er sich auf unterschiedlichen Ebenen mit der Präsenz von Nazis auseinandersetzen. Daher die Nähe zum Thema. Neubert war fünf Jahre lang Mitglied im Beirat des Landesprogramms gegen Rechtsextremismus und ist Mitglied im NSUUntersuchungsausschuss. Im September 2012 hob der Landtag seine Immunität als Abgeordneter auf. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen der Blockade des Naziaufmarsches im Februar 2011. Marko Pfingsttag wurde im Herzen Baden-Württembergs geboren, an der Universität Tübingen ausgebildet (Allgemeine Rhetorik, Vergleichende Religionswissenschaften) und in München mittlerweile hinreichend assimiliert. Dort verdingt er sich als Autor, freier Journalist und Glücksritter. Jeden Dienstag Nachmittag kommt er am OLG München vorbei. Und wundert sich. Jedes Mal. Aufs Neue. Ben Rau ist politisch aktiv bei der Karawane München und in weiteren antirassistischen Zusammenhängen. Er arbeitet beim Bayerischen Flüchtlingsrat und studiert Politikwissenschaft und Soziologie an der LMU München. Imke Schmincke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München am Lehrstuhl Gender Studies. Sie hat in Hamburg und Brighton Soziologie studiert mit den Nebenfächern Politische Wissenschaft, Psychologie und Neuere Deutsche Literatur. In ihrer Promotion hat sie sich mit dem Zusammenhang von Marginalisierung und Körper beschäftigt. Derzeit forscht sie zu den Formen der Kritik der Zweiten

Autorinnen und Autoren

Frauenbewegung. Weitere Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftstheorie, Stadtund Raumsoziologie, Körpersoziologie und feministische Theorie. Nadia Shehadeh ist Soziologin und lebt in Bielefeld. Seit 2010 ist sie als Bloggerin aktiv und u.a. Autorin bei dem feministischen Blog Maedchenmannschaft. net. Mit shehadistan.de betreibt sie seit 2012 ihr eigenes Blog. Sie ist zudem aktivistisch engagiert – u.a. in dem Konglomerat Bühnenwatch, das seit 2011 rassistische Praktiken im deutschen Kulturbetrieb aufdeckt und öffentlich diskutiert. Jasmin Siri, geb. 1980, hat Soziologie, Kriminologie und Psychologie in Freiburg i.Br. und in München studiert und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind soziologische Theorie, politische Soziologie, Organisationssoziologie, Geschlechterforschung und soziale Medien. Sie hat über die Soziologie politischer Parteien in München promoviert und arbeitet aktuell zur Emergenz politischer Identitäten in unterschiedlichen organisationalen und medialen Arrangements. Fabian Virchow, Dr., ist Professor für Theorien der Gesellschaft und Theorien politischen Handelns an der FH Düsseldorf, wo er auch den Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus/Neonazismus leitet. Er forscht und publiziert seit 25 Jahren zu Geschichte, Weltanschauung und Praxeologie der extremen Rechten. Wichtige Veröffentlichungen zu diesen Themen: 2013 forthcoming, Handbuch Rechtsextremismus (Mitherausgeber, Wiesbaden: VS); 2013, Far Right Visual Politics (Herausgeber, Wiesbaden: VS); Gegen den Zivilismus. Internationale Beziehungen und Militär in den politischen Konzeptionen der extremen Rechten (2006 Wiesbaden: VS). Uljana Wolf ist Lyrikerin und Übersetzerin. Sie veröffentlichte, neben zahlreichen Lyrikübersetzungen, im Verlag kookbooks die Gedichtbände kochanie ich habe brot gekauft (2005), falsche freunde (2009) und gemeinsam mit Christian Hawkey die Sonett-Bearbeitungen Sonne From Ort (2012). Ihr dritter Gedichtband Meine schönste Lengevitch erscheint im Herbst 2013 bei kookbooks. Wolf war Mitherausgeberin des Jahrbuchs der Lyrik (2009 Frankfurt a.M.: S. Fischer) und wurde für ihre Arbeiten mehrfach mit Stipendien und Preisen ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin und New York.

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X-Texte zu Kultur und Gesellschaft Christoph Bieber, Claus Leggewie (Hg.) Unter Piraten Erkundungen in einer neuen politischen Arena 2012, 248 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2071-9

Karin Harrasser Körper 2.0 Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen Oktober 2013, 144 Seiten, kart., 17,99 €, ISBN 978-3-8376-2351-2

Felix Hasler Neuromythologie Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung (3., unveränderte Auflage 2013) 2012, 264 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1580-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

X-Texte zu Kultur und Gesellschaft Matthias Kamann Todeskämpfe Die Politik des Jenseits und der Streit um Sterbehilfe 2009, 158 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1265-3

Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Occupy Räume des Protests 2012, 200 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-2163-1

Franz Walter Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland 2010, 148 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN 978-3-8376-1505-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

X-Texte zu Kultur und Gesellschaft Luca Di Blasi Der weiße Mann Ein Anti-Manifest Oktober 2013, 112 Seiten, kart., 18,99 €, ISBN 978-3-8376-2525-7

Sebastian Dullien, Hansjörg Herr, Christian Kellermann Der gute Kapitalismus ... und was sich dafür nach der Krise ändern müsste 2009, 248 Seiten, kart., 6,99 €, ISBN 978-3-8376-1346-9

Kai Hafez Freiheit, Gleichheit und Intoleranz Der Islam in der liberalen Gesellschaft Deutschlands und Europas Februar 2013, 376 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2292-8

Kai Hafez Heiliger Krieg und Demokratie Radikalität und politischer Wandel im islamisch-westlichen Vergleich 2009, 282 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1256-1

Byung-Chul Han Duft der Zeit Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens 2009, 114 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN 978-3-8376-1157-1

Thomas Hecken Das Versagen der Intellektuellen Eine Verteidigung des Konsums gegen seine deutschen Verächter

Ramón Reichert Das Wissen der Börse Medien und Praktiken des Finanzmarktes 2009, 242 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1140-3

Werner Rügemer »Heuschrecken« im öffentlichen Raum Public Private Partnership – Anatomie eines globalen Finanzinstruments 2011, 204 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1741-2

Werner Rügemer Rating-Agenturen Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart 2012, 200 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1977-5

Franz Walter Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration 2009, 136 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN 978-3-8376-1141-0

Gesa Ziemer Komplizenschaft Neue Perspektiven auf Kollektivität Oktober 2013, 200 Seiten, kart., inkl. Begleit-DVD, 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2383-3

2010, 250 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1495-4

Harald Lemke Politik des Essens Wovon die Welt von morgen lebt 2012, 344 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1845-7

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