November 1918: Revolution an der Ostsee und im Reich [1 ed.] 9783412516055, 9783412516031


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November 1918: Revolution an der Ostsee und im Reich [1 ed.]
 9783412516055, 9783412516031

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Der Verlauf der Revolution 1918/19 weckte auch an der Ostsee große Hoffnungen auf eine bessere Welt. Die für das ganze Reich und den Freistaat Preußen geschaffene Gesetzgebung gestaltete die rechtlichen und sozialen Verhältnisse dauerhaft um. Jenseits der Klischees vom konservativen Ostelbien macht der Band deutlich, dass sich Kräfte der Veränderung auch in Stralsund, Greifswald, Stettin und an anderen Orten der Provinz Pommern regten. Die Revolution in der Metropole Berlin wirkte in mannigfacher Weise auch auf die Peripherie. Ausgewiesene Historikerinnen, Historiker und Juristen des In- und Auslands zeichnen den tiefgreifenden Wandel nach und tragen zu einer Neubewertung der Revolution bei.

Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.)

veröffentlichungen der historischen kommission für pommern forschungen zur pommerschen geschichte, band 53

November 1918

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Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.)

November 1918 Revolution an der Ostsee und im Reich

forschungen zur pommerschen geschichte

978-3-412-51603-1_Stamm-Kuhlmann.indd Alle Seiten

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05.12.19 15:06

VERÖFFENTLICHUNGEN DER HISTORISCHEN KOMMISSION FÜR POMMERN Für die Historische Kommission für Pommern herausgegeben von Gerd Albrecht, Felix Biermann, Nils Jörn, Michael Lissok und Haik Thomas Porada RE I HE V: FO R SCH U N GE N Z U R P OMME RSCHE N GE SCHI CHTE Ba n d 5 3

N OV E M B E R 19 18 REVOLUTION AN DER OSTSEE UND IM REICH

Herausgegeben von THOMAS STAMM-KUHLMANN

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Die Arbeit der Historischen Kommission für Pommern wird gefördert durch das Land Mecklenburg-Vorpommern und das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg an der Lahn.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie., Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Befehl des Arbeiter- und Soldatenrats zu Greifswald. 10. November 1918. Plakat. Pommersches Landesmuseum Greifswald. Korrektorat: Lektorat Becker und Schütz, Kassel Satz und Layout: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51605-5

Inhalt Thomas Stamm-Kuhlmann Vorwort  .. ................................................................................................................... 

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Die Revolution und ihre Bewertung Rüdiger Graf Die Revolution als Chance und Gefahr. Revolutionäre Drehbücher in Deutschland 1918/19  ..................................................  15 Tim B. Müller Die transatlantische Diskussion um die globale und soziale Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg  ................................................  35 Ilya Dementev From October to November. The Reception(s) of 1917 – 1918 by Russian Thinkers  .................................................  67 Hedwig Richter Lange vorbereitet und kein Grund zur ­Aufregung – das Frauenwahlrecht  . . .............  87 Eberhard Eichenhofer Das neue Arbeits- und Sozialrecht  . . ..........................................................................  103

Der Fall Pommern Christoph Freiherr von Houwald Räte, Revolution und die Wahl zur ­Nationalversammlung in Stralsund  ..................  131 Jenny Linek Greifswald 1918. Alltag zwischen Krieg und Frieden  ...........................................................................  167 Gunter Dehnert Der Arbeiter- und Soldatenrat von Stettin bis zur Wahl der Nationalversammlung  . 193

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Inhalt

Bert Becker Die pommerschen Oberpräsidenten der Revolutionsperiode  . . .................................  209 Thomas Stamm-­Kuhlmann Preußen, das Reich und Pommern. Verfassungsgebung und Demokratisierung  ..............................................................  253 Nachwort  ..................................................................................................................  273 Abkürzungsverzeichnis  .............................................................................................  Verzeichnis der Autoren  . . ..........................................................................................  Ortsregister  ...............................................................................................................  Personenregister  ........................................................................................................ 

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Vorwort Thomas Stamm-Kuhlmann November 1918 – das ist eine Chiffre. In diesem Buch soll sie für alle Umwälzungen stehen, die vom Sturz der Monarchie und der Einsetzung einer demokratischen Regierung in Berlin am 9. November 1918 angestoßen worden sind. Insofern sie bleibende Veränderungen ausgelöst hat, die oftmals erst später realisiert worden sind, reichen die Folgen der Revolution bis in die Zwanziger Jahre hinein. Und so gibt es in diesem Buch auch keine feste Zeitgrenze, die die revolutionäre Phase der deutschen Politik nach hinten abschließt. Das Jubiläum der deutschen Revolution vom November 1918 bringt uns zum Nachdenken über dreierlei. Wo steht diese Revolution im großen Zeitbogen der deutschen Geschichte in der Neuzeit? Was können Revolutionen überhaupt bewirken? Welchen Platz haben sie in einer regionalen, einer nationalen und einer globalen Geschichtserzählung, die auch immer ein Teil von Erinnerungs- und Identitätsformung ist? Die Erinnerung an die Revolution geht leicht mit der Erinnerung an den Waffenstillstand, der zwei Tage nach der Absetzung des Kaisers unterzeichnet wurde, durcheinander. An diesen Waffenstillstand, obwohl er das Enden eines bis dahin unvorstellbaren Mordens bedeutete, denkt man in Deutschland nicht gerne, da er gleichbedeutend mit dem Eingeständnis war, dass die ungeheuren Opfer sinnlos gewesen waren. Am 11. November, einem hohen Feiertag in unseren Nachbarländern, feiern die Deutschen lieber die Eröffnung des Karnevals. Die Revolution wiederum ging zwar von Kiel aus, setzte sich jedoch zuerst in Bayern durch. Man hätte stolz darauf sein können, dass der Verlauf des November 1918 derartig unblutig war und dem König von Bayern kein Haar gekrümmt wurde. Auch in 21 weiteren Gliedstaaten des Deutschen Reiches kamen die Fürsten glimpflich davon. Sie waren auch zuvor keine Tyrannen gewesen. Zunächst war der Sieg der Republik durchgreifend und der Verwaltungsapparat des Ancien Régime stellte sich durchweg zur Verfügung. Es gab in den Metropolen Berlin und München ebenso wie in den Mittelstädten Stralsund, Greifswald und Stettin eine Bewegung von unten, der sich der Staatsapparat fügen musste. Juristen und Beamte fehlten nicht, die mit einer liberalen Gesinnung eine Brücke zwischen alt und neu zu bauen verstanden. Es war der Streit innerhalb der Linken, die bis heute nicht geheilte Spaltung zwischen Mehrheits-­SPD, USPD und Spartakus bzw. KPD, die die deutsche Linke bis heute daran hindert, die Revolutionsmonate von 1918 und 1919 mit Stolz in ihre Erinnerung einzubauen. Denn von Dezember 1918 an blieb die Revolution nicht mehr friedlich, und die meisten Todesopfer waren zu beklagen, als sozialdemokratisch geführte Sicherheitskräfte mit kommunistisch geführten Kämpfern und Demonstranten zusammenstießen,1 als also

1 Mehr Todesopfer als die Niederschlagung des Spartakus-­Aufstands forderte das Vorgehen des Stadtkommandanten Gustav Noske gegen den von KPD und Teilen der USPD ausgerufenen

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Thomas Stamm-Kuhlmann

die Träger der Revolution unter sich uneins wurden, was man sogar als einen typischen Zug von Revolutionen ansehen kann. Im Jahr 2018 geführte Debatten über einen weiteren Feiertag in der Bundesrepublik Deutschland hatten zum Ergebnis, dass der 9. November erneut nicht ausgewählt wurde, auch nicht in der damaligen und heutigen deutschen Hauptstadt Berlin. Nicht zum wenigsten dürfte dazu beigetragen haben, dass der 9. November eben nicht nur der Tag der erfolgreichen friedlichen Republikgründung ist, sondern auch der Gedenktag des Hitlerputsches und der Novemberpogrome 1938. Nicht einmal der Glanz der Maueröffnung von 1989 hat es vermocht, diese Schatten aufzuhellen. Das bedeutet im Endergebnis, dass Adolf Hitler es vermocht hat, mit seinen Schandtaten eine hoffnungsvolle Traditionsbildung der Deutschen zu unterbinden. In jeder Hinsicht waren deshalb 2018 die gedächtnispolitischen Kapazitäten geteilt zwischen jenen, die an die Opfer der „Reichskristallnacht“ erinnerten und jenen, die sich der zunächst erfolgreichen Revolution angenommen haben. Hätte die Revolution aber Bestand gehabt, hätte es die Novemberpogrome gar nicht erst gegeben. Diese Überlegung führt zum Nachdenken über das weitere Schicksal der 1918/19 gegründeten Republik. Zwei Ansätze haben die bundesdeutsche Geschichtsschreibung zur Revolution beherrscht. Vor allem vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und bevor eine detaillierte Forschung ergab, dass in den Räten eine linksextremistische Einstellung keineswegs vorherrschend war, neigte man dazu, den von Gustav Noske vorgenommenen und von Friedrich Ebert zugelassenen brutalen Militäreinsatz ab Dezember 1918 als womöglich überzogenen, aber doch verständlichen Abwehrkampf gegen den Bolschewismus zu sehen. Durch die umfassende Quellenforschung, die in den 1970er-­Jahren vor allem zur Rätebewegung getrieben wurde, und durch die basisdemokratischen Impulse der Neuen Linken verschob sich dann das Paradigma hin zur These von der versäumten Chance der Demokratisierung.2 Die DDR -Historiografie ihrerseits war wieder auf die Alternative „Rätesystem oder Nationalversammlung, Bolschewismus oder Weimarer Republik“ fixiert,3 wenn auch mit gegenüber dem Westen inverser Bewertung. Die Behauptung freilich, die KPD in Pommern habe während der Klassenkämpfe der Jahre 1919/20 und bei der Abwehr des Kapp-­Putsches eine maßgebliche Rolle gespielt, muss als Geschichtsfälschung zurückgewiesen werden.4 Die Gedenkjahre 1968/69 veranlassten aber auch Sebastian Haffner, damals in WestdeutschBerliner Generalstreik und Aufstand zwischen dem 3. und 12. März 1919: Die Schätzungen reichen bis zu 1.200 Toten. Kampfflugzeuge wurden eingesetzt. Vgl. Mark Jones: Am Anfang war Gewalt: Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik. Berlin 2017, S. 237 f. 2 Vgl. Wolfgang Niess: Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung. Deutungen von der Weimarer Republik bis ins 21. Jahrhundert. Berlin/Boston 2013, S. 573. 3 Vgl. ebd., S. 576. 4 Vgl. Fred Mrotzek: Der schwere Weg der Demokratie, in: ders./Werner Müller/Johannes Köllner (Hrsg.): Die Geschichte der SPD in Mecklenburg und Vorpommern, Bonn 2002, S. 105.

Vorwort

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land als linksliberaler Publizist in hohem Ansehen stehend, zu dem Buch „Die verratene Revolution. Deutschland 1918/19.“ 5 Als Verräter sind hier vor allem die Sozialdemokraten gemeint: „Die deutsche Revolution von 1918 war eine sozialdemokratische Revolution, die von den sozialdemokratischen Führern niedergeschlagen wurde: ein Vorgang, der in der Weltgeschichte kaum seinesgleichen hat.“ 6 2018 aber war ein Buchtitel möglich wie: „Lob der Revolution“. Aus dem Verrat wurde „die Geburt der deutschen Demokratie.“ 7 Eine Bewertung der Revolution ist von maßgeblicher Bedeutung für die möglichen Erklärungen, die sich für das Scheitern der Weimarer Republik geben lassen. Überdeutlich hat beispielsweise Karl Dietrich Bracher betont, dass Hindenburgs Loyalitätsverweigerung gegenüber den demokratischen Parteien, die ihm zur Wahl in das mächtige Amt des Staatsoberhaupts verholfen hatten, von seinem ostelbisch-­junkerlichen Sozialhintergrund gestützt wurde.8 Unter diesem Aspekt – und angesichts der Wahlerfolge der DNVP, dann der NSDAP in Pommern – drängt sich die Frage auf, ob ein entschiedeneres Vorgehen gegen den nordostdeutschen Großgrundbesitz in der Revolutionsphase den Untergang der Weimarer Republik hätte abwenden können. Mit zunehmender Distanz zum Jahr 1933 wird das damalige Scheitern der Republik jedoch nicht mehr als zwangsläufig empfunden und werden der Sonderwegs-­These von den autoritären Langzeittendenzen der deutschen Geschichte 9 Vergleiche gegenübergestellt, die beweisen sollen, dass Deutschland 1918 gegenüber den Musterländern der westlichen Demokratie keineswegs zurück war.10 Auch wer glaubt, die Revolution nun loben zu dürfen, muss sich freilich fragen lassen, ob sie tatsächlich das tragende Ereignis am Anfang des 20. Jahrhunderts bildet. Die 5 Bern u. a. 1969. Dän. Ausgabe 1971; deutsche Neuausgabe u. d. T.: Die deutsche Revolution. Wie war es wirklich? München 1979; niederl./russ. Ausgaben 1983; US -Ausgabe 1986; dt. Taschenbuchausgabe München 1991; Neuausgabe u. d. T: Der Verrat. Deutschland 1918/19, Berlin 1993 (3. Aufl. 1995), u. d. T: Die deutsche Revolution 1918/19. Berlin 2002; niederl. Ausgaben 2002; Taschenbuchausgabe Reinbek 2004; span. Ausgaben 2005; dän. Ausgabe 2006; dt. Ausgabe Köln 2008; E-Book Reinbek 2018; franz. Ausgabe 2018. 6 Sebastian Haffner: Die verratene Revolution. Deutschland 1918/19. Bern u. a. 1969, S. 10. Wortgleich in der Neuausgabe: Die deutsche Revolution 1918/19. Wie war es wirklich? München 1979, S. 10. 7 Lars-­Broder Keil/Sven Felix Kellerhoff: Lob der Revolution. Die Geburt der deutschen Demokratie. Darmstadt 2018. 8 Vgl. Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie (Droste Taschenbücher Geschichte). Düsseldorf 1984, S. 454 und 457. Voraussetzung für das fatale Wirken Hindenburgs und seiner Hintermänner war die „Verlängerung der historischen Lebensspanne, die dem Adel während der Reichsgründungsepoche in den Schoß gefallen ist.“ (Hans-­Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849 – 1914. München 1995, S. 806.) 9 Am besten zusammengefasst in: Hans-­Ulrich Wehler: Das deutsche Kaiserreich 1871 – 1918 (Deutsche Geschichte, Bd. 9. Hrsg. von Joachim Leuschner). Göttingen 61988. 10 Vgl. Margaret Lavinia Anderson: Ein Demokratiedefizit? Das Deutsche Kaiserreich in vergleichender Perspektive, in: GuG 11 (2018), S. 367 – 398.

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Thomas Stamm-Kuhlmann

Beiträge zu Greifswald von Jenny Linek, zum modernen Arbeits- und Sozialrecht von Eberhard Eichenhofer und zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts von Hedwig Richter lassen erkennen, dass 1918/19 Modernisierungstrends zum Durchbruch kamen, die sich unter den Bedingungen des Kaiserreichs und des Krieges seit Jahrzehnten angebahnt hatten. Werner Abelshauser hat schon 1987 konstatiert: „Nahezu alles, was zu den typischen sozialen Errungenschaften der Weimarer Republik zu zählen ist und in den Jahren 1918 bis 1920 Gesetzeskraft erlangte, lässt sich in den Grundlagen auf die Praxis der Kriegszeit zurückführen.“ 11 Die gegenrevolutionären Einstellungen, die vor allem in Militär und Beamtenapparat lokalisiert worden sind, wurden lange Zeit dafür verantwortlich gemacht, dass es der Republik an Republikanern gefehlt habe. Bert Becker betont in diesem Band, dass Politik und Gesellschaft Pommerns in der Weimarer Republik jedoch nicht mit der Entwicklung der Deutschnationalen Volkspartei gleichgesetzt werden sollten. Das hat die Forschungsliteratur über diesen Zeitabschnitt manchmal suggeriert. Tendenzen zur Überwindung der sozialen Kluft, wie sie in der Weimarer Republik gerade vom linksliberalen Lager ausgegangen sind, hat es auch in Pommern gegeben. Sie verkörpern sich hier in der Person des Oberpräsidenten Julius Lippmann. Aus den drei Städten Stralsund (behandelt von Christoph Freiherr von Houwald), Greifswald (behandelt von Jenny Linek) und Stettin (behandelt von Gunter Dehnert) kann man ersehen, dass der Druck von unten, der von den Arbeiter- und Soldatenräten ausging, schnell aufgefangen wurde und dass die Nebenordnung der Räte mit den in der Kommunalverfassung vorgesehenen Gremien schlecht und recht funktionierte. In Stralsund konstituierte sich auch ein Bürgerrat. Von Greifswald bleibt der Eindruck zurück, dass der seit 1917 amtierende Bürgermeister die Lage in jedem Augenblick in der Hand hatte und die Arbeiterschaft sich mit oberflächlichen Partizipationsmöglichkeiten schnell zufriedengab. Nach der Wahl zur Nationalversammlung und nachdem die kommunalen Selbstverwaltungsgremien anhand des Verhältniswahlrechts hatten besetzt werden können, erschienen die Räte mehr und mehr als funktionslose Überreste.12 Sie mussten nicht unterdrückt werden, sondern stimmten, zuletzt im Sommer 1919, ihrer eigenen Auflösung zu. Dieses glimpfliche Nebeneinander lässt sich je nach dem Standpunkt, den man zur Revolution einnimmt, als anpasserisches Versöhnlertum der Revolutionäre oder als weichliches Nachgeben der Staatsorgane auslegen. Man kann dies jedoch auch als Anzeichen einer Kompromissfähigkeit der deutschen 11 Werner Abelshauser: Die Weimarer Republik ein Wohlfahrtsstaat?, in: ders. (Hrsg.): Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat (VSWG Beiheft Nr. 89, 9). Stuttgart 1987, S. 15. 12 Der neue preußische Ministerpräsident Paul Hirsch war der Ansicht, dass die Kommunalwahlen nach dem neuen Wahlrecht notwendig waren, damit eine Einmischung der Arbeiterund Soldatenräte in die Selbstverwaltung beendet werden konnte. Bis dahin habe „ein buntes Durcheinander“ „fast anarchistische Zustände“ herbeigeführt. Das Verhältniswahlrecht jedoch scheint ihm garantiert zu haben, dass der Einfluss der bisher benachteiligten Volksschichten auf die Politik künftig gesichert war. Vgl. Paul Hirsch: Der Weg der Sozialdemokratie zur Macht in Preußen. Berlin 1929, S. 154.

Vorwort

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Gesellschaft betrachten. Bastillestürme mögen signalhafte Bedeutung haben. Die wahren Umwälzungen der Französischen Revolution fanden dagegen in den Generalständen und in der Nationalversammlung statt. Beinahe hätte die Revolution zu einer Bereinigung des „Reich-­Preußen-­Problems“ in der Form geführt, dass Preußen zerschlagen worden wäre. Das hätte Pommern als einer hinreichend großen Provinz die Chance eingeräumt, in den Status eines Landes des Deutschen Reiches aufzusteigen. Tatsächlich waren es aber die preußischen Sozialdemokraten, die sich erfolgreich gegen die Aufteilung ihres von jetzt an als Freistaat bezeichneten Gebildes gewehrt haben. Für dieselben Sozialdemokraten war Pommern, wie der von hier gebürtige preußische Innenminister Albert Grzesinski betonte, zwar der Inbegriff der Reaktion und junkerlicher Verhältnisse. Diese Verhältnisse wurden, wie im Beitrag von Thomas Stamm-­Kuhlmann gezeigt ist, aber auf dem Gesetzgebungswege angegriffen, wobei ein Teil der Gesetzgebung auf Reichsebene erfolgte, der größere Teil jedoch von der verfassunggebenden preußischen Landesversammlung und dem preußischen Landtag ausging. Im pommerschen Provinzialverband als einem bedeutenden Selbstverwaltungsorgan kam die Revolution nur schleppend an, hier darf man auch nach wie vor einen Hort des Widerstrebens gegen die neue Ordnung erblicken. Diese Widerstände, die im Kapp-­Putsch des März 1920 gipfelten, sind in der Forschung behandelt worden.13 Da dieses Buch jedoch den progressiven Veränderungen gewidmet ist, die die Revolution mit sich brachte, wird der Kapp-­Putsch hier nicht weiter vertieft. Ein klares Bewusstsein von der gesellschaftlichen Gegenmacht, die sich ihnen in Form der häufig adeligen Großgrundbesitzer entgegenstellte, war bei den Sozialdemokraten – es seien nur Otto Braun und Albert Grzesinski genannt – auf jeden Fall vorhanden. Die wichtigsten der Fortschritte, die dauerhafter Art waren und den Nationalsozialismus überlebt haben, sind in den Beiträgen von Hedwig Richter und Eberhard Eichenhofer behandelt. Für die Berliner Sozialdemokraten, ob sie der MSPD oder der USPD angehörten, war die Revolution im Dezember 1918 schon gelaufen, sobald die Parlamentarisierung der Politik und damit eine Plattform für die Machtausübung der Sozialdemokratie gegeben war, wie Rüdiger Graf feststellt. Hinzuzählen müsste man die nicht unbedeutenden Grundrechts- und sozialen Garantien, die der Rat der Volksbeauftragten und die preußische Staatsregierung bereits im November verkündet hatten. Dennoch fing 13 Vgl. Klaus Schreiner: Dokumente berichten aus der Geschichte der Greifswalder Arbeiterbewegung. Hrsg. vom Pädagogischen Kreiskabinett Greifswald. Greifswald 1958; ders.: Der Kampf der Werktätigen Vorpommerns gegen den militaristischen Kapp-­Putsch und die daran anschließenden Aktionen im März 1920. Phil. Diss. Rostock 1963 (Masch.); ders.: Der Anteil der revolutionären Landarbeiter des ehemaligen Regierungsbezirks Stralsund an der Niederschlagung des Kapp-­Putsches im März 1920, in: Greifswald-­Stralsunder Jahrbuch 3 (1963), S. 101 – 106; Johannes Erger: Der Kapp-­Lüttwitz-­Putsch. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1919/20 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 35). Düsseldorf 1967; Martin Schaubs: Märzstürme in Pommern: Der Kapp-­Putsch in Preußens Provinz Pommern. Marburg 2008.

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Thomas Stamm-Kuhlmann

im Empfinden der Mitglieder des Spartakusbundes die Revolution im Dezember erst an. Dass Deutschland sich auf einem gesetzmäßigen Weg zur Demokratie befand, glaubten nach den Beobachtungen von Rüdiger Graf auch die deutschen Linksliberalen um Theodor Heuss. Die Frage, ob die deutsche Revolution von 1918/19 nicht auch als Teil eines weltweiten Demokratisierungsschubes gesehen werden muss, untersucht Tim B. Müller. Auch nach seiner Diagnose war die Kluft zwischen Deutschland und der atlantischen Welt geringer als lange Zeit angenommen. Genau diese Nähe aber, die den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann als Handlanger der imperialistischen Westmächte USA und Großbritannien erscheinen ließ, machte die SPD den Bolschewiki natürlich verhasst. Umgekehrt groß war indessen die Zustimmung zur SPD in den Reihen der bereits entmachteten russischen Menschewiki, wie Ilya Dementev zeigt. Doch beiden gemein war ein enger Erwartungshorizont, der der Weltrevolution nur wenige Jahre zumaß, während aus heutiger Sicht ein weltweiter Demokratisierungsschub unter dem „Wilson-­Effekt“ seine volle Bedeutung erst im Verlauf der Jahrzehnte entfaltet hat. Jene Historiker, die die Menschheit auf einem von Rückschlägen begleiteten Pfad zur repräsentativen Demokratie als universaler Staatsform sehen, fanden sich im Sturz der Einheitsparteidiktaturen des sowjetischen Modells, der 1988 – 1990 in Ost- und Mitteleuropa stattfand, bestätigt. Auffallend sind die Parallelen zwischen dem November 1918 und dem November 1989 auch darin, dass eine friedliche Massenbewegung imstande war, ein abgewirtschaftetes Regime zu stürzen. Dass dabei auch einsichtige Vertreter der alten Eliten ihren Anteil haben, gilt für beide Abläufe. Auf jeden Fall verlor das Paradigma der „Abwehr des Bolschewismus“ in Deutschland nach 1989 seine Dringlichkeit und die Historisierung der Revolution, ihr historiographischer Einbau in den weltweiten Demokratisierungstrend, wurde möglich.14 Der Regionalhistoriker, der sich auch für die politische Bildung verantwortlich fühlt, kann nur dies tun: Den Erfolg der friedlichen Revolution 1918/19 auch in Pommern konstatieren, erkennen, welchen Rückhalt diese Revolution auch in den Städten und Dörfern Pommerns hatte, die vor allem von Berlin aus durchgesetzten sozialen Fortschritte im Kielwasser der Revolution anerkennen, die für die nationalsozialistische Machtergreifung wesentlichen Überbleibsel der Junkerherrschaft zur Kenntnis nehmen und feststellen, dass eine zweite friedliche Revolution in diesem Teil Deutschlands 1989/90 zur nationalen Einheit und zur Festigung der Demokratie geführt hat. Es bleibt uns aufgegeben, dafür zu streiten, dass diese Demokratie erhalten bleibt.

14 Vgl. Niess, S. 586.

Die Revolution und ihre Bewertung

Die Revolution als Chance und Gefahr. Revolutionäre Drehbücher in Deutschland 1918/19 Rüdiger Graf

Einleitung In wissenschaftlichen und populären Darstellungen der Zukunftsvorstellungen während der Revolution von 1918/19 wird gern Ernst Troeltschs Diktum vom „Traumland der Waffenstillstandsperiode“ zitiert.1 In der Zeitschrift Der Kunstwart schrieb der Theologe 1919 unter dem Pseudonym Spectator instruktive Vignetten über die politische Situation und die Stimmung der Bevölkerung. Die einprägsame Formel vom Traumland scheint sich zunächst auf die enthusiastischen Hoffnungen zu beziehen, mit denen Teile der Bevölkerung nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs eine ‚neue Zeit‘ gestalten wollten. Liest man den Text vom 26. Juni 1919 jedoch genauer, so erkennt man, dass dieses positive Verständnis den von Troeltsch intendierten Sinn nur teilweise erfasst: Das Traumland der Waffenstillstandsperiode, wo jeder sich ohne die Bedingungen und realen Sachfolgen des bevorstehenden Friedens die Zukunft phantastisch, pessimistisch oder heroisch ausmalen konnte, ist geschlossen.2

Troeltsch bezieht sich also auf die Virtualisierung der politischen Ordnung in Deutschland, die für ihn zu diesem Zeitpunkt schon nahe zurücklag. Als die politischen Institutionen des Kaiserreichs nicht mehr existierten, aber weder die Verfassung der Republik verabschiedet noch die Bedingungen des Versailler Vertrags bekannt waren, war Vieles möglich erschienen. In der Zeit der revolutionären Um- und Neugestaltung war Deutschlands politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft offener gewesen als in Phasen, in denen die Grundfragen der Ordnung des Zusammenlebens geklärt sind. Durch den expliziten Bezug auf den Versailler Frieden, dessen Annahme die Nationalversammlung gerade beschlossen hatte, legte Troeltsch den Akzent auf die Enttäuschung der Hoffnungen, die von einem moderaten ‚Wilson-­Frieden‘ ausgegangen waren und nun durch die unisono als zu hart und ungerecht empfundenen Vertragsbedingungen ad acta gelegt werden mussten.3 Aller 1 Kathleen Canning: Gender and the Imaginary of Revolution in Germany, in: Klaus Weinhauer/Anthony McElligott/Kirsten Heinsohn (Hrsg.): Germany 1916 – 23. A revolution in context. Bielefeld 2015, S. 103 – 126, hier S. 106. 2 Ernst Troeltsch: Nach der Entscheidung (Juli 1919), in: Gangolf Hübinger/Nikolai Wehrs (Hrsg.): Spectator-­Briefe und Berliner Briefe (1919 – 1922). Berlin 2015, S. 125 – 132, hier S. 131. 3 Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt: 1918 – 1923. München 2018.

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dings entwarf er eine Trias von Zukunftsbezügen. Die Ereignisse seit dem November 1918 hatten Deutschland nicht nur mit phantastischen Zukunftsvorstellungen zu einem Traumland, sondern auch mit pessimistischen zu einem Albtraumland gemacht. In diesem Land wähnten sich zugleich viele politische Akteure in einem existenziellen Kampf, der sie in Zukunft zu Helden machen würde. Als Zeiten beschleunigten Wandels sind Revolutionen ein beliebter Gegenstand der Geschichts- aber auch der systematischeren Sozialwissenschaften. Um historische und soziologische Perspektiven zusammenzuführen, nutzen Keith Baker und Dan Edelstein den Begriff des revolutionären Skripts oder Drehbuchs. Der Schlüssel zum Verständnis von Revolutionen besteht für Baker und Edelstein darin, dass diese keineswegs aus dem Nichts entstehen, sondern auf der Basis vorangegangener Revolutionen modelliert werden: Revolutionaries are extremely self-­conscious of (and often highly knowledgeable about) how previous revolutions unfolded. These revolutionary scripts offer frameworks for political action. Whether they serve as models or counterexamples, they provide the outlines on which revolutionary actors can improvise. And revolutionaries, in turn, can transform the scripts they inherit.4

Nachdem das Urskript in der Französischen Revolution entwickelt worden war, so Baker und Edelstein, bezogen sich Revolutionäre immer auf die Vergangenheit, wenn sie in der Gegenwart Revolution machen wollten. Aus vergangenen Revolutionen leiteten sie gegenwärtige Zukunftsperspektiven und Handlungskonzepte sowohl für die Revolution selbst als auch für die Zeit nach ihrem Ende ab. Demgegenüber hat Moritz Föllmer jüngst argumentiert, dass die deutsche Revolution von 1918/19 eine Ausnahme von dieser Regel gewesen sei, die er als „unscripted revolution“ bezeichnet.5 Für seine These spricht die frappierende Tatsache, dass die deutsche Sozialdemokratie, siebzig Jahre nachdem Karl Marx und Friedrich Engels das Manifest der Kommunistischen Partei veröffentlicht hatten und nachdem sie sich jahrzehntelang als revolutionäre, wenn auch in weiten Teilen nicht mehr als Revolution machende Partei begriffen hatte,6 1918/19 über kein Konzept für die anstehende politischen Umgestaltung verfügte. Die Revolution war also in dem Sinne unscripted, dass die Akteure, die über die wesentlichen staatlichen Machtmittel verfügten, keinem Drehbuch folgten, sondern improvisierten. Entscheidend für ihren Verlauf war jedoch weniger, so werde ich im Folgenden argumentieren, dass kein zentrales Skript existierte, das umgesetzt worden wäre. Vielmehr evozierte 4 Keith Michael Baker/Dan Edelstein: Introduction, in: Keith Michael Baker/Dan Edelstein (Hrsg.): Scripting Revolution. A Historical Approach to the Comparative Study of Revolutions. Stanford, California 2015, S. 1 – 24, hier S. 2. 5 Moritz Föllmer: The Unscripted Revolution: Male Subjectivities in Germany, 1918 – 1919, in: Past & present 240 (2018), H. 1, S. 161 – 192, hier S. 162. 6 Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1973.

Die Revolution als Chance und Gefahr

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die Revolution eine Vielzahl konkurrierender Drehbücher, wie sich Deutschland nach dem Ende des Kaiserreichs weiterentwickeln sollte, konnte oder musste. Am ehesten verfügte die extreme Linke, das heißt der Spartakusbund beziehungsweise die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) und der linke Flügel der USPD, über ein handlungsleitendes, revolutionäres Skript, auch wenn dessen genauer Ablauf an einigen entscheidenden Stellen umstritten war. Ihre Protagonisten besaßen aber – abgesehen von den kurzlebigen und lokal begrenzten Räterepubliken – zu keinem Zeitpunkt die Macht, sich ernsthaft an seine Durchsetzung zu machen. Nichtsdestoweniger entfaltete dieses Skript und vor allem das konkrete Vorbild der ein Jahr zurückliegenden Russischen Revolution eine große Wirkung, weil es den Gegnern der sozialistischen Revolution von der Mehrheitssozialdemokratie bis ins bürgerliche und konservative Lager als Schreckensszenario diente, das es zu verhindern galt. Zugleich entwickelten sie alternative Drehbücher für die Zukunft, die gemeinhin zumindest bestimmte Elemente der Revolution nicht rückgängig machen wollten und auf Seiten der radikalen Rechten oft ebenfalls revolutionären Charakter annahmen. Um den Einfluss der Skriptvielfalt auf die Revolution zu analysieren, werde ich im Folgenden zunächst die Debatte über den Verlauf und die weitere Ausgestaltung der Revolution auf der politischen Linken untersuchen. Dabei geht es vor allem um das Verhältnis von angenommenen Entwicklungsgesetzen, antizipierten Entwicklungsmöglichkeiten und daraus resultierenden Handlungsspielräumen oder – in zeitgenössischer Diktion – um Reifungsprozesse, die Ernte von ‚Früchten‘ und die Gefahr von ‚Fehlgeburten‘. In einem zweiten Schritt werde ich dann die Zukunftsperspektiven in den politischen Strömungen in den Blick nehmen, welche die sozialistische Revolution ablehnten, wobei ich besonderes Augenmerk auf das ‚Gespenst des Bolschewismus‘, das ‚Dennoch des Glaubens‘ und die ‚völkische Erneuerung‘ legen werde.

Reifung, Früchte und Fehlgeburten – die Revolution zwischen SPD, USPD und KPD Als den Vertretern von SPD und USPD die Macht in den Schoß fiel, hatten sie offenbar keinen Plan, wie der sozialistische Zukunftsstaat, über den jahrzehntelang debattiert worden war, zu errichten sei.7 Auch die politische Sprache, derer sich die Mehrheitssozialdemokraten bedienten, war kaum revolutionär, sondern richtete sich an den Handlungsnotwendigkeiten des Tages aus und enthielt nur wenig weitergehende Zukunftsperspekti-

7 Lucian Hölscher: Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich. Stuttgart 1989; ders.: Die verschobene Revolution. Zur Generierung historischer Zeit in der deutschen Sozialdemokratie vor 1933, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit. München 2003, S. 219 – 231.

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ven.8 Schon in der Vollversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte im Zirkus Busch am 10. November betonte Friedrich Ebert als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten die Notwendigkeit des langsamen Um- und Aufbaus gegenüber radikaleren Umgestaltungsplänen.9 Auch für Eberts Co-­Vorsitzenden, den Unabhängigen Sozialdemokraten Hugo Haase, schien die Revolution schon gemacht zu sein. Jetzt ging es für ihn darum, „die Errungenschaften der großen, der sozialistischen Revolution [zu] befestigen“ und die „Konterrevolution“ zu verhindern, damit die „Riesenopfer, die die Revolution gekostet“ habe, zu denen er „die ganzen Opfer des Weltkrieges“ rechnete, nicht umsonst gebracht worden seien.10 In Eberts Reden im November und Dezember 1918 erschien die Veränderung der politischen Ordnung weniger als das Produkt aktiver Gestaltung, denn als naturwüchsiger Prozess, der eingehegt werden musste. Auf einer Reichskonferenz von Vertretern der Arbeiter- und Soldatenräte am 25. November erklärte er etwa, zurzeit „durchlebe“ man „eine grundstürzende Umwälzung Deutschlands“.11 Als Handlungsmotiv diente ihm kein revolutionärer Wille, sondern die solidarische nationale Pflichterfüllung: Als wir die politische Macht des Reiches übernahmen, standen wir vor einem Trümmerhaufen. […] Wir waren uns auch der großen Last bewußt, die uns aufgebürdet worden ist. Unsere Pflicht gegen die Arbeiterklasse und gegen unser Volk gebot uns aber zu handeln.12

Der Rat der Volksbeauftragten folgte offensichtlich keinem revolutionären Drehbuch, sondern war vielmehr in Eberts Beschreibungen Tag und Nacht darum bemüht, die „Regierungsmaschinerie“ und die Wirtschaft am Laufen zu halten, um die Versorgung der Bevölkerung zu sichern und Not und Chaos zu verhindern. Diese gegenwartsorientierte Fixierung der Mehrheitssozialdemokratie auf Versorgungssicherheit und Ordnung stand in diametralem Gegensatz zum revolutionären Skript der Spartakisten und des linken Flügels der USPD. Auf den Versammlungen der Arbeiter- und Soldatenräte im November und Dezember prallten ihre Zukunftsaneignungen direkt aufeinander. So griff Karl Liebknecht Ebert am 10. November im Zirkus Busch an, indem er erklärte, dessen Entwicklungsdenken spiele nicht nur der Gegenrevolution in die Hände,

8 Susanne Miller: Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918 – 1920. Düsseldorf 1978, S. 99. 9 Siehe das Protokoll der Vollversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte im Zirkus Busch, 10. November 1918, in: Gerhard Engel/Gaby Huch/Ingo Materna (Hrsg.): Groß-­Berliner Arbeiter- und Soldatenräte in der Revolution 1918/19. Dokumente der Vollversammlungen und des Vollzugsrates. Vom Ausbruch der Revolution bis zum 1. Reichsrätekongreß. Berlin 2002, S. 15 – 24. 10 Ebd., S. 15 – 24. 11 Susanne Miller (Hrsg.): Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19. Düsseldorf 1969, hier S. 152. 12 Ebd.

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sondern sei selbst konterrevolutionär.13 Wenn Richard Müller, der Vorsitzende des Vollzugsrates der Arbeiter- und Soldatenräte Großberlin, auf der gleichen Versammlung im Widerspruch zu Theodor Wolffs Artikeln im Berliner Tageblatt erklärte, die Revolution sei sehr wohl vorbereitet gewesen, dann entsprach das für die Sozialdemokratie sicher nicht der Wahrheit.14 Wohl aber verfügte die Gruppe der Spartakisten 1918 über ein klares Skript. In diesem wurde die Gegenwart als revolutionäre Situation begriffen und entsprechende Zukunftsperspektiven und Handlungsnotwendigkeiten abgeleitet. Schon in ihrer berühmten Junius-­Schrift über die „Krise der Sozialdemokratie“ hatte Rosa Luxemburg 1915 den Weltkrieg als „Weltenwende“ begriffen. Das Tempo der historischen Entwicklung habe sich enorm beschleunigt und treibe auf eine Entscheidung von weltgeschichtlicher Bedeutung zu: Entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof. Oder Sieg des Sozialismus, d. h. der bewußten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg.15

Diese revolutionäre Gegenwartsdeutung, an einem welthistorischen Wendepunkt zu stehen, an dem eine historische Epoche zu Ende geht und durch politische Entscheidungen das Schicksal kommender Generationen bestimmt werden kann, wurde im Programm des Spartakusbundes in ein Handlungskonzept umgesetzt. Unter dem Titel „Was will der Spartakusbund?“ veröffentlichte die Rote Fahne am 14. Dezember 1918 fünfzehn Sofortmaßnahmen auf politischem und sozialem Gebiet und acht „nächste wirtschaftliche Forderungen“, um die „sozialistische Gesellschaftsordnung“ zu verwirklichen und damit „die gewaltigste Aufgabe, die je einer Klasse und einer Revolution in der Weltgeschichte zugefallen ist“, zu erfüllen.16 Kernforderungen waren die vollständige Entfernung von Vertretern des alten Systems aus staatlichen Machtpositionen, die Übernahme der Macht durch die Arbeiter- und Soldatenräte, die sich seit dem November überall im Reich gebildet hatten, sowie die umfassende Sozialisierung der Wirtschaft. Das Programm suggerierte, dass diese Maßnahmen im Hier und Jetzt möglich und nötig seien, um den weltgeschichtlichen Moment nicht zu verpassen. Allerdings war es rein deklamatorischer Natur, weil die Spartakisten zu diesem Zeitpunkt in den Räten so marginal waren, dass sie das Programm nicht in Handlungen umsetzen konnten. Zudem blieb es durchaus ambivalent in Bezug auf die Frage, wie die Übernahme der Regierungsgewalt gelingen und in welchen Zeiträumen sie erfolgen sollte. So hieß es weiter: 13 Engel/Huch/Materna (Hrsg.): Groß-­Berliner Arbeiter- und Soldatenräte in der Revolution 1918/19, S. 17 f. 14 Ebd., S. 16. 15 Rosa Luxemburg (Junius): Die Krise der Sozialdemokratie. Anhang: Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie; eine Gefängnisarbeit. Berlin 1916, 13 f. 16 Spartakusbund: Was will der Spartakusbund?, in: Die Rote Fahne vom 14. Dezember 1918.

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Die proletarische Revolution kann sich nur stufenweise, Schritt für Schritt, auf dem Golgathaweg eigener bitterer Erfahrungen, durch Niederlagen und Siege, zur vollen Klarheit und Reife durchringen. Der Sieg des Spartakusbundes steht nicht am Anfang, sondern am Ende der Revolution.17

Für die Spartakisten und die radikalen Teile der Rätebewegung hatte die Revolution im Dezember 1918 also gerade erst begonnen, und man hatte noch einen weiten revolutionären Weg vor sich. Erst nach dessen Ende wurden die sozialistische Gesellschaft und eine neue Stufe der Weltgeschichte erwartet. Ganz anders war demgegenüber die Temporalisierung der Revolution bei den Vertretern der Mehrheitssozialdemokratie, in deren Reden und Verlautbarungen sie schon in der Vergangenheit lag. Die Revolution war für sie ausgehend vom Kieler Matrosenaufstand mit der Ausrufung der Republik am 9. November und der Einsetzung des Rats der Volksbeauftragten gemacht worden. Schon ab dem 10. November trafen also zwei verschiedene revolutionäre Skripte aufeinander, die grundsätzlich verschiedene Zukunftsperspektiven enthielten. Dabei bezogen sich die Differenzen weniger auf den anzustrebenden Zustand nach der Revolution als auf die Revolution selbst, deren Geschwindigkeit und Dauer. In Karl Dietrich Erdmanns lange Zeit einflussreicher Deutung der Revolution bestand im November 1918 die Alternative zwischen einer kommunistischen Rätediktatur und dem Bündnis der Mehrheitssozialdemokratie mit den alten Eliten, um die Räteherrschaft zu verhindern.18 Die Forschungen zur Rätebewegung haben aber gezeigt, dass die Räte insgesamt viel gemäßigter waren, als Erdmann angenommen hatte. Sie wurden nicht nur überwiegend von den Mehrheitssozialdemokraten dominiert, sondern ließen in vielen Städten sogar die Beteiligung von Bürgern zu. In Bonn entstand etwa ein Arbeiter-, Bürgerund Soldatenrat, in Leverkusen war der Industrielle Carl Duisberg beratendes Mitglied im Arbeiter- und Soldatenrat, und „an der Spitze des Greifswalder Arbeiter- und Soldatenrates standen der ehemalige kaiserliche Polizeidirektor und der Bataillonskommandeur.“ 19 Nachdem der Rat der Volksbeauftragten sich bereits auf die Wahl zur Nationalversammlung festgelegt hatte, wurden die Vertreter der Räte für den 16. Dezember nach Berlin geladen, um diese Entscheidung zu bestätigen und die Möglichkeiten einer Sozialisierung der Wirtschaft zu diskutieren. Schon aus dem Einladungsschreiben sprach die mehrheitssozialdemokratische Temporalisierung der Revolution. Es endet mit den Worten: „Ihr habt die Revolution gemacht, laßt uns auch gemeinsam ihre Früchte ernten.“ 20 Auch der Kongress 17 Ebd. 18 Karl Dietrich Erdmann: Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft, in: VfZ 3 (1955), S. 1 – 9. 19 Hans-­Joachim Bieber: Bürgertum in der Revolution. Bürgerräte und Bürgerstreiks in Deutschland 1918 – 1920. Hamburg 1992, S. 52. 20 Zentralrat der Sozialistischen Republik Deutschlands (Hrsg.): Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands. Vom 16. bis 21. Dezember 1918 im Abgeordnetenhause zu Berlin. Stenographische Berichte, Bd. IV. Berlin 1919, S. 53.

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der Arbeiter- und Soldatenräte, der vom 16. bis 21. Dezember 1918 im Berliner Abgeordnetenhaus tagte, folgte mit großer Mehrheit nicht dem revolutionären Skript, das eine Woche zuvor in der Roten Fahne veröffentlicht worden war. Fast zwei Drittel der knapp 500 von den Delegierten gehörten der Mehrheitssozialdemokratie an, während die USPD weniger als 100 Delegierte stellte und nicht einmal ein Dutzend Spartakisten vertreten waren. Zu diesen gehörten bekanntlich weder Karl Liebknecht noch Rosa Luxemburg, weil nur wählbar war, wer in einem Betrieb beschäftigt war oder der Armee angehörte.21 In ihren Eröffnungsreden gebrauchten sowohl Friedrich Ebert als auch Richard Müller das Bild von den Früchten der Revolution. Sie meinten damit aber sehr verschiedene Dinge. Als Anhänger des Rätemodells erklärte Müller, es gehe darum, die „Früchte der Revolution zu sichern“, und das hieß für ihn, die Herrschaft der Arbeiter- und Soldatenräte zu stabilisieren und möglichst rasch Sozialisierungen der Wirtschaft durchzuführen.22 Dies werde durch den kooperativen Kurs der Volksbeauftragten und die Wahlen zur Nationalversammlung gefährdet. Dem folgte nur eine Minderheit des Kongresses wie der Chemnitzer Spartakist Fritz Heckert, der argumentierte, wenn sich der Rätekongress nicht selbst zur „obersten gesetzgebenden und ausübenden Gewalt“ erkläre, werde es „in allerkürzester Zeit“ zur Konterrevolution kommen. Die revolutionäre Situation schaffe gegenwärtig Handlungsmöglichkeiten, die so nicht wiederkehren würden. Wenn man den Moment verstreichen lasse, werde bald wieder der Ruf ertönen: „Kehre wieder über die Berge, Mutter der Freiheit, Revolution“.23 Für Friedrich Ebert und mit ihm für die Mehrheit der Delegierten war demgegenüber schon „in den ersten Novembertagen zertrümmert [worden], was im Laufe der Zeit morsch geworden war, [und der] deutsche Volksstaat vollkräftig ins Leben gesetzt“ worden. Nun dürfe man „die Früchte der Revolution“ nicht durch „Uneinigkeit, Zersplitterung, Eigensinn, Eigendünkel und Eigenmächtigkeiten“ gefährden.24 Neben der Grundfrage, ob der Weg zum Sozialismus über die Mehrheit in der Nationalversammlung oder die Stabilisierung der Räteherrschaft führen würde, kreisten die Konflikte auf dem Rätekongress vor allem darum, mit welcher Geschwindigkeit wirtschaftliche Veränderungen realisiert werden könnten. Das Tempo der Revolution beziehungsweise der wirtschaftlichen Veränderungen galt in zweierlei Hinsicht als Gefahr für die Revolution selbst. Erfolgte die Sozialisierung nicht schnell genug, argumentierten die Spartakisten und der linke Flügel der USPD, würden sich die Arbeiter abwenden und die Konterrevolution siegen. Demgegenüber warnten die Mehrheitssozialdemokraten, eine zu schnelle Sozialisierung würde die wirtschaftliche Erholung, den Wiederaufbau und die Versorgung der Bevölkerung und damit letztlich die Revolution selbst gefährden. Im Hintergrund dieser Debatte standen fundamentale Überzeugungen über historische Entwicklungsgesetze und

21 Ebd. 22 Ebd., S. 13 – 20. 23 Ebd., S. 102 f. 24 Ebd., S. 3 f.

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die Geschichtsmächtigkeit historischer Subjekte. So erinnerte etwa der Delegierte P. Knaus aus Offenbach an die Prinzipien der materialistischen Geschichtsauffassung: Revolution kann man nicht machen, sie muss reif sein und aus den wirtschaftlichen Verhältnissen kommen. […] Für uns, die wir heute leben, kann es nur eine Übergangszeit zu einem wirtschaftlichen, wahren Sozialismus geben. Wir alle sind berufen mitzuarbeiten, damit der kommenden Generation der wahre Sozialismus beschieden wird.25

Diese Zukunftsperspektive war kaum dazu geeignet, unmittelbare Begeisterung und Enthusiasmus auszulösen, gestand der Volksbeauftragte Wilhelm Dittmann von der USPD . Nachdem man jahrzehntelang auf eine „soziale Erlösung“ gehofft und diese auch für den Tag der politischen Revolution versprochen habe, sei nun die Enttäuschung groß. Denn wirtschaftliche Verbesserungen seien kaum möglich, weil „der vierjährige kapitalistisch-­ militaristische Totentanz alles verschlungen und vernichtet hat, was an materiellen und kulturellen Werten in jahrzehntelanger Fronarbeit vom Proletariat geschaffen worden war“.26 Vor dem Krieg, meinte Dittmann, sei die Sozialisierung ein verhältnismäßig leichtes Unterfangen gewesen, weil die ganze kapitalistische Wirtschaftsentwicklung darauf zugelaufen sei. Nun gehe es aber darum, die Versorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten und den wirtschaftlichen Aufbau nicht durch Eingriffe zu gefährden. Immer wieder verwiesen die Abgeordneten der Mehrheitssozialdemokraten und des rechten Flügels der USPD auf die Gesetze der historischen Entwicklung und die natürlichen Reifungsprozesse des Kapitalismus, an denen das Handeln ausgerichtet werden müsse. In seinem ausführlichen Referat zur Sozialisierung betonte auch Rudolf Hilferding, die Folgen des Krieges erschwerten die Sozialisierung, auch wenn die kapitalistische Konzentration grundsätzlich weitergegangen sei. Direkte Sozialisierungsmöglichkeiten bestünden gegenwärtig nur in wenigen Sektoren, wie dem Bergbau und der Kaliindustrie, und der Übergang zum Sozialismus werde folglich Zeit brauchen. Genauso wie die kapitalistische Wirtschaftsordnung lange Zeit noch Reste früherer Wirtschaftsordnungen in sich getragen habe, werde dies auch die sozialistische tun. Explizit wandte er sich gegen die „ganz verkehrte Vorstellung [,] daß das nun willkürlich beschleunigt werden kann. […] Es bedarf also der Zeit. Aber ich meine, das Proletariat kann auch diese Zeit gewähren.“ 27 Für den Unabhängigen Sozialdemokraten Emil Barth waren weder die von Hilferding gezeichnete Zukunftsperspektive noch dessen Ablehnung des Voluntarismus zufriedenstellend. Die Sozialisierung sei vielmehr „die Frage der Fragen der Gegenwart“, die darüber entscheide, ob die Arbeiter weiter bereit seien, Entbehrungen auf sich zu nehmen: „Da glaube ich, müssen wir der Arbeiterschaft die Sozialisierung bringen, nicht etwa in Monaten,

25 Ebd., S. 47. 26 Ebd., S. 43. 27 Ebd., S. 318 f.

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sondern in ganz kurzen Tagen.“ 28 Auch Ernst Däumig bemängelte, der Kongress zeichne sich durch einen „nüchternen, hausbackenen und philiströsen“ Geist aus und diskutiere in einer „unglaublichen Vertrauensseligkeit und Selbstbespiegelung, wie herrlich weit man es doch gebracht habe“, verkenne dabei aber die „ehernen Gesetze der Geschichte, wie gerade Revolutionen unerbittlich weiterschreiten“.29 Explizit diskutierten die Vertreter der Arbeiter- und Soldatenräte im Dezember unterschiedliche Geschwindigkeiten der Revolution und beriefen sich dabei jeweils auf Entwicklungsgesetze der Geschichte. Dass bei der entscheidenden Frage der Sozialisierung immer wieder die vage Metapher der „Reife“ gewählt wurde, zeigt, wie unklar die Vorstellungen von den Gesetzmäßigkeiten zukünftiger Entwicklungen letztlich waren. Selten wurden Reifungsgrade so konkret ausbuchstabiert, dass aus ihnen detaillierte revolutionäre Skripte hätten entwickelt werden können. Vielmehr wurden sie letztlich bloß aufgerufen und behauptet, dienten aber damit genauso wie ein Skript dazu, die Notwendigkeit des Handelns oder Nicht-­Handelns zu begründen. Diese evolutionären oder revolutionären Handlungskonzepte entwickelten sich nicht auseinander, sondern waren von Beginn an gegensätzlich. Zwar wurden die Fronten zwischen den verschiedenen Lagern innerhalb der Arbeiterbewegung durch den Einsatz von Gewalt und vor allem von konterrevolutionärer Gewalt immer unversöhnlicher.30 Die exzessive Gewalt, welche die Vertreter der Mehrheitssozialdemokratie gegen die Kommunisten und die räterepublikanischen Experimente in der zweiten Phase der Revolution im Frühjahr 1919 einsetzten, resultierte aber zumindest teilweise aus diesen verschiedenen Temporalisierungen der Revolution. Denn es war vor allem das Drehbuch, das die Russische Revolution anzubieten schien, Lenins Avantgardetheorie und die Diktatur des Proletariats, das als Schreckbild den Einsatz von Militär und Freikorps gegen die rhetorisch starken aber organisatorisch schwachen Kommunisten rechtfertigte.31 Die radikale Ablehnung des Bolschewismus reichte bis weit in die Unabhängigen Sozialdemokraten hinein, die die Demokratie für eine unabdingbare Voraussetzung des Sozialismus hielten. So meinte ihr Theoretiker, Karl Kautsky, die Diktatur des Proletariats, welche die Bolschewisten „predigen und üben“, sei „nichts als ein grandioser Versuch, naturgemäße Entwicklungsphasen zu überspringen und wegzudekretieren.“ 32 Wo es um die Umsetzung abstrakter Ziele in konkrete Handlungen ging, reichte der Konflikt über das richtige revolutionäre Skript bis in die KPD hinein. Auf ihrem Gründungsparteitag stritt die Partei über die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung und danach über den Sinn der Putsch-­Taktik. Rückblickend erklärte der Abgesandte der Bolschewiki, Karl Radek, im September 1919, die Konterrevolution habe in Deutschland 28 Ebd., S. 327 – 329. 29 Ebd., S. 227. 30 Mark Jones: Founding Weimar. Violence and the German Revolution of 1918 – 1919. Cambridge 2016. 31 Kai-­Uwe Merz: Das Schreckbild. Deutschland und der Bolschewismus 1917 bis 1921. Berlin 1995. 32 Karl Kautsky: Demokratie oder Diktatur. Berlin 1918, S. 53.

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gesiegt und eine Revolution im eigentlichen Wortsinne habe es, wenn überhaupt, nur bis zum Reichsrätekongress im Dezember 1918 gegeben. Eine revolutionäre Situation werde in naher Zukunft aufgrund der Entwicklung des Kapitalismus zwar wiederkommen, aber man könne sie eben auch nicht erzwingen, wie der Januaraufstand und die Märzunruhen in Berlin sowie die Münchener und Bremer Räterepubliken gezeigt hätten. Zur Verdeutlichung bemühte er wieder das Bild der Reife, wenn er das „Wesen des Putschismus“ als den Versuch begriff, „unreife Früchte“ zu pflücken: Die Revolution kann nicht schneller kommen, als sie kommen kann, und meines Wissens gibt es kein medizinisches Buch, das die Länge der Schwangerschaft der kapitalistischen Gesellschaft festsetzt. Kurz und gut, das Resultat der Eile kann nur eine gewerkschaftliche Mißgeburt sein.33

Das Gespenst des Bolschewismus, das ‚Dennoch des Glaubens‘ und die ‚völkische Erneuerung‘ Weitet man den Blick von den erklärtermaßen revolutionären Parteien der Arbeiterbewegung auf den Rest des politischen Spektrums und betrachtet auch die Katholiken, die Liberalen und die Konservativen, so vervielfältigt sich die Zahl der Revolutionsdrehbücher noch einmal. Eine zentrale Stellung nahm aber auch hier zunächst das Skript der Russischen Revolution und des Bolschewismus ein, allerdings als Schreckgespenst, das es unbedingt zu verhindern galt.34 Diese Funktion hatte es, wie bereits angedeutet, auch auf Seiten der gemäßigten Linken. Immer wieder warnten die Gegner einer schnellen Sozialisierung und einer Diktatur des Proletariats auf den Rätekongressen vor „russischen Zuständen“ oder sie verwiesen auf die grundsätzlich rückständigere russische Wirtschaftsstruktur, welche die Übertragung dortiger Konzepte auf Deutschland ausschlösse.35 Max Cohen etwa, der auf dem Rätekongress im Dezember 1918 den Antrag auf Einrichtung einer Nationalversammlung begründet hatte, erklärte, die Nachahmung des russischen Vorbildes würde Deutschland zugrunde richten.36 Gemäßigte Sozialdemokraten wiederholten die Warnung vor dem Bolschewismus in den Debatten über die Reform der Wirtschaft permanent, während Sozialisierungsbefürworter darin kaum mehr als eine rhetorische Strategie sahen. So bekannte ein entnervter 33 Arnold Struthahn/Karl Radek: Die Entwicklung der deutschen Revolution und die Aufgaben der kommunistischen Partei. Stuttgart-­Degerloch 1919, S. 37. 34 Gerd Koenen/Lew Kopelew (Hrsg.): Deutschland und die Russische Revolution. München 1998. 35 Miller: Die Bürde der Macht, S. 142 und 158; Peter Lösche: Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903 – 1920. Berlin 1967. 36 Max Cohen: Deutscher Neuaufbau und Arbeiterschaft, in: Die Neue Rundschau 30 (1919), H. 1, S. 656 – 671.

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bayerischer Ministerpräsident Kurt Eisner auf der Reichsrätekonferenz am 25. November 1918, „er sei ein Gegner der Bolschewiki, er sei aber ein noch größerer Gegner derer, die aus den Bolschewiki einen Popanz machten, um die Konterrevolution vorzubereiten“.37 Die strategische Funktion der Warnung vor dem Bolschewismus erschöpfte sich jedoch nicht in der Positionsbestimmung innerhalb der Arbeiterbewegung. Je konsequenter sie ausfiel, desto eher konnten die Mehrheitssozialdemokraten eine diskursive Brücke zum bürgerlichen Lager herstellen, wo beispielsweise Gustav Stresemann im November 1918 anerkennend bemerkte, Friedrich Ebert widersetze sich dem Radikalismus innerhalb der Arbeiterbewegung.38 Angesichts der realen Schwäche der Spartakisten bzw. Kommunisten, die zwar in einigen Städten stark waren, aber über keine reichsweite Organisationsstruktur verfügten, erscheint die Gefahr des Bolschewismus, die der Vorwärts und bürgerliche Zeitungen ausmalten, im Nachhinein grotesk übertrieben. Es ist kaum eindeutig zu bestimmen, inwieweit die Bolschewismusfurcht real war und inwieweit sie strategisch eingesetzt wurde.39 Aber als Gespenst geisterte die Russische Revolution in vielen Texten herum und entfaltete als Bedrohungswahrnehmung reale Wirkung. Die Ängste vor einer dauerhaft gewalttätigen, terroristischen Diktatur, vor umfassenden Enteignungen, der Abschaffung von Kultur und Religion und einem allgemeinen Sittenverfall waren entscheidend für die gewalttätige Niederschlagung räterepublikanischer Bestrebungen.40 Die antibolschewistische Rhetorik schreckte dabei oft auch vor Entmenschlichungen nicht zurück, wenn etwa der Jesuitenpater Friedrich Muckermann nach seiner Rückkehr aus russischer Gefangenschaft darüber zu berichten vorgab, welche Teufel in Menschengestalt nun über Rußland herrschen, welche Hölle sie entfesselt haben um die Unglücklichen, die dort leben müssen, welche grausigen Hoffnungen sie sich machen von der Zukunft Europas und der Welt.

Eine solche Revolution müsse in Deutschland mit allen Mitteln verhindert werden, meinte Muckermann, weil der Bolschewismus „eine Pest“ sei, „ein Unglück schlechthin, Ende aller Kultur, aller Religion, ein Ungeheuer, ein Höllenwerk wider Gottes Himmel.“ 41 Mit der religiös motivierten Ablehnung des Bolschewismus erschöpfte sich die Haltung der Katholiken zur Revolution allerdings nicht, sondern weite Teile waren schnell bereit, 37 Miller (Hrsg.): Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19, S. 178 – 180. 38 Gustav Stresemann: Der Umsturz [Berlin, den 12. November 1918], in: Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles. Berlin 1919, S. 40 – 46, hier S. 41. 39 Klaus Weinhauer/Anthony McElligott/Kirsten Heinsohn: Introduction. In Search of the German Revolution, in: Klaus Weinhauer/Anthony McElligott/Kirsten Heinsohn (Hrsg.): Germany 1916 – 23. A Revolution in Context. Bielefeld 2015, S. 7 – 36, hier S. 28. 40 Jones: Founding Weimar, S. 27 – 103. 41 Friedrich Muckermann: Wollt ihr das auch? Wie ich den Bolschewismus in Russland erlebte. Düsseldorf 1920.

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die politischen Veränderungen anzuerkennen, die sich seit November 1918 vollzogen.42 So führte Waldemar Otte für das Aktionskomitee des katholischen Klerus zu Breslau aus, die „neue Zeit“ sei nun einmal da und man müsse sich auf den Boden der neuen Tatsachen stellen und „dafür mitwirken, daß die nächsten Zukunftsaufgaben glücklich gelöst werden“.43 Nicht die Arbeiterbewegung, sondern der Krieg war für ihn der „große Revolutionär“ gewesen, der die wirtschaftliche Ordnung, mit dem Frauenwahlrecht aber auch die politische Ordnung verändert hatte. Die Veränderungen waren ihm zufolge also nicht gemacht worden, sondern hatten sich aus dem Krieg ergeben. Hinter sie konnte man nun nicht mehr zurück.44 Zwar lehnte der politische Katholizismus die revolutionäre Umgestaltung der politischen Verhältnisse grundsätzlich ab und schloss vor allem die Bestrebungen der Spartakisten allein schon wegen deren Religionsfeindschaft kategorisch aus. Zugleich bekannte sich das Zentrum aber doch zur Republik und wirkte in der Weimarer Koalition aktiv an ihrer Ausgestaltung mit. Programm, Wahlaufrufe und sonstige Publikationen des Zentrums wurden von evolutionären Zukunftsperspektiven beherrscht: In der „neuen Zeit“ sollten durch Dienst, Arbeit und Glauben schrittweise Verbesserungen erreicht werden.45 Damit ähnelten die Zukunftsperspektiven des Zentrums in der Revolution denen, die vom linken Flügel der Liberalen entwickelt wurden, der sich in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) formierte. So konstatierte Theodor Heuss am 17. Januar 1919 auf einer Wählerversammlung der DDP in Stuttgart, man befinde sich gegenwärtig in einer eigentümlichen Situation „zwischen Gestern und Morgen“: Das alte Deutschland liegt hinter uns – wir wollen es nicht schmähen. […] Aber heute sind die Bänder zerrissen und wir müssen aus uns den Mut zum Neuen herausstellen.46

Dass es keinen Weg zurück mehr gab, weil die Revolution die natürliche Entwicklung zerrissen hatte, hieß für ihn jedoch nicht, dass man beliebig Neues schaffen könne. Vielmehr gebe es Gesetze der historischen Entwicklung, die man zur Kenntnis nehmen müsse. Dies meinte auch Erich Dombrowski, der im Berliner Tageblatt ausführte, man könne nicht, wenn man zufällig im Winter in den Besitz eines Apfelbaumes gekommen ist, nun auch sogleich Äpfel herunternehmen wollen. Wie es solche Naturgesetze gibt, die wir Menschen nicht einfach durch bloßes Wollen oder Wünschen umstoßen können, so sind auch dem

42 Karl Riethmueller: Die Revolution im Licht des Evangeliums. Eßlingen 1919. 43 Josef Negwer/Waldemar Otte/Franz Xaver Seppelt (Hrsg.): Die deutschen Katholiken und die neue Zeit. Vortragsskizzen im Auftrage des Aktionskomitees des Katholischen Klerus zu Breslau. Breslau 1919, S. 7. 44 Ebd., S. 11; Maximilian Pfeiffer: Das Zentrum und die neue Zeit. Berlin 1918. 45 Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918 – 1933. München 2008, S. 148 – 156. 46 Theodor Heuss: Deutschlands Zukunft. Stuttgart 1919, S. 3.

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menschlich-­historischen Geschehen unsichtbare Gesetze immanent, die unverrückbar dastehen. Und eines dieser Gesetze heißt Evolution, die Entwicklung.47

Diese Gesetze erlaubten Heuss aber schon vorherzusagen, dass das neue Deutschland ein Bundesstaat bleiben und eine parlamentarische Demokratie werden werde. Zugleich werde es weder sozialistisch noch militaristisch noch konservativ sein. Gerade in Abgrenzung zum Konservatismus formulierte Heuss zu Beginn des Jahres 1919 seine grundsätzliche Zukunftsorientierung: Das Konservative kann eine große seelische Kraft bedeuten […] Aber heute taugt es nicht für die Forderung der Stunde. Denn es ist nichts da zum Erhalten. […] Die Konservativen haben uns über das neue Reich nichts zu sagen.48

Walther Rathenau, der sich als Organisator der Kriegsrohstoffbewirtschaftung einen Namen gemacht hatte, entwarf demgegenüber öffentlich wirksame Vorstellungen einer „neuen Wirtschaft“, eines „neuen Staates“ und einer „neuen Gesellschaft“.49 Er beobachtete eine nicht intentional gestaltete Tendenz zur wirtschaftlichen Konzentration und Sozialisierung, die unaufhaltsam weiterlaufen werde, auch wenn sich das gegenwärtig hohe Tempo verlangsame.50 Während auch die Linksliberalen gegen zu schnelle Veränderungen waren, machte das „rasende Tempo der Entwicklungen“ im November 1918 dem Nationalliberalen Gustav Stresemann noch größere Sorgen.51 Dem Deutschen Reich war seiner Ansicht nach mit der Revolution der „feste Untergrund“ abhandengekommen, auf dem man „sicher stehen und in die Zukunft sehen“ könne.52 Die daraus resultierende „Unsicherheit über die wirtschaftliche Zukunft lähm[e] jede Energie für die Übergangszeit“, so dass er meinte, man bewege sich „in eine dunkle Nacht, und kein Stern zeigt uns vorläufig eine freundlichere Zukunft.“ 53 Entscheidend an diesem Satz ist aber weniger die dunkle Nacht, als vielmehr die Vorläufigkeit der Wahrnehmung. Schon am 19. Dezember, als die Entscheidung für die Wahl zur Nationalversammlung gefallen war, zeichnete Stresemann auf einer Versammlung der Deutschen Volkspartei (DVP) in Osnabrück ein anderes Bild auch der unmittelbaren Zukunft. Zwar seien am 9. November alle „Hoffnungen und Erwartungen“ zerstört worden, aber man müsse trotzdem den „Blick in die Zukunft“ richten und am „Wiederaufbau 47 Erich Dombrowski: Am Jahresende, in: Berliner Tageblatt vom 31. Dezember 1918. 48 Heuss: Deutschlands Zukunft, S. 14. 49 Walter Rathenau: Die neue Wirtschaft. Berlin 1918; ders.: Der neue Staat. Berlin 1919; ders.: Die neue Gesellschaft. Berlin 1919. 50 Ebd., S. 11. 51 Stresemann: Der Umsturz, in: Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles, S. 40. 52 Gustav Stresemann: Die neuen Parteien [26. November 1918], in: Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles. Berlin 1919, S. 47 – 52, hier S. 50. 53 Ebd., S. 51.

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unseres Vaterlandes“ mitarbeiten.54 Dieser Wiederaufbau könne auf zweierlei Art geschehen. Entweder könne man versuchen, ein neues Deutschland auf völlig neuen Grundsätzen zu bauen, oder Lehren aus der Vergangenheit ziehen. Stresemann plädierte für den zweiten Weg, der nur langsame und graduelle Veränderungen bringen würde: Das neue Deutschland in neuer Größe werden wir vielleicht nicht mehr erleben, aber die kommenden Geschlechter werden es erleben. Sorgen wir, daß der Weg dahin führt, Deutschland wieder einmal stolz und mächtig zu machen. […] Wir haben jetzt zu säen für eine ferne Zukunft. […] Umbraust vom Haß der Welt wollen wir festhalten an dem, was uns von den alten Idealen des vergangenen Deutschlands geblieben ist, und es hinüberretten in eine neue Zeit. Wir wollen uns bekennen zum Glauben an Deutschlands neuen Aufstieg.55

Auch wenn die Zeitdimensionen lang waren, gab es also doch auch im Bürgertum ein Skript, wie die Zukunft nach der Revolution aktiv gestaltet und dabei zugleich Traditionen bewahrt werden könnten. Blickt man weiter nach rechts zu den protestantisch konservativen Kreisen in Preußen, die mit der Revolution ihren vorher privilegierten Zugang zur Macht verloren hatten, werden die Zukunftsaneignungen 1918/19 düsterer. Auch hier lohnt es sich jedoch, genauer hinzuschauen. Zunächst einmal bildete der religiöse Glaube eine Ressource, aus der auch während der eigentlich abgelehnten Revolution noch Zukunftshoffnungen abgeleitet werden konnten. So hieß es in der Kreuzzeitung, dem Organ des preußischen Konservatismus am 5. Januar 1919: Kein Lichtstrahl leuchtet uns in der Finsternis! Unsere Zukunft liegt immer dunkler vor uns! […] Aber es gibt ein Dennoch des Glaubens! Wir haben unser Volk dennoch lieb, wir glauben dennoch an seine Zukunft. Wir legen dennoch die Hände ans Werk, um auf den Trümmern des alten ein neues Haus zu bauen.56

Dieses trotzige Dennoch findet sich nicht nur in den Predigten protestantischer Geistlicher während der Revolution und der ersten Jahre der Republik, sondern auch in den konservativeren Kreisen des deutschen Katholizismus, wo es stets mit einem Ethos von Dienst und Arbeitspflicht verbunden wurde.57 Während sich das Zentrum allerdings auf den Boden von Demokratie und Parlamentarismus stellte, war das bei den Deutschnationalen nur in geringerem Maße der Fall. 54 Gustav Stresemann: Das alte und das neue Deutschland [Rede in Osnabrück auf Versammlung der DVP am 19. Dezember 1918], in: Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles. Berlin 1919, S. 67 – 89, hier S. 67 f. 55 Ebd., S. 89. 56 Dennoch, in: Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung vom 5. Januar 1919. 57 Peter Dörfer: 1919, in: Germania vom 1. Januar 1919; Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik, S. 115 – 119.

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Auch wenn sie in ihren Publikationen Trauer über den Verlust des Kaiserreichs ausdrückten, wollten selbst die Deutschnationalen nicht einfach zurück in die Vergangenheit. Dass sich im November 1918 niemand der Revolution ernsthaft entgegengestellt hatte, zeigte vielmehr auch für sie, dass „viel faul und morsch in den staatstragenden Kreisen“ gewesen war, wie der Berliner Historiker Eduard Meyer auf einer Versammlung der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) in Berlin-Lichterfelde im Februar 1919 formulierte.58 Nicht zuletzt aufgrund der unrühmlichen Flucht des Kaisers gab es – abgesehen von einer kleinen Minderheit – auch für die politische Rechte keinen Weg zurück.59 Auch sie musste in der Revolution ein neues Drehbuch für ihr politisches Handeln entwerfen, das durchaus selbst revolutionär werden konnte, ohne so genannt werden zu dürfen. In feiner begrifflicher Abgrenzung erläuterte etwa der Vorsitzende der DNVP, Oskar Hergt, im Juli 1919, man wolle zwar keine Gegenrevolution machen, wohl aber „eine Änderung in dem Regierungssystem herbeiführen“.60 Gegen die „volksfremden Gewalthaber“ sollten die Deutschnationalen das „Evangelium des Willens“ verkünden und ihre Weltanschauung, die aus der Vergangenheit stamme, aber in der Erfahrung der Revolution transformiert worden sei, in die Tat umsetzen. Die eigentliche Katastrophe lag für die Deutschnationalen oft noch in der Zukunft, wo sie durch einen neuen Nationalismus überwunden werden musste. Dazu sei eine starke Führungsperson nötig, die sich aber nicht aus den Hohenzollern rekrutieren musste. So schloss Hergt seine Ausführungen mit den Worten: Nicht bloß an Deutschlands Größe wollen wir glauben, wir wollen vertrauen, daß aus Schutt und Asche der Monarchie wieder ein neues, herrliches Monarchentum herauswächst.61

Wie die Regierungsbeteiligungen und ihre Arbeit im Reichstag bezeugen, gelang trotz dieses Erwartungsüberschusses zumindest zeitweise die Integration der Deutschnationalen in das politische System der Weimarer Republik.62 Jenseits der DNVP tummelte sich auf der politischen Rechten schon während der Revolution eine Reihe von Intellektuellen und politischen Gruppierungen, für die das Ende des Kaiserreichs den Möglichkeitsraum eröffnet hatte, schon vorher entworfene, radikale Visionen in die Tat umzusetzen. 1918 58 Eduard Meyer: Deutschlands Lage in der Gegenwart und unsere Aufgaben für die Zukunft. Vortrag gehalten in der Versammlung der deutsch-­nationalen Volkspartei in Berlin-­Lichterfelde am 27. Februar 1919. Berlin-­Lichterfelde 1919, S. 9. 59 Martin Kohlrausch: Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie. Berlin 2005, S. 346 – 361. 60 Oskar Hergt: Gegenwart und Zukunft der Deutschnationalen Volkspartei. Rede auf dem Parteitag der Deutschnationalen Volkspartei in Berlin am 12. und 13. Juli 1919 (Deutschnationale Flugschrift, Nr. 21). Berlin 1919, S. 4. 61 Ebd., S. 11. 62 Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag. Düsseldorf 2002; ders.: Das Scheitern des deutschen Tory-­Konservatismus. Die Umformung der DNVP zu einer rechtsradikalen Partei 1928 – 1932, in: HZ 277 (2003), H. 2, S. 323 – 368.

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verfielen zwar manche Rechtsintellektuelle aufgrund des Zusammenbruchs in Apathie und Orientierungslosigkeit, andere wie zum Beispiel Arthur Moeller van den Bruck, Wilhelm Stapel, Eduard Stadtler und Max Hildebert Boehm sahen die Revolution aber eher als Aufbruch in eine neue Zeit.63 Zum einen hatte sich schon im Kaiserreich eine radikale Rechte gebildet, die nicht mehr den Status Quo bewahren wollte, sondern deren Erwartungshorizont weit über die Grenzen des im Kaiserreich politisch Möglichen hinausreichte. So hatte der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß, in seinem Pamphlet „Wenn ich der Kaiser wär’“ schon 1912 unter dem Pseudonym Daniel Frymann konstatiert, der gegenwärtige Kaiser sei nicht der starke Führer, der Deutschlands Niedergang stoppen könne. Dazu seien grundlegende Veränderungen und die Durchsetzung eines expansionistischen, pangermanischen, militaristischen, völkisch-­nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Programms nötig.64 Zum anderen hatte die Kriegszieldiskussion während des Ersten Weltkriegs, vor allem nach der sogenannten Ideenwende 1916, utopische Züge angenommen, wenn auf der Rechten neben expansionistischen Visionen auch wirtschaftsund gesellschaftspolitische Umgestaltungen ventiliert worden waren.65 Diese Zukunftsvorstellungen konnten nun unter dem Eindruck der revolutionären Umgestaltung neu und offener artikuliert werden. Auf dem Deutschnationalen Handlungsgehilfentag im Oktober 1919 in Leipzig rief etwa der Verbandsvorsitzende Hans Bechly unter lebhafter Zustimmung: Sollen wir zurück zum Alten? Nein!! Die Geschichte eines Volkes kann sich nur vorwärts, aber niemals rückwärts bewegen.66

Zwar stimme gegenwärtig Vieles traurig, aber man könne sich trotzdem freuen „über das Gewaltige, das in dieser Zeit liegt“ und darüber, dass „das Satte, Müde, Geistig-­träge ausgetrieben wird, und es sich wieder lohnt, für große Gedanken, für einen Neuaufbau unseres Volkslebens zu kämpfen.“ 67 Die revolutionären Skripte der anderen und vor allem die „unendlich vielen Rezepte“ der Köche auf der politischen Linken, die „ihren Brei an der neuen Zeit gar machen wollen“, lehnte Bechly jedoch ab. Stattdessen entwarf er ein 63 Peter Fritzsche: Breakdown or Breakthrough? Conservatives and the November Revolution, in: Larry Eugene Jones (Hrsg.): Between reform, reaction, and resistance. Studies in the history of German conservatism from 1789 to 1945. Providence, Oxford 1993, S. 299 – 328, hier S. 301. 64 Heinrich Class: Wenn ich der Kaiser wär’. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten. Leipzig 1912. 65 Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg; ein Versuch. Berlin 2000; Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003. 66 Hans Bechly: Der nationale Gedanke nach der Revolution. Vortrag, gehalten am vierzehnten Deutschen Handlungsgehilfentag in Leipzig, vom 18. bis 20. Oktober 1919. Hamburg 1919, S. 31 f. 67 Ebd., S. 6.

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Skript, mit dem die Versäumnisse des Kaiserreichs, die Arbeiter zu integrieren und zu nationalisieren, nachgeholt werden sollten. Der „kapitalistische Nationalismus“, den der Kaiser zugelassen und gefördert habe, habe „dem nationalen Gedanken ungeheuer geschadet“ und die Schaffung einer „wahren Volksgemeinschaft“ verhindert.68 Durch eine neue Sozialpolitik und das Wecken der „völkischen und seelischen Gemütskräfte“ müssten die Arbeiter von ihren internationalistischen Verirrungen befreit werden und erkennen, dass es „widernatürlich [sei,] ein abstraktes Menschentum dem konkreten Volkstum überzuordnen.“ 69 Über die Ausbreitung des völkischen Gedankens sollte der Weg zum Volksstaat führen, in dem Juden selbstverständlich keinen Platz mehr haben würden.70 Während bei den Kommunisten und dem linken Flügel der USPD, aber auch bei der Mehrheitssozialdemokratie noch die Angst vor der Konterrevolution, also der Rückkehr zu vorrevolutionären Zuständen, handlungsleitend war, formierte sich in den völkischen Verbänden und wenig später mit der NSDAP eine neue Rechte mit einem eigenen revolutionären Skript, das nur zum Teil nach dem der Linken modelliert worden war. Auf der Linken war die Zukunft vor allem in Gestalt der Weltgeschichte präsent, die jetzt Handlungen erforderte oder vor der man sich einst zu rechtfertigen haben würde. Demgegenüber bezog man sich auf der Rechten stärker auf die kommenden Generationen, aus deren Ansprüchen Verpflichtungen für die Gegenwart abgeleitet wurden. So fragte Bechly seine deutschnationalen Handlungsgehilfen, nachdem sie am Morgen gemeinsam das Völkerschlachtdenkmal besucht hatten, ob man noch hoffen könne, dass „uns die Nachwelt auch einmal ein solches Denkmal baut“.71

Fazit Die Revolution von 1918/19 war unscripted, insofern es kein revolutionäres Drehbuch gab, dem diejenigen gefolgt wären, die im November 1918 die Macht weniger erkämpft hatten, als dass sie ihnen nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs zugefallen war. Nichtsdestoweniger existierten vielfältige Vorstellungen über den Verlauf der Revolution und die sich daran anschließende wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Ordnung, die den Lauf der Dinge beeinflussten. Vor allem die nur ein Jahr zurückliegende Russische Revolution diente den Kommunisten als Vorbild, im Rest des politischen Spektrums aber als abschreckendes Beispiel, dessen Wiederholung mit aller Gewalt verhindert werden müsse. Was folgt aber aus der Vielfalt der revolutionären Skripte für das Verständnis der Revolution von 1918/19? 68 Ebd., S. 27 f. 69 Ebd., S. 9. 70 Ähnlich auch Arthur Hoffmann-­Kutschke: Sonnenwende. Gedanken zum nationalen Wiederaufbau Deutschlands. Leipzig 1919. 71 Bechly: Der nationale Gedanke nach der Revolution, S. 7.

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Zunächst einmal legen sie eine gewisse Skepsis gegenüber etablierten historiographischen Großdeutungen nahe. Denn nicht nur Karl Dietrich Erdmanns Entweder-­oder-­ Deutung reproduziert eine politische Zukunftsaneignung der Zeitgenossen, nämlich die der Mehrheitssozialdemokratie und der bürgerlichen Kräfte, dass 1918/19 eine bolschewistische Revolution drohend bevorstand und durch den Einsatz des Militärs und der Freikorps abgewendet werden musste. Das Gleiche gilt auch für die Deutungen der Revolution als „verratene“, „gescheiterte“ oder „steckengebliebene“ Revolution.72 Es betrifft aber auch neuere Interpretationen als „gelungene“ oder gar als „größte aller Revolutionen“, die sich darauf stützen, dass das Frauenwahlrecht und mit der Verfassung ein großer Demokratisierungsschritt erreicht wurden.73 All diese Deutungen übernehmen ein bestimmtes revolutionäres Skript und bewerten die Ereignisse auf dessen Folie. Damit reproduzieren sie die politischen Konflikte der Zeit und stellen sich auf die eine oder andere Seite. Das mag aus jeweils aktuellen politischen Interessen gerechtfertigt sein, vernachlässigt aber die historische Vielfalt der revolutionären Skripte. Wenn wir diese in den Blick nehmen, erscheint die Revolution als ein kontingenter und offener Möglichkeitsraum, in dem viele Zukunftsvorstellungen scheiterten, während andere realisiert oder gar übertroffen wurden. Anders, als Baker und Edelstein formulieren, gab es aber tatsächlich kein bestimmtes Revolutionsvorbild, das die Protagonisten der politischen Veränderung 1918/19 nachzuahmen versuchten. Der Streit um das richtige Drehbuch der Revolution wurde weniger unter Rückbezug auf konkrete Handlungsvorbilder geführt als vielmehr in Bezug auf abstraktere Entwicklungsgesetze der Geschichte. Diese wurden zwar selten konkret ausformuliert, sondern meist metaphorisch mit Begriffen aus der Natur benannt, wie zum Beispiel denen der Reifung oder Fäulnis; aus ihnen wurden aber dennoch Handlungsnotwendigkeiten abgeleitet. Während Gesetzmäßigkeiten für die einen beschleunigende Eingriffe erforderten, hoben die anderen die Naturwüchsigkeit historischer Entwicklungen hervor, die nur begrenzt steuerbar seien. Bei allem Konflikt zwischen evolutionären und revolutionären Zukunftsperspektiven einte beide Seiten die Auffassung, historische Entwicklungsgesetze erkannt zu haben, sowie ein aus heutiger Perspektive frappierender Glaube, an einem Wendepunkt der Weltgeschichte zu stehen.74 Anders als Troeltsch im Juni 1919 formulierte, war Deutschland nicht erst im November 1918 zu einem Traumland geworden. Auf der Linken reichten die Träume einer radikalen Umgestaltung und Erneuerung siebzig Jahre zurück und auch auf der Rechten zumindest 72 Jürgen Mittag: Von der verratenen zur vergessenen Revolution. Einleitende Anmerkungen zum Kontext von Arbeiterbewegung und Ruhrgebiet in der Revolution 1918 bis 1920, in: Karl Christian Führer/Jürgen Mittag/Klaus Tenfelde (Hrsg.): Revolution und Arbeiterbewegung in Deutschland. 1918 – 1920. Essen 2013, S. 19 – 44; Andreas Wirsching: Die paradoxe Revolution 1918/19, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2008), H. 5051, S. 6 – 12. 73 Canning: Gender and the Imaginary of Revolution in Germany, in: Klaus Weinhauer/ Anthony McElligott/Kirsten Heinsohn (Hrsg.): Germany 1916 – 23. Bielefeld 2015, S. 103 – 126; Robert Gerwarth: Die größte aller Revolutionen. München 2018. 74 Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik, S. 135 – 139 und 201 – 204.

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bis ins letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Der Krieg schien nun aber gezeigt zu haben, dass radikale Veränderungen der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in kurzer Zeit möglich waren. Damit befeuerte er sowohl revolutionäre Hoffnungen als auch Ängste vor Chaos und Unordnung, deren Wechselspiel den Verlauf der Revolution beeinflusste und die Gründung der Republik ermöglichte. Im Streit um das Weitertreiben und die Geschwindigkeit der Revolution war die Angst vor dem Bolschewismus offenbar stärker und überzeugender als die Hoffnung auf den Sozialismus. Die Furcht vor Chaos und wirtschaftlichem Niedergang eröffnete dabei Verständigungsmöglichkeiten zwischen Mehrheitssozialdemokratie, Liberalen, Zentrum und Deutschnationalen. Das von Ernst Troeltsch sogenannte Traumland hörte aber auch mit dem Waffenstillstand nicht auf zu existieren. Die verschiedenen Skripte der Um- und Neugestaltung, die in der Revolution aufgeblüht waren, blieben vielmehr bestehen und spielten eine entscheidende Rolle bei der Bewertung der Gegenwart. Nachdem sie die Gründung der Republik ermöglicht hatten, belasteten sie deren weitere Entwicklung damit zugleich. Denn vor dem Hintergrund vieler revolutionärer Erwartungen wirkte die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität der Weimarer Republik immer wieder enttäuschend. Gerade das rechtsrevolutionäre Skript, das sich 1918/19 ausgebildet hatte, bedrohte die Republik in ihrer Existenz und wurde 1933 in seiner nationalsozialistischen Variante realisiert.

Die transatlantische Diskussion um die globale und soziale Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg Tim B. Müller

I. Die Geschichte der Demokratie ist in der Forschung komplexer und widersprüchlicher geworden. Sie lässt sich, wenn die empirischen Erkenntnisse und theoretischen Erwägungen der internationalen Diskussion reflektiert werden, kaum noch als lineare und nationale Fortschrittsgeschichte darstellen, sondern vielmehr als transnational verflochten, von vielfältigen historischen Wandlungen gekennzeichnet, gebrochen und uneinheitlich, im Modus des Stop-­and-­go.1 Was die Epoche der globalen Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg betrifft, hat sich, wie dieser Beitrag zu zeigen versucht, die historische Forschung dem Bild angenähert, das sich die Zeitgenossen von der Demokratie und ihrem Werden machten. Das gilt für die planetarische Perspektive, wenn etwa der weltweite „wilsonianische“ Moment der Demokratieverheißung oder das große demokratische Schauspiel der Wahlen in Russland, China oder der Weimarer Republik beschrieben werden.2 Aber es gilt auch für die zuvor als lange etabliert gedachten Demokratiegeschichten westlicher Nationen. Die Jahrhundertwende und insbesondere die Phase im und nach dem Ersten Weltkrieg treten in der jüngeren Debatte vielfach – vor dem Hintergrund von „Demokratisierungsepisoden“ im 19. Jahrhundert 3 – als transnationaler Durchbruchsmoment auf, in dem die Schwelle zur Demokratie als Regierungs- und Gesellschaftsform überschritten wurde.4 Die beinahe synchrone Einführung des allgemeinen Wahlrechts und vor allem

1 Vgl. etwa John Keane: The Life and Death of Democracy. London 2009; Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart. München 2012; ders.: Jenseits des Westens? Überlegungen zu einer Zeitgeschichte der Demokratie, in: VfZ 61 (2013), S. 275 – 301; Hedwig Richter/Hubertus Buchstein (Hrsg.): Idee und Praxis der Wahlen. Eine Geschichte der modernen Demokratie. Wiesbaden 2017; Pierre Rosanvallon: Democracy Past and Future. Hrsg. von Samuel Moyn. New York 2006. 2 Vgl. etwa, bei unterschiedlicher Akzentuierung, Erez Manela: The Wilsonian Moment. Self-­ Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism. Oxford 2007; Adam Tooze: The Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order. London 2014. 3 Daniel Ziblatt: How did Europe Democratize?, in: World Politics 58 (2006), S. 311 – 338, hier S. 314. 4 Vgl. etwa Joris Gijsenbergh u. a. (Hrsg.): Creative Crises of Democracy. Brüssel 2012; Joanna Innes/Mark Philp (Hrsg.): Re-­imagining Democracy in the Age of Revolutions. France, America, Britain, Ireland 1750 – 1850. Oxford 2013; Jussi Kurunmäki/Johan Strang (Hrsg.): Rhetorics of Nordic Democracy. Helsinki 2010; Tim B. Müller/Adam Tooze (Hrsg.): Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburg 2015.

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des Frauenwahlrechts in vielen Staaten innerhalb eines kurzen Zeitraums ist nur das sichtbarste Symptom dieses Demokratisierungsschubs.5 Es ist mittlerweile eher demokratiegeschichtliche communis opinio, was noch als historiographische Avantgarde betrachtet wurde, als Margaret Anderson im Jahr 2000 ihre große Studie über das Einüben der Demokratie durch Wahlen im Kaiserreich im Original vorlegte, wenn sie darin in vergleichender Perspektive auch die gegenüber den deutschen nicht minder gravierenden demokratischen „Defizite“ – aus der Sicht zeitgenössischer Hoffnungen und späterer Vorstellungen – Frankreichs, Großbritanniens und Amerikas aufzeigt und zu dem Schluss kommt, „dass das deutsche Kaiserreich – genau wie England, Amerika und Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg – keine volle Demokratie genoss“, zugleich jedoch die Demokratie den allgemeinen politischen Erwartungshorizont bildete: Weit davon entfernt anzunehmen, dass sie eine historische Anomalie bildeten, einen Ausnahmefall, maßen die Deutschen ihre eigene Legalität an den Entwicklungen außerhalb ihrer Grenzen […] Kein Zeitgenosse hätte das Kaiserreich als Demokratie beschrieben, aber die Menschen konnten einige seiner Verfahren und Haltungen als demokratisch bezeichnen – und taten es auch.6

Gleichzeitig untermauerte die politische Ideengeschichte der Demokratie diese Befunde. Der Erste Weltkrieg wurde jenseits der später entworfenen großen nationalen Erzählungen von alten und neuen Demokratien als das historische Ereignis analysiert, das eine entscheidende demokratiegeschichtliche Zäsur setzte, eine zuvor so noch nicht gekannte demokratische Dynamik auslöste. Das übergreifende normative Selbstverständnis von Frankreich, Großbritannien und Amerika während des Ersten Weltkrieges ordnete sich […] erst im Laufe des Krieges dem Rubrum Demokratie zu, und zwar sowohl begriffsgeschichtlich wie politisch,

erklärt die wegweisende Studie von Marcus Llanque. „Innerhalb eines Monats“, womit der Zeitraum von der russischen Märzrevolution (nach dem julianischen Kalender die Februarrevolution) über die britische Gesetzesvorlage zur Wahlrechtsreform nach dem Krieg bis zur amerikanischen Kriegserklärung am 6. April 1917 bezeichnet ist, änderten 5 Vgl. etwa Hedwig Richter: Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert. Hamburg 2017; Jad Adams: Women and the Vote. A World History. Oxford 2014; Gisela Bock: Das politische Denken des Suffragismus. Deutschland um 1900 im internationalen Vergleich, in: dies.: Geschlechtergeschichten der Neuzeit. Ideen, Politik, Praxis. Göttingen 2014, S. 168 – 203; Tim B. Müller: Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien. Hamburg 2014, S. 36 – 41. 6 Margaret Lavinia Anderson: Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich. Stuttgart 2009, S. 51 und 48 f.; zum aktuellen Forschungsstand vgl. etwa Richter: Moderne Wahlen.

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sich die politischen Koordinaten: „Bei allen institutionellen Unterschieden im einzelnen avancierte erst jetzt die Demokratie zum integrativen Leitbegriff des alliierten Bündnisses.“ Die Differenzierung der politischen Ordnungen erfolgte vor 1914 selten so trennscharf wie im Rückblick, nachdem die politisch-­ideologischen Frontverläufe neu gezogen waren. Vor dem Krieg war die „Demokratieskepsis“ unter intellektuellen und politischen Eliten gerade in Großbritannien weit verbreitet, auch nach dem Krieg wurde sie nicht auf einen Schlag abgelegt. Die britische politische Theorie etwa „verfügte selber über keinen klaren Begriff von Parlamentarismus“, die „Grenzen der Verallgemeinerbarkeit“ des englischen Beispiels standen für die Zeitgenossen fest. „Daher gab es auch kein westliches Vorbild der parlamentarischen Demokratie vor dem Krieg“, das man beispielsweise in Deutschland „einfach hätte adaptieren können“.7 Das gilt in vielen Fällen auch für das amerikanische System: Am Ende des Krieges erklärte etwa ein Demokrat wie der sozialdemokratische Theoretiker Heinrich Cunow, dass ihm „das Regierungssystem der schwedischen oder dänischen Monarchie weit lieber“ sei „als das der großen nordamerikanischen [oder] der französischen […] Republik.“ 8 Der künftige Weimarer „Verfassungsvater“ Hugo Preuß hatte bereits 1915 betont, dass es nicht nur den britischen parlamentarischen Pfad zur Demokratie gab: „die eigenartige Entwicklung Amerikas“ verwirklichte den demokratischen Gedanken auf anderem Wege. So ist auch für Deutschland die Möglichkeit, vielleicht die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass es von seinen besonderen historisch-­politischen Grundlagen aus eigenartige Wege der Entwicklung gehen mag.9

Die Eigenheiten der nationalen Entwicklungen bei universaler Familienähnlichkeit des sich Entwickelnden, „Nuancen im Bilde der nahverwandten Züge ihrer Familienähnlichkeit“,10 wurden nicht nur vom Zeitgenossen Preuß bereits beobachtet. „Es ist eine Hauptursache des unentwirrbaren europäischen Elends“, klagte er darum im letzten Kriegsjahr, „daß man alle die augenfälligen Verschiedenheiten der nationalen Individualitäten nicht als bloße Nuancen erkennt, hinter denen sich eine nahe Verwandtschaft, fast Gleichheit […] 7 Marcus Llanque: Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg. Berlin 2000, S. 104, 107, 112 f. und 127; zum aktuellen Forschungsstand vgl. etwa Tim B. Müller: Deutschlands „Anderssein“, der „Westen“ und die Demokratie. Hugo Preuß’ Weltkriegsschrift „Das deutsche Volk und die Politik“, in: Detlef Lehnert (Hrsg.): „Das deutsche Volk und die Politik“. Hugo Preuß und der Streit um „Sonderwege“. Berlin 2017, S. 41 – 82. 8 Wolfgang Mager: Art. Republik, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-­sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5. Stuttgart 2004, S. 549 – 651, hier S. 644. 9 Hugo Preuss: Das deutsche Volk und die Politik, in: ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Detlef Lehnert/Christoph Müller: Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, Bd 1. Hrsg. von Lothar Albertin. Tübingen 2007, S. 383 – 530, hier S. 520. 10 Preuss: Nationaler Gegensatz und internationale Gemeinschaft, in: ebd., S. 706 – 718, hier S. 716.

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verbirgt.“ Denn, so lautete ein Satz, der als Motto der neueren, normativ weniger überladenen Demokratiegeschichte dienen könnte: „Anderssein bedeutet an sich nicht besser oder schlechter sein.“ 11 Zu der Komplexität, mit der sich die Demokratiegeschichte auseinandersetzt, gehören darum auch Bereiche, die in älteren Darstellungen oft ignoriert oder zu ephemeren Erscheinungen in einer demokratischen Erfolgsgeschichte erklärt wurden – jene „Nachtseite, die in der offiziellen Legende der Nationalstaaten und nicht weniger in ihrer progressiven Kritik übergangen wird“.12 So waren Sklaverei, Rassismus, Segregation, rechtliche Ungleichheit und Gewalt eine untrennbare Seite der amerikanischen Demokratiegeschichte, deren Virulenz im 19. Jahrhundert nicht abnahm.13 Rassistische Gewalt, Exklusion und die Verweigerung von Grundrechten wurden auch nach dem Bürgerkrieg immer wieder auch ausgeweitet, selbst in der demokratischen Ära des „New Deal“.14 Dass Afroamerikaner, Frauen und ärmere Schichten lange von Politik ausgeschlossen blieben, war Laura F. Edwards zufolge für die amerikanische Demokratie konstitutiv: „White men were constituted as freemen through their rights over those without rights.“ 15 Auch der britische Weg zur Demokratie wies viele Unebenheiten auf. Im 19. Jahrhundert blieb der Widerstand von politischen Eliten gegen die Demokratisierung beträchtlich, und dass die Wahlrechtsreformen sukzessive die Einführung der Demokratie bewirkten, 11 Preuss: Offener Brief an Herrn William Harbutt Dawson, in: ebd., S. 697 – 706, hier S. 699 f. 12 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 3. Hrsg. von Rolf Tiedemann). Frankfurt a. M. 1997, S. 265. 13 Vgl. etwa Edmund S. Morgan: American Slavery, American Freedom. The Ordeal of Colonial Virginia. New York 2003; Don E. Fehrenbacher: The Slaveholding Republic. An Account of the United States Government’s Relations to Slavery. Hrsg. von Ward M. McAfee. Oxford 2001. 14 Vgl. etwa Ira Katznelson: Fear Itself. The New Deal and the Origins of Our Time. New York 2013, S. 29 – 57, 96 – 129 und 227 – 275; Jason Scott Smith: Building New Deal Liberalism. The Political Economy of Public Works, 1933 – 1936. Cambridge 2006; Ta-­Nehisi Coates: We Were Eight Years in Power. An American Tragedy. New York 2017, S. 184, 186 – 191 und 207 f.; Armanda L. Tyler: Habeas Corpus in Wartime. From the Tower of London to Guantanamo Bay. Oxford 2017. 15 Laura F. Edwards: The Contradictions of Democracy in American Institutions and Practices, in: Innes/Philp: Re-­imagining Democracy, S. 40 – 54, hier S. 54; vgl. etwa Lacy F. Ford: Deliver Us from Evil. The Slavery Question in the Old South. New York 2009; Barbara Young Welke: Law and the Borders of Belonging in the Long Nineteenth-­Century United States. Cambridge 2010; Glenn C. Altschuler/Stuart M. Blumin: Rude Republic. Americans and Their Politics in the Nineteenth Century. Princeton 2000; zum Wahlrecht: Alexander Keyssar: The Right to Vote. The Contested History of Democracy in the United States. New York 2009; Richter: Moderne Wahlen, S. 71 – 94 und 418 – 444; zu Bürgerkrieg, demokratischen Ideen und Partizipation auf beiden Seiten: James M. McPherson: For Cause and Comrades. Why Men Fought in the Civil War. Oxford 1997; ders.: Battle Cry of Freedom. The Civil War Era. Oxford 2003.

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entsprach weniger den Absichten ihrer Initiatoren, sondern wird eher als „unintended consequences“ gedeutet.16 Fragen ergeben sich auch aus der Gewaltgeschichte der britischen Kolonialherrschaft für die Demokratiegeschichte.17 Der demokratische Durchbruch nach dem Ersten Weltkrieg bedeutete nicht, dass Anfechtungen der Demokratie in Großbritannien ausblieben.18 „Whatever the reason for the failure of fascism to grow into a major movement in interwar Britain, the explanation does not primarily lie in British political culture“, betont etwa Martin Pugh; „timing and contingencies“ kommen in diesem Erklärungsansatz entscheidende Bedeutung zu, auch dem Sicherheitsventil der Monarchie.19 Selbst einem moderaten Politiker wie dem mehrfachen Premierminister Stanley Baldwin fiel der Weg zur Demokratie schwer: Er maß demokratische Reife an konservativen Wahlerfolgen und erklärte noch 1937, die Massen seien für das Wahlrecht nicht ausreichend gebildet.20 Und auf der britischen Rechten waren faschistische und antidemokratische Neigungen verbreitet.21 Das Bild der Demokratie um 1918/19 ist in der Forschung, wie diese wenigen Beispiele hier nur andeuten können, facettenreicher, aber auch widersprüchlicher und unübersichtlicher geworden. Das gilt auch für die französische Demokratiegeschichte, und entsprechend denken Demokratietheoretiker wie Pierre Rosanvallon und Marcel Gauchet die moderne Demokratiegeschichte in Spannungsverhältnissen, geprägt von Konflikten zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten, Individualisierung und

16 Robert Saunders: Democracy and the Vote in British Politics, 1848 – 1867. The Making of the Second Reform Act. Farnham 2011, S. 9 – 13, 26 und 278; vgl. etwa ders.: Democracy, in: David Craig/James Thompson (Hrsg.): Languages of Politics in Nineteenth-­Century Britain. Basingstoke 2013, S. 142 – 167; Innes/Philp: Re-­imagining Democracy; Michael Bentley: Politics Without Democracy, 1815 – 1914. Perception and Preoccupation in British Government. London 1996; Bernard Crick: Democracy. A Very Short Introduction. Oxford 2002, S. 73. 17 Vgl. etwa Jennifer Pitts: A Turn to Empire. The Rise of Imperial Liberalism in Britain and France. Princeton 2005; Caroline Elkins: Imperial Reckoning. The Untold Story of Britain’s Gulag in Kenya. New York 2005. 18 Vgl. als Überblick Helen McCarthy: Whose Democracy? Histories of British Political Culture between the Wars, in: Historical Journal 55 (2012), S. 221 – 238; dies.: Parties, Voluntary Associations and Democratic Politics in Interwar Britain, in: Historical Journal 50 (2007), S. 891 – 912. 19 Martin Pugh: „Hurrah for the Blackshirts!“ Fascists and Fascism in Britain Between the Wars. London 2006, S. 315 f. und 241. 20 Vgl. Philip Williamson: Stanley Baldwin. Conservative Leadership and National Values. Cambridge 1999, S. 143, 145 und 203 – 242. 21 Vgl. etwa Pugh: „Hurrah for the Blackshirts!“; Richard Griffiths: Fellow Travellers of the Right. British Enthusiasts for Nazi Germany 1933 – 1939. London 1980; ders.: Patriotism Perverted. Captain Ramsay, the Right Club and British Anti-­Semitism, 1939 – 40. London 1998; Dan Stone: Breeding Superman. Nietzsche, Race and Eugenics in Edwardian and Interwar Britain. Liverpool 2002; ders.: Responses to Nazism in Britain 1933 – 1939. Before War and Holocaust. Basingstoke 2003; Bernhard Dietz: Neo-­Tories. Britische Konservative im Aufstand gegen Demokratie und politische Moderne (1929 – 1939). München 2012.

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kollektivem Handeln, Partizipation und Rechtsstaatlichkeit, Gegebenem und Gewolltem.22 In den dynamischen Konstellationen von Erfüllungsgeschichten, Suchbewegungen und Krisengeschichten erfasst Paul Nolte die globalen Transformationen der Demokratie.23 Bei allen auffälligen nationalen Unterschieden im Einzelnen haben in den vergangenen drei Jahrzehnten maßstabsetzende Forschungen einen transatlantischen Gesprächsraum rekonstruiert, in dem vor dem Ersten Weltkrieg keine fundamentalen politischen oder zivilisatorischen Differenzen, sondern wechselseitige Verflechtungen thematisiert wurden. Auch die intellektuellen Eliten der Vereinigten Staaten vertraten nicht nur Vorstellungen eines amerikanischen demokratischen Exzeptionalismus,24 viel häufiger verstanden sie sich vielmehr als Teil eines etwa Großbritannien und das deutsche Kaiserreich einschließenden transnationalen Reform- und Demokratisierungsdiskurses, in dem alle Seiten voneinander lernten, sich aufeinander bezogen und mit den Herausforderungen von Demokratisierung und Rechtsstaat, Paternalismus und Selbstbestimmung, Sozialpolitik und Wirtschaftswachstum befasst waren.25 Zwei bedeutende Stimmen der transatlantischen Demokratiedebatte, die kurz nach der Errichtung der Pariser Friedensordnung am Ende des Ersten Weltkrieges prominent als Beobachter, Deuter und Fürsprecher der neuen internationalen Ordnung der Demokratie hervortraten,26 sollen im Folgenden ausführlicher zu Wort kommen: der 22 Vgl. Rosanvallon: Democracy; ders.: Für eine Begriffs- und Problemgeschichte des Politischen, in: Mittelweg 36 20/6 (2011), S. 43 – 66; ders.: Le Peuple introuvable. Histoire de la représentation démocratique en France. Paris 1998; ders.: La Démocratie inachevée. Histoire de la souveraineté du peuple en France. Paris 2000; ders.: Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe. Hamburg 2010; Marcel Gauchet: L’Avènement de la démocratie, 4 Bde. Paris 2007 – 2017; ders.: Democracy. From One Crisis to Another, in: Social Imaginaries 1 (2015), S. 163 – 187. 23 Nolte: Was ist Demokratie?, S. 16 – 20. 24 John Dewey etwa gehörte nicht zu denen unter den progressiven amerikanischen Intellektuellen, die sich auch von der deutschen Sozialreform inspirieren ließen. Zu Dewey und der amerikanischen Diskussion um die Erziehung zur Demokratie vgl. Robert B. Westbrook: John Dewey and American Democracy. Ithaca 1991; zu Deweys Konstruktion eines charakterlichen und ideologischen Gegensatzes von Deutschen und westlichen Nationen im Krieg etwa Alan Cywar: John Dewey in World War I. Patriotism and International Progressivism, in: American Quarterly 21 (1969), S. 578 – 594; James Campbell: Dewey and German Philosophy in Wartime, in: Transactions of the Charles S. Peirce Society 40 (2004), S. 1 – 20. 25 Vgl. etwa Howard Brick: Transcending Capitalism. Visions of a New Society in Modern American Thought. Ithaca 2006; Nancy Cohen: The Reconstruction of American Liberalism 1865 – 1914. Chapel Hill 2002; Daniel R. Ernst: Tocqueville’s Nightmare. The Administrative State Emerges in America 1900 – 1940. Oxford 2014; James T. Kloppenberg: Uncertain Victory. Social Democracy and Progressivism in European and American Thought 1870 – 1920. Oxford 1988; Daniel T. Rodgers: Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age. Cambridge 1998. 26 Vgl. zum Stand der Weltkriegsforschung Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges. München 2014; zur Ordnung der Pariser Vorortverträge, zur internationalen Politik nach 1919 und zu Potentialen der Kooperation und Stabilität Patrick O.

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britische Verfassungsrechtler und liberale Politiker James Bryce, flankiert von amerikanischen Diskussionsteilnehmern wie Carl Lotus Becker und John Lewis Gillin sowie Bryce’ deutscher Leser Ernst Troeltsch, einer der führenden Intellektuellen und liberaler Politiker im Übergang vom Kaiserreich zur Republik, ergänzt um einige Beispiele aus demokratischen Gesprächszusammenhängen in Deutschland. Was dabei sichtbar wird, sind typische Demokratievorstellungen jener von globalen Transformationen geprägten Zeit.

II. Der liberale Gelehrte, Diplomat und Politiker James Bryce war der vielleicht bedeutendste Verfassungstheoretiker seiner Tage in Großbritannien. Wie viele Protagonisten britischer intellektueller und wissenschaftlicher Kreise pflegte er vor dem Krieg ein Verhältnis der Sympathie gegenüber Deutschland, vor allem gegenüber seiner akademischen Welt. Aber auch politisch gemeindete er die „Teutonic freedom“ ins liberale Lager ein und sprach von den Vereinigten Staaten, dem britischen Empire und dem deutschen Kaiserreich als „‚natural‘ friends“. Im Krieg, in dem er sich auch im ideologischen Kampf gegen das Kaiserreich engagierte, trübte sich sein Deutschlandbild ein, ohne dass Bryce jedoch völlig seine Zuneigung zur deutschen Kultur verlor.27 Als 1921 sein epochales Monumentalwerk Modern Democracies erschien, war Bryce aber noch skeptisch, ob er die deutsche Republik bereits als etablierte Demokratie betrachten konnte.28 Bryce stellte zunächst die Begriffsausweitung fest: The term Democracy has in recent years been loosely used to denote sometimes a state of society, sometimes a state of mind, sometimes a quality of manners,

Cohrs: The Unfinished Peace after World War I. America, Britain and the Stabilisation of Europe, 1919 – 1932. Cambridge 2008; Conan Fischer: A Vision of Europe. Franco-­German Relations during the Great Depression, 1929 – 1932. Oxford 2017; Ewald Frie: 100 Jahre 1918/19. Offene Zukünfte, in: Zeithistorische Forschungen 15 (2018), S. 98 – 114; Margaret MacMillan: Peacemakers. The Paris Conference of 1919 and Its Attempt to End War. London 2002; Zara Steiner: The Lights that Failed. European International History 1919 – 1933. Oxford 2007; dies.: The Triumph of the Dark. European International History 1933 – 1939. Oxford 2013; Tooze: Deluge. 27 Vgl. Keith G. Robbins: Lord Bryce and the First World War, in: Historical Journal 10 (1967), S. 255 – 278, hier S. 255 f.; Llanque: Demokratisches Denken, S. 109 – 113; Stuart Wallace: War and the Image of Germany. British Academics, 1914 – 1918. Edinburgh 1988; John T. Seaman: A Citizen of the World: The Life of James Bryce. London 2006. 28 James Bryce: Modern Democracies, 2 Bde. New York 1921, hier Bd. 1, S. 21 und 22 f.

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er habe auch „acquired attractive associations of a social and indeed almost of a moral character“.29 Doch um seinen gewaltigen Forschungsgegenstand handhaben zu können, schränkte er die Länderstudien, die den Großteil des Werks ausmachen, auf das „study of institutions“ ein; auf den Hinweis, dass sich der Begriff nicht mehr kontrollieren und eingrenzen lasse, folgte eine Arbeitsdefinition des Phänomens Demokratie für seine Zwecke: Democracy really means nothing more or less than the rule of the whole people expressing their sovereign will by their votes. It shows different features in different countries […]. But it also shows some features which are everywhere similar.30

Die ausschließlich westlichen Demokratien, die er untersuchte, mussten ihren eigenen Maßstäben noch nicht völlig gerecht werden: Beim Wahlrecht genügten Bryce 75 Prozent der Bevölkerung als Orientierungsgröße, sofern eine demokratische Tendenz in den Entscheidungsprozessen sichtbar wurde: But though we cannot define either Oligarchy or Democracy, we can usually know either the one or the other when we see it. Where the will of the people prevails in all important matters, even if it has some retarding influences to overcome, […] that may be called a Democracy.31

Die großen Linien seiner Demokratiedeutung überschritten jedoch den westlichen Horizont und die begrifflichen Einschränkungen, die er sich in seinen Fallstudien auferlegte. Zutage traten in den allgemeinen Rahmensetzungen Grundbausteine einer globalen politischen Rhetorik der Demokratie. Temporale Mehrschichtigkeit 32 – plötzlicher Durchbruch in der Gegenwart; lange, uneinheitliche Vorgeschichte; Demokratie als Zukunftshorizont – und geographische Entgrenzung charakterisierten Bryce’ demokratiegeschichtliches Panorama. Die Demokratie war zum globalen Phänomen geworden, die Geschichte der Demokratie würde in Zukunft nicht nur im euro-­amerikanisch-­pazifischen Westen geschrieben. Bryce beobachtete „the experiment of popular government in India, in China, in Russia, in Egypt, in Persia, in the Philippine Islands. If any of the bold plans […] are attempted in practice they will apply new tests to democratic principles and inevitably modify their working.“ 33 Ein politischer Erwartungshorizont jenseits der Demokratie oder von der demokratischen Welle unberührte Regionen schienen nicht mehr zu existieren:

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Ebd., S. vii f. (Vorwort) und 23. Ebd., S. viii (Vorwort). Ebd., S. 21 f. Zur temporalen Mehrschichtigkeit des Demokratiebegriffs vgl. Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989, S. 107 – 129, hier S. 117 f. und 125 f. 33 Bryce: Modern Democracies, Bd. 1, S. x (Vorwort).

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We see backward populations, to which the very conception of political freedom had been unknown, summoned to attempt the tremendous task of creating self-­governing institutions. China, India, and Russia contain, taken together, one half or more of the population of the globe, so the problem of providing free government for them is the largest problem statesmanship has ever had to solve.34

Doch durfte man sich dieser Deutung zufolge die westliche Geschichte nicht als lineare Erfolgsgeschichte einer seit dem Zeitalter der Revolutionen entstandenen Demokratie vorstellen, in die sich nun der Rest der Welt einschrieb. Eine ungebrochene Kontinuität demokratischer Traditionen gab es nicht, mit der Ausnahme eines lokal sehr begrenzten Sonderfalls: A century ago there was in the Old World only one tiny spot in which the working of democracy could be studied. A few of the ancient rural cantons of Switzerland

waren für Bryce die demokratische Avantgarde. In den großen Nationen stellte er hingegen Brüche in der politischen Entwicklung fest: „Nowhere else in Europe did the people rule“. Großbritannien war „still oligarchic“, Frankreich hatte neben der Restauration „years of revolution, in which democracy had no chance of approving its quality“, durchlebt, selbst die Vereinigten Staaten hatten zu Zeiten Tocquevilles, dem sie ihre berühmteste Darstellung als Demokratie verdankten, „scarcely begun to show some of their most characteristic features“. Vom historischen Augenblick nach dem Ersten Weltkrieg aus fiel, ungeachtet aller auf die Demokratie zulaufenden Trends, der fundamentale Wandel auf: Within the hundred years that now lie behind us what changes have passed upon the world! Nearly all the monarchies of the Old World have been turned into democracies.

Auch der amerikanische Kontinent und das britische Empire durchliefen diese Transformation: „While twenty new republics have sprung up in the Western hemisphere, five new democracies have been developed out of colonies within the British dominions.“ 35 Aber fraglos gab es in der angelsächsischen Welt für Bryce demokratische Traditionen, die sich immer mehr verdichtet hatten. In Großbritannien standen die Wahlreformgesetze für den graduellen Wandel, einen „process by which it passed from an oligarchy to a democracy“, eine Schwelle, die offenbar mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer 1918 überschritten war.36 Was Bryce vor dem Hintergrund uneinheitlicher Vorgeschichten als historische Zäsur darstellte, als den Punkt, an dem eine seit längerem andauernde, aber alles andere als lineare 34 Ebd., S. 5. 35 Ebd., S. 3 f. 36 Ebd., S. 7.

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Entwicklung umschlug in eine neue Qualität der politischen Ordnungsvorstellungen, führte zur globalen Synchronisierung der individuellen Entwicklungen in der Gegenwart, zu einer im 19. Jahrhundert noch unvorstellbaren unangefochtenen Durchsetzung und Anerkennung der Demokratie als einziger noch denkbarer politischer Ordnung: A no less significant change has been the universal acceptance of democracy as the normal and natural form of government. Seventy years ago, as those who are now old can remember, the approaching rise of the masses to power was regarded by the educated classes of Europe as a menace to order and prosperity. Then the word Democracy awakened dislike or fear. Now it is a word of praise. Popular power is welcomed, extolled, worshipped. The few whom it repels or alarms rarely avow their sentiments. Men have almost ceased to study its phenomena because these now seem to have become part of the established order of things. The old question, – What is the best form of government? is almost obsolete because the centre of interest has been shifting. It is not the nature of democracy, nor even the variety of the shapes it wears, that are to-­day in debate, but rather the purposes to which it may be turned, the social and economic changes it may be used to effect.37

Zugleich aber übersah diese Diagnose der Normalität der Demokratie, der Etablierung eines universalen demokratischen Erwartungshorizonts keinesfalls die Fragilität der neuen demokratischen Ordnung. „Yet its universal acceptance is not a tribute to the smoothness of its working“, merkte Bryce bereits einleitend an, um am Ende seines Werks demokratische Pathologien und die Zukunft der Demokratie zu erörtern. Die Ankunft der Demokratie schien das Ende der Geschichte anzukündigen, aber die Demokratie blieb selbst an historische Bedingungen geknüpft; „the roads that have led or may lead out of democracy are many“. Kriege und die damit einhergehende Machtkonzentration der Exekutive – wie in den Jahren zuvor erlebt – waren die größte und wahrscheinlichste Gefahr für die Demokratie, aber auch eine so heftige Eskalation politischer Konflikte, dass dem politischen Gegner seine Rechte verweigert wurden, sowie die Auslieferung der Demokratie durch eine politisch desinteressierte, mit ihrer privaten Freiheit zufriedene Bevölkerung „to an intelligent bureaucracy capable of giving business men the sort of administration and legislation they desire, and keeping the multitude in good humour by providing comforts and amusements“ – so sahen für Bryce im Gründungsmoment der globalen Demokratie die drei wahrscheinlichsten Zerfallsszenarien aus. Und wenn die Massen nach der Abschaffung des Privateigentums und einer Art „communistic system“ verlangen sollten, was für Bryce kaum vorstellbar war, drohte „an industrial bureaucratic oligarchy“.38 Der liberale Optimismus wich nach dem Weltkrieg, der die Menschheit mit „terror and dismay“ geschlagen hatte, historischer Skepsis, die Euphorie der „prophets of democracy“ vor 1914 war zerstört. Bryce erinnerte daran, dass eine dauerhafte Sicherung der Freiheit 37 Ebd., S. 4. 38 Ebd., Bd. 2, S. 602 f. und 604.

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in der Geschichte selten gelungen, die Bedrohung aber zumeist von innen gekommen war: „Oligarchy springs up everywhere as by a law of nature“. Und weil die Demokratie für Bryce nicht funktionierte ohne ein moralisches, sogar explizit religiöses Fundament, ohne die Kultivierung von „virtues“, um egoistische Interessen zu überwinden, würde sie „flourish or decline according to the moral and intellectual progress of mankind as a whole“. Dabei schlug Bryce offenkundigen Vorurteilen zum Trotz an dieser Stelle auch Töne an, die antirassistisch zu verstehen waren und die „freshness und vitality“ priesen, mit der nicht-­westliche Akteure und Intellektuelle das globale demokratische Projekt bereicherten.39 Der demokratische Fortschritt war nicht garantiert – zu dünn war „the veneer of civilization“, der die menschlichen Abgründe überdeckte, und der menschliche Verstand konnte mit der „growing magnitude and complexity of human affairs“ kaum noch Schritt halten. Völlig verzichten auf den erschütterten „faith in progress“ wollte der ernüchterte Bryce „in a chastened mood“ aber nicht; nicht die Demokratie, sondern die Umstände, die historischen Konstellationen hatten die Katastrophen des Krieges und der Nachkriegszeit ausgelöst, die Demokratie bot noch die beste Hoffnung, eines Tages Gewalt und Fanatismus zu überwinden. Die Idee eines begrenzten „progress in the science and art of free government“ verteidigte Bryce darum für die Gegenwart nach dem Krieg. Er blieb überzeugt, dass „the rule of the Many is safer than the rule of One, […] and the rule of the multitude is gentler than the rule of a class. However grave the indictment that may be brought against democracy, its friends can answer, ,What better alternative do you offer?‘“ 40 Für Bryce war es ein Gebot des politischen Realismus, den Glauben an die Demokratie trotz ihrer offenkundigen Schwächen, trotz ihrer Fragilität nicht aufzugeben: „The experiment has not failed, for the world is after all a better place than it was under other kinds of government, and the faith that it may be made better still survives.“ 41 Die Veröffentlichung von Modern Democracies erregte große Aufmerksamkeit, die Diskussion des zweibändigen Werkes erfasste auch die deutsche Öffentlichkeit, wie sich noch zeigen wird. Eine prominente amerikanische Kritik von Carl L. Becker, einem der führenden amerikanischen Historiker jener Zeit,42 nahm den transatlantischen Gesprächsfaden auf, bekräftigte in seiner Auseinandersetzung mit Bryce jedoch, dass die demokratischen Erwartungen nach dem Ersten Weltkrieg zumeist ambitionierter ausfielen als in Bryce’ bei allem Überschwang letztlich minimalistischem globalen Panorama der Demokratie.43 Becker würdigte das große Werk des Demokraten Bryce, der sich Skepsis gegenüber der 39 40 41 42

Ebd., S. 606, 603 und 605. Ebd., S. 607 f. Ebd., S. 609. Vgl. etwa Peter Novick: That Noble Dream. The „Objectivity Question“ and the American Historical Profession. Cambridge 1988; Michael Kammen (Hrsg.): „What is the Good of History?“ Selected Letters of Carl L. Becker, 1900 – 1945. Ithaca 1973. 43 Vgl. Carl Becker: Lord Bryce on Modern Democracies, in: Political Science Quarterly 36 (1921), S. 663 – 675.

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real-­existierenden Demokratie nicht versagte, als „masterpiece of irony“. Aber der – nach dem anfänglichen Zugeständnis der Ausweitung der demokratischen Sprache wieder – reduzierte Demokratiebegriff, die Vernachlässigung der Ideale und Utopien der Demokratie und die Ausblendung der sozialen und ökonomischen Herausforderungen erregten Beckers Widerspruch. Das, was die Demokratie war, was sie sein konnte und sollte, ging in Bryce’ prozeduraler Behandlung des Stoffs verloren. Beckers Demokratieverständnis war politisch, ökonomisch und sozial anspruchsvoller, wie die zentrale Stelle seiner Kritik zeigte. Die Verwirklichung der Demokratie war demnach mit der Etablierung demokratischer Verfahren – also vor allem des Wahlverfahrens – noch nicht erreicht, vielmehr forderte er eine über das allgemeine Wahlrecht und die parlamentarische Regierung hinausgehende Demokratisierung: Many people will say that democracy really means something more than „the rule of the whole people expressing their sovereign will by their votes“. They will say that democracy […] is rather an idea than a form of government – the idea or the ideal that men should have equal freedom and opportunity, and an equal voice in determining the social arrangements by which this ideal can be, so far as it can be, attained; and they will therefore conclude that „the rule of the whole people expressing their sovereign will by their votes“ is not democracy, but only a method for securing democracy, a method moreover which, as it actually operates in most of the six countries described by Lord Bryce, seems in a fair way of defeating rather than of securing the desired end. This may seem a quarrel about words; but one often feels that Lord Bryce does not adequately meet the vital question of whether the whole people, where it has a legal right to express its sovereign will by its votes, does or can, under modern conditions, really express its will. To assume that democracy, and not class rule, exists because it exists formally, is much like assuming that Great Britain is not a democracy but a monarchy because it has a king. After all, words are powerful things […] Just now the world is filled with valiant and verbal defenders of „democracy“ whose chief fear is precisely that the whole people might in fact some day express its sovereign will, either by its votes or otherwise. If the future of our ideals of democracy (very nearly the only ideals the world has left) is to depend upon a form of government about which half of Europe has grown cynical, then must our Hope be faint indeed. A critic looking for the most vulnerable point of attack would no doubt seize upon Lord Bryce’s contention that democracy has nothing to do with economic equality.

„Political equality can undoubtedly exist along with or apart from economic equality“, merkte Becker an, doch „the question of political democracy“ konnte nicht losgelöst von „the question of the economic organization of society“ betrachtet werden. Erst die ökonomische und soziale Demokratisierung könnte auch der politischen Demokratie, die nun überall entstanden war, Stabilität verleihen und die spannungsreiche Gegenläufigkeit der politischen und der ökonomischen Dynamiken aufheben:

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Most of our political troubles, both domestic and international, are due precisely to the fact that as a result of the progress of the Industrial Revolution of the nineteenth and twentieth centuries the political organization of the modern world is out of harmony with its economic organization.

Nur in seiner Darstellung der Rolle der Gewerkschaften habe Bryce die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen der Demokratie implizit anerkannt. Wahlen allein jedenfalls machten noch keine Demokratie; im Gegenteil könnten demokratische Wahlen ohne eine soziale Demokratie, ohne Behebung der „economic inequality“ sogar zur Zerstörung der Demokratie führen.44 Beckers kontinentaleuropäisch klingende Erwartung, dass die neue demokratische Nachkriegsordnung auch eine der sozialen Demokratie sein musste, wurde von vielen amerikanischen Intellektuellen geteilt.45 Einer der prominentesten amerikanischen Soziologen der ersten Jahrhunderthälfte, John Lewis Gillin von der University of Wisconsin, erörterte am Ende des Krieges symptomatisch die Frage, was dieses nun zur Parole der neuen Zeit gewordene Wort „Demokratie“ bedeutete. Ursprünge demokratischer Verfahrensweisen fand Gillin, noch vor dem „New England town meeting“, im biblischen Israel und bei den Germanen ebenso wie bei außereuropäischen Völkern. Die moderne Geschichte der Demokratie jedoch hatte für ihn noch gar nicht wirklich begonnen. Denn was meinte jener „term that is rather loosely used by many people and covers a variety of meanings“, wie er ähnlich wie Bryce fragte – Demokratie? The term is sometimes used to denote democracy in the state. By this term is meant universal manhood or adult suffrage. Here the control of the government may be democratic or representative. We have this form of government in only a few of the states in the United States at the present time. Before the Civil War the black man had no part in the government of the state, and until very recently woman had no part in political affairs.

Aber das war nur eine Ebene von vielen, auf die sich das demokratische Projekt erstreckte: Again democracy indicates the equality of opportunity as between individuals and different classes, not only political, but educational, social, and economic, opportunity. Nowhere as yet has this form of democracy been completely realized. This phase of the matter is sometimes called social democracy in a broad way. One aspect of it is known as industrial democracy.

Historisch beschrieb Gillin die Entstehung der Demokratie als höchst voraussetzungsreich, soziale Homogenität, Bildung, kollektive politische Vorstellungen und klassenüberschrei-

44 Ebd., S. 666 und 672 – 674. 45 Vgl. etwa Brick: Transcending Capitalism; Rodgers: Atlantic Crossings.

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tende Solidarität gehörten zu den von ihm identifizierten Bedingungen. Eine „wirkliche“ Demokratie gab es jedoch noch gar nicht, sie blieb eine Zielvorstellung: A real democracy will possess the characteristic of participation by the people in all of these relationships. A real democracy is therefore yet to be realized, although great steps have been taken toward the realization of democracy in all phases of our social life in the last half-­century.

Gillin schloss seine Beobachtungen mit dem Appell, diese historisch noch nicht unumstößlich gewordene Norm – „democracy will have a precarious history“ auch in der Zukunft, erklärte er – zur Grundlage politischen Handelns zu machen: Let us hope that out of the present dreadful war there may come a greater consciousness of the value of democracy and a greater impetus toward the realization of democracy in all the wide range of our American social life.46

Auch in dieser stärker amerikazentrierten Perspektive auf die Demokratie fehlte der globale Bezug nicht, und eine Multitemporalität der Demokratie – ihre vielfältigen Genealogien, ihre Dominanz in der Gegenwart, ihr anspruchsvolles Programm für die Zukunft – prägte deutlich erkennbar das verbreitete Demokratieverständnis unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg.

III. Die Nachkriegsdebatte um die Demokratie und – wenige Jahre zeitversetzt, insofern diese erst auf Deutsch rezipiert wurde – um Bryce’ Bestandsaufnahme der modernen Demokratie wurde mit ähnlichen Argumenten und unter wechselseitigen Bezugnahmen auch in Deutschland geführt. Der prominente Jurist Albrecht Mendelssohn Bartholdy und der Staatsrechtler Karl Löwenstein, der später für sein Nachdenken über die „wehrhafte Demokratie“ bekannt wurde, besorgten die deutsche Übersetzung von Bryce’ Demokratiestudie.47 Bei vielen Teilnehmern an der Weimarer Demokratiediskussion wie etwa Moritz Julius Bonn, Ferdinand Aloys Hermens, Otto Kirchheimer, Gerhard Leibholz, Richard Thoma, Ferdinand Tönnies oder selbst Carl Schmitt finden sich Verweise auf Bryce. Otto Hintzes Schüler Fritz Hartung besprach das Werk ausführlich in der

46 John Lewis Gillin: The Origin of Democracy, in: American Journal of Sociology 24 (1919), S. 704 – 714, hier S. 704, 710 f., 712 und 714. 47 James Bryce: Moderne Demokratien, 3 Bde. München 1923 – 1926.

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„Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“.48 Bryce gehörte zum Inventar der intellektuellen Auseinandersetzung um die Demokratie.49 Unter den frühen und bedeutendsten deutschen Bryce-­Lesern war Ernst Troeltsch, der sich bereits im Krieg an den Debatten um die künftige politische Ordnung beteiligt hatte. Während in der älteren wissenschaftlichen Behandlung der „Ideen von 1914“ und der geistigen Mobilmachung im Ersten Weltkrieg einzelne situativ bedingte Äußerungen Troeltschs einseitig militaristisch gedeutet und in wenig adäquate Kontexte gestellt wurden,50 haben neuere Rekonstruktionen die deutsche Kriegsdiskussion differenzierter erschlossen und dabei auch die Komplexität von Troeltschs politischem Denken in den Kriegsjahren untermauert.51 Der protestantische Theologe, liberale Intellektuelle und im 48 Vgl. etwa Moritz Julius Bonn: Die Krisis der europäischen Demokratie. München 1925, S. 15; Fritz Hartung: Moderne Demokratie, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 84 (1928), S. 1 – 21; Ferdinand Aloys Hermens: Demokratie und Kapitalismus. Ein Versuch zur Soziologie der Staatsformen. München 1931, S. 4; Otto Kirchheimer/Nathan Leites: Bemerkungen zu Carl Schmitts „Legalität und Legitimität“ [1932], in: ders.: Von der Weimarer Republik zum Faschismus. Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung. Frankfurt a. M. 1976, S. 113 – 151, hier S. 115; Gerhard Leibholz: Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild. München 1933, S. 13; Carl Schmitt: Verfassungslehre. München 1928, S. 223 f.; Richard Thoma: Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, in: Melchior Palyi (Hrsg.): Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 2. München 1923, S. 37 – 64, hier S. 40; Ferdinand Tönnies: Zur Soziologie des demokratischen Staates, in: ders.: Soziologische Studien und Kritiken, Bd. 2. Jena 1926, S. 304 – 352. 49 Zu führenden Protagonisten dieser Debatten vgl. etwa Jens Hacke: Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Berlin 2018; Udi Greenberg: The Weimar Century. German Émigrés and the Ideological Foundations of the Cold War. Princeton 2014; Detlef Lehnert (Hrsg.): Hugo Preuß 1860 – 1925. Genealogie eines modernen Preußen. Köln 2011. 50 Vgl. etwa Klaus Schwabe: Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges. Göttingen 1969; Wolfgang J. Mommsen: Der Geist von 1914. Das Programm eines politischen Sonderweges der Deutschen, in: ders.: Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur des deutschen Kaiserreiches. Frankfurt a. M. 1992, S. 407 – 421; Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Berlin 2000; Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918 – 1933/39. Berlin und Paris im Vergleich. München 1999, S. 307. 51 Vgl. etwa Llanque: Demokratisches Denken; Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003; Heinz Hagenlücke: Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches. Düsseldorf 1997; Peter Hoeres: Krieg der Philosophen. Die deutsche und britische Philosophie im Ersten Weltkrieg. Paderborn 2004; als Zwischenposition Jörn Leonhard: „Über Nacht sind wir zur radikalsten Demokratie Europas geworden“. Ernst Troeltsch und die geschichtspolitische Überwindung der Ideen von 1914, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin. Gütersloh 2006, S. 205 – 230.

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Jahr 1919 schließlich Spitzenkandidat der Deutschen Demokratischen Partei in Preußen, dessen politisches und intellektuelles Profil dank einer umfassenden Spezialforschung und damit einhergehender Editionsprojekte immer schärfer geworden ist,52 avanciert in der internationalen Forschung zunehmend zum innovativen Demokratietheoretiker und kosmopolitischen Kritiker des Eurozentrismus in der Epoche der globalen Transformation im und nach dem Krieg von 1914.53 Mit dem allzu sehr auf die deutsche nationale Perspektive beschränkten Etikett „Vernunftrepublikaner“ wird man diesem globalen Demokratiedenker kaum gerecht.54 Troeltsch war diesen neueren Lesarten zufolge nicht als einziger deutscher Denker jener Jahre „sensitive to the values of pluralism in cultural and historical life“ und blieb „in a relation of sceptical distance to the claims and presumptions of Western European thinking about ‚universal history‘“, um so „potentially a more truthful perspective on this universal history“ zu gewinnen, „by reminding Western European thought of its own culturally specific context of particularity“. Diesem „peripheren“ kulturpluralistischen Denken gelang es demnach „to decentre itself“, als ein die Provinzialität des Westens reflektierendes Denken, das zugleich an universalen, westlich konnotierten Werten festhielt: Germany, in engaging constructively with Western European traditions of liberal-­democratic political thought, […] could remain open to the West and to Western universalistic conceptions without copying or emulating specifically Western cultural models of institutional organization.55

52 Vgl. als Zwischenbilanz etwa Gangolf Hübinger: Engagierte Beobachter der Moderne. Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf, S. 130 – 190 sowie das für 2019 angekündigte Buch von Robert E. Norton über Troeltsch und die Demokratiediskussion im Ersten Weltkrieg. 53 Vgl. etwa Stefan Eich/Adam Tooze: The Allure of Dark Times. Max Weber, Politics, and the Crisis of Historicism, in: History and Theory 56 (2017), S. 197 – 215, hier S. 206 – 215; Austin Harrington: German Cosmopolitan Social Thought and the Idea of the West. Voices from Weimar. Cambridge 2016, hier S. 117 – 119, 183 – 189, 216 f., 224 f. und 244 – 252; Hans Joas: A German Idea of Freedom? Cassirer and Troeltsch between Germany and the West. Göteborg 2006, S. 9 – 14 und 26 – 37. 54 Vgl. etwa Matthias Wolfes: Vernunftrepublikanismus und Wissenschaftsverständnis in der protestantischen Theologie der Weimarer Zeit, in: Andreas Wirsching/Jürgen Eder (Hrsg.): Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft. Stuttgart 2008, S. 219 – 230. Generell wäre bei vielen der unter dieses Rubrum Eingeordneten zu reflektieren, dass es sich dabei um demokratiehistorisch über Deutschland hinaus typische Geschichten handelte sowie Demokratiebejahung und -begeisterung sehr unterschiedliche Gesichter und sprechaktlich relevante Kontexte hatten. Wenn sich Troeltsch als „Vernunftdemokrat“ bezeichnete (Hübinger: Engagierte Beobachter, S. 190), so ist die argumentative Situation zu bedenken, um nicht mit dieser Etikettierung den Demokratiedenker unkenntlich zu machen. 55 Harrington: German Cosmopolitan Social Thought, S. 5 – 7.

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Troeltsch war der vielleicht bedeutendste deutsche Beiträger zur internationalen Demokratiedebatte in der globalen Transformationsphase nach 1918/19. Seine Ablehnung des „Imperialismus“ von 1915 richtete sich explizit auch gegen das deutsche Verlangen nach Vorherrschaft.56 Und bald, nachdem Troeltsch das Wort von den „Ideen von 1914“ in den Mund genommen hatte, kritisierte er bereits den Mangel an Humanismus und Individualismus bei vielen Vertretern dieser – ohnehin kaum als Einheit fassbaren – Ideen. Im Oktober 1915 folgte sein Plädoyer für eine weitergehende Demokratisierung Deutschlands zum Teil ausdrücklich der Argumentation von Hugo Preuß.57 Die „deutsche Freiheit“ präsentierte Troeltsch keineswegs nur als überlegene Idee, er relativierte die deutsche Besonderheit durch den Hinweis, dass die „moderne Freiheit […] bei uns gebrochener entwickelt als im Westen“ sei. Die „Sicherstellung des Individuums durch formale Rechtsgleichheit, als soziale Gegenseitigkeit der Anerkennung und Gleichberechtigung, als Freiheit des Zusammenschlusses und der Vereinsbildung, ja auch als Freiheit der kommunalen und ländlichen Selbstverwaltung“ musste noch stärker um den Aspekt der Partizipation, der „Mitbeteiligung an der Ausübung des staatlichen Gesamtlebens“ erweitert werden. In seiner eigenständigen Entwicklung sollte sich Deutschland auch an den „Westmächten“ orientieren und endgültig „vom Obrigkeits- zum Volksstaate, vom Klassenstaat zur gegenseitigen Gleichberechtigung, vom Herrschaftsstaat zum Gemeinwesen“ fortschreiten, womit vor allem ein Rückschnitt der Rolle der Bürokratie in der Politik gemeint war.58 Dass diese spezifisch deutsche, zugleich universal denkende Perspektive mit dem Verzicht auf essentialistische Volksbegriffe verbunden sein konnte, zeigt das Beispiel des Troeltsch eng verbundenen, in den Kriegsdebatten und auch danach prominenten liberal-­ konservativen Historikers Hans Delbrück, in dessen Veröffentlichungen die Möglichkeit eines föderativen Weges in eine europäische Demokratie aufschien. Delbrücks Regierung und Volkswille von 1914 gab sich überzeugt, dass sich die deutsche Verfassungsordnung aus sich selbst reformieren konnte und musste. Aber Delbrück verweigerte sich sowohl einem ethnischen als auch einem kulturellen Volksbegriff und sprach lieber von „der Einwohnerschaft des deutschen Reiches“, einer nicht „von der Natur gegebene[n]“, künstlichen „Einheit“, die „unter tausend Zufälligkeiten“ gebildet wurde und sich veränderte.59 Sein nicht-­ nationalistisches Denken ließ einen prä- und supranationalen Etatismus für die europäische Gegenwart produktiv werden – mit seinem Engagement für den später in Deutsche Liga für Menschenrechte umbenannten, sich auf Europa beziehenden „Bund Neues Vaterland“ 56 Vgl. Ernst Troeltsch: Imperialismus, in: Die neue Rundschau 26 (1915), S. 1 – 14. 57 Vgl. etwa Llanque: Demokratisches Denken, S. 35 – 37, 116 – 118, 154 und 221 f.; Hoeres: Krieg der Philosophen, S. 262 – 275 und 414 – 422; Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat, S. 256 f.; Müller: Deutschlands „Anderssein“, S. 59 f. 58 Ernst Troeltsch: Die deutsche Idee von der Freiheit, in: ders.: Deutsche Zukunft. Berlin 1916, S. 7 – 60, hier S. 60 und 19 – 21. 59 Hans Delbrück: Regierung und Volkswille. Berlin 1914, S. 1 f.; vgl. Llanque: Demokratisches Denken, S. 89 – 96.

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auch in Hinblick auf die Nachkriegszeit. Der einstige preußische Prinzenerzieher wurde zum frühen Kritiker der deutschen Kriegsstrategie und von Annexionsforderungen, bald zum Fürsprecher einer preußischen Wahlrechtsreform und eines „Tory-­Demokratismus“, in der Weimarer Republik schließlich zu einem führenden Bekämpfer der „Dolchstoßlegende“ und zum Anhänger einer auch für Konservative attraktiven Demokratie.60 Die Anerkennung kultureller Vielfalt in Verbindung mit der selbstkritischen Suche nach einem Fundament universaler Werte war in Troeltschs Fall das intellektuelle Bindeglied zwischen seiner politischen Kriegspublizistik und seinem gleichzeitig entstandenen, im Wesentlichen 1916 vollendeten und 1922 veröffentlichten monumentalen Werk Der Historismus und seine Probleme.61 Darin wies er auch einen intellektuellen Ausweg aus den kriegerischen Gegensätzen, indem er die Grenzen einer eurozentrischen Perspektive offenlegte, die „nur naiver und verfeinerter Europäerhochmut“ war, „Übertreibungen des europäischen Selbstgefühls“, oft genug kolonialistische Anmaßung einer privilegierten Perspektive, die „mit unseren Erkenntnis- und Denkmitteln ganz unmöglich“ war. „Etwas derartiges“, nämlich „eine Übersicht über die Allheit des Historischen“, fügte er hinzu, „gibt es nur für Gott“. Um den Horizont des europäischen historischen Denkens aufzulösen, zitierte er indische und japanische Gelehrte. Der Blick der Europäer war einer unter vielen: „Wir kennen in Wahrheit nur uns selbst und verstehen nur unser eigenes Sein und deshalb auch nur unsere eigene Entwicklung. […] Man muss sich klarmachen, dass es verschiedene Möglichkeiten des Menschentums gibt.“ Was in der Einsicht dieser Grenzen „von der Geschichtsphilosophie und Universalgeschichte übrig bleibt“, war „die brennend wichtige Aufgabe der Formulierung des europäischen Wesens und der Herausarbeitung der europäischen Zukunft“. Für die „westliche“ Zivilisation übernahm Troeltsch den von einem indischen Sozialwissenschaftler eingeführten Begriff „Euramerika“ und mahnte, „den Gedanken der Kultursynthese nicht zu eng und nicht zu zentraleuropäisch aufzufassen und ihn für die wachsenden Völker unseres Kulturkreises von vornherein als verschiedenartig zu betrachten“.62 Der Gedanke der „Kultursynthese“ kam in Troeltschs wohl berühmtestem – vor den Eliten der Weimarer Republik an der Hochschule für Politik im Oktober 1922 in Berlin 60 Vgl. Christian Lüdtke: Hans Delbrück und Weimar. Für eine konservative Republik – gegen Kriegsschuldlüge und Dolchstoßlegende. Göttingen 2018; Llanque: Demokratisches Denken, S. 30 f. und 152 – 158; Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat, S. 74 – 81, 94 f., 104 f., 201 f. und 249 – 251. Nicht wenige aus der Familie und dem persönlichen Umfeld des 1929 gestorbenen Delbrück leisteten später Widerstand gegen den Nationalsozialismus. 61 Vgl. Hartmut Ruddies: Gelehrtenpolitik und Historismusverständnis. Über die Formierung der Geschichtsphilosophie Ernst Troeltschs im Ersten Weltkrieg, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Ernst Troeltschs „Historismus“. Gütersloh 2000, S. 135 – 163. 62 Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Bd. 16: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie [1922]. Hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf. Berlin 2008, S. 1025 f., 1031, 1027 f. und 1048.

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gehaltenen, von Thomas Mann und anderen Kulturgrößen aufgegriffenen – Vortrag über „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“ politisch greifbarer zum Ausdruck. Dabei nahm Troeltsch mehrfach auf Bryce und Modern Democracies Bezug.63 Die „Kultursynthese“, die kulturelle Vielfalt nicht ersticken, sondern auf der Grundlage universaler Werte ermöglichen sollte, hatte – hier mit Blick auf die europäische Nachkriegsordnung – eine moralisch-­intellektuelle und eine politische Seite. In ihr Zentrum stellte Troeltsch zum einen die „Idee der Menschenrechte“, als Fundament eines „europäischen Ethos“, das die Kooperation erleichterte. „Die Menschen“, erklärte er, waren „einander viel ähnlicher, als es nach den Theorien scheinen müsste“. Die im Krieg propagandistisch überzogenen „Gegensätze“ von angelsächsisch-­romanischen und deutschen politischen Traditionen waren „im letzten Grunde weniger ausschließend […] als sie scheinen. Beide Systeme setzen die Idee der Autonomie des Menschen und der Persönlichkeit, die kritische Grundhaltung gegen Wirklichkeit und Überlieferung voraus, die die Aufklärung geschaffen hat.“ Zum anderen identifizierte Troeltsch eine diesem Ethos der Menschenrechte angemessene politische Form, die für ihn zu der politischen Ordnung der Welt nach dem Ersten Weltkrieg schlechthin geworden war. Er bezeichnete – in Anlehnung an einen Vortrag, den Charles Evans Hughes, Richter am Supreme Court und Außenminister der Vereinigten Staaten, vor dem Krieg an der Yale University gehalten hatte – „die Demokratie als die schwierigste, moralisch die größten Forderungen stellende Verfassung, aber auch als die durch Gott, Natur und Humanität geforderte“. Die Demokratie war universal, und es gab kein Zurück hinter die Demokratie mehr.64 Die universale, zumindest die internationale Dimension der Demokratie in der Pariser Friedensordnung thematisierte Troeltsch an zahlreichen Stellen, akademisch distanziert ebenso wie tagespolitisch intervenierend. So reflektierte er in Vorträgen, der er aufgrund seines Todes Anfang 1923 nicht mehr selbst in Großbritannien halten konnte, die ethischen Grundlagen moderner Politik und erörterte die Idee von „world-­government“ nach dem Vorbild des mittelalterlichen Reiches. Die unweigerlich damit verbundene globale Vormachtstellung Amerikas barg ihm jedoch zu viele Konfliktpotentiale in sich. Der Völkerbund in Verbindung mit „universal Free Trade“ schien besser geeignet, bei der notwendigen Preisgabe politischer Souveränität dennoch nationale Individualitäten und kulturelle Vielfalt zu erhalten. Troeltsch stellte nach dem Krieg eine vollständige Transformation des internationalen Systems fest.65

63 Troeltsch: Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik [1922], in: ders.: Kritische Gesamtausgabe, Bd. 15: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918 – 1923). Hrsg. von Gangolf Hübinger: Berlin 2002, S. 477 – 512, hier S. 494, 500 und 506. 64 Ebd., S. 510, 508, 505 f. und 500. 65 Troeltsch: Politics, Patriotism, and Religion [1923], in: ders.: Kritische Gesamtausgabe, Bd. 17: Fünf Vorträge zu Religion und Geschichtsphilosophie für England und Schottland. Der Historismus und seine Überwindung (1924) / Christian Thought. Its History and Application (1923). Hrsg. von Gangolf Hübinger. Berlin 2006, S. 188 – 203, hier S. 198 – 201.

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Auch seine berühmten „Spectator-­Briefe“ (ab August 1920 „Berliner Briefe“ genannt), die Troeltsch zu einem der führenden public intellectuals der Weimarer Republik werden ließen, verdankten ihre zeitgenössische Bedeutung nicht allein der innenpolitischen Intervention, sondern ebenso der weltpolitischen Aufgeschlossenheit dieses „engagierten Beobachters“.66 „Der Schwerpunkt der Welt ist verschoben“, erklärte er seinem politischen Publikum in einem provokant gegen Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlands“ betitelten Beitrag; Europa hatte seine zentrale Rolle in der Welt für immer verloren, es war zur Peripherie geworden. Eine „Weltdemokratie“ mit angelsächsischer „Weltpolizei“ etablierte sich nun als „Weltsystem“, als neue Ordnung der Nachkriegszeit, dem das „Weltsystem des Bolschewismus“ gegenüberstand.67 In diesem Weltsystem der Weltdemokratie, auch im Völkerbund, dominierte das „angelsächsische Imperium“ oder „Weltregiment“, die „Dyarchie“ Amerika-­England, die amerikanisch-­britische Doppelweltmacht. „The world is rapidly becoming English“, beobachtete Troeltsch, was nicht nur in politischer und ökonomischer Hinsicht zutraf: „Die europäischen Völker werden zweisprachig werden, für die Welt englisch reden und schreiben müssen und für ihre Privatzwecke ihre alten Sprachen wie Dialekte weiter benützen.“ 68 Das bedeutete zugleich jedoch, dass „der ‚Westen‘ […] keine Einheit“ darstellte. Während Troeltsch „in dem angelsächsischen System die Rettung erblicken“ konnte, die neue Friedensordnung mit ihrer „wirtschaftlichen Weltsolidarität“ begrüßte, distanzierte er sich von der als destruktiv, als „Hegemonie- und Gewaltpolitik“ verstandenen Rolle Frankreichs in den ersten Jahren nach dem Krieg: „Mit dem englischen System kann man leben, mit dem französischen nicht.“ Entsprechend trat gerade der Demokrat und Republikanhänger Troeltsch als scharfer Kritiker des Versailler Vertrags auf, den er als Belastung der Demokratie bezeichnete, und knüpfte an die vielen Wendungen der internationalen Politik in den folgenden Jahren die wachsende Hoffnung auf eine kooperative Revision der im Pariser Frieden festgelegten Regelungen. Die Konferenz von Genua betrachtete er als „Fortschritt“, die gleichzeitigen Geheimverhandlungen seines engen Freundes Walther Rathenau mit dem kommunistischen Russland in Rapallo skeptisch. Als ein auch für die europäischen Verhältnisse vorbildhaftes Ereignis verfolgte Troeltsch aufmerksam die Washingtoner Konferenz von 1921/22, die das internationale System im pazifischen Raum stabilisierte und zur Neuordnung des Verhältnisses unter den Großmächten führte. Für Troeltsch bestand eine erkennbare Verknüpfung zwischen dem Washingtoner Abkom-

66 Vgl. Hübinger: Engagierte Beobachter, S. 167 – 190. 67 Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Bd. 14: Spectator-­Briefe und Berliner Briefe (1919 – 1922). Hrsg. von Gangolf Hübinger. Berlin 2015, S. 172 (Oktober 1919), 483 (Januar 1922), 509 (März 1922), 547 (Juni 1922) und 363 f. (Januar 1921); vgl. ebd., S. 64 (Februar 1919) und 296 (Juni 1920). 68 Ebd., S. 130 f. (Juli 1919), 175 (Oktober 1919), 344 (November 1920) und 484 (Januar 1922).

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men und einer künftigen Neuregelung für Europa, einer „europäisch-­kontinentale[n] Ergänzung für die Weltabmachung von Washington“.69 Gelegentlich beschlichen Troeltsch jedoch Zweifel, ob der „Westen“, insbesondere Amerika, seiner Führungsrolle gerecht würde, weil die neue internationale Ordnung allzu sehr auf „Seeherrschaft“, Welthandel und angelsächsische „Seepolizei“ ausgerichtet war, was eine nur begrenzte Bereitschaft zum kontinentalen Engagement andeutete. Die delikaten Probleme, die sich für eine „Landmacht“ wie Deutschland aus ihrer exponierten „Mittellage“ ergaben, schienen ihm dabei unberücksichtigt zu bleiben.70 Dass Deutschland aus dem Kreis der Großmächte „ausgeschieden“ war und keine „Weltpolitik“ mehr betreiben konnte, stand für Troeltsch fest. Seine außenpolitischen Stellungnahmen plädierten für ein realistisches Selbstbild der eigenen nationalen Rolle auf der internationalen Bühne. Die Deutschen mussten ihre Illusionen, ob „phantastisch, pessimistisch oder heroisch“ ausgemalt, aufgeben und sich vielmehr dem Aufbau staatlicher Ordnung und ihrer Demokratie widmen. Genau das war der Sinn seiner berühmten Wendung vom „Traumland der Waffenstillstandsperiode“, aus dem die Deutschen vertrieben wurden: „Ich weiß nur, dass jetzt für uns die Weltmachtpolitik auf lange Zeit und wohl überhaupt zu Ende ist“.71 Historische Orientierung für die neue Ordnung der Weltdemokratie bot der Blick in die Antike. Die anglo-­amerikanische Dyarchie war das neue Rom, Deutschland in die Liga hellenistischer Staaten abgestiegen, was aber auch seine Vorteile hatte: Als eine größere Schweiz könnte ein wirtschaftlich erfolgreiches Deutschland weltweite Anerkennung zurückgewinnen.72 Auch über die außenpolitische Analyse der anglo-­amerikanisch dominierten globalen Demokratie hinaus lassen Troeltschs Interventionen erkennen, dass er, der auch in tagesaktuellen Beiträgen Bryce zitierte,73 Teilnehmer nicht nur an einer nationalen, sondern auch an einer internationalen Demokratiedebatte war und im transatlantischen Gesprächsraum der Umbruchphase von 1918/19 verbreitete Demokratievorstellungen in seinem Denken über die Demokratie zum Ausdruck kamen. Das trifft etwa sowohl auf die Leitidee einer sozialen Demokratie zu, die auch für den Liberalen Troeltsch selbstverständlich war, als auch auf die mehrschichtige Zeitlichkeit seines historischen Bilds der Demokratie sowie auf die anspruchsvolle Vielgestaltigkeit, den Variantenreichtum und die Transformationsfähigkeit, durch die sich für ihn die gerade entstandene moderne Demokratie auszeichnete. 69 Ebd., S. 547 (Juni 1922), 495 (Februar 1922), 549 (Juli 1922), 468 (Dezember 1921), 479 – 484 (Januar 1922), 503 f. (März 1922), 513 (April 1922), 537 (Juni 1922), 547 (Juni 1922), 549 f. und 550 f. (Juli 1922); vgl. ebd., S. 90 (April 1919), 115 – 124 und 125 – 132 (Juli 1919), 222 und 227 (Januar 1920), 329 (Oktober 1920), 353 und 356 f. (Dezember 1920) und 395 (April 1921). Zur Washingtoner Konferenz vgl. zuletzt etwa Tooze: Deluge, S. 4, 11 f. und 394 – 407. 70 Troeltsch: Spectator-­Briefe, S. 547 (Juni 1922), 343 (November 1920) und 480 f. (Januar 1921); vgl. ebd., S. 167 (Oktober 1919) und 481 (Januar 1922). 71 Ebd., S. 343 (November 1920), 547 (Juni 1922) und 131 (Juli 1919). 72 Vgl. ebd., S. 110 und 130 (Juli 1919), 175 (Oktober 1919), 356 und 360 f. (Dezember 1920). 73 Vgl. ebd., S. 586 – 588 (November 1922).

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Innen- und Außenpolitik gehörten dabei zusammen, der neuen demokratischen Welt eignete ein Doppelgesicht: „Wir haben uns auf eine völlig neue Lage einzurichten, die durch die Idee des Völkerbundes nach außen und eine demokratisch-­soziale Neuordnung nach innen allein gesichert werden kann“.74 Das neue internationale System war auch in ökonomischer Hinsicht das des Siegers im Krieg, des „amerikanische[n] Kapitalismus, eingehüllt in die demokratische Tugendideologie“. Aber dieses weltwirtschaftliche System hatte nichts mit dem alten ungezügelten Kapitalismus zu tun, sondern war das neue einer „regulierten Wirtschaft, wie denn der heutige Kapitalismus schon lange nicht mehr der alte ist und nur die Nutznießer des gegenwärtigen Chaos die teuflischen Eigenschaften eines unregulierten Kapitalismus zur Schau tragen“.75 Seine nach innen für die neue Republik werbenden Stellungnahmen bekräftigten immer wieder, dass die Demokratie in jeder Konstellation, „welche Form auch immer sie in ihrer technischen Gestaltung irgendwann einmal annehmen mag“, eine „soziale Demokratie“ sein musste, in der die „Wirtschaft im Interesse und im Dienste des Ganzen“ stand.76 Die demokratische Ordnung sollte eine der internationalen ökonomischen Kooperation und der begrenzten wirtschaftlichen Planung sein. Wiederholt nahm Troeltsch in der sich zuspitzenden Inflationskrise auf John Maynard Keynes Bezug und vertrat die Ansicht, dass die „Weltwirtschaft […] nur durch gegenseitige Verständigung und Solidarität aus schwersten Erschütterungen und Lähmungen befreit werden kann“, während „autarkische Zoll- und Schutzpolitik“ die Krise verschärfen würde. Mit der zunehmenden ökonomischen Katastrophe konnte sich Troeltsch einen Ausweg des „wahre[n] und einzige[n] Internationalismus“, nämlich eine „Weltplanwirtschaft und Stabilisierung der erschütterten Währungen“ vorstellen.77 Was die Zeitlichkeit der Demokratie betrifft, wiesen Troeltschs Vorstellungen den temporalen Facettenreichtum auf, der auch bei Bryce, Becker oder Gillin zu finden war – unterschiedliche Vorgeschichten, die Gegenwart als Moment einer globalen Demokratiewerdung, Demokratie als einziger verbliebener politischer Horizont –, verbunden mit einer Einschätzung der Zukunft der Demokratie, die die Ambivalenz von Normalität und Fragilität, von Gegebenheiten und Unwägbarkeiten reflektierte. Die Demokratie war einerseits mit unerwarteter Plötzlichkeit hereingebrochen: „Über Nacht sind wir zur radikalsten Demokratie Europas geworden“, erklärte Troeltsch im Dezember 1918 vor dem „Demokratischen Studentenbund“. Der Krieg hatte als Katalysator der vollständigen Demokratisierung gewirkt: „Der furchtbare Weltkrieg musste ganz von selbst die Demokratie zum Siege bringen.“ Aber zugleich hatte der plötzliche Durchbruch seine Geschichte, 74 Troeltsch: Demokratie [1919], in: ders.: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie, S. 207 – 224, hier S. 216. 75 Troeltsch: Spectator-­Briefe, S. 484 (Januar 1922) und 547 (Juni 1922). 76 Troeltsch: Demokratie, S. 216 und 219; ders.: Sozialismus [1920], in: ders.: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie, S. 355 – 370, hier S. 358 f. 77 Troeltsch: Spectator-­Briefe, S. 539 (Juni 1922) und 583 (November 1922); vgl. ebd., S. 571 und 576 (Oktober 1922), 582 und 588 (November 1922).

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war dieser „doch nicht so ganz über Nacht geschehen. Die Demokratie ist die natürliche Konsequenz der modernen Bevölkerungsdichtigkeit, verbunden mit der zu ihrer Ernährung notwendigen Volksbildung, Industrialisierung, Mobilisierung, Wehrhaftmachung und Politisierung.“ 78 Diese Perspektive reichte über die deutsche Entwicklung hinaus. Mit Tocqueville zeigte Troeltsch sich überzeugt, „daß der Siegeszug der Demokratie unaufhaltsam sei, weil sie der modernen Gesellschaft entspreche.“ Die Demokratie war eine „praktische Notwendigkeit geworden.“ Troeltsch sprach in dieser prozesstheoretischen Betrachtung auch von der „notwendigen und unumgänglichen Entwicklung aller modernen Staaten“, vom „Notwendigwerden der Demokratie“.79 Auch im „Welthorizont“ war sie „eine der ganz wenigen großen Hauptlösungen des politischen Organisationsproblems“ der Moderne, das sich aus „der modernen Bevölkerungsmasse, Intellektualität und moralischen Idee vom Menschen“ ergab. Dabei könnte der Demokratie als Lösungsansatz „auf die Dauer“ kein Staat „widerstehen“.80 Reinhart Kosellecks Argument, dass die „explosive Verwendung“ von Begriffen wie Volk in und nach dem Ersten Weltkrieg den „unumkehrbaren Trend zur ‚Demokratisierung‘, und zwar quer durch die Regierungsformen der konstitutionellen Monarchie, der parlamentarischen Republik und des nationalsozialistischen, streckenweise sog. Führerstaates“ anzeigte,81 lässt sich auch auf Troeltsch stützen. Deutschland war nicht nur „endgültig“ zur Demokratie geworden, wie er auf dem Leipziger Parteitag der Deutschen Demokratischen Partei im Dezember 1919 verkündete,82 sondern auch „unabänderlich“. Die Demokratie war zur „Grundlage aller denkbaren Zukunft“ geworden, zum einzigen politischen Horizont, „auch wenn man auf 20 oder 30 Jahre hinaus denkt“. Selbst eine von Troeltsch für unvorstellbar gehaltene, nur als politisch-­theoretisches Gedankenspiel erwogene „militärische Diktatur“ müsste „auch ihrerseits mit demokratischen Formen und Mitteln arbeiten“. Eine „Restauration“ bürokratischer Herrschaft lag jenseits des Möglichen.83 Auch eine Wiedereinführung der Monarchie könnte nur noch auf demokratischer Grundlage erfolgen.84 Auf lange Sicht wagte Troeltsch sogar die These, dass die soziale Demokratie „für immer“ Wirkung entfalten würde, denn der „Weg zu Freiheit und Würde“ konnte „nur der […] der Demokratie sein“, unabhängig davon, „welche Form auch immer sie in ihrer 78 Troeltsch: Demokratie, S. 211. 79 Ebd., S. 218, 212 und 215. 80 Troeltsch: Spectator-­Briefe, S. 586 (November 1922). 81 Reinhart Koselleck u. a.: Art. Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Brunner/Conze/ Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, S. 141 – 431, hier S. 390. 82 Troeltsch: Bericht über Kulturfragen [1919], in: ders.: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie, S. 313 – 320, hier S. 313. 83 Troeltsch: Demokratie, S. 215. 84 Vgl. Troeltsch: Aristokratie [1919], in: ders.: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie, S. 270 – 283, hier S. 273.

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technischen Gestalt irgendwann einmal annehmen mag“.85 Dass die Demokratie zum einzig denkbaren politischen Horizont geworden war, bedeutete jedoch nicht, dass sie ebenso schnell die Zustimmung aller finden würde. Demokratietheoretisch sensibel bedachte er, dass „Zeit und Gewöhnung“ erforderlich waren, um Demokraten zu formen und „bis eine neue Rechtsordnung als legitim empfunden wird“.86 Diese Einsicht in die Fragilität der als Notwendigkeit und neue Normalität dargestellten Demokratie berührt schließlich auch die von Troeltsch als Konstante seines demokratischen Engagements bis zu seinem Tod 1923 betonte Vielgestaltigkeit und Vielschichtigkeit der Demokratie. Damit öffnete er die Demokratie für viel breitere Kreise über diejenigen hinaus, die sich von Anfang an zur Demokratie bekannten. Er wandte sich gegen das – oft zu seiner Aussage entstellte und damit falsch zitierte – Wort von der „Demokratie ohne Demokraten“, der „Republik ohne Republikaner“, gegen die polemische Behauptung, „die psychologischen Voraussetzungen wahrer und erfolgreicher Demokratie fehlten uns vollständig“. So viel Berechtigung die Kritik am Bestehenden im Einzelnen haben mochte, hatte doch „ein seit lange sich vorbereitendes Schicksal unabänderlich die Demokratisierung gebracht“. Darum galt es nun, mit dem demokratieskeptischen „Fatalismus zu brechen und ihm pädagogisch mit allen Mitteln entgegenzuwirken“. Es galt, die Demokratie als „politische Lebensform“ zu entdecken und sich zu eigen zu machen.87 Diesem Ziel widmeten sich Troeltschs Interventionen, seine Texte waren auch „pädagogische“ Handlungen im Debattenfeld der sich etablierenden Demokratie. Als „Lebensform“ war die Demokratie ein vielschichtiges Projekt, das über die Politik hinausreichte und auch auf moralischen und emotionalen Fundamenten beruhte. Troeltsch versah sie mit einem kulturellen Programm: Die Demokratie kann breite große Volkskreise zu ungeheurer Produktivität zusammenfassen, kann Liebe und Hoffnung an den gemeinsamen Staat begründen, die menschliche Würde und Persönlichkeit jedes Bürgers zu größerer Geltung bringen, Verantwortung und Initiative in die einzelnen Willen einpflanzen.

Den Übergang zur Demokratie erfasste er nicht nur als konstitutionelle, politische oder ökonomische Zäsur, er sprach von neuen „Lebensformen und -inhalten“. Folglich rief er sein Publikum auf zu „einer auch gefühlsmäßigen Entscheidung und Einsetzung für die Republik“.88 85 Troeltsch: Demokratie, S. 216. 86 Troeltsch: Spectator-­Briefe, S. 585 (November 1922) und 463 (November 1921); vgl. etwa Ursula Büttner: Weimar. Die überforderte Republik 1918 – 1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Stuttgart 2008, S. 507; Nicola Fuchs-­Schündeln/ Matthias Schündeln: On the endogeneity of political preferences. Evidence from individual experience with democracy, in: Science 347 (2015), Nr. 6226, S. 1145 – 1148. 87 Troeltsch: Aristokratie, S. 273. 88 Troeltsch: Demokratie, S. 218; ders.: Spectator-­Briefe, S. 584.

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In dieser Absicht umwarb der bürgerliche Intellektuelle und Politiker Troeltsch vor allem das Bürgertum für die Demokratie. Eine soziale Demokratie war nicht gleichbedeutend mit einer sozialdemokratisch dominierten Demokratie, betonte er, um gleichwohl zunehmend die stabilisierende Rolle der Sozialdemokratie, aber auch der Zentrumspartei in der deutschen Demokratie als vorbildlich anzuerkennen.89 Zu seinem für das Bürgertum attraktiven rhetorischen Arsenal gehörte auch Troeltschs feste Überzeugung, dass die Demokratie Ordnung stiftete. Sie war „keineswegs das Ergebnis der Revolution“, sondern „vielmehr in der Hauptsache das Gegengift gegen die Revolution.“ In den „Berliner Briefen“ argumentierte er: „Nur auf dem Boden der Republik, nicht gegen die Republik ist Ordnung möglich.“ Nur in ihrem Zeichen ließen sich die „Ordnungskräfte“ sammeln, nur die Demokratie garantierte das Überleben des Staates in der Inflationskrise.90 Das Ordnungsargument korrespondierte seinem „Ideal einer konservativen Demokratie“. Gegen eine vorherrschende oder als dominant beklagte linke Lesart der Demokratie setzte er die „Möglichkeit einer konservativen Demokratie“,91 die sich aber keineswegs im Ordnungsgedanken erschöpfte, sondern vielmehr auf die Anerkennung kultureller Pluralität zielte, der von progressiven Kräften mit egalisierendem Elan Gewalt angetan wurde. Der Historist und der Denker eines universalen Wertfundaments, der engagierte Demokrat und der bürgerliche Intellektuelle Troeltsch fanden auf diesem Terrain zusammen. Auch wenn er keinen politischen Horizont jenseits der Demokratie mehr erkennen konnte, reflektierte er selbstkritisch die Grenzen auch des Neuen, denn das ist das Wesen der geschichtlichen Wandlungen: nicht ein immer höher steigender Fortschritt, sondern ein Wechsel von Lebensformen und -inhalten, deren jede ihren eigenen Geist und ihre eigenen Gebrechen hat.92

In diesem kritischen Gründungsmoment der modernen Demokratie hielt er Räume demokratischen Handelns offen, die sich immer wieder zu schließen drohten.93 Er erinnerte eine politische Elite, die sich mit der Versöhnung der Attribute „demokratisch“ und „konservativ“ immer wieder schwertat, daran, dass es „sehr wohl eine konservative Demokratie“ gab, die einen „gründlich bourgeoisen und historisch-­geheiligten Charakter“ tragen konnte. Das 89 Vgl. Troeltsch: Demokratie, S. 219; ders.: Spectator-­Briefe, S. 447 (Oktober 1921), 474 (Dezember 1921) und 561 (August 1922). 90 Troeltsch: Aristokratie, S. 270; ders.: Spectator-­Briefe, S. 567 und 561 (August 1922). 91 Troeltsch: Demokratie, S. 224 und 222. 92 Ebd., S. 218. 93 Vgl. etwa Thomas Mergel: Das Scheitern des deutschen Tory-­Konservatismus. Die Umformung der DNVP zu einer rechtsradikalen Partei 1928 – 1932, in: HZ 276 (2003), S. 323 – 368; Philipp Nielsen: Verantwortung und Kompromiss. Die Deutschnationalen auf der Suche nach einer konservativen Demokratie, in: Müller/Tooze: Normalität und Fragilität, S. 294 – 314; Barry A. Jackisch: The Pan-­German League and Radical Nationalist Politics in Interwar Germany, 1918 – 39. Farnham 2012.

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britische und vor allem das amerikanische Verständnis der Demokratie schienen ihm dafür zu stehen und den geforderten Respekt vor den „Individualitäten in der Geschichte“ an den Tag zu legen.94 Die konservative Demokratie in Amerika war „ohne jedes verewigte Revolutionsdogma“. Demokratie stand in dieser konservativen Lesart, für die Troeltsch in der öffentlichen Debatte stritt, sowohl für eine „Idee der Gemeinschaft und Einheit“ als auch für eine „Idee der persönlichen Würde und Verantwortung“.95 Der für Troeltsch ähnlich wie für Bryce so anziehende „tiefe moralische Charakter der Demokratie“ schimmerte in diesen Leitideen hindurch. Die Demokratie konnte auf dieser Grundlage historisch evolutionär voranschreiten, mit Achtung gegenüber traditionellen Rollen und Gewohnheiten. Troeltsch warb eindringlich für eine bürgerliche, „konservative und die Religion erhaltende Demokratie“.96 Das Fundament der Demokratie, auch und gerade das der von Troeltsch befürworteten konservativen Demokratie, waren „Menschenrechte und Menschenwürde“, wie es auch die Berliner Rede über „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“ aufzeigte. Auf der Anerkennung dieser Werte gründete, ungeachtet der existentiellen Krisen jener Zeit, auch die langfristige „Fortdauer demokratischer Verfassungs- und Regierungskunst“. Die institutionelle Gestalt der Demokratie, die Regelungen der Verfassung konnten immer wieder verändert und neuen Situationen angepasst werden – die Weimarer Reichsverfassung war für Troeltsch so wenig wie für die meisten Zeitgenossen für die Ewigkeit gedacht –, aber wer für Menschenrechte und Menschenwürde eintrat, musste „die Republik innerlich bejahen. Nicht die gegenwärtige Verfassung in ihren Einzelheiten, aber die demokratische Republik als Grundsatz“.97

IV. Ernst Troeltsch war der intellektuell interessanteste und vermutlich auch, gemessen an der Aufmerksamkeit, die ihm im Ausland geschenkt wurde, international angesehenste Demokratiedenker der jungen Republik. Aber er war kein singulärer Fall. Seine Demokratievorstellungen, so sehr sie sein individuelles Profil und seine gedankliche Originalität erkennen lassen, wiesen typische Züge auf und fanden ihr Echo in zahlreichen anderen Stimmen der politischen Debatte in Deutschland. Dazu gehörten auch führende, aber nicht dem Bildungsbürgertum entstammende Politiker wie der sozialdemokratische Reichs 94 95 96 97

Troeltsch: Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, S. 495 f. Troeltsch: Demokratie, S. 221. Troeltsch: Spectator-­Briefe, S. 587 (November 1922) und 561 (August 1922). Ebd., S. 587 und 585 (November 1922); vgl. ders.: Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, S. 500 f., 506 und 510; sowie etwa Eberhard Kolb: in: Heinrich August Winkler (Hrsg.): Die deutsche Staatskrise 1930 – 1933. Handlungsspielräume und Alternativen. München 1992, S. 49 und 285 f.; ders.: Umbrüche deutscher Geschichte. 1866/71 – 1918/19 – 1929/33. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Dieter Langewiesche/Klaus Schönhoven. München 1993.

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kanzler Gustav Bauer. Seine „Programmrede“ zur Demokratie vom 23. Juli 1919 etwa muss man zwar in der Lektüre analytisch ordnen, aber dabei kommt eine komplex und konsistent gedachte Demokratie zum Vorschein.98 Die Annahme der Unabänderlichkeit und Endgültigkeit der Demokratie prägte auch Bauers transnationalen politischen Horizont: „Wir nehmen diesen Ruf von jenseits der Grenzen auf, wir sind einig im Glauben an die Unbesiegbarkeit der Demokratie, die nicht nur die Gleichheit zwischen den Volksgenossen, sondern auch die Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit zwischen den Völkern, den Völkerbund erschaffen muss.“ Er verstand die deutsche Demokratiegründung als Teil einer europäischen Entwicklung.99 Diese Vorstellungen von Demokratie wiesen vier Aspekte auf: Erstens Demokratie in ihrer parlamentarischen Repräsentation als Ausdruck der Volkssouveränität und Selbstherrschaft des Volkes, wie gleichzeitig auch Bauers Innenminister Eduard David erklärte: Der Wille des Volkes ist fortan das oberste Gesetz […]. Die Bahn ist frei für jede gesetzlich-­ friedliche Entwicklung. Das ist der Hauptwert einer echten Demokratie.100

Bauer verteidigte auch die zentrale Rolle der Parteien im Prozess der politischen Willensbildung,101 bekämpfte den „Antiparlamentarismus“ 102 und vertrat einen konstruktiven Begriff von parlamentarischer Opposition.103 Die politische Gleichheit der Bürger war durch die Demokratie erreicht, und besonderen Wert legte die Regierung auf die politische Gleichberechtigung der Frauen als Staatsbürgerinnen. Die bekannte Aussage: „Nirgends in der Welt ist die Demokratie konsequenter durchgeführt als in der neuen deutschen Verfassung“ versah Innenminister David mit drei Begründungen: dem Hinweis auf das Wahlrecht, auf die Möglichkeit zu Volksentscheiden und darauf, „daß die Frauen in Deutschland die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung errungen haben. (Bravo!) Die deutsche Republik ist fortan die demokratischste Demokratie der Welt.“ 104 In der internationalen Wahrnehmung jener Zeit stach dieser Aspekt der deutschen Demokratie hervor. „Germany will have the honor of being the first Republic founded on the true principles of democracy, universal equal suffrage for all men and women“, hieß es 1919 in der Zeitschrift der internationalen 98 Vgl. Müller: Nach dem Ersten Weltkrieg, S. 74 – 113; ders.: Gustav Bauer (1870 – 1944) und seine Zeitgenossen. Demokratische Visionen, in: Peter Brandt/Detlef Lehnert (Hrsg.): Sozialdemokratische Regierungschefs in Deutschland und Österreich. 1918 – 1983. Bonn 2017, S. 97 – 125. 99 Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte, Bd. 328, 64. Sitzung, 23. Juli 1919. Berlin 1920, S. 1843 – 1852. Daraus auch nicht einzeln nachgewiesene Zitate im Folgenden. 100 Verhandlungen, Bd. 329, 71. Sitzung, 31. Juli 1919, S. 2194. 101 Verhandlungen, Bd. 328, 68. Sitzung, 28. Juli 1919, S. 2018. 102 Verhandlungen, Bd. 331, 136. Sitzung, 14. Januar 1920, S. 4203. 103 Verhandlungen, Bd. 330, 95. Sitzung, 10. Oktober 1919, S. 3005. 104 Verhandlungen, Bd. 329, 71. Sitzung, 31. Juli 1919, S. 2194.

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Frauenwahlrechtsbewegung, und ein prominenter deutscher Jurist erläuterte einem englischsprachigen Publikum einige Jahre später noch die „generally sympathetic feministic tendency on the part of the Weimar Constitution.“ 105 Zweitens betonte Bauer die Demokratie als Lebensweise, die politische Kultur der Demokratie. Der „Geist“ der Demokratie fand seinen Ausdruck auch im Bekenntnis zur internationalen Zusammenarbeit. Die Aufnahme in den Völkerbund, einschließlich des damit verbundenen Verzichts der Staaten „auf einen Teil ihrer Souveränität“, galt der Regierung Bauer als „das höchste Ziel“ der Außenpolitik. Innen- und Außenpolitik waren dabei wie in der intellektuellen Debatte bei Troeltsch miteinander verzahnt: „Wir brauchen die völkerbündliche Gesinnung auch unter uns Volksgenossen.“ Völkerbund und Volksgemeinschaft – oder „deutsche Schicksalsgemeinschaft“ 106 – bildeten die nationale und die internationale Form der Demokratie. Gemäßigter Nationalismus und internationale Kooperation schlossen sich nicht gegenseitig aus, sondern gingen Hand in Hand. Auch eine Multitemporalität der Demokratiegeschichte kannte der frühere Gewerkschaftsfunktionär Bauer: die große demokratische Tradition der Revolution von 1848 als Vorgeschichte, in deren Kontinuität sich die Regierung stellte, die Gegenwart der Ausbreitung der Demokratie auf alle Lebensbereiche und ihrer Fundierung durch Bildung, die Demokratie als unumkehrbare Zukunft.107 Drittens spielten der demokratische Staat und die Demokratisierung der Verwaltung eine wichtige Rolle in diesen Demokratievorstellungen. Demokratie und Staat gehörten dabei zusammen, und Staat bedeutete auch politisches Handeln der Bürger. Es handelte sich nicht um einen etatistisch oder paternalistisch verengten Staatsbegriff. Aber der Verfassungsstaat war nur dann mehr als ein institutionelles Gefüge, wenn er sich Handlungsgrundlagen verschaffte, die in der Gesellschaft auch Wirkung zeigten; Bauer zufolge die Hoheit über Verkehrswesen, Energieversorgung und Steueraufkommen. Die Steuerverwaltung war neu geschaffen worden, und eine große Steuerreform kündigte Bauer an. Nicht nur Haushaltsdeckung, sondern auch Umverteilung war das erklärte Ziel dieser Reform. Das ganze System der Besteuerung sollte „bewusst und planvoll auf das Ziel eines Vermögensausgleichs“ hinwirken. Viertens schließlich beschrieb Bauer in Einklang mit diesem Ziel das Projekt einer sozialen und wirtschaftspolitisch aktiven Demokratie. Innenminister David warnte entsprechend davor, „die politische Demokratie“ gegen die „wirtschaftliche Demokratie“ auszuspielen – beide seien in der Verfassung „verankert“, der Verfassung einer sozialen Demokratie. Das deutsche Volk ist das erste Volk, das diesen Gedanken, diese Wegweisung zum sozialen Frieden in seine Grundrechte aufgenommen hat.

105 Ius Suffragii: International Woman Suffrage News 13/4 (Januar 1919), S. 1; Herbert Kraus: The Crisis of German Democracy. Princeton 1932, S. 138. 106 Verhandlungen, Bd. 327, 40. Sitzung, 22. Juni 1919, S. 1115; Bd. 329, 71. Sitzung, 31. Juli 1919, S. 2193. 107 Vgl. auch Verhandlungen, Bd. 328, 68. Sitzung, 28. Juli 1919, S. 2017.

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Es hatte hierfür kein Vorbild. Es ist seine eigenste Leistung und es ist eine Leistung besten deutschen Geistes, des Geistes von Weimar, der in der Geistes- und Kulturgeschichte der Welt ein so hohes Ansehen sich errungen hat.108

Zwar nahm im Verlauf der 1920er-­Jahre die Literatur zu, die von der Krise der Demokratie sprach, doch hat die Forschung erschlossen, dass Krise in den zeitgenössischen Auseinandersetzungen auch Offenheit, Chancen, die ersehnte Erfüllung von Erwartungen bedeuten konnte.109 Die Rede von der Krise wurde auch in den Nachbarländern nicht als Vorzeichen des Untergangs, sondern vielmehr als zukunftsweisend wahrgenommen.110 Auch hierbei handelte es sich, wie bei der früheren „optimistischen“ Demokratiediskussion, um ein internationales Phänomen. Krisenrhetorik und Krisenreflexion waren in den späten zwanziger und den dreißiger Jahren weit verbreitet.111 Zugleich, was als Bestätigung der Lesart dienen kann, wonach die Krise auch als Möglichkeit gedeutet wurde, stand die internationale Politik von Mitte der zwanziger bis in die dreißiger Jahre hinein für Initiativen der Kooperation, die auch 1931/32 nicht abbrachen.112 Während Troeltsch bis zu seinem Tod 1923 ein europäisches Pendant zur Washingtoner Konferenz erwartet hatte, das auch die Verhältnisse auf dem Kontinent auf eine stabilere Grundlage als die Pariser Vorortverträge stellen würde, erfüllte 1929 Winston Churchill genau diese Entwicklung in Europa mit erkennbarem Optimismus: „a threefold pact of mutual security“ war im Oktober 1925 in Locarno geschlossen worden. „The histories may be searched for a parallel for such an undertaking.“ Die Friedensordnung, die in Versailles noch eine von Konflikten überlagerte Vision gewesen war, wurde damit zur Realität:

108 Verhandlungen, Bd. 329, 71. Sitzung, 31. Juli 1919, S. 2194. 109 Vgl. etwa Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hrsg.): Die Krise der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt a. M. 2005; Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918 – 1933. München 2008; sowie bereits Koselleck: Art. Krise, in: Brunner/Conze/Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, S. 617 – 650. 110 Vgl. etwa Gaby Sonnabend: Pierre Viénot (1897 – 1944). Ein Intellektueller in der Politik. München 2005, S. 216 f. 111 Vgl. etwa für Großbritannien John Carey: The Intellectuals and the Masses. Pride and Prejudice Among the Literary Intelligentsia, 1880 – 1939. London 1992; Richard Overy: The Morbid Age. Britain between the Wars. London 2009; Pugh: „Hurrah for the Blackshirts!“; Daniel Ritschel: The Politics of Planning. The Debate on Economic Planning in Britain in the 1930s. Oxford 1997; Philip Williamson: National Crisis and National Government. British Politics, the Economy and Empire, 1926 – 1932. Cambridge 1992; als zeitgenössische Beispiele Leonard Woolf/Lord Eustace Perry: Can Democracy Survive?, in: Mary Adams (Hrsg.): The Modern State. London 1933, S. 15 – 162; Harold J. Laski: Democracy in Crisis [1933]. Chapel Hill 1935. 112 Vgl. zuletzt etwa Fischer: A Vision of Europe.

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It had been throughout conceived in harmonious accord with the Covenant of the League of Nations […]. Thus was achieved the greatest measure of self-­preservation yet taken by Europeans.

Es war Troeltschs Gedanke, den Churchill zum Bild der „Zwillingspyramide“ ausbaute: The Treaty of Locarno may be regarded as the Old World counterpart of the Treaty of Washington between the United States, Great Britain and Japan, which in 1921 had regulated and insured the peace of the Pacific. These two august instruments give assurance to civilization. They are the twin pyramids of peace rising solid and unshakable on either side of the Atlantic, commanding the allegiance of the leading nations of the world and of all their fleets and armies. They form the granite cores around which the wider conception of the League of Nations and the idealism of the Kellogg Pact can rear the more spacious and more unified structures of the future.

Ohne die Fragilität dieser neuen Ordnung aus den Augen zu verlieren, erklärte er 1929, since Locarno, Hope rests on a surer foundation. […] in this blessed interval the great nations may take their forward steps to world organization with the conviction that the difficulties they have yet to master will not be greater than those they have already overcome.113

Das Ende der Demokratie, wie nicht nur dieses Szenario Churchills zeigt, wurde auch in der beginnenden Existenzkrise der Demokratie selten erwartet. Die Krisenerscheinungen innerhalb der „Weltdemokratie“ wurden wechselseitig beobachtet und führten vielfach zum Umbau von Institutionen und Verfassungsordnungen.114 Die größte Sorge bereitete wie seit Anfang dieses ersten Zeitalters globaler Demokratievorstellungen die ökonomische Ungleichheit, die Ungleichzeitigkeit von verwirklichter politischer und erst in Ansätzen erreichter sozialer Demokratie. In den Worten des britischen Pluralismustheoretikers und Labour-­Politikers Harold Laski konnte die Krise der Demokratie nur auf einem Wege überwunden werden:

113 Winston S. Churchill: The World Crisis, Bd. 4: The Aftermath. London 1929, S. 458 f. 114 Vgl. etwa Marcus Llanque: Die Diktatur im Horizont der Demokratieidee. Zur verfassungspolitischen Debatte der Zwischenkriegszeit, in: Christoph Gusy (Hrsg.): Demokratie in der Krise. Europa in der Zwischenkriegszeit. Baden-­Baden 2006, S. 52 – 85; Pugh: „Hurrah for the Blackshirts!“, S. 316 – 319; Katznelson: Fear Itself, S. 29 – 57; Jussi Kurunmäki: „Nordic Democracy“ in 1935. On the Finnish and Swedish Rhetoric of Democracy, in: ders.: Strang, Rhetorics of Nordic Democracy, S. 37 – 82.

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Representative democracy, at this stage, is, briefly put, asked to solve the problem by paralleling the political equality it achieved with a similar economic equality.115

Ungeachtet des offenkundig verbreiteten Bewusstseins für die Fragilität der noch jungen demokratischen Ordnung überwog die Überzeugung, dass die Demokratie, schon aus strukturellen Gründen, als die der modernen Gesellschaft und Wirtschaft entsprechende politische Organisationsform, nicht zu überwinden war. So nahm der Ökonom und Zentrumspolitiker Ferdinand Aloys Hermens, ein Schüler Joseph Schumpeters und später ein Vertrauter Heinrich Brünings, die „augenblickliche Bedrohtheit der deutschen Demokratie“ durch Wahlerfolge von Extremisten wahr, merkte aber an: „Eine ernsthafte Gefahr für die deutsche Demokratie dürfte trotzdem nicht gegeben sein“. Denn auf dem Tiefpunkt der Krise begründete er 1931 die globale „Unausweichlichkeit der Demokratie“ mit einem Argument, das auf Deutungsmuster späterer Jahrzehnte vorauswies: Überall da, wo der moderne Kapitalismus seine volle wirtschaftliche und soziale Ausprägung gefunden hat, [ist] eine andere Staatsform als die Demokratie mit ihm auf die Dauer nicht verträglich.116

Kurz darauf brach dieses internationale Denken, das vom Ideal einer globalen und sozialen Demokratie unter stabilen ökonomischen Bedingungen durchzogen war, vorübergehend ab, um in unterschiedlichen Gestalten das internationale System und das Zeitalter der Demokratien nach 1945 zu prägen.

115 Harold J. Laski: The Present Position of Representative Democracy, in: American Political Science Review 26 (1932), S. 629 – 641, hier S. 640. 116 Hermens: Demokratie und Kapitalismus, S. v f. (Vorwort).

From October to November. The Reception(s) of 1917 – 1918 by Russian Thinkers Ilya Dementev

On the 11th of November in 1918, a Russian symbolist poet Alexander Blok (1880 – 1921) wrote in his diary, “Revolution in Germany is total…”1 That is all he was able to say about the events in Germany. Due to the lack of information it seemed to him that in Germany, as had been predicted by Marxists and just like Russia one year earlier, the revolutionary transformation of reality had begun. The very word “total” reflected the reception of those events based on the faith but not on the knowledge: the data from Germany was fragmentary and inexact. However, it is one of only few evidences of interest in the events in Germany from the side of Russian intellectuals. There are not too many available sources covering this time in Russia. During November 1918, the economic as well as political situation was not favourable for publishing houses: a number of newspapers were closed by the Bolsheviks, electricity was often unavailable for publishers. Besides, many diaries and letters of intellectuals were lost during the Civil War that followed; some authors were afraid to express their thoughts even in private documents because it seemed to them that it was too dangerous during the Bolsheviks’ political regime. So, studying the reception of the German November revolution is too complicated nowadays for two reasons. First of all, intellectuals had no precise information, in fact their awareness was limited by reading legal newspapers, and secondly the scholars today face a lack of sources. Therefore, reconstructing the reception of the November revolution by Russian thinkers is a complicated task. I shall do it in the context of imposing comparison between the two revolutions, the Russian October and the German November. The comparison of two months, the Russian October and the German November, was already common in 1918. In Soviet historiography, Iakov Drabkin (1918 – 2015) named his chapter in the collective monograph on German history Russian October and German November. The creation of the Weimar Republic.2 However, Western historiography also often chose Russian October 1917 as a “reference point”. Dietrich Orlow writes the following about it:

1 Александр Блок: Записные книжки. 1901 – 1920. Москва 1965, p. 435. The translation into English is mine everywhere except in special cases. 2 Яков Драбкин: Русский Октябрь и германский Ноябрь. Создание Веймарской республики, in: Германская история в Новое и Новейшее время. Москва 1970, t 2, pp. 5 – 60.

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Bolshevik Revolution of October 1917 (and perhaps the Chinese Communist Revolution of 1949) becomes not the ideal-­typical model, but an actual historical standard which determines whether other upheavals “failed” or “succeeded.” Most, of course, “fail” under this standard; the Glorious Revolution, the American Revolution, the Chinese Revolution of 1912 no less than the German Revolution of 1918.3

The comparative approach, which was established in subsequent historiography, was characteristic of the direct perception of the revolutionary events in Germany by Russian intellectuals. A Russian writer, Mikhail Prishvin (1873 – 1954), whose respect to Bolsheviks was doubtful, wrote in his diary on the 22nd November, 1918, “Political conversations […] Will be there a destructive revolution in Germany?”4 Such a comparison was obvious for observers at that time. However, Russian thinkers were occupied mainly by the happenings in Russia at the time. Writers noted everyday problems in their works. The November revolution hasn’t become a special case for Russian literature – just some scenes in the 1924 novel Cities and Years by the future famous Soviet writer Konstantin Fedin (1892 – 1977), who lived in Germany during the Great War and left the country in September 1918, on the eve of the German Revolution. Thus, Russian literature was so absorbed by the Russian revolution that the events in Germany were poorly reflected upon. And yet the revolution in Germany could not remain completely unnoticed by Russian intellectuals who had just experienced their own revolution.

Hopes for the “Bolshevization” of Germany First of all, there was a political context of the reception by intellectuals. The official position was expressed by the chairman of the Soviet government Vladimir Lenin (1870 – 1924). According to his Marxist theoretical views, he considered the November revolution as a step towards a World revolution. It seemed to him that this revolution would be inevitable, considering the German revolutionary and socialist traditions. There is no doubt that the events in Germany were in the centre of Lenin’s reflexion, he perceived the murder of Karl Liebknecht and Rosa Luxemburg acutely. Karl Radek, who travelled to Germany in December 1918 to assist the revolution, could not immediately get to Berlin because the official Soviet delegation was not allowed to cross the border. Presenting himself as an Austrian prisoner of war, Radek was granted entry into Berlin. There he saw that the revolution was not following the scenario that was expected in Moscow.5 Later he wrote that Lenin was more sober in his assessment of 3 Dietrich Orlow: 1918/19: A German Revolution, in: German Studies Review, vol. 5 (1982), No. 2, p. 188. 4 Михаил Пришвин: Дневники. 1918 – 1919, Санкт-­Петербург 2008, p. 261. 5 Cf. Warren Lerner: Karl Radek. The Last Internationalist. Stanford 1970, pp. 77 – 84.

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events in Germany.6 Radek, like many Bolsheviks, believed that Russian loneliness was over. Lenin supposed that Germany would help the countries of the Entente in their fight against the Russian revolution. But in Lenin’s texts of that time it is difficult to find evidence of his wisdom. When Lenin had compared two revolutions, he proceeded from the fact that the October revolution in Russia had drastically influenced the revolutionary movement in Germany. In particular, he saw signs of the future German revolution in the summer and autumn of 1918, evidenced by his speech at a mass meeting in Moscow on the 23rd of August that year: […] We were waiting [in March, 1918] for a revolution in Germany, but it was not ripe yet. This is happening now, the revolution is definitely underway and is inevitable. But only a fool can ask when the revolution will take place in the West. The revolution […] cannot be predicted […] And it is growing and should flare up.7

On the 3rd of October, 1918 Lenin predicted: The crisis in Germany has just begun. It will inevitably end in the transfer of political power into the hands of the German proletariat. The Russian proletariat is following the events with the greatest attention and enthusiasm.8

On the 22nd of October he concluded that the “people’s revolution and, perhaps, the proletarian revolution in Germany is inevitable[…] [N]ow the time is approaching when the German revolution breaks out with such force and organization that it will solve hundreds of international issues”.9 It was obvious for Lenin that the contradictions and tensions of the Great War should be solved in a form of the proletarian revolution in 1918 due to the high level of class consciousness amongst the German working class. There is little evidence of his immediate reaction to the November events in Germany, but on the 21st of January in 1919, he wrote to workers of Europe and America: The revolution in Germany […] immediately assumed “Soviet” forms. The whole course of development of the German revolution, and especially the struggle of the Spartacists, the true and sole representatives of the proletariat, against the coalition of the treacherous scums, scheidemanns and südekums, with the bourgeoisie, – all this cleary shows how the question

6 Cf. Jean-­François Fayet: Karl Radek (1885 – 1939). Biographie politique. Frankfurt a. M. etc. 2004, p. 261; Дитрих Мёллер: ‘Скептический революционер. Карл Радек и Германия’, in: Россия и Германия в ХХ веке, ed. К. Айермахер/Г. Бордюгов/А. Фольперт. Москва 2010, t. 2, pp. 203. 7 Владимир Ленин: Полное собрание сочинений. Москва 1969, vol. 37, pp. 69 – 70. 8 Ibid., p. 97. 9 Ibid., pp. 113, 122.

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is posed by history in relation to Germany: “Soviet power” or the bourgeois parliament […] Such is the world-­historical formulation of the question.10

So, for Lenin those events acquired universal significance. This attitude determined the official point of view of the Soviet authorities as well as the framework for the interpretation of the November revolution in Soviet historiography until the 1980s.11 The direct reaction of the Bolsheviks may be reconstructed on the basis of the mass media reports of that time. This typical report described events in such a way: In Germany, there is a revolution. The government of Wilhelm is overthrown […] The new government is composed of representatives of the Social Democratic Worker’s Party and the Party of Independent Socialists. In mid-­January, elections are scheduled for the German National Constituent Assembly.12

The Bolsheviks had no sympathy for Social Democracy leaders such as Philipp Scheidemann or Gustav Adolf Bauer. For instance, the magazine “Krasnaya Zvezda” (published by the news-­agency ROSTA under the guidance of the All-­Russian Central Executive Committee) called them “contemporary Judas”.13 On the 12th of November 1918, the newspaper “Vitebsky Listok” in Vitebsk (now in Belarus) had the following reaction: “Vitebsk is very sensitive to the revolutionary events in Germany.”14 A big political meeting was organized in the city. A number of speakers spoke on the significance of the German revolution for Soviet Russia and the world proletariat. The journalist mentions citizens who tried to instil doubts towards the credibility of rumours 10 Ibid., pp. 456 – 457. By “the treacherous scums” Lenin meant such Socialist leaders as Philipp Heinrich Scheidemann and Albert Südekum. 11 Cf. Яков Драбкин: Ноябрьская революция в Германии. Москва 1967; Исаак Минц: ‘Советская Россия и Ноябрьская революция в Германии’, in: Вопросы истории, 1974, No. 11, pp. 3 – 22. Soviet historians ascertained that the November Revolution took place under the obvious influence of the October Revolution in Russia, but acknowledged the poor knowledge of these subjects in Russian historiography in 1954 as well as in 2016 despite the fact that since the 1990s, ideological restrictions for covering this topic have lost their force. Cf.: Ю. И. Авдеев: Возникновение и развитие Веймарской республики (thesis, Москва, Московский государственный университет им. М. В. Ломоносова, 1954), p. 1; К. Н. Цимбаев: Историография Ноябрьской революции 1918 года в Германии, in: Новая и новейшая история, 2016, No. 3, pp. 128 – 129. Iakov Drabkin summarized the achievements of Soviet historians and tried to outline the outlines of future research in his monograph “Problems and legends in the historiography of the German Revolution, 1918 – 1919”: Яков Драбкин: Проблемы и легенды в историографии Германской революции, 1918 – 1919. Москва 1990. 12 Общее дело: November 30, 1918, No. 21, p. 20. The article mentions the Social Democratic Party of Germany and the Independent Social Democratic Party of Germany. 13 Красная звезда: October 19/27, 1918, No. 1, p. 6. 14 Витебский листок: November 12 (October 30), 1918, No. 1034, p. 1.

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considering the revolution, but this provocation failed. In four days the “Vitebsky Listok” published a translation of an American article about the prognosis made by the astrologer Allen – according to him, the dynasty of the Hohenzollerns was doomed to fall in November, 1918.15 So, there was an amazing coincidence of conclusions between Marxist dogma and the “respectable” American astrologer. Bolshevik newspapers also highlighted the growth in influence of “German Bolsheviks”, the Spartacus League. The weekly journal “Armed People” commented on this growth, pointing out that the bourgeoisie “is losing ground”.16 This climate is also well reflected in the cartoon “Karl Liebknecht wakes Scheidemann” (fig. 1): Why are you still sleeping, Scheidemann? Liebknecht is already on the threshold. […] Proletariat of all the countries is uprising in December […]17

Another cartoon (fig. 2) showed the Anglo-­French robber, in the dialectic manner, as a part of that force which, always willing evil, always produces good.18 The following text commented on the image: Allies are still our allies. When the German proletariat, after the robbery arranged by the Anglo-­French robber, has nothing left, then […] he will have to become a Bolshevik.19

The German Social Democracy degradation is represented in the last cartoon as well: British and Americans talk about Scheidemann who served them at the table (fig. 3).20 Probably, the majority of Bolshevik leaders were convinced that the proletarian revolution was on the horizon. They saw the situation in Germany as the ‘dual régime’ similar to the Russian one since February 1917, so they classified the November revolution as a “German February”. Soviet diplomat Adolph Joffe (1883 – 1927) wrote in December 1918: In Germany, the compromise strategy is held only by direct deception. The German proletariat does not believe that the time has yet come to create a proletarian dictatorship, but do believe that they are already carrying it out and in this they are strengthened by the false leaders who are in power. This deception cannot last for long […] The German proletariat for the Витебский листок: November 16 (3), 1918, No. 1038, p. 2. Вооруженный народ: December 8, 1918, No. 1, p. 7. Ibid., back cover. („[…] ein Teil von jener Kraft / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft”). Johann Wolfgang von Goethe, Faust I & II, trans. Stuart Atkins. Princeton/Oxford 2014, p. 36. 19 Вооруженный народ: December 15, 1918, No. 2, cover. In the original, there is a wordplay in which the two meanings of the Russian word ‘останется’ are used. 20 Вооруженный народ: December 15, 1918, No. 2, back cover. 15 16 17 18

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Fig. 2: Avel. “Allies” are still our allies. Published in: Вооруженный народ, December 15, 1918, No. 2, cover.

Fig. 1: Nik. Abolin. Prophetic dream. Published in: Вооруженный народ, ­December 8, 1918, No. 1, back cover.

Fig. 3: Alekseev. Winners. Published in: Вооруженный народ, December 15, 1918, No. 2, back cover.

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most part is apparently no longer following Haase and Scheidemann, but Liebknecht […] Mobilization of bourgeois forces and […] bourgeois onslaught on the revolutionary proletariat only contribute to this process of Germany’s “Bolshevization”, and there is no doubt that the German “October” is very close 21.

Yet in the beginning of 1919, Joffe wrote about “temporary defeats” of Spartacists: In the difficult struggle waged by the revolutionary German proletariat, and which it still has to face, it was most definitely revealed that it was the Spartacus League that was supposed to take over, despite its temporary defeats and the brutal murder of its leaders […] The Spartacus League will firmly carry the revolutionary banner forward and carry it to the end.22

However, such expectations were not justified: the German working class did not follow the radical Left. The Bolsheviks had made a mistake – the revolutionary potential of Germans was not as high as they had hoped. As Isaac Deutscher says, even when they [the German workers] exhibited sympathy for the Russian Revolution, they were in no mood to embark upon the road of revolution and civil war at home and in process to sacrifice the standards of living, the personal security, the reforms they had already attained, and those which they hoped to attain.23

Even in January 1919, after the murder of Karl Liebknecht and Rosa Luxemburg, Vladimir Lenin and Leon Trotsky (1879 – 1940) were not able to admit that the revolution in Germany was developing according to another plan. Later, however, Soviet historians and historians in the GDR tried to prove that Lenin understood that the revolution in Germany would not be proletarian. For example, Arnold Reisberg wrote that Lenin had seen difficulties for the victory of the proletariat in Germany. There were experienced masses there, but the bourgeoisie was organized as well; the influence of the Social Democrats was also an obstacle.24 It seems that the texts by Lenin provide little basis for a conclusion of this kind. In the spring and summer of 1919, the Bolsheviks realized that Germany would not repeat the Russian October. In August 1919, Leon Trotsky wrote: “In Germany, after the first period of the storm […] the communist movement was driven inside and maybe for a long time.”25 His thoughts were now occupied by Asia and revolution in the countries of the colonial world. Karl Radek, imprisoned in Berlin, was disappointed as well. Warren Lerner, 21 Известия: December 17, 1918, No. 276. 22 А[дольф] Иоффе: ‘Германский пролетариат накануне революции’, in: Вестник жизни, 1919, No. 5, p. 34. 23 Isaac Deutscher: The Prophet Armed. Trotsky: 1879 – 1921. London etc. 1954, p. 449. 24 Arnold Reisberg: Lenins Beziehungen zur deutschen Arbeiterbewegung. Berlin  1970, pp. 329 – 333. 25 The Trotsky papers. 1917 – 1922, ed. Jan M. Meijer. London etc. 1964, p. 626.

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in his brilliant intellectual biography, shows how Radek changed his opinion concerning the perspectives of the revolution. In December 1918 he – unsuccessfully – tried to warn the members of the Spartacus League in their suicidal battle against the German regime.26 In autumn 1919, he wrote to the Second congress of the Communist party of Germany: The world revolution is a very long process during which there will be more than one setback. Yes, I have no doubt that in each land the proletariat will establish its dictatorship several times, and will see it collapse; but finally it will be victorious.27

The leftist Russian poets also exaggerated the inspiration of the German workers by the Russian example. Vladimir Mayakovsky (1893 – 1930) wrote in January 1919 about the uprising in Berlin: “the three-­storey ghost from the Russian side steps through Europe,”28 (a transparent reference to the Communist Manifesto). Mayakovsky wrote that after Germany it was the turn of Belgium, France, England, and America – during one week for the whole world.29 Nevertheless, this did not happen. An understanding of the close connection between the fates of the Russian revolution and the German one was also demonstrated in January 1919 by Maxim Gorky (1868 – 1936). In his letter to Vladimir Lenin, he expressed support for the idea of “personal dictatorship” of the leader of the Russian revolution: “I am sure that only this can save the Russian revolution as well as the German revolution, because if we do not feed the Germans, they will lose the game.”30 It is riveting that by “feeding the Germans” Gorky understood not only direct material aid, but also intellectual assistance to the German proletariat. In another letter to Lenin (also mid-­January 1919), Gorky mentions lists of works of world literature that were to be published in Soviet Russia during the difficult times of the Civil War. He proposes that these lists be translated into foreign languages ​​and sent to the “proletarians of the West,” including Germany, so that “various Scheidemanns see first-­hand that the Russian proletariat is not a barbarian, but understands internationalism much more than they do […].”31 Thus, the Soviet left intelligentsia directly linked the Russian and German revolutions in the context of the world revolution, which seemed inevitable to many of them after November 1918. The opinions of non-­Bolshevik socialist leaders were surprisingly similar. On the 14th of November 1918 the Central committee of the Menshevik party adopted a resolution about the revolution in Germany, stating that the power was now in the hands of the working 26 Warren Lerner: op. cit., p. 82 f. 27 Quoted by Lerner (his translation into English, Radek’s italic). Ibid., p. 88. 28 A poem “Astonishing facts”. Владимир Маяковский: Полное собрание сочинений. Москва 1956, t. 2, p 25. 29 Ibid., p. 26. 30 Letter written between January 11 and 16, 1919. Максим Горький: Полное собрание сочинений. Письма (Письма. Январь 1916 – май 1919). Москва 2006, t. 12, p. 213. 31 Ibid., p. 214.

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class and the German revolution would help the Russians overcome the isolation and threats from the British-­American imperialism.32 The very naive conviction that power in Germany already belonged to the proletariat was salient until the beginning of 1919. In December, the Mensheviks were still trying to support the German proletariat’s aspiration for political power on the basis of democracy and social reforms.33 The newspaper of another group, the Russian Social Democrats (Internationalists), “Proletariy” was still being published when the right and liberal newspapers were already forbidden. Their interpretation of the November events was typical for the Russian left: the fall of German imperialism happened; the revolution began, and on the ruins of the old system, the contours of the new proletarian system emerged; socialist traitors entered into an alliance with the bourgeoisie, but the proletarian revolution cannot be stopped – “The collapse of German imperialism is the beginning of the end of world imperialism.”34 Despite all the differences between the Russian leftists, at the end of 1918 they all imagined the situation in Germany in a similar fashion, in the perspective of the world revolution. Gradually, as it was mentioned earlier, many realized that the Germans in 1918 – 1919 did not have their October revolution, but their February revolution. According to some reports, Lenin spoke about this already on November 11th, 1918, but this understanding did not change the general expectations of the world revolution. And later revolutionary movements invariably brought this scheme to life: from February to October. So, for example, Soviet authors expressed hope for the success of the Hamburg communist uprising of October 23 – 25, 1923. Larissa Reissner (1895 – 1926) wrote in her journalism about the events in Schiffbek, a center of the uprising in and around Hamburg. There, two experienced communists, a husband and his wife (however, divorced), stood together on the barricades – “as before – in the days of the Spartacus uprising and the Kapp putsch.”35 The failure of the revolution in 1918 was explained in Soviet journalism as well as in Soviet historiography: the treachery of the workers by the “Mensheviks” (Social Democrats).36 32 Меньшевики в большевистской России. 1918 – 1924  / Меньшевики в 1918 году. ed. З. Галили/А. Ненароков. Москва 1999, p. 663 f. 33 Ibid., pp. 676, 690, 696, 700. 34 Пролетарий: December 7, 1918, No. 3 – 4, p. 17. 35 Лариса Рейснер: Гамбург на баррикадах [1923, published in 1924], in: Избранное. Москва 1965, p. 209. 36 Ibid., p. 229 f. With all her sarcasm, Larissa Reissner describes the attempts of the Social Democrats to celebrate the “gloomy anniversary” of the revolution in Berlin on November 9, 1923. Cf.: Лариса Рейснер: Берлин в октябре 1923 года [1924, published in 1925], in: Избранное. Москва 1965), pp. 248 – 252. About the Soviet plans to support the revolution in Germany in 1923, see here: David R. Stone: The Prospect of War? Lev Trotskii, the Soviet Army, and the German Revolution in 1923, in: The International History Review, Vol. 25 (2003), No. 4, pp. 799 – 817, especially pp. 813 – 815. Leonid Luks shows how the Bolsheviks interpreted the revolutionary crisis of Autumn 1923 as “German ‘October’”. Cf.: Leonid Luks: Entstehung der kommunistischen Faschismustheorie. Die Auseinandersetzung der Komintern mit Faschismus und Nationalsozialismus 1921 – 1935. Stuttgart 1985.

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By the mid- 1920s, the leftist intellectuals in Soviet Russia continued to count on the success of the German revolutionary proletariat, although these hopes gained some restraint against the background of the constant failures of the German communists. Some of them later interpreted the November Revolution as a German “February” or, on the contrary, a failed German “October”. For example, in his memoirs published for the first time in 1930, Victor Serge (1890 – 1947) wrote about the “defeat of the proletarian revolution” in Germany in January 1919.37 However, German November never became October.

Fear of the “terrible massacre” The reception of the German experience by Russian intellectuals oriented against Soviet power was, as expected, careful. The prognosis by Mikhail Gershenzon (1869 – 1925), which was made before the November events, was optimistic: he supposed that the Revolution in Germany, a country of high culture, would be not so destructive. But news since November made him change his vision. Gershenzon began to fear a “terrible massacre” in Germany similar to that which had taken place in Russia.38 Russian liberal historian Pavel Vinogradov (1854 – 1925) also expressed alarmist sentiments. In his article “Russia at the Crossroads” (1919), he demonstrates his fear of the world revolution that the Bolsheviks promised: Everywhere one can see the terrible image of Caliban, who is ready to destroy public order and civilization. German radicals have chosen Spartacus, a rebel slave, as a symbol of their movement.39

In another article, Vinogradov represented the “Spartacus” group as a model of the universal revolutionary movement: Everywhere we see the acute form of the “Spartacist” uprising of the working classes against their more educated and wealthy leaders: in Russia, the consequences caused by poor bureaucratic management have become especially threatening, because there the gap between classes and masses is deeper and the numerical superiority of the latter is more significant.40

37 “La défaite de la révolution prolétarienne en Allemagne”. Victor Serge: L’an I de la révolution russe [1930]. Paris 1965, p. 470. 38 The conversation on the November 23, 1918 is quoted by Prishvin. Михаил Пришвин, op. cit., p. 262. 39 Павел Виноградов: Россия на распутье: Историко-­публицистические статьи. Москва 2008, p. 425. Vinogradov emigrated to England before 1917, that is why probably he describes the events in Shakespeare’s terms. 40 Ibid., p. 454.

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But Vinogradov refused to see “a manifestation of the Russian character” in Bolshevik despotism. He analyzed the Russian revolution in a broader context, comparing it with other events in the history of social struggle, and came to the conclusion that common sense will triumph sooner or later: the “Spartacus” mass movement will calm down. However, several anti-­Soviet intellectuals usually explained the German revolution as a direct result of Bolshevik activity. Thus, the writer Leonid Andreyev (1871 – 1919) wrote in February 1919, “After eighteen months of Bolshevik rule in Russia, and the performance of their fellow travellers in Germany and other countries, only a madman cannot be aware what kind of evil and destruction these savages of Europe represent – the antithesis of her culture, laws and morals”.41 The Bolsheviks in this interpretation appeared as double traitors: first they betrayed Russia when they colluded with the Kaiser, and then they betrayed the Kaiser when they organized the German Revolution 42. The poet and religious thinker Zinaida Gippius (1869 – 1945) wrote in her diary in the end of 1919: The Bolsheviks again began their “world revolution” […] This is the very meaning and indispensable condition of their existence […] Germany has already suffered and carries its punishment.43

Prince Evgeny Trubetskoy (1863 – 1920), an important figure in the history of the Russian religious philosophy, responded to the events in Germany and Austria-­Hungary in his article The Great Revolution and the Crisis of Patriotism. He, as well as other thinkers, compared processes in Germany and Russia. For him, the German experience was helpful in understanding the Russian destiny better: The events of the German revolution shed an unexpectedly bright light on what is happening here in Russia. The fact that until now many things seemed to be exclusively Russian, now they turn out to be common, global ones.44

41 Леонид Андреев: Собрание сочинений. Москва 2012, t. 6, p. 639. 42 Ibid., p. 660. 43 Зинаида Гиппиус: ‘Черная книжка’, in: Под созвездием топора. Петроград 1917 года – знакомый и незнакомый. Москва 1991, p. 381. 44 Евгений Трубецкой: Великая революция и кризис патриотизма, Ростов на Дону 1919, p. 3. The text is reproduced in this collection of works: Евгений Трубецкой: Смысл жизни. Москва 1994, pp. 397 – 400. In another work, Trubetskoy emphasizes the “universal mass madness” on the example of Germany’s “suicidal measures”: Germany “sowed Bolshevism in Russia and now it is reaping the fruits of this crop in an internecine war against Spartacists who receive money from Moscow”. Евгений Трубецкой: Звериное царство и грядущее возрождение России, S. l., 1919, p. 5.

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Here one can see a sudden echo of Lenin’s vision. For Trubetskoy, the German revolution was a case to revise the significance and the sense of the Russian revolution, to realize the universality of the revolutionary process. He saw the similarity between both revolutions. Moreover, the causes of the revolution (“absolutism degeneration”, “lack of patriotism”), that earlier seemed specifically Russian ones, now, after 1918, can be understood as universal. Besides, Trubetskoy formulated a deeper cause of the takeover, and it was not only the war, as he understood that Bolshevism itself is a child of militarism. The revolutionary crisis inspired the separatist movements in both empires: Ukraine, Finland, Don region in Russia and southern lands in Germany: all of them were afraid that the “Bolshevik project” – it doesn’t matter if from Moscow or from Berlin – would be implemented.45 So, the real cause is a “new temptation” when “at the critical moment, people traded their homeland for class benefits,”46 and international war became class war: In general, the main cause of the crisis of patriotism, both in our country and in Germany, is the same. When love for the Motherland is poisoned by self-­interest, when the fatherland becomes a scam, it says nothing to either the heart or the sense of duty: since it ceases to be sacred, it is completely permissible to exchange it for another, more profitable scam.47

As Olga Zhukova argues, the apocalyptic perspective that Trubetskoy attributed to the world revolutionary process flowed from the combination of his personal experience of life during the revolution and his peculiar philosophy of history.48 Strictly speaking, this combination is characteristic for many Russian religious thinkers who survived at least one revolution. However, it is striking that for both Marxist and Orthodox Christian philosophers the German revolutionary experience became a long-­awaited evidence of the universality of history. Both positive and negative assessments converged in the understanding that Russia is not isolated in world history. In addition, it is possible that it was easier to cope with the trauma caused by the experience of the revolution in Russia if an eschatological explanation was found for the events that took place, that is, to give the trauma not a personal explanation, but one that was universal.

45 46 47 48

Ibid., p. 5. Ibid., p. 8. Ibid., p. 11. Ольга Жукова: Е. Н. Трубецкой как философ истории: о смысле русской революции, in: Вопросы философии, 2017, No. 11, pp. 105 – 106.

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Penser la Révolution allemande The German revolutionary experience was rethought by Russian thinkers again later, in the 1920 – 1930s, when new trends in the political development of Russia as well as Germany became evident. Russian intellectuals abroad revised the consequences of the November revolution. First of all, those consequences were mixed in their reception with the consequences of the Great War. Nikolai Berdyaev (1874 – 1948), a prominent Russian philosopher, fixed his impressions from Berlin in 1922: “Germany was very unhappy then. Berlin was full of disabled people of the war […]Germans said: Deutschland ist verloren”49. Russian authors sometimes analysed the defeat of the “Bolshevik” revolution in Germany. This fact had already become obvious in 1919. Piotr Struve (1870 – 1944) in his Reflections on the Russian Revolution, concentrated on the “Bolshevik attempts” of revolution in Europe – all of which were defeated. Why was this the case? Struve explained it highlighting the Western social structure and a cultural level completely incompatible with Bolshevism.50 His thesis paradoxically both supported and challenged Lenin’s idea concerning the consciousness and organization skills of the German proletariat. The former “legal Marxist” Struve enters into controversy with observers who, like Gershenzon, expected that Germany will be covered by a “terrible massacre”. Among the first intellectuals who thought about the German experience was an emigrant from the right wing of Social Revolutionary Party, Vadim Rudnev (1879 – 1940). He published his review on Heinrich Ströbel’s book The German Revolution and After. Rudnev showed the key difference between October and November: Both revolutions are products of a conflict that has become unbearable and hated by the people. But while the German revolution began after the conclusion of the war, Russian revolutionary power eroded due to the irreconcilable contradiction of forcing revolutionaries, the very same people who had revolted to end warfare, to continue fighting the [First World] war. No less important is the second point: the presence in the German revolution of an organized body, united by many years of discipline in the working class, politically educated in the principles of democracy, and ready to actively defend them. The leaders of the March revolution of 1917 [in Russia] could not have such firm support among the masses. The thin layer of socialist intelligentsia only seemed to be headed by a treacherous element, ready to betray its leaders any minute. Is this not the primary source of the sad lack of consistency and perseverance, which is marked by the death stamp of the activities of the Russian revolutionary parties in 1917?51 49 Николай Бердяев: Самопознание [1939 – 1940]. Москва 1990, p. 246. 50 Петр Струве: Избранные труды. Москва 2010, p. 435. 51 В. Р. [Руднев В. В.], [review:] ‘Штребель Г. Германская революция, ее несчастие и ее спасение / Пер. с нем. [Н. Щупак]. Прага 1921’, in: Современные записки, 1921 (7), p. 416.

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He also wrote the following: On our Russian scale, the “misfortune” of the German revolution is very relative. With honour, the German people came out of the dangers and temptations of the great revolutionary crisis, under the weight of which the Russian people had been broken. Destroyed in war, bound by the chains of the sinister Versailles Treaty, the German people nevertheless managed to repel the attempts of monarchists on the right and the Spartacists on the left and create in the ruins of a military empire the most advanced democracy in Europe with great achievements and even broader future prospects for social reform.52

Here one can see how Rudnev reproduced the arguments of Lenin – his emphasis on the consciousness and organization skills of the German proletariat, but at the same time he expressed the traditional reformist illusion of the social democrats who saw political democracy combined with social policy in Germany sustainable. Semyon Frank (1877 – 1950), a famous Russian philosopher, wrote as well as Rudnev about the “common fate” of Russia and Germany: And then the German revolution unexpectedly broke out, and many immediately, albeit vaguely, felt that – despite all the differences in the external and internal political situation of Russia and Germany – they were beaten by a common fate, that when world war ends a time of great upheaval begins.53

Finally, Ivan Bunin (1870 – 1953), in his speech in 1924 in Paris, insisted that external forces stopped Bolshevism and revolution in Germany. “The world”, “Europe” (i. e. the UK and the USA) crushed Bolshevism in Germany and Hungary. Bunin blamed “the world” for not wanting to interfere in Russian affairs.54 Due to this, the idea of the “common fate” and some kind of an inferiority complex marked the vision of non-­Soviet intellectuals – both left and right. Their estimates differed, their expectations were in opposition to one another, yet they recognized the events in Germany as the manifestation of the idea of a universal history, universal political and cultural processes, and the common destiny of mankind. This approach was not explored well because the German revolution had been perceived by the Russian thinkers as unimportant for the understanding of history. The events in Russia in the 1920s and 1930s were much more significant in their perception. So, this understanding stayed provincial, limited by the national framework.

52 Ibid., p. 412. 53 Семен Франк: Сочинения. Москва 1990, с. 135. The passage from the book “Crash of idols” published in 1924. 54 Иван Бунин: Полное собрание сочинений. Москва 2006, t. 10, p. 189.

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In the beginning of the 1930s, the image of the consequences of the German revolution has got a new outline. It transformed in the context of the crisis of the Weimar democracy. Firstly, however, Russian emigrant observers demonstrated their short-­sightedness. Fyodor Stepun (Steppuhn, 1884 – 1965) in his “Letters from Germany” (1932) writes as follows: In Germany, the revolution was already there and, thank God, it did not reach the unpredictable level of uncontrollability (bezuderzhye) as seen in Russia. The task of Germany is not to deepen the revolution, but to creatively master the revolutionary gains.55

For Stepun, the German revolution was not radical but nevertheless an attempt to change German reality. Let’s take into account the word “creative” which concerns Weimar politics. Stepun characterizes the course of events as following: […] a German official who saved the greatness of the German people by disrupting the greatness of the German revolution; the first significant appeal of the Social-­Democrat Ebert to the German people and the fact that it was heard by a revolutionary mob are all phenomena of the same manner, filled with the same Kantian spirit of restriction, duty and moderation.56

Later he wrote about Ebert: “He neither became a Catholic nor a bourgeois democrat, but found a common language with Catholics and with democrats.”57 This apology of Ebert was for Stepun a means to compensate the feeling of the failure of the Liberal or at least Social Democratic alternative for the bolshevization and, later, stalinization of Russia. In this respect the German experience became important in order to revise the evaluations of the “Russian restraint”. In both countries Stepun saw similar circumstances – the weakness of the democratic institutions, political speculations in the conditions of the devastation after the Great War. However, the rational answers given by Ebert to the challenges of that time were a temporary solution. In the beginning of the 1930s, Germany began to forget the democratic experience. Not all Russian emigrants perceived the Weimar system as the alternative to the Soviet system, the “creative exploration of the revolutionary gains.” It was also criticized from the right and from the left. The right wing of the Russian emigration considered the Bolshevik Russia and Weimar Germany as phenomena of the same or, at least, similar nature. It was Ivan Ilyin (1883 – 1954) who expressed this idea more precisely than others. In May 1933, he negatively evaluated the “bolshevization” of Germany and interpreted the coming to power of the National Socialists as an exit from the “democratic impasse” which was a

55 Федор Степун: Сочинения. Москва 2000, p. 909. 56 Ibid., p. 326. 57 Ibid., p. 387.

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consequence of the German revolution.58 For him, this new spirit stopped civil war on “all of the crossroads”59 in Germany. The role of Russian emigrants in Weimar Germany is also very curious: The whole world did not see and did not know how deeply the Bolshevik poison penetrated into Germany […] Only three groups saw and knew this; Comintern 60, which organized all this infection; we, Russian foreigners, settled in Germany; and the leaders of German National Socialism.61

Obviously, the events of 1930s and 1940s made such a position of Russian emigrants like Ilyin a marginal one. The last examples of public expression of such opinions date back to the end of the Second World War. So, for example, the editor of the newspaper “Narodny golos” (“The people’s voice”)62 Iakov Smirnov (in German, Jakob Smirnow) published the article Spirit and Matter on the 9th of November in 1944. The newspaper was close to the ROA (Russian Liberation Army) of Andrei Vlasov, and its publications reflected the senseless attempts of Russian emigrants who joined the losing side to formulate an attitude towards national socialism and Bolshevism. Smirnov calls the 9th of November “the day of the greatest upheavals and of courageous brave struggle.” According to him, in 1918, the enemies of Germany “by false and unfulfilled promises led the German people to lay down their arms, not having suffered defeat at the front.” The country was plunged into chaos by the fault of the capitalists and the Marxists 63. “So, in the hour of the hardest test of the German people in Germany, the National Socialist movement was born.”64 In the autumn of 1944, when the Red Army was approaching East Prussia, such argumentation obviously bore the imprint of a lack of prospects. The right current of Russian thought, which supported the National Socialists, was doomed to fail together with the regime, which explicitly opposed itself to the Weimar democracy. A special role in the philosophy of Russian emigration was played by Eurasianism, which in the late 1920s – early 1930s became close in a number of positions with the ideologists of 58 Иван Ильин: ‘Национал-­социализм. I. Новый дух’, in: И. А. Ильин: pro et contra, Санкт-­ Петербург 2004, p. 480. 59 Ibid., p. 481. 60 The Communist (or the Third) International existed in 1919 – 1943. 61 Ibid., p. 479. 62 This newspaper was published in Königsberg in October 1944–January 1945. 63 In this rapprochement of “Marxists” and “capitalists”, it is easy to discern the construction of the specter of “Judeo-­Bolsheviks”, traditional for German national socialists and their supporters of Russian origin. The roots of this approach can be found even before the First World War. Cf. Brian E. Crim: “Our Most Serious Enemy”: The Specter of Judeo-­Bolshevism in the German Military Community, 1914 – 1923, in: Central European History, Vol. 44, No. 4 (Dec. 2011), pp. 624 – 641. 64 Я. Смирнов: Дух и материя, in: Народный голос [ежедневная информационно-политическая газета], [Königsberg i. Pr.], 1944, November 9, No. 15, p. 1.

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the German “conservative revolution”. The commonality and differences in the positions of these two groups have been studied in detail 65. However, there is no reason to assume the specific interest of Eurasians in the problems of the November Revolution. – Therefore, Eurasianism will remain outside the scope of this review. Another line of criticism towards the Weimar democracy was from the leftist side. In 1932, Leon Trotsky came back to the events of 1918 – 1919 in Germany. His criticism concerned the German communists whose respect to the united revolutionary front was ironic. Sober analysis of the German revolution shows that the left had no other options in Germany. Such unlearned lessons became a new threat on the eve of the Nazis’ coming to power. Trotsky demanded the new struggle for the proletarian revolution on the basis of the unity of revolutionary forces, and on the basis of compromise (‘soglashatelstvo’) with Social Democrats and a wide front of the resistance to Nazis.66 History demonstrated that these expectations of Trotsky were not realistic as well. However, he supposed that the role of Germany was exclusively important. For Trotsky, Stalin’s international policy and the mistakes of the German Communists were obvious reasons for the rise of National Socialism. Nevertheless, he continued to believe in the future proletarian revolution.

Conclusion The analysis of the reception – or better to say receptions – of the German revolution by Russian thinkers is a complicated task. The direct reception of the revolutionary events depended on the political attitudes of intellectuals. Authors on the left – who were close to Bolsheviks or who were in the opposition to them – expected the new stage of the world revolution and the revolutionary role of the German working class. Their disappointment 65 Леонид Люкс: Евразийство и консервативная революция, in: Вопросы философии, 1996, No. 3, pp. 57 – 69; Leonid Luks: ‚Eurasier‘ und ‚Konservative Revolution‘. Zur antiwestlichen Versuchung in Rußland und Deutschland, in: Gerd Koenen/Lew Kopelew (eds.), Deutschland und die Russische Revolution. München 1998, pp. 219 – 239; Мартин Байссвенгер: ‘Консервативная революция’ в Германии и движение ‘Евразийцев’ – точки соприкосновения, in: А. Ю. Минаков (eds.): Консерватизм в России и мире, Воронеж: Воронежский государственный университет, 2004), t. 3, pp. 23 – 40; Stefan Wiederkehr: “Conservative Revolution” à la russe? An Interpretation of Classic Eurasianism in a European Context, in: Journal of Modern European History, Vol. 15 (2017), (1), pp. 72 – 84. For some time, the conservative criticism of the Weimar Democracy was shared by Nikolai Berdyaev. Cf. Леонид Люкс: Соблазны утопизма: споры мыслителей “первой“ русской эмиграции о причинах и последствиях тоталитарных революций ХХ века (книжное приложение к журналу “Форум новейшей восточноевропейской истории и культуры“, t. 2). Eichstätt 2015, pp. 38 – 40. 66 Лев Троцкий: Немецкая революция и сталинская бюрократия. Berlin 1932, especially chapter VIII.

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was very strong: the January events in 1919 showed that the German scenario would not replicate the Russian one. The enemies of Bolsheviks saw the process in the same way but were afraid that the “Russian troubled time without restraint” would cover Germany. This similar vision of the nature of revolution, despite the existence of different evaluations, is a very distinctive fact in the history of Russian thought. Later, when Weimar democracy began to strengthen, Russian emigrant authors started to change their attitudes. Mainly, they perceived the design of a democratic system as a refusal of German people to follow the Russian revolution.67 They emphasize the similar features but also the important differences between October and November. Many of them supported the idea that Germans were able to avoid the excesses à la Russe. But in the beginning of the 1930s, the consequences of the German revolution were rethought in a new way. Ivan Ilyin belonged to the right wing of emigration and he saw the threat of Bolshevik revolution in Germany inspired by Stalin’s Soviet Union. So, for him to deconstruct the Weimar system was the only way to avoid this threat. The left wing, like Trotsky, predicted the permanent revolution on the basis of the coalition of the left forces as the only way to avoid the Nazi triumph. It was obvious for both wings that the Weimar democratic system, this child of the German revolution, was not relevant to current challenges. In this context, the liberal voice was not loud enough, naively assuming that the “high culture” of Germany would prevent revolution/radicalization. Today it is clear that Russian thought remained very radical, very concentrated specifically Russian affairs. This observation is valid not only for Russian intellectuals in Russia, but even for those who had emigrated, for instance in “Russian Berlin”. For many of them, during the post-­revolutionary years, it was typical to concentrate on themselves to be busy with their own experience.68 In this sense, Russian thought perhaps did not adequatly realize the significance of the German revolution. As I argued above, an important characteristic of the reception of the German Revolution in Russia is the universalist vision of this event in perspective, either apocalyptic (for religious thinkers) or world-­revolutionary (for Marxists). At the same time, the lack of “rationalizing” reflection in Russia is noteworthy. As an alternative one could suggest, for example, the view of Max Weber (1864 – 1920), who was a contemporary of both revolutions. As early as November 1918, Weber felt that the revolution in Germany only led to further bureaucratization of the state machine (this observation was confirmed by the experience of socialism after the Russian revolution, which was also analysed by Weber): 67 By the way, the German communists themselves seemed to understand the differences between the situations in Russia in 1917 and in Germany in 1918 – 1919: each of them was unique in its own way, and the German revolutionaries were not prepared to simply reproduce the Leninist model of revolution. See about it: Gerhard P. Bassler: The Communist Movement in the German Revolution, 1918 – 1919: A Problem of Historical Typology?, in: Central European History, Vol. 6 (1973), No. 3, pp. 274 – 275. 68 See about it here: Fritz Mierau: Wind vom Kaukasus. Die Russen in Berlin. Begegnungen und Entfremdungen, in: Gerd Koenen/Lew Kopelew (eds.): Deutschland und die Russische Revolution. München 1998, pp. 646 – 675.

From October to November

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Denn es zeigte sich, dass die bürokratische Maschinerie nach der Natur ihrer ideellen und materiellen Triebkräfte und angesichts der Natur des heutigen Wirtschaftslebens, welches durch sein Versagen ja zur Katastrophe geführt würde, gegebenenfalls bereit ist, unbesehen jedem zu dienen, der sich im physischen Besitz der nötigen Gewaltmittel befindet und den Beamten den Fortbesitz ihrer Ämter gewährt.69

On the basis of Weber’s approach, it is possible to come to the understanding that the revolutions were not revolutions in the full sense of the word, but rather the next stage in the bureaucratization of social reality. Most Russian thinkers still interpreted the revolution differently. However, among them were insights regarding the de facto non-­revolutionary nature of the recent revolutions: Mikhail Prishvin tried to overcome the trivial comparison between October and November, though he came from the same point of view of the universal significance of these events. He wrote in his diary on the 1st of December in 1918: “The Russian and German revolutions are not revolutions, it is a fall, a defeat, a misfortune; after some time revolution will come, that is the creation of a new social and state life.”70 Unfortunately, this insight – due to various circumstances – was not developed by Prishvin in a sociological way. It was very difficult to rise above the everyday understanding of the revolution and to see its creative nature in the future as a renewal of public and state order in the conditions of 1918 as well as in its aftermath. The reception of the German revolution by Russians is an eloquent example of how it is difficult for intellectuals, even very sensitive ones, to avoid their own involvement in everyday worries when interpreting the events in another country. The author is grateful to Andrei A. Ilyin (Moscow), Alexey A. Davidenko and Iakov G. Shepel (Kaliningrad) for their help in completing this article. Besides, I would like to thank Jack Butler for his diligent proofreading of this paper.

69 Max Weber: Deutschlands künftige Staatsform [1918], in: Max Weber: Gesammelte politische Schriften. Tübingen 1971, p. 451. 70 Михаил Пришвин: op. cit., p. 263.

Lange vorbereitet und kein Grund zur ­Aufregung – das Frauenwahlrecht Hedwig Richter

Um die Jahrhundertwende galt der Ausschluss der Frauen aus der Politik weithin als selbstverständlich. Als die Frauen in Massachusetts im Jahr 1895 gefragt wurden, ob sie das Kommunalwahlrecht wollten, stimmten von den 575.000 weiblichen Wahlberechtigten nur 22.204 dem Ansinnen zu. Lediglich vier Prozent der stimmberechtigten Frauen wünschten sich also das Wahlrecht, die anderen – 861 an der Zahl – votierten entweder dagegen oder gingen erst gar nicht zur Abstimmung. Die Männer lehnten mit großer Mehrheit das Frauenwahlrecht ab.1 Dass dann zwanzig Jahre später das Frauenwahlrecht in den USA sogar auf Bundesebene eingeführt wurde: Hatte daran nicht offensichtlich der Krieg einen wesentlichen Anteil, weil Frauen sich in der Heimatfront bewährt hatten? Und in einem Land wie Deutschland: Spielte da nicht zusammen mit dem Krieg die Revolution die entscheidende Rolle? Hatte also Clara Zetkin recht, die erklärte, das Frauenwahlrecht sei „ein Geschenk einer Revolution, die von proletarischen Massen getragen wurde“?2 Tatsächlich kam in Deutschland das Frauenwahlrecht direkt mit der Revolution, und zurecht haben Historikerinnen wie Ingrid Sharp darauf hingewiesen, dass in der Revolution von 1918/19 auch Frauen beteiligt waren und für ihre Rechte kämpften.3 Am 12. November 1918 beschloss der Rat der Volksbeauftragten im Deutschen Reich das Frauenwahlrecht.4 Das erregte weltweit Aufsehen. Über die Bedeutung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts in Deutschland hieß es in der internationalen Zeitschrift für das Frauenwahlrecht „Ius Suffragii“:



1 Flugblatt „The Vote of Massachusetts on Municipal Suffrage for Women at the State Election, November 5, 1895“, Massachusetts Association Opposed to the Further Extension of Suffrage to Women. URL : https://archive.org/details/voteofmassachuse00unse, letzter Zugriff am 24. 8. 2019; Lyman Abbott: Why Women Do Not Wish the Suffrage, in: The Atlantic, September 1903. 2 Vgl. den Überblick in Angelika Schaser: Zur Einführung des Frauenwahlrechts vor 90 Jahren am 12. November 1918, in: Feministische Studien 1 (2009), S. 97 – 110. 3 Ingrid Sharp/Matthew Stibbe: „In diesen Tagen kamen wir nicht von der Straße…“. Frauen in der deutschen Revolution von 1918/19‘, in: Ariadne Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 73 – 74 (2018), S. 32 – 39. 4 Schaser (wie Anm. 2), S. 97.

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This is undoubtedly far the most sweeping victory ever won by our cause […]. Germany will have the honor of being the first Republic founded on the true principles of democracy, universal equal suffrage for all men and women.5

Nach Deutschland führten in den Jahren 1918/19 zahlreiche weitere Länder, darunter die USA, Polen oder Luxemburg, ein allgemeines und gleiches Wahlrecht ein. Insgesamt erhielten von 1917 bis 1920 die Frauen in rund 17 Staaten die Wahlberechtigung. War nicht überall der Krieg der Vater des Frauenwahlrechts? Doch vermutlich lässt sich auch das Frauenwahlrecht nicht monokausal erklären. Immer wieder hat die Forschung – etwa Carole Pateman, Angelika Schaser, Birgitta Bader-­ Zaar oder Kerstin Wolff – darauf hingewiesen, dass die Ursachen komplexer waren und dass viele Faktoren zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts beitrugen. Die neuere Forschung betont vor allem, wie wichtig die Frauenbewegung für die politische Ermächtigung der weiblichen Hälfte der Bevölkerung war.6 Tatsächlich ist die Komplexitätsmahnung schon deshalb einleuchtend, weil sich Geschlechterverhältnisse in aller Regel als erstaunlich resilient erweisen und oft gerade in Umbruchzeiten als Anker für eine verunsicherte Gesellschaft dienen.7 Nachdem weder die Französische Revolution, noch 1848, noch alle weiteren Revolutionen im Laufe der Jahre bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts die Geschlechterordnung in ihren Grundfesten erschüttern konnten, sondern eher im Gegenteil sie noch verfestigten oder verschlechterten (wie beim Code Civil 1804 oder der deutschen Vereinsgesetzgebung nach 1848), wäre es erstaunlich, wenn eine Revolution mit einem Mal den Frauen zugutegekommen wäre, ohne dass weitere Faktoren eine entscheidende Rolle gespielt hätten. Meine These orientiert sich an dieser neueren Forschung und erweitert den Rahmen: Die Einführung des Frauenwahlrechts war nicht zuletzt das Ergebnis umfassender und struktureller Veränderungen, die sich um 1900 weltweit beobachten ließen und intensiv durch gesellschaftliche Reformen vorangetrieben wurden. Zwei Zusammenhänge, in denen die Neuerungen stehen, sind besonders wichtig: Zum einen wurden die Reformen wesentlich durch Frauen und dabei nicht selten durch feministische Frauenbewegungen befördert. Zum andern lassen sich die Reformen nur im internationalen, womöglich im globalen Rahmen verstehen. Schon die parallele Einführung des Frauenwahlrechts in vielen Ländern innerhalb weniger Jahre legt nahe, dass die rein nationalen Geschichten und Erklärungen eher zu kurz greifen. 5 1919, in: Ius Suffragii – International Woman Suffrage News 4 (1919), S. 1. 6 Vgl. dazu den Aufsatz mit großem Literaturüberblick von Kerstin Wolff: Noch einmal von vorn, in: Die Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa. Hrsg. von ders. und Hedwig Richter. Hamburg 2017, S. 35 – 55. 7 Gundula Loster-­Schneider/Sylvia Schraut: „Alles wegen einer Frau“. Zur Interaktion von Revolutionsbild und bürgerlichem Weiblichkeitsmythos im Film, in: Frauen und Revolution. Strategien weiblicher Emanzipation 1789 bis 1848. Hrsg. von Frauen & Geschichte Baden-­Württemberg. Tübingen 1998, S. 176 – 219, insbes. S. 188 – 191.

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Um der These nachzugehen, werde ich die Reformzeit anschauen und dabei eine weitere These prüfen: Die Veränderung eines Herrschaftssystems geht immer einher mit der Veränderung des Körperregimes.8 Denn Herrschaftsverhältnisse sind zutiefst in Körper eingeschrieben, worauf nicht zuletzt die Anthropologie hingewiesen hat.9 Insbesondere die Würde des Menschen lässt sich nicht von seinem Körper trennen, weswegen die Körpergeschichte für die Geschichte der Demokratie so außerordentlich wichtig ist. Beim Thema der Geschlechterordnungen, die sich historisch als bemerkenswert zählebig erweisen, empfiehlt sich ein Blick auf den Körper ohnehin. Die politische Ermächtigung der Frau war nicht einfach eine weitere Neuerung im großen politischen Umbruch nach Nachkriegszeit, sondern, was hier stattfand, lässt sich nicht hoch genug bemessen: Jene Hälfte der Menschheit erhielt das allgemeine und gleiche Wahlrecht, die seit Jahrhunderten rechtlich als minderwertig gegolten hatte. Für die Ermöglichung eines Ideals wie Gleichheit würde eine abstrakte Idee nicht ausreichen – das hatten all die Jahrhunderte zuvor gezeigt, in denen die Gleichheit der Menschen immer wieder gefordert wurde, aber eben keine politische Erfüllung finden konnte. Damit politische Gleichheit keine der vielen unerfüllten Utopien blieb, sondern in die Wirklichkeit eintauchen konnte, musste sie geradezu inkorporiert werden.10 Zunächst will ich also einen Blick auf die Reformen und die Frauenbewegung vor dem Weltkrieg werfen. Im Lichte dieser Aufbrüche um 1900 soll dann gezeigt werden, wie die ersten gleichen und allgemeinen Wahlen auf nationaler Ebene in Deutschland am 19. Januar 1919 umgesetzt und aufgenommen wurden.

Globale Reformbewegung Alles war im Aufbruch, alles änderte sich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Die Städte wuchsen und schmückten sich mit historistischen Rathäusern und eleganten Plätzen. In Berlin bauten sich die Bürger das Reichstagsgebäude. Alles war beherrscht von einem neuen „Kulturoptimismus“, wie Michael Salewski die Stimmung bezeichnet.11 Die Industrialisierung führte zu einem gewaltigen Wirtschaftswachstum und einer nie zuvor dagewesenen internationalen Vernetzung des Handels. Manche stiegen ins Automobil, andere riefen „Zurück zur Natur!“ Frauen probierten neue Freiheiten aus. Sie fanden Gefallen an bequemeren Badeanzügen, und viele bestiegen das Rad. Das Fahrrad habe mehr zur Emanzipation des weiblichen Geschlechts beigetragen als alles andere in der Welt, 8 Hedwig Richter: „Der mitleidige Mensch ist der beste Mensch“. Demokratie und die abwegige Idee der Gleichheit, in: Zeitschrift für Ideengeschichte (erscheint 2019). 9 Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft [1975]. Hrsg. von Irene Dölling/Beate Krais. Frankfurt a. M. 1997, S. 153 – 217. 10 Vgl. dazu Richter (wie Anm. 8). 11 Michael Salewski: ‚Neujahr 1900‘ – Die Säkularwende in zeitgenössischer Sicht, in: AKG 53/2 (1971), S. 335 – 381, hier S. 372.

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soll Susan B. Anthony gesagt haben. Und Elizabeth Cady Stanton erklärte: „Woman is riding to suffrage on the bicycle.“ Zu Tausenden zogen junge Frauen an die Universitäten. Vor dem Weltkrieg stellten sie allein in Preußen acht Prozent der Studierenden. Das Kaiserreich der Jahrhundertwende war ein anderes als zu seiner Gründung, es hatte sich mit Europa und der Welt ringsum verändert. Hier lebte eine – im zeithistorischen Kontext gesehen – freie Zivilgesellschaft, in der mehr oder weniger alle tun und lesen und lassen konnten, was sie wollten, und nur wenige mochten ins Gestern zurück, die meisten freuten sich auf das Morgen.12 Der Optimismus führte nicht zur Stagnation, sondern drängte die Menschen zu Reformen: Alles sollte noch besser werden. Die Reformen ähnelten sich in den Ländern des nordatlantischen Raums und oft darüber hinaus. Reformerinnen und Reformer hielten untereinander vielfach Kontakt und tauschten sich auf zahlreichen internationalen Konferenzen aus, auf denen es um Hygiene, Architektur, den Weltfrieden, das Rote Kreuz oder das Frauenstimmrecht ging.13 Es ist wichtig, die Reformbewegung in diesem internationalen Kontext zu verstehen. Diese Interpretation bietet eine Darstellung der Hochmoderne für Deutschland, die den wenig überzeugenden Zugang einer rein nationalen Geschichtsschreibung vermeidet – in einer Zeit, die als die erste Globalisierung gilt. Auch der Spannungsreichtum der Zeit wird im internationalen Rahmen noch klarer. Gerade die dunklen Seiten dieser Jahrzehnte – der exklusive Nationalismus, der Militarismus, der Antisemitismus und Rassismus sowie der genozidale Kolonialismus – waren nicht national beschränkte, sondern internationale, häufig globale Phänomene. „Die Epoche ist widersprüchlicher als jede andere“, so der Historiker Detlev Peukert. „Alles das, wovon wir heute noch zehren, ist damals gedacht und auch versucht worden, und zwar in kontroverser Form.“ 14 Die spezifischen Umstände der deutschen Geschichtsschreibung haben die Reformen und die Aufbrüche in dieser Zeit oft in die zweite Reihe geschoben – das Militär, die Außenpolitik, die Wirtschaftspolitik, der Kaiser und seine Mannen erschienen lange Zeit in der Geschichtsschreibung von vorzüglichem Interesse. Gewiss, es gibt zu den Reformen in dieser Zeit eine reiche Forschung, aber das Thema wird häufig noch in kuriosen Rand-

12 Jaime Schultz: The Physical is Political: Women’s Suffrage Pilgrim Hikes and the Public Sphere, in: Women, Sport, Society. Hrsg. Roberta J. Park/Patricia Vertinsky. New York 2011, S. 20 – 49, hier S. 33; Daniel T. Rodgers: Atlantiküberquerungen: die Politik der Sozialreform, 1870 – 1945. Stuttgart 2010. 13 Rodgers (wie Anm. 12), S. 19 – 131; Anja Schüler: Frauenbewegung und soziale Reform: Jane Addams und Alice Salomon im transatlantischen Dialog, 1889 – 1933. Stuttgart 2004. 14 Dokumentation: Die Jahrhundertwende – eine Epoche? Eine Diskussion zwischen Reinfried Hörl (SDR), August Nitschke, Detlev Peukert und Gerhard A. Ritter, in: August Nitschke u. a. (Hrsg.): Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880 – 1930, Bd. 1. Berlin 1995, S. 13 – 24, hier S. 19.

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gebieten der deutschen Geschichtswissenschaft abgehandelt.15 Das bewirkt eine gewisse Verzerrung des Blicks, depotenziert die demokratischen Kräfte, verdeckt die starke Zivilgesellschaft des Kaiserreichs – und es verhüllt den Aufbruch der Frauen. Ganz anders sieht die Darstellung der Reformzeit in der US-amerikanischen Historiographie aus. Dort werden die gleichen historischen Vorgänge um 1900 selten in einem Überblickswerk ausgespart, sondern sind fester Bestandteil der allgemeinen amerikanischen Geschichte.16 Die Zeit wird als Reformära bezeichnet oder als „Progressive Era“. Historiker schieben dabei die problematischen Seiten keineswegs beiseite: etwa die überbordende Korruption, in der die amerikanische Demokratie zu ersticken drohte, oder den mörderischen Rassismus.17 Typisch für diese Reformen war, dass die Würde des Menschen – gerade auch seine körperliche Würde – thematisiert und ins Zentrum gerückt wurde. Anhand von drei Feldern des Um- und Aufbruchs um 1900 will ich beispielhaft zeigen, wie sich neue Vorstellungen von Körper mit den strukturellen Veränderungen durchsetzen konnten – und wie sie den Boden bereiteten, auf dem ein Frauenwahlrecht zunächst einmal denkbar und dann schließlich durchsetzbar wurde. Dabei konzentriere ich mich auf den Arbeitsschutz, die Pädagogik und die Hygiene.

Arbeitsschutz Der Arbeitsschutz gehörte zu den von Feministinnen besonders intensiv bearbeiteten Feldern. Er hatte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – mit langen Phasen der Stagnation – zu einem staatlichen Aufgabenfeld entwickelt. Nach und nach war die Gewerbe- und Fabrikinspektion ausgebaut worden, wobei oft Frauen wie etwa die promovierte Sozialwissenschaftlerin und spätere Abgeordnete Marie Baum den Inspektionsberuf ausübten. Erst die Inspektionen sorgten für eine effektive Durchsetzung der Arbeitsschutzgesetze. Treibende Kräfte der Reform waren nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch das Bürgertum, und wie eigentlich immer bot das Vereinswesen die Plattform. Führende Intellektuelle, Beamte und Wirtschaftsbürger bildeten um 1900 Vereinigungen wie die Gesellschaft für 15 Einen Überblick über die jeweiligen Themen bieten etwa Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen. Wuppertal 1998; Angelika Schaser/ Helene Lange/Gertrud Bäumer: Eine politische Lebensgemeinschaft. Köln 2010. 16 Vgl. beispielsweise George Brown Tindall/David Emory Shi: America. A narrative history. New York 122010; Edwin Burrows/Mike Wallace: Gotham. A History of New York City. Oxford/New York 1999. 17 Ballard Campbell: Comparative Perspectives on the Gilded Age and Progressive Era, in: Journal of the Gilded Age and Progressive Era 1/2 (2002), S. 154 – 178; James J. Connolly: An Elusive Unity. Urban Democracy and Machine Politics in Industrializing America, Ithaca/ London 2010; Robert Harrison: Congress, Progressive Reform, and the New American State. Cambridge 2004.

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Soziale Reform oder den Verein für Socialpolitik und setzten sich für Arbeitsschutz und Sozialreformen ein. Aus der 1900 in Paris gegründeten Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz, in der sich unter anderen Werner Sombart und der preußische Beamte Hans Freiherr von Berlepsch engagierten, ging später die Internationale Arbeitsorganisation in Genf hervor. Die Reformbestrebungen blieben aber nicht auf die Zivilgesellschaft beschränkt. Zur Jahrhundertwende erfuhr unter dem bemerkenswerten Staatssekretär des Innern, Arthur von Posadowsky-­Wehner, die Sozialpolitik im Reich eine Blütezeit. Nachdem die „Zuchthausvorlage“ gescheitert war – ein letzter Versuch der Konservativen, den Sozialisten mit massiven Staatsrepressionen beizukommen – begann der preußische Beamte und schlesische Adlige eine vermittelnde Politik mit der Sozialdemokratie. Auch weil sich die Regierung im Parlament auf das Zentrum stützen musste, das sich in christlicher Solidarität der Sozialpolitik besonders verpflichtet fühlte, standen die Zeichen auf Sozialreform. 1900 wurde in Deutschland der Zehnstundentag gesetzlich festgelegt. Seit 1891 hatte für Frauen schon der Elfstundentag gegolten. Der Achtstundentag, eines der zentralen Ziele der internationalen Arbeiterbewegung, wurde 1884 von Degussa als erstem Unternehmen eingeführt, in Großbritannien folgten 1889 die Gasarbeiter der Stadt London. Rechtlich fixiert wurde der Achtstundentag in der Weimarer Republik.18 Insbesondere die Kinder- und Jugendarbeit geriet um die Jahrhundertwende in die Kritik, wurde von zivilgesellschaftlichen Gruppen angeprangert und nahm massiv ab.19 In Sachsen etwa, wo der Prozentsatz an jugendlichen Arbeitskräften bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts vergleichsweise hoch lag, sank die Kinderarbeit von 16 Prozent im Jahr 1892 auf 3,4 Prozent im Jahr 1906. Und alle profitierten vom Verbot der Sonntagsarbeit.20 Auch in anderen Ländern führten Regierungen in dieser Zeit ein ganzes Geflecht an schützenden Regulierungen für Schwangere, Stillende, Kinder, Jugendliche und zunehmend für alle in Fabriken und im Gewerbe Arbeitenden ein.21 Diese Gesetze wurden vielfach gegen den vehementen Widerstand der Unternehmen durchgesetzt, die argumentierten, sie seien durch den Schutz Wettbewerbsnachteilen und unangemessenem bürokratischen Zwang ausgesetzt. Oft gingen den Verbesserungen Arbeitskämpfe voraus, harte Streiks, die wie beim Hamburger Hafenstreik 1896/97 unterdrückt oder wie in den USA sogar blutig niedergeschlagen wurden. Es gab Bürgerinitiativen und Petitionen zum Schutz der 18 Vgl. den Beitrag von Eberhard Eichenhofer in diesem Band. 19 Sigrid Dauks: Kinderarbeit in Deutschland im Spiegel der Presse. Berlin 2003, S. 153 f. 20 Wilfried Feldenkirchen: Kinderarbeit im 19. Jahrhundert. Ihre wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 26 (1982), S. 1 – 41, hier S. 2; Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, S. 358 – 360; Holger Czitrich-­Stahl: Arbeitsrecht im Deutschen Kaiserreich, 1871 – 1918, in: RechtProgressiv. URL : http://www.rechtprogressiv.de/arbeitsrecht-im-deutschen-kaiserreich-1871-1918/#_ftn3, letzter Zugriff am 24. 8. 2019. 21 Nipperdey: Arbeitswelt und Bürgergeist, S. 359 f.; Art. „Fabrikgesetzgebung“, in: Meyers Großes Konversations-­Lexikon, Bd. 6. Leipzig 1906, S. 247 – 253.

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Arbeitenden. Und wie so oft bestand vielfach eine Diskrepanz zwischen einem Gesetz und seiner Umsetzung in der Praxis. Aber die Normen verschoben sich spürbar zugunsten der Arbeitenden: Ihr Körper galt als schützenswert. Mit dem Ziel, ihre Würde zu verteidigen, ließen sich Wahlen gewinnen und Staat machen.

Die Würde der Kinder und der neue Mensch Wie die Historikerin Carola Groppe zeigen kann, gestaltete sich im Bürgertum der Umgang mit den Kindern und Jugendlichen im Laufe des Kaiserreichs zunehmend großzügiger und räumte den jungen Menschen mehr Respekt und Freiräume ein. Nicht nur die Reformpädagogik bestärkte eine progressive, auf das Kind zentrierte Schule, sondern auch die sich liberalisierenden öffentlichen Schulen und das toleranter werdende Familienleben.22 Es müsse „das lebendige Kind mit seinem körperlichen und seelischen Wachsen“ im Zentrum stehen, lautete vielfach die Devise.23 „In unseren Schulen spüren wir immer noch den Geist der Autokratie, den Geist des Mittelalters. Das Kind kann nichts, weiß nichts, hat nichts“, empörte sich ein Pädagoge in einer der zahlreichen Pädagogikzeitschriften, „das Kind darf nur lernen, nichts lehren.“ 24 Die Schwedin Ellen Key stellte ihrem populären Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ von 1900 das Nietzsche-­Wort voran: „An euren Kindern sollt ihr gut machen, dass ihr eurer Väter Kinder seid: alles Vergangene sollt ihr so erlösen!“ Key ergänzt das Zitat mit: „Allen Eltern, / die hoffen, im neuen Jahrhundert / den neuen Menschen zu bilden.“ 25 Tatsächlich, es ging in dieser Zeit um nichts weniger als um den neuen Menschen. Ein Projekt, das deswegen so umstürzend war, weil es sich an alle richtete, weil nun die Masse im Fokus stand, weil der Mensch als gesellschaftliches Phänomen nicht zuletzt mit der neuen Wissenschaft der Soziologie ins Zentrum gerückt war. Muss der Herrenmensch im Nationalsozialismus ebenso wie dessen Bruder, der in die Zukunft schreitende Proletarier, als die Vollendung dieses neuen Menschen gesehen werden, beide mit erhobenem Schwert? Jedenfalls scheint diese fatale Entwicklung nicht notwendig in den Intentionen der Reformer und Reformerinnen der Vorkriegszeit angelegt zu sein; aber sie war von Anfang an eine Möglichkeit. Besondere Aufmerksamkeit erhielten die Kinder der Armen. In dieser Zeit begann Maria Montessori mit ihrer Arbeit unter Mädchen und Jungen in einem Armenviertel in Rom. Gerade die Armut der Kinder, ihr Leben ohne Sonnenlicht in überfüllten Zimmern 22 Carola Groppe: Im deutschen Kaiserreich. Eine Bildungsgeschichte des Bürgertums 1871 – 1918. Köln u. a. 2018, S. 195 – 198 und 297; Jürgen Oelkers: Schulreform und Schulkritik. Würzburg 22000. 23 Zitiert nach M. Reiniger: Aus der Reformbewegung, in: Zur Volksschulpädagogik 28 (1912), S. 5. 24 Reiniger (wie Anm. 22), S. 6. 25 1902 auf deutscher Sprache im S. Fischer Verlag (Berlin) erschienen.

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weckte die Empörung des Bürgertums. Begleitet wurden die Reformforderungen von der beständigen Mahnung zu Leibesübungen und zur frischen Luft. Es erscheint nicht unangebracht, an dieser Stelle auf eine neue Bewegung zu verweisen, die ebenfalls uralte Körper- und Hierarchieverhältnisse in Frage stellten: der Natur- und Tierschutz. In ihrem Gefolge fanden sich die Ernährungsreform, der Vegetarismus, die Antialkoholbewegung, die Freikörperkultur und Naturheilbewegung. Im ganzen nordatlantischen Raum wurden Naturschutzgebiete eingerichtet. Die „Anti-­Vivisektionsbewegung“ kämpfte gegen medizinische Tierversuche.26 Diese Aufbrüche veranschaulichen die Sensibilisierung gegenüber physischer Gewalt.

Hygiene und die Wohnungsfrage Das Thema Hygiene oder „Sozialhygiene“ wurde nicht nur unter Fachleuten betrieben, sondern auch als populäre Wissenschaft fürs Volk und brachte eine umfassende Literatur für Jedermann hervor. Die europäischen Großstädte bauten bis zum Ende des Jahrhunderts fast überall ihr Abwassersystem aus. Wasserklosetts hielten bei Wohlhabenden sogar Einzug in die Wohnungen und kamen dem wachsenden Bedürfnis nach Privatsphäre entgegen. Die Kindersterblichkeit sank dramatisch bis zum Ersten Weltkrieg. Hygiene erweist sich also keineswegs nur als Diskurs der bürgerlichen Schichten von Interesse, die damit ihre Vorstellungen von Reinheit und Whiteness durchzusetzen suchten. Hygiene diente auch ganz konkret den Menschen, rettete Leben und schützte die Körper – in einem ganz neuen Umfang gerade die Körper der Ärmsten. Diese neue Sorge um den Körper war wohl nur möglich, weil er aufgrund des wachsenden Wohlstands nun für nahezu alle in vielerlei Hinsicht geschützt war und den brutalsten Unbilden der Natur entzogen. Seit einem halben Jahrhundert hatte es keine Hungersnot mehr gegeben. Zeitweiliges Hungern konnte zum Leben gehören, aber es gab grundsätzlich kein Verhungern mehr – ein gewaltiger Unterschied. Die allermeisten Menschen hatten ein Obdach, und die Masse der Menschen konnte sich für damalige Verhältnisse besser kleiden als zuvor. Der Wohlstand kam auch den unteren Schichten zugute, deren Reallöhne seit den 1850er-­Jahren fast kontinuierlich angestiegen waren; allein von 1871 bis 1913 stiegen sie um 90 Prozent.27 Selbstverständlich gab es noch Armut, doch sie erfuhr um 1900 eine Skandalisierung, die dann wesentlich zum Ausbau der Armenfürsorge beitrug. Mediale Innovationen fachten die Diskussionen an. Eine neue Fotografie-­Technik etwa ermöglichte Aufnahmen in dunklen Wohnräumen und brachte damit ans Licht, was vielen im Bürgertum zuvor verborgen geblieben war: die Wohnverhältnisse armer Menschen. Erschütterung lösten etwa die Bilder vielköpfiger Familien aus, die in einem Raum leben mussten, in dem dann oft 26 Beiträge dazu in Kerbs/Reulecke (wie Anm. 15). 27 Jörg Fisch: Europa zwischen Wachstum und Gleichheit 1850 – 1914. Stuttgart 2002, S. 260.

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noch Untermieter schliefen, in Wohnungen, deren Fenster in dunkle Hinterhöfe zeigten, ohne Licht und Luft, Kinder im Dreck und in zerlumpten Kleidern. Gezeigt wurden hygienische Katastrophen. Dennoch gestalteten sich die Lebensbedingungen insgesamt wohl besser als zuvor und selbst die Mieten lagen wahrscheinlich niedriger.28 Die Fotografien aber fanden massenhaft Verbreitung. In den USA sorgte der dänisch-­amerikanische Journalist Jacob Riis mit seinen Aufnahmen der Elendsviertel in New York für immenses Aufsehen.29 Auch in Großbritannien oder Deutschland stießen Fotografien vom Leben der Armen auf Entsetzen und beförderten die Reformdiskurse. Im Nordatlantischen Raum gewann die aus England stammende Settlement-­Bewegung an Prominenz, in der Frauen an führender Stelle Siedlungsprojekte organisierten, die guten und gesunden Wohnraum boten.30 Die Reformen und die Bemühungen der Frauenvereine und Wohlfahrtskommissionen erzielten gewaltige Erfolge: Die Lebenserwartung stieg an und die Kindersterblichkeit sank beispielsweise in Hamburg um die Hälfte.31 Die Reformkräfte fanden sich in allen Schichten, und alle bildeten Vereine. Sozialistinnen kämpften für Hygiene und gegen Alkohol ebenso wie die Frauen der Inneren Mission, sie beschäftigten sich mit dem Problem der feuchten Wohnungen nicht weniger als die Mitglieder konservativer Wohltätigkeitsvereine. Beim Kampf gegen Alkohol erscheint die These besonders plausibel, dass die Reformzeit zu einer gewissen Verbürgerlichung der Sozialdemokratie geführt habe. Die Arbeiterpartei, so ließe sich argumentieren, trug entscheidend zur Disziplinierung breiter Bevölkerungsschichten und damit zur Demokratisierung bei, die insgesamt als ein bürgerliches Projekt der Einschränkung und Selbstbeherrschung verstanden werden kann. „Der Endsieg des Proletariats“, wurde der belgische Sozialdemokrat Émile Vandervelde in einer deutschen Abstinenzler-­Zeitschrift zitiert, müsse „nicht nur ein Sieg über den Kapitalismus, sondern auch über sich selbst sein“.32 In dieser sozialistischen Publikation hieß es auch: „Der Alkoholgenuss stört die notwendige Ruhe und Besonnenheit der Arbeiterbewegung“.33 Sozialisten beklagten, dass auf dem Land die Junker mit Kartoffelschnaps den Arbeitern einen Gutteil des Lohnes abknöpften.34

28 Vgl. Clemens Zimmermann: Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik. Die Reformbewegung in Deutschland 1845 – 1914. Göttingen 1991, S. 122 – 130. 29 Jacob A. Riis: How the Other Half Lives. New York 1890. 30 Vgl. für den größeren Zusammenhang Thomas Etzemüller: Strukturierter Raum – integrierte Gemeinschaft. Auf den Spuren des social engineering im Europa des 20. Jahrhunderts, in: Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Lutz Raphael: Köln u. a. 2012, S. 129 – 154. 31 Martin Exner: Manuskript, Hygiene – eine Erfolgsgeschichte für die Öffentliche Gesundheit – auf dem Weg zur globalen Gesundheit. Akademische Festveranstaltung der Universität Greifswald, 18. November 2016. 32 Auszüge aus Keferstein: Moderne Arbeiterbewegung und Alkoholfrage, in: Der Alkoholismus. Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage 1 (1905), S. 71. 33 Keferstein, S. 71. 34 Paul Löbe: Erinnerungen eines Reichstagspräsidenten. Berlin 1949, S. 136.

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In Deutschland gehörten auffallend viele hohe Beamte zu den Reformkräften, was wohl schlicht daran lag, dass der Beamtenstatus (anders etwa als der des Staatsdieners in den USA ) attraktiv und prestigeträchtig war und so die besten Leute anziehen konnte. Ein Beamter wie der erwähnte Posadowsky schrieb nicht nur Bücher über „Die Wohnungsfrage als Kulturproblem“, sondern engagierte sich auch privat intensiv gegen den Alkoholismus.35 In fast allen Bereichen rückten zudem die Frau und ihr Schutz ins Zentrum. An der „Besserung der Wohnungsverhältnisse“ hätten „Frauen ein noch viel tiefgehenderes Interesse als die Männer“, erklärte etwa 1913 der Gartenstadtpionier Hans Kampffmeyer, „sie leidet doppelt, wenn sie zusehen muss, wie die körperliche und die seelische Gesundheit ihrer Kinder dadurch geschädigt wird“. Frauen sollten Besitzanteile erwerben können (keine selbstverständliche Forderung) und in der Generalversammlung der Gartenstädte ein Mitspracherecht erhalten.36 Wie so oft gehörte auch im Gartenstadtprojekt alles zusammen: Hygiene, Frauenemanzipation, Kampf gegen den Alkoholismus, der als ein Problem von Männern identifiziert wurde. Der Alkoholismus schade den Familien, weil der Mann häufig das Geld versaufe, er erschwere das Leben der Frau, die, selbst schlecht versorgt, oft den Säugling nicht mehr ernähren könne.37 In Herford schützte die Polizei eigens die Ehefrauen von bekannten Säufern, bestellte die Männer ein und mahnte sie zu einem besseren Leben, was nicht nur der öffentlichen Ordnung, sondern auch „den armen geplagten Frauen“ sehr zugute käme.38 Häusliche Gewalt gegen Frauen wurde in diesem Zusammenhang thematisiert.39 Den Frauen kam allerdings nicht nur als Opferfiguren eine zentrale Rolle zu, sondern auch als Aktivistinnen: „Die Frau und Mutter“ galt als die „Vorkämpferin gegen den Alkoholismus“.40 Eine breite sogenannte Trinkerfürsorge, der Bund abstinenter Frauen, der Allgemeine Deutsche Zentralverband zur Bekämpfung des Alkoholismus, der Deutsche Arbeiter-­Abstinentenbund, der Internationale Verband gegen den Missbrauch geis-

35 Allgemeiner Deutscher Zentralverband zur Bekämpfung des Alkoholismus, Alkoholismus: Seine Wirkungen und seine Bekämpfung. Leipzig 1905, S. 299. 36 Hans Kampffmeyer: Die Gartenstadtbewegung. Leipzig 1913, S. 80 – 83. 37 Zur Jahreswende, in: Der Alkoholismus. Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage 1 (1905), S. 1 – 8, hier S. 4 f.; Dr. Marcuse: „Beiträge zum Alkoholismus der Arbeitenden Klasse“, in: Der Alkoholismus. Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage 1 (1905), S. 8 – 13, hier S. 12 f. 38 Mitteilungen, in: Der Alkoholismus. Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage 1 (1905), S. 84. 39 Pastor Dr. Stubbe: „Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-­Holstein“, in: Der Alkoholismus. Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage 1 (1905), S. 342. 40 Mitteilungen, in: Der Alkoholismus. Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage 1 (1905), S. 329; Paula Baker: The Domestication of Politics: Women and American Political Society, 1780 – 1920, in: American Historical Review 89/3 (1984), S. 620 – 647, hier S. 637.

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tiger Getränke, die Women’s Temperance Union, das Blaue Kreuz und zahlreiche weitere Clubs und Vereine kämpften weltweit gegen die Trunksucht.41 Frauen prägten immer stärker die Vereinsarbeit. Inspiriert von der Generalversammlung des Internationalen Frauenrats 1893 in Chicago gründeten die Frauenbewegten in Deutschland im Jahr 1894 den Bund Deutscher Frauenvereine, um der beständig wachsenden Zahl an Frauenvereinen ein Dach zu bieten. Die sozialistischen Frauenvereine gehörten zu den wenigen Verbänden, die eine Mitarbeit verweigerten – für sie hatte die Klassenfrage Priorität gegenüber der Frauenfrage.

Neue Selbstverständlichkeiten Frauen verdienten immer öfter ihr eigenes Geld als Arbeiterin oder Hausmädchen, aber auch in Berufen wie Lehrerin oder Stenotypistin. In Deutschland standen besonders viele Frauen in Lohnarbeit, nach zeitgenössischen Angaben betraf das die Hälfte aller erwachsenen Frauen.42 Für Arbeiterfamilien und Alleinstehende war der Lohn lebensnotwendig. Die viel beschworene Idylle der im Hause waltenden Hausfrau ergab in Arbeiterfamilien wenig Sinn, auch wenn manche Sozialisten und die von maskuliner Kultur durchdrungenen Gewerkschaften der Ansicht waren, in einer gerechten Welt müsste auch die Ehefrau des Arbeiters zuhause bleiben. Sozialistinnen aber forderten in der Arbeitswelt mehr Rechte auch für Frauen, gründeten Gewerkschaften und ergriffen die vielen Weiterbildungsmöglichkeiten der Sozialdemokratie. August Bebel gehörte zu den Menschen, die früh erkannten, welche unvorstellbare Bedeutung die Geschlechterfrage hatte; sein Buch „Die Frau und der Sozialismus“ wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und bestärkte weltweit die Frauen in ihrem neuen Rechtsgefühl. Für die Frauen aus der nach wie vor recht kleinen Schicht des Bürgertums bedeutete ein Beruf die Befreiung von der totalen Abhängigkeit und dem oft von Panik durchdrungenen Warten auf einen angemessenen Heiratsantrag. Sie griffen die zwar empirisch fragwürdige, jedoch weitverbreitete Behauptung auf, es gebe einen „Frauenüberschuss“: Selbst bei bestem Heiratswillen und bei allem Mutterinstinkt sei es für viele anständige Bürgertöchter eine Notwendigkeit, ihr eigenes Geld zu verdienen. Berlin entwickelte sich zu einer Hochburg der Emanzen, in den Hörsälen sah man immer öfter Studentinnen, hier gab es hervorragende Mädchenschulen, große Bildungs-­ Initiativen wie den renommierten Letteverein oder Gymnasialkurse für Frauen. In ganz Deutschland ließ sich der internationale Trend beobachten, dass konservative Frauen wie Anna von Gierke weibliche Imperien der Sozialarbeit aufbauten, in denen sie schalteten und walteten und die Welt veränderten – auch das sind Quellen der Frauenemanzipation 41 Thomas Welskopp: Amerikas große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition. Paderborn 2010. 42 Alice Zimmern: Women’s Suffrage In Many Lands. London 1909, S. 79 f. und 95.

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und der Demokratie.43 Die Frauenrechtlerin Helene Stöcker, die unter den Nazis sofort aus Deutschland floh und vereinsamt im Exil in New York sterben musste, erinnerte sich, wie sich in der Kaiserzeit „so Vieles an Starkem, Neuem und Hoffnung Erweckendem geregt“ hat.44 Es irritiert im 21. Jahrhundert, wenn Frauen in diesen dichotomischen Geschlechterrollen agieren und für das Soziale, Schöne, Humane zuständig sind. Aber die Frauen von damals haben sich überwiegend so verstanden und in diesem Horizont gehandelt. Und wer wollte die Verdienste dieser Aufbrüche in Frage stellen? Für viele Frauenrechtlerinnen gehörte ausdrücklich das Engagement für den Frieden dazu. Der Pazifismus fand weltweit keine Mehrheiten, doch er wurde um 1900 – ähnlich wie die Frauenbewegung – laut und hörbar. Der Einsatz für Frieden und die Problematisierung des Krieges galten geradezu als selbstverständlich. Als Alfred Nobel 1901 zum ersten Mal den Friedensnobelpreis auslobte, war das ein gesellschaftlich hoch anerkanntes Ereignis: Bezeichnenderweise waren die ersten Preisträger Henry Dunant und Frédéric Passy für die Rote-­Kreuz-­Bewegung, 1905 wurde die renommierte österreichische Pazifistin Berta von Suttner ausgezeichnet. Der britische Publizist Norman Angell schrieb 1910 sein Antikriegsbuch „The Great Illusion“, das innerhalb eines Jahres in fünfzehn Sprachen übersetzt wurde und weltweit Anerkennung fand. Trugen diese ganzen Veränderungen und der neue Umgang mit dem Körper, der mehr Respekt verlangte und auf Zähmung abzielte, womöglich zu einer veränderten Geschlechterordnung bei? Es spricht vieles dafür, dass diese Veränderungen damit in Zusammenhang stehen, dass die Emanzipation der Frauen nun von einer breiteren Gesellschaftsschicht getragen wurde als je zuvor. Für immer mehr Menschen wurde denkbar, was bislang als abwegig gegolten hatte: Mit „alle“, mit Universalität und mit Gleichheit waren auch Frauen gemeint. Die Selbstverständlichkeit, mit der dann die Frauen in den Landtagswahlen und schließlich 1919 in reichsweiten Wahlen teilnahmen, spricht für die These einer längerfristigen Entwicklung.

Das Jahr 1919: Frauen an der Urne Erstmals nahmen die Frauen am 19. Januar 1919 an nationalen Wahlen teil, als die verfassunggebende Nationalversammlung gewählt wurde. Trotz der ausgesprochen hohen Wahlbeteiligung von Frauen mit 82 Prozent zeigten sich linke Frauenrechtlerinnen wie Lida Gustava Heymann oder Anita Augspurg von den Wahlen enttäuscht, denn sie hatten sich von der Partizipation der Frauen ein anderes Wahlergebnis erhofft: „Der alte Reichstag und die neue Nationalversammlung haben ein verflucht ähnliches Aussehen“, schrieben 43 Kirsten Heinsohn: Konservative Parteien in Deutschland 1912 – 1933: Demokratisierung und Partizipation in geschlechterhistorischer Perspektive. Düsseldorf 2010. 44 Helene Stöcker: Lebenserinnerungen. Hrsg. von Reinhold Lütgemeier-­Davin/Kerstin Wolff. Köln u. a. 2015, S. 57 und 76.

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sie.45 Damit lagen sie richtig. Diese Kontinuität steht auch für die Selbstverständlichkeit und Ruhe, mit der die ersten Nationalwahlen nach dem Krieg verliefen. Die Deutsche Allgemeine Zeitung analysierte dieses Gefühl: Es zeigte sich, daß ein Volk monarchisch oder republikanisch, aristokratisch, plutokratisch oder demokratisch, gut oder weniger gut regiert werden kann, daß es recht und schlecht, unter welcher Form es auch sei, bestehen muß, daß es aber nicht ohne Parlament sein kann, weil dieses die moderne Seele jedes Staates überhaupt geworden ist.46

Wahlen und Parlament galten nicht als etwas Neues, sondern als etwas, das Kontinuität und Sicherheit vermittelte. Harry Graf Kessler notierte über den Wahlgang: „Alles ruhig und grau in grau; weder Aufregung noch Begeisterung. […] Das Ganze untheatralisch wie ein Naturereignis; wie ein Landregen.“ 47 Und doch ging mit der Selbstverständlichkeit ein gewisser Stolz einher. Die Berliner Volkszeitung schrieb am Wahltag: „Der Tag des deutschen Volkes ist gekommen.“ 48 Der Wahlgang habe „den Beweis erbracht“, so die Vossische Zeitung tags darauf, mit welcher Freudigkeit das deutsche Volk in seiner Gesamtheit sich an der Wahl beteiligt hat, in dem Gefühl, damit an dem Neuaufbau nach Kräften mitzuarbeiten. Viele Stunden lang harrten die Wähler und Wählerinnen vor und in den oft unzureichenden Lokalen bei unfreundlicher Witterung aus, um ihr Recht nicht zu versäumen.49

Interessanterweise kommentierten die Redakteure das Frauenwahlrecht nur zurückhaltend. Wenn die Wählerinnen Erwähnung fanden, dann meistens nebenbei. Manchmal wurde ihr besonderer Eifer herausgestrichen. Die Berliner Börsen-­Zeitung etwa schrieb: Die Wahlen hatten diesmal eine besondere Note durch die Frauen erhalten. Fast überall machte man die Beobachtung, dass die Frauen die ersten waren, die sich am Wahltisch einfanden, um ihrer neuen staatsbürgerlichen Pflicht zu genügen. Typisch waren gestern die Familienwahlen. Unter der Führung des Oberhauptes erschienen in der Regel alle Fami-

45 Lida Gustava Heymann/Anita Augspurg: Erlebtes – Erschautes. Deutsche Frauen kämpfen für Freiheit, Recht und Frieden 1850 – 1940 [1941]. Hrsg. von Margrit Twellmann. Meisenheim am Glan 1972, S. 168. 46 Oscar Müller: Volk und Wahl, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 20. Januar 1919, S. 1. 47 Harry Graf Kessler: Das Tagebuch (1880 – 1937), Bd. 7: 1919 – 1923. Hrsg. von Angela Reinthal. Stuttgart 2007, S. 105. 48 [Ohne Angaben] Berliner Volkszeitung, 19. Januar 1919, S. 1. 49 Starke Wahlbeteiligung, in: Vossische Zeitung, 20. Januar 1919, S. 1; ähnlich Berliner Tageblatt, 20. Januar 1919, S. 1 f.; Königsberger Hartungsche Zeitung, 20. Januar 1919, S. 2.

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lienmitglieder, um ihr politisches Glaubensbekenntnis abzulegen. Die im Krieg errungene Gewohnheit des Anstehens galt auch für den gestrigen Tag.50

Dass das Frauenwahlrecht nicht als etwas Außerordentliches beschrieben wurde, mag daran liegen, dass Frauen bereits seit Dezember 1918 auf Länderebene gewählt hatten, etwa in Württemberg, Anhalt oder Baden. Dennoch scheint der Gleichmut gegenüber der neuen Wählerschaft auch Teil der neuen Selbstverständlichkeit gewesen zu sein, mit der die deutschen Bürgerinnen und Bürger ihr Wahlrecht ausübten. Die ganze ruhige und selbstgewisse Performanz der Wahlen für die Nationalversammlung lässt sich nicht zuletzt als ein Beleg dafür verstehen, dass die Einführung der Republik nicht wie ein Wunder über Deutschland kam. Demokratie, so wird hier deutlich, war schon im Kaiserreich in vielerlei Hinsicht praktiziert worden.51 Auch das spricht für die These, dass die Einführung des Frauenwahlrechts als ein Ergebnis von langfristigen strukturellen Veränderungen verstanden werden muss.

Fazit Es ist schwer, im Gewirr der historischen Ereignisse und Details klare Kausalitäten auszumachen, aber es ist kaum von der Hand zu weisen, dass die Reformen einen weitreichenden Wandel forciert haben, der zur Akzeptanz emanzipativer Bewegungen beigetragen hat. Neben dem Arbeits- und Kinderschutz, den pädagogischen Reformen, den hygienischen Verbesserungen gab es zahlreiche weitere Reformbewegungen, die zeigen, wie sich die Sozialpolitik auf das körperliche Wohlbefinden der Menschen fokussierte: der Arbeitsschutz, bessere Wohnverhältnisse, der Kampf gegen Prostitution, der Einsatz für gesündere Kleidung und besseres Essen, Pazifismus oder der Mutterschutz.52 All das waren Themenfelder, die nach dem damaligen dichotomischen Geschlechterdenken die Frauen bewegten und zur „weiblichen“ Sphäre gerechnet wurden. Nun diskutierten die Zeitungen darüber, und in den Parlamentsdebatten standen sie auf der Tagesordnung. Die amerikanische Historikerin Paula Baker spricht von einer „Domestication of politics“ im 19. Jahrhundert, ein Prozess, in dessen Verlauf es Frauen gelang, ihre Themenfelder in die Politik einzubringen und sich selbst mit ihrer spezifisch „weiblichen“ Expertise als die Fachleute ins Spiel zu bringen. Domestication ist freilich doppeldeutig: Sie steht nicht 50 Die Nationalwahlen in Berlin, in: Berliner Volkszeitung, 20. Januar 1919, Nr. 22, S. 1; weitere Beispiele dieser Berichterstattung etwa Berliner Volkszeitung, 20. Januar 1919, Nr. 22, S. 1; Deutsche Allgemeine Zeitung, 20. Januar 1919, S. 1; Berliner Börsen-­ Zeitung, 20. Januar 1919, S. 1. 51 Margaret L. Anderson: Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich. Stuttgart 2009. 52 Bob Hepple: Working Time. A New Legal Framework? Institute for Public Policy Research. London 1990, S. 20.

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nur für die Prägung der Politik durch häuslich-„weibliche“ Themen, sondern sie bedeutet auch Zähmung. Viele der genannten Reformen wandten sich an den Mann oder auch: gegen ihn. Sie zielten konkret auf die Domestizierung des männlichen Körpers. So wurde die Sexualität des Mannes angegriffen und viele seiner Praktiken von alltäglicher Gewalt wurden problematisiert: häusliche Gewalt, Vergewaltigung in der Ehe, Prostitution oder Alkohol. Ein Sozialreformer sprach gar von „Männersterblichkeit“, weil das männliche Geschlecht so vielen Angriffen ausgesetzt sei.53 All das spricht für die These dieses Aufsatzes, dass die Durchsetzung des Frauenwahlrechts nicht zuletzt als ein Ergebnis langfristiger Strukturwandlungen gesehen werden muss, die entscheidend durch die Reformbewegung vorangetrieben wurden. Und diese Reformbewegungen, bei denen die Frauen wesentlich beteiligt waren, erweisen sich als ein internationaler Prozess. Es ist daher wenig erstaunlich, dass das Frauenwahlrecht in dieser Zeit in vielen weiteren Ländern eingeführt wurde – und zwar in einem sukzessiven Prozess, der bereits vor dem Weltkrieg begann. In Neuseeland etwa erhielten die Frauen das Wahlrecht 1893, in Finnland 1906, in Norwegen 1913, im Jahr 1915 kamen Dänemark und Island dazu. Dänemark hatte den Bürgerinnen bereits 1908 das Kommunalwahlrecht eingeräumt. Einige Einzelstaaten in den USA hatten ebenfalls schon vor dem Ersten Weltkrieg das Frauenwahlrecht installiert. Eine so einschneidende Veränderung der Geschlechterordnung bedarf einer tieferen Verankerung, als sie durch eine Idee, eine aufflammende Revolution oder einen Krieg hervorgebracht werden kann. Sie betrifft nicht zuletzt die Körper, in die Herrschaft immer eingeschrieben ist. Der Wohlstandsanstieg, der allen Menschen im nordatlantischen Raum ein relativ würdiges Leben ermöglichte, Diskussionen, in denen Gewalt gerade auch gegen Frauen problematisiert wurde, ein neues Verständnis von der Gleichheit der Menschen, Reflexionen über die Massengesellschaft, Reformen, die den Körper schützten und ihm eine neue Würde zukommen lassen wollten – das trug alles dazu bei, dass es zu einem der größten Emanzipationsprozesse kommen konnte: Die politische Ermächtigung der Frauen.

53 Hugo Paas: Jugendfürsorge in der Fortbildungsschule. Vortrag, in: Zur Volksschulpädagogik 25 (1911), S. 9; Bettina Hitzer: Im Netz der Liebe. Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin (1849 – 1914). Köln u. a. 2006, S. 107 – 112 und 121.

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Das Revolutionäre an der Novemberrevolution „Die Weimarer Zeiten waren die intelligentesten Jahre, die Deutschland je erlebt hat! Die […] freiesten Jahre; die glaubens- und uniformlosesten Jahre.“ Arno Schmidts 1 selten gehörtes Urteil befremdet; widerspricht es doch der vorherrschenden Sicht, die Weimarer Republik sei nicht nur gescheitert, sondern dazu auch von Anfang an verurteilt gewesen. Schon bei ihrer Gründung stellten sich ihr revoltierende Arbeiter und Freikorps entgegen. Sie verachteten die Republik aus unterschiedlichen Motiven. Die Republik ging aus einer Krise hervor und durchlief unablässig Krisen, Rückschläge und Notlagen. Am Ende erschöpft, lieferte sie sich der Präsidial- und schließlich der NS-Diktatur aus; deren Begründer und Stützen waren ermattet und zur Gegenwehr außerstande. „Bonn ist nicht Weimar“ 2 – dieser Buchtitel versinnbildlichte nach 1945, dass die Weimarer Republik „Negativfolie“ zu Bonn 3 war. Sie blieb eine Obsession, getreu dem Bild, welches ihre einstigen Gegner von ihr zeichneten. Die Weimarer Republik wird bis heute nicht als Aufbruch, sondern als Spuk wahrgenommen – als ob sich Geschichte tilgen ließe! Dabei ist und bleibt die Zeit von Weimar ein unverlierbarer Teil der Gegenwart. In Architektur, Verkehr, Stadtentwicklung, Mode, Malerei und Literatur 4 sind ihre Spuren unübersehbar. Die „Frankfurter Küche“ steht für rationelle Hausarbeit; ihr entsprach die „Rationalisierung“ der Wirtschaft: Autos rollten vom Fließband und der Autoverkehr löste Beschleunigung aus und prägte die Zeit.5 Mit dem Groß-­Berlin-­Gesetz entstand die Metropole. Neues Bauen verband Stadtentwicklung mit Sozialreform. Die Frauenbeschäftigung wuchs und damit veränderte sich die soziale Rolle der Frau. Die Weimarer Jahre

1 Arno Schmidt: Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954. Frankfurt a. M. 1974, S. 11. 2 Fritz René Allemann, : Bonn ist nicht Weimar. Köln/Berlin 1956. 3 Michael Dreyer: Was bleibt? Fragen an die Nachgeschichte einer Republik, in: Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Weimar 1919. Chancen einer Republik. Köln/Weimar/Wien 2009, S. 47: Weimar galt als „Synonym für alles […], was in einer Republik nur schief gehen kann“. 4 Dreyer, S. 52: Weimar steht in den USA für die Kultur, welche die nach ihr benannte Republik schuf, und nicht für Goethe und Schiller; Eva-­Maria Schnurr: Vision einer besseren Zukunft, in: Uwe Klussmann/Joachim Mohr (Hrsg.): Die Weimarer Republik. Deutschlands erste Demokratie. München 2015, S. 17. 5 Kristina Maroldt: Volk im Temporausch, in: Klussmann/Mohr (Hrsg.): Die Weimarer Republik, S. 83 ff.

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nahmen die Nachkriegsmoderne vorweg. Weimar – „Eldorado für Intellektuelle“ 6 – war durch unversöhnliche Gegensätze zwischen rechts und links beherrscht; die Radikalität des Geistes traf schließlich die Republik selbst.7 Die Sozialpolitik war zentraler Ausdruck dieses Neubeginns. Friedrich Ebert bezeichnete in seiner Rede vom 21. August 1919 „Freiheit, Recht und soziale Wohlfahrt“ als Lebensgrundsätze der neuen Republik. Die Weimarer Republik wollte die Freiheit aller begründen. Dies vermochte sie unter den Bedingungen der Gleichheit aller nur, wenn sie die Freiheiten mit sozialem Ausgleich verband.8

Friedens- und Kriegswirtschaft Sozialpolitischer Traditionsbestand Später als in England und Westeuropa setzte in Deutschland ab 1850 die Industrialisierung ein. Bis 1914 war Deutschland nach den USA zur führenden Industrienation 9 geworden. Nach der Reichsgründung (1871) entfalteten sich Eisen- und Stahlerzeugung, Elektrizität und Chemie zu Schlüsselsektoren.10 Banken und Versicherungen wuchsen.11 Das industrielle Zentrum lag in Berlin und Brandenburg, Sachsen und Thüringen, wo die Durchschnittsverdienste am höchsten waren.12 Selbständige und Arbeiter prägten die Sozialstruktur.13 Angestellte entwickelten sich anfangs zaghaft, später aber Schritt für Schritt mehr. Zwischen 1900 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs herrschte Hochkonjunktur mit geringer Arbeitslosigkeit.14 „Im Zusammenspiel von Protest der Arbeiter, Revolutionsprä-

6 Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933. München 1962, S. 391. 7 Ebd., S. 393. 8 Brigitte Zypries: Mehr Gerechtigkeit für die Weimarer Verfassung, in: Ulbricht (Hrsg.): Weimar 1919, S. 10 f., fordert daher in Hinblick auf die Regelungen der Weimarer Reichsverfassung (WRV) zur Wirtschaftsordnung, dem Geschlechterverhältnis, der Bildung und den internationalen sozialen Mindeststandards mehr „Gerechtigkeit“! 9 Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914. Bonn 1992, S. 9 f. 10 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2010, S. 975 ff. und 979. 11 Ebd., S. 56 ff. 12 Ritter/Tenfelde, S. 73. 13 Ebd., S. 167 ff. 14 Eberhard Jäckel: Das deutsche Jahrhundert. Eine historische Bilanz, Darmstadt 1990, S. 17; lediglich 1892 und 1901 wurde eine Arbeitslosigkeit von 6 % oder 7 % notiert, ansonsten lag sie stets darunter (Ritter/Tenfelde, S. 242).

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vention der Eliten und moralischer Einsicht kleiner Reformgruppen entstanden daher nach wenigen Jahrzehnte die Grundzüge des Sozialstaats.“ 15 Die soziale Frage enthüllte die sozialen Ungleichheiten. Die Antwort darauf führte sie auf ungerechte soziale Verhältnisse zurück.16 In der frühen Neuzeit wurde die Sozialfürsorge als gemeindliche Armenpflege begründet; es entstand mit ihr eine eigene Sozialverwaltung. In den 1850er-­Jahren entstanden betriebliche, gewerkschaftliche und kommunale Krankenkassen: „Ortskrankenkassen.“ Sie brachten die auf Selbstverwaltung beruhende Sozialversicherung hervor, die für die Arbeiterschaft seit den 1880er-­Jahren zur Pflichtversicherung wurde. Diese stellte die Gesellschaft auf neue institutionelle Grundlagen und revolutionierte sie damit.17 1810 wurde die Gewerbefreiheit in Preußen eingeführt. Dadurch wandelte sich die Arbeitswelt. Anfänglich unterlagen die Beziehungen zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern der Vertragsfreiheit, Beschäftigung war „Gegenstand freier Übereinkunft.“ Englischen Vorbildern folgend, entstand mit dem preußischen „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in den Fabriken“ vom 9. März 1839 die staatliche Arbeitsschutzgesetzgebung. Sie unterband die Kinderarbeit und begrenzte die Arbeitszeit Jugendlicher in den Fabriken.18 Die Gesetze wurden in der Folgezeit verschärft und in den übrigen deutschen Ländern nachvollzogen. In den ersten Jahrzehnten nach der Reichsgründung nahmen die sozialen Unruhen zu. Ein Bergarbeiterstreik 1889 entzweite endgültig Bismarck vom jungen Kaiser Wilhelm II., der den Forderungen der streikenden Bergarbeiter nachkommen wollte. Der Konflikt führte zur Entlassung Bismarcks.19 1890 schuf das Reich mit der Politik des Neuen Kurses durch Hans Freiherr von Berlepsch 20 erste Arbeitsgesetze. Das Gewerbegericht als Laiengericht entstand: Streitigkeiten wurden unter Beteiligung von Unternehmern und Arbeitnehmern gelöst. In der Gewerbeordnung wurde das Recht der Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge, Betriebsbeamten, Werkmeister und Techniker geregelt. Seither bestimmten erstmals Gesetze zwingend die Sonntagsruhe sowie den Gefahren-, Kinder- und Frauenarbeitsschutz. Die „Arbeitsordnung“ als kollektive Ordnung in Betrieben über 50 Arbeiter und Angestellte konnte von den dort sich bildenden Arbeiter- und Angestelltenausschüssen ausgehandelt und verbindlich gemacht werden. Es gab Weichenstellungen zum Sozialstaat. Dieser war aber weder institutionell entfaltet, noch akzeptiert, noch gar gedanklich durchdrungen. Im Gegenteil: Konservative beklagten ihn als Konzession an die Massen, Liberale als Gängelung der Wirtschaft und Marxisten 15 Osterhammel, S. 1008. 16 Wolfgang Schmale/Josef Ehmer: Stichwort: „Soziale Frage“, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Stuttgart/Weimar 2010, Sp. 240 – 245; Thomas Sokoll: Stichwort: „Sozialpolitik“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Sp. 267 – 271. 17 Osterhammel, S. 1008. 18 Gerhard Erdmann: Die Entwicklung der deutschen Sozialgesetzgebung. Berlin 1948, S. 10 ff. 19 Ebd., S. 16. 20 Lex Berlepsch: Hermann Reichold: Der „Neue Kurs“ von 1890 und das Recht der Arbeit: Gewerbegerichte, Arbeitszeit, Arbeitsordnung, in: ZfA 1990, S. 5; Erdmann, S. 17 ff.

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als kleinbürgerliche Illusion und Ablenkung vom Ziel des Sozialismus. Deren Sachwalter waren mehr an dessen Details als an dessen Prinzipien interessiert und dessen Nutznießer waren oft mehr enttäuscht denn überzeugt, weil sie sich mehr Leistungen erhofften.

Kriegsinterventionismus Der Krieg – „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) – wurde von Presse und Regierung als Aufbruch aus einer als langweilig (frz. ennui) empfundenen Bürgerlichkeit und einer in Klassenkonflikten zerfallenen und deshalb zu zerfallen drohenden bürgerlichen Gesellschaft und als „etwas Befreiendes“ 21 gefeiert: „Die nationale Zusammengehörigkeit im Moment von Bedrohung und Krise war das Urerlebnis.“ 22 Kaiser Wilhelm  II. kannte am 4. August 1914 nur noch Deutsche, keine Parteien. Der Krieg verlangte nach außen wie innen Loyalität, Kohäsion und Integration.23 Die sich nun in ihrem Bekennerdrang überbietenden Intellektuellen beschworen die „Ideen von 1914“. Der Krieg führe den „Weg der Nation zu sich selbst“ (Max Scheler). Sie stellten die in Pflichterfüllung und Gemeinschaftssinn gründende „deutsche Freiheit“ dem angeblich auf Egoismus und Hedonismus beruhenden Westen gegenüber.24 Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ machten einen Gegensatz von Kultur und Zivilisation aus, wobei diese den „Westen“ und jene die Deutschen auszeichne. Der so befeuerte Nationalismus ging mit der Verachtung anderer Völker und Fremdenfeindlichkeit 25 einher. Karl Kraus karikierte eine solche Haltung: Das eine aber weiß ich nur, /wir Deutsche haben mehr Kultur. /Kultur, bei allen anderen Gaben, /ist mit das Beste, was wir haben. /Wir schwärmen für die Schlachtenlenker, /doch sind wir auch das Volk der Denker: /Gern woll ’n für Schillern und selbst Goethen /wir ein ‚Denn er war unser‘ beten. […] Uns hilft die deutsche Wissenschaft /nebst Gott, der eben England straft /und der den Menschen nur erschuf, /zu dreschen immer feste druff. […] Solang es andere Völker gibt, /ist leider unsres nicht beliebt.26

21 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie. München 1992, S. 778. 22 Ebd. 23 Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 2014, S. 205 ff. 24 Ebd., S. 779. 25 Hellmut von Gerlach: Die große Zeit der Lüge. Bremen 1994. 26 Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Frankfurt a. M. 1986, S. 395 f.

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Über diese während des Krieges propagierte Haltung schrieb Ernst Bloch: Lichtloser war nie ein Kriegsziel als das des kaiserlichen Deutschlands; Raub und Rohheit; Versklavung aller und Arsenal der Reaktion, ein stickiger Zwang, von Mittelmäßigen verhängt, von Mittelmäßigen ertragen; der Triumph der Dummheit, beschützt von Gendarmen, bejubelt von den Intellektuellen, die nicht Gehirn genug auftreiben konnten, um Phrasen zu liefern.27

Für Hellmut von Gerlach war es zu wenig Geist und zu viel bloßes Gefühl, um nicht zu sagen Instinkt. Die voluntas wurde nicht von der ratio dirigiert, sondern vom Glauben, das heißt: Vom Aberglauben und der Leichtgläubigkeit.28

Wirtschaft und die Versorgung wurden staatlich geregelt.29 Der mit dem Kriegsausbruch propagierte „Burgfrieden“ legitimierte nicht nur die alljährliche Bewilligung der Kriegskredite durch den Reichstag, sondern verdrängte auch die parlamentarische Gesetzgebung durch eine von Reichsleitung und Militärverwaltung betriebene, wesentlich auf allgemeine Anordnungen gestützte Regulierung der Wirtschaft.30 Der vor dem Ersten Weltkrieg bei 10 % liegende Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt stieg im Verlauf des Krieges in Frankreich und Deutschland auf über 50 %.31 Die Gewerkschaften arbeiteten mit der Militär-­Verwaltung und Unternehmensleitung zusammen. Der Krieg veränderte die wirtschaftliche Lage von Grund auf.32 Die starke Exportorientierung der deutschen Wirtschaft konnte angesichts der Blockade nicht aufrechterhalten werden, gleichzeitig entfielen die Importe.33 Die Bewirtschaftung in Industrie und Nahrungsmittelversorgung verknappte alsbald die Lebensmittel. Eine auf Ersatzstoffen aufgebaute Ökonomie suchte vergebens die ausgefallenen Importe auszugleichen. Mit dem – um dem Anliegen Nachdruck zu geben, vom Reichstag verabschiedeten – Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst vom 5. Dezember 1916 wurden sämtliche Männer zwischen 17 und 60 Jahren zur Arbeit verpflichtet; die Arbeitsvertrags- und Arbeitsplatzwahlfreiheit wurden eingeschränkt, 1917 kam es zu einer weitgehenden öffentlichen Kontrolle der Kohle- und Eisenindustrie.34

27 Ernst Bloch: Geist der Utopie [1923]. Frankfurt a. M. 1977, S. 293. 28 Gerlach, S. 144. 29 Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. München 1970, S. 146 f. 30 Leonhard, S. 255 ff. 31 Nipperdey, S. 787. 32 Ebd., S. 789. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 793 ff.

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Die Kriegserfahrung war durch die Allgegenwart des Todes geprägt, Anstrengungen bis zur Erschöpfung und Phasen inhaltsloser Leere und Langeweile wechselten einander ab.35 Der Kriegsverlauf enttäuschte schnell die anfänglich gehegten Erwartungen. Der Krieg war auch ein Wirtschaftskrieg, der die Zivilbevölkerung umschloss. Die Nahrungsmittelversorgung verschlechterte sich durch die Blockade schon mit Kriegsbeginn. Die Bewirtschaftung setzte ein. Seit 1916 herrschte Hunger.36 Es kam im weiteren Fortgang zu sozialen Konflikten. Stete Kürzungen der Zuteilungen und wachsende Versorgungslücken wandelten den Nationalismus des Jahres 1914 in einen Pazifismus.37 Auch die Allgegenwart schwerer, entstellender Verletzungen aufgrund des technisierten Krieges und die sich daraus entwickelnde Kriegsopferfürsorge veränderten einschneidend die Wahrnehmung des Kriegs.38 Die Kriegswirtschaft ordnete nicht nur die Wirtschaft militärischen Zwecken unter, sondern regulierte auch die Arbeitsbedingungen. „Der Krieg bereitete den Boden für eine kommende Integration der Arbeiter in den bestehenden nationalen, ja den monarchischen Staat.“ 39 Nach dem Kriegsende führten Bevölkerungsverschiebungen und die Rückkehr von Kriegsheimkehrern zur Wohnungsnot. Die Inflation zerstörte das Geldvermögen vieler bürgerlicher Schichten. Sie erwuchs aus dem Missverhältnis zwischen Steuern und Zöllen – einschließlich der mit 7 Mrd. Mark bezifferten Erträge aus der 1916 eingeführten Kriegsgewinnsteuer. Der Rest der Kriegskosten wurde durch Anleihen finanziert, welche die Bürger zeichneten („Gold gab er für Eisen“).40 Der Krieg wurde damit auch zum privaten Vermögensinvestment, was scheiterte und massenhafte Verluste nach sich zog. Die Sozialpolitik war das Gebot der Stunde.41 Armut wurde zum Massenschicksal und deren Entstehung lag jenseits jeglichen individuellen Verschuldens.42 Die soziale Lage war während des Ersten Weltkriegs bedrückend. Ernst Bloch 43 umschrieb sie: Was jetzt war, wird bald vergessen sein. Nur eine leere grausige Erinnerung bleibt in der Luft stehen. Wer wurde verteidigt? Die Faulen, die Elenden, die Wucherer wurden verteidigt. Was jung war, musste fallen, zum Sterben gezwungen für die fremdesten, geistfeindlichsten Ziele, aber die Erbärmlichen sind gerettet und sitzen in der warmen Stube.

35 Leonhard, S. 563 ff. 36 Nipperdey, S. 788. 37 Grebing, S. 146 f. 38 Leonhard, S. 255 ff. 39 Nipperdey, S. 782. 40 Ursula Büttner: Weimar. Die überforderte Republik. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Bonn 2008, S. 172 f. 41 Michael Stolleis: Sozialpolitik in Deutschland bis 1945, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bundesarchiv (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Grundlagen der Sozialpolitik, Bd. 1. Baden-­Baden 2001. 42 Wirsching, S. 27. 43 Bloch, S. 293.

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Die sich vor diesem Hintergrund entfaltende Haltung der Reformer fasste er in die Worte: Derart praktisch zu sein, derart auf den Bauhorizont des alltäglichen Lebens zu helfen und zurecht zu richten, derart gerade politisch sozial zu sein, ist dem Gewissen kräftig nahe und eine der Utopie durchaus eingeschriebene, revolutionäre Sendung.44

Kriegsende Am 9. November 1918 übertrug Prinz Max von Baden die Kanzlerschaft an Friedrich Ebert: Dieser Akt sollte die Kontinuität zwischen Kaiserreich und Republik symbolisieren; darin lag jedoch ein revolutionärer Vorgang. Mangels Staatsoberhauptes tat der frühere Kanzler, was ihm nach der bisherigen Verfassung versagt war, als er den eigenen Nachfolger bestimmte.45 „Das eigentliche Thema der Weimarer Republik war der Kampf um die Staatsgewalt unter den neuen, vom Krieg hervorgerufenen Bedingungen.“ 46 Als Revolution galt die Beseitigung der Monarchie; sie beseitigte aber nicht den Staat. Dieser stand in der Kontinuität des Kaiserreichs,47 was namentlich in Hinblick auf die Kriegsfolgen sichtbar und folgenreich werden sollte. Aus der Friedensmehrheit im Reichstag von 1917 wurde aus Zentrum, Fortschrittsliberalen und Mehrheitssozialdemokratie die Weimarer Koalition.48 Der Sozialdemokratie – im Alltag politischer und parlamentarischer Prozesse erprobt und erfahren – fehlte angesichts ihrer programmatischen Zerrissenheit in Marxisten und Revisionisten eine „umfassende Konzeption sozialdemokratischer Politik.“ 49 Ebert wollte nicht einmal die Republik; nach Übernahme der Regierung stand die Bewahrung von Ruhe und Ordnung im Mittelpunkt.50 „Der Weltkrieg hatte alte Ordnungen zerstört und geschwächt; er hatte keine neuen geschaffen.“ 51 Das Vakuum füllten Zukunftsvisionen unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Prägung,52 aber auch Reformen, die Entwicklungslinien der Vorkriegszeit aufnahmen und die Nachkriegsordnung durch deren Entfaltung auf eine neue Basis stellten. Die Beendigung des Krieges und die territoriale Neuordnung des Reiches lösten Migrationsbewegungen aus.53 Grenzlandvertriebene aus Elsass-­Lothringen und Polen und 44 Ebd., S. 295. 45 Jäckel, S. 101. 46 Ebd., S. 110. 47 Christoph Gusy: Die Verfassungstradition in Deutschland 1918/1919, in: Wilhelm Brauneder/Albrecht Leser (Hrsg.): Staatsgründungen 1918. Frankfurt a. M. 1999, S. 113 ff. 48 Ebd. 49 Grebing, S. 152; Christoph Gusy: Die Weimarer Reichsverfassung Tübingen 1997, S. 68. 50 Grebing, S. 150. 51 Golo Mann: Deutsche Geschichte 1919 – 1945. Frankfurt a. M. 1962, S. 10. 52 Vgl. den Beitrag von Rüdiger Graf in diesem Band. 53 Jochen Oltmer: Migration und Politik in der Weimarer Republik. Göttingen 2005, S. 33 ff.

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Deutschstämmige aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa zogen zu. Mit dem Kriegsende drängten acht Millionen Soldaten auf den Arbeitsmarkt. Die sie damals dort ersetzenden Frauen wurden als Hindernis für die Wiedereingliederung angesehen; die Bevorzugung männlicher gegenüber weiblichen Beschäftigten setzte sich angesichts angestammter männlich dominierter Beschäftigung durch. Frauenarbeit wurde darüber jedoch nicht verdrängt, weil es eine wachsende Nachfrage nach ihr gab. Allmählich begann sich ein Recht auf Frauenarbeit auszubreiten.54 Es kontrastierte dem konkurrierenden Bild, dass Frauen nicht auf den Erwerb „angewiesen“ seien. Die oft verwundeten und/oder traumatisierten Kriegsteilnehmer kehrten zurück in einen „verwüsteten Alltag“, um „mit sich selber und der Welt in Ordnung zu kommen.“ 55 Das raue und zermürbende Frontleben forderte auch einen mentalen Tribut und hinterließ Spuren im Arbeitsleben.56 Was sollte mit verletzten und traumatisierten Menschen auf dem Arbeitsmarkt geschehen? Das Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung organisierte Arbeit und Fürsorge für Erwerbslose.57 In der Weimarer Koalition dominierte eine sozialpolitische Ausrichtung. Die DDP gab sich ein „scharf sozial ausgerichtetes Programm.“ 58 In ihm herrschte das Leitbild vor, es gelte, den freien Staatsbürger zum freien Wirtschaftsbürger werden zu lassen. Das Zentrum – in der katholischen Soziallehre und damit im Schutzdenken gegenüber der Arbeiterschaft und der Familie ruhend – wandte sich gegen den Bolschewismus und bekannte sich zur „christlichen Demokratie“ 59. In einem Aufruf hieß es: Weltkrieg und Revolution haben das alte Deutschland zertrümmert. In Sturm und Drang wird ein neues geboren. Ein freier sozialer Volksstaat soll es werden, in dem sich alle deutschen Stämme, alle Klassen und Stände, alle Bürger ohne Unterschied des Glaubens und der Parteizugehörigkeit wohlfühlen können.60

Der Rat der Volksbeauftragten und die SPD-Führung kündigten an, die Republik werde als „sozialistische Republik […] als die freieste in den Bund der Völker treten.“ 61 Die sozialdemokratische Programmatik war reich an Forderungen; sie galten der Tagespolitik und

54 Susanne Rouette: Sozialpolitik als Geschlechterpolitik. Die Regulierung der Frauenarbeit nach dem Ersten Weltkrieg. Frankfurt a. M./New York 1993. 55 Golo Mann, S. 9 f. 56 Ludwig Preller: Sozialpolitik in der Weimarer Republik [1949]. Kronberg 1978, S. 125. 57 Erdmann, S. 23. 58 Günter Wirth: November 1918 – November 1968. Eine geschichtliche und zeitgemäße Betrachtung. Berlin 1968, S. 19. 59 Ebd., S. 31. 60 Ebd., S. 32. 61 Helmut Kolbe: Sturmtage. Die Novemberrevolution 1918. Leipzig/Jena 1958, S. 54.

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reichten bis zur „Sozialisierung“. So stand die Revolution im Zeichen von Demokratie und Sozialreform.62

Sozialer Volksstaat und Weimarer Reichsverfassung Sozialpolitik wurde nun zum beherrschenden Thema. Gestützt auf die im Weltkrieg gewonnene Einsicht, „dass der Staat selbst nur existenz- und handlungsfähig sei, wenn er sich voll zum Sozialstaat entwickelt,“ 63 gründete sich die Republik auf die „normative Kraft des Faktischen“ (Georg Jellinek) und einen „Kompromiss der Werte.“ 64 Austromarxismus und skandinavische Erfahrungen 65 ließen einen Reformsozialismus entstehen, der auf der Annahme beruhte, die demokratische Mehrheitsherrschaft helfe, die wirtschaftlichen und sozialen Belange der Mehrheit zu sichern und durchzusetzen. Auf dieser Basis könnten Wirtschaft und Gesellschaft politisch rational und human gestaltet werden. Die 1919 von der Nationalversammlung verabschiedete Weimarer Reichsverfassung (WRV) entwickelte ein Gesamtsystem sozialen Ausgleichs mittels sozialpolitischer Reformen. Anstelle von Restbeständen des Klassenrechts wie des revolutionären Klassenkampf-­Staats machte sie Deutschland zum Sozialstaat. Die Arbeitgeber und Gewerkschaften verbindende Zentralarbeitsgemeinschaft bekundete 1918, „daß die Wiederaufrichtung unserer Volkswirtschaft die Zusammenfassung aller wirtschaftlichen und geistigen Kräfte und allseitig einträchtiges Zusammenarbeiten verlangt.“ 66 Die WRV erkannte die Grundsätze des Völkerrechts und das Ziel des Völkerfriedens als Bestandteile des deutschen Verfassungssystems an. Unter Verzicht auf jeden Anspruch auf imperiale Weltgeltung bekannte sie sich zur Einordnung Deutschlands in die auf Gleichgewicht und Gleichberechtigung gegründete Völkergemeinschaft.67 Die neue Republik wurde eingedenk, im Wirbel des Weltgeschehens im 20. Jahrhundert ist kein Volk für sich und allein Meister seines Schicksals. Es hängt ab von der Weltwirtschaft, der Weltpolitik, dem Weltgeist.68

62 Marc von Miquel/Anne Schmidt (Hrsg.): 125 Jahre Rentenversicherung in Westfalen. Sicherheit für Generationen 1890 bis 2015. Münster 2015, S. 49. 63 Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 6: Die Weimarer Reichsverfassung. Stuttgart u. a. 1981, S. 1083. 64 Huber, S. 21. 65 Peter Brandt: Vom endgültigen Durchbruch der parlamentarischen Demokratie bis zu den Anfängen des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates, in: Christoph Gusy (Hrsg.): Demokratie in der Krise. Europa in der Zwischenkriegszeit. Baden-­Baden 2008, S. 218 f. 66 Erich Eyck: Geschichte der Weimarer Republik, Bd. 2. Erlenbach-­Zürich/Stuttgart 1956, S. 146. 67 Huber, S. 23. 68 Golo Mann, S. 9.

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Für die Verfassung galt: Es sollte jetzt das deutsche Volk ein lebendiges Ganzes sein, das seinen Staat ordnete, wie es ihm gefiel; und kein Hokuspokus mehr von ‚verbündeten Regierungen‘, geteilter Souveränität oder Summe von Souveränitäten.69

„Die Gründer der Weimarer Reichsverfassung waren sich dieses sozialen Auftrages moderner Staatlichkeit bewusst.“ 70 Sie sollte zur Sinngebung für die Republik werden. Freilich stand dieser Versuch von Anfang an unter schwierigen Vorzeichen. Denn Sinnleere und Katastrophenerfahrungen prägten die Zeit.71 Frauenwahlrecht (Art. 22 WRV), Reichszuständigkeiten für „Arbeitsrecht, die Versicherung und den Schutz der Arbeiter und Angestellten sowie den Arbeitsnachweis“ (Art. 7, Nr. 9 WRV), Wohlfahrtspflege (Art. 9 WRV) ermöglichten dies. Sozialpolitische Grundsätze und Grundrechte mit Verfassungsrang (Art. 109, 119, 122, 151, 157, 161, 162, 163 und 165 WRV) zeichneten den sozialen Volksstaat. In Art. 109 WRV war bestimmt, dass Männer und Frauen grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte hätten, und in Art. 119 WRV war vorgesehen: Die Ehe „beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter.“ Die Gründer „verbanden in dem Verfassungswerk das überlieferte Prinzip des ‚Rechtsstaats‘ mit dem um Anerkennung ringenden Prinzip des ‚Sozialstaats‘ zur untrennbaren Einheit.“ 72 Die auf Lassalle zurückgehende Tradition der deutschen Arbeiterbewegung 73 zielte auf die Einordnung der Arbeiterschaft in den demokratischen Staat und dessen gleichberechtigte politische, wirtschaftliche und soziale Teilhabe. Alle sind Arbeiter, Arbeit ist Teil der Menschheit und der Staat hat den Menschen, unabhängig von ihrem Stand, die freie Entfaltung zu ermöglichen. Art. 157 WRV gebot: „Das Reich schafft ein einheitliches Arbeitsrecht.“ Diese Bestimmung zielte auf ein „soziales Arbeitsrecht, das dem einzelnen Arbeitnehmer ein höchstmögliches Maß an sozialer Freiheit und Sicherheit gewährleisten sollte.“ 74 Die Sozialversicherung sollte um der „Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit“ willen geschaffen werden und vor den „Wechselfällen des Lebens“ (Art. 161 WRV) Schutz bieten. Daran lag nicht nur ein Programmsatz, sondern die verfassungsrechtliche Gewährleistung des status quo, die einen substantiellen Abbau des Sozialleistungssystems unterbinden soll.75 Der zunächst „diffuse“ 76 Rätegedanke wurde in Art. 165 WRV aufgenommen; dort fand 69 Golo Mann, S. 15. 70 Huber, S. 1083; Gusy 1997, S. 342 ff. und 353 ff. 71 Stolleis, S. 276. 72 Huber, S. 1083. 73 Hans Peter Bleuel: Ferdinand Lassalle oder Der Kampf wider die verdammte Bedürfnislosigkeit. Frankfurt a. M. 1982. 74 Huber, S. 116. 75 Huber, S. 11. 76 Gusy 1997, S. 11.

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sich die Forderung nach betrieblicher, überbetrieblicher und gesamtstaatlicher Mitbestimmung niedergelegt, welche in Betriebsräten sowie im Bezirks- und Reichswirtschaftsrat zu realisieren sei. Die Verordnung vom 4. Mai 1920 begründete den vorläufigen Reichswirtschaftsrat, der bis zum Ende der Weimarer Republik amtierte und mit zahlreichen Gutachten und Expertisen politisch wirkte. Das Recht auf Arbeit sollte Schutz bieten und wurde mit der sittlichen Pflicht zur Arbeit verbunden (Art. 163 WRV) und verhieß den öffentlichen Arbeitsnachweis und die Arbeitslosenversicherung. Weitere Gebote galten der Gleichheit, dem staatlichen Wächteramt beim Schutz der Jugend, staatlicher Wohnungsfürsorge, sozialem Schutz und Schutz der Arbeit. „Die sozialen Grundrechte prägten den ‚Geist‘ der Weimarer Reichsverfassung.“ 77 Diesen Bemühungen wurde später entgegengehalten, die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen mit sozialer Ausrichtung hätten „nur programmatischen Charakter.“ 78 Aber was heißt „nur“? Zumindest wiesen die Verfassungsbestimmungen der Gesetzgebung und damit der Schaffung neuen Rechts den Weg und kündigten damit Reformen auf vielen Gebieten der Sozialpolitik an. Nahezu alles, was zu den typischen sozialen Errungenschaften der Weimarer Republik zu zählen ist und in den Jahren 1918 bis 1920 Gesetzeskraft erlangte, lässt sich in den Grundlagen auf die Praxis der Kriegszeit zurückführen.79

Gesetzgebung Arbeit Im Kaiserreich lag der Schwerpunkt der Sozialpolitik bei der Sozialversicherung und im Arbeitsschutz. Die kollektive Vertretung der Arbeitnehmer durch frei verhandelnde, zum Streik befugte Gewerkschaften und ihr Recht auf Kollektivverhandlungen wurden erst mit und durch die Weimarer Republik durchgesetzt.80 Es entstand das moderne Arbeitsrecht.81 77 Andreas Wirsching: Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft. München 2000, S. 25. 78 Ulrike Haerendel: Die Weiterentwicklung des Sozialstaats im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Peter Masuch u. a. (Hrsg.): Grundlage und Herausforderungen des Sozialstaats. Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht. Berlin 2014, S. 108 f. 79 Werner Abelshauser: Die Weimarer Republik ein Wohlfahrtsstaat?, in: ders. (Hrsg.): Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat (VSWG Beiheft Nr. 89, 9). Stuttgart 1987, S. 15. 80 Volker Hentschel: Die Sozialpolitik in der Weimarer Republik, in: Karl Dietrich Bracher u. a. (Hrsg.): Die Weimarer Republik 1918 – 1933. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft (Schriftenreihe der BpB, Bd. 251). Bonn 1987, S. 197. 81 Knut Wolfgang Nörr: Grundlinien des Arbeitsrechts der Weimarer Republik, in: ZfA 1986, S. 403 ff.; Uwe Wesel: Geschichte des Rechts. München 42014, S. 459; Reinhard Richardi: § 2, in: ders. u. a. (Hg.): Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. 1, München 32009,

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In den Revolutionswochen des Jahres 1918 trat die Kollektivautonomie, prägendes Merkmal des modernen Arbeitsrechts, als generelle, von der Staatsgewalt nicht abgeleitete Rechtsquelle ins Leben.82

Das Neue beruhte damit auf Vorhandenem und dessen Entfaltung und Verallgemeinerung; dadurch veränderte sich die Ausrichtung der Gesellschaft. Am Ende der Weimarer Republik bezeichnete Ernst Fraenkel das Arbeitsrecht als „Prunkstück der Republik“.83 „Der sozialistische und kollektivistische Gedanke wurde nunmehr an Stelle des individualistischen und staatsautoritären Prinzips vergangener Epochen bei der Gestaltung des deutschen Sozialrechts richtunggebend und entscheidend.“ 84 Der Übergang vom vormals ausschließlich individuellen zum kollektiven Arbeitsrecht entsprach der Hoffnung 85 auf eine Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften; aber die Hoffnung trog. Die Angestelltenschicht expandierte und gewann an Bedeutung.86

Tarifrecht Der Burgfrieden 1914 war Grundlage der Kriegswirtschaft. Gewerkschaften verzichten im Krieg auf den Arbeitskampf. Arbeitsbedingungen wurden behördlich geregelt. Die Kriegsverwaltung akzeptierte aber die Gewerkschaften als berufene Vertreter der Arbeiterschaft. Am 15. November 1918 wurde das Stinnes-­Legien-­Abkommen geschlossen,87 aus dem die Zentralarbeitsgemeinschaft von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften hervorging. Tarifverträge wurden durch die Tarifvertragsverordnung (TVVO) vom 23. Dezember 191888 anerkannt: An die Stelle individualvertraglicher traten die tariflich vereinbarten Arbeitsbedingungen. Individualvertragliche Abweichungen davon waren nur bei Günstigkeit für den Arbeitnehmer statthaft.89 Die TVVO wurde so zur „Geburtsurkunde des modernen Arbeitsrechts“.90 S. 23 ff.; Mathias Schmoekel: Rechtsgeschichte der Wirtschaft. Tübingen 22016, Rn 566; Wirsching, S. 25 ff. 82 Nörr, in: ZfA 1986, S. 446. 83 Ernst Fraenkel: Die politische Bedeutung des Arbeitsrechts [1932], in: Thilo Ramm (Hrsg.): Arbeitsrecht und Politik. Neuwied 1966, S. 254. 84 Erdmann, S. 22. 85 Petra Weber: Gescheiterte Sozialpartnerschaft – gescheiterte Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat in Deutschland und Frankreich im Vergleich. München 2010, S. 190 ff. 86 Preller, S. 133 ff. 87 Dieter Krüger: Das Stinnes-­Legien-­Abkommen. Berlin 2018. 88 RGBl., S. 1456. 89 Bertram Zwanziger: Karl Korsch und das Arbeitsrecht in der Weimarer Republik – eine Skizze, in: Achim Seifert u. a. (Hrsg.): Karl Korsch zwischen Rechts- und Sozialwissenschaft. Ein Beitrag zur Thüringischen Rechts- und Justizgeschichte. Stuttgart 2018, S. 85; Nörr, in: ZfA 1986, S. 404. 90 Nörr, ZfA 1986, S. 404.

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Tarifverträge begründen für die Tarifgebundenen unmittelbar Rechte und Pflichten. Sie entstanden schon ausgangs des 19. Jahrhunderts und wurden durch juristische Arbeiten von Philip Lotmar 91 und Hugo Sinzheimer 92 als Formen kollektiver Rechtewahrnehmung gedeutet. Tarifverträge hatten aber in der Gesetzgebung keinen Ort und Niederschlag gefunden. Deshalb waren ihre Statthaftigkeit und Reichweite umstritten und umkämpft. Schon 1918 konnten Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt und damit auf nicht-­ tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer erstreckt und so verbindlich werden.93 Das Recht auf Zusammenschluss der Arbeiter und Unternehmer zu Koalitionen – von Art. 159 WRV anerkannt – wurde in der Rechtsprechung als individuelle Freiheit anerkannt.94 Kündigungen wegen Gewerkschaftszugehörigkeit wurden unstatthaft.95 Allerdings sollte die Kollektivvertragsfreiheit nicht den Koalitionen auch selbst zukommen.96 1923 wurde bei fehlender Einigung unter den Tarifvertragsparteien die Schlichtung vorgesehen 97 und staatlichen Ausschüssen überantwortet. Unter dem unparteiischen Vorsitz eines staatlich ernannten Vorsitzenden stehend, konnten diese Tarifkonflikte bindend und verbindlich entscheiden.98 Die Schlichtungsverordnung vom 30. November 1923 wies den Ausschüssen die Aufgabe zu, Arbeitskämpfe abzuwenden und den Abschluss der Kollektivverträge zu fördern.99 Zwar geht die gewillkürte der staatlichen Schlichtung vor, um den Staatseinfluss auf die Wirtschaft zu senken. Die staatliche Schlichtung verdrängte jedoch allmählich die kollektivvertragliche Regelung. Das Tarifvertragssystem setzte auf beiden Seiten Kompromissfähigkeit voraus, dazu waren jedoch die Tarifpartner zunehmend außerstande. Hieraus entwickelte sich gegen Ende der Weimarer Republik ein System staatlicher Schlichtung, das Arbeitsbedingungen und Löhne einseitig festsetzte.

Betriebsverfassung Das noch von der Nationalversammlung verabschiedete Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 1920100 sah für Betriebe mit über 20 Beschäftigten einen Betriebsrat vor. Betriebsräte sollten die Interessen der Belegschaft gegenüber den Arbeitgebern vertreten und zugleich für die Wirtschaftlichkeit der Arbeitsabläufe sorgen, die Einführung neuer Arbeitsmethoden 91 Philip Lotmar: Die Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 15 (1900), S. 1. 92 Hugo Sinzheimer: Der korporative Arbeitsnormenvertrag. Eine privatrechtliche Untersuchung, 2 Bde. [1907 – 1908]. Neudruck, Berlin 1977. 93 Erdmann, S. 30 f. 94 RGZ 111, S. 199. 95 RAGE 4, S. 23. 96 RGZ 113, S. 33. 97 Eyck, S. 149. 98 Zwanziger, S. 89. 99 Nörr, in: ZfA 1986, S. 418 ff. 100 RGBl., S. 147 vom 6. April 1920; vgl. zum Folgenden Zwanziger, S. 85 ff.

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fördern und den Betrieb vor Erschütterungen bewahren. Betriebsleitung und Betriebsrat konnten einvernehmlich Arbeitsbedingungen im Betrieb regeln. Für die Wahrnehmung der Aufgaben war der Betriebsrat in Arbeiter- und Angestellten-­ Ausschüsse zu untergliedern; sie hatten die Belange ihrer jeweiligen Beschäftigtengruppe zu vertreten. Während jene schon vor dem Ersten Weltkrieg existierenden Vertretungen nur über betriebliche Arbeitsbedingungen (Arbeitszeit, Lohnzahlung, Betriebsbußen) mitzuentscheiden hatten, sieht das Betriebsrätegesetz erstmals die wirtschaftliche Mitbestimmung vor. Diese Befugnis ist Ausdruck der in Art. 165 WRV niedergelegten Räteverfassung. Sie versah das Wirtschaftsleben auf der betrieblichen, Bezirks- und Reichsebene mit Vertretungskörperschaften, in denen die Arbeiterschaft mitwirken sollte.101 Bei Kündigung eines Arbeitsvertrages durch den Arbeitgeber war seither der Betriebsrat zu beteiligen. Dem Arbeitgeber war die Kündigung aus betrieblichen und verhaltensbedingten Gründen erlaubt, hingegen aus politischen und koalitionspolitischen Gründen versagt. Jenseits dessen konnte der Betriebsrat einer Kündigung des Arbeitgebers widersprechen. Für diesen Fall hatte der Arbeitgeber eine gerichtliche Entscheidung über die Kündigung zu erwirken.102

Arbeitsschutz Die noch 1918 verfügte Begrenzung der Arbeitszeit auf täglich 8 Stunden und der wöchentlichen Arbeitszeit auf 48 Stunden waren erste greifbare Erfolge im Bemühen um die gesetzliche Begrenzung der Arbeitszeit und damit die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen.103 Mit Gesetz vom 6. April 1920 wurde eine Beschäftigungspflicht für Schwerbeschädigte – Kriegsopfer- und Unfallrentner – eingeführt.104 Schon 1923 wurde aber das Verbot der Beschäftigung von über 8 Stunden im Interesse des Wiederaufbaus gelockert, weil davon durch Tarifverträge abgegangen werden durfte.105

Arbeitsgerichte Am 23. Dezember 1926 wurde mit Wirkung zum 1. Juli 1927 die Arbeitsgerichtsbarkeit außerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit geschaffen. Sie stand damit in der Tradition der Bergmanns-, Kaufmanns- und Gewerbegerichte mit starker Laienbeteiligung und war gegen die ordentliche Justiz gerichtet.106 Sie ist Ausdruck der Forderung nach einem einheitlichen Arbeitsrecht (Art. 157 WRV). Sie wurde 1934 wieder abgeschafft. 101 102 103 104 105 106

Erdmann, S. 28 f. Abelshauser, S. 30. Preller, S. 269 ff. RGBl., S. 483. Eyck, S. 149. Ebd., S. 150 f.

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Sozialversicherung Die Sozialversicherung gründete auf der 1911 geschaffenen Reichsversicherungsordnung als der Kodifikation des gesamten Sozialversicherungsrechts. Die Inflation entwertete Renten und sonstige Geldleistungen und untergrub die Finanzreserven der Sozialversicherung. Mit der Währungsreform wurde das Reich Zuschussgeber für die Sozialversicherung.107 Am Ende der Weimarer Republik lag der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeitrag umfassende Gesamtsozialversicherungsbeitrag bei 15,5 %.108 Das Reichsarbeitsministerium übernahm nach seiner Gründung 1918 die Gestaltung für die Sozialversicherung vom vormals dafür zuständigen Reichsinnenministerium.109 Die Sozialversicherung geriet unter dem Motto „besser wirtschaften, billiger verwalten“ 110 unter internen Rationalisierungsdruck. Maschinelle Datenverarbeitung in Gestalt von Lochkarten und dem Hollerith-­Verfahren zog – wegen der hohen Anschaffungskosten allerdings verzögert und nur vereinzelt – in die Verwaltung der Sozialversicherung ein.111

Krankenversicherung Die Medikalisierung auf dem Land wuchs.112 Die öffentlichen Bediensteten wurden in die Krankenversicherung aufgenommen und diese – ausgehend von Satzungsleistungen, die später aufgrund einer Notverordnung des Reichspräsidenten zu gesetzlichen Pflichtleistungen umgewandelt wurden 113 – zur Familienversorgung fortentwickelt.114 Ambulatorien entstanden. Krankenkassen und die damals gegründeten Kassenärztlichen Vereinigungen vereinbarten Pauschalvergütungen für die Honorierung der an Versicherte erbrachten ärztlichen Behandlungen. Die bestehenden Heime, Sanatorien und Krankenanstalten wurden ausgeweitet,115 die Krankheitsprävention gewann an Bedeutung.116

107 Ebd., S. 151. 108 Büttner, S. 285. 109 Stolleis, S. 291. 110 Miquel/Schmidt, S. 58. 111 Ebd., S. 61. 112 Stolleis, S. 294. 113 Haerendel, S. 109. 114 Stolleis, S. 294. 115 Wilfried Rudolf: The Welfare State and Poverty in the Weimar Republic, in: Lutz Raphael (Hrsg.): Poverty and Welfare in Modern German History. New York/Oxford 2017, S. 112. 116 Miquel/Schmidt, S. 72.

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Unfallversicherung Die Beschäftigten und freiwilligen Helfer von Feuerwehr wie Wohlfahrtspflege wurden in die Unfallversicherung auf Kosten der sie beschäftigenden Stellen einbezogen. Der Arbeitsgeräteunfall wurde erstmals eigener Versicherungsfall, ferner der Wegeunfall und die Berufskrankheiten als die ersten damals gängigen arbeitsbedingten Krankheiten. Daran erkrankte Beschäftigte bekamen auf Kosten der Unfallversicherung Heilbehandlung und Rente.117 Der Gesetzgeber schuf mithin zahlreiche neue Versicherungsfälle und weitete damit den Schutz der Unfallversicherung aus.118

Alterssicherung Die 1923 ihren Höhepunkt erreichende Inflation 119 entwertete die individuellen Rentenansprüche 120 und vernichtete ferner das von den Rentenversicherungsträgern angesparte und in Kriegsanleihen „angelegte“ Vermögen.121 Die Knappschaft vermochte ihre überkommene privilegierte Stellung als Versicherungsträger wiederzuerlangen; es zeigten sich aber bei ihr – früher als bei anderen Trägern – frühzeitig Krisenphänomene bei der Finanzierung der Leistungen, weil wachsende Ansprüche entstanden waren und damit die Rentenversicherungsbeiträge nicht Schritt hielten.122 Das Rentenniveau entsprach in der gesamten Weimarer Republik dem Fürsorgeniveau; in Inflation und Weltwirtschaftskrise lag es sogar darunter.123 Die Währungsreform von 1924 beendete zwar die Inflation, hinterließ aber eine verarmte Bevölkerung. Sie zerstörte endgültig die Kapitalgrundlagen der Sozialversicherung und zwang sie zu äußerster Sparsamkeit.124 Angesichts einer stark schrumpfenden Wirtschaft konnten sozialpolitische Fortschritte nicht erzielt werden.125

Arbeitslosenversicherung Die nach dem Ersten Weltkrieg kommunal organisierte Erwerbslosenfürsorge gewann an Bedeutung.126 1919 setzte die Diskussion über die Arbeitslosenversicherung ein – angeregt durch das Übereinkommen Nr. 2 der Internationalen Arbeitsorganisation von 1919, das die 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126

Büttner, S. 368 ff.; Haerendel, S. 112 ff. Stolleis, S. 295. Ebd., S. 291. Miquel/Schmidt, S. 50. Haerendel, S. 111 f.; Miquel/Schmidt, S. 50. Haerendel, S. 111 f. Haerendel, S. 112. Preller, S. 285 ff. Ebd., S. 296. Büttner, S. 372.

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weltweite Einführung der Arbeitslosenversicherung vorgeschlagen hatte. Erste Entwürfe für ein Gesetz wurden unterbreitet.127 Arbeitslosigkeit wurde als versicherbares Risiko erkannt. Versicherungen waren kommunal in Gent und Köln erprobt worden und die Arbeitslosenversicherung wurde 1911 erstmals im Vereinigten Königreich eingeführt.128 Arbeitsvermittlung und Arbeitsbeschaffung erlangten neue Bedeutung.129 Nach einer Karenzzeit von sechs Wochen bestanden Leistungsansprüche bei Bedürftigkeit – zunächst für höchstens 26 Wochen, in schweren Fällen bis 39 Wochen. 1926 wurde die Bezugsdauer auf 52 Wochen erhöht; gleichzeitig wurden zwecks Entlastung der nach der Währungsreform auf Sparsamkeit ausgerichteten öffentlichen Haushalte Beiträge zu deren Finanzierung erhoben. Die zunächst kommunale Erwerbslosenfürsorge forderte zahlreiche Zuschüsse aus Ländern und Provinzen und diese erhielten ihrerseits einen steigenden Anteil des Reiches.130 Die Arbeitslosenversicherung sicherte ein Recht und begründete die Pflicht zur Arbeit. Sie finanzierte öffentliche Beschäftigungsprogramme, scheiterte aber in der Massenarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise. Die 1927 eingeführte Arbeitslosenversicherung 131 wurde nach sozialversicherungsrechtlichen Grundsätzen durch Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert. Sie schuf auch eine gesamtstaatlich einheitliche Arbeitsvermittlung. Sie trat an die Stelle der kommunalen Erwerbslosenfürsorge. Die Leistungen waren degressiv und wiesen eine Familienkomponente auf.132 Die Versicherung ermöglichte auch den von Arbeitslosigkeit erstmals betroffenen höher verdienenden Beschäftigten eine dem Erwerbseinkommen entsprechende sowie als Rechtsanspruch ausgestaltete Sicherung.133 Die politischen Streitigkeiten über die Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge bereiteten den demokratischen Regierungen in der Weimarer Republik das Ende.134 Das bis 1927 entwickelte Institutionengefüge der Arbeitsverwaltung wurde nach 1933 zu einem der wichtigsten Grundelemente deformiert, aus denen die nationalsozialistische Herrschaftsarchitektur schließlich das wirtschafts- und sozialpolitische Fundament des totalen Staates bereitete: Arbeitseinsatz.135

127 Preller, S. 283; Naoki Fukuzawa: Staatliche Arbeitslosenunterstützung in der Weimarer Republik und die Entstehung der Arbeitslosenversicherung. Frankfurt a. M. 1995, S. 145 ff. und 202 ff. 128 Fukuzawa, S. 35 ff. 129 Preller, S. 376 f. 130 Büttner, S. 30. 131 Abelshauser, S. 19; Hentschel, S. 213; Wirsching, S. 30. 132 Hentschel, S. 213 f. 133 Fukuzawa, S. 202 ff. 134 Preller, S. 399. 135 Klaus J. Bade: Arbeitsmarkt, Bevölkerung und Wanderung in der Weimarer Republik, in: ders. u. a. (Hrsg.): Sozialhistorische Migrationsforschung. Göttingen 2004, S. 374.

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Seit den 1920er-­Jahren entwickelte sich eine an den wirtschaftlichen Bedürfnissen ausgerichtete Politik der Arbeitsmigration.136 Die Beschäftigung von Ausländern erfüllte eine Ersatz- und Pufferfunktion.137 Die Regulierung wurde durch das 1922 verabschiedete Arbeitsnachweisgesetz möglich, welches ein öffentliches Arbeitsvermittlungsmonopol begründete und in diesem Rahmen auch den Arbeitsmarktzugang aus dem Ausland steuerte.138 Dieser ging einher mit einer inländischen Zunahme der Ost-­West- wie Land-­Stadt-­Wanderung.139

Selbstverwaltung Mitglieder der Arbeiterschaft übernahmen Leitungsverantwortung in den Trägern der Sozialversicherungen – namentlich bei Krankenkassen wie in der Renten- und Unfallversicherung.140 1924 und 1928 fanden die ersten Sozialwahlen statt.141 Seit 1922 waren Frauen 142 zur Wahrnehmung von Mitgliedschaftsrechten in den Organen der Selbstverwaltung der Sozialversicherung befugt.

Kriegsopferfürsorge Bereits nach der Reichsgründung wurde die Militärschadensentschädigung zum Ausgleich der im Deutsch-­Französischen Krieg von 1870/71 erlittenen Opfer eingeführt. Sie hatte aber in der Phase vor dem Ersten Weltkrieg an Bedeutung eingebüßt. 1906/1907 wurde eine eigene Militärfürsorge eingeführt, welche mit der Kriegsopferversorgung eine eigene, den Versorgungsämtern übertragene Verwaltung schuf.143 Mit dem Ersten Weltkrieg änderte sich die Lage von Grund auf. 6 Millionen Soldaten und 3 Millionen Kriegsverwundete und Kriegshinterbliebene waren zu entschädigen. Die vordem übliche Koppelung von öffentlicher und privater Versorgung konnte angesichts der großen Zahl von Opfern und der Schwere der Schäden nicht aufrechterhalten werden.144 Schon während des Krieges bemühte sich die Politik darum, die verwundeten „Helden des Schützengrabens“ nach ihrer Heimkehr zu „Helden der Arbeit“ zu machen.145

136 Ebd., S. 345 ff. 137 Ebd., S. 358. 138 Ebd., S. 359 ff. 139 Ebd., S. 364. 140 Miquel/Schmidt, S. 50. 141 Wolfgang Ayass: Wege zur Sozialgerichtsbarkeit: Schiedsgerichte und Reichsversicherungsamt bis 1945, in: Masuch u. a. (Hrsg.): Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht, S. 276 ff. 142 Haerendel, S. 109. 143 Pierluigi Pronti: Kriegsopfer und Staat. Sozialpolitik für Invaliden, Witwen und Waisen des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Italien (1914 – 1924). Köln/Weimar/Wien 2015, S. 104. 144 Ebd., S. 106. 145 Ebd., S. 109.

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Unter dem Eindruck der massiven Verwundungen entwickelten sich Orthopädie und Medizinhandwerk, namentlich die Verbreitung von Prothesen.146 Gleichzeitig sollte die Kriegsopferversorgung sich zu einer „gehobenen“ – d. h. von der Armenfürsorge unterschiedenen – Entschädigung fortentwickeln.147 Schon 1916 beklagten die Verbände der Kriegsbeschädigten aber schlechte Lebensbedingungen der Kriegsopfer.148 Die Umstellung von Kriegs- zu Friedensproduktion bedeutete zunächst Arbeitslosigkeit für viele. Die Wirtschaftsleistung hatte sich zwischen 1914 und 1919 halbiert. Schon damals hatten die Träger der Wohlfahrtspflege Einfluss. Die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Produktionsbedingungen war daher zentrales Ziel der Nachkriegszeit.149 1919 bestimmte eine Verordnung die Pflicht zur Einstellung von Schwerbehinderten für mittlere und größere Unternehmen.150 1920 erging das Reichsversorgungsgesetz (RVG).151 Die „Kriegswohlfahrtspflege“ hatte sich der Kriegsteilnehmer und deren Familien anzunehmen; noch 1924 waren 2,3 Millionen Versorgungsberechtigte.152 Das RVG sah umfassende Ansprüche für die Heilbehandlung, den Einkommensersatz während der Heilbehandlung und einen sich am Maß der Erwerbsbeeinträchtigung ausrichtenden Schadensausgleich vor. Im RVG wurde die Arbeit als Therapie, als ein Recht und gleichzeitig eine Pflicht verankert, als Mittel zur Rückkehr an die soziale Normalität, was sich auch in dem Umstand ausdrückte, dass der sozialen Fürsorge mehr Bedeutung als der Rente zugestanden wurde.153

Sie entwickelte sich zur vom Reich finanzierten „gehobenen Fürsorge.“ Die den Kriegsopfern zuteilwerdende Entschädigung sollte daher nicht mit „dem Odium der Armenunterstützung“ 154 belastet werden und deshalb ein Viertel über dem Satz der allgemeinen Fürsorge liegen.155 Sie zielte auf Personen, welche infolge Kriegseinwirkungen ein Sonderopfer erbrachten. Sie erhielten ein durch das Reich finanziertes gesetzliches Recht auf Leistung, das die Individualisierung der Hilfe sicherte, gehobenem Schutz gewährte und schließlich gegenüber anderen sozialen Leistungen nicht subsidiär war.156 Seit 1921 drückte aber die Inflation auf die Renten aus der Kriegsopferversorgung. Das Gesetz sah zwar die Garantie des Leistungsniveaus und damit die Anpassung der Rente an sich verändernde Lebenshaltungskosten vor. Angesichts der galoppierenden Inflation 146 Ebd., S. 110. 147 Ebd., S. 132 ff. 148 Ebd., S. 275 ff. 149 Ferdinand Friedensburg: Die Weimarer Republik. Hannover/Frankfurt a. M. 1957, S. 297 ff. 150 Pronti, S. 326. 151 Ebd., S. 345 ff. 152 Büttner, S. 132 f. 153 Pronti, S. 353. 154 Stolleis, S. 277; Haerendel, S. 115. 155 Stolleis, S. 277. 156 Büttner, S. 369.

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kam der Staat aber mit deren Anpassung nicht nach. In der öffentlichen Wahrnehmung wurden die Lasten als ein „gigantischer finanzieller Aufwand“ beklagt, zu tragen von einer „am Boden liegenden Wirtschaft.“ 157 Die Versorgungsämter zahlten jährlich bis 1¾ Mrd. Reichsmark auch noch nach 1924 aus.158 Die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg tätigen Demobilmachungsämter hatten die Soldaten in das Erwerbsleben wieder einzugliedern.159 Für die zu Kriegsbeginn entlassenen Soldaten bestand eine Wiedereinstellungspflicht; außerdem wurde den Unternehmen aufgegeben, 2 % der Belegschaft aus dem Kreis der Kriegsbeschädigten zu beschäftigen.160

Soziale Fürsorge Wegen der kommunalen Zuständigkeit für das Armenwesen galt in der Weimarer Republik das Prinzip des (Unterstützungs-) Wohnsitzes anstelle des Heimatprinzips. Zahlreiche dadurch notleidend gewordene Gemeinden wurden von den Ländern gestützt; namentlich in der Erwerbslosenfürsorge waren diese ihrerseits auf Reichszuschüsse angewiesen.161 Die Fürsorgeberechtigten wurden zahlreicher; die Berechtigten übertrafen die hergebrachte Armenbevölkerung deutlich. Auch Kriegsopfer, Sozial- und Kleinrentner sowie Arbeitslose bezogen ergänzende Hilfe. 1928 bezog ein Drittel der Rentner ergänzend Fürsorge.162 Namentlich Inflation und Weltwirtschaftskrise machten viele Menschen fürsorgeabhängig.163 Die Reichsfürsorgepflichtverordnung (RFV) vom 13. Februar 1924 schuf den Rechtsrahmen für Landesgesetze. Darin wurde der Grundsatz der Subsidiarität der öffentlichen gegenüber der freien Wohlfahrtspflege 164 formuliert. Die RFV schuf Grundsätze und Empfehlungen und diente dazu, die sich in lokaler und Landesgesetzgebung, aber auch in Hinblick auf die Verschiedenheiten der Systeme stark ausdifferenzierenden Fürsorgeformen zu vereinheitlichen und auf gemeinsame Grundsätze zu stützen.165 Die Sozialhilfe sollte Hilfe zur Selbsthilfe sein, in der Form die Menschenwürde wahren, auf die Bedürfnisse des einzelnen Hilfeempfängers abgestimmt werden und „Asoziale“ disziplinieren. Die freien Träger spielten bei der Hilfegewährung eine zentrale Rolle. Sie wurden im Laufe des Prozesses der Regulierung von Sozialhilfe professionalisiert.166 In der Zeit der Wirtschaftskrise erlangten Arbeitsbeschaffungsprogramme große Bedeutung.167 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167

Pronti, S. 368. Friedensburg, S. 226. Büttner, S. 130. Ebd., S. 130 f. Stolleis, S. 278. Büttner, S. 369 f. Haerendel, S. 112 ff. Büttner, S. 368 ff.; Haerendel, S. 115. Stolleis, S. 279 ff. Ebd., S. 283. Friedensburg, S. 236 ff.

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Jugendfürsorge war im 19. Jahrhundert punktuell. Ihre Aufgaben waren Arbeitsschutz, Schulpflicht und Armenfürsorge, einschließlich der Vormundschaft für Kinder und Jugendliche. Im 20. Jahrhundert wurde Jugendpolitik zu einem eigenständigen und umfassenden Zweig der Gesellschaftspolitik.168 Art. 122 WRV bestimmte: Die Jugend ist gegen Ausbeutung sowie gegen sittliche, geistige und körperliche Verwahrlosung zu schützen. Staat und Gemeinden haben die erforderlichen Einrichtungen zu treffen.

Jugend wurde als eigene Lebensphase anerkannt; es entstand eine eigene Gesetzgebung zur Jugendwohlfahrt. Auf Initiative der weiblichen Abgeordneten aus verschiedenen Reichstagsfraktionen wurde ein Recht auf Erziehung zur gesellschaftlichen Tüchtigkeit (§ 1 RJWG) formuliert; darin lag eine weitere „herausragende gesetzgeberische Leistung der jungen Republik.“ 169 Neu geschaffene Sport- und Spielplätze sollten Jugendlichen Leibesübungen ermöglichen.170 Die in diesem Zusammenhang gebildeten Jugendämter ergänzten die damals ebenfalls erstmals im Jugendgerichtsgesetz getroffenen Regelungen und halfen bei der Sorgerechtentziehung.

Wohnen Die Wohnungsnot grassierte schon vor dem Ersten Weltkrieg. Der Wohnungsbau stagnierte kriegsbedingt. Wegen Umsiedlern aus Elsass-­Lothringen, der Auflösung von Garnisonen und der Rückführung eines Millionenheeres und der nach dem Krieg einsetzenden Haushalts- und Familiengründung war Wohnraum sehr begehrt, blieb aber knapp. Art. 155 WRV legitimierte den Mieterschutz, Mietpreisbindungen, öffentliche Wohnraumbewirtschaftung und Wohnungsbauförderung. Die auf den Mietertrag erhobene Hauszinssteuer sollte den sozialen Wohnungsbau finanzieren helfen.171 Es entstand das soziale Mietrecht mit Wohnraumbewirtschaftung, Miethöhenkontrolle und Kündigungsschutz für Mieter.172 Diese Maßnahmen machten den wachsenden öffentlichen Einfluss bei auf die Wohnungsversorgung sichtbar.173 Das Kleingartenwesen erhielt Auftrieb durch die Arbeitslosigkeit.174 Berlin wurde durch den 1920 beschlossenen Zusammenschluss von acht Städten, 59 Gemeinden und 27 Gutsbezirken zu Groß-­Berlin zu einer ausgedehnten Stadt, die sich in den Jahren der Weimarer Republik zu einem mondänen und weltweit beachteten wirtschaftlichen, kulturellen und intellektuellen Zentrum entwickelte.175 In den Gemeinden, 168 Ebd., S. 283 ff. 169 Büttner, S. 283; Rudolf, S. 111. 170 Friedensburg, S. 227. 171 Eyck, S. 153. 172 Wesel, S. 459. 173 Stolleis, S. 287 ff. 174 Friedensburg, S. 230. 175 Golo Mann, S. 57 ff.

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namentlich den stark anwachsenden Städten, entstanden neue sozialpolitische Akteure mit weitreichenden Aufgaben, die insgesamt die traditionelle Armenpflege überwanden und an deren Stelle die moderne Stadtentwicklung beförderten.176 Damit ging die deutliche Steigerung des Anteils der von gemeindlichen Wohlfahrtsausgaben abhängigen Personen einher. Sie bedeutete in vielen Großstädten eine Vervielfachung gegenüber der Vorkriegszeit; dies ließ dementsprechend zugleich den Anteil der Sozialausgaben an den städtischen Ausgaben stark ansteigen.177 Das Vorschläge von Bodenreformer Adolf Damaschke aufgreifende Reichsheimstätten-­ Gesetz ermöglichte die öffentlich geförderten „Kriegerheimstätten“: ein Familienhaus mit Nutzgarten für Gartenbau oder Landwirtschaft. Reich, Land oder Gemeinden konnten dafür Nutzungsrecht auf prinzipiell öffentlichen Grundstücken einräumen. Der soziale Wohnungsbau expandierte und wurde zur öffentlichen Aufgabe. Gleichzeitig erschwerten gesetzlich vorgeschriebene niedrige Mieten und die öffentliche Einflussnahme auf Wohnungsbau privatwirtschaftlich fundierte Wohnungsförderung. Auch die Rentenversicherung legte ihr Vermögen in Projekte modernen Wohnens an.178 Kleinsiedlungen wurden gefördert; offiziell galt die Regel: Wohneigentum vor Mietwohnungen!179 Sie wurde aber nicht Wirklichkeit. Die Republik schuf ästhetisch und technisch neue Behausungen – „Neues Bauen“ wurde möglich. Großsiedlungen wie Römerstadt (Frankfurt am Main), Hufeisensiedlung (Berlin), Weißenhofsiedlung (Stuttgart) und Jarrestadt (Hamburg) entstanden. Die Stadthygiene nahm an Bedeutung zu. Schulbau, Bäder, Büchereien und Bibliotheken entstanden neu. Die wirtschaftliche Lage widersprach durchaus den luxuriösen Gebäuden, die sie den Arbeitern als gemeinsame Wohnstätten errichtete: jede Wohnung mit Sonne und Bad, große Höfe voller Zierpflanzen, Dächer für hygienische Bestrahlungen. Das Geld, das diese volkstümlichen Herrlichkeiten kosteten, war den internationalen Verpflichtungen entzogen.180

Niedergang der Weimarer Republik Der Anteil der öffentlichen Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt stieg zwischen 1913 und 1932 von 16 % auf 27,4 % und die Ausgaben der Sozialversicherung wuchsen von 1,7 % auf 9,2 %.181 Der Staat – Reich, Land und Gemeinden – erkannte seine „soziale Allverant 176 Rudolf, S. 105 ff. 177 Ebd., S. 107 ff. 178 Miquel/Schmidt, S. 52 ff. 179 Ebd. 180 Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt [1950]. Frankfurt a. M. 1996, S. 344 f. 181 Abelshauser, S. 17.

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wortlichkeit“ 182 an und entfaltete sie – ausgerichtet an den Interessen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung 183 – auf allen Ebenen. Der Staat als Träger der Volkserziehung und Schulung, als Wächter der Moral, als zentraler Agent der wissenschaftlichen Forschung, als Auftraggeber und Förderer der Künste, als Garant, vor allem der baren Existenz seiner Bürger, das war nun klar, das verstand sich von selbst.184

Der eingreifende Staat musste den Bürgern auch was geben. „Die Weimarer Republik tat das, solange sie es konnte.“ 185 Dies äußerte sich in Ausgabensteigerungen für den Wohnungsbau, die Gesundheit und die Einkommenssicherung bei Alter, Erwerbsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit. Die Lohnquote stieg, was bedeutet, dass die Arbeitnehmerschaft einen höheren Anteil an den wirtschaftlichen Zuwächsen bekam: Dies ging mit einer Nivellierung der Einkommen einher, was die Angehörigen vormals gehobener Positionen als Statusverlust erlebten.“ 186 In der Weltwirtschaftskrise trat eine Massenverarmung für alle Bevölkerungskreise ein. Die Eingliederung der Arbeiterschaft in den Staat, das große innenpolitische Problem des Krieges, gelang nur äußerlich durch Einbeziehung der Arbeiterführer in die Regierungsgeschäfte. Das innere Mitgehen der breiten Arbeitermassen, das Verständnis der Arbeiterschichten für die Politik der späten Kriegsjahre konnte nicht erreicht werden.187

Es herrschten nach Jahren der Entbehrungen im Inneren Warenhunger und – dank einem hoch bewerteten US-Dollar – gute Exportbedingungen. Die Arbeitslosigkeit ging schnell zurück.188 Alsbald standen Modernisierung des Produktionsapparats und Rationalisierung im Mittelpunkt. Die ab 1929 wieder einsetzende Arbeitslosigkeit entwertete die Kollektivverhandlungen. Kurt Tucholsky fasste es in die Worte: Eine der schädlichsten Folgen der Arbeitslosigkeit ist wohl dies, daß Arbeit als Gnade vergeben wird. Es ist wie im Kriege; wer die Butter hat, wird frech. Es ist nicht nur, daß die Koalitionsrechte der Arbeiter und schon gar erst der Angestellten auf ein Minimum zusammengeschmolzen sind, daß ihre Stellung bei Tarifverhandlungen immer ungüns-

182 Golo Mann, S. 54. 183 Eyck, S. 155. 184 Golo Mann, S. 54 f. 185 Ebd., S. 55. 186 Abelshauser, S. 25 f. 187 Preller, S. 84. 188 Friedensburg, S. 201; Preller, S. 126 f.

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tiger wäre, weil bereit das Wort ‚Tarif‘ bedrohende Welterscheinungen in Personalbüros hervorruft.189

Die Wirtschaftskrise erschütterte die Institutionen der Sozialpolitik. Kurt Tucholsky kommentierte sarkastisch: Stets hat die Menschheit ihre Helden gehabt: Priester oder Ritter, Gelehrte oder Staatsmänner. Bis zum 14. Juli 1931 waren es für Deutschland die Wirtschaftsführer, also Kaufleute. […] Für diese Sorte sind Arbeiter und Angestellte, die sie heute mit einem euphemistischen und kostenlosen Schmeichelwort gern ‚Mitarbeiter‘ zu titulieren pflegen, natürliche Feinde. Auf sie mit Gebrüll! Drücken, drücken: die Löhne, die Sozialversicherung, das Selbstbewußtsein – drücken, drücken! Und dabei merken diese Dummköpfe nicht, was sie da zerstören. Sie zerstören sich den ganzen Absatzmarkt.190

Die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich, auch weil die falsche Politik gemacht wurde. Industrielle hatten bares Geld gehabt, um es in die Kasse Hitlers, ein Loch ohne Boden, zu werfen. Kein Geld hatten sie, sieben Millionen Arbeitsloser zu beschäftigen. Die mussten sein, sonst half dem ganzen Hitler ihr Geld nicht.191

Am Ende reichte die Decke nicht mehr „für die ungleichen Bettgenossen, einer musste das Feld räumen.“ 192 Die Republik zerbrach schließlich daran,193 weil sie das von ihr gegebene Wohlfahrtsversprechen nicht einhielt. Kurt Tucholsky formulierte: Nationalökonomie ist, wenn die Leute sich wundern, warum sie kein Geld haben […]. Eine wichtige Rolle im Handel spielt der Export. Export ist, wenn die anderen kaufen sollen, was wir nicht kaufen können; auch ist es unpatriotisch, fremde Waren zu kaufen, daher muß das Ausland einheimische, also deutsche Waren konsumieren, weil wir sonst nicht konkurrenzfähig sind […]. Jede Wirtschaft beruht auf einem Kreditsystem, das heißt der irrtümlichen Annahme, der andere würde gepumptes Geld zurückzahlen. Tut er das nicht, so erfolgt eine

189 Kurt Tucholsky (alias Ignaz Wrobel): Bemerkungen […] zu dürfen, in: Die Weltbühne vom 14. Oktober 1930. 190 Kurt Tucholsky (alias Ignaz Wrobel): Die Herren Wirtschaftsführer, in: Die Weltbühne vom 18. August 1931. 191 Heinrich Mann, S. 347 f. 192 Golo Mann, S. 93. 193 Hagen Schulze: Die Deutschen und ihre Nation. Weimar-­Deutschland 1917 – 1933. Berlin 1982, S. 419 ff.

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sog. ‚Stützungsaktion‘, bei der alle, bis auf den Staat, gut verdienen. Solche Pleite erkennt man daran, daß die Bevölkerung aufgefordert wird, Vertrauen zu haben.194

Die Arbeitslosigkeit verängstigte und beförderte den NS-Erfolg.195 Die betriebliche Sozialpolitik wurde abgebaut und die Entsolidarisierung unter der Arbeiterschaft setzte ein. Die Weltwirtschaftskrise offenbarte, dass sich Weimar mit seinen sozialrechtlichen Garantien übernommen hatte.196 „Der Gedanke der Weimarer Republik, insofern sie einen Gedanken hatte, war der Kompromiß, der Klassenfriede, nicht der bis zum bitteren Ende durchzuhaltende Klassenkampf.“ 197 Das Nebeneinander einer sehr starken, wirksam organisierten Privatwirtschaft und eines in das Wirtschaftsleben politisch eingreifenden Staates konnte nur glücken, solange auf beiden Seiten guter Wille, sich zu vertragen, bestand und die Geschäfte befriedigten.198 So verfing am Ende der Nazi-­Vorwurf, die „sozialdemokratische Republik“ hätte „gegen den Kapitalismus so gut wie nichts getan.“ 199

Soziales Vermächtnis der Weimarer Republik Die Weimarer Republik veränderte Deutschland von Grund auf. Das heutige Arbeits- und Sozialrecht erlangte damals seine rechtliche Gestalt und darüber hinaus seine soziale und ökonomische Tragweite. Bessere Arbeitsbedingungen und einen angemessenen sozialen Schutz in einer sich entfaltenden Wirtschaft zu schaffen, war ihr Ziel. Am Ende hielt daran nur noch die Sozialdemokratie fest; die Fortschrittsliberalen waren verschwunden und das Zentrum setzte auf den autoritären Staat.200 Im Gegensatz zu der Nachkriegswelt, in der dieses weltweit gelang, blieb der Weimarer Republik der Nachweis des Erfolges ihrer Absichten versagt. Ihr fehlte die Zeit, damit ihre Sozialpolitik reifen konnte.201 Ihr Bemühen war indes nicht vergebens. Nachdem der NS-Staat buchstäblich – und wie von dessen Stützen schon von Anfang lauthals versprochen – „alles in Scherben fallen“ ließ und die Staatlichkeit in Deutschland wieder zu begründen war, setzte sich die Arbeit dort fort, wo sie 1933 geendet hatte: Bei der Wiederrichtung und Fortentwicklung des Arbeits- und Sozialrechts, so wie es in der Weimarer Republik entwickelt worden war. 194 Kurt Tucholsky (alias Kaspar Hauser): Kurzer Abriss der Nationalökonomie, in: Die Weltbühne vom 8. September 1931. 195 Wolfgang Zollitsch: Arbeiter zwischen Weltwirtschaftskrise und Nationalsozialismus. Göttingen 1990, S. 12. 196 Haerendel, S. 116. 197 Golo Mann, S. 90. 198 Ebd. 199 Ebd., S. 114. 200 Winkler, S. 610. 201 Wirsching, S. 31.

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Aufs Grundsätzliche hin gesehen, hat die Weimarer Republik für die Entwicklung des deutschen Sozialstaats vermutlich mehr geleistet als das Kaiserreich und die Bonner Republik.202

„Bonn“ ist vielleicht gerade deshalb nicht zu „Weimar“ geworden, weil dessen Sozialstaatsmodell, jetzt in einer seiner internationalen Grundausrichtung gemäßen Form, nach 1949 erstmals – und mit tätiger US-amerikanischer Hilfe – auch dauerhaft in einer expandierenden und international florierenden Weltwirtschaft erfolgreich entfaltet werden konnte. „Das bedeutet, dass die deutsche Republik besser gewesen ist als ihr Ruf, ihr Geist besser als die Tatsachen, die ihr ein Ende machten.“ 203 Einzig die Republik gewährte Deutschland „die geistige Freiheit […] – nicht aus Schwäche, sondern weil in ihrer Exekutive einige sich selbst achteten.“ 204 „Der Überdruss an einem Staat, der nicht leben will, entmutigt seine Anhänger.“ 205 „So erwies sich im Sinne der Sozialreform der Vorkriegszeit der Erste Weltkrieg als der große Schrittmacher der Sozialpolitik.“ 206 Dies drückte sich in einem starken Anstieg der öffentlichen Ausgaben sowie des Volumens der Sozialversicherung aus. Die Anerkennung der Gewerkschaften und deren Betätigungsfreiheit, Mitbestimmung und Tarifverträge, Erwerbslosenfürsorge, Arbeits- und Mutterschutz, Mieterschutz und Wohnraumbewirtschaftung – dies alles wurde, fußend auf Vorbereitungen in der Kriegszeit, in der ersten Phase der Weimarer Republik entfaltet.

202 Hentschel, S. 198. 203 Heinrich Mann, S. 347. 204 Ebd., S. 342. 205 Ebd., S. 349. 206 Preller, S. 85.

Der Fall Pommern

Räte, Revolution und die Wahl zur ­Nationalversammlung in Stralsund Christoph Freiherr von Houwald

Einleitung Am 15. November 1988 wurde im Stralsunder Hafen aus Anlass des 70. Jahrestages der Novemberrevolution in Anwesenheit des damaligen Oberbürgermeisters und von Vertretern der SED-Kreisleitung ein Ehrenmal zur Erinnerung an die Teilnehmer des Kieler Matrosenaufstandes eingeweiht.1 Der Gedenkstein 2 trägt die Aufschrift: Hier liefen am 10. November 1918 zwei Torpedoboote mit Teilnehmern des Kieler Matrosenaufstandes ein, um den Stralsunder Arbeiter- und Soldatenrat bei der Weiterführung der Novemberrevolution zu unterstützen.

Diese Aufschrift erweckt den irreführenden Eindruck, dass den Kieler Matrosen eine besondere Rolle bei den revolutionären Ereignissen in Stralsund zugekommen sei. Es ist zwar unzweifelhaft, dass der Matrosenaufstand in Kiel die Initialzündung, gleichsam das Signal für die dann reichsweite Novemberrevolution gewesen ist. Die besondere Bedeutung von Kieler Matrosen als sog. „Sturmvögel“ der Revolution haben zuletzt die beiden Autoren Kinzler und Buttgereit in einem Beitrag für einen Ausstellungsband des Kieler Stadt- und Schifffahrtsmuseums herausgestellt.3 Für Stralsund lässt sich jedoch feststellen, dass das Eintreffen der beiden Torpedoboote für die hiesigen revolutionären Ereignisse folgenlos geblieben ist. Was genau damals passiert ist, ist heute – 100 Jahre später – weitgehend vergessen. Ebenso wie der Gedenkstein, der 1990 im Zuge von Umbauarbeiten im Stralsunder Hafen auf das Gelände des Marinemuseums auf dem Dänholm verbracht worden ist.4 Mit der nachfolgenden Darstellung sollen die damaligen Ereignisse wieder in Erinnerung gebracht werden.

1 Ostseezeitung Nr. 267 vom 11. November 1988 und Nr. 272 vom 17. November 1988; Norddeutsche Neuste Nachrichten Nr. 272 vom 17. November 1988. 2 Der weiße Gedenkstein wurde vom Steinmetzmeister beim VEB Stadtwirtschaft Adrian Röhrdanz entworfen und dort gefertigt. 3 Vgl. Sonja Kinzler/Jens Buttgereit: „Sturmvögel der Revolution“. Zur Verbreitung der Revolution durch (Kieler) Matrosen in: Sonja Kinzler/Doris Tillmann (Hrsg.): Die Stunde der Matrosen. Kiel und die deutsche Revolution 1918. Darmstadt 2018, S. 140 – 151. 4 Nach der freundlichen Auskunft des Fördervereins des Marinemuseums Dänholm e. V. vom 17. November 2017 hat der Förderverein, durch Passanten und Bauarbeiter darauf aufmerk-

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Zu Beginn erfolgt eine kurze Einführung in die städtischen Verhältnisse am Vorabend der Novemberrevolution. Hieran schließt sich im Rahmen einer weitgehenden chronologischen Darstellung eine Schilderung der revolutionären Ereignisse ab November 1918 an. Da die Ereignisse der reichsweiten Novemberrevolution eng mit der Bildung und dem Wirken von Arbeiter- und Soldatenräten verbunden sind, bildet die endgültige Auflösung des Stralsunder Arbeiterrats im September 1919 den zeitlichen Endpunkt der nachfolgenden Betrachtung, die in drei große Abschnitte gegliedert ist. In einem ersten Teil werden unter der Überschrift „Der Ausbruch der Revolution“ die Ereignisse vom Beginn der Revolution bis zur Übernahme der politischen Macht durch den Arbeiter- und Soldatenrat dargestellt. In einem zweiten Teil geht es unter der Überschrift „Räteherrschaft und die Demokratisierung der Wahlen“ um den mühevollen Revolutionsalltag. Es wird aufgezeigt, wie und mit welchem Erfolg der Arbeiter- und Soldatenrat auf die städtische Gesellschaft eingewirkt hat. Gleichzeitig ist bemerkenswert, wie sehr der Zusammenbruch des Kaiserreichs und die anschließende Wahlrechtsreform Stralsunds Bevölkerung politisch mobilisiert haben. Mit den Wahlen zur Nationalversammlung und zur preußischen Landesversammlung, spätestens aber mit der Kommunalwahl im März 1919 war der Arbeiter- und Soldatenrat überflüssig geworden. Warum der Stralsunder Arbeiterrat dennoch erst im September 1919 aufgelöst worden ist, ist der abschließenden Darstellung unter der Überschrift „Das Ende der Revolution“ vorbehalten.

Stralsund am Vorabend der Revolution Stralsund, Hauptstadt des gleichnamigen pommerschen Regierungsbezirks, zählte im Revolutionsjahr 1918 35.050 Einwohner 5 und war damit die zweitgrößte Stadt der preußischen Provinz Pommern. Stralsund war nicht nur Sitz der Bezirksregierung, sondern auch das regionale Zentrum für Handel, Gewerbe und Dienstleistungen des Regierungsbezirks. Neben dem Hafen, der allerdings seine einstmals überragende Bedeutung zugunsten Stettins verloren hatte, hatte sich Stralsund mit Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Eisenbahnknotenpunkt etabliert. Über dieses Verkehrsmittel wurde nicht nur ein stetig steigender Handelsverkehr abgewickelt. Beachtlich war auch der Personenverkehr über die Eisenbahn, welcher Stralsunds Bedeutung im Umland steigerte. Die Stadt war jedoch nicht nur Marktort für Vorpommern und Rügen, sondern auch Durchgangsort

sam gemacht, dass sich der Gedenkstein auf dem Bauschutt befand, diesen geborgen und im Außengelände des Marinemuseums aufgestellt. 5 Johannes Höft: Finanzstatistik Stralsund von 1874 bis zur Gegenwart. Tabelle XL, Die Bevölkerung Stralsunds. Greifswald 1937.

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für den Bäderverkehr Rügens und den Übergangsverkehr mit Schweden über die Fährstrecke Saßnitz/Trelleborg.6 Vor allem aber hatte Stralsund nach der Eingliederung in den preußischen Staat von der Ansiedlung staatlicher Dienststellen des gleichnamigen Regierungsbezirks, den Verwaltungen von Post und Eisenbahn sowie von Banken und Sparkassen profitiert. Man kann Stralsund deshalb als Beamtenstadt bezeichnen. Nicht zuletzt deshalb, weil sich hier nur wenige und relativ kleine Industriebetriebe angesiedelt hatten.7 Größter Industriebetrieb war die 1891 gegründete Zuckerfabrik. Den übrigen Betrieben kam vorwiegend nur eine lokale Bedeutung zu, d. h. sie dienten der Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung in der Stadt und dem näheren Umland. Eine Ausnahme hiervon waren die Spielkartenfabrik sowie die Pommersche Eisengießerei und Maschinenfabrik und die ab Oktober 1917 auf dem Gelände eines ehemaligen Marinestützpunktes in der Frankenvorstadt angesiedelte Luft-­Fahrzeug-­Gesellschaft mbh (LFG). Nicht zuletzt profitierte Stralsund von der Anwesenheit des Militärs. Die in der hiesigen Garnison stationierten Soldaten des Infanterie-­ Regiments 428 stellten einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar.9 Die Soldaten mussten in Friedenszeiten versorgt werden – auch Gaststätten und Hotels verdienten nicht schlecht am Militär. Die besondere Verbundenheit der Stadt mit der Garnison belegen exemplarisch die Schilderungen des Zeitzeugen Walter Radüge, wonach „die Stralsunder mit ihrem Regiment derart verwandt durch Dienstzeit, Heirat und Kameradschaft waren, dass man ohne weiteres den Begriff ‚Familienregiment‘ anwenden konnte.“ 10 Im Oktober 1918 befanden sich allerdings in den Gebäuden der am Frankendamm gelegenen Kaserne nur noch zwei Ersatz-­Bataillone des Infanterieregiments, das am 8. August 1914 per Eisenbahntransport mit 79 Offizieren, 3.298 Unteroffizieren und Mannschaften in Richtung Aachen

6 Zur wirtschaftlichen Bedeutung Stralsunds vgl. Ilse Kieseritzky: Die Stadt Stralsund geografisch betrachtet. Phil. Diss., Greifswald 1922, S. 69 – 103; zur besonderen Bedeutung der Eisenbahn vgl. ebd. S. 77 ff. 7 Karl Heinz Jahnke: Die Herausbildung des Imperialismus 1890 – 1917, in: Geschichte der Stadt Stralsund (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Stralsund, Bd. X). Köln/Weimar/Wien 1985, S. 276 – 290, hier: S. 277 f. Vgl. auch die Schilderung der ökonomischen Verhältnisse durch die Kommission der Kreisleitung zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung in: Zur Geschichte der Stralsunder Arbeiterbewegung, herausgegeben von der Abteilung Agitation und Propaganda der Kreisleitung der SED Stralsund. Ostsee-­Druckerei, Stralsund 1958, S. 11 f. 8 Infanterie-­Regiment Prinz Moritz von Anhalt-­Dessau (5. Pommersches), Nr. 42. 9 Horst Auerbach: Festung und Marinegarnison Stralsund. Rostock 1999, S. 86; vgl. auch Hans-­Joachim Hacker: Stralsund so wie es war. Düsseldorf 1992, S. 47. 10 Walter Radüge: Ich griff zum Federkiel. Erinnerungen aus acht Jahrzehnten. Ein Exemplar der Erinnerungen, die von dem Autor in den Jahren 1976 und 1997 in die Maschine und zum größeren Teil ins Stenogramm diktiert worden sind, befindet sich im Stadtarchiv Stralsund (StAS) unter der Registernummer P0 4° 514, S. 60 ff.

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transportiert worden war.11 Am Ende des Krieges starben – wie es in der 1927 erschienenen Regimentsgeschichte heißt – „für Kaiser, König und Vaterland 3745 pommersche Musketiere des Regiments, darunter 121 Offiziere und 384 Unteroffiziere.“ 12 Die städtische Gesellschaft wurde durch ein national-­monarchistisch orientiertes Bürgertum und Militär sowie eine ebenso ausgerichtete protestantische Kirche dominiert.13 Die kaiserlichen Kriegserklärungen waren in Stralsund mit einem begeisterten Umzug vom Rathaus zur Kaserne und zurück zum Alten Markt begrüßt worden. Vaterländische Lieder wurden gesungen und mehrere pathetische Reden vom Superintendenten der Stadt, dem Nikolaipastor Dr. Hornburg,14 gehalten, der sich an die Spitze des Umzuges gesetzt hatte.15 Am 30. Juli 1914 hatten sich zwar noch mehrere hundert Bürger im Gewerkschaftshaus zu einer Antikriegskundgebung der SPD versammelt.16 Da hieß das Motto noch „Krieg dem Kriege“. Eine weitere für den 9. August 2014 vorgesehene Antikriegskundgebung, zu der die SPD und die Gewerkschaften eingeladen hatten, wurde jedoch von den örtlichen Funktionären der SPD unter Verweis auf den Burgfrieden abgesagt.17 Der anfänglichen Begeisterung folgte bald die Ernüchterung, da der Krieg nicht den erwarteten Verlauf nahm. Fernab von dem damals vorherrschenden nationalen Pathos vermittelten die in der Stadt eintreffenden Eisenbahntransporte mit Verwundeten, Kriegsgefangenen und auch mit Flüchtlingen von der Ostfront einen nachhaltigen Eindruck von den Schrecken und der Wirklichkeit des Krieges. Die sich in den Stralsunder Zeitungen mit zunehmender Kriegsdauer häufenden Todesanzeigen waren ein augenscheinliches Zeichen für die hohen Verluste auch auf deutscher Seite. Ebenso wie im übrigen Reichsgebiet litten die Einwohner unter einer sich stetig verschlechternden Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Waren des täglichen Bedarfes. Einen Beleg hierfür liefert ein Blick in die Stralsunder Zeitungen. Während des gesamten Krieges finden sich dort regelmäßig 11 Hanns Mayer: Geschichte des Infanterie-­Regiments Prinz Moritz von Anhalt-­Dessau (5. Pommersches), Nr. 42 während des Krieges 1914/18, Oldenburg i. O. Berlin 1927, S. 21. 12 Ebd., S. 378. Insgesamt verloren 1055 aus Stralsund stammende Soldaten ihr Leben in verschiedenen Regimentern, vgl. Karl Heinz Jahnke: Von der Novemberrevolution bis zur Befreiung vom Faschismus 1918 – 1945, in: Geschichte der Stadt Stralsund (wie Fußnote 7), S. 291. 13 Bei den Reichstagswahlen 1912 hatte die Fortschrittliche Volkspartei 46,8 % der Stimmen erzielt. 17,2 % der Stimmen entfielen auf die Konservative Partei und 36 % auf die SPD, vgl. die Tabelle 1 auf S. 27 bei Detlev Brunner: Stralsund: Eine Stadt im Systemwandel vom Ende des Kaiserreichs bis in die 1960er Jahre (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 80). München 2010. 14 Dr. theol. h. c. Johannes Hornburg, von Ostern 1870 bis Januar 1872 Lehrer am Stralsunder Gymnasium, ab 1887 bis 1923 Pastor an St. Nikolai zu Stralsund und Stadtsuperintendent, vgl. Personenregister in: Geschichte der Stadt Stralsund (wie Fußnote 7), S. 516 bzw. den Bericht in der Stralsundischen Zeitung vom 22. Juni 1916 anlässlich seines 70. Geburtstags. 15 Stralsundische Zeitung vom 4. August 1914. 16 Stralsunder Volkszeitung vom 1. August 1914. 17 Karl Heinz Jahnke, in: ders. u. a.: Die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Stralsund. Hrsg. von der Kreisleitung Stralsund der SED. Stralsund 1968, S. 40.

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Berichte über die schlechte Versorgung mit Lebensmitteln, langes Anstehen, Verstöße gegen die festgesetzten Höchstpreise, Schwarzhandel und andere Umgehungsversuche wie z. B. schlechtes Abwiegen oder die Bevorzugung von Kunden. Ab 1915 hatte sich die Versorgungslage so weit verschlechtert, dass die Grundnahrungsmittel wie Brot, Kartoffeln und Fleisch rationiert werden mussten – eine Ausgabe erfolgte nur noch gegen die Abgabe von Lebensmittelkarten. Aber auch hierdurch war der tatsächliche Erhalt der dort garantierten Abgabemenge nicht sichergestellt. Je nach Versorgungslage mussten z. B. im Winter die Versorgungsrationen heruntergesetzt werden. Im kalten Steckrübenwinter 1916/17 brach in Stralsund nicht nur die Kartoffelversorgung zusammen und musste durch den Verzehr von Wrucken ersetzt werden. Zusätzlich beeinträchtigte ein erheblicher Kohlenmangel die notwendige Beheizung von öffentlichen und privaten Gebäuden. Ohne Zweifel sehnten daher im Herbst 1918 viele Einwohner ein Ende des Krieges herbei. Dies belegen nicht zuletzt einige briefliche Zeugnisse aus der Zeit.18 Zeitzeugen zufolge, die im Zuge der Erarbeitung einer Geschichte der Arbeiterbewegung in Stralsund befragt worden sind, sollen kleinere Zusammenkünfte von Kriegsgegnern in den Wohnungen der USPD-Mitglieder stattgefunden haben.19 Als im Januar, Februar 1918 reichsweit Massenstreiks stattfanden, seien auch in Stralsund Flugblätter zur Vorbereitung von Streikaktionen verteilt worden.20 Tatsächlich ist es in Stralsund nicht zu Streiks und Demonstrationen gekommen. Ein Grund hierfür mag gewesen sein, dass die Versorgungslage in den ländlichen Gebieten mit der Möglichkeit der Selbstversorgung nicht ganz so dramatisch schlecht war wie in den großen Städten und Ballungsgebieten. Dies belegt exemplarisch ein Zitat aus einem Brief vom 23. Juni 1918, wonach „im Garten der Salat, Kohlrabi und die Erbsen schön stehn, die Kartoffeln blühn auch, also lachen wir die Engländer aus von wegen aushungern.“ 21 Aus einem weiteren Brief vom 1. September 1918 erfahren wir, dass auch die Stralsunder zum Hamstern über Land fuhren.22 Um die Not der Familien zu lindern, wurde schon sehr frühzeitig eine Speisung von Soldatenkindern durch private Initiativen sichergestellt. Von engagierten Frauen und Mädchen wurden im Verlauf des Krieges bis zum 31. Dezember 1918 in ehrenamtlich geführten Küchen fast 293.000 Essenportionen an bedürftige Kinder ausgeteilt.23 Zusätzlich wurden ab Dezember 1916 vom Rat mehrere über das Stadt-

18 Vgl. Eberhard Schiel: Mein lieber Sohn und Kamerad. Stralsunder Briefe aus dem Ersten Weltkrieg. Kückenshagen 1996. 19 Karl Heinz Jahnke: Die Novemberrevolution in Stralsund, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der E. M. A.-Universität Greifswald 8 (1958/59), S. 19 – 25, hier S. 20; ders.: Die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Stralsund, S. 44. 20 Karl Heinz Jahnke: Stralsund November 1918. Die Novemberrevolution und die Gründung der SED. Hrsg. von der Kreisleitung Stralsund der SED. Stralsund 1958, S. 10. 21 Schiel (wie Fußnote 21), S. 293. 22 Schiel (wie Fußnote 21), S. 303. 23 Stralsundische Zeitung vom 3. Januar 1919.

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gebiet verteilte Kriegsküchen zur – wie es damals hieß – Massenspeisung von Ehefrauen und Kindern von Kriegsteilnehmern und für minderbemittelte Stralsunder eingerichtet.24 Trotz alledem dominierten im Herbst 1918 im öffentlichen Meinungsbild der Stadt verschiedene Aufrufe, in denen die Reichsführung aufgefordert wurde, „den Forderungen der Feinde nicht nachzugeben, die Deutschland einen Frieden aufzwingen wollten, der schlimmer wäre als der Krieg.“ 25 Beachtlich in diesem Zusammenhang ist der Zuspruch, den die Deutsche Vaterlandspartei 26 in Stralsund erfahren hat. Verzeichnete der am 24. September 1917 in Stralsund gegründete Ortsverein der Deutschen Vaterlandspartei anfangs 325 Mitglieder, so war die Mitgliederzahl in nur 6 Wochen auf 1.258 Stralsunder angewachsen.27 Zu den führenden Mitgliedern gehörten mit Vertreten aus dem Bürgertum, der städtischen Verwaltung sowie der Justiz und der Kirche die sog. Honoratioren der städtischen Gesellschaft 28 – so der bereits erwähnte Superintendent Dr. Hornburg und der Oberlehrer und Vorsitzende des Bürgerschaftlichen Kollegiums Prof. Dr. Badke 29 sowie der Bankdirektor Adolf Schmidt oder der Justizrat Dr. Paul Langemak 30, die beide ebenfalls Mitglied des Bürgerschaftlichen Kollegiums waren. Im Herbst 1918 setzten sich die örtlichen Mitglieder der Vaterlandspartei in mehreren Veranstaltungen und Kundgebungen für die Zeichnung der 9. Kriegsanleihe ein. Einen propagandistischen Höhepunkt bildete dabei eine Vater 24 Stralsundische Zeitung vom 14. Dezember 1916 und vom 23. Dezember 1916. 25 Aufruf in der Stralsundischen Zeitung vom 19. Oktober 1918, „Deutsche Frauen“, welcher von 20 Frauen, u. a. Frau Justizrat Dr. Langemak, Frau Superintendent Hornburg und Frau Bankdirektor Schmidt, unterzeichnet worden war; vgl. auch den Bericht in der Stralsundischen Zeitung vom 28. September über eine Versammlung der Freien Konservativen Vereinigung am Vortag bzw. die Berichte in der Stralsundischen Zeitung vom 9. Oktober 1918 über verschiedene Kundgebungen der Freikonservativen Partei und der Vaterlandpartei. 26 Die im Sommer 1917 von führenden rechtskonservativen Kreisen des Reiches gegründete Partei setzte sich mit Vehemenz gegen eine Verständigung zwischen den Kriegsparteien und für einen Siegfrieden und weiterreichende Annexionen durch das Deutsche Reich ein, vgl. Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 5: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914 – 1919. Stuttgart u. a. 1978, S. 330 – 333. 27 Stralsunder Volkszeitung vom 2. Oktober 1917; vgl. auch Bert Becker: Revolution und rechte Sammlung: Die DNVP in Pommern 1918/19, in: Geist und Gestalt im historischen Wandel: Facetten deutscher und europäischer Geschichte. Münster 2000, S. 211 – 230, hier S. 213, wonach der im September 1917 entstandene pommersche Landesverband mit 345 Ortsvereinen die stärkste Hochburg der Vaterlandspartei im Deutschen Reich bildete. 28 „Wo Justiz, Schule und Kirche wirken, kann es wahrhaftig nicht fehlen! Oder doch?“, bemerkt hierzu spöttisch die Stralsunder Volkszeitung in einem Bericht vom 2. Oktober 1917 über die Gründung der Vaterlandspartei. 29 Prof. Dr. Otto Badke war von 1887 bis 1920 Oberlehrer in Stralsund, Vorsitzender des Bürgerschaftlichen Kollegiums, vgl. Personenregister in: Geschichte der Stadt Stralsund (wie Fußnote 7), S. 507. 30 Dr. jur. h. c. Paul Langemak (1835 – 1926), wegen seiner Verdienste beim Aufbau der Provinzialheilanstalt wurde er am 5. Juni 1912 zum Ehrenbürger ernannt, er war Schriftführer der Deutschen Vaterlandspartei, vgl. Personenregister in: Geschichte der Stadt Stralsund (wie Fußnote 7), S. 514.

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ländische Kundgebung, zu der am Abend des 30. Oktober 1918 insgesamt 50 Vereine aus dem konservativen, militaristischen und nationalistischen Spektrum in die am Alten Markt gelegene Kirche St. Nikolai eingeladen hatten.31 Einmal mehr bewährte sich die Allianz aus einem konservativ-­monarchistisch orientierten Bürgertum und der protestantischen Kirche. So wurden in Stralsund im Herbst 1918 Kriegsanleihen in Höhe von insgesamt 585.000 Mark gezeichnet.32 Der Dominanz der Vaterlandspartei hatten die Genossen der örtlichen SPD nur wenig entgegenzusetzen. Trotz eines mit den Jahren gewachsenen Einflusses war es der SPD bis 1915 nicht gelungen, einen Vertreter in das städtische Parlament – das sog. Bürgerschaftliche Kollegium – zu entsenden. Erst bei einer Nachwahl im November 1915 zog mit Wilhelm Goebel 33 der erste Arbeitervertreter in das Bürgerschaftliche Kollegium ein.34 Besonders die im Frühsommer 1917 vollzogene Abspaltung der USPD verursachte eine erhebliche Schwächung der örtlichen Parteiarbeit. Im Ergebnis einer am 3. Juni 1917 im Stralsunder Gewerkschaftshaus stattgefundenen Kreis-­Generalversammlung wurden eine Reihe langjährig aktiver Genossen aus der nun sog. MSPD ausgeschlossen.35 Vom Ortsverein Stralsund ist bekannt, dass von ca. 200 Mitgliedern 31 am Jahresende 1917 zur USPD übergetreten waren.36

31 Ein Bericht über die Kundgebung findet sich in der Stralsundischen Zeitung vom 1. November 1918. Eröffnet wurde die Kundgebung durch eine Predigt des Superintendenten Dr. Hornburg, mit der die Zuhörer auf die „Schicksalsstunde Deutschlands“ eingestimmt wurden. Im Anschluss bekräftigte der Vorsitzende des Bürgerschaftlichen Kollegiums, Prof. Badke, die Notwendigkeit der Anleihe, die gebraucht würde, um „im Falle eines Friedens die Wirtschaft geordnet fortzuführen oder aber andererseits, wenn Deutschland kein ehrenvoller Friede zugebilligt würde, über die Mittel zu verfügen, um zur Verteidigung der Ehre, Freiheit und des staatlichen Fortbestehens den letzten Kampf aufzunehmen“. 32 Vgl. Höft: Finanzstatistik Stralsund, Tabelle XIV. 33 Der in Süddeutschland geborene Wilhelm Goebel hatte ursprünglich den Beruf eines Buchbinders gelernt. Nach seinem Umzug im Sommer 1912 nach Stralsund war er als Journalist für die Parteizeitung der SPD, die Stralsunder Volkszeitung tätig. Wegen der geringen Entlohnung betrieb er auch ein Zigarren-­Kleinhandels-­Geschäft. Seit 1912 war er Kreisvorsitzender der SPD des Wahlkreises Stralsund-­Franzburg-­Rügen und ab Herbst 1912 Arbeitersekretär für den Bezirk des Regierungsbezirks Rügen. Er verstarb am 14. Februar 1920. In einem Nachruf in der SPD-Parteizeitung „Der Vorpommer“ vom 22. Dezember 1920 heißt es, dass er ein zartbesaiteter Charakter und keine Kämpfernatur gewesen sei. 34 Stralsunder Volkszeitung vom 3. und 6. November 1915 sowie vom 21. Dezember 1915. 35 Vgl. Max Fank: 40 Jahre Sozialdemokratie. Beiträge zur Geschichte der Stralsunder Parteibewegung. Stralsund 9. Juni 1931, S. 11; zum Verlauf der Kreis-­Generalversammlung vgl. den Bericht in der Stralsunder Volkszeitung vom 7. Juni 1917. 36 Wilhelm Matull: Ostdeutschlands Arbeiterbewegung. Abriß ihrer Geschichte, Leistung und Opfer. Würzburg 1973, S. 270.

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Phase 1: Der Ausbruch der Revolution (9. bis 12. November 1918) Auch im Rückblick überrascht, wieso ein Aufstand von Matrosen im fernen Kiel zu einem revolutionären Umsturz in Stralsund führen konnte. Nachdem die Matrosen bereits am 4. November 1918 faktisch die Macht in Kiel übernommen hatten, hätten doch die staatlichen Stellen in Stralsund hinreichend gewarnt und vorbereitet sein müssen, zumal im Stadtgefängnis am Bielkenhagen im November 1918 einige Soldaten und Matrosen inhaftiert waren, die sich geweigert haben sollen, zur Weiterführung des Krieges an die Front zurückzukehren.37 Erste Zeitungsberichte über die Kieler Ereignisse finden sich bereits am 5. November im Stettiner Volksboten, die Stralsundische Zeitung berichtete in ihren Ausgaben vom 7. und 8. November 1918 erstmals von den Kieler Ereignissen und deren Auswirkungen in anderen Städten bzw. über Streik auf der Rostocker Neptunwerft. In der Nacht auf den 8. November 1918 war in Stralsund wie in ganz Pommern der Fernsprech-, Post- und Zugverkehr von und nach Berlin, Rostock und Rügen eingestellt worden 38 und am 9. November 1918 informierte ein Extra-­Blatt der Stralsundischen Zeitung über den Sieg der Revolution in Berlin. Zwar hatte der Stralsunder Regierungspräsident am 7. November 1918 an den Magistrat der Stadt ein Ersuchen des preußischen Innenministers gerichtet, worin zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung Maßnahmen zur Aufstellung einer Bürgerwehr empfohlen wurden.39 Doch Oberbürgermeister Gronow 40 und der Stralsunder Rat schätzten 37 Karl Heinz Jahnke: Von der Novemberrevolution bis zur Befreiung vom Faschismus 1918 – 1945, in: Geschichte der Stadt Stralsund (wie Fußnote 7), S. 291 – 331, hier S. 291. Nach den in der Stralsundischen Zeitung vom 15. November 1918 veröffentlichten Mitteilungen des Soldatenrats in Stralsund vom 13. November 1918 waren die Soldaten „wegen disziplinar- oder politischer Vergehen“ inhaftiert worden; hierunter könnten sich Marinesoldaten aus Saßnitz oder aus der Wiecker Marine-­Flugstation auf dem Bug befunden haben; vgl. Werner Lamprecht: Der Kreis Rügen in den Tagen der Novemberrevolution, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der E. M. A.-Universität Greifswald, 8 (1958/59), S. 44 – 48, hier S. 46, wonach ausweislich einer am 8. November 1918 veröffentlichten Bekanntmachung des Landrates Freiherr von Maltzahn im Rügischen Kreis- und Anzeigenblatt „gewisse militärische Maßnahmen, die in der letzten Zeit notwendig geworden sind, in der Bevölkerung Rügens Besorgnis hervorgerufen hätten. Die auf der Insel befindlichen Marinesoldaten halten vollkommene Ruhe. Die von Kiel ausgehenden Unruhen sind im Abflauen […].“ 38 Über die außerordentlichen Verkehrseinschränkungen berichtet die Stralsundische Zeitung in ihrer Ausgabe vom 9. November 1918 auf S. 2. Ein entsprechender Bericht befindet sich auch im Stralsunder Tageblatt vom 9. November 1918; vgl. auch Bert Becker: Die Zäsur 1918, in: ders. und Kyra T. Inachin (Hrsg.): Pommern zwischen Zäsur und Kontinuität, 1918 – 1933 – 1945 – 1989. Schwerin 1999, S. 35 – 68, hier S. 45. 39 StAS: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 4 und 5: Die Verfügung geht zurück auf ein entsprechendes Ersuchen des Ministers des Innern. 40 August Friedrich Gronow (1856 – 1923) war ab 1898 Erster Bürgermeister Stralsunds, ab 1909 Verleihung des Titels Oberbürgermeister. Dieses Amt übte er bis 1924 aus, vgl. Personenregister in: Geschichte der Stadt Stralsund (wie Fußnote 7), S. 511.

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in Übereinstimmung mit den Vertretern der Garnison und der örtlichen Sozialdemokratie die Lage in Stralsund völlig falsch ein, ebenso wie auch die Seekriegsleitung und das Reichsmarineamt, welche Stralsund als Rückzugspunkt für kaisertreue Schiffe und Offiziere angegeben hatten.41 In einer am 8. November 1918 stattgefundenen Lagebesprechung des Oberbürgermeisters mit Vertretern des Garnisonkommandos und des Polizeidirektors hatte nämlich der Garnisonkommandant, Major Rudeloff, erklärt, „dass er seiner Soldaten bis auf wenige sicher zu sein glaube“ und, „dass alle militärischen Magazine und der Silo militärisch bewacht seien.“ 42 Auch die beiden SPD-Funktionäre Paul Freyer 43 und Wilhelm Goebel hatten gegenüber dem Oberbürgermeister versichert, „dass keine Besorgnis zu hegen sei, dass hier Unruhe Platz greifen würde; es seien nur wenige unabhängige Sozialdemokraten anwesend“. Beide stellten sich ausweislich des Protokolls der Lagebesprechung „zur Beruhigung des Publikums zur Verfügung, falls wider Erwarten Demonstrationen stattfinden sollten.“ 44 Im Ergebnis der beiden Lagebesprechungen beschloss der Rat daher am 8. November 1918, von der Aufstellung einer Bürgerwehr abzusehen. Selbst noch am 9. November 1918 unterschätzte der Oberbürgermeister den Ernst der Lage. Brieflich teilte er dem Stralsunder Regierungspräsidenten mit: Gestern Abend hat eine Versammlung der Arbeiter der Flugzeugfabrik stattgefunden, in der beantragt wurde, heute eine Demonstration zu veranstalten und in dem Lebensmittelamt und bei dem Unterzeichnenden vorstellig zu werden. Dies soll aber abgesetzt sein. Heute geht das Gerücht um, dass jene Arbeiter auch beim Herrn Regierungspräsidenten vorstellig werden wollen, angeblich wegen besserer Lebensmittelversorgung. Bis jetzt, 10 1/2 Uhr, wird auf der Fabrik gearbeitet.

Tatsächlich aber hatten sich die Arbeiter der Luftfahrzeuggesellschaft am 9. November 1918 bereits bei Arbeitsbeginn versammelt und die Nachricht vom Sieg der Revolution in Kiel und in anderen deutschen Städten freudig begrüßt.45 Auf der Versammlung wurde 41 Christian Lübcke: Revolution in Kiel! Das geschah im November 1918. Eltville 2017, S. 93. 42 StAS: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 6. 43 Paul Freyer, von Beruf Kassenführer bei der Stralsunder Ortskrankenkasse, war langjähriges SPD -Mitglied und seit 1905 Kassierer des neu gegründeten SPD Kreiswahlvereins Franzburg-Stralsund-Rügen. 44 StAS: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 6. 45 Die Schilderung der Ereignisse am 9. November 1918 und den Folgetagen beruht auf folgenden Quellen: Bericht des Oberbürgermeisters Gronow an den Regierungspräsidenten vom 11. November 1918 in: StAS: Rep 18 Nr. 386, Bl. 2 und 3; Arthur Brusch: Ich erlebte die Novemberrevolution in Stralsund; StAS: Po 8° 1222; ein weiterer fast gleichlautender Erinnerungsbericht von Brusch befindet sich in dem ehemaligen Bezirksparteiarchiv der SED Rostock (Signatur V/5/40), welches im Landesarchiv Greifswald (LAGw) aufbewahrt wird; Mitteilungen des Soldatenrates in Stralsund vom 13. November 1918 in der Stralsundischen Zeitung vom 15. November 1918; Karl Kirchmann: Der Weg durch vier Geschichtsepochen, Juni 1958, die Autobiographie befindet sich im Landesarchiv Greifswald; vgl. auch die

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beschlossen, die Arbeit niederzulegen und andere Betriebe der Stadt aufzusuchen, um mit deren Unterstützung es den Kieler Matrosen gleichzutun. Bei der Luftfahrzeuggesellschaft waren rund 300 Arbeiter und Angestellte aus Industriezentren wie Magdeburg und Bitterfeld beschäftigt.46 Eine Reihe von ihnen wie der Schlosser Paul Krause 47 oder der Tischler Karl Kirchmann 48 waren gewerkschaftlich engagiert und Mitglieder der USPD. Auch in der Stralsunder Zuckerfabrik wurde die Arbeit eingestellt, nachdem dort am frühen Morgen eine Abordnung von Arbeitern der Luftfahrzeuggesellschaft eingetroffen war. Zusammen mit anderen Arbeitern brachte der damals 17-jährige Hilfsarbeiter Arthur Brusch 49 eine rote

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Darstellung von Karl Heinz Jahnke: Die Novemberrevolution in Stralsund, in: Wissenschaftlichen Zeitschrift der E. M. A.-Universität Greifswald, Jahrgang VIII, 1958/59, S. 19 – 25, der eine Reihe weiterer Zeitzeugen namentlich benennt, die in den 1950er-­Jahren befragt worden seien. Jahnke: Von der Novemberrevolution bis zur Befreiung vom Faschismus 1918 – 1945, S. 291. Die Lebensdaten von Paul Krause sind nicht bekannt. Er soll ursprünglich zur Arbeit auf den Flugplatz Köslin im damaligen Hinterpommern kriegsverpflichtet und als einer der Rädelsführer eines Streiks 1917 nach Stralsund strafversetzt worden sein. Als Mitglied der USPD und des Metallarbeiterverbandes soll er sich aktiv in der Spartakus-­Gruppe in Berlin betätigt und in persönlichen Beziehungen zu Karl Liebknecht gestanden haben. Im Herbst 1920 gehörte er zusammen mit Karl Kirchmann zu den führenden Befürwortern eines Anschlusses der USPD an die KPD, die jedoch in Stralsund mehrheitlich abgelehnt wurde. Im Dezember 1920 schloss er sich allerdings mit dem sog. linken Flügel der USPD der KPD an, vgl. Jahnke: Von der Novemberrevolution bis zur Befreiung vom Faschismus 1918 – 1945, S. 291, 299 und 301; ders.: Die Novemberrevolution, S. 20 unter Verweis auf den in der Luftfahrzeuggesellschaft tätigen Arbeiter Albert Westphal. Vgl. Werner Lamprecht, in: Klaus Schwabe: Wurzeln, Traditionen und Identität der Sozialdemokratie in Mecklenburg und Pommern. Friedrich Ebert Stiftung, Reihe Geschichte M–V Nr. 9, 3. Aufl. 2004, S. 76 f. Karl Kirchmann wurde als Sohn eines Tischlers 1885 in Hannover geboren. Er erlernte auch diesen Beruf, war Gewerkschaftsmitglied und ab 1906 Mitglied der SPD . 1916 wurde er nach eigenen Angaben mit einer Anzahl oppositioneller Genossen aus der SPD ausgeschlossen und schloss sich der Ortsgruppe der USPD in Hannover an. Kriegsuntauglich wurde er im Sommer 1918 zur Mitarbeit in der Stralsunder Flugzeugwerft kriegsverpflichtet. Ebenso wie Paul Krause war er Mitglied der Stralsunder Ortsgruppe der USPD, zu deren Vorsitzendem er 1919 gewählt wurde. Während Paul Krause sich der KPD anschloss, blieb Kirchmann Mitglied der USPD. Nach der Wiedervereinigung von USPD und SPD im Jahr 1922 wurde er zum Vorsitzenden des Unterbezirks Stralsunds gewählt. Er war Mitglied des Bürgerschaftlichen Kollegiums sowie 1923/24 für die SPD Mitglied des Reichstages und gehörte dem Preußischen Landtag von 1925 bis 1933 an. In der NS-Zeit wurde er mehrfach inhaftiert. Nach Kriegsende kehrte er nach Stralsund zurück und trat zunächst wieder der SPD bei und nach der Vereinigung mit der KPD der SED. Durch Haft und Verfolgung gesundheitlich schwer beeinträchtigt, starb er 1967. Arthur Brusch wurde 1901 in Stralsund als Sohn eines Seefahrers geboren. Der Vater war aufgrund seines Berufes nur einmal im Jahr zu Hause. Brusch musste mit 10 Jahren eine Arbeit als Laufbursche für einen Kaufmann aufnehmen. Nach der Konfirmation mit 14 wurde er Landarbeiter in Martensdorf und ab 1. Oktober 1918 nahm er eine Tätigkeit in der Zuckerfabrik auf. Weil er die rote Fahne gehisst hatte, wurde er dort entlassen und war ab 2. Januar 1919 zunächst als Hilfsarbeiter in einer Holzsägefabrik tätig, bevor er ab August 1920 den Beruf

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Fahne an dem Schornstein der Zuckerfabrik an. Von der Zuckerfabrik zogen die Arbeiter der beiden Fabriken gemeinschaftlich zum Alten Markt. Zeitzeugen zufolge sollen sich dem Demonstrationszug weitere Arbeiter anderer Betriebe – insgesamt mehrere hundert Werktätige – angeschlossen haben. Auf dem Alten Markt endete die Demonstration am Vormittag mit einer begeisterten Kundgebung mit Hochrufen auf die Revolution und der Forderung nach einer Beendigung des Krieges. Ob sich unter den Demonstranten auch Soldaten 50 der Garnison befunden haben, ist nicht sicher belegt. Der bereits erwähnte Karl Kirchmann berichtet allerdings in seiner Autobiographie, er sei am 9. November mit einer Abordnung der Flugzeugwerft in die Frankenkaserne gegangen, wo er zu den Soldaten gesprochen habe, die bereits gemeutert hätten.51 Es ist also möglich, dass sich zumindest einige Soldaten dem Demonstrationszug der Arbeiter angeschlossen haben. Belegt ist aber eine nachmittägliche Versammlung von Soldaten der Garnison und einigen der USPD nahestehenden Arbeitern in der Gaststätte „Panzers Garten“. In dieser etwas vom Stadtgebiet abgelegenen Gaststätte sollte über Sinn und Aufgaben der Revolution gesprochen und ein Arbeiter- und Soldatenrat gewählt werden. Auf Befehl der Offiziere des Regiments, die von dieser Versammlung Kenntnis hatten, war deshalb vor dem Lokal eine Abteilung von etwa 80 Soldaten aufmarschiert. Sie sollten die Versammlung auflösen und die Rädelsführer verhaften. Die im Lokal versammelten Arbeiter und Soldaten reagierten auf diese brenzlige Situation, indem sie die Genossen Krause und Kirchmann zu der draußen aufmarschierten Abteilung entsandten. Nachdem beide an die Soldaten appelliert hatten, „nicht den Arbeitern in den Rücken zu fallen, die Waffen niederzulegen und sich der Revolution anzuschließen,“ verweigerten die Soldaten zur Überraschung ihrer Offiziere die Ausführung des Befehls und schlossen sich den Anwesenden an. Der so verstärkten Versammlung gelang es dann, die im Stadtgefängnis inhaftierten Matrosen und Soldaten ohne Gewaltanwendung zu befreien. Auf Verlangen von Paul Krause wurde auch die Herausgabe der Strafakten verlangt und die Akten von diesem mitgenommen.52

eines Zimmermannes erlernte. Von 1920 bis 1925 war er Mitglied der SPD und ab 1925 der KPD. Auch er war nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten weiter für die KPD tätig, wurde von den Nationalsozialisten verfolgt und mehrfach inhaftiert. Nach dem Krieg trat er der SED bei und arbeitete bis zum 67. Lebensjahr beim IBK, vgl. den von Brusch stammenden Erinnerungsbericht, welcher sich im ehemaligen Bezirksparteiarchiv der SED Rostock befindet. 50 Reguläre Marineeinheiten waren spätestens seit 1917 nicht mehr in der Stadt stationiert. 51 Karl Kirchmann: Der Weg durch vier Geschichtsepochen, S. 4. Die Schilderungen Kirchmanns stimmen überein mit dem von Arthur Brusch stammenden Erinnerungsbericht: Brusch berichtet, dass auf der morgendlichen Versammlung der Arbeiter der Luftfahrzeuggesellschaft beschlossen worden sei, Paul Krause und Karl Kirchmann als Beauftragte der Versammlung in die Kaserne zu senden. 52 Dieses Verlangen ist angesichts des Schicksals der – der USPD nahestehenden – Rädelsführer des Flottenaufruhres in Wilhelmshaven im August 1917 durchaus verständlich. In Folge der Ereignisse wurden nämlich die beiden Heizer Reichpietsch und Köbis am 5. September 1917

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Am Abend hatte sich die Lage in der Stadt beruhigt. Der wahrscheinlich noch am selben Tag gewählte Soldatenrat hatte die Führung der Garnison übernommen. Zwar war einem am 10. November 1918 veröffentlichten Extra-­Blatt 53 zu entnehmen, dass zu diesem Zeitpunkt die Bataillonsoffiziere ihren Dienst wie bisher ausüben würden.54 Tatsächlich aber hatten die Offiziere nach den nachmittäglichen Ereignissen ihren Dienst quittiert und ließen sich zum allergrößten Teil überhaupt nicht mehr sehen. Ruhig verlief auch eine am Abend des 9. November 1918 in die Reithalle der Garnison einberufene Versammlung der SPD, zu der die örtlichen Funktionäre der SPD schon vor dem Streik und den Demonstrationen eingeladen hatten. Ab 20:00 Uhr hatten sich dort etwa 2.000 Menschen versammelt. Da die ursprünglich vorgesehenen Redner wegen der unterbrochenen Zugverbindung nicht nach Stralsund reisen konnten, trat an ihre Stelle der Geschäftsführer des Stralsunder Konsumvereins, Otto Neumann.55 Seine Rede gipfelte in einem Aufruf „zur Wahrung von Ruhe und Besonnenheit“. Die weitere Ausdehnung der Revolution müsse verhindert werden. Danach entfernten sich – wie der Oberbürgermeister später berichtete 56 – die zahlreichen Versammlungsbesucher „in Ruhe, Umzüge wurden nicht veranstaltet“. Die abendliche Ruhe bestätigt auch ein späterer Zeitzeugenbericht: Die Straßen lagen still, nirgends war Unruhe, erst recht kein Tumult. Die Konditorei Mehlert am Alten Markt war in Betrieb. Durch die nicht verhängten Fenster konnte man bemerken, dass die Räume mit Zivil und Militär voll besetzt waren. Sogar das Stadttheater war an diesem Abend geöffnet und führte das für diesen Abend geplante Stück auf. Auch das Kino spielte.57

Trotz der Beruhigung der Lage am Abend des 9. November nahm die Revolution in den beiden Folgetagen noch einmal Fahrt auf, ohne dass es jedoch zu einer erheblichen Beeinträchtigung des städtischen Lebens kam. Am 10. November 1918, einem Sonntag, war zwar mittags auf Anordnung des Soldatenrats das am Neuen Markt gelegene Post- und Telegra-

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durch Erschießen hingerichtet, andere Meuterer wurden zu langen Freiheitsstrafen begnadigt. Dieses Schicksal sollte augenscheinlich den befreiten Matrosen und Soldaten erspart werden. StAS: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 1. Nach dem Bericht des Stralsunder Tageblatts vom 12. November 1918 über die Versammlung der SPD in der Reitbahn am 9. November 1918 soll das Garnisonkommando den an diesem Tag von den Soldaten erhobenen Forderungen nach einer gerechten Behandlung entsprochen haben. Vgl. Wilhelm Prehn: Der Werdegang der Konsum- und Spargenossenschaft Stralsund und Umgegend e. G. m. b. H. in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens, StAS: PO 8° 635: Der aus Groß-­Räschen stammende Neumann war Mitglied der SPD und ab 1916 zum Vorsitzenden und Geschäftsführer des von den Gewerkschaften gegründeten Stralsunder Konsumvereins berufen worden. Sein Amt konnte Otto Neumann aufgrund seines Einzugs zum Kriegsdienst aber tatsächlich erst im Jahr 1918 antreten. Bericht des Oberbürgermeisters Ernst Gronow an den Herrn Königlichen Regierungspräsidenten Stralsunds am 11. November 1918, StAS: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 2. Radüge: Ich griff zum Federkiel, S. 60 ff.

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phenamt besetzt worden und den ganzen Tag über patrouillierten Soldaten in der Stadt. Ein kurzzeitig auf dem Alten Mark stationiertes Maschinengewehr wurde aber alsbald abgezogen. Wohl waren – einem Zeitzeugenbericht zufolge – Soldaten zu den Revolutionären übergetreten, waren von auswärts Agitatoren in Matrosenuniform hier aufgetreten und hatten zum Aufruhr aufgefordert, liefen Soldaten in den Straßen umher, rote Kokarden an den Feldmützen, mit offenen Mänteln, deren Knöpfe rote Überzüge aufwiesen, und die Hände bis an den Ellenbogen in den Taschen.58

Dennoch vollzog sich „die neue Bewegung,“ wie die Stralsundische Zeitung die Machtübernahme des Soldatenrates in ihrem späteren Bericht vom 12. November 1918 umschrieben hatte, „ohne Störung des öffentlichen und privaten Lebens und in aller Ruhe.“ Auch das Einlaufen zweier rot beflaggter Torpedoboote an diesem Tag blieb ohne fühlbare Auswirkungen auf die Stralsunder Ereignisse. Es scheint zwar unwahrscheinlich, dass das vom Oberbürgermeister in einem späteren Bericht an den Regierungspräsidenten verbreitete Gerücht stimmte, dass die Torpedoboote „angeblich Arbeiter aus Kiel gebracht hätten, welche zum Kartoffelsammeln auf das Land geschickt werden.“ Selbst wenn die Matrosen mit der Absicht nach Stralsund gekommen waren, auch hier die Revolution zu entfachen, dann mussten sie zur Kenntnis nehmen, dass sich schon vor ihrem Eintreffen unabhängig voneinander ein Soldatenrat und ein provisorischer Arbeiterrat gebildet hatten. Bereits am Vormittag des 10. November 1918 hatten sich nämlich ca. 30 Funktionäre der SPD zu einer Sitzung in der Turnhalle der Schule am Frankenwall versammelt, um über die politische Situation zu beraten. Die örtlichen Funktionäre der SPD waren wie der Stralsunder Magistrat von den Ereignissen am 9. November 1918 überrascht worden und mussten nun befürchten, an Einfluss unter den Arbeitern und der einfachen Bevölkerung zu verlieren. Im Verlauf der Versammlung kam es deshalb zur Bildung eines provisorischen Arbeiterrats unter Leitung des bereits erwähnten Konsum-­Geschäftsführers Otto Neumann und der beiden SPD-Funktionäre Paul Freyer und Wilhelm Goebel. Dies wurde einem Zeitzeugenbericht 59 zufolge damit begründet, dass „in dem am 9. November gewählten Arbeiter- und Soldatenrat“ „nur fremde,“ „hergelaufene“ Arbeiter und Matrosen tonangebend seien, die die Ruhe und Sicherheit Stralsunds stören wollten.“ Dies war wohl auch der Grund dafür, dass es im Verlauf des 10. November 1918 in der Garnison zu einer Neuwahl des Soldatenrats gekommen war. Zwar hatte der ursprünglich gewählte Soldatenrat in dem bereits erwähnten Extra-­Blatt vom 10. November 1918 den Stralsunder Bürgern bekanntgegeben, dass dieser u. a. für die „Ordnung und Ruhe unter den Militärpersonen bürgen würde.“ Dennoch kann den späteren Mitteilungen des 58 Ebd. 59 Über den Verlauf der Versammlung gibt es außer einem von Karl Heinz Jahnke angeführten Zeitzeugenbericht keine Belege, vgl. Die November-­Revolution in Stralsund, S. 22 unter Bezugnahme auf einen Bericht des Teilnehmers Friedrich Meier vom 14. August 1958.

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Soldatenrats vom 13. November 1918 entnommen werden, dass diesem „die Macht gefehlt habe, Ruhe und Ordnung im Inneren durchzusetzen, weil Elemente aus der Zivilbevölkerung aufrührerisch gewirkt hätten.“ 60 Wie gefährdet die Situation zu diesem Zeitpunkt war, wird dadurch belegt, dass am Vormittag des 11. November 1918 die beiden Bürgermeister Gronow und Lüdtke von einer Abordnung von Soldaten verhaftet und auf das Garnisonkommando verbracht worden waren.61 Die Inhaftierung währte jedoch nur kurz, denn auf dem Garnisonkommando wurden beide mit der Begründung, dass ein Irrtum vorgelegen habe, wieder entlassen.62 Der in der Garnisonkaserne neu gewählte Soldatenrat setzte sich aus 25 Mitgliedern zusammen. Zum Vorsitzenden des Soldatenrats wurde der Landsturmmann Dr. Brock gewählt. Über seine Person ist nur bekannt, dass er im Zivilberuf als Rechtsanwalt in Stettin tätig war. Obwohl Brock augenscheinlich parteipolitisch nicht gebunden war,63 lassen seine späteren Äußerungen 64 seine Sympathie mit einer liberalen Demokratie erkennen. Er sei, so hat er später berichtet, auf besondere persönliche Verfügung des Kommandierenden Generals des 2. Armeekorps aus Stettin nach Stralsund eingezogen worden, weil er die Verteidigung eines Militärbeamten übernommen hatte. Gleichzeitig sei an seinen Bataillonskommandeur der Geheimbefehl ergangen, ihm den Urlaub zur Führung der Verteidigung abzuschlagen. Angesichts dessen erscheinen die späteren Behauptungen, der neu 60 Mitteilungen des Soldatenrats in Stralsund vom 13. November 1918 in der Stralsundischen Zeitung vom 15. November 1918. 61 Vgl. den Bericht der Stralsundischen Zeitung vom 12. November 1918; Der Oberbürgermeister erwähnt in seinem späteren Bericht an den Regierungspräsidenten allerdings nur eine Verhaftung des Bürgermeisters Lüdtke, vgl. Rep. 18 Nr. 386, Bl. 3. 62 Nach dem Bericht des Oberbürgermeisters an den Regierungspräsidenten soll die Inhaftierung nur etwa eine Viertelstunde angedauert haben, vgl. Rep. 18 Nr. 386, Bl. 3; vgl. auch die Mitteilungen des Soldatenrats vom 13. November 1918 in der Stralsundischen Zeitung vom 15. November 1918. 63 Ausweislich des Berichts in der Stralsundischen Zeitung vom 23. Dezember 1918 über die Verabschiedung Brocks in der Sitzung des Arbeiter- und Soldatenrats am 21. November 1918 soll dieser gesagt haben, dass er sich bei seiner Wahl zum Vorsitzenden des Soldatenrates nicht zur sozialdemokratischen Partei bekannt habe. 64 So übte er deutliche Kritik an „einflussreichen Kreisen, die Deutschland in unverantwortlicher Weise zum Kriege gehetzt hätten“, und an der Bevorzugung und dem Verhalten vieler Offiziere gegenüber den Mannschaften. Länger als vier Jahre sei das Volk über die wahre Kriegslage hinweggetäuscht worden. Zwar warnte er vor dem Einfluss bolschewistischer Gruppen, stellte aber gleichzeitig erfreut fest, dass „gerade die Soldaten bekundet hätten, dass sie nichts mit den Bestrebungen von Liebknechts und Luxemburgs gemein haben wollten“ und vertrat die Ansicht, dass die „zwei großen Parteien, die republikanisch-­demokratische und republikanisch-­ sozialistische“, sich annähern würden. Die ungeheure Staatsverschuldung würde zur „Vergesellschaftung großer Betriebe nötigen“; vgl. hierzu den in der Stralsundischen Zeitung vom 22. November 1918 veröffentlichten Bericht: Aus der Tätigkeit des Arbeiter- und Soldatenrats in Stralsund; ebenso Sonderausgabe des Arbeiter- und Soldatenrats der Stadt Stralsund vom 24. November 1918.

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gewählte Soldatenrat sei vom Offizierkorps gelenkt worden, unzutreffend.65 Wer allerdings tatsächlich in dem am 9. November 1918 gewählten Soldatenrat tonangebend gewesen ist, und, ob diesem neben Soldaten auch Arbeitervertreter angehört haben, ist heute schwer feststellbar. Auffallend ist, dass der erste Aufruf des Soldatenrats vom 10. November 1918 als Unterzeichner nicht die Namen der USPD-Genossen benennt, von denen die Initiative für die Streiks in der Luftfahrzeuggesellschaft und der Zuckerfabrik sowie für die spätere Versammlung in der Gaststätte „Panzers Garten“ ausgegangen war. Über die Herkunft der Unterzeichner des ersten Aufrufs des Soldatenrats kann daher letztlich nur spekuliert werden.66 Als Resümee kann jedenfalls festgehalten werden, dass es den vermutlich ortsfremden Akteuren ebenso wie den Matrosen der Torpedoboote – wie die späteren Ereignisse zeigen – offensichtlich nicht gelungen war, einen bestimmenden Einfluss auf die Stralsunder Revolution zu nehmen. Der neue gewählte Soldatenrat und der provisorische Arbeiterrat nahmen unverzüglich Kontakt miteinander auf, um das weitere Vorgehen zu beraten. Dies erwies sich jedoch zunächst als schwierig. Eine gemeinschaftliche Besprechung des Vorstands des Soldatenrats mit dem neugegründeten Arbeiterrat war nach eigenen Angaben („erst“) nach Schlichtung der strittigen Fragen in voller Übereinstimmung verlaufen.67 Dies kann an unterschiedlichen Auffassungen über das weitere Vorgehen und die jeweiligen Ziele der Revolution gelegen haben. Der Soldatenrat verstand sich ausschließlich als örtlicher Vertreter der Berliner Revolutionsregierung und seine Beschlüsse vom 11. November 1918 enthalten im Wesentlichen nur Anordnungen zur Verwaltung der Garnison und zur Sicherung von Ruhe und Ordnung; weitergehende politische Forderungen sind ihnen nicht zu entnehmen.68 Der 65 Jahnke: Die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Stralsund, S. 48; ders., in: Stralsund November 1918, S. 17 f. Der Zeitzeuge Brusch verbreitet auf S. 2 seines Erinnerungsberichts für das Bezirksparteiarchiv der SED das Gerücht, dass Brock „von Stettin beordert sein soll“ und die Aufgaben gehabt habe, „den Soldatenrat umzukrempeln“. Ähnlich auch in dem Bericht von Brusch mit dem Titel: Ich erlebte die Novemberrevolution in Stralsund!, S. 2: „Nach einigen Tagen erschien aus Stettin mit formellem Auftrag, ein in Landsturmuniform gesteckter Vertreter mit Namen Dr. Brock als Helfer und Berater.“ 66 Nach Jahnke: Die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Stralsund, S. 48 sollen „die an den ersten Tagen das revolutionäre Geschehen entscheidend bestimmenden Industriearbeiter aus Bitterfeld und Magdeburg und die aus dem Gefängnis befreiten Matrosen in ihre Heimatorte zurückgekehrt sein.“ 67 Stralsundische Zeitung vom 15. November 1918. 68 Vgl. die in der Stralsundischen Zeitung vom 12. November 1918 veröffentlichten Beschlüsse vom 11. November 1918: So wurden die Offiziere mit Ausnahme der Sanitäts- und Veterinär-­ Offiziere zu einer Abgabe ihrer Waffen und Übergabe ihrer Dienstgeschäfte an die vom Soldatenrat bestimmten Beauftragten veranlasst. Ihnen wurde das Tragen von Zivilkleidung empfohlen, gleichzeitig wurde die vorläufige Einstellung der Gehaltszahlung an Offiziere mit Ausnahme von Unterstützungen für verheiratete und bedürftige Offiziere verfügt. Der Dienst wurde auf den Wach- und Arbeitsdienst beschränkt, denn der Soldatenrat hatte die Übernahme der Aufrechterhaltung des gesamten Sicherungsdienstes im Bereich von Stralsund und Umgebung zugesagt. Den Mannschaften wurde außerhalb des Dienstes das Mitführen von

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provisorische Arbeiterrat stimmte den Forderungen des Soldatenrats dem Grunde nach zu, setzte jedoch zusätzliche Akzente. So forderte er, wie den Mitteilungen des Soldatenrates vom 13. November 191869 zu entnehmen ist, einen bestimmenden Einfluss der zivilen Verwaltung und Politik auf das Militär. Daneben ging es dem Arbeiterrat vorrangig um eine sofortige politische Teilhabe und Repräsentanz der Interessen der Arbeiter im Rat und im Bürgerschaftlichen Kollegium. Hier bestand allerdings der Zwang zu einer Einigung des linken Lagers, um den Interessen der Arbeiter mehr Gewicht zu verleihen. Daher bemühten sich die Funktionäre der MSPD von Anfang an erfolgreich um eine Einbeziehung der führenden Mitglieder der USPD und der Gewerkschaften. Im Verlauf einer Mitgliederversammlung am 13. November 191870 wurde dann auch ein durch die Organisationsvorstände zuvor vorläufig eingesetzter Arbeiterrat bestätigt. Ihm gehörten unter Vorsitz des MSPD-Genossen Otto Neumann und seines Stellvertreters Karl Kirchmann von der USPD auch Wilhelm Goebel und Paul Freyer von der MSPD und Paul Krause von der USPD an.71 Zwar hatte der Arbeiterrat mit seiner am 12. November 1918 erhobenen Forderung nach Aufnahme einiger seiner Mitglieder in die beiden Gremien keinen Erfolg.72 Spätestens am 12. November 1918 hatte sich dennoch die Revolution in Stralsund auf ganzer Linie durchgesetzt. Im Rahmen einer Besprechung, zu der der Soldatenrat am Mittag neben drei Mit-

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Schusswaffen verboten. Auch das Tragen von roten Bändern und ähnlichen Abzeichen wurde verboten. Stralsundische Zeitung vom 15. November 1918. Vgl. z. B. die Einladung in der Stralsundischen Zeitung vom 13. November 1918. Jahnke: Von der Novemberrevolution bis zur Befreiung vom Faschismus 1918 – 1945, S. 293. Um Einfluss zu gewinnen, forderte der Arbeiterrat zunächst am 11. November 1918 mündlich gegenüber dem Oberbürgermeister Gronow und dann auch schriftlich mit dem an den Magistrat gerichteten Schreiben vom 12. November 1918 die Erweiterung des Rats um drei Mitglieder und des Bürgerschaftlichen Kollegiums um 12 Mitglieder des Arbeiterrats und ein Ausscheiden des Justizrates Dr. Langemak aus dem Bürgerschaftlichen Kollegium. Auch die liberale Fortschrittspartei hatte mit Schreiben vom 13. November 1918 gefordert, dass drei „illiterate“ Ratsherrn ihr Mandat niederlegen und dass 16 Mitglieder des Bürgerschaftlichen Kollegiums, deren Mandat am 31. Dezember 1917 abgelaufen sei, ausscheiden sollten. An ihre Stelle sollten sechs von der Fortschrittspartei gewählte Mitglieder treten. Dennoch blieben in der Folgezeit alle Mitglieder des Magistrats im Amt und es kam auch bis zur Kommunalwahl im März 1919 zu keinen Veränderungen in der Zusammensetzung des Bürgerschaftlichen Kollegiums. Zwar hatte Langemak in der Sitzung des Bürgerschaftlichen Kollegiums vom 15. November 1918 erklärt, dass er gemäß dem Verlangen des Arbeiter- und Soldatenrats aus der Stadtvertretung ausscheiden werde. Der Antrag Langemaks vom 18. November 1918 an das Bürgerschaftliche Kollegium, sein Ausscheiden zu genehmigen, wurde aber in der Sitzung vom 19. November 1918 abgelehnt. Grund hierfür war ein Erlass der preußischen Revolutionsregierung, welche mit Telegramm vom 14. November 1918 (gedr. im Reichsanzeiger und Preußischen Staatsanzeiger Nr. 270) alle Änderungen in den kommunalen Verwaltungen untersagt hatte; vgl. die Berichte in der Stralsundischen Zeitung vom 17., 19. und 22. November sowie 6. und 8. Dezember 1918 und des Stralsunder Tageblatts vom 5. Dezember 1918 über die Sitzungen des Bürgerschaftlichen Kollegiums am 15. November 1918, 3. Dezember 1918 sowie StAS: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 17 und 18 sowie Rep. 29 Bl. 13 – 16, 17 und 18.

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gliedern des provisorischen Arbeiterrats die Spitzen der städtischen Behörden, die Leiter der Reichsbank, des Post- und Telegraphenamts, des Eisenbahnbetriebsamts, der Stralsunder Schulen usw. eingeladen hatte, hatten sich nämlich Oberbürgermeister Gronow und sämtliche Behördenvertreter ohne Einschränkung bereit erklärt, mit den Vertretern der Soldaten und auch des Arbeiterrats zusammenzuarbeiten. Sie würden „sich der Neuordnung der Dinge fügen, den Geschäftsbetrieb in gewohnter Weise aufrechterhalten und sich der Kontrolle des Arbeiter- und Soldatenrats nicht entziehen“.73 Begünstigt wurden die Erklärungen des Oberbürgermeisters und der Spitzenvertreter der Behörden dadurch, dass die Übergabe der Amtsgeschäfte durch den letzten kaiserlich ernannten Reichskanzler Max von Baden an den Sozialdemokraten Friedrich Ebert den Schein der Legalität wahrte. Ebert hatte seinerseits bei seinem Amtsantritt die Behörden und Beamten zur Weiterarbeit unter der neuen Regierung aufgefordert.74 Diesem Aufruf war u. a. auch der damalige pommersche Oberpräsident Georg Michaelis 75 gefolgt, der seinerseits die Regierungspräsidenten und Landräte Pommerns aufgefordert hatte, dass „alle Beamten in ihren Ämtern bleiben sollten, solange keine unehrenhaften Zumutungen gestellt würden.“ 76 Den krönenden Abschluss der ersten Phase der Novemberrevolution bildete ein vom Arbeiter- und Soldatenrat am 17. November 1918 durchgeführter „Huldigungsumzug“ mit einer abschließenden abendlichen Versammlung. Hiermit wurde öffentlich und durchaus eindrucksvoll der Schulterschluss zwischen den Protagonisten des zwischenzeitlich vereinigten Arbeiter- und Soldatenrats 77 und den städtischen Behörden inszeniert. So kann den entsprechenden Zeitungsberichten 78 entnommen werden, dass am frühen Sonntagnachmittag „ein langer Zug von Soldaten des hiesigen Ersatzbataillons und Arbeitern der hiesigen Gewerkschaften unter den Klängen der Musikkapelle durch die Stadt unter Begleitung einer zahlreichen Volksmenge marschiert“ sei. Auf dem Alten Markt nahm der Zug vor dem 73 Vgl. den Bericht im Stralsunder Tageblatt vom 14. November 1918 bzw. die in der Stralsundischen Zeitung am 15. November 1918 veröffentlichten Mitteilungen des Soldatenrates vom 13. November 1918. 74 Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 708. 75 Georg Michaelis (1857 – 1937) war von April 1918 bis April 1919 Oberpräsident in Pommern, vgl. Bert Becker: Georg Michaelis, Preußischer Beamter, Reichskanzler, Christlicher Reformer, 1857 – 1936. Eine Biographie. Paderborn 2007, vgl. hier besonders das Kapitel „Der Oberpräsident“, S. 526 – 568, und den Beitrag in diesem Band. 76 Vgl. Bert Becker: Die Zäsur 1918, S. 46, wonach Michaelis in einem Telegramm vom 10. November 1918 an die Landräte und Regierungspräsidenten erklärt hatte, dem Aufruf Eberts Folge zu leisten und den Dienst weiter zu versehen; ders.: Biographie, S. 551. 77 Vgl. den in der Stralsundischen Zeitung und im Stralsunder Tageblatt am 15. November 1918 veröffentlichen Aufruf des vereinigten Arbeiter- und Soldatenrats „An die Bevölkerung Stralsunds“. 78 Vgl. den in der Stralsundischen Zeitung vom 22. November 1918 veröffentlichten Bericht: „Aus der Tätigkeit des Arbeiter- und Soldatenrats in Stralsund; ebenso Sonderausgabe des Arbeiter- und Soldatenrats der Stadt Stralsund vom 24. November 1918.

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Rathaus Aufstellung. Dort war – auf Bitten des Arbeiter- und Soldatenrats 79 – die städtische Fahne mit Stadtwappen gehisst worden. Sowohl die beiden Vorsitzenden des Arbeiterund Soldatenrats Brock und Neumann als auch der Oberbürgermeister Gronow hielten von dem Balkon des alten Theaters Ansprachen „zu der den Marktplatz dicht füllenden Menge“. Die abendliche Versammlung endete mit einer einstimmig von der Versammlung angenommenen Resolution. In dieser bekannte der Arbeiter- und Soldatenrat die Bereitschaft, „seine Tätigkeit gemäß den Erlassen und Kundgebungen der sozialdemokratischen Regierung auszuüben,“ und es wurde die Notwendigkeit der „alsbaldigen Einberufung einer konstituierenden Nationalversammlung“ bekundet. Die Resolution gipfelte in dem Aufruf „Jede Diktatur wird abgelehnt“ und in einem „Hoch auf das deutsche Vaterland“.

Phase 2: „Räteherrschaft“ und die Demokratisierung des Wahlrechts (13. November bis März 1919) Am vierten Tage der Bewegung ist alles wieder ruhig und in seine alten Geleise zurückgekehrt. Ordnung und Ruhe herrscht in der Stadt wie bei den Truppen der Garnison. Patrouillen sorgen dafür, dass keinerlei Ausschreitungen seitens des Militärs oder der Bevölkerung vorkommen konnten. Es kann festgestellt werden, dass die Revolution einen vollen und unblutigen Sieg in Stralsund errungen hat.

So lauten die Erfolgsmeldungen des Stralsunder Soldatenrats am 13. November 1918,80 die damit schließen, dass am Nachmittag ein Arbeiter- und Soldatenrat zu seiner ersten gemeinschaftlichen Sitzung zusammengetreten sei. Mit der Vereinigung des bisherigen Arbeiterrats und Soldatenrats zu einer einheitlichen Organisation trat die Revolution in eine neue Phase. Der Zusammenbruch des Kaiserreichs hatte nicht nur im Reich,81 sondern auch in Stralsund dazu geführt, dass die oberste „politische Gewalt“ faktisch in der Hand des Arbeiter- und Soldatenrats lag. Bereits am 13. November 1918 hatte der Soldatenrat in seinem in mehreren Zeitungen veröffentlichten Aufruf „An die Bevölkerung Stralsunds!“ zur Legitimation seiner Machtübernahme angeführt, dass „die hohen militärischen Kommandostellen (Kriegsministerium und Stellv. Generalkommando in Stettin) die Tätigkeit des Soldatenrats autorisiert“ hätten.82 Nun verkündeten die beiden Vorsitzenden, Dr. Brock und Otto Neumann, in ihrem gemein-

79 Ratsbeschluss vom 16. November 1918, StAS: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 11. 80 Mitteilungen des Soldatenrats in Stralsund vom 13. November 1918 in der Stralsundischen Zeitung vom 15. November 1918. 81 So Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 714 unter Verweis auf die Koalitionsvereinbarung MSPD/USPD vom 10. November 1918. 82 Stralsunder Tageblatt vom 13. November 1918 bzw. Stralsundische Zeitung vom 13. November 1918.

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samen Aufruf vom 14. November 191883 selbstbewusst, dass der Arbeiter- und Soldatenrat „die Geschäfte der Sozialistischen Regierung für den Stadt- und Landkreis Stralsund übernimmt, bis die einzuberufende Nationalversammlung über deren endgültige Gestaltung beschließt.“ Gleichzeitig wird dort die Erwartung geäußert, „dass alle Staatlichen Behörden und Selbstverwaltungskörper sich seiner politischen Macht unterstellen und ihm Einblick und Kontrolle in Bezug auf alle Angelegenheiten gewähren.“ Die vom Stralsunder Arbeiter- und Soldatenrat verkündete „Übernahme der politischen Gewalt“ war jedoch konfliktbehaftet. Denn sie stand im Widerspruch zu der vom preußischen Revolutionskabinett in einem Aufruf vom 13. November 1918 verfügten Fortdauer der Amtstätigkeit der alten Beamtenschaft u. a. in den Kommunalbehörden der Städte.84 Mit einem weiteren an die Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten gerichteten Erlass vom 14. November 1918 hatte die preußische Regierung zur Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden mit den Arbeiter- und Soldatenräten verfügt, dass die Vertreter der Arbeiter- und Soldatenräte bzw. Bauernräte lediglich „als Kontrollinstanz den einzelnen Verwaltungsbehörden zur Seite zu treten haben und bei allen wichtigen Verhandlungen hinzuzuziehen sind.“ 85 Gleiches galt für die seit dem 9. November 1918 erfolgte Übernahme des Garnisonkommandos durch den Soldatenrat, denn sie stand im Widerspruch zu dem Aufruf Eberts an das Heimatheer vom 10. November 1918, mit dem die unveränderte Fortgeltung der Aufgaben und Befugnisse der militärischen Vorgesetzten angeordnet und einer Entscheidungsgewalt der Soldatenräte eine Absage erteilt worden war.86 Bis zum 23. November 1918 kann allerdings uneingeschränkt von einer Herrschaft des Arbeiter- und Soldatenrats gesprochen werden, wobei die Kommandogewalt über die dortigen Soldaten faktisch in den Händen des Vorsitzenden Dr. Brock als Vertreter des Soldatenrats lag. Denn die Soldaten waren ein Garant 87 für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, deren Einhaltung von den alten und neuen Eliten immer wieder als wichtigstes Ziel genannt wurde. Diese erschien vor allem deshalb als gefährdet, weil aufgrund der Ereignisse am 9. November 1918 vor dem Lokal „Panzers Garten“ Waffen und

83 Aufruf „An die Bevölkerung Stralsunds!“ vom 14. November 1918, in: Stralsundische Zeitung vom 15. November 1918. 84 Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 1006 f. und 1009; auch Oberpräsident Michaelis hatte am 11. November 1918 an die Landräte zu den Befugnissen der Räte mitgeteilt, dass die Kompetenzen der Behörden unverändert blieben, vgl. Bert Becker: Verwaltung und Höhere Beamtenschaft in Pommern 1918/19 (wie Fußnote 38), S. 48; ders.: Biographie, S. 551. Siehe auch den Beitrag von Thomas Stamm-­Kuhlmann in diesem Band. 85 StAS: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 25b. 86 Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 756 f.; vgl. auch Ulrich Kluge: Soldatenräte und Revolution, Studien zur Militärpolitik in Deutschland 1918/19. Göttingen 1975, S. 160 und 164. 87 So lobte das Stralsunder Tageblatt am 8. Dezember 1918: „[…] ohne den hiesigen Arbeiter- und Soldatenrat hätten wir heute noch die Zustände vom 9. November 1918.“

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Munition abhandengekommen waren 88 und man „eine Gewaltherrschaft einer Minderheit“ nach dem Vorbild Russlands bzw. die „Einführung des Bolschewismus“ befürchtete.89 Eine der ersten Maßnahmen des Arbeiter- und Soldatenrats war am 14. November 1918 ein Aufruf zur Abgabe von Waffen und Munition. Gleichzeitig wurde nochmals allen Militärpersonen das Waffentragen außer Dienst strengstens untersagt.90 Wie fragil die damalige Situation war, wird dadurch belegt, dass es noch im Januar 1919 zu mehreren Auseinandersetzungen zwischen heimkehrenden Frontsoldaten des Infanterieregiments 42 und auswärtigen Matrosen gekommen war. Letztere hatten am 4. Januar 1919 erfolglos versucht, den Soldaten des Infanterieregiments das Seitengewehr abzunehmen.91 Während sich die Befürchtungen vor „russischen Verhältnissen“ aber letztlich als unbegründet erwiesen, wurde die viel beschworene „Ruhe und Ordnung“ tatsächlich durch einen erheblichen Anstieg der Kriminalität bedroht. So war es, wie eine Vielzahl von entsprechenden Zeitungsberichten belegen, im November und Dezember 1918 vermutlich aufgrund des Zusammenbruchs der althergebrachten Ordnung zu zahlreichen Einbrüchen und Diebstählen im Hafen und besonders in den Vorstädten gekommen.92 Der Arbeiter- und Soldatenrat reagierte hierauf mit einer Verstärkung der bestehenden Patrouillen und der Aufstellung von militärischen Wachkommandos in den Vorstädten sowie einer Absperrung des Hafengebietes.93 88 Nach Jahnke: Die November-­Revolution in Stralsund, S. 22 sollen sich 200 Gewehre in den Händen der Aufständischen befunden haben. Die Anzahl der fehlenden Gewehre erscheint allerdings fehlerhaft, denn ausweislich der gemeinsamen Bekanntmachung des Garnisonkommandos und des Arbeiter- und Soldatenrats vom 9. Dezember 1918, welche in der Stralsundischen Zeitung vom 10. Dezember 1918 veröffentlicht worden ist, fehlten seit dem 9. Dezember 1918 neben vielen anderen Gegenständen auch 20 Gewehre des Modells 98. 89 Vgl. die in dem Bericht des Soldatenrats in der Stralsundischen Zeitung vom 22. November 1918 erwähnten Reden von Dr. Brock und Oberbürgermeister Gronow anlässlich des Huldigungsumzuges und der Abendveranstaltung in der Reithalle der Garnison am 17. November 1918. Die Abendveranstaltung endet mit einer einstimmig angenommenen Resolution, wonach „der Schutz der durch die Revolution errungenen bürgerlichen Freiheit in der Organisation des Arbeiter- und Soldatenrats ruhen“ und „Jede Diktatur abgelehnt wird“. 90 Sonderausgabe des Arbeiter- und Soldatenrats der Stadt Stralsund in der Stralsundischen Zeitung vom 24. November 1918. 91 In dem Bericht der Stralsundischen Zeitung vom 7. Januar 1919 werden die Infanteristen des heimischen Regiments in Schutz genommen, weil entsprechende Befehle zum Ablegen des Seitengewehrs noch nicht „durchgedrungen“ seien. Vielmehr seien die Zusammenstöße durch die Eigenmächtigkeiten der Matrosen verursacht worden, die „der Spartakusgruppe“ nahegestanden haben sollen. 92 Vgl. die Lokalseiten der Stralsundischen Zeitung vom 19., 20., 22. und 30. November 1918 sowie vom 8., 10., 17., 20., 29. und 31. Dezember 1918. 93 Vgl. den Bericht in der Stralsundischen Zeitung vom 20. November 1918 und die in der Stralsundischen Zeitung vom 18. Dezember 1918 befindliche gemeinsame Bekanntmachung des Garnisonkommandos und des Arbeiter- und Soldatenrats vom 17. Dezember 1918. Gleichzeitig wurden in einer Bekanntmachung vom 21. November 1918 (Veröffentlicht im Stralsunder Tageblatt vom 22. November 1918 und in der am 24. November 1918 veröf-

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Die faktische Herrschaft des Arbeiter- und Soldatenrats war aber ab dem 24. November 1918 beendet. Denn dieser übergab ab diesem Zeitpunkt das Garnisonkommando wieder an einen – nunmehr allerdings von den Soldaten des Ersatzbataillons freigewählten – Offizier. Zuvor hatte am 21. November 1918 der bisherige Vorsitzende Dr. Brock sein Amt als Vorsitzender des Soldatenrats niedergelegt und seine Tätigkeit als Rechtsanwalt in Stettin wieder aufgenommen.94 Zum Bataillonskommandeur wurde der frühere Führer der Revierkompagnie, Hauptmann Striewski, gewählt.95 In dieser Funktion übernahm er gleichzeitig bis zur Rückkehr der Frontsoldaten am 2. Januar 1919 die Geschäfte des Garnisonkommandos.96 Die Aufgaben und Befugnisse des Arbeiter- und Soldatenrats im Bereich der Militärverwaltung beschränkten sich ab dem 24. November 1918 auf eine Überwachung und Kontrolle der Dienstgewalt des Garnisonkommandos bzw. eine Mitwirkung bei der Fürsorge gegenüber aktiven bzw. demobilisierten Soldaten.97 Daher hatten sich die Soldaten und Arbeitgeber ausweislich der in der Stralsundischen Zeitung vom 18. Dezember 1918 veröffentlichten Bekanntmachung des Arbeiter- und Soldatenrats vom 17. Dezember 1918 in allen militärischen Angelegenheiten und der Demobilmachung an das Büro des Arbeiter- und Soldatenrats in der Frankenkaserne zu wenden. Dagegen war für alle zivilen Angelegenheiten die politische Abteilung der Geschäftsführung des Arbeiter- und Soldatenrats zuständig, welche ab Dezember 1918 in einem vom Rat zur Verfügung gestellten Büro im alten Schauspielhaus am Alten Markt residierte.98 fentlichten Sonderausgabe des Arbeiter- und Soldatenrats vom 24. November 1918) die „Vorstände von Verpflegungsmagazinen, Truppenküchen und Lebensmittelämtern ersucht, sich bei Bestehen der Gefahr einer Zuchtlosigkeit durch ordnungslos zurückkommende Mannschaften unverzüglich an den nächsten Arbeiter- und Soldatenrat zu wenden“. Dieser würde dann „die benötigte militärische Hilfe zur Sicherung der Nahrungsmittelvorräte sofort bereitstellen.“ 94 Stralsundische Zeitung vom 27. November 1918. 95 Berichte in der Stralsundischen Zeitung und im Stralsunder Tageblatt vom 27. November 1918. Nach Kluge: Soldatenräte und Revolution, S. 166 hatte der Berliner Vollzugsrat angeordnet, dass Offiziere, die auf dem Boden der sozialistischen Republik stünden, ohne weiteres von den Soldatenräten zu Führern gewählt werden könnten. Die Wahl der militärischen Führung durch die Soldaten war später auch Teil eines Beschlusses des auf den 16. Dezember 1918 in Berlin einberufenen Reichsrätekongresses, sog. „Hamburger Punkte“, welche jedoch letztlich zu keiner Zeit eine Rechtsverbindlichkeit erlangten, vgl. Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 829, 840 f. und 939. 96 Am 2. Januar 1919 erfolgte eine Übergabe des militärischen Kommandos an den zurückgekehrten Kommandeur Oberstleutnant Koeppel, vgl. den Bericht in der Stralsundischen Zeitung vom 4. Januar 1919 über die Heimkehr der 42er. 97 Vgl. die Richtlinien für Arbeiter- und Soldatenräte für die Provinz Pommern vom 29. November 1918 (StAS: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 29), wonach „alle militärischen Angelegenheiten die für den Korpsbezirk zuständige Stelle regelt.“ 98 Vgl. die Anfrage des Arbeiter- und Soldatenrats vom 4. Dezember 1918, in: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 25g; Bekanntmachung des Arbeiter- und Soldatenrats vom 12. Dezember 1918, abgedruckt im Stralsunder Tageblatt vom 13. Dezember 1918; vgl. auch die Bekanntmachung des

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In allen zivilen Angelegenheiten beschränkten sich die Aufgaben und Befugnisse des Arbeiter- und Soldatenrats auf die „Kontrolle aller behördlichen Organe, den Erlass von Verordnungen (soweit diese sich auf ihr Tätigkeitsgebiet erstreckten) und die Zeichnung aller amtlichen Schriftstücke, die von den behördlichen Organen veröffentlich wurden.“ 99 Gleich mehrere Bekanntmachungen belegen jedoch eindrücklich die aufgrund des politischen Umbruchs entstandene Verunsicherung bei Verwaltung 100 und Bevölkerung. So sahen sich der Oberbürgermeister Gronow als Vertreter des Magistrats und der Arbeiter- und Soldatenrat in einer gemeinsamen Bekanntmachung zu dem Aufruf veranlasst, dass nach dem Erlass der preußischen Regierung vom 14. November 1918 „die bestehenden Gesetze und Verordnungen, soweit sie nicht ausdrücklich durch die Regierung aufgehoben sind, in Kraft bleiben und von jedermann zu beobachten sind.“ 101 Die mangelnde Akzeptanz der Bevölkerung, die Fortgeltung althergebrachter Zuständigkeiten zu beachten, dokumentiert eine Bekanntmachung des Arbeiter- und Soldatenrats vom 9. Dezember 1918.102 Es sei – wie es dort heißt – vielfach schon darauf hingewiesen worden, „dass durch die Tätigkeit des Arbeiter- und Soldatenrats keine Änderung in der Organisation des behördlichen Geschäftsverkehrs eingetreten“ sei. Weder die Zivilbehörden noch die Militärbehörden (Garnisonkommando und Ersatzbataillon, Bezirkskommando usw.) sind durch die Tätigkeit des Arbeiter- und Soldatenrats ausgeschaltet. Um den Geschäftsverkehr nicht wie bisher geschehen ist, unendlich zu erschweren, wird dringend ersucht, Anträge, Anfragen, Beschwerden möglichst an die zuständige Dienststelle zu richten und nur in ganz besonderen Ausnahmefällen den Vorstand des Arbeiter- und Soldatenrats unmittelbaren Anspruch zu nehmen. Dadurch, dass Mitglieder des Arbeiter-

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Arbeiter- und Soldatenrats vom 17. Dezember 1918, abgedruckt im Stralsunder Tageblatt vom 18. Dezember 1918. Vgl. den Erlass der preußischen Regierung vom 14. November 1918 zur Zusammenarbeit der Verwaltungs-­behörden mit den Arbeiter- und Soldatenräten (StAS: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 25b) und die Richtlinien vom 29. November 1918 für Arbeiter- und Soldatenräte für die Provinz Pommern (StAS: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 29). So schildert Walter Radüge (Ich griff zum Federkiel, S. 60 ff.), dass er im November 1918, als er im zuständigen Polizeibüro um eine Genehmigung für die Verteilung von christlichen Trostschriften an Totensonntag nachgesucht hatte, vom dortigen Kommissar an den Arbeiter- und Soldatenrat verwiesen worden sei; vgl. auch die Einschätzung des Polizeidirektors Dr. Heydemann vom 2. August 1919, welcher in seinem Bericht über die Ursachen der am 4. Mai 1919 stattgefundenen Plünderungen (StAS: Rep. 18 Nr. 388, Bl. 94 – 97, hier Bl. 95) u. a. anführt, dass „die Polizeibeamten durch die Ereignisse der Novemberrevolution, durch viele Anfeindungen usw. in ihrem Ansehen und Selbstvertrauen geschwächt waren und sich vielfach im Zustande einer berechtigten Depression“ befunden hätten. Die Gemeinsame Bekanntmachung vom 5. Dezember 1918 ist abgedruckt in der Stralsundischen Zeitung vom 6. Dezember 1918. Die Bekanntmachung ist in der Stralsundischen Zeitung vom 10. Dezember 1918 bzw. im Stralsunder Tageblatt vom 10. Dezember 1918 abgedruckt.

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und Soldatenrats in den meisten städtischen und militärischen Behörden tätig sind, ist ja dafür gesorgt, dass keine Entscheidungen über Wohl und Wehe ohne Einverständnis des Arbeiter- und Soldatenrats getroffen werden.

Zur Wahrnehmung der ihm eingeräumten Aufgaben und Befugnisse entsandte der Arbeiter- und Soldatenrat ab dem 22. November 1918 mehrere Genossen der MSPD und der USPD in das der Polizeidirektion unterstellte Lebensmittelamt, in die Ratskanzlei, die Ortskohlenstellen, Sicherheitspolizei und in den Demobilmachungsausschuss bzw. die Arbeitsnachweisstelle.103 Gleichzeitig schickte der Stralsunder Arbeiter- und Soldatenrat als Reaktion auf die im Regierungsbezirk Stralsund zwischenzeitlich stattgefundene Bildung weiterer Arbeiter- und Soldatenräte (sog. „wilde Räte“)104 Beauftragte in die Landratsämter des Regierungsbezirkes 105 wie z. B. Karl Kirchmann in den Kreis Rügen,106 um im gesamten Regierungsbezirk seinen Alleinvertretungsanspruch durchzusetzen.107

103 Vgl. StAS: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 15: Lebensmittelamt (Albert Haack und Paul Krause), in die Ratskanzlei, die Ortskohlenstellen und Sicherheitspolizei (Wilhelm Goebel) und in den Demobilmachungsausschuss bzw. die Arbeitsnachweisstelle (Vette). 104 Einen Überblick über die Rolle der Räte in Vorpommern gibt der gleichnamige Aufsatz von Wolfgang Wilhelmus, in: ZfG 1953, S. 964 – 989; ders.: Zur Rolle der sogenannten „wilden Räte“ im ehemaligen Kreis Franzburg, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der E.-M.-A.-Universität Greifswald 8 (1958/59), S. 27 – 31; vgl. auch Donata von Nerée: Die Revolution 1918/19 in Pommern, Forschungsstand im Überblick, in: Pommern, Geschichte-­Kultur-­Wissenschaft, 1. Kolloquium zur Pommerschen Geschichte. Hrsg. von der E. M.A-Universität Greifswald. Greifswald 1991, S. 204 – 211, hier S. 205 f. 105 Mit den Richtlinien für Arbeiter- und Soldatenräte für die Provinz Pommern, welche am 29. November 1918 durch die Provinzialkonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte beschlossen worden sind (StAS: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 29), wurde im Sinne des Stralsunder Arbeiter- und Soldatenrats u. a. festgelegt, „dass Soldatenräte grundsätzlich nur in Städten gebildet werden, wo die Garnison liegt“, dass dieser „zugleich Kontrollorgan für die am Sitz befindliche Regierung ist“ und ein aus zwei Abteilungen bestehendes Kontrollorgan für den Stadtkreis und den Landkreis zu bilden ist. 106 Jahnke: November 1918 in Stralsund, S. 21; zur Situation auf Rügen und zur Tätigkeit Kirchmanns vgl. Lamprecht: Der Kreis Rügen in den Tagen der Novemberrevolution, S. 47 f. 107 In einem an den Reichskanzler Ebert gerichteten Telegramm vom 19. November 1918 (LAGw: Rep. 65c Nr. 2356, Bl. 73) beklagte sich der Stralsunder Arbeiter- und Soldatenrat darüber, dass „in kleinen und kleinsten Orten des hiesigen Regierungsbezirkes sich überall Arbeiterund Soldatenräte gründen würden,“ und vertrat die Auffassung, „dass Soldatenräte nur dort zu gründen seien, wo selbstständig Truppen seien, nicht aber von zufällig an Orten befindlichen Urlaubern.“ Neben der Ermächtigung, derartige Arbeiter- und Soldatenräte aufzulösen, forderte der Stralsunder Arbeiter- und Soldatenrat vom Reichskanzler auch das Verbot, das solche „örtlichen Arbeiter- und Soldatenräte eigenmächtig behördliche Organe absetzen, Haussuchungen und Beschlagnahmen vornehmen dürfen“. Im Interesse einheitlicher Maßnahmen der Volksernährung und wirtschaftlichen Demobilisierung sei eine Überordnung des Stralsunder Arbeiter- und Soldatenrats erforderlich. Gleiches forderte der Stralsunder Arbei-

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Eine ganze Reihe von Bekanntmachungen, die entweder in alleiniger Urheberschaft vom Arbeiter- und Soldatenrat oder gemeinsam mit der jeweiligen Verwaltungsbehörde erlassen worden sind, belegen die vielfältigen Aufgaben- und Themenfelder, mit denen die Beauftragten des Arbeiter- und Soldatenrats in der Folgezeit befasst waren. So kümmerte man sich beispielsweise um die ausreichende Lebensmittelversorgung 108 und die Einhaltung der festgesetzten Höchstpreise 109 oder die ausreichende Versorgung mit Kohlen 110 und mit Koch- und Heizgas 111, um nur einige Aufgaben zu benennen. Als großes Problem erwiesen sich u. a. die Unterbringung und Wiedereingliederung der demobilisierten Soldaten.112 Gerade die bevorstehende Rückkehr des Feldheeres stellte Militär- und Stadtverwaltung vor erhebliche Unterbringungsprobleme; die Einwohner Stralsunds befürchteten Einquar-

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ter- und Soldatenrat auch in einem an den Arbeiter- und Soldatenrat in Stettin gerichteten Schreiben vom 23. November 1918 (LAGw: Rep. 65c Nr. 2356, Bl. 123). Vgl. z. B. die Gemeinsamen Bekanntmachungen des Lebensmittelamtes und des Arbeiterund Soldatenrats über den Verkauf von Fisch, Wurst und über die Ausgabe von Zucker, Schokoladenpulver und die Fettabgabe, abgedruckt in der Stralsundischen Zeitung vom 1., 4. und 13. Dezember 1918 und über die Verteilung von Keksen zum Weihnachtsfest in der Stralsundischen Zeitung vom 14. Dezember 1918; Bekanntmachung des Arbeiter- und Soldatenrats vom 11. Dezember 1918 über die Beschlagnahme von Kartoffeln auf dem Gute Altenpleen, abgedruckt im Stralsunder Tageblatt. Gemeinsame Bekanntmachung des Lebensmittelamtes und des Arbeiter- und Soldatenrats vom 12. Dezember 1918, abgedruckt in der Stralsundischen Zeitung vom 15. Dezember 1918; Bekanntmachung des Arbeiter- und Soldatenrats über eine Hausdurchsuchung und die Bitte um Anzeige von Wucher- und Schleichhandel vom 20. Dezember 1918, abgedruckt in der Stralsundischen Zeitung vom 21. Dezember 1918; Gemeinsame Bekanntmachung des Lebensmittelamtes und des Arbeiter- und Soldatenrats vom 20. Dezember 1918 über die Höchstpreise im Kleinhandel, abgedruckt in der Stralsundischen Zeitung vom 24. Dezember 1918. Bekanntmachung des Arbeiter- und Soldatenrats vom 3. Dezember 1918, abgedruckt in der Stralsundischen Zeitung vom 4. Dezember 1918; Gemeinsame Bekanntmachung der Ortskohlenstelle und des Arbeiter- und Soldatenrats vom 12. Dezember 1918, abgedruckt in der Stralsundischen Zeitung vom 14. Dezember 1918. Vgl. die im Lokalteil der Stralsundischen Zeitung vom 25. und 28. Dezember 1918 befindlichen Berichte über den Einsatz des Arbeiter- und Soldatenrats für das Hinausschieben der Gassperre am 24., 25. und 26. Dezember 1918 bis 23:00 Uhr. Bekanntmachung des Arbeiter- und Soldatenrats zur Verpflegung durchreisender Soldaten und zu den erforderlichen Einquartierungen in der Stralsundischen Zeitung vom 22. November 1918. Zu den Entlassungsformalitäten vgl. die Bekanntmachung des Soldatenrats zu Stralsund in der Stralsundischen Zeitung vom 24. November 1918; vgl. auch die Gemeinsame Bekanntmachung des Oberbürgermeisters und des Arbeiterrats vom 23. November 1918 über die Einrichtung einer Arbeitsnachweisstelle zur Vermittlung von Arbeitsgelegenheiten, abgedruckt in der Stralsundischen Zeitung vom 1. Dezember 1918; Bekanntmachung des Arbeiter- und Soldatenrats über Arbeitsgelegenheit, abgedruckt in der Stralsundischen Zeitung vom 21. Dezember 1918.

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tierungen von Soldaten.113 Ab Januar 1919 war aufgrund der vielen entlassenen Soldaten die Zahl der Arbeitslosen erheblich angestiegen.114 Im Januar 115 und Februar 1919116 war es deshalb zu mehreren Protestversammlungen der Arbeitslosen gekommen. Die hierdurch veranlassten sozialen Probleme waren neben der Einführung einer Erwerbslosenfürsorge durch den Rat 117 für den Arbeiter- und Soldatenrat Anlass, dem Rat Vorschläge für ein staatliches Bau- und Beschäftigungsprogramm (sog. „Notstandsarbeiten“) zu unterbreiten.118 Die zweite Phase der Revolution wird jedoch nicht nur durch die geschilderten Aktivitäten des Arbeiter- und Soldatenrats, sondern auch durch eine vorher unbekannte politische Mobilisierung der Stralsunder Bevölkerung geprägt. Grund hierfür waren nicht zuletzt die sehr kurzfristig angesetzten Wahlen zur Nationalversammlung und zur preußischen Landesversammlung im Januar 1919 wie auch die im März 1919 durchgeführte Neuwahl des Bürgerschaftlichen Kollegiums. Zahlreiche gut besuchte politische Versammlungen, 113 Vgl. die im Stralsunder Tageblatt vom 22. November 1918 abgedruckte Bekanntmachung des Arbeiter- und Soldatenrats. 114 So waren nach einem Bericht im Lokalteil der Stralsundischen Zeitung vom 21. Februar 1919 über Verhandlungen mit den Arbeitslosen im Februar 1919 800 Personen arbeitslos, von denen aber nur 120 bis 150 eine Unterstützung aus der neu geschaffenen Erwerbslosenfürsorge für Kriegsteilnehmer erhalten haben sollen. 115 Im Verlauf einer Sitzung des Bürgerschaftlichen Kollegiums am 21. Januar 1919 (vgl. den Bericht in der Stralsundischen Zeitung vom 23. Januar 1919) war es zu Lärm- und Unmutsäußerungen von sehr zahlreich anwesenden Arbeitslosen gekommen. 116 Vgl. den Bericht im Lokalteil der Stralsundischen Zeitung vom 20. und 21. Februar 1919 über die Arbeitslosendemonstration am 18. Februar 1919 und die Verhandlungen mit den Arbeitslosen am Folgetag sowie den Bericht in der Stralsundischen Zeitung vom 25. Februar 1919 über die außerordentliche Sitzung des Bürgerschaftlichen Kollegiums am 22. Februar 1919: Danach hatten sich im Anschluss an eine Protestversammlung der Arbeitslosen im Gewerkschaftshaus am 18. Februar 1919 diese in den Sitzungssaal des Kollegiums begeben und unter Androhung von Waffengewalt eine Unterbrechung der Sitzung erreicht, um ihre Forderungen zu verlesen. In weiteren Gesprächen am nächsten Tag mit Vertretern des Rats und der Arbeitslosen, die „in aller Ruhe verlaufen waren“, einigte man sich auf eine Erhöhung der Zusatzunterstützung bzw. der Entlohnung von Notstandsarbeiten, eine veränderte Zuweisung von auswärtigen Arbeitsstellen und die Aufnahme von weiteren Erwerbslosen als beratende Mitglieder des Ausschusses für Erwerbslosenfürsorge und auf eine weitere Ausweitung der Arbeitsstellen mit Hilfe des staatlichen Notstandsarbeitsprogramms. 117 Auf Aufforderung des Reichskommissars für wirtschaftliche Demobilmachung hatte das Bürgerschaftliche Kollegium in seiner Sitzung am 17. Dezember 1918 (vgl. den Bericht über die Sitzung in der Stralsundischen Zeitung vom 19. Dezember 1918) die sofortige Einführung eines „Ortsstatuts für Erwerbslosenfürsorge“ beschlossen (abgedruckt in der Stralsundischen Zeitung vom 28. Dezember 1918). 118 Der Arbeiter- und Soldatenrat hatte in einem Brief an den Oberbürgermeister und das Ratskollegium vom 15. Januar 1919 (StAS: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 36) neben einer Erhöhung der Löhne für gemeinnützige Arbeiten die Übernahme der Reinigung der Bürgersteige und Straßen durch die Stadt, eine gemeinnützige Errichtung von Arbeiterwohnungen und öffentlichen Wohlfahrtseinrichtungen und die Herrichtung eines Industriegebietes im Stadtkreis Stralsund gefordert.

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Parteineugründungen und via Zeitungsanzeigen und Leserbriefen ausgetragene politische Auseinandersetzungen und Debatten illustrieren anschaulich, wie sehr der überraschende Zusammenbruch der althergebrachten Ordnung das Bedürfnis der Stralsunder Bevölkerung nach aktiver Teilhabe an der gesellschaftlichen Umgestaltung beflügelte. Die Einführung eines allgemeinen, freien und gleichen Wahlrechts für alle Bürger ab 20 Jahren hatte zur Folge, dass sich die Zahl der Wahlberechtigten immens vervielfacht hatte. Neben den Soldaten, deren Wahlrecht im Kaiserreich während der Dauer der aktiven Militärzeit geruht hatte, waren nun auch die bislang ausgeschlossenen Frauen wahlberechtigt. Reichsweit hatte sich der Anteil der wahlberechtigten Bürger an der Bevölkerung damit von 22 % auf 61 % erhöht 119. Noch deutlicher wirkte sich die Demokratisierung des Wahlrechts für die anstehenden Neuwahlen zum Bürgerschaftlichen Kollegium aus. Denn bis zur Novemberrevolution besaßen nur diejenigen Bürger das Wahlrecht zur Kommunalvertretung, die entweder ein Wohnhaus im Stadtkreis besaßen oder ein „stehendes Gewerbe mit mindestens 2 Gehilfen“ betrieben oder ein Jahreseinkommen von mindestens 900 Mark hatten.120 Bei den Wahlen zum Bürgerschaftlichen Kollegium im Jahre 1913 hatten deshalb von den 34.000 Einwohnern nur 1.710 Stimmrecht.121 Beide Sozialdemokratischen Parteien konnten begünstigt durch den Zusammenbruch des Kaiserreichs erfolgreich ihre Anhänger mit Hilfe gut besuchter politischer Versammlungen 122 mobilisieren und es kam zu vielen Neueintritten.123 Von dem gesellschaftlichen Umbruch profitierte aber nicht nur die Sozialdemokratie. Auch die im November und Dezember 1918 einberufenen politischen Versammlungen der in Stralsund vertretenen liberalen und konservativen Parteien und Vereine waren sehr gut besucht. Diese Tatsache ist ein Indiz für den Willen des hiesigen Bürgertums, die politische Neuordnung nicht den Vertretern der Sozialdemokratie zu überlassen. Bereits am 25. November 1918 war es 119 Hans-­Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914 – 1949. München 2008, S. 353. 120 Rezeß der Stadt Stralsund vom 21. Oktober 1870, vgl. hierzu Brunner: Stralsund, S. 19 f. 121 Jahnke: Die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Stralsund, S. 24. 122 Vgl. die Einladung der USPD zur öffentlichen Volkssammlung am 24. November 1918 unter der Tagesordnung „Die Revolution in Deutschland“, abgedruckt in der Stralsundischen Zeitung vom 24. November 1918 oder die am 1. Dezember 1918 in der Stralsundischen Zeitung abgedruckte Einladung der MSPD zur politischen Versammlung am 2. Dezember 1918 mit dem Thema: „Das künftige Deutschland“; eine anschauliche Schilderung der Atmosphäre anlässlich einer Versammlung der MSPD im Reitstall der Garnison mit einer Rede Simon Katzensteins findet sich in dem von Walter Radüge stammenden Erinnerungsbericht, S. 60. 123 Bis zur Jahreswende 1918 traten beispielsweise in die MSPD 560 und im folgenden Quartal 1919 204 neue Mitglieder bei; zu diesem Zeitpunkt soll der Ortsverein insgesamt 885 Mitglieder gehabt haben, vgl. Fank: 40 Jahre Sozialdemokratie, S. 11; ähnlich stürmisch verlief die Mitgliederentwicklung bei der Stralsunder USPD. Zählte diese 1918 noch 127 Mitglieder, so wuchs ihre Mitgliederzahl im Jahr 1919 auf 823 und im Jahr 1920 auf 1.234 Mitglieder, vgl. Matull: Ostdeutschlands Arbeiterbewegung, S. 270.

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auf Initiative u. a. des Direktors des Stralsunder Lyzeums, Dr. Karl Müller,124 zur Wahl eines „Bürgerrats“ gekommen. Der als Pendant zum Arbeiter- und Soldatenrat zu verstehende Bürgerrat bestand aus 41 Personen und setzte sich anteilsmäßig zusammen aus verschiedenen Vertretern bürgerlicher Berufsgruppen.125 Der Direktor des Lyzeums hatte bereits auf einer am 15. November 1918 einberufenen öffentlichen Versammlung der Fortschrittspartei seine Überlegungen für eine „Anpassung des Bürgertums an die staatliche Regierung sowie die Forderungen der Fortschrittspartei zur Umgestaltung der städtischen Verwaltungskörper“ dargelegt.126 Auch diese Versammlung war, wie den Berichten im Stralsunder Tageblatt und der Stralsundischen Zeitung zu entnehmen ist, „außerordentlich stark von Frauen und Männern besucht.“ Dr. Müller gehörte in der Folgezeit zu den exponiertesten Vertretern des linksliberalen Bürgertums in Stralsund und zu den Gründern einer Ortsgruppe der Deutschen Demokratischen Partei (DDP ),127 welche sich trotz einer gewissen Sympathie mit einer teilweisen Vergesellschaftung des Großkapitals für den weitgehenden Schutz des Privateigentums und der Einführung einer demokratischen Gesellschaftsordnung einsetzte. Er war bis zu den Wahlen mehrfach politischen Anfeindungen von rechtsliberaler und konservativer Seite in öffentlichen Versammlungen und Zeitungsanzeigen 128 bzw. Leserbriefen ausgesetzt, in denen ihm eine „Brunnenvergiftung“ 129, eine Nähe bzw.

124 Dr. phil. Karl Müller war von 1912 bis 1924 Direktor des Lyzeums, vgl. Personenregister in: Geschichte der Stadt Stralsund (wie Fußnote 7), S. 515. Er war bis zur Novemberrevolution Mitglied der Fortschrittlichen Volkspartei und nach der Novemberrevolution einer der Begründer der Stralsunder Ortsgruppe der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). 125 Vgl. den Bericht im Lokalteil der Stralsundischen Zeitung vom 27. November 1918. 126 Vgl. die im Stralsunder Tageblatt vom 15. November 1918 abgedruckte Einladung und den Bericht über die Versammlung im Lokalteil der Stralsundischen Zeitung vom 17. November 1918. 127 Vgl. den Bericht über die Gründungsversammlung des Ortsvereins der DDP in Stralsund am 28. November 1918, welcher in der Stralsundischen Zeitung vom 29. Dezember 1918 abgedruckt ist; allgemein zur DDP vgl. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 355 f. bzw. Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 985 – 988. 128 Vgl. die Anzeige in der Stralsundischen Zeitung vom 17. Januar 1918 „Jetzt bürgerlich – doch später?“; weitere Anzeigen in der Beilage der Stralsundischen Zeitung vom 18. Januar 1919; Dr. Müller antwortet in einer in der Stralsundischen Zeitung veröffentlichen Anzeige „In eigener Sache“. 129 Diesen Vorwurf hatte der Direktor der Stralsunder Zuckerfabrik in einer Versammlung der Freikonservativen Vereinigung am 5. Dezember 1918 erhoben; in einer am Folgetag stattgefundenen öffentlichen Versammlung von „Vertretern der nationalliberalen Partei sowie des rechten Flügels der früheren Fortschrittlichen Volkspartei“ wurden Meinungsäußerungen Dr. Müllers „von starken Unwillensbekundungen“ und mit „Raus“-Worten“ begleitet, vgl. den Bericht des Fortbildungs-­Schuldirektors Lau, welcher der DVP beigetreten ist, in dem Extrablatt „Zur Aufklärung an Alle“ von den beiden Versammlungen am 4. und 5. Dezember 1918.

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eine beabsichtigte Verschmelzung mit der Sozialdemokratie 130 bzw. eine Religionsfeindlichkeit 131 vorgeworfen wurde. Mit welcher Schärfe der Wahlkampf geführt wurde, belegt exemplarisch auch die Tatsache, dass es im Verlauf einer Versammlung der Freikonservativen Vereinigung in dem völlig überfüllten Saal des Lyzeums nach einem Vortrag des Korvettenkapitäns von Forstner zum Thema „Marine und Revolution“ zu Tumulten gekommen war, sodass die Versammlung abgebrochen werden musste.132 Der U-Boot-­Kommandant hatte zuvor die Zuhörerschaft u. a. damit provoziert,133 dass „die Revolution nicht in der Marine entstanden sei, sondern von außen zielbewusst durch die Sozialdemokratie vorbereitet worden sei“, und dass es „für Offiziere, die sich jetzt zweifellos auch politisch zusammenschließen würden, nur einen Kampf gegen die Sozialdemokratie geben würde.“ Als zum Schluss der Veranstaltung von einigen Gegnern das Podium gestürmt wurde, konnten die beginnenden Handgreiflichkeiten nur von besonnenen Leuten aus der Zuhörerschaft, namentlich den anwesenden Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrats, gestoppt werden. Auch bei einer öffentlichen Versammlung der vom national- und rechtsliberalen Bürgertum im November 1918 gegründete Deutsche Volkspartei (DVP)134 am 22. Januar 1919, welche dem Bericht im Lokalteil der Stralsundischen Zeitung vom 23. Januar 1919 zufolge „sehr stark von Mitgliedern der DDP und der SPD besucht“ worden war, konnten im Anschluss an eine Rede des Greifswalder Universitätsprofessors Thaer Tätlichkeiten nur mit Mühe verhindert werden. Besonderes Interesse riefen die öffentlichen Veranstaltungen zur Information über das Frauenwahlrecht hervor. Eine von bürgerlichen und kirchlichen Frauenorganisationen organisierte Informationsveranstaltung im Lyzeum am 28. November 1918 war derart überfüllt, 130 Vgl. die in der Stralsundischen Zeitung vom 14. Januar 1919 abgedruckte Anzeige „Demokratie und Sozialdemokratie Arm in Arm“ sowie die beiden in der Stralsundischen Zeitung vom 16. Januar 1919 veröffentlichten Anzeigen „Verschmelzung der Demokratischen und der Sozialdemokratischen Partei“ und „Demokratische Verunglimpfungen“ oder die in der Stralsundischen Zeitung vom 19. Januar 1918 abgedruckte Anzeige „Herrn Dr. Müller persönlich“. Hierauf entgegnete Dr. Müller z. B. mit der in der Stralsundischen Zeitung abgedruckten Anzeige „An Civis“. 131 Siehe die Entgegnung hierauf durch die in der Stralsundischen Zeitung vom 14. Januar 1919 abgedruckte Anzeige „Lüge und Wahrheit“. Vgl. auch die in der Stralsundischen Zeitung vom 17. Dezember 2918 abgedruckte Anzeige „Ein Frauenwort zu der Kampfart der Volksparteien“. 132 Vgl. den Bericht über die Versammlung in dem Lokalteil der Beilage zur Stralsundischen Zeitung vom 14. Januar 1919. 133 Vgl. die Entgegnung von Forstners in seinem in der Stralsundischen Zeitung vom 22. Januar 1919 abgedruckten Schlusswort. 134 Vgl. hierzu Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 356; vgl. auch Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 980 ff. Der DVP gehörte in Stralsund u. a. der damalige Ratssyndikus und spätere Oberbürgermeister Dr. Carl Heydemann an, der wie weitere prominente Mitglieder (der Bankdirektor Adolf Schmidt, der Justizrat Dr. Langemak oder der Direktor der Stralsunder Zuckerfabrik Dr. Bruckner) dem nationalliberalen bis konservativen Spektrum des Stralsunder Bürgertums zugerechnet werden kann.

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dass hunderte Interessentinnen keinen Einlass fanden. Im Saal standen die Menschen, wie dem entsprechenden Zeitungsbericht zu entnehmen ist, dicht gedrängt.135 Wenige Tage später musste die Veranstaltung wiederholt werden. Die Sozialdemokraten hatten sich schon seit jeher für das Frauenwahlrecht eingesetzt. Nun wurden die Frauen jedoch allseits umworben. Dies ist nicht verwunderlich, denn angesichts eines Bevölkerungsanteils der Frauen von 55 % in der Provinz Pommern kam den weiblichen Stimmen eine erhebliche wahltaktische Bedeutung zu. So kam es beispielsweise in der von rechtskonservativen Kreisen Ende 1918 neu gegründete Deutschnationalen Volkspartei (DNVP)136 zur Gründung eines Frauenausschusses und man erhoffte sich durch ein betont christlich-­nationales Wertebewusstsein eine besondere Anziehungskraft für weibliche Wählerstimmen.137 Auch die DDP veranstaltete öffentliche Frauenversammlungen mit dem „Eingeständnis, dass es vielen Frauen in den wenigen Wochen nicht gelungen sei, sich ein selbständiges Urteil zu bilden“, das „aber notwendig sei, da die Frauen durch ihre große Zahl berufen seien, den Ausschlag zu geben.“ 138 Im Wahlkampf nahmen die Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche offen Partei für die DVP und die DNVP. Ein Grund hierfür waren die Bestrebungen beider sozialdemokratischer Parteien zur Trennung von Staat und Kirche, die Abschaffung des gemeinsamen Schulgebets und der Teilnahmepflicht am schulischen Religionsunterricht, dessen Erteilung im Übrigen in das Belieben der jeweiligen Lehrer gestellt wurde.139 So wandte sich der Superintendent Dr. Hornburg im Rahmen einer Versammlung der Gemeindekirchenräte und Gemeindevertretungen der vier evangelischen Gemeinden Anfang Januar 1919 offen gegen die Sozialdemokratie und forderte die Versammelten auf, bei der bevorstehenden Wahl zur Nationalversammlung die Folgerungen aus den Standpunkten der SPD zu ziehen.140 Diese Versammlung blieb nicht der einzige Versuch der Kirchen, auf die Wahlentscheidung insbesondere der Frauen Einfluss zu nehmen.141 135 Vgl. den Bericht im Lokalteil der Stralsundischen Zeitung vom 30. November 1918 und den in der Stralsundischen Zeitung vom 1. Dezember 1918 abgedruckten Leserbrief. 136 Nachdem sich am 28. November 1918 der Landesverband Pommern der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) gegründet hatte, kam es bis Ende 1918 auch in Stralsund zur Gründung eines Orts- bzw. Kreisverbandes der von nationalkonservativen Kreisen gegründeten DNVP, vgl. hierzu Becker: Revolution und rechte Sammlung, S. 215 ff. und 224. 137 Becker: Revolution und rechte Sammlung, S. 215 ff. und 217. 138 Vgl. den im Lokalteil der Stralsundischen Zeitung vom 16. Januar 1918 enthaltenen Bericht über die am 15. November 1918 von der DDP im Festsaal des Lyzeums veranstaltete öffentliche Frauenversammlung u. a. mit einem Vortrag der Oberlehrerin Metzner. 139 Vgl. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 439; vgl. Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 884 ff. 140 Vgl. den Bericht im Lokalteil der Stralsundischen Zeitung vom 5. Januar 1919. 141 „Wen wählen wir als evangelische Christen in die Nationalversammlung?“, so hieß es in zwei Versammlungen der „Frauen und Jungfrauen der St. Marien-­Gemeinde“ am 9. Januar 1919 und in der am 13. Januar 1919 stattgefundenen Versammlung mit dem Titel „Wen wählen wir Frauen der St. Nikolai Gemeinde in die Nationalversammlung?“, betonte der Stralsunder

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Die Wahlergebnisse der beiden Januarwahlen 1919 im Regierungsbezirk 142 spiegeln den in Stralsund seit November 1918 eingetretenen gesellschaftlichen Umbruch deutlich wider. Bemerkenswert ist, dass neben den beiden Sozialdemokratischen Parteien, die zusammen jeweils rund 42 % der Stimmen auf sich vereinigen konnten,143 auch die linksliberale DDP einen Stimmenanteil von jeweils um die 34 % erzielen konnte. Wie sehr sich der Wind in Stralsund gedreht hatte, zeigten die Wahlergebnisse der beiden anderen bürgerlichen Parteien. Die DVP erhielt in beiden Januarwahlen nur rund 16 % der Stimmen und auf die DNVP entfiel in Stralsund bei beiden Wahlen sogar nur ein Stimmenanteil von rund 6 %. Letzteres ist insofern bemerkenswert, als die DNVP bei den Wahlen zur Nationalversammlung in der gesamten Provinz Pommern mit einem Stimmenanteil von 23,9 % zweitstärkste Partei geworden war.144 Bei den Wahlen zum Bürgerschaftlichen Kollegium am 2. März 1919 fiel die Wahlniederlage für das national-­liberale bzw. konservative Lager dagegen nicht so deutlich aus. Dies lag daran, dass es den bürgerlichen Parteien gelungen war, für diese Wahl eine einheitliche Liste mit dem linksliberalen Dr. Müller einerseits und nationalliberalen bis konservativen Kandidaten wie dem Bankdirektor Schmidt oder dem Justizrat Dr. Paul Langemak andererseits aufzustellen.145 Aus der gemeinsamen Liste des Bürgerausschusses wurden insgesamt 22 Personen in die Kommunalvertretung gewählt. 17 Abgeordnete entsandte die MSPD. Aus der Liste der USPD und einer Liste der Eisenbahnergewerkschaft wurden jeweils 2 Abgeordnete gewählt. Die restlichen 5 Abgeordneten des neu gewählten Kollegiums entstammten einem Wahlvorschlag, auf dem eine Reihe von selbständigen Kaufleuten und Fabrikbesitzern kandidiert hatten. Die vermeintliche Geschlossenheit des bürgerlichen Lagers zerbrach aber gleich nach der Wahl. Denn schon bei der konstituierenden Sitzung des Bürgerschaftlichen Kollegiums am 18. März 1919 spaltete sich von der bürgerlichen Einheitsliste unter Führung des Dr. Karl Müller eine 12 Abgeordnete umfassende demokratische Fraktion ab.146 Auch die beiden sozialdemokratischen Parteien bildeten eine gemeinsame Fraktion, der drei der insgesamt sechs in das Kollegium gewählten Frauen angehörten.147 Die zwischenzeitlich stattgefundene Politisierung des Kollegiums fiel auf. „Der Saal des Kollegiums,“ so berichtet die

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Superintendent Dr. Hornburg in seiner Begrüßung der Teilnehmerinnen „die Notwendigkeit einer Aufklärung der Wählerinnen über die Stellung der politischen Parteien zur Kirche“, hierzu den im Lokalteil der Stralsundischen Zeitung vom 15. Januar 1919 enthaltenen Bericht über die Versammlung im am Alten Markt gelegenen Hotel „Goldener Löwe“. Vgl. die bei Brunner: Stralsund, S. 27 abgedruckte Tabelle mit den Wahlergebnissen in Stralsund 1912 und 1919. Rund 40 % entfielen auf die MSPD und der Rest auf die USPD. Becker: Revolution und rechte Sammlung, S. 227. Vgl. den Bericht in der Stralsundischen Zeitung vom 26. Februar 1919 über die von der Wahlkommission zugelassenen Wahlvorschläge für die Wahl zum Bürgerschaftlichen Kollegium. Ein Bericht über die erste Sitzung des neuen Kollegiums am 18. März 1919 findet sich in der Stralsundischen Zeitung vom 20. März 1919. Sichtbarster Ausdruck der Wahlrechtsreform war die von der Stralsundischen Zeitung am 20. März 1919 berichtete Tatsache, dass „im Vorsaal neben den Männerhüten auch die Hüte

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Stralsundische Zeitung am 20. März 1919, habe „ein gegen früher völlig verändertes Bild geboten,“ es habe „sich sofort eine früher nicht gebräuchliche strenge Scheidung der Parteien bemerkbar gemacht.“

Phase 3: „Das Ende der Revolution“ (März 1919 bis September 1919) Aus der Revolution geboren, sind die Arbeiter- und Soldatenräte eine Kampforganisation von Anfang an gewesen, in der die Bürger im Waffenrock und in der Arbeiterbluse sich die Hände reichten zu gemeinsamer Front gegen Unterdrückung und Machtstellung der bevorzugten Kasten.

So leitete der Vorsitzende des Stralsunder Arbeiter- und Soldatenrats, Franz Hoepfner, einen Artikel in der Stralsundischen Zeitung vom 22. Januar 1919 ein, mit dem er sich dafür einsetzte, die Arbeiter- und Soldatenräte in sogenannte Volksräte umzuwandeln, „um die bewährten Kräfte der Regierung auch weiterhin zu erhalten.“ Es sei notwendig, einen Wahlmodus zu finden, der auch diejenigen erfasst, die bisher rechtlos beiseite gestanden haben, wie das Kleingewerbe, die Handwerker, Handlungsgehilfen, Ärzte, Juristen, Gelehrte, Schauspieler und Künstler.

Die Gedanken des Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrats sind nachvollziehbar. Denn nachdem das oberste Räteorgan, der Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik, die ihm übertragene Macht am 4. Februar 1919 „in die Hände der Nationalversammlung gelegt hatte“, war mit dem durch die Nationalversammlung am 10. Februar 1919 verabschiedeten Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt die Phase der revolutionären Rätediktatur beendet.148 Zuvor war bereits durch drei Verordnungen der Reichsregierung vom 19. Januar 1919 die Kommandogewalt ausschließlich auf die militärischen „Führer“ übertragen und waren die Aufgaben der Vertrauensleute in kleineren Einheiten bzw. der in den Garnisonen zu wählenden Soldatenräte neu geregelt worden.149 Obwohl die vorgenannten Verordnungen auch auf Protest des Stralsunder Arbeiter- und Soldatenrats gestoßen waren,150 kam es im März 1919 zu einer Auflösung der gemeinsamen derjenigen Damen hingen, die zum ersten Male als Mitglieder an der Sitzung teilnahmen“ und „in bunter Reihe“ zwischen den männlichen Mitgliedern des Kollegiums“ gesessen hätten. 148 Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 1076 f. 149 Ebd., S. 938: „Den Soldatenräten stand nunmehr nur das Recht der Überwachung der Vorgesetzten zu, soweit dies zur Verhinderung des Missbrauchs der Dienstgewalt zu Handlungen gegen die Regierung notwendig war; Mitwirkungsrechte wurden ihnen nur in Fürsorgeangelegenheiten der Truppe bzw. in Urlaubs- und Disziplinarangelegenheiten eingeräumt.“ 150 Vgl. die im Lokalteil der Stralsundischen Zeitung vom 30. Januar 1918 abgedruckte Entschließung des Stralsunder Arbeiter- und Soldatenrats; zu den reichsweiten Protesten u. a. der

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Vertretung; der bisherige Arbeiter- und Soldatenrat firmierte ab April 1919 nunmehr unter der Bezeichnung „Kreisleitung Arbeiterrat Stralsund“.151 Die Abspaltung änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass die bisherigen Beauftragten des Arbeiter- und Soldatenrats auch unter dem neuen Namen unverändert ihre bisherigen Kontroll- und Verwaltungsaufgaben in der Stadtverwaltung ausübten. Dies stand zwar im Widerspruch zu der im preußischen Innenministerium vertretenen Auffassung, welches gegenüber dem Stralsunder Magistrat zum Ausdruck gebracht hatte, dass eine Kontrolle der nach dem neuen Wahlrecht gewählten Gemeindevertretung oder Stadtverordnetenversammlung durch ein anderes Organ als mit dem Grundsatz der Demokratie in Widerspruch stehend abgelehnt würde und nur noch für eine Übergangszeit bis zu einer gesetzlichen Neuregelung toleriert werden könne.152

Dennoch konnte sich der Magistrat in dieser Frage zunächst nicht gegenüber dem Bürgerschaftlichen Kollegium durchsetzen, ganz im Gegensatz zu einer Reihe anderer pommerscher Städte, in denen in der ersten Junihälfte des Jahres 1919 die Arbeiter- und Soldatenräte aufgelöst worden waren.153 Bereits am 26. Juni 1919 hatte eine Protestversammlung des Stralsunder Gewerkschaftskartells in Anwesenheit des Vertreters des Arbeiterrats, Paul Krause, beschlossen, bei einer Absetzung des Arbeiterrats in den Generalstreik zu treten und die Steuerzahlungen zu Reichskonferenz der Soldatenräte Deutschlands vgl. Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 939 – 943. 151 Die Bekanntmachung vom 2. April 1919 ist abgedruckt in der Stralsundischen Zeitung vom 4. April 1919. Dem war ein Konflikt mit dem Garnisonkommando und dem dort auf der Grundlage der vorgenannten Verordnungen vom 1919 Januar neu gewählten Soldatenrat vorangegangen, die sich beide mit Hilfe einer in der Stralsundischen Zeitung vom 5. März 1919 abgedruckten Bekanntmachung und mehrerer Schreiben an die Stadt vom 6. und 16. März 1918 auf den Standpunkt gestellt hatten, dass für militärische Angelegenheiten ausschließlich der neu gewählte Soldatenrat zuständig und ein Arbeiter- und Soldatenrat nicht mehr vorhanden sei, vgl. StAS: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 56 und 57. 152 Das Schreiben des Preußischen Ministers des Innern, Wolfgang Heine (MSPD), vom 10. Juni 1919 an die Landräte des Regierungsbezirks und die Magistrate in Stralsund und Greifswald befindet sich in StAS: Rep. 18 Nr. 386, Bl. 75. Dort wird die Absicht angekündigt, die Neuwahl der unbesoldeten Mitglieder des Magistrats und des Gemeindevorstandes regeln zu wollen, „um eine ausreichende demokratische Kontrolle der Gemeindebehörden zu ermöglichen.“ Bislang war in Stralsund die Wahl des auf Lebenszeit ernannten Oberbürgermeisters dem Rat vorbehalten, während die übrigen Mitglieder des Rats durch das Bürgerschaftliche Kollegium gewählt wurden; tatsächlich wurde Dr. Carl Heydemann erst am 6. Mai 1924 durch den preußischen Innenminister zum neuen Oberbürgermeister ernannt, nachdem Ernst Gronow zum 1. April 1924 von diesem Amt zurückgetreten war, vgl. Brunner: Stralsund, S. 29. 153 In der ersten Junihälfte des Jahres 1919 waren die Arbeiter- und Soldatenräte in Stettin, Kolberg, Greifenberg, Damgarten und Grimmen aufgelöst worden, vgl. Jahnke: November 1918 Stralsund, S. 32; vgl. auch Nerée: Die Revolution 1918/19 in Pommern, S. 208.

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verweigern.154 Als am 10. Juli 1919 die Beendigung der Tätigkeit des Arbeiterrats auf der Tagesordnung des Bürgerschaftlichen Kollegiums stand, hatte die Arbeiterschaft – wie die Stralsundische Zeitung berichtete – „den Zuhörerraum und die Gänge des Rathauses sowie auch einen großen Teil des Alten Marktes besetzt“, um gegen die Absetzung des Arbeiterrates zu protestieren. In der Sitzung wurde der Vorschlag des Rats, anstelle des bisherigen Arbeiterrats eine von der Stadt unterhaltene Auskunfts- und Beschwerdestelle einzurichten, nicht nur von den Vertretern beider sozialdemokratischen Parteien abgelehnt, sondern führte bei den zahlreich erschienenen Zuhörern zu „wachsender Erregung“, „Zurufen“ und „großem Lärm“, „Stöcke wurden geschwungen, man griff nach den Stühlen“ und die Sozialdemokraten hätten sich „redlich Mühe geben müssen, um die Unruhigen zu besänftigen.“ 155 Angesichts dieses Drucks beschloss das Bürgerschaftliche Kollegium, dass der Arbeiterrat bis zu einer neuen gesetzlichen Regelung weiter bestehen solle. Die Entscheidung des Bürgerschaftlichen Kollegiums am 10. Juli 1919 erklärt sich jedoch nicht allein durch den entschlossenen Protest der Arbeiterschaft an diesem Tag, sondern wird vor allem vor dem Hintergrund der Ereignisse von Anfang Mai 1919 verständlich.156 Am 4. Mai 1919 und in der darauffolgenden Nacht war es nämlich in der Stadt zu Plünderungen von Fischverkaufsstätten und -räuchereien, mehrerer Fleischer- und Bäckerläden sowie mehrerer Warenhäuser in der Ossenreyerstraße gekommen.157 Bei Schießereien mit Reichswehrsoldaten hatte es mehrere Tote und Verletzte gegeben. Infolge dieser Ereignisse, die sich im Zuge eines Streits über den Verkauf minderwertiger Fische entzündet hatten, wurde am 5. Mai 1919 durch den Garnisonkommandeur im Einverständnis mit dem Bürgermeister, Rat und dem Arbeiterrat der Belagerungszustand über den Stadtkreis Stralsund verhängt; dieser wurde erst zum 25. Mai 1919 aufgehoben. Angesichts dieser Vorkommnisse erscheint die Annahme nicht abwegig, dass sich die Mitglieder des Bürgerschaftlichen Kollegiums am 10. Juli 1919 nicht sicher sein konnten, welche Auswirkungen eine Auflösung des Arbeiterrats haben würde,158 zumal letzterer im

154 Jahnke: Stralsund November 1918, S. 32 mit einem Verweis auf einen Bericht in der Zeitung Volksbote 1919, Nr. 146; ders.: Die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Stralsund, S. 56. 155 Vgl. den Bericht in der Stralsundischen Zeitung vom 12. Juli 1919; vgl. auch Jahnke: Die Entwicklung der Arbeiterbewegung, S. 56. 156 Die Schilderung der Ereignisse beruht auf den Berichten in der Stralsundischen Zeitung vom 6. und 7. Mai bzw. 9. Mai 1919 und den dort veröffentlichten Bekanntmachungen des Garnisonkommandeurs sowie auf den im StAS: Rep. 18 Nr. 388, ab Bl. 33 ff. befindlichen Berichten des Polizeidirektors Fredenhagen an den Rat vom 10. Mai 1919 bzw. u. a. des Polizeiobermeisters Schewe. 157 Die Höhe der Schadenersatzansprüche, die später von Privatleuten an die Stadt Stralsund gestellt worden sind, soll sich laut einer Meldung im Lokalteil der Stralsundischen Zeitung vom 18. Mai 1919 auf 5 Millionen Mark belaufen haben. 158 Das solche Befürchtungen nicht ganz unbegründet waren, zeigt jedenfalls die Tatsache, dass ein Teil der Kundgebungsteilnehmer zweimal an diesem Tag – allerdings erfolglos – den Versuch unternahm, Arbeiter, die im Verlauf des Aufruhrs am 4. Mai 1919 im Gefängnis inhaf-

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Verlauf der Unruhen mäßigend auf die Bevölkerung eingewirkt hatte.159 Wie sehr sich die politische Stimmung im Sommer 1919 aufgeheizt hatte, belegt auch die Tatsache, dass nur wenige Tage nach der Sitzung des Bürgerschaftlichen Kollegiums das gesamte wirtschaftliche Leben der Stadt vom 15. bis 18. Juli 1919 infolge eines Generalstreiks der Arbeiter und eines bürgerlichen Gegenstreiks lahmgelegt wurde.160 Die von Funktionären der USPD organisierte Bestreikung der Gasanstalt, des Elektrizitäts- und des Wasserwerkes und vor allem der Stromversorgung durch die Überlandzentrale war eine Reaktion darauf, dass das Generalkommando in Stettin am 12. Juli 1919 eigenmächtig den Belagerungszustand über den gesamten Regierungsbezirk sowie die angrenzenden Kreise Anklam, Demmin und Ueckermünde verhängt hatte.161 Ursache hierfür waren gescheiterte Lohnverhandlungen der Landarbeiter im Regierungsbezirk Stralsund, die ab dem 12. Juli 1919 u. a. auf siebzehn Gütern des Kreises Franzburg zu Streiks geführt hatten.162 Nur wenige Tage später, nämlich am 21. Juli 1919, kam es zudem am Rande eines Demonstrationszuges von Arbeitern gegen

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tiert worden waren, gewaltsam mit Steinwürfen zu befreien, vgl. den Bericht im Lokalteil der Stralsundischen Zeitung vom 12. Juli 1919. Vgl. die in der Stralsundischen Zeitung vom 6. Mai 1919 veröffentlichte gemeinsame Erklärung des Arbeiterrats, des Stralsunder Gewerkschaftskartells und der beiden sozialdemokratischen Parteien vom 5. Mai 1919 und den Bericht im Lokalteil der Zeitung. Vgl. die Bekanntmachung des Kommandierenden Generals vom 15. Juli 1919 über die Verhängung des Belagerungszustands in der Stralsundischen Zeitung vom 15. Juli 1919. Ein ausführlicher Bericht über den Generalstreik in Stralsund findet sich in der Stralsundischen Zeitung vom 20. Juli 1919; vgl. auch StAS: Rep. 18 Nr. 388, dort findet sich u. a. eine ausführliche Darstellung der Stralsunder Ereignisse durch den damaligen Polizeidirektor Dr. Carl Heydemann, gegen den im Anschluss an den Generalstreik letztlich erfolglos ein Antrag auf Einleitung eines Disziplinarverfahrens gestellt worden war. Der Generalstreik sollte den Forderungen der Arbeiterschaft nach einer Aufhebung des Belagerungszustands, Rückzugs des fremden Militärs und Absetzung der hierfür zuständigen Beamten Nachdruck verleihen. Diese Forderungen hatte auch der Stralsunder Arbeiterrat in einem Telegramm vom 15. Juli 1919 erhoben; auch der Stralsunder Magistrat hatte in einem Telegramm an den Regierungspräsidenten zum Ausdruck gebracht, dass er ohne Stellungnahme zu den Lohnforderungen die Notwendigkeit der Verhängung des Belagerungszustands für den Stadtkreis Stralsund nicht anerkennen würde, und dessen sofortige Aufhebung verlangt; vgl. das im StAS (Rep. 18 Nr. 388, Bl. 18) befindliche Telegramm des Stralsunder Arbeiterrats an den Regierungspräsidenten Stralsunds vom 15. Juli 1919. Ein erster Bericht über den Landarbeiterstreik findet sich im Lokalteil der Stralsundischen Zeitung vom 15. Juli 1919: Danach soll es sich laut Mitteilung des Stralsunder Arbeiterrats „um einen Streik der freien Landarbeiter gehandelt haben, organisierte Landarbeiter würden nicht streiken;“ zu den Ursachen des Landarbeiterstreiks vgl. auch den Bericht in der Stralsundischen Zeitung vom 20. Juli 1919. Nach Nerée: Die Revolution 1918/19 in Pommern, S. 209 seien die Streiks vom Landbund provoziert worden, indem er Tarifverhandlungen mit dem Landarbeiterverband absichtlich zum Scheitern gebracht hatte; vgl. auch Jahnke: Die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Stralsund, S. 57 – 61; ders.: Die Kämpfe in der revolutionären Nachkriegskrise, S. 297 f.

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den Versailler Vertrag und gegen die Militärherrschaft zu Auseinandersetzungen zwischen Soldaten und Arbeitern, in deren Verlauf ein Arbeiter tödlich verletzt und kurzzeitig ein Maschinengewehr auf dem Alten Markt stationiert wurde.163 Zuvor hatten noch am 1. Juni 1919 die hiesigen Vertreter aller politischer Parteien einschließlich des Arbeiterrats auf dem Alten Markt unter Zustimmung einer dichtgedrängten Menschenmenge einhellig gegen den „Gewaltfrieden“ protestiert und die Regierung aufgefordert, diesen Friedensvertrag nicht zu unterzeichnen.164 Das „letzte Stündlein“ des Arbeiterrats schlug jedoch in der Sitzung des Bürgerschaftlichen Kollegiums am 18. September 1919. Wie dem Protokoll der Sitzung des Kollegiums 165 entnommen werden kann, gab es diesmal jedoch keinen Widerstand mehr gegen die Beendigung der Tätigkeit des Arbeiterrats. Vielmehr hatte der Vertreter der MSPD erklärt, dass die „sozialdemokratische Fraktion eine Kontrolltätigkeit des Arbeiterrats nicht mehr für notwendig hält“. Da zu Beginn der Sitzung u. a. die Sozialdemokraten Otto Neumann, Paul Freyer, Albert Haack (allesamt MSPD) und Wilhelm Prehn (USPD) zu unbesoldeten Ratsmitgliedern gewählt worden waren, hatte nämlich die Sozialdemokratie ihr von Anfang an seit der Konstituierung des provisorischen Arbeiterrats verfolgtes Ziel einer vollständigen politischen Partizipation an der Verwaltung der Stadt erreicht. Dagegen hielten einige Funktionäre der USPD die Institution eines Arbeiterrats offenbar aus anderen Gründen für überflüssig. So ist jedenfalls die Äußerung des USPD-Genossen Kupke zu verstehen, der vielsagend erklärt hatte, „der Arbeiter würde draußen, nicht drinnen sprechen.“ 166 Diese Äußerung ist ein sichtbares Zeichen dafür, dass es zwischenzeitlich innerhalb der Arbeiterschaft zu erheblichen Differenzen über die Fortführung des revolutionären Umbruchs gekommen war. Die eher konservativen Funktionäre in der Führung der beiden sozialdemokratischen Parteien und des Stralsunder Gewerkschaftskartells hatten ebenso wie die Kreisleitung des Arbeiterrats die Genossen und Arbeiter im Verlauf der Auseinandersetzungen im Sommer 1919 immer wieder zur Zurückhaltung und Mäßigung aufgerufen.167 Dagegen war man augenscheinlich auf Seiten des linken Flügels der USPD zu der Auffassung gelangt, dass die Arbeiterschaft ihre Interessen offensiver und radikaler mit Demonstrationen und

163 Ein Bericht findet sich im Lokalteil der Stralsundischen Zeitung vom 23. Juli 1919; vgl. auch Jahnke: Stralsund November 1918, S. 34 f.; ders.: Von der Novemberrevolution bis zur Befreiung vom Faschismus 1918 – 1945, S. 298; ders.: Die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Stralsund, S. 62. 164 Vgl. den Bericht in der Stralsundischen Zeitung vom 3. Juni 1918 über den „Stralsunder Protest“. 165 Abgedruckt in der Stralsundischen Zeitung vom 20. September 1919. 166 Vgl. den Bericht über die Sitzung des Bürgerschaftlichen Kollegiums am 18. September 1919, Stralsundische Zeitung vom 20. September 1919. 167 Vgl. z. B. auch den Aufruf des Bezirksarbeiterrats in der Stralsundischen Zeitung vom 13. Juli 1919. Zuletzt nach den Zusammenstößen von Arbeitern und Soldaten am 21. Juli 1919 mit einer Anzeige in der Stralsundischen Zeitung vom 23. Juli 1919.

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Streiks 168 verfolgen müsse; die Ergebnisse nicht zuletzt des Generalstreiks schienen ihnen auch recht zu geben. Im Ergebnis dieser innerparteilichen Auseinandersetzungen war es ab Sommer 1919 in einigen Orten Vorpommerns 169 zur Gründung einer Ortsgruppe der KPD, so auch in Stralsund am 18. September 1919, gekommen.170 Die formale Auflösung des Stralsunder Arbeiterrats am selben Tag markiert somit nicht nur den formellen Endpunkt der durch den Zusammenbruch der Monarchie ausgelösten politischen Neuordnung, sondern ist zugleich auch der Auftakt von politischen Auseinandersetzungen, die die später sogenannte „Weimarer Republik“ kennzeichnen.

168 Neben den bereits genannten Streiks war es Anfang Januar 1919 bereits zu einem Streik auf der Zuckerfabrik gekommen, siehe den Bericht im Lokalteil der Stralsundischen Zeitung vom 5. Januar 1919. 169 Klaus Schreiner: Zur Entstehung und Entwicklung von Ortsgruppen der KPD in Vorpommern, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der E. M. A.-Universität Greifswald, 8 (1958/59), S. 39 – 43. 170 Jahnke: Die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Stralsund, S. 63; ders.: Von der Novemberrevolution bis zur Befreiung vom Faschismus 1918 – 1945, S. 299; Schreiner: Zur Entstehung und Entwicklung von Ortsgruppen der KPD in Vorpommern, S. 41.

Greifswald 1918. Alltag zwischen Krieg und Frieden Jenny Linek

Einleitung Zum 100-jährigen Jubiläum des Kriegsendes und der revolutionären Ereignisse im November 1918 sind neben zahlreichen Gesamtschauen und der Fokussierung auf Berlin und München auch etliche regionale Studien erschienen.1 Mit der vorliegenden Mikrostudie möchte ich einen kleinen Beitrag zur Erweiterung der Geschichtsschreibung der Stadt Greifswald in dieser Zeit leisten, in der sowohl der November 1918 bislang keinen sonderlich prominenten Platz einnimmt als auch Studien zur Alltagsgeschichte der Kriegs- und Revolutionszeit fehlen.2 Obwohl sich auf den ersten Blick keine spektakulären Ereignisse um den 9. November 1918 herum feststellen lassen und diese Episode somit ins Bild der konservativen pommerschen Provinz und einer Stadt ohne Industriearbeiterschaft passt, sind für Greifswald

1 Nach kurzer Recherche im Bibliotheks-­Verbundkatalog GVK werden bspw. folgende Titel angezeigt: Mario Hesselbarth zur Novemberrevolution 1918 in Thüringen (Jena ²2018); Karl Schweizer für Lindau und Umgebung (Lindau 2018); eine Publikation des Stadtarchivs zum Kriegsende 1918 in Aachen (hrsg. von Thomas Müller und René Rohrkamp, Aachen 2018); Hans-­Joachim Kühn zu Arbeiter- und Soldatenräten an der Saar im November 1918 (Saarbrücken 2018); Julia Schafmeister zur Revolution 1918 in Lippe (Bielefeld 2018) und – wenig überraschend – Martin Rackwitz zu Kiel 1918 (Kiel 2018). 2 Helge Matthiesen geht in seiner umfassenden Studie: Greifswald in Vorpommern (Düsseldorf 2000) auf zwei Seiten auf die Revolution 1918 ein, Joachim Mai in seinem Beitrag für den Band: Greifswald. Geschichte der Stadt (Schwerin 2000) ebenfalls. Horst Wernicke streift diesen Teil der Stadtgeschichte in: Greifswald so wie es war (Düsseldorf 1995) nur beiläufig. Die DDR-Historiografie widmete sich hingegen sehr ausführlich den Ereignissen im November 1918, wie z. B. Joachim Copius im Artikel: Die Novemberrevolution in Greifswald, erschienen in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Ernst Moritz Arndt-­Universität Greifswald 1958/59, sowie Klaus Schreiner in: Dokumente berichten aus der Geschichte der Greifswalder Arbeiterbewegung, ebenfalls von 1958, oder auch ein Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Wilhelmus: Geschichte der Kreisparteiorganisation Greifswald der SED, Teil 1: Revolutionäre Traditionen und das Ringen um die Einheit der Arbeiterbewegung aus dem Jahr 1989. Für die Region Pommern gibt Donata von Nerée einen Überblick zur Revolution 1918/19 in: Pommern. Geschichte, Kultur, Wissenschaft (Greifswald 1991). Die Studien des Sammelbands: Pommern zwischen Zäsur und Kontinuität von Bert Becker und Kyra T. Inachin beleuchten tiefgründiger (partei-)politische und administrative Aspekte der Zäsur von 1918 (bspw. Werner Lamprecht zur USPD und SPD oder Bert Becker zu Verwaltung und höherer Beamtenschaft).

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dennoch interessante Entwicklungen zu konstatieren. Dass durch einen Schachzug des Greifswalder Bürgermeisters jeglicher Anbahnung von revolutionärer Umwälzung der Wind aus den Segeln genommen wurde und sich ein Polizeidirektor sowie ein Offizier an die Spitze des Arbeiter- und Soldatenrates setzten, ist mehr als bemerkenswert und verdient eine gründliche Betrachtung. Anhand der Geschichte einer Greifswalder Schule, die kurz vor Kriegsende Lazarett, dann im Anschluss Entlausungsanstalt wurde, möchte ich zudem auf die Herausforderungen des Übergangs von der Kriegs- in die Friedensgesellschaft eingehen. Im Kleinen zeigt sich besonders eindrücklich, wie wenig vorbereitet das Deutsche Reich auf das Kriegsende war und welche immensen Kosten und Unsicherheiten dieser Krieg hinterlassen hatte. Geschichten von Hoffnungen und Chancen, die sich nach dem Ende dieses grausamen, industriellen Weltkriegs ergeben haben, lassen sich auf den nächsten Seiten also weniger finden. Zunächst wird die Stadt Greifswald in der Zeit vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs vorgestellt, anschließend die Knabenvolksschule in der Bleichstraße, mit deren Bau 1914 begonnen wurde. Der dritte Abschnitt und Hauptteil des Artikels ist den Ereignissen in der Zeit vom 8. bis zum 12. November 1918 gewidmet. Im Anschluss wird die Geschichte der Knabenvolksschule weitererzählt, in der ab Mitte November 1918 eine Entlausungsanstalt eingerichtet wurde.

Greifswald am Vorabend des Ersten Weltkriegs Greifswald in Vorpommern war seit 1815 preußisch und gehörte zum 1818 gebildeten, landwirtschaftlich geprägten Regierungsbezirk Stralsund. 1913 wurde Greifswald der Status einer kreisfreien Stadt zuteil. Die Verwaltung lag in den Händen des Magistrats (Rat), bestehend aus dem Bürgermeister, dem Syndikus, dem Polizeidirektor sowie weiteren sechs Ratsherren. Kontrolliert wurde der Rat durch das Bürgerschaftliche Kollegium, dessen Einspruchsmöglichkeiten aber sehr begrenzt waren. Die Mitglieder dieser Bürgervertretung wurden auf sechs Jahre von den mündigen Vollbürgern Greifswalds gewählt. 1916 waren unter den 36 Mitgliedern sechs Rentiers, vier Universitätsprofessoren, sechs Kaufleute, zehn Gewerbetreibende, fünf Angestellte bzw. Beamte und fünf andere.3 Die Stadtbevölkerung Greifswalds war in der Zeit von 1860 bis 1913 von 14.900 auf 26.700 Einwohner angewachsen.4 Das Rückgrat für die gewerbliche Entwicklung stellten die traditionsreichen Handwerksbetriebe dar. Ausschlaggebend für eine verhaltene Industrialisierung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte, war der Anschluss Greifswalds an das Netz der „Berlin-­Stettiner Eisenbahn“ im Jahr 1863. Sogleich eröffnete eine Eisenbahnwerkstatt, die sich nach dem Kauf der Eisenbahnlinie Berlin–Pasewalk–Stralsund durch den preußischen Staat zum größten Industriebetrieb in Greifswald 3 Vgl. Horst Wernicke: Greifswald so wie es war. Düsseldorf 1995, S. 16 – 18. 4 Vgl. ebd., S. 21.

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mit etwa 600 bis 800 Beschäftigten entwickelte.5 Daneben existierten Maschinenfabriken bzw. Eisengießereien von Bedeutung, wie bspw. die Greifswalder Maschinenfabrik, Eisengießerei und Kesselschmiede, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch im Niedergang befand.6 Der wichtigste Wirtschaftsfaktor in der Vorkriegszeit war die Universität. 1910 wurde die Marke von 1.000 Studierenden geknackt, 1914 waren 1.456 Personen an der Greifswalder Universität immatrikuliert. Die Greifswalder Alma Mater konnte sich zu der Zeit mit den Universitäten Göttingens, Heidelbergs und Tübingens messen.7 Von den Professoren und Studenten – seit 1908 waren offiziell auch Frauen zum Studium zugelassen – war die Mehrheit national und konservativ eingestellt.8 Seit Ende des 19. Jahrhunderts investierten Rat und Bürgerschaft alle Finanzen und Energien der Stadt in die Verbesserung der Infrastruktur.9 Der Wohnungsbau wurde vorangetrieben, Hotels und Gaststätten entstanden und in den Jahren 1914/1915 wurde die Kanalisation angelegt.10 1913 begannen zudem die Arbeiten für einen repräsentativen Doppelbau, der als Höhepunkt für die städtische Entwicklung und des relativen Wohlstandes Greifswalds zu dieser Zeit angesehen wird:11 Stadttheater und Stadthalle sollten in einem Gebäudeverbund entstehen, nachdem im Februar 1912 der alte Theatersaal in der Kuhstraße völlig niedergebrannt war. Der Beginn des Ersten Weltkriegs verhinderte die geplante Eröffnung im Oktober 1914. Die feierliche Eröffnung fand am 10. Oktober 1915 statt.12 Das Leben in der Stadt wurde auch durch die Präsenz des Militärs geprägt. Greifswald war seit 1816 Garnisonsstadt. Ab 1891 stand eine neu errichtete Kaserne vor dem Mühlentor für die Bedürfnisse der Garnison bereit. Am 6. August 1914 verließ das 3. Bataillon des Infanterie-­Regiments „Prinz Moritz von Anhalt-­Dessau“ Nr. 42 (5. Pommersches), das seit 1886 in Greifswald stationiert war, unter den Augen zahlreicher Einwohner, die 5 1881 wurde der Betrieb in „Königliche Eisenbahn-­Hauptwerkstatt“ umbenannt; vgl. Franz Scherer: Stadtgeschichte von 1815 bis 1918, in: Greifswald. Geschichte der Stadt. Hrsg. von Horst Wernicke im Auftrag der Hansestadt Greifswald. Schwerin 2000, S. 118; Wernicke: Greifswald, S. 37. 6 Kurzer historischer Abriss zur 1845 gegründeten Maschinenbau-­Anstalt und Eisengießerei der Familie Kesseler, die zwischenzeitlich auch Dampfer baute, bei Scherer: Stadtgeschichte, S. 114 – 116. 7 Vgl. Wernicke: Greifswald, S. 74. 8 Vgl. Thomas Stamm-­Kuhlmann: Die Universität Greifswald seit dem Übergang an Preußen, in: Greifswald. Geschichte der Stadt. Hrsg. von Horst Wernicke im Auftrag der Hansestadt Greifswald. Schwerin 2000, S. 213. 9 Vgl. Scherer: Stadtgeschichte, S. 120. 10 Vgl. Wernicke: Greifswald, S. 38. 11 Vgl. Scherer: Stadtgeschichte, S. 120. 12 Vgl. Thomas Wieck: !Stadttheater Greifswald Theaterstadt?, in: 100 Jahre Theater Greifswald. Hrsg. von Dirk Löschner/Harald Müller. Berlin 2015, S. 30 f.; Karl-­Heinz Borchardt: Zur Geschichte des Schauspiels in Greifswald. Von den Anfängen bis 1989, in: Greifswald. Geschichte der Stadt. Hrsg. von Horst Wernicke im Auftrag der Hansestadt Greifswald. Schwerin 2000, S. 426.

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Abb. 1: Das 3. Bataillon des Infanterie-­Regiments 42 Greifswald zieht am 6. 8. 1914 in den Krieg. Hier zu sehen ist der ­Ausmarsch in der Bahnhofstraße. Quelle: StA Greifswald, B II A 12.

die Straßen säumten, die Stadt (siehe Abb. 1).13 Der Erste Weltkrieg hatte begonnen. Mit Kriegsbeginn ging die vollziehende Gewalt in den Stadt- und Landkreisen auf die militärischen Instanzen über. Der oberste Militärbefehlshaber Pommerns war der stellvertretende Kommandierende General im II. Armeekorpsbezirk mit Sitz in Stettin, Hermann Freiherr von Vietinghoff-­Scheel.14 Wie auch in anderen Städten, verwaisten in Greifswald mit Kriegsbeginn die Schulbänke und Hörsäle. Im April 1915 berichtete der Magistrat an den Regierungspräsidenten in Stralsund, dass im letzten Semester nur ca. 260 Studenten in Greifswald gewesen wären.15 Im Sommer und Herbst des Jahres 1914 legten 22 Schüler ein Notabitur ab, um als Freiwillige in den Krieg zu ziehen.16

13 Vgl. Wernicke: Greifswald, S. 65. 14 Vgl. Kyra T. Inachin: Die Geschichte Pommerns. Rostock 2008, S. 156. 15 Stadtarchiv Greifswald (im Folgenden: StAG): Rep. 5 Nr. 7670, Bl. 200. 16 Vgl. Wernicke: Greifswald, S. 74.

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Abb. 2: Bauzeichnung Knaben-­Volksschule für Greifswald, Ansicht von der Bleichstraße, 15. 11. 1913. Quelle: StA Greifswald, B 0556.

Die Knabenvolksschule in der Zeit von 1914 bis zum Oktober 1918 Der Greifswalder Bürgermeister Willy Gerding 17 wandte sich 1913 mit der Bitte um Beihilfen zum Bau eines neuen Volksschulgebäudes 18 mit 22 Klassenräumen an den Minister der geistlichen und Unterrichts-­Angelegenheiten in Berlin. Aufgrund der ständig wachsenden Schülerzahl seien die Raumverhältnisse der bestehenden drei Volksschulgebäude unzureichend. Die Stadt könne aber die Mehrausgaben nicht stemmen: Gerding führte die Arbeiten an der Kanalisation, die Erweiterung des Elektrizitätswerkes sowie Kosten für ein neues Pflaster als Belege an. Weiterhin ließ Gerding den Minister wissen, dass die Pläne für das Schulgebäude bereits durch das hiesige Stadtbauamt ausgearbeitet worden seien. Der Kostenvoranschlag belief sich auf 260.000 Mark, wobei vom Ministerium eine 17 Willy Gerding (1879 – 1917), geboren in Gotha, Gerichtsassessor und Ratsassessor in Gera und Greiz, 1909 in den Greifswalder Magistrat berufen und mit nur 31 Jahren zum jüngsten Greifswalder Bürgermeister gewählt; vgl. Scherer: Stadtgeschichte, S. 108 f. 18 In der Akte zum Bau der Schule im StAG wird durchgängig der Begriff „Volksschule“ verwendet. Auf einer Bauzeichnung von 1913 (siehe Abb. 2) taucht jedoch schon die Bezeichnung „Knaben-­Volksschule für Greifswald“ auf.

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„Beihülfe von 100.000 Mark“ erbeten wurde.19 Nachdem sich das Ministerium über den Regierungspräsidenten in Stralsund rückversichert hatte, bewilligte es einen Bauzuschuss von 40.000 Mark. Im Frühjahr 1914 sollte schließlich mit dem Bau einer 18-klassigen Volksschule nebst Turnhalle an der Wachsbleiche 20 begonnen werden. Das Bürgerschaftliche Kollegium hatte eine Vorlage angenommen, wonach die Summe von 170.000 Mark per Anleihe aufzunehmen sei.21 Der Krieg beeinträchtigte durch die hohen Belastungen für die Stadt auch die Fertigstellung des Schulgebäudes. Einem Gesuch des Magistrats um Erhöhung der Staatsbeihilfe vom April 1915 – dieses Mal an den Regierungspräsidenten in Stralsund – ist zu entnehmen, dass die Einwohnerzahl inzwischen auf 24.000 herabgesunken war und dass der Ausfall an Steuerzahlern bei gleichzeitiger Ausgabensteigerung, u. a. durch Unterstützungsleistungen für Familien, denen der männliche Ernährer fehlte, hohe Kosten für die Stadt verursachte.22 Die Beihilfen konnten nicht gewährt werden. Der Schulbau wurde dennoch fertiggestellt, jedoch erst im April des darauffolgenden Jahres. Am 26. April 1916 fand eine „einfache Einweihungsfeier“ für die Knabenvolksschule in der Turnhalle statt.23

Der Schulalltag in Greifswald 1916 – 1918 Obwohl die Königliche Kreisschulinspektion 1916 in ihrem Revisionsbericht über eine Greifswalder Mittelschule feststellte: „Schulfeste werden gefeiert, Ausflüge sind gemacht, Schul-­Utensilien und Lehrmittel sind ausreichend vorhanden,“ 24 hatte sich auch für die Greifswalder Schülerinnen und Schüler der Alltag durch den Ersten Weltkrieg massiv verändert. Wie überall im Deutschen Reich 25 wurden die Schulen gezielt in die Werbung für Kriegsanleihen sowie diverse Spenden- und Sammelaktionen und somit in die Mobilisie 19 Schreiben des Greifswalder Magistrats an den Minister der geistlichen und Unterrichts-­ Angelegenheiten in Berlin vom 4. März 1913, in: StAG: Rep. 5 Nr. 7670, Bl. 34. 20 Das 1914 bis 1916 errichtete Volksschulgebäude an der Ecke Neunmorgenstraße und Lange Reihe beherbergt heute die Karl-­Krull-­Grundschule. 21 Außerordentliche Sitzung des Bürgerschaftlichen Kollegiums vom 12. August 1913 und Bericht des Magistrats an den Regierungspräsidenten in Stralsund vom 2. September 1913, in: StAG: Rep. 5 Nr. 7670, Bl. 116 und 134. 22 Schreiben des Magistrats der Stadt Greifswald an den Regierungspräsidenten in Stralsund vom 5. April 1915, StAG: Rep. 5 Nr. 7670, Bl. 197 – 201. 23 StAG: Rep. 5 Nr. 7670, Bl. 216 – 218. 24 StAG: Rep. 12 Nr. 2, Bl. 116. 25 Siehe Ausführungen zu den städtischen Schulen in Rostock von Antje Strahl: Rostock im Ersten Weltkrieg. Bildung, Kultur und Alltag in einer Seestadt zwischen 1914 und 1918 (Kleine Stadtgeschichte 6). Berlin 2007, S. 31 – 55 sowie einen umfassenden Überblick für Kiel von Martin Rackwitz: Kriegszeiten in Kiel. Alltag und Politik an der Heimatfront 1914/18. Kiel 2013, S. 115 – 150. Eine umfassende Studie zur Mobilisierung der Schulen für die „Heimatfront“ hat Martin Kronenberg vorgelegt: Kampf der Schule an der „Heimatfront“ im Ersten Welt-

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rung für die Kriegswirtschaft eingebunden. Um die kriegsbedingte Rohstoffknappheit zu kompensieren, wurden Bucheckern, Kastanien und Obstkerne (zur Gewinnung von Öl), Eicheln (als Kaffeeersatz), Himbeerblätter und Waldmeister (als Teeersatz), Knochen (als Fettquelle) sowie Brennnesseln (für die Textilindustrie) gesammelt. Der Kriegsausschuss für Sammel- und Helferdienst aus Berlin, der als allgemeine Koordinierungsstelle für die Rohstoffsammlungen fungierte, motivierte die Schulen in Hinblick auf die Knochensammlung eindrücklich: „Die Fettnot spürt jeder an seinem Körper, jeder kann aber auch dazu beitragen, dass sie gelindert wird.“ 26 Als Prämie für diejenigen Schulkinder, welche „in opferfreudiger Weise durch Abholung von Sammelgütern der guten Sache dienen“ würden, schlug der Kriegsausschuss folgende Güter vor: Schulbedarfsartikel, Schul- und Geschichtsbücher, Spielwaren, Bilder, Schmucksachen, Bekleidungs- und Wäschegegenstände, Nahrungsmittel und Brennholz.27 Sogar Geldprämien gab es von der Nesselfaser-­Verwertungs-­Gesellschaft für die Ablieferung von Brennnesseln. Durch die Seeblockade Englands mangelte es im Deutschen Reich an Rohstoffen für Textilien. Die Fasern aus den Stängeln der Nesseln sollten daher als Jute- und Baumwollersatz dienen. Es wurden trockene und entblätterte Nesselstängel benötigt, pro 100 kg gab es eine Sammelprämie von 28 Mark. Die Mittelschule Greifswald beteiligte sich im November 1917 an der Brennnesselernte im Forst Neuenkirchen – von morgens bis in die Nachmittagsstunden. Unterrichtsausfall wurde also in Kauf genommen für die Versorgung des Heeres. Für ihre 200 kg gesammelten Nesseln bekam die Schule eine Gutschrift von 56 Mark. Mit Übermittlung dieser Nachricht ging die Bitte der Nesselfaser-­ Gesellschaft einher, sich im nächsten Frühjahr wieder „mit größtem Eifer“ an der Sammlung zu beteiligen. Appellierend hieß es: „Wir sind mehr denn je bezüglich der Versorgung unseres Heeres auf die gewissenhafte Brennesselsammlung angewiesen […].“ 28 Schülerinnen und Schüler sammelten jedoch nicht nur eifrig Rohstoffe für das Heer. Eine Folge des Krieges war auch das Phänomen der Verwahrlosung der Jugend. Während sich an Kieler Schulen die Fälle von Diebstahl, Vandalismus oder Einbruch häuften,29 beschäftigte den Greifswalder Ortsausschuss für Jugendpflege im Februar 1918, dass nicht ausreichend auf die Einhaltung des Rauchverbots sowie des Verbots für den Besuch von Wirtschaften für Jugendliche geachtet wurde.30 Als ungünstige Einflussfaktoren wurden die „selten für Kinder geeigneten Vorstellungen“ in den Kinos benannt. Schulentlassene krieg. Nagelungen, Hilfsdienste, Sammlungen und Feiern im Deutschen Reich. Hamburg 2014. 26 Schreiben des Kriegsausschusses für Sammel- und Helferdienst aus Berlin vom Oktober 1917, StAG: Rep. 12 Nr. 118, unfol. 27 Schreiben des Kriegsausschusses für Sammel- und Helferdienst aus Berlin vom Oktober 1917, StAG: Rep. 12 Nr. 118, unfol. 28 Schreiben der Nesselfaser-­Verwertungs-­Gesellschaft m. b. H. vom 15. November 1917 an die Mittelschule Greifswald, StAG: Rep. 12 Nr. 118, unfol. 29 Vgl. Rackwitz: Kriegszeiten, S. 141. 30 Schreiben des Ortsausschusses für Jugendpflege des Magistrats der Stadt Greifswald an die Polizeidirektion vom 13. Februar 1918, StAG: Rep. 6 Nr. 250, Bl. 8.

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Jugendliche und sogar noch nicht schulpflichtige Kinder würden ständig Kinos besuchen, obwohl ihnen dies per Anordnung des stellvertretenden Kommandierenden Generals vollständig verboten sei.31 Väter an der Front und Mütter im Arbeitseinsatz, die sich nicht wie bisher um ihre Kinder kümmern konnten, wurden als Ursache für das „sittliche[…] Verderben[…] der Jugendlichen“ nicht angeführt. Demgegenüber wurde eher auf den Mangel an Beamtenpersonal verwiesen, der zur Folge hatte, dass die behördlichen Anordnungen nicht mit Strenge durchgeführt werden konnten.32 Die Versorgungslage in Greifswald war wegen des landwirtschaftlich geprägten Umfelds nicht so dramatisch wie in den Großstädten und Ballungsgebieten. Dennoch waren die Schülerinnen und Schüler von Rationierungen und Mangelerscheinungen betroffen. Der Mangel an Heizmaterialien verlängerte regelmäßig die Winterferien, 1918 bis zum 21. Januar.33 Einige Wochen zuvor waren Regelungen zum Heizen erlassen worden, die u. a. vorsahen, dass die Heizungen in Schulen bei Erreichung einer Innentemperatur von plus 16 Grad, in Treppenhäusern und Korridoren bei plus 5 Grad Celsius außer Betrieb zu setzen sind. Turnhallen durften gar nicht mehr geheizt werden.34 Bereits 1915 waren auch in der Agrarprovinz Pommern Lebensmittelkarten eingeführt worden (siehe Abb. 3).35 Im letzten Kriegsjahr verschlechterte sich die Ernährungssituation nochmal dramatisch durch große Probleme bei der Ernte infolge ungünstiger Witterungsverhältnisse und des Arbeitskräftemangels.36 Das Lebensmittelamt Greifswald teilte im Juli 1918 mit, der Verbrauch von Weizenmehl müsse sofort auf das Äußerste eingeschränkt werden, da die Vorräte erschöpft seien. Betriebe, die zu viel Mehl verbrauchten, würden rücksichtslos geschlossen.

31 Weiteres Schreiben des Ortsausschusses für Jugendpflege des Magistrats der Stadt Greifswald an die Polizeidirektion vom 13. Februar 1918, StAG: Rep. 6 Nr. 250, Bl. 26. 32 Schreiben des Ortsausschusses für Jugendpflege des Magistrats der Stadt Greifswald an die Polizeidirektion vom 13. Februar 1918, StAG: Rep. 6 Nr. 250, Bl. 8. 33 Bericht des Greifswalder Magistrats an den Regierungspräsidenten in Stralsund vom 17. Dezember 1917, StAG: Rep. 5 Nr. 1062, Bl. 339. 34 Bekanntmachung betreffend die Regelung des Betriebes der Heizungs-, Lüftungs- und Warmwasserbereitungsanlagen in Greifswald, 27. Dezember 1917. Diese musste auf Anordnung des Reichskommissars für die Kohlenverteilung erlassen werden. Kritisch wurde von der Greifswalder Stadtverwaltung dazu bemerkt: „Zur Vermeidung etwaiger Beanstandungen können wir vielleicht eine solche Verordnung erlassen; allerdings wäre auch zu beachten, daß eine solche Verordnung wieder Anlaß gibt zu Anständen und Kritik seitens des Publikums, das sich augenblicklich ja etwas beruhigt hat.“, StAG: Rep. 5 Nr. 1061, Bl. 308 – 310. 35 Vgl. Bert Becker: Verwaltung und höhere Beamtenschaft in Pommern 1918/19, in: ders. und Kyra T. Inachin (Hrsg.): Pommern zwischen Zäsur und Kontinuität: 1918, 1933, 1945, 1989. Schwerin 1999, S. 39 – 68, hier S. 44. 36 Bekanntmachung des stellvertretenden Kommandierenden Generals des II. Armeekorps vom 27. September 1918, StAG: Rep. 6 Nr. 250, Bl. 87. Zur Kartoffel- und Rübenernte wurden Ersatztruppenteile und ältere Mannschaften des Heeres abgestellt, StAG: Rep. 6 Nr. 250, Bl. 96.

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Abb. 3: Butter- und Margarine-­Karte für den Stadtkreis Greifswald, 1918. Quelle: StA Greifswald, Rep. 6 Nr. 2158.

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Die geringen noch vorhandenen Mengen an Weizenmehl waren Kranken und Kindern vorbehalten. „Sollte der Regen noch lange anhalten, ist mit Brotknappheit zu rechnen.“ 37

Die Knabenvolksschule wird Lazarett Die Knabenvolksschule erreichte Mitte Oktober 1918 eine Anordnung der stellvertretenden Intendantur des II. Armeekorps in Stettin: Die Schule wird „aufgrund des Kriegsleistungsgesetzes für Lazarettzwecke in Anspruch genommen“, hieß es darin.38 Nach Absprachen mit den Rektoren der anderen Schulen konnte schnell geklärt werden, dass die Schule in die alte Knabenvolksschule in der Anklamer Straße verlegt wurde.39 Die Räume wurden von der gewerblichen Fortbildungsschule genutzt, weshalb einige Änderungsmaßnahmen vorgenommen werden mussten.40 Dennoch konnte nur vier Tage nach der Anordnung aus Stettin mit der Räumung begonnen werden. Im Gegensatz dazu zogen sich die Auseinandersetzungen um die Finanzierung zwischen der Heeresverwaltung und der Stadt Greifswald deutlich länger hin. Am 29. Oktober fand ein erstes Treffen für die Abschätzungsverhandlungen statt. Hier sollte die „an die Gemeinde Greifswald zu gewährende[…] Vergütung für die Einräumung des zu Kriegszwecken erforderlichen eigenen Gebäudes nebst zugehörigem Grundstück aufgrund sachverständiger Schätzung durch eine Kommission“ festgestellt werden.41 Der Kommission gehörten folgende Personen an: der königliche Baurat Dr. Lucht als Verhandlungsleiter, für die Militärverwaltung ein Offizier, ein Lazarettoberinspektor und ein Stabsarzt, vier Sachverständige (ein Bauunternehmer, ein Zimmermeister, zwei Kaufleute), vier Vertreter der Stadt Greifswald (der Schulleiter der Knabenvolksschule, ein Brandinspektor, ein Stadtverordneter und ein Ratsherr) sowie ein Ingenieur als Protokollführer. Nachdem der Umfang der Requisition 42 festgestellt wurde, ging es um die Feststellung der Vergütung für die entzogene Nutzung. Während die Vertreter der Gemeinde betonten, durch die Einräumung des requirierten Gebäudes seien der Stadt erhebliche Nachteile entstanden, bohrte der Militärbeamte nach: Er hielt den Beweis nicht für erbracht, dass die Schulklassen nicht kostenlos in der alten Schule oder ohne erhebliche Nachteile untergebracht werden könnten und schlug zudem vor, den Unterricht auch am Nachmittag stattfinden zu lassen. Eine erste Abstimmung ergab, dass alle Mitglieder der Kommission – bis auf den Militärbeamten – für eine Vergütung stimmten. Die Mehrheit 37 Schreiben des Lebensmittelamtes Greifswald vom 22. Juli 1918, StAG: Rep. 6 Nr. 2162, Bl. 71. 38 Anordnung vom 14. Oktober 1918, StAG: Rep. 5 Nr. 7750, Bl. 2. 39 Schreiben des Greifswalder Magistrats an die königliche Regierung in Stralsund vom 18. Oktober 1918, StAG: Rep. 5 Nr. 7750, Bl. 5. 40 Übersicht über Änderungsmaßnahmen in der Anklamer Straße vom 19. Oktober 1918, StAG: Rep. 5 Nr. 7750, Bl. 9 f. 41 StAG: Rep. 5 Nr. 7750, Bl. 24. 42 Requisition ist im Militärwesen der Ausdruck für die Beschlagnahmung von zivilen Sachgütern für Heereszwecke.

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votierte anschließend dafür, die Vergütung nicht nach dem Aufwand der Gemeinde zur Beschaffung von Ersatzräumen zu ermitteln, sondern nach einer unter Zugrundelegung des Zeitwerts der Grundstücke und Gebäude zu berechnenden Rente, wodurch sich eine Summe von 30.000 Mark ergab.43 Auf die einmaligen Kosten bzgl. des Umzugs in Höhe von 2.500 Mark konnten sich alle Mitglieder einigen. Die Meinungsverschiedenheiten in puncto Berechnungsgrundlage für die laufenden Kosten blieben hingegen bestehen. Verhandlungsleiter, Offizier und Lazarettoberinspektor beharrten auf dem Standpunkt, die Vergütung nur nach dem zur Beschaffung von Ersatzräumen erforderlichen Aufwand zu ermitteln.44 Infolgedessen kam es nicht zu einer Einigung und die Verhandlungen dauerten über den November 1918 hinweg bis ins Jahr 1920 an. Die Militärverwaltung rang also scheinbar um jede Mark, um die Kosten so gering wie möglich zu halten. Im Oktober 1918 war längst klar, dass der Krieg für das Deutsche Reich verloren war – die Demobilisierung von etwa sechs Millionen Soldaten stand unmittelbar bevor.45 Doch die Leitung der Hochseeflotte beschloss, die deutsche Seestreitmacht in eine letzte große Schlacht gegen die Royal Navy zu führen. Als Reaktion darauf meuterten Marineeinheiten in Wilhelmshaven und verhinderten das Auslaufen der Flotte. Die als Rädelsführer der Meuterei ausgemachten Matrosen wurden daraufhin in Kiel am 1. November 1918 ins Militärgefängnis gesperrt. In der Nacht vom 3. auf den 4. November begann hier der Aufstand von Matrosen, Arbeitern und Soldaten, die für die Freilassung der Inhaftierten protestierten. Innerhalb weniger Tage breitete sich die Revolte über ganz Deutschland aus.46 Die kriegsmüde Bevölkerung reagierte damit „auf die Unfähigkeit respektive Unwilligkeit der Militärs und der konservativen Eliten, den Krieg zu beenden“.47

Die Ereignisse vom 8. bis zum 12. November 1918 in Greifswald Im Folgenden werde ich die politische Entwicklung in den Novembertagen 1918 in der Stadt Greifswald betrachten und stütze mich dabei überwiegend auf Aktenmaterial aus dem Stadtarchiv Greifswald sowie zeitgenössische Presseberichte. Dabei stehen der 10. und 11. November im Fokus. Abschließend sollen die eigenen Ergebnisse und Bewertungen im Zusammenspiel mit den Einschätzungen anderer Forscherinnen und Forscher analysiert und in den (pommerschen) Gesamtkontext eingeordnet werden.

43 StAG: Rep. 5 Nr. 7750, Bl. 26 f. 44 StAG: Rep. 5 Nr. 7750, Bl. 27. 45 Vgl. Sönke Neitzel: Blut und Eisen. Deutschland und der Erste Weltkrieg (Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert). Zürich 2003, S. 189. 46 Vgl. Rackwitz: Kriegszeiten, S. 254 f. 47 Gerhard Hirschfeld u. a. (Hrsg.): 1918. Die Deutschen zwischen Weltkrieg und Revolution. Berlin 2018, S. 48.

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Am Dienstag, dem 12. November 1918, informierte der Greifswalder Bürgermeister Max Fleischmann 48 den Oberpräsidenten in Stettin über die derzeitigen Verhältnisse in der Stadt: Die Bürgerschaft sei ruhig, die Verwaltung des Stadtkreises führe ihre Tätigkeit weiter, „irgendwelche Ausschreitungen, auch der geringsten Art,“ seien nicht vorgekommen.49 War dies nicht sogar zu erwarten bei einer Stadt mittlerer Größe, gelegen in der konservativ geprägten Agrarprovinz, ohne Industriearbeiterschaft, fernab von den Zentralen des Revolutionsgeschehens? Welche Entwicklungen gaben dann aber überhaupt Anlass zu diesem Schreiben? Bereits einige Tage zuvor, am Freitag, den 8. November, hatte Fleischmann ausgewählte Bürger ins Rathaus geladen und für die Gründung eines sogenannten Volksausschusses mobilisiert.50 Das Stadtoberhaupt wies auf die sich zuspitzende Lage im Deutschen Reich und bereits vorkommende Unruhen in einigen Städten hin.51 Dieser Entwicklung sollte unmittelbar vorgebeugt werden mit Hilfe eines Vertrauensausschusses, der die Arbeiter der Stadt explizit mit einbezog. Den Informationen nach zu urteilen, die Fleischmann in den darauffolgenden Tagen verbreitete, wurde dieser Vertrauensausschuss direkt gegründet: Ihm gehörten etwa 25 Personen aus allen Bevölkerungsklassen und Parteirichtungen an.52 Oberste 48 Max Fleischmann (1877 – 1935), geboren in Thüringen, Jurist, zusammen mit seinem Amtsvorgänger Gerding als Assessor am Amtsgericht in Gera tätig, danach beim Landratsamt und bei der Stadt Gera; seit 1911 besoldeter Ratsherr der Stadtverwaltung Greifswalds, seit 1912 1. Stellvertretender Bürgermeister. In dieser Position kümmerte sich Fleischmann um die Lebensmittelversorgung im Ersten Weltkrieg, zudem war er Vorsitzender des Fürsorgeausschusses für Kriegsbeschädigte. Nach dem Tod Gerdings wurde er im November 1917 zum Bürgermeister ernannt; vgl. StAG: Rep. 6 Nr. 338, Bl. 60 f. und 85; vgl. Scherer: Stadtgeschichte, S. 109. 49 Schreiben vom 12. November 1918, StAG: Rep. 5 Nr. 113, Bl. 3. 50 StAG: Rep. 5 Nr. 1104, Bl. 3 f. 51 Im Bericht über die Zusammenkunft im Rathaus werden keine Beispiele genannt. Vermutlich waren aber Informationen über Entwicklungen aus der unmittelbaren Umgebung auch nach Greifswald gedrungen: Rostock bzw. Warnemünde erreichte die revolutionäre Bewegung mit dem Einlaufen von Kieler Torpedobooten am 6. November 1918. Infolgedessen kam es zu Dienstverweigerungen von Matrosen, einem Ausstand auf der Neptunwerft sowie zur Bildung eines Soldatenrates; vgl. Strahl: Rostock, S. 150 f. In Wismar bildete sich am Abend des 7. November 1918 ein Arbeiter- und Soldatenrat; vgl. Katja Jensch/Nils Jörn (Hrsg.): Wismar im I. Weltkrieg. Grüße an Paula (Findbücher, Inventare und kleine Schriften 2). Wismar 2014, S. 70. Die Revolution erreichte also die mecklenburgischen Städte einige Tage früher. In der pommerschen Provinzialhauptstadt Stettin brach in der Nacht vom 7. auf den 8. November zwar der Fernsprech-, Post- und Zugverkehr nach Berlin zusammen. Revolutionäre Umwälzungen ereigneten sich in Pommern jedoch erst ab dem 10. November; vgl. Donata von Nerée: Die Revolution 1918/19 in Pommern, in: Hans-­Jürgen Zobel (Hrsg.): Pommern. Geschichte, Kultur, Wissenschaft. 1. Kolloquium zur Pommerschen Geschichte. Greifswald 1991, S. 204 – 211, hier S. 205 f. Lediglich in Stralsund bildete sich bereits am Nachmittag des 9. November ein Soldatenrat; vgl. Detlev Brunner: Stralsund. Eine Stadt im Systemwandel vom Ende des Kaiserreichs bis in die 1960er-­Jahre (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 80). München 2010, S. 15. 52 StAG: Rep. 6 Nr. 94, Bl. 11.

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Pflicht dieses Gremiums sollte es sein, die Regierung zu unterstützen. Der Volksausschuss wiederum sollte aus etwa 100 Mitgliedern bestehen, die sich aus sämtlichen politischen und wirtschaftlichen Vereinen der Stadt rekrutieren würden (pro 25 Vereinsmitglieder ein Vertreter, auch die Wahl von Frauen wäre statthaft). Für Montagabend, den 11. November, war in der Stadthalle eine erste Zusammenkunft dieser Abgeordneten geplant. Aus dem Kreis der Versammelten sollte sich dann ein engerer Arbeitsausschuss bilden. Als Hauptaufgaben für den Volksausschuss wurden u. a. benannt: Beseitigung der Missstände in der Lebensmittelversorgung, Schaffung eines Wohlfahrtsamtes und Gründung einer Volkswehr sowie Aufklärungsarbeit über die politische Lage.53 Hier deutete sich bereits an, dass der Ausschuss, der zudem dem Magistrat unterstand, keine essenziellen politischen Aufgaben wahrnehmen würde. Fleischmann verkündete jedoch einige Tage später, dass der Volksausschuss zusammen mit dem Magistrat und dem Bürgerschaftlichen Kollegium die neue Stadtverwaltung bilden würde.54 Für den 9. November – den Tag, an dem die Revolution Berlin erreichte, die Republik zweifach ausgerufen, die Abdankung des Kaisers verkündet und ein Sozialdemokrat zum Reichskanzler ernannt wurde – lassen sich für Greifswald keine nennenswerten Vorkommnisse feststellen. Für den 10. November dann umso mehr.

Die Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrats in Greifswald In der alten Aula der Mädchenmittelschule fand am Sonntag, dem 10. November, zunächst eine gemeinsame Sitzung des Bürgerschaftlichen Kollegiums (BK) mit dem Magistrat statt. Bürgermeister Fleischmann eröffnete die Sitzung und berichtete von der Bildung des Vertrauensausschusses. Dieser Ausschuss habe dem Magistrat empfohlen, Arbeitervertreter als Ratsherren in den Magistrat und als Stadtverordnete in das BK zu wählen. Am Morgen seien bereits Verhandlungen zwischen dem Vertrauensausschuss und der Arbeiterschaft geführt worden, mit dem Ergebnis der Auswahl von fünf neuen Mitgliedern für den Magistrat sowie zwölf für das BK, darunter Schlosser, Schmiede, Schuh- und Uhrmacher, Buchdrucker und der Segelmacher Julius Schröder. Letzterer war SPD-Mitglied, Vorsitzender des Eisenbahn-­Arbeiterverbandes und seit Mai 1918 bereits Stadtverordneter – als erster Sozialdemokrat überhaupt.55 Unter den Kandidaten für den Magistrat waren noch 53 StAG: Rep. 5 Nr. 1104, Bl. 4 und Zeitungsartikel „Volksversammlung“ in: Greifswalder Zeitung, 13. November 1918, S. 3. 54 Vgl. Zeitungsartikel „Volksversammlung“ in: Greifswalder Zeitung, 13. November 1918, S. 3. 55 Im Protokoll zur Sitzung des BK vom 31. Oktober 1918 taucht als Stadtverordneter der „Eisenbahner Schröder“ auf, StAG: Rep. 3 Nr. 151, Bl. 263. Das Autorenkollektiv um Wilhelmus nennt den 28. Mai 1918 als Beginn für seine Tätigkeit im Stadtparlament; vgl. Geschichte der Kreisparteiorganisation Greifswald der SED, Teil 1: Revolutionäre Traditionen und das Ringen um die Einheit der Arbeiterbewegung. Greifswald 1989, S. 14.

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weitere SPD-Mitglieder,56 während sich unter den Arbeitern, die für das Bürgerschaftliche Kollegium vorgesehen waren, kaum Mitglieder der SPD oder gar USPD befanden.57 Der Magistrat hatte dem Vorschlag zur Aufnahme der neuen Mitglieder unter folgender Logik zugestimmt: „Würden wir diesem Antrage nicht stattgeben, so würden Unruhe und Bewegung entstehen.“ Durch die Zustimmung hingegen sei gewährleistet, dass die Arbeiterführer für Ruhe und Sicherheit sorgten. Wenn nun also die Herren auch in das Bürgerschaftliche Kollegium gewählt würden, so Fleischmann weiter, wäre man vom Vertrauen der gesamten Bevölkerung getragen und imstande, zu verhindern, dass revolutionäre Bewegungen sich noch weiter nach links entwickeln würden (wie in den Großstädten geschehen). Die verfassungsrechtlichen Bedenken, die diesem Antrag entgegenstünden, müssten daher zurückgestellt werden. Der Vorsitzende des Kollegiums, Forstmeister Pyl, beantragte daraufhin die Zustimmung zur Aufnahme der neuen Mitglieder ohne Ausnahme.58 In der Stadtverwaltung hatten sich somit einige Änderungen ergeben. Die Zusammensetzung des Bürgerschaftlichen Kollegiums unterschied sich gegenüber der von 1916 merklich: Kaufleute und Gewerbetreibende verschwanden ganz, Rentiers und Uniprofessoren wurden etwas dezimiert, Angestellte und Beamte blieben in etwa gleich und neu hinzugekommen – neben vier Lehrern – waren zehn Arbeiter und Handwerker.59 Dies lässt sich jedoch schwerlich als tiefgreifende strukturelle Veränderung deuten, zumal der Magistrat die Fäden in der Hand behielt und der Bürgermeister diese geringfügigen Verschiebungen durch die Auswahl der Bürgerinnen und Bürger für den Vertrauensausschuss, die wiederum die Arbeitervertreter für das BK und den Rat auswählten, gesteuert hatte. Vermutlich hat die Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates (AuSR) in Greifswald, die sich ebenfalls am 10. November ereignete, die Stadtoberen deutlich mehr überrascht. So formulierte Bürgermeister Fleischmann denn auch in seinem Schreiben an den Oberpräsidenten vom 12. November: Der Arbeiter- und Soldatenrat habe „die gesetzgebende Gewalt in Stadt- und Landkreis an sich gerissen“.60 Interessanterweise setzte sich an dessen Spitze eine stadtbekannte Figur, nämlich der bisherige Polizeidirektor Ulrich Burmann,61 56 Bspw. der Kassenbote Hermann Radack, der 1901 an der Gründung des Ortsvereins der SPD in Greifswald beteiligt war; vgl. Geschichte Kreisparteiorganisation, S. 9. 57 Vgl. Klaus Schreiner: Dokumente berichten aus der Geschichte der Greifswalder Arbeiterbewegung. Hrsg. vom Pädagogischen Kreiskabinett Greifswald. Greifswald 1958, S. 29. 58 StAG: Rep. 3 Nr. 151, Bl. 263a. 59 Vgl. Wernicke: Greifswald, S. 18. 60 Schreiben vom 12. November 1918, StAG: Rep. 5 Nr. 113, Bl. 3. 61 Ulrich Burmann (1887 – 1970), geboren in Kolberg, gestorben in Kronberg im Taunus; Studium der Nationalökonomie und Rechtswissenschaften in Heidelberg, München, Jena und Berlin; 1917 Gerichtsassessor, juristischer Hilfsarbeiter in Stettin, anschließend auf Lebenszeit angestellter Magistratsassessor. Burmann wurde im Frühjahr 1918 Ratsherr und war ab 28. Juni 1918 Polizeidirektor in Greifswald. Im Dezember 1918 war er, inzwischen Vorsitzender des AuSR in Greifswald, Delegierter für den 1. Reichsrätekongress in Berlin. Von März 1919 bis Februar 1920 war Burmann zudem Vorsitzender der Greifswalder Bürgerschaft. Im Februar 1920 schied er auch aus dem Amt als Polizeidirektor aus und trat von 1920 – 1929 als Erster

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der kurz zuvor der SPD beigetreten war. Sein ständiger Vertreter wurde der Stellvertretende Kommandeur der Greifswalder Garnison, Hauptmann Teuchert.62 Sofort nach Gründung erließ der AuSR einen ersten Befehl, der drei Tage später in der Greifswalder Zeitung abgedruckt wurde. Darin hieß es: In Greifswald hat sich am heutigen Tage auf Grund des allgemeinen demokratischen Wahlrechts ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet. Dieser übt, bis eine anderweitige Entscheidung durch die von uns anerkannte deutsche Nationalversammlung erfolgt, die gesetzgebende Gewalt im Stadt- und Landkreis Greifswald aus. Er hält die Ruhe, Ordnung und Sicherheit aufrecht, schützt Leben, Freiheit und Eigentum des Einzelnen und der Allgemeinheit.

An die Verwaltungsstellen des Stadt- und Landkreises richtete sich die Forderung, ihre bisherigen Tätigkeiten weiterzuführen.63 Zwischen dem AuSR und der Stadtverwaltung kam es überaus schnell zu einer Übereinkunft: Bereits am Abend des 10. November berichtete Bürgermeister Fleischmann auf einer Versammlung in der Stadthalle vor einer großen Zuhörerschaft ausführlich über die derzeitigen Maßnahmen und Veränderungen in der Stadtverwaltung.64 Am Ende verlas er einen Aufruf an die Bürgerschaft, der neben den Informationen über die fünf neuen Ratsherren und die zwölf neuen Stadtverordneten auch folgenden Punkt enthielt:

Bürgermeister von Bunzlau/Niederschlesien in Erscheinung. 1929 siedelte er nach Frankfurt am Main über und wirkte hier als Direktor der Gartenstadt-­Gesellschaft sowie einer Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen. 1933 wurde er aus politischen Gründen entlassen und arbeitete fortan als Anwalt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte er weiter in Frankfurt und war als Rechtsanwalt und Notar tätig; vgl. Joachim Lilla (Bearb.): Der Preußische Staatsrat 1921 – 1933. Ein biographisches Handbuch (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 13). Düsseldorf 2005, S. 24. 62 Vgl. Geschichte Kreisparteiorganisation, S. 16. 63 StAG: Rep. 6 Nr. 94, Bl. 21. 64 Hintergrund der Veranstaltung war ein Treffen des liberalen Vereins. Dort sollte der Reichstagsabgeordnete Georg Gothein (1857 – 1940) zur gegenwärtigen innenpolitischen Lage sprechen. Er musste jedoch im letzten Augenblick absagen, da er in Berlin unabkömmlich war. Von 1901 bis 1918 war Gothein Mitglied des Reichstags, gewählt für den Wahlkreis Greifswald-­ Grimmen (zunächst für die Freisinnige Vereinigung, später für die Fortschrittliche Volkspartei). Für die Deutsche Demokratische Partei zog er im Januar 1919 in die verfassunggebende Nationalversammlung ein, einen Monat später wurde er Schatzminister im Kabinett von Philipp Scheidemann; vgl. Lebendiges Museum Online des DHM Berlin: https://www. dhm.de/lemo/biografie/georg-gothein, letzter Zugriff am 25. August 2019; Datenbank der deutschen Parlamentsabgeordneten: https://www.reichstag-abgeordnetendatenbank.de/ select.html?pnd=118696653, letzter Zugriff am 25. August 2019. Fleischmann trat als Ersatzredner für den verhinderten Gothein auf.

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Die neuen Arbeiterratsherren sind gleichzeitig Mitglieder des Soldaten- und Arbeiterrates. Damit ist die Arbeitsgemeinschaft zwischen Stadtverwaltung und Arbeiter- und Soldatenrat in glücklicher Weise gewährleistet.65

Dass es doch nicht ganz so harmonisch zwischen den beiden Parteien zuging, lässt sich anhand dieser Episode erahnen: Am 22. November 1918 richtete Fleischmann ein Schreiben an den Vorstand des Arbeiter- und Soldatenrates in Greifswald mit der Bitte um Aufhebung des Befehls vom 10. November, mit dem die gesetzgebende Gewalt auf diesen übergegangen war. Er argumentierte damit, dass der AuSR im Magistrat vertreten und dadurch die Kontrolle der Stadtverwaltung gegeben sei. Der Antrag wurde einen Tag später abgelehnt.66 Als Motiv für die Gründung des AuSR gab Burmann gegenüber dem Rektorat der Universität Greifswald an, der Rat habe wegen der mangelnden Verbindung mit Berlin die Regierung ergriffen und es sei seine Absicht, „den Bolschewismus zu verhindern und jeder Ausschreitung aufs schärfste entgegenzutreten“.67 Mit dem Besuch, den Burmann und weitere Vertreter des AuSR dem Rektor der Universität, Erich Pernice, am Mittag des 11. November abstatteten, verfolgten sie zwei Anliegen: Zum einen sollte die Universität die Verwaltung ihrer Güter und ihres Vermögens selbst übernehmen und den Kurator Geheimrat Christoph Bosse 68 von dieser Aufgabe entbinden. Der AuSR stufte Bosse als „reaktionär“ und seine Verwaltung als „cliquenhaft“ ein, daher könne er nicht anerkannt werden. Zum anderen äußerte die Delegation den Wunsch, die Universität möge geneigt sein, der Stadt Greifswald bei der Abtretung von Universitätsgelände an die Stadt größeres Entgegenkommen zu zeigen als bisher. Die in der Nähe von Greifswald gelegenen Güter sollten – sobald die Notwendigkeit sich erweisen würde – zu angemessenen Preisen verkauft werden. Das Ersuchen des AuSR galt als dringend, der Senat sollte bis zum nächsten Tag einen Beschluss dazu gefasst haben.69 Rektor Pernice schilderte dem Senat gegenüber, dass der Ton des AuSR mit derartigem Nachdruck versehen war, dass es nicht möglich sei „anders zu handeln, als dem Verlangen des Arbeiter- und Soldatenrates nachzukommen“.70 Nach längerer Beratung beschloss der Senat dann noch am gleichen Tag, dem Ersuchen nachzukommen und beauftragte den Universitätsrichter, „die Güter- und Vermögensver 65 Zeitungsartikel „Volksversammlung“ in: Greifswalder Zeitung, 13. November 1918, S. 3. 66 StAG: Rep. 5 Nr. 113, Bl. 171. 67 Protokoll der Senatssitzung vom 11. November 1918, Universitätsarchiv Greifswald (UAG): R2195, Bl. 179. 68 (August Julius) Christoph Bosse (1863 – 1950), geboren in Roßla, Studium der Rechtswissenschaft und Kunstgeschichte in Göttingen, 1893 – 1905 Landrat in Minden, 1906 Verwaltungsdirektor der Königlichen Museen Berlin, 1913 (bis zu seinem Ausscheiden aus dem Dienst 1928) Kurator der Universität Greifswald; vgl. Bernhard Mann (Bearb.): Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus 1867 – 1918 (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 3). Düsseldorf 1988, S. 79. 69 Protokoll der Senatssitzung vom 11. November 1918, UAG: R2195, Bl. 177 und 179. 70 Ebd., Bl. 179.

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waltung zu übernehmen und im Auftrage des Senats zu verwalten.“ 71 Der Eingriff in die universitäre Selbstverwaltung war jedoch nicht die einzige bedeutsame Maßnahme des AuSR an jenem Montag. Am Vormittag des 11. November hatten bereits weitere Personalveränderungen stattgefunden.

Demonstrationszug und Absetzung des Landrats von Behr Montag, der 11. November 1918, war auf Beschluss des Arbeiter- und Soldatenrates zum allgemeinen Feiertag erklärt worden. Statt in den Betrieben zu arbeiten, veranstaltete die Arbeiterschaft einen Demonstrationszug durch die Stadt. Die Arbeiter sammelten sich in der Eisenbahn-­Hauptwerkstatt in der Nähe des Bahnhofs und zogen zur Kaserne am Exerzierplatz,72 um sich dort mit den Matrosen und Soldaten zusammenzuschließen. Auch Schauspieler und Gewerbetreibende schlossen sich der Kundgebung an. An der Spitze des Demonstrationszuges, der sich gegen 10 Uhr in Bewegung setzte, marschierte der AuSR. Die Teilnehmenden trugen rote Schleifen und Armbinden. Der Zug passierte das Mühlentor, den Schuhhagen, die Lange Straße und die Bahnhofstraße, marschierte am Wilhelmsplatz vorbei, durch die Fleischerstraße und endete am Markt. Alles verlief ruhig und ohne Ausschreitungen.73 Von einer Tribüne auf dem Marktplatz aus hielt zunächst Bürgermeister Fleischmann eine Rede: Erneut sprach er davon, dass Arbeiter in die Stadtverwaltung integriert wurden und der Arbeiterschaft nun der Anteil an den politischen Rechten gewährt würde, der ihr auch zustünde. Im Anschluss ergriff der Vorsitzende des AuSR, Ratsherr Burmann, das Wort. Zum Abschluss seiner Rede, in der er vom „neuen Zeitgeist“ und dem „Glaube[n] an eine bessere Zukunft“ sprach und die deutsche Republik hochleben ließ, verkündete er, dass der Landrat des Landkreises Greifswald, Graf von Behr,74 soeben abgedankt habe und Burmann dessen Geschäfte auf Beschluss des AuSR vorläufig weiterführen werde.75

71 Ebd., Bl. 177. 72 Heute trägt dieser Platz den Namen des dänischen Schriftstellers Martin Andersen Nexö (1869 – 1954). 73 Vgl. Zeitungsartikel „Der Greifswalder Volkstag“, in: Greifswalder Zeitung, 13. November 1918, S. 3; Mai: Die Jahre der Weimarer Republik, S. 121; Schreiner: Dokumente berichten, S. 30. 74 Carl (Friedrich-­Felix) Graf von Behr (1865 – 1933), Gutsbesitzer, geboren in Behrenhoff; 1895 – 1918 Landrat in Greifswald, 1911 Königlicher Kammerherr, 1909 – 1918 Mitglied des Preußischen Herrenhauses. Nach seiner Absetzung Mitglied des Preußischen Staatsrats (1921 – 1923) und Bevollmächtigter der Provinz Pommern zum Reichsrat (1921 – 1933); vgl. Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik online: http://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0000/adr/getPPN/133290301/, letzter Zugriff am 25. August 2019. 75 Vgl. Zeitungsartikel „Der Greifswalder Volkstag“, in: Greifswalder Zeitung, 13. November 1918, S. 3.

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Hintergrund für diese Absetzung waren die Missstände auf den Gütern des Grafen, auf denen russische Schnitter unter furchtbaren hygienischen Zuständen hausten.76 Während andere Landräte 77 nach Bekanntwerden der Amtsenthebung zunächst vom Oberpräsidenten in Stettin, Georg Michaelis, beurlaubt und dann wiedereingesetzt wurden, blieb es bei der Absetzung des Grafen von Behr. Er beantragte seine Pensionierung zum 1. April 1919.78 Ulrich Burmann wiederum war nun nicht mehr nur Ratsherr, Polizeidirektor und Vorsitzender des AuSR in Personalunion, sondern auch noch kommissarischer Landrat des Landkreises Greifswald. Der ereignisreiche 11. November endete mit einer weiteren Versammlung abends um acht Uhr in der Stadthalle. Hier kamen nun die Delegierten für den Volksausschuss zusammen, 220 an der Zahl. Aus dieser Gruppe bildete sich wie vorgesehen ein Arbeitsausschuss mit 30 Mitgliedern.79 Bürgermeister Fleischmann, der zum Vorsitzenden des Arbeitsausschusses gewählt wurde, führte aus, dass der Ausschuss dem Magistrat unterstehe, der immer noch die Obrigkeit der Stadt sei. Gesetzgebende Gewalt hätte zur Zeit der AuSR. Es wurden drei Abteilungen gebildet: eine politische mit Presseausschuss, eine wirtschaftliche und eine soziale und hygienische Abteilung. Die nächste Sitzung wurde schon für den nächsten Tag, Dienstag, den 12. November anberaumt. Diese fand im Magistrats-­Sitzungszimmer statt und es waren 33 der 35 Mitglieder 80 anwesend. Erörtert wurde u. a. die Frage, ob der Ausschuss nur beratend oder auch ausführend tätig werden sollte. Im Verhandlungsbericht wurde dazu vermerkt, dass die Verantwortung in jedem Fall beim Magistrat liege, der auch die Entscheidungen treffe. Den Vorsitzenden Fleischmann hatten die turbulenten Ereignisse der vergangenen Tage scheinbar sehr mitgenommen: Der ersten Sitzung des Arbeitsausschusses konnte er krankheitsbedingt nicht beiwohnen.81 76 Bert Becker geht detailliert auf eine Begebenheit in der Schnitterkaserne von Busdorf, einem Vorwerk des Fideikommissgutes Behrenhoff, im November 1917 ein. Hierhin war eine Greifswalder Ärztekommission zur Untersuchung einer Fleckfieberepidemie gerufen worden. Im Bericht des Hygienikers Prof. Dr. Friedberger zu Fleckfieberepidemien in Pommern in der Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten von 1918 heißt es dazu, den Ärzten bot sich „dort in dem Schnitterhaus teilweise ein Bild der Verwahrlosung und Vernachlässigung der elementarsten hygienischen Forderungen, wie wir es bei uns in Deutschland kaum für möglich gehalten hätten.“, zit. nach Becker: Verwaltung, S. 51. 77 Auch die Landräte der Kreise Stolp, Kolberg und Rügen wurden ihres Amtes enthoben, vgl. ebd. 78 Vgl. ebd. 79 Im Arbeitsausschuss waren vertreten: 9 Arbeiter, 1 Landwirt, 3 aus dem Handel, 4 Handwerker, 1 aus einem Großbetrieb, 2 aus freien Berufen, 5 Beamte, 2 Frauen sowie 3 aus der Universität, StAG: Rep. 6 Nr. 94, Bl. 15. 80 Zusätzlich zu den 30 Mitgliedern des Ausschusses wurden vermutlich Fleischmann als Vorsitzender sowie seine zwei Stellvertreter und die zwei Schriftführer gezählt, StAG: Rep. 6 Nr. 94, Bl. 16. 81 Verhandlungsbericht über die erste Sitzung des Arbeitsausschusses am 12. November 1918, StAG: Rep. 5 Nr. 1104, Bl. 55.

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Zur Einordnung der Ereignisse Wie sind diese Entwicklungen in Greifswald im November 1918 insgesamt einzuschätzen? Welche Bedeutung kommt der Gründung des Arbeiter- und Soldatenrates und der des Volksausschusses zu? Und wie verhält sich das Beispiel Greifswald im Vergleich zu anderen Städten der Provinz Pommern? Zunächst sei noch angemerkt, dass sich der AuSR in Greifswald, wie auch die Räte in den meisten anderen Städten, in den folgenden Monaten auf die Kontrolle der Verwaltung beschränkte. Weitere Eingriffe nach dem Beispiel der Absetzung des Landrats von Behr oder des Eingriffs in die Univerwaltung sind nach jetzigem Stand nicht belegt. Am 15. November telegraphierte die preußische Regierung – als Reaktion auf die Anfragen aus der Verwaltung zur Zusammenarbeit mit den AuSR – einen Erlass, demzufolge die Vertreter der Arbeiter- und Soldatenräte sowie der Bauernräte (BR ) den einzelnen Verwaltungsbehörden als Kontrollinstanz zur Seite treten sollten und bei allen wichtigen Verhandlungen hinzuzuziehen seien.82 Nur einen Tag später erschien im Reichsanzeiger die Meldung, die Amtstätigkeit der Verwaltungsbehörden sollte nicht behindert werden, schon gar nicht durch Ämterenthebung – sofern sie sich der Zusammenarbeit nicht widersetzten. Personalveränderungen sollten keinesfalls von den örtlichen AuSR oder BR selbständig vorgenommen werden.83 Weiter kanalisiert wurde die Rätebewegung in Pommern, als am 29. November 1918 in Stettin die erste Provinzialversammlung aller AuSR stattfand – nach einer Statistik des Oberpräsidenten in Stettin vom 5. Januar 1919 existierten immerhin in 231 Städten und Gemeinden der Provinz Pommern AuSR sowie BR. Auf der Konferenz wurde der Stettiner AuSR als weisungsbefugte Zentralinstanz für alle Räte anerkannt und sogenannte ‚wilde Räte‘, wie sie bis dato etwa im Kreis Franzburg existierten, wurden verboten.84 Die Mehrheit der AuSR setzte sich aus gemäßigten Sozialdemokraten zusammen und verfolgte eine pragmatische Politik in enger Kooperation mit den staatlichen Behörden.85 Auch im Beschluss des Arbeiter- und Soldatenrates Greifswald vom 1. Dezember 1918 wird dies deutlich: Hier wurde nochmal betont, dass Entscheidungen erst Rechtskraft erhielten, wenn der AuSR zugestimmt habe und dass dem Rat bei Unstimmigkeiten entscheidende Befugnis zukomme. Bei der guten Zusammenarbeit zwischen Arbeiter- und Soldatenrat und den Behörden in Greifswald, heißt es danach weiter, sei „aber anzunehmen, dass Reibungen vermieden werden“.86 Agierten Fleischmann und Burmann also doch Seite an Seite, womöglich von Beginn an? Matthiesen ordnet den Umsturz in Greifswald als „Putsch“ ein, der vom Polizeidirek 82 Aus dem Reichsanzeiger Nr. 271 vom 15. November 1918, StAG: Rep. 5 Nr. 113, Bl. 26. 83 Aus dem Reichsanzeiger Nr. 272 vom 16. November 1918, StAG: Rep. 5 Nr. 113, Bl. 29. 84 Vgl. Nerée: Revolution, S. 206 f. 85 Vgl. Becker: Verwaltung, S. 49. 86 Beschluss des AuSR Greifswald vom 1. Dezember 1918, StAG: Rep. 5 Nr. 113, Bl. 66 f.

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tor Burmann und vom Bataillonskommandeur Teuchert inszeniert wurde. Sie wollten die Bewegung kanalisieren und eine gewalttätige Radikalisierung verhindern. Nach seiner Lesart „okkupierte“ Burmann am 10. November den Vorsitz im AuSR. Erst danach erwähnt Matthiesen den Volksausschuss, der den AuSR von Beginn an einrahmte und neutralisierte.87 Meiner Ansicht nach handelt es sich aber um ein wichtiges Detail, dass die Idee des Volksausschusses der des Arbeiter- und Soldatenrates voranging. Mehrere von Fleischmanns Äußerungen deuten in die Richtung, dass er davon ausging, mit der Gründung des Ausschusses und vor allem mit der Aufnahme der Arbeiter in den Magistrat und in das Bürgerschaftliche Kollegium einer weiteren revolutionären Entwicklung vorzubeugen. Wenn doch die Arbeiterführer als Gegenleistung für diese Posten in der Stadtverwaltung Ruhe und Sicherheit gewährleisten wollten, wozu bedurfte es dann noch eines Arbeiterund Soldatenrates? Auch der Antrag Fleischmanns vom 22. November zur Aufhebung des Befehls, mit dem die gesetzgebende Gewalt auf den AuSR überging, deutet eher auf eine Konfliktlage zwischen Fleischmann und dem Rat hin, zumal der Antrag ohne weitere Begründung abgelehnt wurde. Die Gründung des Arbeiter- und Soldatenrates könnte also durchaus die Pläne Fleischmanns durchkreuzt haben, mit dem Volksausschuss bereits genügend Entgegenkommen gezeigt zu haben und an den sonstigen Strukturen und Abläufen innerhalb der Stadtverwaltung nicht rütteln zu müssen. Zu den genauen Hintergründen der Bildung des AuSR liegen leider kaum Information vor. Wer genau hier die Initiative ergriffen hat und wie bspw. die Entscheidung zustande kam, dass die Arbeiter, die in den Magistrat aufgenommen wurden, auch Mitglieder im AuSR waren, ist weiterhin unklar. Im Bericht zur gemeinsamen Sitzung des Magistrats und des Bürgerschaftlichen Kollegiums am 10. November steht lediglich: „Auch die Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates hat sich im Laufe des Tages vollzogen.“ 88 Andererseits änderte sich an den Machtverhältnissen in der Stadt nicht wirklich revolutionär etwas durch die Gründung des AuSR – Burmann diente dieser wohl eher zur Verwirklichung seiner Karriereambitionen. Die Motivation, „den Bolschewismus zu verhindern“, die Burmann gegenüber dem Rektor der Universität angab, kann eher als vorgeschoben angesehen werden. Burmann selbst schätzte die Lage im Juli in Greifswald 1918 in einem Schreiben an den Regierungspräsidenten in Stralsund als nicht besorgniserregend ein, u. a. da es keine Anhänger der Unabhängigen Sozialdemokraten und sonstiger radikaler Organisationen in Greifswald gebe. Sein Resümee lautete: „Nach den gesamten Verhältnissen in Greifswald, insbesondere auch dem Charakter und der Zusammensetzung der Bevölkerung, besteht meines Erachtens kein Anlaß für die Befürchtung, daß hier allgemeine

87 Vgl. Helge Matthiesen: Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu im Kaiserreich, in: Demokratie und Diktatur 1900 – 1990 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 122). Düsseldorf 2000, S. 83. 88 StAG: Rep. 6 Nr. 94, Bl. 11.

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Unruhen ausbrechen könnten.“ 89 Die ca. 800 Eisenbahner der Reparaturwerkstatt waren der einzige Revolutionsherd – sie drohten 1917 anlässlich von Ernährungsschwierigkeiten auch mit Arbeitsniederlegungen.90 Im Jahr 1918 lag in Greifswald aber wenig Bolschewismus in der Luft – im März gab es lediglich eine Kundgebung der Eisenbahner, die schnell beigelegt wurde.91 Zudem wurde Julius Schröder, SPD -Mitglied und Vorsitzender des Eisenbahn-­Arbeiterverbandes,92 im Mai Stadtverordneter und im November dann einer der fünf neuen Arbeiterratsherren. In ganz Pommern war im November 1918 weder Revolutionseifer noch politischer Aufbruch zu spüren. Die Provinz war kriegsmüde, sehnte sich nach Frieden und Ausgang aus wirtschaftlicher und sozialer Not.93 Burmann hingegen war hellwach und erkannte die Zeichen der Zeit: Anfang November 1918 wurde er SPD-Mitglied, im Dezember wollte er sich sogleich für die Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung aufstellen lassen. Einige der Genossen witterten jedoch den Karrieristen. Der Stettiner Volksbote berichtete vom Parteitag der pommerschen SPD in Stettin, die am 22. November 1918 stattfand, und zitierte einen Stettiner SPD-Mann: Man müsse gegenüber den neuen Parteigenossen, die sich jetzt überall vordrängen, aber noch keine Beweise für ihre Ueberzeugungstreue gebracht haben, sehr vorsichtig sein. Als es gefährlich war, Sozialdemokrat zu sein, da haben sich solche Leute nicht gezeigt. Personen, die so blitzschnell zu uns kammen [sic!] wie Burmann, können nicht gleich verantwortungsvolle Posten beanspruchen.94

Hierbei handelt es sich vermutlich um eine recht zutreffende Charakterisierung Burmanns. Trotz Fürsprachen aus der Stadt Greifswald wurde seine Kandidatur nicht berücksichtigt – dafür aber den Wünschen nach der Aufstellung weiblicher Kandidaten entsprochen.95 Bei den Wahlen zur Gemeindevertretung für die Stadt Greifswald am 2. März 1919 war Burmanns Kandidatur dann erfolgreich: Er wurde in das Bürgerschaftliche Kollegium gewählt und stand diesem sogar bis 1920 vor.96 Von den DDR-Historikern wurde Burmann u. a. als „raffinierter Agent der Bourgeoisie“ bezeichnet, der sich „gewandt“ als Helfer und Sprecher 89 Zit. nach Geschichte Kreisparteiorganisation, S. 15. 90 Vgl. ebd., S. 14. 91 Vgl. 100 Jahre RAW-Kraftwagen-­Ausbesserungswerk Greifswald. Festschrift zum 100jährigen Bestehen des RAW/KAW Greifswald. Nach Beiträgen unserer Arbeiterveteranen geschrieben von dem Kollegen K.-H. Hernickel, Greifswald 1963, S. 14. 92 Vgl. Geschichte Kreisparteiorganisation, S. 14. 93 Vgl. Nerée: Revolution, S. 205. 94 Stettiner Volksbote vom 23. November 1918, S. 1. Für diesen wertvollen Hinweis auf die Kandidatur Burmanns bei diesem Parteitag und den Vermerk in der Zeitung danke ich Gunter Dehnert ganz herzlich. 95 Ebd., S. 2. 96 StAG: Rep. 6 Nr. 126, unfol.

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der Arbeiterschaft aufspielte und für eine enge Zusammenarbeit mit der vormals kaiserlichen Obrigkeit sorgte.97 Diese Zusammenarbeit fand ohne Zweifel auch direkt nach Gründung des AuSR statt. Fraglich ist dann, warum Fleischmann am 12. November an den Oberpräsidenten berichtete, der Rat habe die gesetzgebende Gewalt in Stadt- und Landkreis „an sich gerissen“. Letztlich bleibt also doch noch einiges im Unklaren und es werden weitere Details ans Licht kommen müssen, um ein eindeutiges Urteil fällen zu können. Vor dem Hintergrund der Ereignisse der Jahre 1919 und 1920 wird sich vermutlich auch noch einmal eine andersartige Bewertung ergeben, dies kann an dieser Stelle aber nicht mehr erfolgen. Matthiesen zufolge endete die Phase der Revolution in Greifswald spätestens mit der Kommunalwahl vom 2. März 1919.98 Die SPD konnte zwar bei dieser Wahl, wie auch bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 15. Januar 1919 und bei denen zur Preußischen Nationalversammlung am 26. Januar 1919, im Vergleich zu den Vorkriegswahlen erheblich zulegen. Die bürgerlich-­konservativen Kräfte hatten jedoch insgesamt ein Übergewicht.99 Der Volksausschuss stellte seine Tätigkeit nach den Wahlen ein, der AuSR spielte für die politische Entwicklung in Greifswald fortan keine Rolle mehr.100 Seine Aktivität endete offiziell zum 1. April 1920.101

Die Knabenvolksschule 1918/1919: Vom Lazarett zur Entlausungsanstalt Mit der Fortsetzung der Geschichte zur Knabenvolksschule soll abschließend noch ein weiteres Thema der Übergangszeit von der Kriegs- in die Friedensgesellschaft in den Blick genommen werden, nämlich die Demobilisierung. Ende Dezember 1918 informierte die Lazarettverwaltung den Magistrat der Stadt Greifswald darüber, dass die Knabenvolksschule als Lazarett aufgegeben werde. Bis zum 10. Januar 1919 sollten die Räume geräumt sein und nach Ausführung der Desinfektion würde die Volksschule wieder für ihren alten Zweck zur Verfügung stehen.102 Einige Tage später verhandelte dann eine Abschätzungskommission das Thema Rückgabe der Schule. Zur Erinnerung: Die Kommission, welche die Kosten für den Aufwand der Stadt zur Beschaffung von Ersatzräumen ermitteln sollte, war im Oktober 1918 nicht zu einer Einigung gekom 97 Joachim Copius: Die Novemberrevolution in Greifswald. Die wirtschaftliche und politische Lage vor Ausbruch der Revolution, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst Moritz Arndt-­ Universität Greifswald. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe Nr. 1/2, Jg. 8 (1958/59), S. 11 – 16, hier S. 13. 98 Vgl. Matthiesen: Greifswald, S. 84. 99 Vgl. Mai: Die Jahre der Weimarer Republik, S. 122. 100 Vgl. ebd., S. 123. 101 Schreiben aus Greifswald an den Regierungspräsidenten in Stralsund vom 26. April 1920, StAG: Rep. 5 Nr. 113, Bl. 241. 102 StAG: Rep. 5 Nr. 7750, Bl. 38 und 49.

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men. Jetzt verhandelte eine etwas anders zusammengesetzte Kommission die Kosten für die Abnutzung und Beschädigungen am Schulgebäude. Dazu wurde auf fünf Seiten haarklein jeder Mangel aufgelistet, von zerbrochenen Fensterscheiben bis zum fehlenden Stöpsel im Waschbecken. Die Abschätzungssumme wurde auf 6.050 Mark festgesetzt. Nach Ansicht der Mitglieder der Kommission sollten die Kosten unmittelbar von der Heeresverwaltung zu tragen sein.103 Die Intendantur des II. Armeekorps in Stettin entschied hingegen, dass die Abschätzungssumme von einer vom Regierungspräsidenten zu bestimmenden Zivilkasse zu zahlen sei.104 Schließlich sollten die Kosten aus Reichsfonds beglichen werden. Dafür musste ein Forderungsnachweis ausgefüllt werden „über Vergütung für Kriegsleistungen, die aufgrund des Gesetzes vom 13. Juni 1873105 aus Reichsfonds zu gewähren sind“.106 Ob dies erfolgte, lässt sich leider nicht nachvollziehen. Am 12. Mai 1919 trat wiederum die erste Abschätzungskommission zusammen und einigte sich dieses Mal auf eine konkrete Summe: Von den ehemals angedachten 30.000 Mark waren die Mitglieder weit abgerückt hin zu einer Summe von 7.840 Mark. Auch diese sollten aus Reichsfonds erstattet werden. Es dauerte dann ein ganzes Jahr, bis sich wieder etwas in der Angelegenheit bewegte. Im Mai 1920 meldete der Regierungspräsident in Stralsund an den Magistrat in Greifswald, dass die Hauptkasse in Stralsund angewiesen worden sei, eine Anzahl Vergütungsanerkenntnisse über Forderungen für Kriegsleistungen einzulösen. Inzwischen hatte sich die Summe samt Zinsen auf knapp 8.300 Mark erhöht. Scheinbar lag die Vergütungsanerkennung aber nicht vor. Der letzte Hinweis aus den Akten dazu lautet, dass im Juni 1919 bei der Heeresverwaltung darum ersucht wurde.107 Der Ausgang dieser ersten Episode zur Knabenschule als Lazarett ist also ungewiss. Dafür lässt sich dem Bericht der zweiten Abschätzungskommission ein interessantes Detail entnehmen, das uns zur zweiten Episode führt: Dort heißt es, Mitte November 1918 sei in der Schule vom Demobilmachungsausschuss der Stadt eine Entlausungsanstalt eingerichtet und von der Garnisonsverwaltung übernommen worden. Die dafür vorgesehenen Schulräume – 2 Ankleideräume, 1 Brausebad und 1 Abortraum – wurden nicht zurückgegeben, sondern sollten weiterhin für die Entlausungseinrichtung zur Verfügung stehen. Ebenfalls diente ein auf dem Schulhof aufgestellter Lokomobilschuppen der Entlausung 108 – hier wurde die Kleidung per Dampf desinfiziert. Und auch die Turnhalle konnte weiterhin nicht genutzt werden, da sie für den Aufenthalt der entlausten Personen vorgesehen war. Der Hintergrund dieses schnellen Übergangs vom Lazarett zur Entlausungsanstalt ist, dass durch das plötzliche Kriegsende alle Pläne zur geordneten Rückführung der Soldaten, incl. ihrer Untersuchung, über den Haufen geworfen wurden. Der Direktor des Hygiene-­ 103 Ebd., Bl. 43 – 46. 104 Ebd., Bl. 49. 105 Gesetz über die Kriegsleistungen („Kriegsleistungsgesetz“) vom 13. Juni 1873; http://www. documentarchiv.de/ksr/1873/kriegsleistungsgesetz.html, letzter Zugriff am 25. August 2019. 106 StAG: Rep. 5 Nr. 7750, Bl. 61 f. 107 Ebd., Bl. 77 und 68. 108 Ebd., Bl. 46.

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Instituts der Universität Greifswald, Prof. Dr. Friedberger, warnte am 18. November 1918 in einem Schreiben an den Vorsitzenden des AuSR : Die ohne jede ärztliche Kontrolle zurückströmenden Soldaten seien mit den verschiedensten ansteckenden Krankheiten behaftet und somit eine große Gefahr für die Zivilbevölkerung. Die Soldaten seien fast ausnahmslos verlaust und Läuse waren inzwischen als Überträger von Fleckfieber bekannt.109 Für Greifswald wurden 6.000 rückkehrende Soldaten erwartet, darunter auch Militärpersonen, die von hier aus in ihre Heimatregionen verteilt werden sollten.110 In einem weiteren Schreiben von Friedberger an den Bürgermeister empfahl er dringend, die Soldaten sofort vom Bahnhof zur Entlausungsanstalt zu bringen und ihnen auch erst nach der Entlausung eine reichliche Bewirtung zuteilwerden zu lassen.111 Bereits im Februar 1919 ließ das Garnisonskommando anfragen, ob es seitens der Stadt Einwände gegen eine Schließung der Anstalt zum 1. März 1919 gebe. Der teure Unterhalt mache diesen Schritt notwendig.112 Die Stadt holte erneut die Meinung des Hygienikers Friedberger ein. Dieser warnte dringend davor, die Entlausungsanstalt jetzt abzubauen. Überall in Deutschland, auch in Pommern, seien in diesem Jahr wieder Fleckfieber-­ Epidemien aufgetreten und daher sei es sinnvoll, dass eine Entlausungsanstalt zur Verfügung stehe, die nötigenfalls beim Ausbruch von Epidemien sofort in Betrieb genommen werden könne.113 Die Stadt entschied sich daher dafür, die Entlausungsanstalt weiter zu nutzen. Bereits seit Januar konnten dort auch Zivilisten entlaust werden. In der Zeitung wurde am 11. Januar 1919 bekanntgegeben, dass die Entlausungsanstalt Zivilpersonen unentgeltlich werktäglich nachmittags von 2 – 5 Uhr zur Verfügung stehe.114 Wenig überraschend, gab es auch um die Kosten für die Entlausungsanstalt wieder langwierige Auseinandersetzungen. Im November 1918 teilte die Intendantur in Stettin noch mit: „Die Kosten der Entlausung der zurückkehrenden Truppen werden auf Militärfonds übernommen werden.“ 115 Diese wurden im Dezember auf 7.772,92 Mark beziffert.116 Streitfrage war in der Folge dann aber, welchen Eigenanteil die Stadt zu leisten hatte, da die Entlausungsanstalt ja nur für das Kriegsbedürfnis hergestellt wurde und im Frieden 109 Schreiben von Prof. Friedberger an den Vorsitzenden des AuSR vom 18. November 1918, StAG: Rep. 5 Nr. 987, Bl. 9 – 15. 110 Protokoll der Sitzung des Demobilmachungsausschusses des Greifswalder Magistrats am 19. November 1918, StAG: Rep. 5 Nr. 984, Bl. 13. 111 Schreiben von Prof. Friedberger an den Greifswalder Bürgermeister vom 1. Dezember 1918, StAG: Rep. 5 Nr. 987, Bl. 35. 112 Schreiben des Garnisonkommandos an den Magistrat der Stadt Greifswald vom 12. Februar 1919, StAG: Rep. 5 Nr. 987, Bl. 51. 113 Schreiben von Prof. Friedberger an den Greifswalder Magistrat vom 20. Februar 1919, StAG: Rep. 5 Nr. 987, Bl. 52. 114 StAG: Rep. 5 Nr. 987, Bl. 41. 115 Schreiben der Stellvertretenden Militärintendantur des II . Armeekorps in Stettin an den Magistrat der Stadt Greifswald vom 22. November 1918, StAG: Rep. 5 Nr. 987, Bl. 47. 116 Schreiben des Greifswalder Magistrats ans Sanitätsamt des II . Armeekorps in Stettin vom 12. Dezember 1918, StAG: Rep. 5 Nr. 987, Bl. 48.

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nicht beibehalten werden sollte.117 Schließlich erklärte sich die Intendantur bereit, die bisher entstandenen Kosten für die Entlausungsanstalt zu entrichten, sofern die Stadt unentgeltlich den Ausbau der Entlausungsanlage übernahm. Die Kosten waren allerdings im November 1919 trotz wiederholter Erinnerung noch nicht erstattet worden. Mit Datum vom 12. Dezember 1919 findet sich dann der Vermerk, dass 7.560,92 Mark bezahlt worden sind – abzüglich 212 Mark für die Weiternutzung der Entlausungsanstalt durch die Stadt.118 Diese Geschichte zeigt zum einen, wie wenig planbar der Ausgang eines Krieges war und mit welchen Belastungen, aber auch mühseligen organisatorischen Fragen die Nachkriegsgesellschaft umzugehen hatte – von den großen Problemen der Versorgung der Kriegsversehrten, Waisen und Witwen u. v. m. ist dabei ja noch gar nicht die Rede. Interessant ist aber eben auch, mit welcher Selbstverständlichkeit die Auseinandersetzungen um kleinste Detailfragen in Briefwechseln über das Datum des 9. November 1918 hinaus ausgetragen wurden – ohne auf die politischen Ereignisse direkt Bezug zu nehmen. Insofern spiegelt sich die Einschätzung Beckers für die Provinz Pommern, eine breite allgemeine Demoralisierung im November 1918 hätte zu einem ohnmächtigen Hinnehmen der revolutionären Ereignisse geführt 119, in gewisser Weise auch in dieser kleinstädtischen Verwaltungsgeschichte wider.

Fazit und Ausblick Abschließend lässt sich zunächst positiv herausstellen: die Bürger, insbesondere die Arbeiter, der Stadt Greifswald wurden ab dem 8. November 1918 breiter an der Stadtverwaltung beteiligt. Es gab keine Unruhen, keine Toten und auch keine Verletzten in diesen Tagen des politischen Umbruchs. Dafür blieb die Umwälzung aber auch im Keim stecken und trat nie aus ihrer gelenkten Bahn heraus. Beteiligt wurde ein ausgesuchter Kreis von Bürgern, der Magistrat fädelte alles sorgfältig ein und stellte die Stadtverordneten vor vollendete Tatsachen. Mit schönen Worten zu neuen Rechten, Veränderungen und dem Vertrauen der gesamten Bevölkerung wurde verhüllt, dass der Bürgermeister in den neuen Gremien, wie dem Volksausschuss, den Vorsitz und die letzte Entscheidungsgewalt hatte. Insgesamt war die Lage in Greifswald sehr kontrolliert und zielte auf Machtsicherung der Etablierten. Ob es sich auch um einen Machtkampf zwischen den Protagonisten, Bürgermeister Fleischmann und Polizeidirektor Burmann, handelte, lässt sich lediglich vermuten. Dazu lohnt es, noch weitere Forschungen anzustrengen. Womöglich lassen sich weitere Details aus den Biografien von Fleischmann und Burmann erschließen. Auch eine nähere Betrachtung des Verhältnisses zwischen AuSR und der Universität Greifswald könnte weitere interes 117 Schreiben des Militär-­Bauamts an den Magistrat der Stadt Greifswald vom 11. März 1919, StAG: Rep. 5 Nr. 987, Bl. 57. 118 StAG: Rep. 5 Nr. 987, Bl. 65 – 68. 119 Vgl. Becker: Verwaltung, S. 45.

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sante Aspekte zum Vorschein bringen. Raum bleibt auch weiterhin für alltagsgeschichtliche Fragestellungen im Kontext des Übergangs von der Kriegs- in die Friedenszeit. Wie wurde dieser Wandel von den Zeitgenossen interpretiert? Sich den Nachlässen von Bürgerinnen und Bürgern der Stadt zuzuwenden wäre eine weitere Aufgabe. Vielleicht blitzen hier dann auch eher Hoffnungsschimmer auf einen Neuanfang und „bessere Zeiten“ auf. Als ermunterndes Zeichen für die neue Demokratie kann sicherlich gesehen werden, dass nicht dem königlichen Polizeidirektor, der erst ein paar Tage Anhänger der Sozialdemokratie war, sondern den weiblichen Parteimitgliedern auf dem SPD-Parteitag in Stettin im Dezember 1918 ein Listenplatz für die Wahlen zur Nationalversammlung eingeräumt wurde – jenen Frauen also, die lange für ihr Wahlrecht kämpfen mussten und sich nun auch offiziellerseits politisch einbringen durften.

Der Arbeiter- und Soldatenrat von Stettin bis zur Wahl der Nationalversammlung Gunter Dehnert

Einleitung Verglichen mit den übrigen Provinzen Deutschlands stand Pommern im November 1918 ganz sicher nicht im Fokus der Aufmerksamkeit und doch gab es auch hier in den meisten größeren Städten und Landgemeinden wenn vielleicht keine Revolution, so doch revolutionäre Vorgänge, die sich vor allem in der Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten bzw. Landarbeiterräten zeigten. In zahlreichen Städten wurde auf dem Rathaus die Rote Fahne gehisst. Natürlich fand auch in der am größten und stärksten industrialisierten Stadt Pommerns, der Provinzhauptstadt Stettin, die Gründung von Arbeiter- und Soldatenräten statt. Vor allem in den darauffolgenden beiden Monaten bis zur Wahl der Nationalversammlung war die Situation von einem Prozess zwischen den Vertretern der alten Hierarchien und den Vertretern der Räte gekennzeichnet, in dem die Aufgaben und Befugnisse beider Seiten auszutarieren waren. Was aber schon zeitgenössisch galt, galt im Großen und Ganzen auch für die historische Forschung: Die Ereignisse blieben wenig beachtet und fanden vor allem in der Historiographie der DDR -Geschichtsschreibung ihren Niederschlag, während sie in den großen Überblicksdarstellungen kaum auftauchen.1 Zu nennen sind hier insbesondere die Arbeiten von Werner Lamprecht. Speziell für Stettin ist zudem die Dissertation von Gerhard Janitz aus dem Jahr 1969 erwähnenswert,2 der sich aber in seiner systembedingt gefärbten Untersuchung auf die Entstehung der KPD in Stettin konzentriert und nicht einen Überblick über die Umbruchszeit seit dem November 1918 liefert. Janitz erzählt damit aber immerhin ein für den Verlauf der Revolution in Stettin wichtiges Vorkapitel über die lokale Abspaltung von Mehrheitssozialdemokratie und USPD. Eine führende Rolle spielte dabei der Bezirkssekretär der SPD , August Horn, der 1916 Demonstrationen gegen die weitere Unterstützung der Kriegspolitik organisierte und aus diesem Grund schließlich seines Amtes enthoben wurde.3 Zusammen mit Herta Geffke

1 Einen Forschungsüberblick dazu bietet Donata von Nerée: Die Revolution 1918/19 in Pommern. Forschungsstand im Überblick, in: Pommern. Geschichte, Kultur, Wissenschaft, 1. Kolloquium zur Pommerschen Geschichte 13. bis 15. November 1990. Hrsg. von der Ernst-­Moritz-­ Arndt-­Universität Greifswald. Greifswald 1991, S. 204 – 211. 2 Gerhard Janitz: Zur Entstehung und Entwicklung der Stettiner Parteiorganisation der KPD in den Jahren 1917 – 1920 [Diss. 1969]; vgl. auch ders.: Zur Entstehung der KPD in Pommern 1914 bis 1920, in: Beiträge zur Geschichte Vorpommerns. Die Demminer Kolloquien 1985 – 1994. Hrsg. von Haik Thomas Porada, S. 147 – 149. 3 Janitz: Zur Entstehung (wie Anm. 1), S. 147.

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sammelte Horn in der Folge die mit dem Kurs der MSPD Unzufriedenen in der USPD. Die Darstellungen der Abspaltung fußen bei Janitz jedoch im Wesentlichen auf einem Bericht von Geffke selbst aus den 1960er-­Jahren, sind also mit entsprechender Vorsicht zu lesen. In jedem Fall trat Horn später in den engeren Ausschuss des Stettiner Arbeiterund Soldatenrates ein. Nach einer ersten Welle von wissenschaftlichen Arbeiten in den 1950er und 1960er-­ Jahren förderten schließlich in den 1980er-­Jahren die Demminer Kolloquien Beiträge zu den Ereignissen 1918/19 und deren Folgen. Diesen frühen Arbeiten ist zwar eine zeitlich bedingte Tendenz und Überbewertung revolutionärer Kräfte gemein, sie fußen jedoch in der Regel auf einer soliden Quellenbasis und können so mit Abstrichen als Materialbasis immer noch herangezogen werden. Von polnischer Seite gab es ebenfalls schon in den 1950er-­Jahren Beiträge zu den Novemberereignissen vor allem in der Erzählung der Entstehung der KPD in Stettin und Pommern. Zu nennen wäre hier etwa Bogdan Dopierała 4 aus Stettin, der als einer der Initiatoren des polnischen Hochschulwesens in Stettin anzusehen ist. Ausführlicher auf die Revolution in Stettin und in der Provinz gingen zuletzt der von Kyra Inachin und Bert Becker herausgegebene Sammelband über die Zäsuren in der pommerschen Geschichte sowie die Biographie des Reichskanzlers Georg Michaelis, ebenfalls von Bert Becker, in den Abschnitten über dessen Zeit als Oberpräsident von Pommern ein.5 Weil darin zudem ausführlich von den Vorgängen rund um die Absetzung Michaelis’ die Rede ist, soll im folgenden Beitrag dieser Abschnitt nur angerissen werden und eine Konzentration auf die ersten Wochen der revolutionären Vorgänge in Stettin erfolgen. Eine Besonderheit in der Betrachtung des Wirkens des Stettiner Arbeiter-­und Soldatenrates besteht allerdings in seinem Anspruch, eine koordinierende Funktion und Kontroll- und Entscheidungsinstanz für die Räte der gesamten Provinz wahrzunehmen. Die Vertreter des Stettiner Rates, die dem Oberpräsidenten an die Seite gestellt waren, blickten somit auf Vorgänge und Themenfelder, die ebenfalls für die gesamte Provinz Pommern zu fällen waren. Einen nicht unerheblichen Anteil ihrer Arbeitsleistung mussten die Vorsitzenden des Stettiner Arbeiter- und Soldatenrates somit zunächst dafür aufbringen, diesen Führungsanspruch gegenüber anderen Räten Geltung zu verschaffen. Eine gute Materialbasis bieten neben den Akten aus dem Bestand des Oberpräsidiums von Pommern im Landesarchiv Greifswald die Berichte des Stettiner Volksboten, des Organs der Stettiner Sozialdemokratie, das 1885 vom ersten sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten aus der Provinz Pommern, Fritz Herbert, begründet wurde und 4 Bogdan Dopierała: Der Einfluß der Großen sozialistischen Oktoberrevolution in Pommern, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Greifswald. Sonderheft zum 40. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution VI (1956/57), S. 237 f. 5 Pommern zwischen Zäsur und Kontinuität 1918, 1933, 1945, 1989. Hrsg. von Bert Becker/Kyra T. Inachin. Schwerin 1999; Bert Becker: Georg Michaelis, Preußischer Beamter, Reichskanzler, Christlicher Reformer 1857 – 1936. Eine Biographie. Paderborn 2007.

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dessen langjähriger leitender Redakteur er war. Da er zugleich zum engeren Ausschuss des Stettiner Arbeiter- und Soldatenrates gehörte, zeigte sich der Volksbote über die revolutionären Vorgänge in Stettin und der Provinz stets gut informiert.6 Ab dem 16. November avancierte er zum offiziellen Organ des Stettiner Arbeiter- und Soldatenrates. Die konservative Pommersche Tagespost liefert das entsprechende Korrektiv. Georg Michaelis’ Memoiren widmen seiner kurzen Zeit als Oberpräsident der Provinz Pommern vom 1. April 1918 bis zum 1. April 1919 zwar insgesamt wenig Raum, bieten aber aus kurzer zeitlicher Distanz einige prägnante, wenngleich zuweilen stilisierende Einordnungen aus Sicht der alten kaiserlichen Eliten gegenüber den revolutionären Kräften.7 Einen weiteren Einblick in die Zeiten des Umbruchs in Stettin aus Sicht der alten Ordnung bieten uns die Erinnerungen des Regierungspräsidenten von Stettin, Kurt von Schmeling 8, der von 1910 bis 1922, also immerhin zwölf Jahre, in Verantwortung auf der Hakenterrasse stand.

Voraussetzungen Wie stellte sich die Ausgangslage vor Ort dar? Pommern war bekanntlich eine agrarisch geprägte, äußerst dünn besiedelte Provinz. Vor diesem Hintergrund waren die Voraussetzungen in Stettin eher atypisch. Mit dem Hafen, dem Aufheben des Festungsstatuts 1870 und somit der Möglichkeit, auch im Industriesektor zu wachsen, existierte in Stettin ein Milieu, das für die Anliegen der Sozialdemokratie empfänglich war. Stettin sowie der Kreis Randow gehörten somit zu den frühen Hochburgen der Arbeiterbewegung in Pommern. Als Sitz der Provinzial- sowie Bezirksverwaltung können die Entwicklungen in Stettin gleichwohl nicht losgelöst von den Folgen für die Gesamtprovinz bzw. den Regierungsbezirk betrachtet werden. Oder auch umgekehrt: Die Konstellation in Stettin besaß wiederum Rückwirkungen auf die Geschicke der gesamten Provinz, wobei dem Stettiner Arbeiter- und Soldatenrat eine Leitungsfunktion für den Regierungsbezirk Stettin sowie die Provinz zufiel. Als die Lage infolge sprunghafter Gründungen in der Provinz beispielsweise zunehmend unübersichtlich wurde, erfolgte die Legitimation über den Stettiner Arbeiter- und Soldatenrat, der wiederum darauf achtete, dass die neu ins Leben gerufenen Räte aus einer sozialdemokratischen Traditionslinie heraus entstanden sind.9 Der im Verlauf 6 Werner Lamprecht: Fritz Herbert, erster Reichstagsabgeordneter der pommerschen Sozialdemokraten, in: Pommern. Geschichte, Kultur, Wissenschaft, 1. Kolloquium zur Pommerschen Geschichte 13. bis 15. November 1990. Hrsg. von der Ernst-­Moritz-­Arndt-­Universität Greifswald. Greifswald 1991, S. 187 – 192; vgl. auch Wurzeln, Traditionen und Identität der Sozialdemokratie in Mecklenburg und Pommern. Hrsg. von der Friedrich-­Ebert-­Stiftung, Landesbüro Mecklenburg-­Vorpommern. Schwerin 1999 (Geschichte Mecklenburg-­Vorpommern Nr. 9), S. 54 f. 7 Georg Michaelis: Für Volk und Staat. Eine Lebensgeschichte. Berlin 21922, S. 398 – 404. 8 Kurt von Schmeling: Meine Lebenserinnerungen. Potsdam 1931. 9 Pommersche Tagespost vom 14. November 1918; Volksbote vom 12. November 1918.

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des November eingebrachte Antrag der Fortschrittlichen Volkspartei (später DDP), auch bürgerliche Vertreter in den Arbeiter- und Soldatenrat zu entsenden, wurde somit ebenfalls einstimmig abgelehnt.10 Zunächst soll jedoch der Ablauf der Novemberereignisse in Stettin selbst nachvollzogen werden.

Verlauf der Novemberereignisse in Stettin Am 11. November 1919 vermeldete der Stettiner Volksbote in seiner Montagsausgabe: „Der revolutionäre Funke hat auch in Stettin gezündet.“ 11 Nachdem am vorausgegangenen Sonnabend (in anderen Berichten ist von Sonntag die Rede) ein aus Kiel stammendes Marinekommando den Stettiner Bahnhof besetzt hatte, bildeten sich tags darauf in den Kasernen der Stadt mehrere Soldatenräte. Am selben Sonnabend gab der Volksbote mit dem ganzseitigen Aufmacher „Die deutsche Revolution von 1918. Die Abdankung des deutschen Kaisers“ 12 die Richtung vor. Die Soldatenräte sandten Abordnungen ins Volkshaus, um sich dort mit den Vertretern des bereits am Freitag zuvor gegründeten Aktionsausschusses der Sozialdemokratie über das weitere Vorgehen abzustimmen. Eine aus den Soldatenräten gebildete Soldatenkommission und Abgesandte des Aktionsausschusses erreichten in Verhandlungen mit dem stellvertretenden kommandierenden General eine Verbesserung der Lage der kasernierten Soldaten, so eine Aufstockung der Verpflegung und die Aufhebung des Zwangs, in den Kasernen zu verbleiben. Bezeichnend für die Situation wie auch in der gesamten Provinz zeigte sich gleichwohl die alles überlagernde Sorge, die revolutionäre Dynamik könne außer Kontrolle geraten. Heinrich August Winkler hat dies vor kurzem mit Rekurs auf Richard Löwenthal als „Anti-­Chaos-­Reflex“ gekennzeichnet, der als „eine für hochentwickelte, arbeitsteilige Industriegesellschaften typische Angst vor dem Zusammenbruch der alltäglichen öffentlichen Dienstleistungen und damit von Sicherheit und Ordnung schlechthin“ prägend für die Novemberrevolution gewesen sei.13 So begaben sich aus den Reihen des Aktionsausschusses in einem von der Militärverwaltung zur Verfügung gestellten Kraftwagen in Begleitung eines Offiziers Genosse Kuntze nach den Kasernen, Genosse Hunger nach dem Kreckower Lager, um auf die Soldaten einzuwirken, daß sie Ruhe und Ordnung halten.14

Der erste Aufruf, den der Aktionsausschuss sowie die Soldaten-­Kommission noch am Abend des 9. November veröffentlichten, zielte ebenfalls in diese Richtung. Die Adressaten wurden 10 11 12 13 14

Volksbote vom 15. November 1918. Volksbote vom 11. November 1918. Volksbote vom 9. November 1918. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. November 2018. Volksbote vom 11. November 1918.

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eindringlich ermahnt, „Ruhe und Ordnung zu bewahren“ sowie „Ansammlungen auf der Straße zu vermeiden“.15 Er wurde mithin im selben Tenor verfasst wie die zumeist später veröffentlichten Aufrufe in anderen pommerschen Städten wie Stralsund und Greifswald.16 Am Abend darauf verständigten sich die Spitzen der lokalen USPD mit den Vertretern des Aktionsausschusses, den Entwicklungen in Berlin folgend, auf die Gründung eines gemeinsamen Arbeiterrates. Dieser sollte ungeachtet des ungleichen Kräfteverhältnisses, paritätisch aus beiden Lagern zusammengesetzt, aus 24 Mitgliedern bestehen. Als ersten Beschluss verabschiedeten die Teilnehmer der gemeinsamen Sitzung für den folgenden Montag den Aufruf zu einem Generalstreik, von dem jedoch Verkehrs- und Nahrungsmittelbetriebe ausgenommen werden sollten, um die ohnehin prekäre Versorgungslage, die vor allem die Stadt Stettin betraf, nicht weiter zu verschlechtern. Die Direktive, in Versorgungsfragen nicht unmittelbar zu intervenieren, bestimmte auch in den folgenden Wochen und Monaten das Handeln der Arbeiter- und Soldatenräte reichsweit. Lokal gab es hingegen zahlreiche Abweichungen von dieser Linie, was zu Beschwerden an den Stettiner Rat, die Regierungspräsidenten sowie den Oberpräsidenten führen sollte. Die Soldatenräte, die den Aufruf ebenfalls unterstützten, trugen ihrerseits dafür Sorge, dass die Armee-­Depots in ausreichendem Maße bewacht werden sollten. Hierbei handelte es sich allerdings um mehr als eine bloße Vorsichtsmaßnahme, nachdem es im besagten Kreckower Lager schon zu ersten Plünderungen gekommen war. Dieser Streich „frecher Buben“ 17 wurde vom Genossen Schauer in seiner Rede scharf gerügt. Die Hauptkundgebung fand schließlich am Montag, dem 11. November, auf dem Sportplatz an zentraler Stelle in der Behr-­Negendank-­Straße (heute ul. Starzyńskiego Teofila) mit mehreren Ansprachen statt.18 Den Beginn machte der schon erwähnte Fritz Herbert als der wohl bekannteste Sozialdemokrat Stettins. Die eigene Presse wusste von einer „Riesen-­ Demonstration“ zu berichten, wie sie Stettin noch nicht gesehen habe. Bereits zuvor legten seit 8.00 Uhr die Arbeiter in den größten Betrieben der Stadt, etwa in der Vulcan-­Werft, die Arbeit nieder und zogen von dort zum Ort der Kundgebung. Auf Fabrik- und öffentlichen Gebäuden wurden rote Fahnen aufgezogen. Am Ende der Veranstaltung wurden die Mitglieder des gemeinsamen Arbeiterrates bestätigt und die am Abend zuvor formulierten Forderungen per Akklamation verabschiedet. Die insgesamt 13 Forderungen als solche, die später für den soldatisch relevanten Teil noch erweitert wurden,19 besaßen teilweise durchaus revolutionären Charakter. Sie stellten

15 Ebd. 16 Vgl. dazu die Beiträge zu Greifswald von Jenny Linek und zu Stralsund von Christoph Freiherr von Houwald in diesem Band. 17 Pommersche Tagespost vom 12. November 1918. 18 Vgl. die Darstellung bei Manfred Höft: Die Vulcan in Stettin und Hamburg, Bd. 2: 1905 – 1929: Der Handelsschiff- und Maschinenbau. Bremen 2015, S. 151. 19 Vgl. Volksbote vom 12. November 1918.

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auch die Bedingungen, unter denen etwa Michaelis mit dem Arbeiter- und Soldatenrat zusammenzuarbeiten hatte:20 1. Abschaffung aller Dynastien. 2. Vergesellschaftung aller Großbetriebe. 3. Sofortige Beseitigung des Belagerungszustandes. 4. Volle Presse- und Versammlungsfreiheit. 5. Wahl einer Nationalversammlung auf Grund des allgemeinen, gleichen Wahlrechts für alle Frauen und Männer über 20 Jahre. 6. Freilassung aller militärischen und politischen Gefangenen. 7. Schaffung einer sozialistischen Republik 8. Stellung aller öffentlichen Einrichtungen unter die Kontrolle des Arbeiter- und Soldatenrates. 9. Absetzung der Offiziere, die die Mannschaften unwürdig behandeln. 10. Gleiche Verpflegung für Offiziere und Mannschaften. 11. Entbindung von der Grüßpflicht. 12. Freie Verfügung über die Zeit nach Dienstschluß bis zum nächsten Dienstbeginn. 13. Vorgesetzte nur im Dienst.21

Die Diskrepanz zwischen revolutionärer Rhetorik und wenig revolutionärer Praxis stieß naturgemäß in der DDR-Historiographie auf die heftigste Kritik, indem man sie den Vertretern der Mehrheitssozialdemokratie anlastete, obgleich dieser Kurs im Rat doch ebenso von den Anhängern der USPD mitgetragen wurde. Seitens der Mehrheitssozialdemokratie wurden die Aufrufe bzw. Anordnungen des Rates jeweils von Fritz Herbert, seitens der USPD von August Horn unterzeichnet. Betrachtet man Verlauf, inhaltliche Forderungen und die personelle Zusammensetzung der unmittelbaren Novemberereignisse in Stettin, so gibt es kaum Abweichungen von den Mustern, die im Wesentlichen in anderen deutschen Großstädten zu beobachten waren. Diese Feststellung trifft im Übrigen auch auf den weiteren Fortgang zu, denn unmittelbar nach dem Ende der Hauptkundgebung begab sich der Demonstrationszug zu den Schaltstellen der Macht. Zunächst zum Polizeipräsidenten von Bötticher, danach zum Schloss der pommerschen Herzöge, dem Sitz des Oberpräsidenten von Pommern, von dort aus wiederum zum Quartier des Generalkommandos und schließlich zu Dr. Friedrich Ackermann, dem Stettiner Oberbürgermeister. Die Vertreter der alten Ordnung zeigten sich ausnahmslos bereit, mit dem Arbeiter- und Soldatenrat zu kooperieren, wenn dieser wiederum keine überzogenen Forderungen stelle. Entsprechende Anweisungen gaben sie an die nachgeordneten Behörden in Stadt und Provinz (Regierungspräsidenten und Landräte) weiter. Handlungsmaßstab auf dieser Seite, so wurde man nicht müde zu beteuern, blieb auch hier die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung. 20 Becker: Michaelis (wie Anm. 5), S. 551. 21 Volksbote vom 12. November 1918.

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Mit der Akzeptanz der neuen Ordnung entsprachen die Stettiner Regierungs- und Behördenvertreter im Großen und Ganzen der Regel, doch gab es in der Provinz durchaus Ausnahmen: So wurde etwa der Stolper Landrat Walter von der Marwitz Ende November vom dortigen Arbeiter- und Soldatenrat aus dem Amt gedrängt, nachdem er sich geweigert hatte, mit den revolutionären Kräften zu kooperieren.22 Ebenso erging es den Landräten in Greifswald Behr von Behrenhoff, in Kolberg von Gerlach sowie von Maltzahn auf Rügen.23 Am nächsten Tag, darüber herrschte Einigkeit, sollte jedenfalls die Arbeit wieder wie gewohnt aufgenommen werden. Naturgemäß werden die Ereignisse des verlängerten Revolutionswochenendes auf Seiten der Sozialdemokratie im Stettiner Volksboten als überwältigender Erfolg verbucht. Die Pommersche Tagespost setzte ihre Leser hingegen übrigens erst einen Tag später über die revolutionären Vorkommnisse in Kenntnis, wohl nicht nur aus der angeführten Papierknappheit, mit der das Blatt in diesen Tagen zu kämpfen hatte.24 Das konservative Blatt konstatierte ebenfalls einen weitgehend reibungslosen Verlauf des Generalstreikes in Stettin. Die Sorge „vieler ängstlicher Gemüter, es möchte doch zu Ausschreitung kommen“, habe sich als unbegründet erwiesen. „Hoffen wir das Beste!“, schließt der Bericht.25 Einige Tage später schien sich die Redaktion allerdings schon wieder gesammelt zu haben, indem sie zwar nach wie vor an die Leserschaft appellierte, Ruhe und Ordnung zu wahren, aber gleichzeitig andere ehemals konservative Blätter in der Provinz, namentlich die Greifswalder Zeitung sowie die in Stolp erscheinende Zeitung für Hinterpommern, für ihren Kleinmut gegenüber den revolutionären Kräften anprangerte.26 Im Übrigen stellte das Umschwenken der Greifswalder Zeitung in gleichem Maße für die Stettiner Sozialdemokratie ein Ärgernis dar, da sich die Greifswalder Genossen nicht entschließen konnten, für den Bezug des Volksboten als offiziellem Organ des Stettiner Arbeiter- und Soldatenrates zu werben. Erstaunlich ist vielmehr, dass sich rückblickend etwa auch für Michaelis ein ganz ähnliches Bild der Ereignisse ergab, freilich ohne die triumphalische Geste. In seinen Erinnerungen berichtet er von einem weitgehend reibungslosen Arrangement mit den Vertretern des Arbeiter- und Soldatenrates: Auch in Stettin brach das alte Regiment zusammen. Es bildeten sich wilde Arbeiter- und Soldatenräte, die die rote Fahne auf den öffentlichen Gebäuden aufzogen und in der Regierung auf der Hakenterrasse eine Art Hauptquartier errichteten. Eine Abordnung von etwa

22 Volksbote vom 26. November 1918. 23 Bert Becker: Verwaltung und höhere Beamtenschaft in Pommern 1918/19, in: Pommern zwischen Zäsur und Kontinuität 1918, 1933, 1945, 1989. Hrsg. von Bert Becker/Kyra T. Inachin. Schwerin 1999, S. 39 – 68, hier S. 51. 24 Pommersche Tagespost vom 12. November 1918. 25 Pommersche Tagespost vom 12. November 1918. 26 Pommersche Tagespost vom 15. November 1918.

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zwölf Männern erschien bei mir und fragte mich, ob ich die neue Regierung anerkennen und die Geschäfte weiterführen wolle.27

In Übereinstimmung mit den Leitern der Provinzialbehörden, so Michaelis, sei verabredet worden, im Interesse der Provinz so lange im Amt zu verbleiben, so lange man nicht zu ehrenrührigen Handlungen gedrängt werde. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang zudem, dass Michaelis sich in seiner Haltung ausdrücklich auf den Aufruf Eberts berief, das Land vor Bürgerkriegen zu bewahren.28 Schon in einem Rundschreiben an die Vertreter der Behörden der Provinz vom 10. November 1918 gibt Michaelis zwar zu verstehen, dass er noch keine ausdrücklichen Weisungen aus Berlin erhalten habe, verweist aber auf Zeitungsmeldungen, wonach Ebert dazu aufgerufen habe, das deutsche Volk vor Bürgerkrieg und Hungersnot zu bewahren.29 Noch vor der eigentlichen Gründung eines Arbeiter- und Soldatenrates in Stettin verpflichtet sich der Oberpräsident in dem Schreiben also, dem Tenor der Berliner Verlautbarungen Folge leisten zu wollen: Ich beabsichtige, dem Aufruf des jetzigen Reichskanzlers Folge zu leisten, und den Dienst weiter zu versehen […]. In der Zuständigkeit aller Provinzial-­Instanzen wird, ehe nicht neue Weisungen von der Zentrale kommen, nichts geändert. Ich erwarte von Ew. Hoch(wohl) geboren daß Sie in gleicher Weise Ihre Dienste dem Vaterlande zu Verfügung stellen.30

Diese staatstragende Erklärung, durch ein Weiterfunktionieren der Behörden die ordentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und die Versorgung sicherzustellen, geriet für Michaelis erst retrospektiv, kurz vor seiner Abdankung, ins Wanken, als nach einer Eingabe des Arbeiterzentralrates in Berlin Michaelis’ Ablösung gefordert und durchgesetzt wurde. Als der preußische Ministerpräsident Paul Hirsch ihm am 5. März 1919 mitteilte, den Posten des Oberpräsidenten mit einer anderen Person zu besetzen, schwingt in der Darstellung von Michaelis der Vorwurf der Undankbarkeit mit und mündet in der Überlegung, ob es nicht doch von Anfang an richtiger gewesen wäre, eine Zusammenarbeit mit den revolutionären Kräften rundweg abzulehnen und sein Amt niederzulegen.31 Nachfolger wurde schließlich Julius Lippmann, der zuvor für die DDP Mitglied der Weimarer Nationalversammlung gewesen war. Von seiner inneren Überzeugung blieb Michaelis gleichwohl ein treuer Monarchist, was sich nicht zuletzt in seiner Unterstützung für die Deutschnationalen bei den Wahlen zur Nationalversammlung niederschlug.32

27 Michaelis: Für Volk und Staat (wie Anm. 7), S. 399. 28 Pommersche Tagespost vom 12. November 1918. 29 Der Oberpräsident O. P. I. No. 13208. Stettin, den 10. November 1918. LA Greifswald (LAGw): Rep. 60 Nr. 261. 30 Ebd. 31 Michaelis: Für Volk und Staat (wie Anm. 7), S. 399 und 408. 32 Becker: Michaelis, S. 550.

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Michaelis beriet sich im Folgenden nun regelmäßig mit Vertretern des Arbeiter- und Soldatenrates. Dabei standen für ihn insbesondere Fragen nach der Demobilisierung, der Nahrungsmittelversorgung, der Aufrechterhaltung des Wirtschaftslebens sowie des Verkehrsbetriebes im Mittelpunkt, während die „Gegenseite“ dies zusicherte, sofern volle Versammlungs- und Pressefreiheit gewährt werde.33 Diese Arbeitsteilung wurde bereits bei dem ersten Aufeinandertreffen der Vertreter des Arbeiter- und Soldatenrates mit Michaelis verabredet. Michaelis gab dabei zu Protokoll, dass er, wäre der Besuch der Vertreter noch nicht erfolgt, diese selbst ersucht hätte, sich mit ihm über die genannten zentralen Aufgaben gegenseitig abzustimmen. Insbesondere seien die Vertreter der Arbeiter und Soldatenräte „ständig hinzuzuziehen, damit sie über die Art der Geschäftsführung die ihnen erwünschte Kontrolle ausübten.“ 34 Die Betonung des Begriffs „Kontrolle“ in dem Bericht verdeutlicht aber zugleich, wie sich Michaelis die Arbeitsverteilung vorstellte. Ein direktes Einwirken in die Angelegenheiten sah die Arbeitsteilung eher nicht vor, sondern lediglich eine Kontrollfunktion. Diese Auffassung bestätigte Michaelis tags darauf in einem Rundschreiben, in dem er die Landräte und Magistrate der Provinz zur Zusammenarbeit mit den örtlichen Räten aufrief und die Art der Zusammenarbeit skizzierte: Wie sich die Zusammenarbeit entwickeln wird, kann ich natürlich heute nicht voraussehen. Als wesentlich erachte ich, daß die Kompetenzen der Behörden, namentlich auch der technischen, unverändert bleiben. Die Funktionen der Behörden bleiben in ihren Händen und werden – hierin besteht die Neuerung in formeller Beziehung – unter Kontrolle der Vertreter des Arbeiter- und Soldatenrats ausgeübt.35

Um diesem Kurs auch in der Bevölkerung Wirkung zu verschaffen, bat der Oberpräsident, Einfluss auf die amtlichen und halbamtlichen Kreisblätter zu nehmen, dass die neue Politik, insbesondere die Meinungs-, Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit nicht offen in Frage zu stellen seien.36 Dieser grundsätzliche Kurs, sich gegenseitig abzustimmen und die Grundversorgung aufrechtzuerhalten, bestimmte auch die Politik der kommenden Tage und Wochen in Stettin. Dem Oberpräsidenten, dem Polizeipräsidenten sowie dem Oberbürgermeister wurden jeweils Vertreter des Arbeiter-­und Soldatenrates beigeordnet, die die Aufsicht über jene zu führen hatten. Es bildete sich ein Rat der städtischen Beamten, die sich in Übereinstimmung mit dem Oberbürgermeister Dr. Ackermann ebenfalls loyal gegenüber dem Arbeiter- und Soldatenrat erklärten.37 33 Pommersche Tagespost vom 12. November 1918. 34 Bericht über den Besuch der Abordnung des A-u-­S-Rates bei Michaelis, o. D. LAGw: Rep. 60 Nr. 261. 35 Der Oberpräsident O. P. I. J. Nr. 13228. Stettin, den 11. November 1918. LAGw: Rep. 60 Nr. 261. 36 Ebd. 37 Pommersche Tagespost vom 17. November 1918.

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Auf den nachgeordneten Ebenen der Beamtenschaft mangelte es aber offensichtlich noch ganz grundlegend an revolutionärer Einsicht, so dass sich der Arbeiter- und Soldatenrat beispielsweise veranlasst sah, einen Aufruf an die Lehrer zu erlassen, „die sich in teilweise ganz ungehöriger Weise über die neue Regierung ausgelassen haben, damit dieser Unfug aufhört.“ 38 Bei fortgesetzter Herabsetzung der amtierenden Regierung, zu der es vor allem an den höheren Schulen der Provinz gekommen sei, drohe die Entfernung aus dem Dienst.39 Ähnlichen Widerständen galt es auf dem Gebiet der Presse zu begegnen, denn trotz des Aufrufs des Oberpräsidenten an diese, sich nicht der neuen Ordnung entgegenzustellen, erschienen in den lokalen Amtsblättern der Provinz vereinzelt Artikel, in denen die Arbeit der Arbeiter- und Soldatenräte sowie die neue Reichsregierung in Frage gestellt wurden. In einem gemeinsamen Rundschreiben von Arbeiter- und Soldatenrat und Michaelis vom 16. November 1918 heißt es dazu: „Ohne in die Freiheit der Presse eingreifen zu wollen, müssen wir doch verlangen, daß die amtlichen Organe sich von jeder verletzenden Schreibweise gegen die heutige Reichsleitung freihalten.“ 40 Andernfalls sei das Vertragsverhältnis mit dem jeweiligen Blatt aufzukündigen und ein neues Amtsblatt zu suchen. Aufklärungsarbeit über die revolutionären Ziele zu leisten, sah sich aber der Rat ebenfalls gegenüber der einfachen Bevölkerung in der Pflicht, indem er einen Aufruf verfasste, in dem er klarstellte, dass auch nach dem Systemumsturz weiterhin Steuerabgaben zu leisten seien.41 In der Stadt fanden in den November- und Dezembertagen zahlreiche Diskussionsveranstaltungen zu den Zukunftsfragen der Stadt, der Provinz sowie des restlichen Reichs statt: Die Maler, Lackierer und Anstreicher Stettins waren etwa aufgerufen, neben der erweiterten Teuerungszulage auch über den Zusammenhang von „russischem Bolschewismus“ und der deutschen Revolution 42 zu diskutieren, die Sozialdemokraten luden zu

38 Volksbote vom 12. November 1918. 39 Aufruf vom 13. November 1918, der vom Oberpräsidenten an die Regierungspräsidenten zur Weiterleitung an die Schulbehörden zugestellt wurde. Volksbote vom 14. November 1918. In dem von Herbert und Horn unterzeichneten Aufruf, der über den Oberpräsidenten an die nachgeordneten Schulbehörden weitergeleitet wurde, heißt es weiter: „Wir achten jede Überzeugung, wir werden uns aber ebensowenig wie die bisherige Regierung verletzende Aeusserungen oder gar Beschimpfungen, wie sie teilweise vorgekommen sind, gefallen lassen, wir erwarten vielmehr von jedem Lehrer, dass er in sachlicher Weise Belehrung und Aufklärung über die neue Reichsregierung gibt, denn nur dadurch allein kann verhängnisvollen Wirren vorgebeugt werden und die durch den Friedensschluss kommende schwere Zeit überwunden werden. Die ihrer Lösung harrenden Aufgaben sind so gross, dass die volle Mitwirkung aller Bevölkerungsteile erforderlich ist. Wir ersuchen die Herren Lehrer sich hiernach zu richten und ihr Amt in einer Weise auszuüben, wie es den Interessen des Volkes entspricht.“ LAGw: Rep. 60 Nr. 261; Stettin, den 13. November 1918. 40 LAGw: Rep. 60 Nr. 261. 41 Volksbote vom 15. November 1918. 42 Volksbote vom 19. November 1918.

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Veranstaltungen zur Mitgestaltung der Frauen an der Republik ein.43 An einem Tag fanden allein von sozialdemokratischen Vereinen sieben Volksversammlungen in Stettin statt.44 Weiter bestimmten jedoch Fragen der Demobilisierung und – damit verbunden – der Versorgungslage den Alltag von Behörden und Arbeiter- und Soldatenrat. Die Fortschrittliche Volkspartei diskutierte die Frage, inwieweit ein Gegengewicht zu den Räten durch die Bildung von Bürgerwehren zielführend sei, es überwog aber die Auffassung, dass diese als Provokation aufgefasst werden könnten 45 – eine sicher zutreffende Einschätzung. Vielmehr konzentrierten sich die Fortschrittlichen nunmehr darauf, auf die Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung zu drängen. Wie im übrigen Reich spaltete diese Frage in Stettin Anhänger von MSPD und USPD und wurde in den öffentlichen Versammlungen dazu polemisiert, wobei sich insbesondere die schon erwähnte Herta Geffke als Vertreterin der Unabhängigen Sozialdemokratie vehement gegen die Einberufung einer Nationalversammlung aussprach.46

Der Stettiner Arbeiter- und Soldatenrat, Oberpräsident Georg Michaelis und die Räte in der Provinz Eine zentrale Aufgabe des soeben gegründeten Stettiner Arbeiter- und Soldatenrates bestand darin, die Aktivitäten und Kompetenzen der einzelnen Räte der Provinz zu koordinieren und dabei gleichzeitig der Führungsrolle des Stettiner Rats Geltung zu verschaffen. Bereits am 15. November 1918 erging in diesem Zusammenhang ein Schreiben „An die Arbeiter- und Soldatenräte der Provinz Pommern“, sich mit dem Stettiner Rat in Verbindung zu setzen. „Nur durch eine Arbeit auf einheitlicher Grundlage“, so fährt das Schreiben fort, „wird es möglich sein, den organisatorischen Aufbau der Arbeiter- und Soldatenräte in der ganzen Provinz sicherzustellen.“ 47 Zuvor hatte es vor allem seitens des Stralsunder Regierungspräsidenten immer wieder Meldungen gegeben, wonach die örtlichen Räte nicht bereit seien, die Zuständigkeit des Regierungspräsidiums Stralsund oder des Stralsunder Arbeiter- und Soldatenrates anzuerkennen. Besonders häufig bezogen sich diese Beschwerden auf die Räte im Kreis Franzburg, aber auch den Landarbeiterrat in Pruchten.48

43 Volksbote vom 21. November 1918. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 An die Arbeiter- und Soldatenräte der Provinz Pommern, Stettin, 15. November 1918. LAGw: Rep. 60 Nr. 261. 48 Auf die Besonderheit des Franzburger Rates verwies schon Wolfgang Wilhelmus: Zur Rolle der sogenannten „wilden Räte im ehemaligen Kreis Franzburg“, Sonderdruck aus: Wissenschaftliche Zeitschrift der E. M. A.-Universität Greifswald. Gesellschaftliche und sprachwissenschaftliche Reihe Nr. ½ (1958/59), S. 27 – 31.

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Bei diesen Fällen handelte es sich allerdings um wenig repräsentative Fälle. Gleichwohl bestand das Problem, dass der Stettiner Arbeiter- und Soldatenrat häufig nicht als übergeordnete Instanz anerkannt wurde. Ähnliche Berichte erreichten Michaelis auch aus Köslin.49 Die Bemerkungen zeigen aber gleichzeitig, dass auch seitens der Behörden und zum Beispiel seitens des Stralsunder Arbeiter- und Soldatenrates noch Unklarheit über die Führungsrolle des Stettiner Rates herrschte, was jedoch auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht verwundern konnte, solange auf Provinzebene keine von allen Räten gefasste Anerkennung stattgefunden hatte. Dies erfolgte erst auf der Provinzialkonferenz Ende November 1918, von der weiter unten die Rede sein wird. Einen großen Teil der Abstimmung zwischen Michaelis und den Vertretern des Arbeiter- und Soldatenrates nahm daneben die Bearbeitung von Beschwerden von Regierungspräsidenten, Landräten und Magistraten ein, die sich darin über unzulässige Eingriffe seitens der örtlichen Arbeiter- und Soldatenräte in die unmittelbaren Fragen der Versorgungslage beschwerten und auf die bloße Kontrollfunktion der Räte bestanden. Schon am 19. November 1918 rief Michaelis in einem Schreiben an die Vertreter des Stettiner Arbeiter- und Soldatenrates dazu auf, energisch gegen unrechtmäßig, d. h. nicht legitimiert arbeitende Räte einzuschreiten, zumal er sich sonst für die Zusammenarbeit der Behörden mit den Räten auf dem flachen Land eingesetzt habe.50 Die Beschwerden wandten sich zudem häufig gegen den Wunsch einzelner Räte, Vertreter in den Magistrat zu entsenden, ohne dass sie dafür ein Mandat besessen hätten. So fragte der Magistrat von Swinemünde exemplarisch für zahlreiche weitere Eingaben in einem Schreiben vom 6. Dezember bei Michaelis nach, ob er einen entsprechenden Antrag des Rates rechtmäßig zurückgewiesen habe. Im selben Schreiben weist der Magistrat auf Unstimmigkeiten zwischen der örtlichen Polizeiverwaltung und Vertretern des Rates hin, die die Polizeistunde um eine Stunde nach hinten verlegen wollten. Ebenso wies man das Ansinnen des Rates zurück, auf dem Swinemünder Rathaus die Rote Fahne zu hissen bzw. die Stadtflagge, wie bisher der Fall, mit einem roten Wimpel zu versehen.51 Zwar bestand für die Vertreter der Räte kein Recht darauf, den Magistrats- und Kreisausschusssitzungen beizuwohnen, in einem späteren Schreiben bat Michaelis in dieser Angelegenheit jedoch großzügig zu verfahren und den Räten zu erlauben, Beobachter ohne Stimmrecht zu entsenden.52 Gravierender waren und sowohl von Michaelis wie auch dem Stettiner Arbeiter- und Soldatenrat stets vehement zurückgewiesen wurden Versuche örtlicher Räte, direkt in Fragen der Versorgungs-, Verkehrs- und Sicherheitslage zu intervenieren. So listet der Landeshauptmann der Provinz Pommern, Sarnow, in einem Schreiben zahlreiche Fälle auf, in denen örtliche 49 LAGw: Rep. 60 Nr. 261. 50 Stettin, den 19. November 1918, An die Herren Vertreter des Arbeiter- und Soldatenrates beim Oberpräsidium. LAGw: Rep. 60 Nr. 261. 51 Magistrat der Stadt Swinemünde, Swinemünde, den 6. Dezember 1918. LAGw: Rep. 60 Nr. 261. 52 Der Oberpräsident an sämtliche Herren Landräte und Magistratsdirigenten der kreisfreien Städte der Provinz, Stettin, den 8. Januar 1919. LAGw: Rep. 60 Nr. 261.

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Räte versuchten, in den Betrieb der 18 pommerschen Kleinbahnen, deren Leitung dem Provinzialverband oblag, einzugreifen.53 Um das weitere Vorgehen zu koordinieren und die wichtigsten Anliegen zu definieren, berief der Stettiner Arbeiter- und Soldatenrat für den 29. November im Rathaus eine Konferenz ein, zu der alle Arbeiter- und Soldatenräte aus der gesamten Provinz jeweils zwei Vertreter entsenden sollten.54 Insgesamt zählte die Versammlung 140 Abgeordnete 55, was nicht der Zahl der Räte in der Provinz entspricht, aber damit zu erklären ist, dass die Reisekosten vom jeweiligen entsendenden Rat zu tragen waren. Auf der Tagesordnung stand neben Organisation, Aufgaben und Aufbau der Räte in der Provinz vor allem auch die Frage, welche Stellung die Abgesandten zur Wahl einer Nationalversammlung einnehmen wollten.56 Ein Neuner-­Ausschuss wurde bestimmt, der über Unstimmigkeiten zu Struktur und Aufgaben der Räte in der Provinz Richtlinien erlassen sollte und deren Einhaltung zu überwachen hatte. August Horn, der Vertreter der USPD, ermahnte die Anwesenden, nur die Aufsicht über die Behörden auszuüben, das Tagesgeschäft aber den Beamten selbst zu überlassen. Diese „Arbeitsteilung“ darf wohl als Erfahrung aus den ersten Tagen nach dem Revolutionswochenende verstanden werden, denn die mit den Verwaltungsgeschäften wenig vertrauten Vertreter der Arbeiter- und Soldatenräte zeigten sich schon mit der bloßen Masse an Aktenmaterial schlichtweg überfordert.57 In diesem Zusammenhang beklagte er zwar die nach wie vor mehrheitlich konservative Gesinnung der pommerschen Beamten, wollte aber von einer Gewissensprüfung nichts wissen, solange in der Praxis eine Bereitschaft zur Kooperation gegeben sei. Wo nicht, müsse das zu einer Verabschiedung aus dem Amt führen. Am Ende müsse es jedoch auch gelingen, die Beamten für den Geist der Revolution zu gewinnen: „An Stelle des Kapitalismus müssen wir den Sozialismus setzen!“ 58 Mit dem Verzicht auf eine Gesinnungsprüfung folgten die Konferenzteilnehmer jedoch nur einer Verordnung, die die preußische Regierung wenige Tage zuvor erlassen hatte.59 Als weitere Ergebnisse der Konferenz wurde die zentrale Rolle des Stettiner Rates trotz Widerstandes der Stargarder Vertreter bestätigt. Auf der Regionalkonferenz wurden schließlich die „Richtlinien für Arbeiter- und Soldatenräte für die Provinz Pommern“ verabschiedet, die danach nicht nur an die Vertreter der einzelnen Räte versandt wurden, sondern am 5. Dezember von Michaelis auch an die Landräte und Magistrate der kreisfreien Städte sowie an den Stettiner Polizeipräsidenten als verbindlicher Kompass für die Zusammen 53 Der Landeshauptmann der Provinz Pommern, Stettin, den 28. Dezember 1918. Betrifft: Eingreifen der örtlichen Arbeiter- und Soldatenräte in die Angelegenheiten der Kleinbahnen. LAGw: Rep. 60 Nr. 261. 54 Volksbote vom 25. November 1918. 55 Volksbote vom 30. November 1918. 56 Volksbote vom 29. November 1918. 57 Becker: Michaelis (wie Anm. 5), S. 552. 58 Volksbote vom 29. November 1918. 59 Becker: Michaelis (wie Anm. 5), S. 552.

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arbeit mit den Räten zur Kenntnis gebracht wurden.60 Die Richtlinien stellten zudem klar, dass den Räten in den Regierungsstädten Stralsund, Köslin und Stettin zwar die Überwachungsfunktion für die Arbeit der einzelnen Regierungspräsidenten zukomme, aber sie in keinem übergeordneten Verhältnis zu den übrigen Räten in ihrem Regierungsbezirk stünden. Diese Führungsrolle falle ausschließlich der Stettiner Zentrale zu. Somit waren zukünftig auch nur diejenigen Räte legitimiert, die durch die Stettiner Zentrale anerkannt worden waren. Im Übrigen fanden die Aufgaben der Räte, wie sie schon beim ersten Treffen mit Michaelis umrissen worden waren, Bestätigung.61 In der Folge wurde ein umfangreiches Verzeichnis aller durch Stettin anerkannter Räte erstellt, das von Michaelis am 9. Januar 1919 an die Landräte und Magistrate versandt wurde 62 und somit eine gewisse Klarheit schaffen konnte. Wie die oben genannten Beschwerden deutlich machen, kam es gleichwohl auch noch weit nach der Provinzialkonferenz zu häufigen Kompetenzüberschreitungen, die den Richtlinien widersprachen. Für die anstehende Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte, die vom 16. bis zum 21. Dezember in Berlin tagte, wurden aus dem Regierungsbezirk Stettin fünf Vertreter nominiert, aus Stettin selbst waren das Horn, Falkenberg und Schauer. Am Ende der Konferenz wirbt Herbert schließlich leidenschaftlich für eine Resolution über eine baldige Wahl zur Nationalversammlung mit dem Argument, man könne nicht warten, bis der letzte Landarbeiter Hinterpommerns Sozialdemokrat geworden sei.63 Trotz einer heftigen Gegenrede Horns nimmt die Konferenz die Resolution Herberts mit nur 16 Gegenstimmen schließlich an. Obwohl Horn also als Vertreter der USPD in die Reichskonferenz entsandt wurde, waren die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der MSPD in Pommern eindeutig. Noch vor der Vorverlegung des Wahltermins für die Nationalversammlung durch die Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte auf den 19. Januar hatten die pommerschen Sozialdemokraten ihren Provinzparteitag für den 22. Dezember einberufen. Aufgrund des geringen Vorlaufs wurde die Parteitagsregie kurzfristig abgeändert: Programmatische Debatten wurden zugunsten organisatorischer Fragen zu den bevorstehenden Wahlen, insbesondere der Aufstellung der Kandidatenliste, völlig zurückgestellt.64 Warnend wurden die Wahlkämpfer der in den Arbeiter-­und Soldatenräten tätigen Genossen darauf hingewiesen, Parteiamt und ihre Tätigkeit in den Räten nicht zu vermischen, was allerdings in den zurückliegenden Tagen schon mehrfach vorgefallen war.

60 Stettin, den 5. Dezember 1918. An die Herren Landräte und Magistratsdirigenten der kreisfreien Städte der Provinz und den Herrn Polizeipräsidenten hier. LAGw: Rep. 60 Nr. 261. Dem Schreiben ist ein Druck der Richtlinien als Anhang beigefügt. 61 Ebd. 62 LAGw: Rep. 60 Nr. 261. Dort finden sich auch die vollständigen Verzeichnisse für die einzelnen Regierungsbezirke. 63 Volksbote vom 30. November 1918. 64 Volksbote vom 23. Dezember 1918.

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Ende November und im Laufe des Dezembers hatte der Arbeiter- und Soldatenrat seinen Zenit vielleicht schon überschritten. Mit Gründung von DDP und vor allem DNVP reorganisierten sich die Fortschrittlichen und Deutschkonservativen und brachten sich für die anstehenden Wahlen zur Nationalversammlung in Stellung. Verklausuliert und doch deutlich trat Michaelis am 6. Dezember an den Landeshauptmann und damit Vorsitzenden des Provinzialverbandes, Johannes Sarnow, heran, um eine Wahlempfehlung für die Beamtenschaft zugunsten der DNVP abzugeben. Besonders verwies er dabei auf das Potential, das bei den bisher nicht wahlberechtigten Frauen der Provinz läge. Er appellierte an die vaterländischen und konservativen Frauenvereine, Lehrer und Pfarrer, die in ihrer Mehrheit einen Erfolg der Deutschnationalen herbeiführen sollten.65 Die besondere Bewerbung der Frauen als neue Wählerklientel durch die bürgerlichen Parteien blieb auch bei den Sozialdemokraten nicht unbemerkt und setzte entsprechende gezielte Werbeinitiativen in Gang.66 Mit 41 % für die SPD, 24 % für die DNVP sowie 21,7 % für die DDP in den Wahlen zur Nationalversammlung und einem noch viel desaströseren Ergebnis bei den Wahlen zur preußischen Landesversammlung am 26. Januar brachten die Wahlergebnisse zwar nicht die gewünschten Erfolge für die konservativ-­bürgerlichen Kräfte, dafür war aber sicher auch die Vorbereitungszeit zu kurz sowie zu viel Vertrauen in der breiten Bevölkerung verspielt worden. Die Schockstarre, in die die Vertreter der alten Ordnung nach der Novemberrevolution für kurze Zeit geraten waren, wich aber zunehmend Aktionen mit dem Ziele der Reorganisation der Strukturen. Vor allem traten sie nun wieder zunehmend selbstbewusst mit ihrem Standpunkt an die Öffentlichkeit. Zu einer brenzligen Situation kam es in Stettin am 25. Januar, als in Reaktion auf die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts ca. 3.000 Demonstranten forderten, rote Fahnen auf den Regierungsgebäuden auf halbmast zu setzen. Bereits zwei Tage zuvor ging dem ein gleichlautender Beschluss des Rates voraus. Michaelis verweigerte diese massiv vorgetragene Forderung und beurlaubte sich daraufhin selbst. Bei dem Streit handelte es sich im Wesentlichen um eine Auseinandersetzung zwischen Michaelis und dem radikalen USPD-Vertreter August Horn, bei dem Michaelis allerdings auf keine Rückendeckung durch die Mehrheitssozialisten hoffen durfte. Der Oberpräsident verweigerte die Forderung mit dem Argument, dass er dieses Mal auf die Trennung zwischen der praktischen Verwaltungsarbeit durch die Beamten und der Kontrollfunktion des Rates bestand.67 In diesem Sinne setzte Michaelis am selben Tag ein Schreiben an den preußischen Ministerpräsidenten Paul Hirsch auf, in dem er erklärte, die Grundlage seiner damaligen Bereitschaft, die Bedingungen des Arbeiter- und Soldatenrates anzunehmen, nämlich dass jene nicht gegen sein Gewissen verstießen, sei solange erschüttert, bis anstatt Horns ein gemä-

65 Becker: Michaelis (wie Anm. 5), S. 554 f. 66 Volksbote vom 11. Dezember 1918. 67 Vgl. den entsprechenden Bericht zur Weigerung von Michaelis vom 25. Januar 1919. LAGw: Rep. 60 Nr. 261.

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ßigter Vertreter der MSPD ans Oberpräsidium entsandt würde.68 Er wusste dabei die pommersche Beamtenschaft zu großen Teilen hinter sich, die am 28. Januar massenhafte Demonstrationszüge veranstaltete. Die Beamten hatten offensichtlich die Wochen seit den Novemberereignissen unter gewaltigem innerem Protest ihren Dienst für die neue Ordnung versehen und machten nun ihrem Ärger Luft. Die Intervention Michaelis’ zeitigte zunächst einen gewissen Erfolg, indem Hirsch das Verhalten des Stettiner Zentralrates rügte und es Ende Januar zu einer Einigung kam. Die Weigerung des Oberpräsidenten hatte damit mittlerweile die preußische Hauptstadt erreicht, wo der dortige Zentralrat wiederum seiner Missbilligung zu Michaelis’ Verhalten Ausdruck verlieh. Als ausschlaggebend für die Absetzung des Oberpräsidenten in Stettin erwiesen sich hingegen die nach der Wahl zur Nationalversammlung geänderten Parteienverhältnisse. Der mehr oder minder offen für die Deutschnationale Partei ergreifende Michaelis war vor diesem Hintergrund nicht länger zu halten. Pikant an diesem Ende ist zudem – die zahlreichen Wendungen kann man in der erwähnten Biographie von Bert Becker genau nachvollziehen –, dass wohl Fritz Herbert über den Berliner Zentralrat selbst ins Amt des Oberpräsidenten nachfolgen wollte. Durch seine ausgezeichneten Verbindungen ins preußische Innenministerium gelang es Michaelis jedoch, den Stettiner Zentralrat gegeneinander auszuspielen, so dass am Ende Lippmann zum Zuge kam, der zuvor als einer von zwei DDP-Kandidaten für Pommern in die Nationalversammlung gewählt worden war. Was blieb von der Revolution in Stettin? Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Schon die nächsten Wahlen zum deutschen Reichstag halbierten die Prozentzahlen für die Sozialdemokratie in Pommern. Gewinner waren neben der DVP die Deutschnationalen, die 1924 nahezu die Hälfte der Stimmen erhielten. Stettin bildete somit weiterhin eine Ausnahme in der ansonsten deutschnational dominierten Provinz: Die Ergebnisse der SPD zu den Reichstagswahlen bewegten sich bis 1932 zwischen 20 und annähernd 40 Prozent, die der USPD/KPD zwischen 14 und 17 Prozent. Dazu kam: Mit Julius Lippmann regierte bis 1930 ein liberaler Oberpräsident jüdischer Herkunft die Provinz. Friedrich Ackermann überdauerte die Umbruchszeit und verblieb, wie auch zahlreiche andere Beamte, auf dem Posten des Oberbürgermeisters bis zum Jahr 1931.

68 Becker: Michaelis (wie Anm. 5), S. 561 – 563.

Die pommerschen Oberpräsidenten der Revolutionsperiode Bert Becker

Einleitung Die Novemberrevolution 1918/19 und die Anfänge der Weimarer Republik bildeten eine einschneidende Zäsur für die staatliche Verwaltung der Provinz Pommern. Auch in der größten preußischen Agrarprovinz vollzog sich der Übergang vom monarchischen Obrigkeitsstaat zum parlamentarisch-­demokratischen Staat mit Hilfe eines weitreichenden Austausches der konservativ geprägten „politischen“ Beamten durch demokratisch gesinnte und republikfreundliche Nachfolger. Das Amt des Oberpräsidenten von Pommern wurde am 1. April 1919 mit dem gewählten Reichstags- und Landtagsabgeordneten der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), Julius Lippmann (1864 – 1934), neu besetzt. Sein Vorgänger, der monarchisch gesinnte und auch politisch konservative Oberpräsident Georg Michaelis (1857 – 1936), trat in den Ruhestand. Während das sukzessive Beamtenrevirement in der Provinz fast geräuschlos und konfliktfrei ablief, entbrannten im Frühjahr 1919 in Stettin gewalttätige Konflikte zwischen Arbeiterschaft und Militär, in denen die Verwaltung Pommerns mit Lippmann an der Spitze unmittelbar involviert wurde. Hinzu kam ein Machtkampf zwischen Agrariern und Landarbeitern im Sommer 1919 im Bezirk Stralsund. Die Versuche, Lippmann durch beleidigende Pressekampagnen und konspirative Verleumdungen aus dem Amt zu drängen, blieben letztendlich erfolglos. Offenbar waren die demokratischen Kräfte 1919 stärker, als ihre Gegner glaubten. Die manchmal verworren erscheinenden Vorgänge sollen in der folgenden Abhandlung schwerpunktmäßig aus der Sicht der Verwaltung und vor allem auf der Grundlage unveröffentlichter Protokolle und Schriftwechsel, die sich in Akten des Geheimen Staatsarchivs Preussischer Kulturbesitz (Berlin), des Bundesarchivs (Berlin) und des Staatsarchivs Stettin (Szczecin) befinden, sowie von zeitgenössischen Presseartikeln dargestellt und bewertet werden.

Georg Michaelis (1918/19): Letzter ­königlicher Oberpräsident von Pommern Im Revolutionsjahr 1918 umfasste die preußische Staatsverwaltung zwölf Oberpräsidien, 33 Regierungspräsidien, ungefähr vierhundert Landratsämter und etwa 42 staatliche Polizeidirektionen. In der Provinz Pommern war die oberste Verwaltungsebene durch das Oberpräsidium in der Hauptstadt Stettin repräsentiert, das sich im früheren Schloss der pommerschen Herzöge befand. Auf der mittleren Verwaltungsebene war Pommern in die Regierungsbezirke Stettin, Stralsund und Köslin aufgeteilt und besaß Regierungspräsidien

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in den genannten Städten. 28 Landkreise bildeten die untere Verwaltungsebene der Provinz Pommern. Sowohl der Oberpräsident, die Regierungspräsidenten als auch die Landräte zählten zur Gruppe der sogenannten politischen Beamten und waren verpflichtet, aktiv die Anschauungen der preußischen Regierung zu vertreten und die Durchführung ihrer Politik zu erleichtern. Wegen dieser Verpflichtung ihrer Beamten besaß die Verwaltung einen ausgeprägten parteipolitischen Charakter, was von der konservativen Regierung auch bewusst angestrebt wurde. Eine überparteiliche Stellung, wie man sie noch im 18. Jahrhundert fand, war seit 1849 unmöglich geworden, als infolge der Märzrevolution ein königlicher Erlass erging, nach dem Oberpräsidenten als „politische Beamte“ galten und in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden konnten. Mit dem königlichen Erlass vom 4. Januar 1882 wurden die politischen Beamten sogar verpflichtet, die Regierungspolitik besonders vor Wahlen aktiv zu vertreten und auch zu verteidigen, wenn sie Entstellungen, Irrtümer oder Verleumdungen feststellten. Fast alle politischen Beamten standen bis 1918 der Deutschkonservativen Partei nahe, die in den östlichen Agrarprovinzen Pommern, Westpreußen und Ostpreußen ihre stärkste Anhängerschaft besaß.1 Im Revolutionsjahr 1918 gehörten von zwölf preußischen Oberpräsidenten elf zum Adel – der einzig bürgerliche war derjenige von Pommern, nämlich Georg Michaelis. Als Oberpräsident der Monarchie war er ein typischer Laufbahnbeamter, der nach juristischem Studium verschiedene Stationen der inneren Verwaltung Preußens durchlaufen hatte.2 Was ihn ungewöhnlich machte, war sein vierjähriger Auslandsaufenthalt in Japan (1885 – 1889), als er als Dozent an der Rechtsabteilung der Deutschen Vereinsschule (Doitsu Kyōkai Gakkō) in Tokio gelehrt und zukünftige japanische Beamte in deutscher Jurisprudenz unterrichtet hatte.3 Nach seiner Rückkehr gelangen ihm der ersehnte Wechsel vom

1 Grundlegend zur Verwaltungsgeschichte der Provinz Pommern: Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815 – 1945, Reihe A: Preußen, Bd. 3: Pommern, bearb. von D. Stüttgen. Marburg/Lahn 1975; G.-C. von Unruh: Provinz Pommern, in: Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands 1815 – 1945. Organisation – Aufgaben – Leistungen der Verwaltung. Hrsg. von G. Heinrich u. a. Stuttgart 1992, S. 589 – 676; H. Fenske: Die Verwaltung Pommerns 1815 – 1945. Aufbau und Ertrag. Köln 1993. Grundlegend zu den politischen Beamten Preußens: F. Hartung: Studien zur Geschichte der preußischen Verwaltung, Teil 2: Das 19. Jahrhundert, in: ders.: Staatsbildende Kräfte der Neuzeit. Gesammelte Aufsätze. Berlin 1961, S. 248 – 275; H. Fenske: Preußische Beamtenpolitik vor 1918, in: Der Staat, Bd. 12, H. 3, 1973, S. 339 – 356; H. Hattenhauer (Bearb.): Geschichte des deutschen Beamtentums. Köln 21993, S. 245. 2 G. Michaelis: Für Staat und Volk. Eine Lebensgeschichte. Berlin 11921, 21922. Eine umfassende Darstellung zu Michaelis’ Leben und Wirken bietet die auf Grundlage meiner Habilitationsschrift (Georg Michaelis, 1857 – 1936. Eine Beamtenbiographie. Universität Rostock 2004) veröffentlichte Studie: B. Becker: Georg Michaelis. Preußischer Beamter, Reichskanzler, Christlicher Reformer 1857 – 1936. Eine Biographie. Paderborn 2007. 3 Georg Michaelis. Ein preußischer Jurist im Japan der Meiji-­Zeit. Briefe, Tagebuchnotizen, Dokumente 1885 – 1889. Hrsg. von B. Becker: München 2001; B. Becker: Der preußische Jurist Georg Michaelis in Japan (1885 – 1889), in: Japan und Preußen. Hrsg. von G. Krebs, München 2002, S. 209 – 232.

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preußischen Justiz- zum Verwaltungsdienst und ein Karriereweg als politischer Beamter, welcher ihn über die Rheinprovinz, Westfalen und Schlesien als Unterstaatssekretär ins preußische Finanzministerium führte. In dieser Funktion übernahm Michaelis wichtige Nebenämter in der deutschen Kriegswirtschaft, zuerst als Vorsitzender des Aufsichtsrats der Kriegsgetreide-­Gesellschaft, dann als Vorsitzender des Direktoriums der Reichsgetreidestelle und schließlich als Preußischer Staatskommissar für Volksernährung. Die glücklose Amtszeit von nur vierzehn Wochen als Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident und Minister des Auswärtigen im Kriegsjahr 1917 überschattete Michaelis’ bis dahin erfolgreiches Wirken und ließ auch seine zahlreichen sozialreformerischen Aktivitäten, die er nebenamtlich aus tiefer christlicher Gesinnung betrieb, in Vergessenheit geraten. Ungewöhnlich war, dass er als ehemaliger Kanzler und Ministerpräsident seine berufliche Karriere noch mit dem Amt eines Oberpräsidenten abschließen konnte. In Pommern kümmerte Michaelis sich 1918/19 vorrangig um die Wirtschafts- und Sozialpolitik und entwickelte in diesen Bereichen neue und nachhaltig wirkende Projekte.4 Beim Ausbruch der Novemberrevolution, als der neue Reichskanzler Friedrich Ebert (SPD) am 9. November 1918 Behörden und Beamte zur Weiterarbeit unter der Revolutionsregierung aufrief, stellte Michaelis sich auf den Boden der Tatsachen. Telegrafisch wurden die pommerschen Regierungspräsidenten und Landräte aufgefordert, in ihren Ämtern zu bleiben, solange keine unehrenhaften Zumutungen an sie gestellt würden. Von Stettin aus beobachtete der Oberpräsident, dass die für ihn zuständige Behörde, das preußische Innenministerium, am 13. November 1918 mit je einem Mitglied der gemäßigten Mehrheits-­SPD (MSPD), Paul Hirsch, der gleichzeitig preußischer Regierungschef war, und der radikaleren Unabhängigen SPD (USPD), Rudolf Breitscheid, besetzt wurde. Nachdem am 4. Januar 1919 die USPD aus dem preußischen Revolutions-­Kabinett ausgetreten war, blieb Hirsch für fast drei Monate für das Innenressort allein zuständig. Er ergriff praktisch keine Initiativen zum Austausch der politischen Beamten, um jede Störung der Verwaltungsabläufe zu vermeiden. Deshalb blieb die preußische Personalpolitik noch fünf Monate nach



4 Zu Michaelis’ Wirken als Oberpräsident von Pommern vom 1. 4. 1918 bis 31. 3. 1919: Michaelis, S. 385 – 409 (Kap. 16: Pommern 1918 – 1919); H. Branig: Die Oberpräsidenten der Provinz Pommern, in: Baltische Studien, N. F., Bd. 46, 1959, S. 92 – 107 (Michaelis, S. 103 f.); B. Becker: Pommerscher Separatismus 1918/19, in: Baltische Studien, N. F., Bd. 84, 1998, S. 72 – 84; ders.: Verwaltung und höhere Beamtenschaft in Pommern 1918/19, in: Pommern zwischen Zäsur und Kontinuität 1918, 1933, 1945, 1989. Hrsg. von B. Becker/K. T. Inachin, Schwerin 1999, S. 39 – 68; B. Becker: Revolution und rechte Sammlung. Die Deutschnationale Volkspartei in Pommern 1918/19, in: Geist und Gestalt im historischen Wandel. Facetten deutscher und europäischer Geschichte 1789 – 1989. Festschrift für Siegfried Bahne. Hrsg. von B. Becker/H. Lademacher, Münster 2000, S. 211 – 230; B. Becker: Michaelis, Max Ludwig Georg, in: Biographisches Lexikon für Pommern, Bd. 2. Hrsg. von D. Alvermann/N. Jörn. Köln 2015, S. 175 – 179.

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der Novemberrevolution praktisch unverändert und ermöglichte den Spitzenbeamten der Monarchie – darunter auch Michaelis –, vorläufig im Amt zu bleiben.5 Wie Michaelis in seinen Privatbriefen und später in der Autobiographie Für Staat und Volk schrieb, entwickelte seine Zusammenarbeit mit dem Stettiner Arbeiter- und Soldatenrat sich recht harmonisch.6 Eine solche Tolerierung und Kooperationswilligkeit lag in beiderseitigem Interesse, um ein befürchtetes politisches und wirtschaftliches Chaos zu verhindern und vor allem die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Selbstverständlich hofften Michaelis und die meisten pommerschen Beamten, dass die revolutionären Zustände spätestens nach den Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung enden würden. Im Wahlkampf 1918/19 unterstützten die politischen Beamten Pommerns mehr oder weniger verdeckt die Nachfolger der früheren Deutschkonservativen Partei und der kurzlebigen Deutschen Vaterlandspartei, nämlich die Kandidaten der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Dass Michaelis’ Tolerierungspolitik gegenüber den Revolutionären der Provinz ihre Grenzen hatte, zeigte der Oberpräsident unmittelbar nach der Ermordung der beiden führenden Persönlichkeiten der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, am 25. Januar 1919 in Berlin. Als er vom Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte Pommerns gezwungen wurde, anlässlich eines Demonstrationszuges durch die Stettiner Innenstadt rote Fahnen auf den Verwaltungsgebäuden aufziehen zu lassen, beurlaubte er sich selbst und drohte mit dem Rücktritt vieler Landräte. Die nachfolgenden Solidaritätsdemonstrationen von Beamten, die das Handeln von Michaelis unterstützten, machten in Berlin klar, dass eine Kooperation mit den alten Kräften nur auf Zeit möglich war. Anfang Februar 1919 fasste der Zentralrat in Berlin den Beschluss, „entschieden das Verhalten des Oberpräsidenten Dr. Michaelis in Stettin“ zu missbilligen.7 Angesichts dieser Kritik suchte Michaelis die Unterstützung des Innenministeriums und sandte einen Bericht über die Vorgänge an Dr. Wilhelm Kutscher, Unterstaatssekretär und Personalreferent im Innenressort.8 In seinem Begleitbrief mahnte er: „Mir ist’s ja bisher im All 5 W. Runge: Politik und Beamtentum im Parteienstaat. Die Demokratisierung der politischen Beamten in Preußen zwischen 1918 und 1933. Stuttgart 1965, S. 60 f. 6 Michaelis, S. 399 – 404. Die meisten Privatbriefe von Michaelis, besonders die an seine Geschwisterfamilien regelmäßig versandten sogenannten „Rundbriefe“, haben sich für die Zeit von 1900 bis 1925 im Original erhalten. Sie wurden von seiner zweitjüngsten Tochter Eva (1904 – 1994) fast vollständig transkribiert und 1974 als kommentiertes Typoskript innerhalb der Familie verteilt. Ein Exemplar befindet sich im Besitz des Bundesarchivs. – E. Schlingensiepen: Georg Michaelis 1857 – 1936. Ein Lebensbild. Zusammengesetzt für alle seine Nachkommen. o. O. [1974]. 7 Geheimes Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz, Berlin (nachfolgend: GStA PK): I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 3, Bd. 2: Max Cohn, Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik (Berlin), an den Rat der Volksbeauftragten (Berlin), 3. 2. 1919. 8 Wilhelm Kutscher (1876 – 1962) war 1907 – 1914 Landrat in Lauenburg (Pommern), 1914 – 1919 Vortragender Rat im preußischen Innenministerium, 1919 – 1922 Regierungspräsident in Hildesheim, 1923 – 1932 Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Deutschen Landwirtschaftsrats

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gemeinen geglückt, durch die Klippen hindurchzufahren. Nun müsste aber nach meiner Meinung das Ministerium in der jetzigen Situation mir helfen.“ 9 Er bat um „schleunigste Behandlung“, eine Entscheidung in seinem Sinne und telegrafische Benachrichtigung. Außerdem verlangte er die Einschränkung der Kontrolltätigkeit eines radikalen Stettiner Rätemitglieds. Kutscher handelte ganz in Michaelis’ Sinn, als er in einem internen Schreiben an den Minister vor einer Ablösung des Oberpräsidenten warnte: Ich glaube, die Verwaltungsbeamten in der Provinz Pommern so weit zu kennen, dass ich voraussagen kann, dass die Besetzung des Stettiner Oberpräsidentenpostens – mit seiner für die ganze Provinz konzentrierten Kriegswirtschaft – mit einer nicht in Verwaltungsangelegenheiten erfahrenen Persönlichkeit ohne überragende Fähigkeiten zu einer Diensteinstellung der Beamten in weitem Umfange führen würde.

Er halte sich für verpflichtet, „auf die schweren Bedenken, die ein solcher Schritt in dem überwiegenden Teil der pommerschen Bevölkerung auslösen“ werde, erneut aufmerksam zu machen. Kutscher wies auch auf die möglichen Folgen hin: Die pommerschen Landräte sind gewiß königstreue Männer, und als solche sicher zum großen Teile auf die Dauer weder gewünscht, noch gewillt, länger als nötig im Amte zu bleiben. Aber sie sind feste Stützen der Ordnung gewesen, auch in den letzten Monaten; sie haben – und zwar lange Zeit hindurch mit vorbildlichem Diensteifer – die Kriegswirtschaft im Gange gehalten. Sie sind auf diesem Gebiet nicht zu ersetzen. Schon der Abgang des Oberpräsidenten, dem der Oberpräsidialrat [Stellvertreter des Oberpräsidenten, damals ein Beamter namens Bartels] zweifellos folgen wird, wird das Gebäude der pommerschen Kriegswirtschaft schwer erschüttern; die Wahl eines nicht qualifizierten Nachfolgers vor dem Zusammentritt der [Verfassunggebenden Preußischen] Landesversammlung [am 13. März 1919] würde es zum Einsturz bringen.10

Innenminister Hirsch entschied sich für einen Mittelweg in der Sache und teilte Michaelis am 15. Februar 1919 mit, sein Ministerium sei „nicht in der Lage, weiteres in der Angelegenheit zu veranlassen.“ 11 Der Ressortchef stand zweifellos unter dem Eindruck einer Resolution des Zentralrats, die nur wenige Tage zuvor, am 11. Februar 1919, verabschiedet worden war. Darin wurde eindringlich gefordert, und 1932/33 Oberpräsident von Ostpreußen. Laut Runge (S. 61) galt Kutscher als der „konservative Fanatiker“ im preußischen Innenministerium. 9 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 3, Bd. 2: Oberpräsident Georg Michaelis (Stettin) an Unterstaatssekretär Dr. Wilhelm Kutscher (Berlin), 9. 2. 1919. 10 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 3, Bd. 2: Interner Briefentwurf von Wilhelm Kutscher an Innenminister Paul Hirsch, 14. 2. 1919. 11 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 3, Bd. 2: Innenminister Paul Hirsch (Berlin) an Oberpräsident Georg Michaelis (Stettin), 15. 2. 1919.

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dass die Verwaltungsbeamten der alten Richtung wie Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten, Landräte usw. möglichst und schnellstens durch sozialistisch und demokratisch denkende Personen ersetzt werden, damit nicht durch die Verwaltung im alten reaktionären Sinne der demokratische Wille des preußischen Volkes durchkreuzt wird.12

Damit war die sogenannte Demokratisierung der Verwaltung durch das Revolutionskabinett Hirsch eingeläutet. Eine Verordnung der preußischen Regierung vom 26. Februar 1919 bestätigte das weitergeltende Recht, politische Beamte in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen. Darüber hinaus eröffnete das Dekret allen Staatsbeamten mit einer Dienstzeit von mindestens zehn Jahren die Möglichkeit, wegen der „Umgestaltung des Staatswesens“ bis zum 31. Dezember 1920 freiwillig in den Ruhestand zu treten. Es genügte, sich auf seine konservative Gesinnung zu berufen und zu erklären, ein Verbleiben im Dienst sei mit dem Gewissen nicht zu vereinbaren.13 Bereits am Folgetag ließ Kutscher den pommerschen Oberpräsidenten in einem vertraulichen Schreiben wissen, das Innenministerium wolle vorläufig in seiner Sache nichts tun, und die Regierung werde schweigen.14 Das Angebot des Ministeriums, einen schonenden Abschied nach einem Urlaub zu nehmen, lehnte Michaelis ab. Stattdessen forderte er seine offizielle Entlassung, um zu zeigen, wer dafür die Verantwortung trug. Dadurch war Hirsch gezwungen, Michaelis am 5. März 1919 formal in Kenntnis zu setzen, „dass die provisorische Regierung in Aussicht genommen hat, zum 1. April d. J. [des Jahres 1919] eine andere Besetzung des Oberpräsidiums in Stettin eintreten zu lassen“.15 Seine Sicht auf diese Entwicklung teilte Michaelis am 23. März 1919 seinen Geschwistern in einem Privatschreiben mit: Das ist wahrscheinlich der letzte Brief aus Stettin. Schneller, als wie ich noch im vorigen Brief schrieb, hat sich das Schicksal vollzogen. In Berlin hat man beschlossen, mit den Oberpräsidenten beginnend, die Verwaltung zu demokratisieren. Dass ich mich nicht auf ihre Politik einstellen kann, wußten sie, und ich hab‘[s] auch, trotz meines Zusammenarbeitens mit dem A. u. S. Rat [Arbeiter- und Soldatenrat] bis zu den Grenzen des Möglichen, stets von neuem betont. Sie wollten mich schonend abschieben. Ich sollte erst Urlaub nehmen, dann so gewissermaßen leise die Tür hinter mir zumachen. Aber das habe ich von mir gewiesen und gefordert, sie sollten mir einen klippen und klaren Brief schreiben, dass sie mich zu entlassen wünschten, – sonst ginge ich nicht, denn vor der Provinz könne ich das nicht verantworten. Daraufhin haben sie ihre Absicht klar zu erkennen gegeben. Die 12 Resolution des Zentralrats der deutschen sozialistischen Republik, 11. 2. 1919, zit. nach Runge, S. 20, Anm. 24. 13 Preussische Gesetzsammlung 1919, S. 23 – 25. Siehe auch Runge, S. 57. 14 Bundesarchiv, Abteilung Berlin-­Lichterfelde (nachfolgend: BAB), N 1283: Nachlass Georg Michaelis, Nr. 104: Wilhelm Kutscher (Berlin) an Georg Michaelis (Stettin), 27. 2. 1919. 15 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 3, Bd. 2: Innenminister Paul Hirsch (Berlin) an Oberpräsident Georg Michaelis (Stettin), 5. 3. 1919.

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schroffe Form habe ich also selbst extrahiert; sie ist keine Schuld der Regierung. Ihre Schuld bleibt, dass sie in der Zeit höchster Not eine für die Versorgung des Reichs sehr wichtige Provinz ihres eingearbeiteten und auch von den Sozialdemokraten der Provinz anerkannten Führers berauben, bloß um ihre sozialdemokratischen und demokratischen Genossen an’s Ruder und in gutdotierte Stellen zu bringen. Nachfolger wird wahrscheinlich der hiesige Justizrat Lippmann, Rechtsanwalt, freisinniger Abgeordneter [Abgeordneter der Freisinnigen Vereinigung im Preußischen Abgeordnetenhaus von 1908 bis 1910], jüdischer Abkunft. Er ist an sich ein anständiger Mann, paßt aber natürlich für Pommern gar nicht, und wie sich nun der Kampf zwischen Land und Stadt gestalten wird, der im Stillen dumpf brodelt, kann niemand wissen.16

Am 30. März 1919 kommentierte Oberpräsident Michaelis in seinem Abschiedsschreiben an die pommerschen Regierungspräsidenten und Landräte das geplante Beamtenrevirement in der Provinz. Für seinen Amtsnachfolger Julius Lippmann, den er persönlich getroffen hatte, legte er dabei ein gutes Wort ein: Da ich heute meine Amtsgeschäfte niederlege, möchte ich Ihnen noch einmal herzlich Lebewohl sagen. Ich danke Ihnen für Ihre treue Mitarbeit in schwerster Zeit. Nichts ist schwerer, als mit halbem oder auch direkt widerstrebendem Herzen seine Pflicht erfüllen zu müssen. Die Liebe zum Vaterland hat uns darüber hinweggeholfen. Ich bitte Sie noch einmal dringend, auszuharren bis an die Grenze der inneren und äußeren Möglichkeiten. Erst wenn diese überschritten ist, können wir mit gutem Gewissen scheiden. Ich höre leider, dass für einige von Ihnen – ich weiß nicht wer, – die Stunde des Scheidens auch in nächster Zukunft schlagen soll. Es sollen diejenigen abgesägt werden, die nach Meinung der Berliner Zentralstellen die Vornahme der Gemeindewahlen [die Kommunalwahlen in freier und gleicher Wahl im Februar 1919] verzögert haben. Und ich erfahre ferner, dass als Nachfolger auch Leute radikaler Richtung in Aussicht genommen sind. Was daraus sich entwickeln soll, ist schwer abzusehen. Ich möchte dabei hervorheben, dass meinem Nachfolger Justizrat Lippmann dies Revirement sehr peinlich ist. Es hat mit ihm nichts zu tun; im Gegenteil, er fürchtet, dass man es ihm zur Last legen wird und dass ihm daraus von vornherein eine schwere Gegnerschaft in der Provinz in rechtsgerichteten Kreisen erwachsen wird. – Er wird selbstverständlich mit Opposition in der Provinz zu rechnen haben, aber ich möchte durch meine Mitteilung doch erreichen, dass ihm nicht zu Unrecht Maßnahmen untergeschoben werden, für die er nicht verantwortlich ist. Ich bitte, mich in gutem Gedächtnis zu behalten; auf Wiedersehen, so Gott will, in besseren Tagen!17

16 Familienbesitz Michaelis: Rundbrief von Georg Michaelis (Stettin), 23. 3. 1919. Siehe auch Schlingensiepen, S. 432. 17 BAB: N 1283, Nr. 107: Oberpräsident Georg Michaelis (Stettin) an die Landräte und Regierungspräsidenten der Provinz, 31. 3. 1919.

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Julius Lippmann: preußischer Politiker für Pommern (1908 – 1919) Über Julius Lippmann liegt keine umfassende biographische Studie vor, und auch in der pommerschen Geschichtsschreibung fand der erste republikanische Oberpräsident trotz seiner elfjährigen Amtszeit an der Spitze der Provinz bislang kaum Beachtung. Deshalb soll im Folgenden auf der Grundlage vorhandener Darstellungen und hier zusätzlich ausgewerteter Archivmaterialien und anderer zeitgenössischer Quellen ein kurzes Lebensbild von Lippmann bis zu seiner Berufung ins Oberpräsidentenamt entworfen werden.18 Julius Lippmann wurde am 27. Dezember 1864 in Danzig (Provinz Preußen, später Westpreußen) geboren. Seine Eltern waren der Kantor Michael Georg Lippmann und dessen Ehefrau Rosalie Lippmann, geborene Kokoski. Weil es Kantoren sowohl im Christentum als auch im Judentum gibt und die 1893 ausgestellte Heiratsurkunde von Julius Lippmann ihm attestiert „mosaischer Religion“ zu sein,19 ist davon auszugehen, dass sein Vater Kantor (hebräisch: Chasan), also der Vorbeter in der Synagoge einer jüdischen Gemeinde war. In Danzig besuchte Julius Lippmann von 1873 bis 1881 das Städtische Gymnasium und legte dort zu Ostern das Abitur ab. Anschließend studierte er im Wintersemester 1881 an der Friedrich-­Wilhelms-­Universität (seit 1949: Humboldt-­Universität zu Berlin) Klassische Philologie und hörte dabei auch Vorlesungen des bekannten Historikers Heinrich von Treitschke über Politik und zur englischen Geschichte. Zum Sommersemester 1882 wechselte Lippmann aus nicht bekannten Gründen sein Studienfach und nahm das Studium der Rechtswissenschaft auf. Für die Ablegung der ersten juristischen Staatsprüfung war ein mindestens dreijähriges Studium vorgeschrieben, welches Lippmann auch in genau sechs Semestern absolvierte, weil möglicherweise finanzielle Gründe ausschlaggebend waren. Laut Abgangszeugnis waren ihm 417 Mark an Kollegienhonoraren während seines 18 Zu Lippmanns Leben und Wirken liegen knappe biographische Abhandlungen vor, die teilweise auch seine Amtszeit als Oberpräsident von Pommern vom 1. 4. 1919 bis 31. 3. 1930 behandeln. Siehe Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft, Bd. 2. Berlin 1931, S. 1137; Branig: Die Oberpräsidenten der Provinz Pommern, S. 104 f.; ders.: Pommern als Grenzland in der Zeit der Weimarer Republik, in: Die deutschen Ostgebiete zur Zeit der Weimarer Republik. Köln 1966, S. 133 – 149; S. Kaznelson (Hrsg.): Juden im deutschen Kulturbereich, 3. Ausgabe. Berlin 1962, S. 570; E. Hamburger: Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1848 – 1918. Tübingen 1968, S. 375 f.; E. G. Lowenthal: Juden in Preußen. Biographisches Verzeichnis. Ein repräsentativer Querschnitt, Berlin 21982, S.141; K. Schwabe (Hg.), Die preußischen Oberpräsidenten 1815 – 1945, Boppard am Rhein 1985, S. 329 (sehr knapper Eintrag); H. Neubach: Jüdische Politiker aus und in Pommern, in: M. Heitmann/J. H. Schoeps (Hrsg.): „Halte fern dem ganzen Lande jedes Verderben …“. Geschichte und Kultur der Juden in Pommern. Hildesheim 1995, S. 345 – 347; W. Buchholz (Hrsg.): Lexikon Greifswalder Hochschullehrer 1775 bis 2006, Bd. 3: Lexikon Greifswalder Hochschullehrer 1907 bis 1932. Bearb. von M. Welker. Bad Honnef 2004, S. 144; H. Dvorak: Biographisches Lexikon der Deutschen Burschenschaft, Bd. 1: Politiker. Teilband 8, Hrsg. von K. Oldenhage. Heidelberg 2014, S. 32 f. 19 Landesarchiv Berlin: Standesamt Stettin, S Rep. 100, Nr. 5224, HU 1092/1893.

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Studiums gestundet worden. Am 10. Dezember 1885 ließ Lippmann sich von der Universität exmatrikulieren.20 1886 wurde Lippmann in Berlin zum Gerichtsreferendar ernannt und wird an Staatsanwaltschaften und Gerichten sowie in einer Rechtsanwaltspraxis praktische Einblicke in das preußische Justizwesen erhalten haben. Nachdem er 1891 die große juristische Staatsprüfung bestanden hatte, erfolgte seine Ernennung zum Gerichtsassessor. Wegen der damals schlechten Berufsaussichten – seit Ende der 1880er-­Jahre mussten Assessoren im Durchschnitt fünf bis sechs Jahre auf eine Planstelle im Justizwesen warten – und weil Beamtenkarrieren für akademisch ausgebildete jüdische Bewerber ohnehin schwer zugänglich waren, wird Lippmann sich für den freien Beruf eines Anwalts entschieden haben.21 Am 6. Februar 1892 wurde Lippmann als Rechtsanwalt beim Landgericht I Berlin zugelassen. Die Tätigkeit der Rechtsanwälte erstreckte sich vor Gericht auf die Prozessvertretung und auf die Rechtsverteidigung. Was ihn bewog, nur wenig später nach Pommern zu gehen – am 14. Juni 1892 wurde er als Rechtsanwalt beim Oberlandesgericht Stettin zugelassen –,22 ist nicht mehr bekannt, doch könnten private Gründe eine Rolle gespielt haben. Am 28. Dezember 1893 heiratete er in Stettin die sieben Jahre jüngere Margarete Werner, laut Heiratsurkunde ebenfalls mosaischer Religion, deren Vater als Rechtsanwalt in der pommerschen Hauptstadt tätig war und den Ehrentitel eines Justizrats trug.23 Seit 1900 war Lippmann Mitglied der Stadtverordnetenversammlung von Stettin und erwarb erste politische Erfahrungen auf kommunaler Ebene. Im Juni 1908 trat er bei den Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus (Landtag) im Wahlkreis Stettin 3 als Kandidat der linksliberalen Freisinnigen Vereinigung an. Der Wahlkreis, der den Stadtkreis Stettin umfasste, stellte einen Abgeordneten und war seit 1867 durchgehend von Linksliberalen 20 Humboldt-­Universität zu Berlin, Universitätsarchiv: Studentenliste 19. 10. 1878 – ​ 12. 10. 1883; Matrikelbuch 1880 – 1883; Abgangszeugnisse 1885. 21 T. Kolbeck: Juristenschwemmen. Untersuchungen über den juristischen Arbeitsmarkt im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1978, S. 83 und 116 f.; T. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1998, S. 400. 22 Als Rechtsanwalt beim Oberlandesgericht Stettin war Lippmann vom 6. 2. 1892 bis 24. 3. 1919 zugelassen. – GStA PK: I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 3, Bd. 2: Preußische Staatsregierung (Berlin) an Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin), August 1919 [Mitteilung über ruhegehaltsfähige Dienstzeit]. 23 Margarete Werner wurde 1871 in der ostpreußischen Kleinstadt Mohrungen geboren. Ihre Eltern, Justizrat Oscar Werner und Elise Werner, geborene Rosenstein, lebten zum Zeitpunkt der Hochzeit (28. 12. 1893) in Stettin, Königsplatz 18. Als Trauzeugen erschienen die beiden Kaufleute Max Stahlberg aus Gießen und Siegmund Rosenstein aus Berlin. – Landesarchiv Berlin: Standesamt Stettin, S Rep. 100, Nr. 5224, HU 1092/1893. Aus der Ehe ging ein Sohn, Werner O. Lippmann, hervor, der später als Nervenfacharzt in Stettin praktizierte, vor 1940 mit seiner Frau und beiden Töchtern in die USA emigrierte und zuerst in Detroit (Michigan) und zuletzt in Alberta (Maine) lebte. – Stettiner Adreßbuch (Stettin und Umgebung) für das Jahr 1937, Stettin 1936; US Department of Commerce – Bureau of the Census: Sixteenth Census of the United States: 1940, Detroit City, Michigan; Hamburger, S. 376.

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erobert worden.24 Die Freisinnige Vereinigung war 1893 aus der Spaltung der Deutschen Freisinnigen Partei hervorgegangen und versammelte bei ihrem konstituierenden Parteitag besonders Akademiker, Journalisten, Rechtsanwälte und Intellektuelle (42,2 %), Unternehmer und Kaufleute aus den Küstenstädten (37,4 %), aber auch Kommunalpolitiker und Angestellte (17,5 %) sowie Geistliche und Handwerker (2,9 %). Bei den Landtagswahlen 1898 erreichte die Partei ihr bestes Ergebnis und zog mit zwölf Abgeordneten in das Parlament ein. Der Anschluss des Nationalsozialen Vereins um Friedrich Naumann an die Freisinnige Vereinigung führte seit 1903 zu einer stärkeren sozialen Ausrichtung ihres politischen Profils. Bei den Wahlen 1908 konnte sie acht Abgeordnete nach Berlin entsenden, darunter Lippmann, der sich mit 505 Wahlmännerstimmen gegen seinen Konkurrenten, den sozialdemokratischen Stettiner Buchdruckereibesitzer Fritz Herbert, der 231 Stimmen erhielt, durchgesetzt hatte. Da Lippmann im Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus von 1908 als „Hospitant“ der Freisinnigen Vereinigung aufgeführt wird, gehörte er zunächst nicht der Fraktion der Partei an, sondern stand ihr nur nahe. Unter den insgesamt 443 Abgeordneten besaß die Freisinnige Vereinigung aber nur den Rang einer Splitterpartei. Von insgesamt 26 in Pommern gewählten Abgeordneten war Lippmann der einzige des linken Parteienspektrums, alle anderen pommerschen Mandatsträger waren Konservative. Weil Lippmanns Religionszugehörigkeit im zitierten Handbuch als „evangelisch“ angegeben wurde, hatte seine Konversion vom jüdischen zum christlichen Glauben zu einem nicht mehr bekannten Zeitpunkt zwischen 1893 und 1908 stattgefunden.25

24 Das Abgeordnetenhausmandat des Wahlkreises 67 (Stettin 3: Stettin) besaß von 1867 bis 1887 der Stettiner Oberlehrer Theodor Schmidt (1817 – 1887). Von 1871 bis 1878 war Schmidt auch linksliberaler Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis Stettin-­Stadt, trat aber 1874 aus der Fraktion der Deutschen Fortschrittspartei aus. Schmidt verfasste wirtschaftlich-­landeskundliche Studien zu Pommern, u. a. über das Zuchthaus in Naugard (1852) und zur Geschichte der Stettiner Schiffahrt unter Friedrich dem Großen (1858). Außerdem redigierte er die Zeitschrift Baltische Studien der Gesellschaft für pommersche Geschichte und Altertumskunde. Nach Schmidts Tod übernahm der Volkswirt Max Broemel (1846 – 1925) das linksliberale Abgeordnetenhausmandat, das er bis 1908 innehatte. Broemel war von 1872 bis 1879 als Sekretär der Kaufmannschaft in Stettin und von 1879 bis 1899 als Generalsekretär des Vereins zur Förderung der Handelsfreiheit in Berlin tätig. Er verfasste mehrere volkswirtschaftliche Schriften und war Herausgeber der Zeitschrift Freihandels-­Correspondenz. Den Wahlkreis Stettin-­Stadt vertrat er als linksliberaler Reichstagsabgeordneter von 1884 bis 1893 und von 1898 bis 1903. Außerdem war Broemel von 1874 bis 1879 Stadtverordneter von Stettin und von 1886 bis 1889 von Berlin. – B. Mann (Bearb.): Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus 1867 – 1918. Düsseldorf 1988, S. 86, Nr. 273 (Broemel) und S. 344, Nr. 2038 (Schmidt); T. Kühne: Handbuch der Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus 1867 – 1918: Wahlergebnisse, Wahlbündnisse und Wahlkandidaten. Düsseldorf 1994, S. 243 f. (Wahlkreis 67, Stettin 3: Stettin); D. Lucht: Die Provinz in Daten und Fakten, in: Deutsche Geschichte im Osten Europas: Pommern. Hrsg. von W. Buchholz: Berlin 1999, S. 440. 25 L. Elm: Freisinnige Vereinigung (FvG) 1893 – 1910, in: Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 2. Hrsg. von D. Fricke. Leipzig 1984, S. 682 – 693; Handbuch für das Preussische Abge-

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1909 zählte die Freisinnige Vereinigung nur rund neuntausend Mitglieder, womit ihr Ziel, zu einer Volkspartei zu werden, nicht erreicht wurde. Im März 1910 fusionierte sie mit zwei anderen linksliberalen Parteien zur Fortschrittlichen Volkspartei (FVP). Bei den Landtagswahlen im Juni 1913 konnte die FVP insgesamt 40 Mandate erringen, von denen lediglich eines in Pommern gewonnen wurde, nämlich in Stettin durch Lippmann, der sich mit 566 Stimmen erneut gegen seinen SPD-Konkurrenten Herbert, der 234 Stimmen bekam, durchsetzen konnte. Nach Einschätzung des Historikers Helmut Neubach war Lippmann durch sein doppeltes Mandat als Stettiner Kommunalpolitiker und als pommerscher Abgeordneter im Preußischen Abgeordnetenhaus „gewiß der einflußreichste liberale Politiker nicht nur in Stettin, sondern auch in der gesamten Provinz“.26 Im Preußischen Abgeordnetenhaus erwies Lippmann sich als Experte für wasserrechtliche Fragen und wurde Mitglied der Kommission für das preußische Wassergesetz, in der die Vereinheitlichung des Wasserrechts beraten wurde. Am 7. April 1913 trat das preußische Wassergesetz in Kraft. Auf staatlicher Ebene wurde er als Mitglied des Wasserstraßenbeirats für den Großschifffahrtsweg Berlin-­Stettin und als stellvertretendes Mitglied des Gesamtwasserstraßenbeirats tätig.27 Darüber hinaus befasste Lippmann sich mit Landwirtschaft und Fischerei und nahm Stellung zu Schulfragen und anderen gesellschaftspolitischen Themen. „Obwohl getauft,“ habe er sich nicht gescheut, „antisemitische Praktiken ans Licht zu ziehen“, schrieb Ernest Hamburger. Kritisiert habe Lippmann „den Ausschluß der Juden von der höheren Verwaltung und die Führung einer Liste beim Berliner Einwohner-­Meldeamt, auf der die neu zuziehenden Juden gesondert aufgeführt wurden“.28 Während des Ersten Weltkrieges war Lippmann Berichterstatter der Budgetkommission in kriegswirtschaftlichen Fragen und beschäftigte sich vor allem mit den wichtigen Ernährungsfragen. Seine letzte Rede im Abgeordnetenhaus hielt er am 25. April 1918. In ihr ging er auf verschiedene Missstände in der Kriegswirtschaft ein und kritisierte auch staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Landwirte, für die er eine angemessene und gerechte Behandlung verlangte. Er prophezeite zwar Schwierigkeiten für die Zeit bis zur nächsten Ernte, ordnetenhaus. Berlin 1908, S. 249 – 252, 276 f., 342 (Hospitant), 406 (Kurzbiographie) und 511 (Foto). 26 Handbuch für das Preussische Abgeordnetenhaus. Berlin 1914, S. 274 f., 335, 402 (Kurzbiographie) und 509 (Foto); L. Elm: Fortschrittliche Volkspartei (FoVp) 1910 – 1918, in: Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 2. Hrsg. von D. Fricke. Leipzig 1984, S. 599 – 609; Kühne, S. 244; Neubach (wie Anm. 18), S. 343 – 352, hier S. 345. 27 Ausschlaggebend für Lippmanns Beiratstätigkeiten in Binnenschifffahrtsfragen war das preußische Wasserstraßengesetz von 1906, das enorme Finanzmittel für den Wasserstraßenbau zur Verfügung stellte. Im Folgejahr entstanden per Verordnung die Wasserstraßenbeiräte, die von den Provinzen und anderen öffentlichen Verbänden der Staatsregierung zu allen wichtigen Fragen bei Bau und Betrieb der geplanten Wasserstraßen gehört werden mussten. – Handbuch für das Preussische Abgeordnetenhaus. Berlin 1914, S. 402 (Kurzbiographie); J. Salzwedel: Wege, Straßen und Kanäle (Wasserwirtschaft), in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3. Hrsg. von K. G. A. Jeserich u. a. Stuttgart 1984, S. 353 – 358. 28 Hamburger, S. 376.

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doch bezeichnete er sie als „letzte Gefahrperiode“ mit Blick auf die politisch-­militärische Gesamtentwicklung des Krieges. Mit lebhaftem Beifall wurde seine Zukunftsvision belohnt: […] die Siege unserer Truppen im Osten, die Friedensschlüsse, die wir dort getätigt haben [die separaten Friedensverträge von Brest-­Litowsk zwischen der Ukraine und den Mittelmächten Deutschland und Österreich-­Ungarn (9. Februar 1918) sowie zwischen Sowjetrußland und den Mittelmächten (3. März 1918)], die Möglichkeiten, die Ernte in der Ukraine und in Rumänien zu beeinflussen und für unsere Zwecke dienstbar zu machen, werden tatsächlich den Ernährungszustand unserer Bevölkerung künftig so sicherstellen, dass der Aushungerungsplan Englands das Resultat haben wird, das er haben muß, wenn noch Gerechtigkeit in der Welt herrscht: den Sieg Deutschlands!29

Lippmanns Zuversicht wird einige Monate später geschwunden sein, als am 4. Oktober 1918 das deutsche Waffenstillstandsersuchen an US-Präsident Woodrow Wilson gesandt wurde. Der am 3. November 1918 ausbrechende Kieler Aufstand der Matrosen der Hochseeflotte, die Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten in vielen Städten, die Revolution in München und der Sturz der Monarchie in Bayern, aber besonders die Straßenkämpfe in Berlin, die Anfang Januar 1919 mit dem irrtümlich sogenannten Spartakusaufstand ihren Höhepunkt erreichten, waren Ereignisse, die nach Lippmanns Meinung direkt von der russischen Oktoberrevolution von 1917 und deren Nachwirkungen beeinflusst waren. Am 13. Januar 1919 sagte er in einer öffentlichen Rede in Stettin, man müsse mit Entsetzen in Deutschland erleben, „dass dieses Feuer herübergefressen“ habe. Für ihn stand fest, dass „der mörderische Kampf in Berlin […] auf russische Waffen, auf russischen Einfluß, auf russische Sendboten“ zurückzuführen sei. Er verwies auf den zwei Tage zuvor ermordeten KPD-Führer Karl Liebknecht, den er aus seiner Zeit im Abgeordnetenhaus kannte, und bezeichnete ihn als „Wahnsinnigen“, der jenen, die „Not und Mangel leiden, die Unrecht zu fühlen glauben, die ein besseres Leben sich wünschen“, das Paradies und „alles, was die anderen besitzen“, verspreche.30 Deshalb hätten die Revolutionäre sich Waffen gesucht oder angebotene Waffen genommen, was „eine schwache Regierung“ zugelassen habe. Die Spartakisten seien die „Brüder der russischen Bolschewiki“, betonte Lippmann. Seine Enttäuschung über die Novemberrevolution kam in dem Satz zum Ausdruck: „Wir hat-

29 Wörtliche Berichte über die Verhandlungen des Preussischen Abgeordnetenhauses: 22. Legislaturperiode, III. Tagung 1916/18, Bd. 8. Berlin 1918, 135. Sitzung, 25. April 1918, S. 9086. 30 Karl Liebknecht (SPD), Anwalt und seit 1902 Berliner Stadtverordneter, war 1907 wegen einer militärkritischen Veröffentlichung in einem Hochverratsprozess zu eineinhalb Jahren Festungshaft verurteilt worden. Nach den Wahlen 1908 zog er mit den ersten acht Sozialdemokraten in das Preußische Abgeordnetenhaus ein und begann damit – wie Lippmann – eine langjährige Parlamentstätigkeit. Liebknecht war am 11. November 1918 der Initiator bei der Gründung des Spartakusbundes und wurde am 31. Dezember 1918 Mitbegründer der KPD.

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ten anderes erwartet als Folge des 9. November.“ 31 Welche Gefühle und Erwartungen der politische Umsturz am 9. November 1918 in der Bevölkerung ausgelöst hatte, beschrieb Lippmann folgendermaßen: Dieser Tag erschien uns als ein Tag, an dem zwar viel Altes in Schmerzen verloren wurde, von dem aber auch der Beginn einer neuen Zeit datieren konnte, einer neuen Zeit mit neuen großen Ideen, einer neuen Zeit, die ein Ende machen sollte allem Egoismus, der in unserer Wirtschaft geherrscht hatte, dem Egoismus, der in der Brust jedes einzelnen geherrscht hatte, und den Vorrechten, die manche sich angeeignet hatten und von denen aus sie dem Volk mehr nahmen, als sie nehmen durften, und weniger gaben, als sie ihm zu geben hatten! Das hofften wir, und wir hofften auch, dass das neue Reich, die neue Republik uns bald den Frieden bringen würden und bald Brot bringen würde.32

Große Hoffnungen setzte Lippmann auf die Nationalversammlung, die sechs Tage später gewählt werden sollte. Er hielt das Gremium für „die Stätte, der wir zustreben müssen, um gemeinsam gemeinsames Leben für unser Volk zu finden, um Mittel zu finden gegen die Not, in der wir leben“, also für „das Licht, das uns das Dunkel erleuchtet“. Mit der Unterstützung eines schnellen Übergangs zur parlamentarischen Demokratie lag Lippmann ganz auf der Linie der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP ), die ihn als Kandidaten im Wahlkreis 7 (Pommern) aufgestellt hatte. Die neue politische Gruppierung war am 20. November 1918 in Berlin von Mitgliedern der früheren Fortschrittlichen Volkspartei und eines Teils der Nationalliberalen Partei gegründet worden.33 Beide Gruppen strebten eine demokratische Linkspartei als bürgerliches Gegenstück zur SPD an. Schon durch die Namenswahl bekannte die DDP sich zur Demokratie und in 31 Das Programm des Herrn Justizrats Lippmann, Kandidaten der Deutschen demokratischen Partei. Wesentlich aufgrund seiner Rede vom 13. Januar 1919, gehalten im großen Börsensaale. Stettin 1919, S. 1. 32 Ebd. 33 Der Gründungsaufruf der DDP erschien am 16. November 1918 im Berliner Tageblatt. Diese Zeitung war damals das Sprachrohr der Partei und ihrer führenden Politiker, also eine Art Parteizeitung in der Zeit der Entstehung und frühen Entwicklung der DDP, bevor parteieigene Publikationsorgane, wie die Demokratische Partei-­Korrespondenz, geschaffen wurden. Der Aufruf vom November 1918 bildete den allerersten und frühestmöglichen Appell einer politischen Partei, der das deutsche Bürgertum aufrief, den revolutionären Vorgängen mit Aktivität und nicht mit Ratlosigkeit zu begegnen. – F. Salomon: Die deutschen Parteiprogramme, Bd. 3: Das Deutsche Reich als Republik 1918 – 1930. Leipzig 51931, S. 9 f. (Aufruf zur Gründung einer demokratischen Partei, 16. November 1918); L. Luckemeyer: Die Deutsche Demokratische Partei von der Revolution bis zur Nationalversammlung 1918 – 1919. Marburg/ Lahn 1975, S.  XIII (Vorbemerkung) und 59; W. Fritsch: Deutsche Demokratische Partei (DDP) 1918 – 1933, in: Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 1. Hrsg. von D. Fricke: Leipzig 1983, S. 574 – 622; E. R. Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 6. Stuttgart 1993 (rev. Nachdruck der 1. Aufl. 1981), S. 210 – 212.

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ihrem Programm auch eindeutig zur Republik. Zwar vertrat sie den Wirtschaftsliberalismus, doch ebenfalls die Auffassung, dass sozialpolitische Rücksichten die ungehemmte Entwicklung der Wirtschaft begrenzen müssten. Nach Lippmanns Aussage war in der Partei alles zusammengekommen, was dem Volk sein volles Recht geben wollte, was aber die vaterländische Wirtschaft erhalten wollte, und man hoffte, durch eine starke Partei von freiheitlich gerichteten Nichtsozialisten alles an sich zu ziehen, was nicht sozialistisch fühlt, was zwar gleiches Recht sucht, was aber nicht zerstören will aus Neid und Haß und Unverstand.

Eine solche Erwartung zerschlug sich kurze Zeit später wegen persönlicher Differenzen, aber vor allem wegen unvereinbarer politischer Ziele und gesellschaftlicher Leitvorstellungen innerhalb des liberalen Lagers. Die Gründung der Deutschen Volkspartei (DVP) durch einen anderen Teil der ehemaligen Nationalliberalen Partei besiegelte am 15. Dezember 1918 die erneute Spaltung des Liberalismus.34 Für Lippmann war es „die Eitelkeit einzelner Männer in der nationalliberalen Partei“, welche die Einigung verhindert habe. Um so schärfer kritisierte er die konkurrierende liberale Partei, der er vorwarf, im laufenden Wahlkampf mit den „verwerflichsten Mitteln“ zu arbeiten, darunter Antisemitismus und Diffamierung, um die DDP als „eine Hilfstruppe der Sozialdemokratie“ erscheinen zu lassen.35 Am 23. Dezember 1918 hatte die dringend notwendige Aufstellung von Kandidaten für die Wahl zur Nationalversammlung die Tagesordnung der Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses der DDP in Berlin bestimmt. Das von Handelsminister Otto Fischbeck (DDP), dem einzigen Nicht-­SPD-Mitglied der neuen preußischen Regierung, geleitete Treffen resultierte unter anderem in dem Beschluss, an mehrere Wahlkreise – darunter auch Pommern – ein Telegramm zu schicken. Es sollte die Absenderangabe „Geschäftsführender Ausschuß der Demokratischen Partei Fischbeck“ tragen und fordern, „für die Nationalversammlung staatspolitisch geschulte Kräfte in erster Linie aufzustellen“. Für den Wahlkampf – auch in Pommern – stellte die Parteileitung jedem Wahlkreis zehntausend Mark zur Verfügung. Fünf Tage später beriet der Geschäftsführende Ausschuss die DDP-Kandidatenliste und sagte dem Wahlkreis Pommern weitere zehntausend Mark für den Wahlkampf zu. Noch am selben Tag wurden die Namen der pommerschen Kandidaten in der Demokratischen Partei-­Korrespondenz veröffentlicht: Angeführt wurde die Liste von Bergrat Georg Gothein aus Breslau, der seit 1901 als Mitglied der Freisinnigen Vereinigung und seit 1910 der FVP ununterbrochen den Wahlkreis Greifswald im Reichstag vertreten hatte. An zweiter Stelle kandidierte Lippmann; an dritter Stelle war aufgestellt Paul Lockenvitz, Leiter der städtischen Berufsberatung für die männliche Jugend in Stettin und Vorsitzender des Verbandes der mittleren und unteren Beamten für 34 Luckemeyer, S. 40; U. Büttner: Weimar. Die überforderte Republik 1918 – 1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Bonn 2008, S. 87 f. 35 Das Programm des Herrn Justizrats Lippmann, S. 6.

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Pommern, und an vierter Stelle stand Hermann Grothe, Bezirksleiter des Ortsverbandes der deutschen Gewerkvereine (Hirsch-­Duncker) für Stettin und Umgebung, gefolgt von einer Kandidatin, Oberlehrerin Wally Krobielt aus Stettin, sowie weiteren sechs männlichen Kandidaten, darunter ein Landwirt aus dem Kreis Greifenhagen. Weil kein Landwirt auf den vorderen Plätzen kandidierte, trug die DDP bei der Aufstellung ihrer Liste der starken Agrarstruktur Pommerns überhaupt keine Rechnung, sondern zielte auf die traditionelle linksliberale Wählerschaft in den Städten und Seebädern der Provinz, die aus Akademikern, Beamten und Handwerkern bestand.36 Eine erneute Besprechung des Geschäftsführenden Ausschusses fand zwei Tage später statt, bei der man den Versand von Flugblättern beschloss, um den Kandidaten genug Werbematerial an die Hand zu geben.37 In der Sitzung am 4. Januar 1919 wurde überraschend bekanntgegeben, dass Dr. Hugo Preuß im Wahlkreis Pommern die Kandidatenliste anführen sollte. Der jüdische Jurist, lange Jahre ehrenamtlicher Stadtrat des Berliner Magistrats für die Fortschrittliche Volkspartei, war am 15. November 1918 zum Staatssekretär im Reichsamt des Innern berufen und mit dem Entwurf einer Reichsverfassung beauftragt worden. Die Zustimmung von Gothein zu diesem Wechsel war vorher eingeholt worden.38 Die Liste wurde aber kurzfristig erneut revidiert, offenbar aus wahltaktischen Gründen: Für die Wahlen zur Nationalversammlung wurde Gothein im Wahlkreis Breslau an die erste Stelle der DDP-Kandidaten gesetzt, und bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung am 26. Januar 1919 trat Preuß im Wahlkreis Berlin als DDP-Kandidat an.39 Damit fiel der pommersche Spitzenplatz an Lippmann, der um den 10. Januar 1919 seine erste öffentliche Wahlkampfrede vor dem Stettiner Frauenbund hielt. Durch die Einführung des Wahlrechts für Frauen, die in Pommern 55 Prozent der Bevölkerung ausmachten, kam den weiblichen Stimmen eine erhebliche wahltaktische Bedeutung zu. In seiner Ansprache bekannte Lippmann sich zur Gleichberechtigung der Frauen, für die 36 Demokratische Partei-­Korrespondenz, 28. Dezember 1918: Die demokratischen Kandidaten in Pommern; Luckemeyer, S. 278 f. Der DDP-Wahlverband 7 (Pommern) hatte seinen Sitz in Stettin und wurde 1919 von Justizrat Dr. Hirschfeld (Adresse: Bollwerk 28) geleitet. – Demokratisches ABC. Erstes politisches Handbuch nach der Revolution. Hrsg. von H. Frenz. Berlin 1919, S. 19. 37 BAB: R 45 III : Deutsche Demokratische Partei/Deutsche Staatspartei, Nr. 9: Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses am 23. Dezember [1918] im Parteibüro, dto. am 28. Dezember [1918], dto. am 30. Dezember [1918]. Der vorläufige geschäftsführende Ausschuss der DDP bestand aus acht Personen, darunter Handelsminister Fischbeck. – Demokratisches ABC , S. 20. 38 BAB: R 45 III, Nr. 9: Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses am 4. Januar [1919] im Parteibüro. 39 Demokratische Partei-­Korrespondenz, 21. Januar 1919: Die Kandidatenliste der Deutschen Demokratischen Partei für die Wahlen zur Preußischen Nationalversammlung; G. Maas: Die verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung. Lebensgang, Lebensarbeit, Lebensziele ihrer Mitglieder nach eigenen Mitteilungen und mit Bildnissen. Charlottenburg 1919, S. XXI.

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er selbst lange gefochten habe, und warnte vor der Wahl der beiden bürgerlichen Konkurrenten seiner Partei – die konservative Deutschnationale Volkspartei oder die rechtsliberale Deutsche Volkspartei. „Ein besseres Deutschland“ solle entstehen, forderte er abschließend, „ein Deutschland, an dem jeder teilhat, an dem jeder Freude hat – und zu diesem Deutschland verhelfen Sie uns, deutsche Frauen und Jungfrauen!“ Seine Zukunftsvision belohnten die Stettiner Frauen mit anhaltendem, stürmischem Beifall.40 In seiner bereits zitierten Stettiner Programmrede vom 13. Januar 1919 ging Lippmann ausdrücklich auf die Landwirtschaft ein. In einer Agrarprovinz wie Pommern war die parteipolitische Haltung zur Landwirtschaft naturgemäß von ausschlaggebender Bedeutung. Der Gründungsaufruf der DDP vom 16. November 1918 war den früheren Forderungen der Bodenreformer um Adolf Damaschke – einer der ältesten politischen Weggefährten des ersten DDP-Vorsitzenden Friedrich Naumann und anderen Gründungsmitgliedern – und des Deutschen Bauernbundes sehr nahegekommen, als er sich zur Aufteilung der Staatsdomänen und des Großgrundbesitzes bekannte. Tatsächlich setzte sich vor den Wahlen von 1919 von allen Parteien nur die DDP mit solchem Nachdruck für kleine und mittlere Bauern ein. Allerdings vermied der Gründungsaufruf weitergehende sozialistische Forderungen und grenzte sich damit von den beiden sozialdemokratischen Parteien MSPD und USPD deutlich ab.41 Lippmann lag also ganz auf der Linie der DDP, als er in seiner Rede auf die frühere Landflucht und Einwanderung ausländischer Landarbeiter in den preußischen Ostprovinzen einging und dabei auf die siedlungspolitischen Grundsätze der damaligen FVP hinwies. Solche Prinzipien in der Nationalversammlung zu verwirklichen, hielt er für „unerläßlich“, wobei er betonte: Das platte Land muß wieder bevölkert werden, aber nicht dadurch, dass wir sklavenartige Ausländer dahin führen, nicht dadurch, dass wir das Recht des freien Umherziehens in Deutschland etwa beschränken, sondern dadurch, dass der große Grundbesitz auf ein bestimmtes Maß reduziert wird, dass die Domänen, dass die Fideikommisse zum größten Teil in Bauernland verwandelt werden. So können wir dann Hunderttausende, Millionen von Bauern auf dem Lande ansiedeln. […] Braucht jemand mehr als 1000 Morgen zu besitzen, ist es nötig, dass es Fideikommisse von 5000 bis 60 000 Hektar gibt? Hier soll die Gleichheit wenigstens soweit gewahrt werden, dass genommen wird von dem, der zuviel hat, gegen volle Entschädigung, und dass gegeben wird dem, der Gewähr dafür bietet, dass er in fleißiger Arbeit dem Boden das abgewinnt, was der Boden hergeben kann.42

Ausdrücklich wandte Lippmann sich gegen eine Verstaatlichung landwirtschaftlicher Betriebe und die genossenschaftliche Nutzung des Bodens und damit gegen eine Kernforderung der SPD. Er hielt es für „Wahnsinn“, den ländlichen Unternehmer auszuschal 40 Das Programm des Herrn Justizrats Lippmann, S. 6 f. 41 Salomon, S. 9 f.; Luckemeyer, S. 220 – 222. 42 Das Programm des Herrn Justizrats Lippmann, S. 4, Abschnitt „Landwirtschaft“.

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ten und damit die Volksernährung ernsthaft zu gefährden: „Solche Zustände wollen wir nicht, aber wir wollen eine andere Agrarpolitik als heute“.43 Trotz dieser Einschränkung hatte Lippmann sich für Teilenteignungen des Großgrundbesitzes ausgesprochen, was in der konservativen Agrarlobby von Pommern auf heftigen Widerstand zu stoßen versprach. Damit war sein agrarpolitischer Standpunkt geklärt, doch jede politische Auseinandersetzung darüber auf die Zeit nach den Wahlen verschoben. Am 19. Januar 1919 wurde Lippmann im Wahlkreis 7 (Pommern) als einer von zwei Abgeordneten der DDP in die Weimarer Nationalversammlung gewählt. Seine Partei war stimmenmäßig nach der SPD (41 %) und der DNVP (23,9 %) drittstärkste Kraft (21,7 %) in Pommern geworden, während ihr rechtsliberaler Konkurrent DVP (10,9 %) auf dem vierten Platz landete; die linkssozialistische USPD (1,9 %) blieb Splitterpartei.44 Angesichts der wahlpolitischen Erfolge von Sozialdemokraten und Demokraten warnte der einflussreiche pommersche Agrarlobbyist, Freiherr von Wangenheim-­Klein-­Spiegel, Vorsitzender des Bundes der Landwirte, vor befürchteten Eingriffen in die landwirtschaftlichen Besitzverhältnisse. Auf der Generalversammlung der Organisation am 17. Februar 1919 legte er dar, dass jedes Rühren an dem landwirtschaftlichen Betrieb, jeder unvorsichtige Eingriff aufs Schwerste die landwirtschaftliche Erzeugung schädigt, und dass die Bedrohung, das Spielen mit lauter neuen Maßnahmen, mit Sozialisierung, Beschlagnahme von Grundstücken nur dahin führen kann, dass man sich scheut, so opferwillig weiter zu arbeiten, wie es bisher geschehen ist.

Der Agrarier empfahl, solche Maßnahmen auf ruhigere Zeiten zu verschieben, wenn die Ernährung gesichert sei. Mit seinen Warnungen, bei denen er die damalige große Ernährungskrise ins Feld führte, machte Wangenheim unmissverständlich deutlich, dass bodenreformerische Ziele keine Unterstützung bei den Landwirten finden würden.45 43 Ebd. 44 J. Falter u. a.: Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik. München 1986, S. 67, Tab. 1.5.2.1. Der zweite gewählte DDP-Abgeordnete in Pommern war Paul Lockenvitz, Leiter der städtischen Berufsberatung für die männliche Jugend in Stettin. – Demokratische Partei-­Korrespondenz, 28. Dezember 1918: Die demokratischen Kandidaten in Pommern; G. Maas: Die verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung, S. XX. Sein Abgeordnetenmandat in der Nationalversammlung, die am 6. Februar 1919 erstmals in Weimar zusammentrat, übte Lippmann nie aus; in den stenographischen Berichten taucht sein Name deshalb nicht auf. Dennoch wird Lippmann als Mitglied der Nationalversammlung bzw. des Reichstages aufgeführt in: Maas (Hrsg.): Die verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung, 1919, S. 118 f.; M. Schumacher (Hrsg.): M. d. R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Eine biographische Dokumentation. Düsseldorf 21992, S. 368, Nr. 813. 45 Deutsche Tageszeitung, 17. Februar 1919: 26. Generalversammlung des Bundes der Landwirte, abgedruckt in: H. Freiherr von Wangenheim (Hrsg.): Conrad Freiherr von Wangenheim Klein-­Spiegel. Berlin 1934, Teil 2: Briefe und Reden. S. 138 – 154 (das Zitat auf S. 150).

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Unmittelbar nach dem ersten Urnengang begann der Wahlkampf für die Wahl zur Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung am 26. Januar 1919. Auch hierbei führte Lippmann die Stettiner Wahlliste der DDP an und nahm wohl deshalb fünf Tage vorher in Berlin an der Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses seiner Partei teil. Laut Protokoll beteiligte er sich an der Debatte über den Entwurf der Reichsverfassung von Hugo Preuß, der eine Aufteilung Preußens als unerlässliche Vorbedingung für die beabsichtige Neugliederung des Reichs vorsah. Wegen der heftigen Kritik daran beschlossen die Diskutanten schließlich, sich „mit allem Nachdruck für die Unteilbarkeit und Unversehrtheit Preußens auszusprechen“.46 Das Ergebnis der Preußenwahlen zeigte einen ähnlichen Trend, wie eine Woche zuvor die Reichswahlen. Die DDP wurde in Pommern trotz leichter Stimmverluste wieder drittstärkste Kraft (19,3 %) und konnte drei Abgeordnete nach Berlin entsenden.47 Nach seiner zweiten erfolgreichen Wahl reiste Lippmann nach Erfurt und nahm am 4. Februar 1919 an der Sitzung des Hauptvorstandes der DDP teil. Auch dort wandte er sich vehement gegen den Plan von Preuß für eine Aufteilung Preußens. Man gefährde die „Einheit Deutschlands“, wenn man Preußen zerschlage, warnte er. Dieser Punkt könne nicht „ein Programm unserer Partei“ sein. Außerdem plädierte er für den Aufbau einer regulären Armee und sprach sich für eine Beteiligung der DDP und auch der katholischen Zentrumspartei an einer Koalitionsregierung mit der SPD aus. Laut Protokoll lag er mit seinen Positionen auf derselben Linie wie die Mehrheit des Parteivorstandes.48

Beamtenrevirement in Pommern (1919 bis 1922) In der zweiten Phase der Revolution, die Ende Dezember 1918 begann und ein Jahr andauerte, begann mit deutlicher Verzögerung im März 1919 das Beamtenrevirement und damit die Demokratisierung der preußischen Verwaltung.49 Während Innenminister Hirsch 46 BAB: R 45 III, Nr. 9: Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses [der DDP] am 21. Januar 1919 im Parteibüro; K. Wegner/L. Albertin (Hrsg.): Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staatspartei 1918 – 1933. Düsseldorf 1980, S. 23 f.: Dokument Nr. 12 (21. Januar 1919: Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses). 47 Die anderen Parteien erzielten am 26. Januar 1919 in Pommern folgende Ergebnisse: SPD (41,9 %), DNVP (26,6 %), DVP (10,2 %), USPD (1,4 %). – Statistisches Jahrbuch für den Preußischen Staat, Bd. 16. Berlin 1920, S. 422 – 425; siehe auch: J. Stang: Die Deutsche Demokratische Partei in Preußen 1918 – 1933. Düsseldorf 1994, S. 65: Tab. 2: Wahlergebnisse der DDP bei der Wahl zur Verfassunggebenden Preußischen Nationalversammlung am 26. Januar 1919. 48 Wegner, Albertin: Dokument Nr. 15 (4. Februar 1919: Sitzung des Hauptvorstandes), S. 29 und 37 (Lippmanns Redebeiträge). 49 Grundlegend zur Demokratisierungspolitik auf preußischer Ebene in der Weimarer Republik: H.-K. Behrend: Zur Personalpolitik des preußischen Ministeriums des Innern. Die Besetzung der Landratsstellen in den östlichen Provinzen 1919 – 1933, in: JbGMOD, Bd. 6 (1957), S. 173 – 213; Runge (s. Anm. 5); H. Möller: Die preußischen Oberpräsidenten der Weimarer

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praktisch keine Personalveränderungen vorgenommen hatte, änderte sich das Bild langsam nach dem Zusammentritt der Preußischen Landesversammlung und der Bildung der neuen Koalitionsregierung aus SPD, Zentrum und DDP am 25. März 1919 unter Hirschs Führung als Ministerpräsident.50 Sein Nachfolger im Innenressort wurde der bisherige Justizminister Wolfgang Heine (SPD), einer der führenden Köpfe des rechten Flügels seiner Partei. Wie die Sozialdemokraten war auch die DDP für eine Auswechslung der monarchisch gesinnten politischen Beamten. Zwar gab es unter den demokratischen Mitgliedern und Parteianhängern kaum Beamte aus der allgemeinen Staatsverwaltung, doch immerhin viele Kommunalpolitiker mit juristischer Ausbildung, die sich bereit erklärten, in den Verwaltungsdienst einzutreten. Auf diese Weise verfügte die DDP unter den Weimarer Parteien von Anfang an über eine relativ große Zahl von Kandidaten, während die Sozialdemokraten kaum juristisch geschulte Staats- und Kommunalbeamte in ihren Reihen hatten. In der Monarchie war es für Beamte unmöglich gewesen, SPD-Mitglied zu sein.51 Wie schwierig es für die Sozialdemokraten war, schlagartig politisch wichtige Ämter in Preußen umzubesetzen, machte am 8. März 1919 eine Bemerkung von SPD-Landwirtschaftsminister Otto Braun deutlich: „Wir haben keine rechten Leute, die wir hinsetzen könnten.“ 52 Schaut man auf Pommern nach der Bildung der neuen preußischen Koalitionsregierung, so führte auch dort das Fehlen geeigneter Kandidaten zur „Außenseiterpatronage“ der siegreichen SPD . Bereits am 22. März 1919 hatten zwei Stettiner Zeitungen, der sozialdemokratische Volks-­Bote und die konservative Pommersche Tagespost, gemeldet, dass als neuer Oberpräsident Julius Lippmann in Aussicht genommen sei.53 Zwei Tage später schlug Innenminister Hirsch der Regierung formell vor, anstelle von Michaelis den Rechtsanwalt, Justizrat Julius Lippmann, zum Oberpräsidenten von Pommern zu ernennen.54 Am 27. März 1919 empfahlen die fünf pommerschen SPD -Mitglieder in der preußischen Landesversammlung Julius Lippmann als Oberpräsidenten der Provinz und

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Republik als Verwaltungselite, in: VfZ 1982, H. 1, S. 1 – 26, ergänzte Fassung in: K. Schwabe (Hrsg.): Die preußischen Oberpräsidenten 1815 – 1945. Boppard am Rhein 1985, S. 183 – 217; B. Wunder: Geschichte der Bürokratie in Deutschland. Frankfurt a. M. 1986 (Kap. 3: Die Zwischenkriegszeit). Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 1012 f. sowie Bd. 6, S. 748 f. Behrend, S. 175 – 177; Runge, S. 36 f., 46 f. und 50 f. Ähnlich äußerten sich die beiden prominenten Sozialdemokraten Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann. – Möller, S. 6, Anm. 20. Volks-­Bote, 22. März 1919; Pommersche Tagespost, 22. März 1919. GStA PK: I. HA , Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 3, Bd. 2: Innenminister Paul Hirsch (Berlin) an die Preußische Regierung (Berlin), 24. März 1919. Aus nicht mehr bekannten Gründen, aber vermutlich wegen der Regierungsbildung am 25. März 1919, verzögerte sich die Zustimmung der Regierung bis zum 1. April 1919, so dass Lippmann, der sich zu dem Zeitpunkt in Stettin aufhielt, dem Innenministerium am selben Tag telegrafierte, er habe „keine amtliche Nachricht von meiner Ernennung zum Oberpräsidenten“ erhalten und „ersuche darum, damit ich die Geschäfte übernehmen kann“. Daraufhin erhielt er am Folgetag die entsprechende telegrafische Bestätigung. – Telegramm von Julius Lippmann (Stettin) an das Innenministerium

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sandten weitere Personalvorschläge für die Verwaltung Pommerns an den neuen Innenminister Heine.55 Auch der Zentralrat in Stettin machte eigene Vorschläge für Neubesetzungen, allerdings nur für die Posten von zwei Regierungspräsidenten und für je eine Stelle im Oberpräsidium und im Stettiner Regierungspräsidium. Am 1. April 1919, also am Tag von Lippmanns offiziellem Amtsbeginn, sandte das Zentralratsmitglied Wagner seine Liste an Heine. Darin wurde „unbedingt baldmöglichst“ die Entfernung des Kösliner und des Stralsunder Regierungspräsidenten gefordert: „Diese beiden Beamten erfüllen nach ihrer Überzeugung ihre Pflicht; sie betrachten aber die jetzige Umwälzung als den größten Rechtsbruch und erkennen alles Neugewordene als rechtswidrig nicht an.“ 56 Tatsächlich gaben Freiherr von Zedlitz und Neukirch in Köslin und Dr. Johann Stephan von Gröning in Stralsund noch 1919 ihre Ämter auf. Der Kösliner Posten wurde 1919 mit dem Verwaltungsbeamten Dr. Otto Junghann 57 und 1924 mit dem Ministerialbeamten Curt (Berlin), 1. April 1919; Innenminister Wolfgang Heine (Berlin) an Julius Lippmann (Stettin), 2. April 1919. 55 Als Oberpräsidialrat, also als Lippmanns Stellvertreter, war Otto Sentke, bisher unbesoldeter Stadtrat in Stettin, vorgesehen; der Vorschlag wurde aber nicht umgesetzt. Für das Amt des Regierungspräsidenten im Bezirk Stralsund empfahlen die SPD-Abgeordneten den Gutsbesitzer Becker auf Bartmannshagen im Kreis Grimmen, dessen prodemokratische Gesinnung seit langem bekannt war; auch hier fand später eine andere Besetzung statt. Als Regierungspräsidenten in Köslin empfahlen die pommerschen Sozialdemokraten den Berliner Rechtsanwalt Gottfried Hollander, der das Amt aber nie antrat. Für die Ernennung der Landräte bildete die Verordnung vom 18. Februar 1919, die auch die Kreisordnung für die östlichen Provinzen Preußens (1881) teilweise veränderte, die wichtigste Grundlage. Die Liste der Landräte, die von der SPD Pommerns gewünscht waren, umfasste einen Landmesser, fünf Arbeitersekretäre und Gewerkschaftsbeamte, je zwei Konsumlagerhalter und Krankenkassenbeamte und einen Geschäftsführer einer Konsumgenossenschaft. Wie sich später zeigte, konnten nur drei der elf Kandidaten in Landratsämter entsandt werden: Im Kreis Usedom-­Wollin übernahm 1921 der Stettiner Gewerkschaftsbeamte Gustav Hunger das Swinemünder Landratsamt, das er bis 1929 behielt. Das ebenfalls unbesetzte Landratsamt des Kreises Köslin-­Land wurde 1921 mit Hermann Lotz aus Nassow bei Köslin besetzt, der bis 1930 blieb. Lagerhalter Richard Milenz aus Stettin übernahm 1921 den Rügener Kreis und war bis 1933 dort Landrat. – GStA PK: I. HA, Rep. 77, Nr. 150: SPD-Abgeordnete W. Schauer (Stettin), E. Baumann (Köslin), A. Decker (Stettin), W. Bergmann (Stettin), T. Hartwig (Stettin), Haus der Abgeordneten (Berlin), an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 27. März 1919. Grundriß, S. 48 (Kreis Usedom-­Wollin), S. 68 (Kreis Köslin-­Land), S. 98 (Kreis Rügen); siehe auch Runge, S. 50. 56 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Nr. 150: Wagner, Zentralrat der Provinz Pommern (Stettin), an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 1. April 1919. 57 Otto Junghann (1873 – 1964) studierte Jura und wurde 1906 als Regierungsassessor in die Regierung Wiesbaden (Provinz Hessen-­Nassau) berufen. 1907 war er beim deutschen Generalkonsulat in Schanghai tätig und von 1908 bis 1911 als Hilfsarbeiter im preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe in Berlin. 1911 bis 1917 verwaltete Junghann das Landratsamt des niederschlesischen Kreises Grünberg. Mit seiner Ernennung zum Ministerialreferenten im preußischen Staatskommissariat für Volksernährung und gleichzeitig zum Präsidenten der Reichskartoffelstelle wurde Junghann 1917 in der Kriegsernährungswirtschaft tätig. 1919 erfolgte seine Berufung in das Amt des Regierungspräsidenten in Köslin, möglicherweise begünstigt

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Cronau besetzt.58 Das Stralsunder Regierungspräsidium übernahm am 2. Oktober 1919 Dr. Hermann Haussmann (oder Haußmann), bisher besoldeter Stadtrat in Stettin, der bis 1932 sein Amt verwaltete.59 Anders als sein Kösliner und Stralsunder Kollege konnte der Stettiner Regierungspräsident Kurt von Schmeling, der als sehr fleißig und tüchtig galt, noch im Amt bleiben, bis er 1922 gegen seinen Willen entlassen wurde.60 Auf ihn folgte der Verwaltungsbeamte Dr. Leopold Höhnen aus dem Regierungsbezirk Stralsund, der 1927 in den Ruhestand trat.61

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durch seine Mitgliedschaft in der DDP. 1924 trat Junghann in den Ruhestand. – Zu Junghann siehe Grundriß, S. 52; R. Zilch (Bearb.): Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817 – 1934/38, Bd. 10. Hildesheim 1999, S. 398. Zu Junghanns’ DDP-Mitgliedschaft siehe Stang, S. 401, Tab. XII. Curt Cronau (1870–nach 1940) studierte Jura und war seit 1913 in der Verwaltung des Reichslandes Elsaß-­Lothringen tätig. 1918 wechselte er in das preußische Innenministerium. 1920 bis 1924 fungierte er als stellvertretender Bevollmächtigter Preußens zum Reichsrat, 1922 bis 1924 auch als Präsident des Reichsentschädigungsamts für Kriegsschäden, einer nachgeordneten Behörde des Reichsministeriums für Wiederaufbau. Das neugeschaffene Reichsressort stand zuerst unter der Leitung der DDP-Minister Dr. Otto Gessler (1919/20) und Dr. Walther Rathenau (1921); 1922 blieb es unbesetzt. Für eine Parteimitgliedschaft Cronaus findet sich kein Nachweis, doch stand er möglicherweise der DDP politisch nahe. Während seiner Tätigkeit in Pommern (1924 – 1934) gab er ein landeskundliches Werk über den Regierungsbezirk Köslin heraus, in dem er im Vorsatz schrieb: „Dem Oberpräsidenten der Provinz Pommern Seiner Exzellenz Herrn Julius Lippmann in aufrichtiger Verehrung zugeeignet“. – C. Cronau (Hrsg.): Hinter-­Pommern. Wirtschafts- und Kulturaufgaben eines Grenzbezirks. Stettin 1929; zu Cronau siehe Das Bundesarchiv (Hrsg.): Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik online: Biographien. Hermann Haussmann (1879 – 1958) studierte Jura und Nationalökonomie und wurde zuerst im Kommunaldienst in der Provinz Sachsen tätig. 1915 bis 1917 war er Bürgermeister von Konitz im westpreußischen Regierungsbezirk Marienwerder, anschließend besoldeter Stadtrat von Stettin. Dort kümmerte Haussmann sich vor allem um die Lebensmittelversorgung und scheint dabei so erfolgreich gewesen zu sein, dass er 1918 sogar als Oberbürgermeisterkandidat in Frage kam. Seine Tätigkeit in Stettin und seine DDP-Mitgliedschaft waren sicherlich ausschlaggebend für die Berufung zum Stralsunder Regierungspräsidenten. – Zu Haussmann siehe Grundriß, S. 88; D. Schleinert: Hermann Haussmann, letzter Regierungspräsident von Stralsund und Vertreter der Büroreform. Eine biographische Skizze, in: Verfassung und Verwaltung Pommerns in der Neuzeit. Hrsg. von H. Rischer/M. Schoebel. Bremen 2004, S. 156 f. Zu Haussmanns DDP-Mitgliedschaft siehe Stang, S. 401, Tab. XII. Kurt von Schmeling (1860 – 1930) studierte Jura und wurde 1893 Landrat im westpreußischen Kreis Stuhm. 1899 übernahm er das Landratsamt des pommerschen Kreises Stolp. Nach seiner Berufung ins preußische Landwirtschaftsministerium (1905) wurde Schmeling auch politisch aktiv und ließ sich 1907 für die Deutschkonservative Partei ins Preußische Abgeordnetenhaus wählen. Sein Mandat übte er bis 1910 aus, als er zum Regierungspräsidenten in Stettin ernannt wurde. – Zu Schmeling siehe Grundriß, S. 25; Stang, S. 401, Tab. XII; K. von Schmeling: Meine Lebenserinnerungen. Potsdam 1929, S. 584 – 586, Kapitel: Verabschiedet. Leopold Höhnen (1870 – 1941) studierte Jura und wurde zunächst im Justizwesen und später im schlesischen Verwaltungsdienst tätig. 1905 wurde er Regierungsrat in der ostpreußischen Regierung Allenstein, nach 1919 dort stellvertretender Regierungspräsident. 1919/20 war Höhnen

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Preußenweit waren bis zum Frühjahr 1920 fast alle Oberpräsidien von Mitgliedern der drei Regierungsparteien SPD , Zentrum und DDP besetzt worden. Als politische Beamte hatten die Oberpräsidenten die preußische Staatsregierung in der Provinz zu vertreten. Daher besaß dieses Amt besonders Gewicht für die Regierungsparteien. Weil eine Regierung politische Beamte nur im Ausnahmefall aus der Opposition rekrutiert, war die Besetzung der Oberpräsidentenposten vor allem Ausdruck von Proporz und deshalb nicht direkt von Parteipolitik bestimmt. Bis zum Ende der Weimarer Republik blieben die Mehrheitsverhältnisse der Parteien im preußischen Landtag ausschlaggebend für jede Nominierung eines Oberpräsidenten. Allerdings spielten Oberpräsidenten in der Weimarer Republik kaum eine Rolle als Spitzenpolitiker der Regierungsparteien. Das lag vor allem an der sehr geringen politischen Entscheidungsgewalt dieser Amtsträger in den Provinzen, wo es vor allem auf fachliche Qualifikation und Verwaltungserfahrung ankam. Von den 36 preußischen Oberpräsidenten der Jahre 1919 bis 1932 hatten nur zwölf, also genau ein Drittel, vorher politische Ämter innegehabt, darunter auch Julius Lippmann. Als eine Art Statthalter der Regierung in den Provinzen waren sie in erster Linie politische Beamte, die in ihrer Mittlerstellung zwischen Zentrale und Provinz mit Direktiven versehen eine hohe Zuverlässigkeit und Verfassungstreue gewährleisteten.62 Wie beispielhaft der pommersche Oberpräsident die Weimarer Republik in der Provinz präsentierte, wurde 1929 anlässlich der zehnjährigen Feier der Reichsverfassung deutlich. Zu diesem Anlass erschien in Stettin eine Festschrift, in deren Vorwort Lippmann „Stolz und Genugtuung“ über das bisher Gelungene äußerte. Er forderte, den Geist der Verfassung in uns lebendig zu erhalten, ihren tiefen sittlichen Gehalt unserem Volke immer näher zu bringen, echte Volksgemeinschaft und wahre Vaterlandsliebe in der verantwortungsbewußten Mitarbeit am neuen Staate zu bewähren.63

Bereits am 13. Januar 1919 war Lippmann in seiner politischen Programmrede in Stettin auf die Mitarbeit des Volkes im Staat eingegangen. Dabei hatte er Ungerechtigkeiten des

DVP-Stadtverordneter von Allenstein. Während der Volksabstimmungen (Juli 1920) wurde er

von den Alliierten mit der Leitung des Allensteiner Regierungspräsidiums beauftragt, anschließend fand seine Versetzung nach Stralsund statt. Höhnen wurde 1922 zum kommissarischen Regierungspräsidenten in Stettin ernannt. 1923 übernahm er offiziell das Amt. Für die DVP wurde er 1921 und 1925 in den pommerschen Provinziallandtag gewählt. 1927 erfolgte seine Ernennung zum Regierungspräsidenten in Hildesheim. – Zu Höhnen siehe Grundriß, S. 25; Zilch, S. 596; zu Höhnens DVP-Mitgliedschaft siehe Stang, S. 401, Tab. XII; T. Wengler: Der Provinzialverband Pommern. Verzeichnis der Mitglieder des Provinziallandtages. Köln 2008, S. 139 – 149. 62 Runge, S. 209; Möller, S. 16 – 19. 63 J. Lippmann: Zum 11. August 1929, in: 10 Jahre Reichsverfassung: 1919 – 11. August – 1929. Festschrift zur zehnjährigen Verfassungsfeier. Stettin, 11. August 1929, S. 3.

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monarchischen Obrigkeitsstaates bei der Besetzung von Verwaltungspositionen kritisiert und Änderungen angemahnt: Haben wir wirklich die Besten aus dem Volke zu den hohen Stellungen befördert, haben wir wirklich die Besten aus dem Volke zu Diplomaten, zu Verwaltungsbeamten gemacht? Die Auslese war nur auf einen kleinen Kreis beschränkt, und in diesem kleinen Kreise gab es noch kleinere Kreise und wieder kleinere Kreise, und die waren zu den höchsten Orden und Ehrenzeichen und Ehrenstellen bestimmt, und das Volk – es hatte Order zu parieren. So beherrscht man ein mündiges Volk nicht, so beherrscht man ein Volk nicht, das solche Leistungen wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Art von sich gegeben hat, wie unser Volk vor dem Kriege, und wenn wir das weiter andauern lassen, dann ist die neue Zeit für uns nicht gekommen.64

Am 17. April 1919 reichte Lippmann seine eigenen Personalvorschläge in Berlin ein. Außer eher nachrangigen Um- und Neubesetzungen innerhalb der Stettiner Verwaltungsbehörden widmete der Oberpräsident sich elf von insgesamt 28 Landkreisen Pommerns. In drei Fällen setzte er sich mit seinen Vorschlägen durch. Erstens im Kreis Ueckermünde: Für das seit 1918 vakante Landratsamt hatten die SPD-Abgeordneten am 1. April den Lagerhalter Franz Storch, der auch Beigeordneter beim Stettiner Polizeipräsidium war, vorgeschlagen. Für Lippmann stand fest: „Von allen Landkreisen Pommerns kann nur der Kreis Ueckermünde als geeignet bezeichnet werden, von einem sozialdemokratischen Beamten verwaltet zu werden.“ Storch blieb dort von 1921 bis 1928 im Amt. Der an zweiter Stelle für diesen Kreis von Lippmann vorgesehene Arbeiter- oder Genossenschaftssekretär Albert Bülow übernahm 1921 das Landratsamt in Franzburg, schied aber bereits im Folgejahr wieder aus.65 Zweitens im Kreis Neustettin: Dort sollte Gertzlaff von Hertzberg, seit 1913 Landrat, nach Lippmanns Meinung durch Regierungsassessor von Dannenberg, der das Landratsamt in Swinemünde für den Kreis Usedom-­Wollin zeitweilig verwaltete, ersetzt werden. Wie der Oberpräsident wissen ließ, habe Dannenberg sich in den Kreisen Regenwalde und Grimmen bewährt. Tatsächlich trat Dannenberg 1919 sein neues Amt an, wurde aber bereits im Folgejahr durch Herrn Passehl ersetzt, den wiederum 1921 Herrn Guske ablöste. Erst 1922 erhielt der Neustettiner Kreis mit Ernst Kraatz einen langjährigen Landrat, der bis 1935 im Amt blieb.66 Drittens im Kreis Regenwalde: Der dortige Kreistag hatte bereits den seit 1918 64 Das Programm des Herrn Justizrats Lippmann, S. 2 f. 65 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Nr. 150: SPD-Abgeordnete an Innenminister, 27. März 1919; Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 17. April 1919; Grundriß, S. 46 (Kreis Ueckermünde). Im Kreis Franzburg(-Barth) amtierten in der Weimarer Republik sechs Landräte: 1921/22 Albert Bülow, 1922 – 1924 Richard von Winterfeld, 1925 auftragsweise Dr. Medikus, 1926 – 1928 Dr. Lange, 1929/1930 Heinrich Rönneburg und 1931/32 Herr Bröse. – Grundriß, S. 92 (Kreis Franzburg). 66 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Nr. 150: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 17. April 1919; Grundriß, S. 75 (Kreis Neustettin).

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amtierenden Regierungsassessor Herbert von Bismarck als neuen Landrat empfohlen. Diesem Votum schloss Lippmann sich an: „Er wird, wie ich mich an Ort und Stelle überzeugt habe, von allen Parteien hochgeschätzt.“ Der Rittergutsbesitzer auf Lasbeck blieb bis 1931 im Landratsamt und war von 1930 bis 1933 pommerscher DNVP-Reichstagsabgeordneter.67 In einem Fall gelang Lippmann zwar die Ablösung des alten Landrats, doch nicht der Amtsantritt des gewünschten Kandidaten, und zwar im hinterpommerschen Kreis Bublitz. Dort sollte der langjährige Landrat Lukas von Eisenhart-­Rothe nach dem Willen des Oberpräsidenten entlassen und durch den Wolliner Bürgermeister Schneider ersetzt werden. Zwar fand die Entlassung des adligen Amtsträgers statt, doch kam erst 1921 mit Dr. Mallmann ein Nachfolger ins Bublitzer Landratsamt, der acht Jahre dort blieb.68 In fünf Fällen kamen andere Personen in die Ämter, als die von Lippmann vorgesehenen. Erstens im Kreis Cammin: Anstelle des langjährigen adligen Landrats Dr. Ewald Valentin von Massow verwaltete Regierungsrat Schwenke das dortige Amt, den Lippmann aber „nach den mit ihm gemachten Erfahrungen nicht zum Landrat“ geeignet fand. Er schlug Magistratsassessor Frankenstein vor, doch kam im selben Jahr Arthur Schulte-­ Heuthaus nach Cammin. Dieser wurde 1921 durch Paul Oskar Schuster ersetzt, der bis 1934 blieb.69 Zweitens im Kreis Schivelbein: Das Amt wurde viele Jahre von Graf Nikolaus von Baudissin verwaltet, der 1918 durch Dr. Freiherr von der Goltz vertreten wurde. Nach Lippmanns Meinung sollte Regierungsassessor Bracht dort einziehen, den man aber im Innenministerium für zu jung hielt. Stattdessen wurde 1920 Paul Schielke Landrat, der bis 1932 blieb.70 Drittens im Kreis Belgard (Persante): Der adlige Landrat von Hagen war 1918 zurückgetreten. Für das Amt schlug Lippmann den Greifenberger Bürgermeister Walter Goehtz vor, der lange Jahre in verschiedenen pommerschen Stadtverwaltungen tätig gewesen war und seit 1911 an der Spitze der Verwaltung in der Oderstadt stand. An diesem Beispiel zeigte sich, dass die relativ niedrigen Landratsgehälter hinderlich sein konnten. Als Bürgermeister verdiente Goehtz 5.000 Mark jährlich und kam mit Zulagen und Nebeneinnahmen auf insgesamt 10.560 Mark. Als Landrat hätte ihm nach der Besoldungsordnung für Beamte von 1908 ein Jahresgehalt von 3.600 Mark nebst Zulagen von 5.760 Mark jährlich, also insgesamt 9.360 Mark, und damit 1.200 Mark weniger als in 67 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Nr. 150: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 17. April 1919; Grundriß, S. 77 (Kreis Regenwalde); M. Schwarz: MdR. Biographisches Handbuch der Reichstage. Hannover 1965, S. 621 (Herbert von Bismarck). 68 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Nr. 150: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 17. April 1919; Grundriß, S. 61 (Kreis Bublitz): Lukas von Eisenhart-­ Rothe amtierte nach dieser Angabe von 1894 bis 1918, wogegen nach Lippmanns Schreiben vom 17. April 1919 der Landrat zu diesem Zeitpunkt noch im Amt war. 69 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Nr. 150: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 17. April 1919; Grundriß, S. 32 (Kreis Cammin i. Pom.). 70 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Nr. 150: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 17. April 1919 (mit handschriftlicher Bleistiftnotiz neben dem Vorschlag Nr. 8 (Bracht): „zu jung“); Grundriß, S. 79 (Kreis Schivelbein).

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der Greifenberger Stadtverwaltung zugestanden. Seiner Forderung nach einem Gehaltszuschuss wollte der Oberpräsident aber nicht entsprechen, so dass Goehtz in Greifenberg blieb. 1921 wurde Dr. Ahrendts zum Belgarder Landrat ernannt, den bereits im Folgejahr Freiherr von Herzenberg kurzzeitig ablöste. Ihm folgte 1922 Dr. Hans Janzen, der bis 1932 blieb.71 Viertens im Kreis Rummelsburg: Nach Lippmanns Ansicht sollte das unbesetzte Amt von Amtsgerichtsrat Becker übernommen werden, der zu dieser Zeit den Kreis Rügen verwaltete, nachdem Landrat Hans Jaspar Freiherr von Maltzahn gegangen war. Als Becker aber verlangte, ohne jede Probezeit zum Landrat ernannt zu werden, lehnte Lippmann ab, was zu Beckers Verzicht führte. Das Rummelsburger Amt wurde erst 1921 mit Dr. Breyer besetzt, der bis 1932 blieb.72 Fünftens im Kreis Stolp-­Land: Das vakante Landratsamt war mehrere Jahre vom späteren Regierungspräsidenten Kurt von Schmeling und seit 1907 von Dr. Walter Brüning verwaltet worden. „Für den äußerst schwierigen Kreis Stolp habe ich leider keine geeignete Persönlichkeit gefunden“, gab Lippmann zu, sicherlich eine zutreffende Einschätzung wegen der dominanten Position adliger Rittergutsbesitzer im dortigen Kreistag. Sein Vorschlag, vielleicht den Stettiner Stadtrat Hermann Haussmann zum Stolper Landrat zu ernennen, verwirklichte sich nicht. Haussmann wurde im Herbst 1919 zum Regierungspräsidenten in Stralsund ernannt. Nach Stolp kam 1921 kurzzeitig Herr Kramer, den bereits im Folgejahr Friedrich Wilhelm Dombois ablöste.73 Einen besonderen Fall bildete der Kreis Kolberg-­Körlin: Der seit 1917 amtierende Landrat Nikolaus von Gerlach wurde von Regierungsassessor von Alvensleben vertreten, nach Lippmanns Erkenntnis auf persönlichen Wunsch von Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Während des Ersten Weltkrieges war Alvensleben in Ober Ost tätig gewesen, dem von deutschen Truppen eroberten Territorium von Kurland, Litauen und Bialystok-­Grodno, das mit seinen rund drei Millionen Menschen unter der Verwaltung der Obersten Heeresleitung (OHL) gestanden hatte. Nach Kriegsende und dem Umzug des OHL-Hauptquartiers ins pommersche Kolberg wollte Hindenburg offenbar einen vertrauten Mitarbeiter im Landratsamt haben. Schaden könne dadurch nicht entstehen, meinte Lippmann, weil 71 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Nr. 150: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 17. April 1919; Bürgermeister Walter Goehtz (Greifenberg in Pommern) an Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin), 7. Mai 1919; Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 12. Mai 1919; Grundriß, S. 60 (Kreis Belgard/Persante); Runge, S. 53 f.; Dvorak, Bd. 1: Politiker, Teilband 2. Heidelberg 1999, S. 151. – Im Kaiserreich war es für einen Juristen sicherer und schneller, über die kommunalen Wahlämter der Städte ein hohes Einkommen zu erreichen, als im Reichs- oder Staatsdienst. Schon 1879 verdienten höhere Kommunalbeamte in Preußen um 25 % höhere Gehälter als Staatsbeamte. Wunder, S. 105. 72 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Nr. 150: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 17. April 1919 und 28. Mai 1919; Grundriß, S. 78 (Kreis Rummelsburg i. Pom.). 73 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Nr. 150: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 17. April 1919; zu Haussmann: Schleinert, S. 157. – Dombois verwaltete das Landratsamt in Stolp bis 1937. Grundriß, S. 84 (Kreis Stolp-­Land).

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Alvensleben „der äußerst tüchtige Bürodirektor Wendtlandt zur Seite“ stehe: „Später allerdings wird an eine anderweite Besetzung gedacht werden müssen.“ 1920 wurde Dr. Kurt Baron von Stempel für acht Jahre Landrat in Kolberg-­Körlin.74 Bis Anfang 1920 wurden preußenweit nur 33,4 Prozent der Regierungspräsidien und 6,2 Prozent der Landratsämter von neuen Kräften übernommen. Die Demokratisierung der Staatsverwaltung nahm danach aber weiter Fahrt auf. Auch in Pommern zeigte sich der preußische Trend, dass die obersten Verwaltungsämter mit Kräften, die der DDP nahestanden, und viele Landratsämter mit sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsmitgliedern besetzt wurden. Sogar im hinterpommerschen Regierungsbezirk Köslin waren 1925 nur noch dreißig Prozent der Landräte adlig.75 Allerdings fehlt es an genügend lokalen Fallstudien, um für alle Landkreise Pommerns den genauen sozialen und politischen Hintergrund der neuen Landräte zu ermitteln. Wie schwierig es oft war, Landratsstellen mit geeigneten Personen zu besetzen, haben die oben angeführten Beispiele deutlich gemacht. Auf potentielle Landratskandidaten wirkten die niedrigen Beamtengehälter eher abschreckend als anziehend. Die von Wolfgang Runge vorgelegte Studie zur Demokratisierung der politischen Beamten in der Weimarer Zeit zeigt für die meisten Teile Preußens, dass für den Eintritt in den Verwaltungsdienst oft persönlicher Ehrgeiz sowie Hoffnung auf einen größeren Wirkungskreis und auf einen sozialen Aufstieg wichtiger waren, als materielle Ansprüche. Auch nachdem 1920 die Besoldungssätze erhöht worden waren, blieb der Staatsdienst finanziell gesehen unattraktiv. Ein Partei- oder Gewerkschaftsangestellter, der Landrat werden wollte, konnte höchstens damit rechnen, das gleiche Gehalt wie bisher zu bekommen und sogar Mehrausgaben für Wohnung, Kleidung und Repräsentationskosten zu haben. Schon deswegen kam es auch unter Innenminister Heine nicht zu einem raschen und umfassenden Revirement der höheren Beamtenschaft, sondern eher zu einem sukzessiven Austauschprozess. Heftige Kritik gab es dafür aus den eigenen Reihen: Auf der SPD-Parteikonferenz am 22./23. März 1919 und auf dem Weimarer Parteitag im Juni 1919 äußerten mehrere Delegierte heftige Kritik am langsamen Tempo der Personalpolitik des Innenministers. Danach nahm die Neubesetzung der Stellen der politischen Beamten mit republikanischen Anhängern aber mehr Fahrt auf, so dass bis Ende des Jahres 1919 in Preußen rund die Hälfte der Ober-, Regierungs- und Polizeipräsidenten ausgewechselt war. Heine erklärte am 16. Dezember 1919 in der Preußischen Landesversammlung, er habe „die größte Mühe […], auch nur Arbeitersekretäre für den Posten eines Landrats oder irgendeinen Rechtsanwalt für den Posten eines Regierungspräsidenten zu gewinnen.“ 76 Aus solchen zeitgenössischen Äußerungen und den oben angeführten Aktenbelegen wird deut 74 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Nr. 150: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 17. April 1919. Grundriß, S. 70 (Kreis Kolberg-­Körlin); zu Ober Ost: V. G. Liulevicius: Kriegsland im Osten: Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg. Hamburg 2002. 75 H. Branig: Pommern als Grenzland in der Zeit der Weimarer Republik, S. 135. 76 Behrend, S. 183 f.; Runge, S. 52 – 55 (Zitat auf S. 54) und 119 f.

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lich, dass das damals populäre und von der politischen Rechten in diffamierender Weise gebrauchte Schlagwort vom „Drang zur Futterkrippe“, das auch in Michaelis’ Privatbrief vom 23. März 1919 eindeutig zum Ausdruck gekommen war, keine Berechtigung hatte.

Gewalttätige Konflikte in Stettin Die zweite Phase der Revolution von Ende Dezember 1918 bis Ende 1919 war in Pommern auch von der gewalttätigen Eskalation politischer Konflikte im April und Mai 1919 geprägt. Begonnen hatten die Spannungen zwischen Konservativen und Revolutionären während der Amtszeit von Oberpräsident Michaelis, als sich nach der weitgehend friedlich ablaufenden Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten im November 1918 die Stimmung in einigen Landkreisen Pommerns massiv verschlechterte. Besonders die Landräte befürchteten einen „bolschewistischen“ Umsturz in Berlin und sahen die Grenzregionen der Provinz durch polnische Annexionsdrohungen gefährdet. Separatistische Gedankenspiele wurden in Pommern nach dem Ende des sogenannten Spartakusaufstandes vom Januar 1919 aber aufgegeben. Ein Trauerzug linksgerichteter Demonstrationen durch die Stettiner Innenstadt am 25. Januar 1919 anlässlich der Beerdigungen der KPD-Führer Liebknecht und Luxemburg, die von Freikorpssoldaten in Berlin getötet worden waren, bildete für Michaelis Anlass genug, die Beamtenschaft zu einer Massendemonstration aufzufordern, bei der am 28. Januar 1919 sogar eine Marineeinheit mitmarschierte. Kurz vor seiner Verabschiedung fand am 30. März 1919 eine Massenversammlung der DNVP statt, bei der Michaelis von Gegendemonstranten der USPD am Sprechen gehindert wurde.77 Nach der Amtseinführung von Lippmann am 3. April 1919 reiste Michaelis mit seiner Familie über Berlin nach Pinnow bei Sternberg (Neumark), wo Verwandte ein Bauerngut bewirtschafteten. In einem dort verfassten privaten Schreiben gab er seine abschließende Meinung über Lippmann und dessen politische Stellung in Pommern wieder: Mein Nachfolger, der Justizrat Lippmann, ist zwar durchaus unter die „anständigen“ Männer zu rechnen und hat eigentlich gute, gemeinnützige Absichten, aber er ist doch eben ein getaufter Jude, Fortschrittsmann [Mitglied der früheren Fortschrittlichen Volkspartei] und der sozialdemokratischen Regierung mit Haut und Haar verschrieben. Andrerseits genügt er den Sozialdemokraten natürlich nicht, und nach rechts hin [zu den Konservativen in der DNVP und zur Agrarlobby] ist er ohne Anschluß, und so wird die sichere überlegene Position des Oberpräsidenten, die sich sogar während des Arbeiter-­Rat-­Unwesens durchsetzen konnte, arg erschüttert werden.78 77 Becker: Pommerscher Separatismus 1918/19, S. 72 – 84; Becker: Georg Michaelis. Eine Biographie, S. 557 – 568. 78 Familienbesitz Michaelis: Rundbrief von Georg Michaelis (Pinnow), 21. April 1919. Siehe auch Schlingensiepen, S. 435 f.

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Lippmanns Ernennung wurde nach Ansicht der Pommern-­Historikerin Kyra Inachin in „konservativen völkisch-­nationalen Kreisen […] geradezu als Affront betrachtet“.79 Michaelis’ Prophezeiung schien sich zu bewahrheiten, als bereits kurz nach Lippmanns Amtsantritt im April 1919 mehrere politische Demonstrationen von USPD - und KPD -Anhängern im Hof des Stettiner Schlosses stattfanden. Als eine neue Kundgebung für den 27. April 1919 angekündigt wurde, erhielt das Oberpräsidium zwei anonyme Warnungen, die energisch verlangten, „Maßregeln gegen den Unfug“ einzuleiten sowie „besänftigend auf die Massen und besonders auf die Frauen“ einzuwirken.80 Während der gut besuchten Versammlung kritisierte ein führendes USPD -Mitglied in Stettin namens Hein die Weimarer Koalitionsregierung und warf ihr völliges politisches Versagen vor. Daraufhin kam es zu Protestrufen und einem größeren Menschentumult, in den sich etwa fünfzig Soldaten des Freikorps Poensgen mit Pistolen und Handgranaten einmischten.81 Die Soldaten misshandelten Hein mit Reitpeitschen und trieben die Versammelten mit Gewalt vom Schlosshof herunter, verletzten dabei mehrere Personen und töteten durch eine explodierende Handgranate einen alten Aufseher namens Hilgendorf. Begleitet von wütenden Protesten der Demonstranten zogen die Soldaten vom Schloss zum Königsplatz, verschanzten sich dort in einer Gaststätte und verteidigten sich mit Handgranaten gegen die große Menge von Protestierern. Zur Unterstützung der eingeschlossenen Truppe rückten Artillerie- und Kavallerieeinheiten des Freikorps Poensgen nach Stettin ein. Ihr aktives Eingreifen in den Konflikt wurde vom Generalkommando des in Stettin liegenden 2. Armeekorps und auch vom Zentralrat in Stettin verhindert. Stattdessen gingen reguläre Reichswehreinheiten des Generalkommandos mit Maschinengewehren gegen das Haus vor und töteten drei Freikorpssoldaten, woraufhin die anderen sich ergaben und verhaftet wurden. Unter ihnen befand sich auch ein Leutnant Groß in der Uniform

79 K. Inachin: Die Entwicklung Pommerns im Deutschen Reich, in: Deutsche Geschichte im Osten Europas. Pommern. Hrsg. von W. Buchholz. Berlin 1999, S. 473. 80 Archiwum Państwowe w Szczecinie [Staatsarchiv Stettin] (nachfolgend: APS), 73 – 3774a: „Viele Bürger der Stadt“ an das Oberpräsidium (Stettin), 26. April 1919; „Ein wohlmeinender Freund“ an Oberpräsident Lippmann (Stettin), o. D. [26. April 1919]. 81 Der Freikorpsverband aus deutschen Freiwilligen unter Befehl eines Hauptmanns Poensgen bildete Teil der sogenannten Eisernen Division, die in Kreckow (Landkreis Randow) lagerte und auf den Weitertransport nach Lettland wartete, um dort die sogenannte Baltische Landwehr im Kampf gegen sowjetrussische Truppen zu verstärken. Innerhalb der Eisernen Division bildete sie 1919 das von Poensgen kommandierte 3. kurländische Infanterieregiment. Im Januar 1919 hatte Oberpräsident Michaelis sich am Aufbau der Baltischen Landwehr indirekt beteiligt, als er die Werbung für den Eintritt in den Freiwilligenverband unter nach Pommern geflüchteten Deutschbalten unterstützte. – H. Schulze: Freikorps und Republik 1918 – 1920. Boppard 1969; B. Sauer: Mythos eines ewigen Soldatentums. Der Feldzug deutscher Freikorps im Baltikum im Jahre 1919, in: ZfG, H. 10, 1995, S. 869 – 902; Becker: Georg Michaelis. Eine Biographie, S. 560.

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eines gewöhnlichen Soldaten, der angab, von Hauptmann Poensgen den Befehl erhalten zu haben, an der USPD -Kundgebung teilzunehmen.82 Nach Absprache mit Major Niemann vom Generalkommando und Stettins Bürgermeister Dr. J. von Thode veranlasste Oberpräsident Lippmann noch am selben Nachmittag den Druck und die Verteilung von 30.000 Flugblättern an die Stettiner Bevölkerung. Darin sprachen die Unterzeichner von einer „Wahnsinnstat nur einzelner“ und zwar von „einer fremden Truppe“, bedauerten die Störung von Ruhe und Ordnung und versicherten: „Die staatlichen und militärischen Behörden werden die Freiheit der öffentlichen Rede stets achten und alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel zu ihrem Schutze stets anwenden.“ 83 Die beabsichtigte Wirkung, nämlich die Lage in Stettin zu beruhigen, wurde aber konterkariert, als am Folgetag das Generalkommando seine eigene Sichtweise in der konservativen Pommerschen Tagespost unter der Überschrift „Eine authentische Darstellung“ veröffentlichte. Darin wurde linken Kräften die Hauptverantwortung für die gewalttätigen Konflikte zugeschoben.84 Als Protestreaktion traten die meisten Arbeiter der großen Stettiner Industriebetriebe in einen Streik, versammelten sich im Stadtzentrum und zogen zum Regierungspräsidium. Nachdem ihnen Regierungspräsident von Schmeling schriftlich bestätigt hatte, dass es im Interesse der öffentlichen Ruhe nötig sei, das Freikorps Poensgen zu entfernen, zogen sie zum Generalkommando, um Generalleutnant J. von Saenger, Stellvertreter des erkrankten Kommandierenden Generals des 2. Armeekorps, zu sprechen. Als sie erfuhren, dass Saenger und auch Niemann bei einer Besprechung im Oberpräsidium mit Lippmann, Thode und Oberbürgermeister Ackermann waren, gingen sie dort hin. Bei dem Treffen zwischen den Arbeitervertretern und den Leitern der Stettiner Zivilund Militärbehörden einigte man sich auf wesentliche Forderungen der Arbeiter. Dazu zählten die sofortige Verhaftung von Hauptmann Poensgen und seinen an der Schießerei beteiligten Soldaten sowie die Beteiligung von Arbeitervertretern an der Voruntersuchung über die Vorgänge. Außerdem sollten in Zukunft sowohl der Oberpräsident als auch der Zentralrat befugt sein, jede von der Stettiner Polizei eventuell geforderte Verstärkung durch Militärverbände zunächst zu prüfen und erst danach gegebenenfalls zu genehmigen. Lippmann sagte die staatliche Finanzierung der Beerdigungskosten der zivilen Opfer sowie die Unterstützung ihrer Hinterbliebenen zu. Damit beruhigte sich die Lage. Am 29. April 1919 kehrten die Arbeiter in ihre Betriebe zurück und nahmen die Arbeit wieder auf. In der Ostsee-­Zeitung erschien am selben Tag eine eingesandte „Notiz“ des Gene 82 APS, 73 – 3774a: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 29. April 1919. 83 Ebd.; APS, 73 – 3774a: Plakat: „An die Bevölkerung Stettins!“, 27. April 1919. Der Aufruf erschien auch in: Ostsee-­Zeitung, 28. April 1919, Morgenausgabe. Auf dem Plakat werden als Unterzeichner genannt: Der Oberpräsident Lippmann; Der Kommandierende General des 2. Armeekorps J. von Saenger; Der Oberbürgermeister J. von Thode. Beim letztgenannten handelte es sich offenbar um einen Stellvertreter von Oberbürgermeister Friedrich Ackermann, aber nicht um den bis 1914 amtierenden Bürgermeister Carl Thode. 84 Pommersche Tagespost, 28. April 1919, Morgenausgabe: „Eine authentische Darstellung“.

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ralkommandos, in welcher der von Lippmann zuvor kritisierte Bericht „Eine authentische Darstellung“ ausdrücklich korrigiert und teilweise inhaltlich zurückgenommen wurde.85 Der Stettiner Gewaltkonflikt vom April 1919 forderte insgesamt vier Tote – drei Soldaten und ein Zivilist –, sechs Schwerverletzte – fünf Soldaten und ein Zivilist –, und 32 Leichtverletzte – 13 Soldaten und 19 Zivilisten. Anlässlich der Beerdigung des getöteten Hilgendorf wies Lippmann die ihm unterstellten Behörden an, die Dienstflaggen am 3. Mai 1919 von 12 bis 19 Uhr auf halbmast zu setzen: Ich verspreche mir von dieser Maßnahme, welche das Mitgefühl für das unschuldige Opfer der Unruhen erkennen läßt, auch eine beruhigende Wirkung auf die Bevölkerung.

An der Beisetzung wollte er persönlich teilnehmen. Beim Generalkommando stieß der Vorschlag, auf seinen Gebäuden halbmast zu flaggen, jedoch auf Ablehnung. Immerhin ließ Saenger wissen, er wolle eine Offiziersabordnung zur Beerdigung entsenden und einen Kranz niederlegen lassen. Lippmann wurde gebeten, beim Stettiner Arbeiterrat dafür zu sorgen, „dass den kommandierten Offizieren keine Schwierigkeiten bereitet werden.“ 86 Wie tief der Graben zwischen Arbeitern und Militärs in Stettin weiterhin war, zeigte der Artikel „Keime einer Militärdiktatur“, der am 30. April 1919 im sozialdemokratischen Volksboten erschien. Darin verdächtigte ein Zentralratsmitglied das Generalkommando, ohne Genehmigung bestimmte Militäroperationen gegen streikende Eisenbahner in Stargard und damit letztendlich eine „Gegenrevolution“ vorzubereiten. Bereits am Folgetag erschien in der Ostsee-­Zeitung eine Gegendarstellung des Generalkommandos mit der Behauptung, die Entscheidungen seien „im engsten Einvernehmen mit den Zivilbehörden, nämlich dem Oberpräsidenten Lippmann und dem Eisenbahnpräsidenten Brandt, getroffen worden.“ Diese Aussage wies Lippmann sofort schriftlich zurück und stellte klar, dass das Generalkommando lediglich „in voller Kenntnis“ von ihm gehandelt habe. Er verlangte eine Richtigstellung in der Presse und forderte, in Zukunft bei Veröffentlichungen des Generalkommandos, die das Oberpräsidium betrafen, sein vorheriges Einverständnis einzuholen. Im Gegenzug sagte er zu, gegenüber dem Generalkommando genauso zu verfahren. Mit dieser Forderung begann ein zehntägiger Schriftwechsel des Oberpräsidenten mit dem Generalleutnant, der sich vor allem um strittige Formulierungen in Briefen und Telefongesprächen und deren richtige Auslegungen drehte. Letztendlich berief der Offi-

85 APS, 73 – 3774a: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 29. April 1919; Pressenotiz (Entwurf ) von Oberpräsident Lippmann (Stettin), 29. April 1919; Ostsee-­Zeitung, 29. April 1919: „Aus Stadt und Provinz“. 86 APS, 73 – 3774a: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 29. April 1919; Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an die ihm unterstellten Zivilbehörden der Stadt Stettin, 2. Mai 1919; dto. an das Generalkommando des 2. Armeekorps (Stettin), 2. Mai1919; Generalleutnant J. von Saenger (Stettin) an Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin), 2. Mai 1919.

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zier sich auf Missverständnisse und stritt ab, Kritik am Oberpräsidenten und seinen Mitarbeitern geäußert zu haben.87 Dass die kooperative Politik des Oberpräsidenten gegenüber den Arbeitern nicht nur beim Militär, sondern auch in Teilen der Bevölkerung auf Widerstand stieß, machte Anfang Mai 1919 ein Schreiben des Stettiner DDP-Mitglieds Willy Schmidt deutlich. Er sprach von einer „tiefgehenden Mißstimmung und Beunruhigung in der Bürgerschaft“ angesichts des bedrohlichen „Bolschewismus“ von KPD und USPD, „gegen den unter allen Umständen und mit aller Macht Front gemacht werden“ solle.88 Angesichts solcher Stimmungen ließ der nächste Konflikt nicht lange auf sich warten. Kleinere Plünderungen und Unruhen gingen voraus, bevor am 15. Mai 1919 die Lage am Stettiner Sellhausbollwerk eskalierte, als aus Schweden angelieferte Heringsbestände von einer etwa fünfhundertköpfigen Menschenmenge geplündert wurden. Eine herbeigerufene und aus rund 150 zuverlässigen und organisierten Arbeitern bestehende Sicherheitswehr unter Führung eines Herrn Born weigerte sich aber, mit Waffengewalt gegen die Plünderer vorzugehen. Auch die Stettiner Schutzpolizei zeigte sich machtlos und wurde zusammen mit der Sicherheitswehr entwaffnet, wobei etwa 250 Gewehre und mehrere Maschinengewehre in die Hände der Plünderer fielen. Damit zogen diese zum Polizeirevier auf der Großen Lastadie, stürmten und besetzten das Gebäude und teilten die erbeuteten Waffen unter sich auf. Als das Generalkommando anbot, Truppen von auswärts nach Stettin zu bringen, initiierte Lippmann sofort eine Besprechung der staatlichen und städtischen Behörden mit dem Zentralrat und den Arbeiterräten. Vereinbart wurde, der Sicherheitswehr von Born den Schutz Stettins zu übertragen. Um eine weitere Eskalation der Lage zu verhindern, bat Lippmann, nachdem er sich der Unterstützung seiner Behörden versichert hatte, das Generalkommando, keine auswärtigen Truppen heranzuziehen. Als eine Stunde später feststand, dass die Sicherheitswehr die Stürmung des Justizgefängnisses durch die Plünderer und die Befreiung der Insassen nicht hatte verhindern können, forderte Lippmann um 22:15 Uhr das Generalkommando dringend auf, Stettin militärisch zu besetzen, lehnte es aber ausdrücklich ab, einer Verhängung des Belagerungszustandes zuzustimmen. Gleichzeitig beauftragte er den stellvertretenden Polizeipräsidenten, Regierungsassessor Saenger, die lokalen Zeitungen von den Vorgängen telefonisch zu benachrichtigen, um möglichen Falschdarstellungen vorzubeugen. Anscheinend verstand Saenger seinen Auftrag völlig falsch, denn er verbot den Zeitungen im Namen des Oberpräsidenten jegliche Berichterstattung über die Vorgänge und drohte sogar einem Blatt mit Beschlagnahme, wenn trotz des Verbots berichtet werden sollte. Als 87 Volksbote (Stettin), 30. April 1919, und Ostsee-­Zeitung, 1. Mai 1919: „Keime einer Militärdiktatur“; APS, 73 – 3774a: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Generalleutnant J. von Saenger (Stettin), 1. Mai 1919 und 8. Mai 1919; Generalleutnant J. von Saenger (Stettin) an Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin), 2. Mai 1919, 3. Mai 1919, 7. Mai 1919 und 10. Mai 1919. 88 APS, 73 – 3774a: Willy Schmidt (Stettin) an Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin), 2. Mai 1919.

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der Vertreter der Stettiner Abendpost sich deshalb persönlich an Lippmann wandte, kam der Fehler ans Licht. Es war aber zu spät, um zu verhindern, dass am 17. Mai 1919 die Pommersche Tagespost einen Leitartikel unter der Überschrift „Der Herr Oberpräsident und die Stettiner Unruhen“ veröffentlichte. Angesichts des gewalttätigen Konflikts wurde das Publikationsverbot als „Schildbürgerstreich“ des Oberpräsidenten bezeichnet, „wie es grotesker kaum gedacht werden kann“. Das Blatt warf Lippmann Angst vor, eine „feminine Natur“ und wenig „Mannesmut“ zu haben und „auf einen falschen Posten geraten“ zu sein. Damit stellte der sehr polemisch abgefasste Artikel nicht nur die Kompetenz des Oberpräsidenten für sein Amt in Frage, sondern griff auch zum Mittel der persönlichen Beleidigung und spielte mit einem damals gängigen antijüdischen Stereotyp.89 Wie wenig der Vorwurf trug, kam drei Tage später ans Licht, als Regierungsassessor Saenger im selben Blatt seine früheren Aussagen widerrief.90 Noch in der Nacht vom 15. zum 16. Mai 1919 wurden Bromberger und Berliner Grenzschutztruppen, die sich nahe Stettin auf dem Durchmarsch befanden, in die Stadt beordert. Dort entwickelten sich heftige Kämpfe mit den Plünderern, denen es aber dennoch gelang, das Polizeipräsidium zu besetzen und Handgranaten, Handfeuerwaffen und Maschinengewehre zu erbeuten. Die zum Hauptbahnhof gehenden Züge wurden von Plünderern mit Maschinengewehrfeuer zum Stehen gebracht und zur langsamen Einfahrt gezwungen. Am 16. Mai 1919 um acht Uhr morgens erklärte das Generalkommando eigenmächtig den Belagerungszustand über den Regierungsbezirk Stettin mit Ausnahme der Festung Swinemünde.91 Seinem Unmut über das nicht abgesprochene Vorgehen wollte Lippmann noch am selben Tag Luft machen. Allerdings war das Generalkommando weder für den Oberpräsidenten noch für einen seiner Mitarbeiter erreichbar. „Dort wurde bisher erklärt“, telegrafierte Lippmann am 16. Mai 1919 nachmittags an Innenminister Heine, „dass niemand da sei, mit dem ich verhandeln könne“. An Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) sandte Lippmann deshalb ein Telegramm mit der Frage, wann und wo er ihn sprechen könne.92 Noch am selben Tag stellte sich heraus, dass die Ausrufung des Belagerungszustands verfrüht gewesen war. In Stettin und im Kreis Randow blieben Bürger und Arbeiter völlig 89 Das Stereotyp des „unmännlichen“ und „verweiblichten“ oder „weibischen“ jüdischen Mannes gehörte im Kaiserreich auch zum populären Standardrepertoire von Judenspottkarten. – H. Gold/G. Heuberger (Hrsg.): Abgestempelt. Judenfeindliche Postkarten. Auf der Grundlage der Sammlung Wolfgang Haney. Heidelberg 1999, S. 206 – 208. 90 APS, 73 – 3774a: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 23. Mai 1919; Pommersche Tagespost, 17. Mai 1919 und 20. Mai 1919. – Ob Regierungsassessor Saenger mit Generalleutnant J. von Saenger verwandt war, ließ sich nicht feststellen. 91 APS, 73 – 3774a: Major von Falkenhausen (Stettin) an Oberpräsident Julius Lippmann, 16. Mai 1919; Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 16. Mai 1919; Bekanntmachung betreffend die Erklärung des Belagerungszustandes, 16. Mai 1919; Pommersche Tagespost, 17. Mai 1919: Die blutigen Unruhen in Stettin. 92 APS, 73 – 3774a: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an das Generalkommando des 2. Armeekorps (Stettin), 16. Mai 1919.

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ruhig, wie der Oberpräsident feststellte: „Moralischer Eindruck auf die Bevölkerung hier und im ganzen Lande spricht dagegen.“ Am nächsten Tag hob das Generalkommando den Belagerungszustand in einigen ländlichen Kreisen des Stettiner Regierungsbezirks zwar auf, ließ ihn aber für Stettin, Stargard und nahegelegene Landkreise bestehen.93 Am 19. Mai 1919 morgens rückten von Noske entsandte Regierungstruppen aus dem Berliner Raum in Stettin ein. Die Reichswehrbrigade 25 war in Straßenkämpfen erprobt und hatte Anfang 1919 in Berlin unter anderem das Polizeipräsidium gegen linke Demonstranten verteidigt. Ihr Kommandant, Generalmajor Georg von der Lippe, ließ noch am selben Tag seinen Auftrag bekanntgeben, „dem Gesetz und Recht im Stadtbezirk Stettin in vollem Umfange Geltung zu verschaffen“, und übernahm die exekutive Gewalt in der pommerschen Hauptstadt. Mit Hinweis auf die großen Gewalttätigkeiten und Plünderungen benannte er als Schuldige „Rädelsführer der letzten Unruhen und freiumherlaufende Verbrecher“, die „das gestohlene Gut zu wucherischen Preisen“ verkauft hätten: „Nur gegen solche Verbrecher richten sich die militärischen Maßnahmen“.94 Tatsächlich gelang es den Regierungstruppen in kurzer Zeit, den militärischen Widerstand der Plünderer zu beenden.

Konspirative Verleumdungskampagne Im Zuge der Stettiner Gewaltkonflikte im Frühjahr 1919 hatte sich im Hintergrund eine konspirative Verleumdungskampagne des Militärs formiert, die sich zum Ziel setzte, Oberpräsident Lippmann aus seinem Amt zu drängen. Aktiver Initiator war Wilhelm Groener, als Nachfolger Ludendorffs seit 26. Oktober 1918 Erster Generalquartiermeister und damit faktisch Chef der OHL, die seit Kriegsende in Kolberg ihr Hauptquartier hatte. Bereits nach den ersten Stettiner Unruhen von Ende April 1919 hatte Groener gegenüber Reichswehrminister Noske und Innenminister Heine die Ersetzung des Oberpräsidenten und anderer Verwaltungsspitzen in Pommern durch „energische und zielbewußte Leute“ gefordert. Um das zu erreichen, sollte auf die führenden DDP-Regierungsmitglieder eingewirkt werden, ließ Groener am 7. Mai 1919 wissen. Am selben Tag wurden in Versailles die alliierten Friedensbedingungen an die deutsche Delegation überreicht, welche einen Aufschrei der Empörung in der Öffentlichkeit bewirkten. Wenige Tage später ergriff der Presseoffizier des Generalkommandos in Stettin die Initiative und sprach mit Oberbürgermeister Friedrich Ackermann und auch – weil Lippmann verreist war – mit Regierungspräsident von Schmeling. Er forderte die Stadt- und die Staatsverwaltung dazu auf, Aufrufe und Protestversammlungen in Pommern gegen 93 APS, 73 – 3774a: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 16. Mai 1919; Bekanntmachung des Kommandierenden Generals II . Armeekorps (Stettin), 17. Mai 1919. 94 Pommersche Tagespost, 20. Mai 1919: „An die Bevölkerung der Stadt Stettin!“, 19. Mai 1919.

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den „Gewaltfrieden“ zu organisieren. Sein Vorschlag wurde aber abgelehnt, schrieb der Offizier in seinem Brief an Major Freiherr Alexander von Falkenhausen,95 stellvertretender Chef des Generalstabes, also Groeners Stellvertreter in der OHL und gleichzeitig Verbindungsoffizier der OHL im Generalkommando des 2. Armeekorpses in Stettin.96 Der mit den Vorgängen in Stettin gut vertraute Offizier klagte in seinem Bericht an die OHL, dass Zivilbehörden und Bevölkerung in Pommern „sich in Gleichgültigkeit zu übertreffen“ suchten. Seitens der Regierungsstellen werde nichts getan, „obgleich doch auch die Provinz Pommern [durch die neue Ostgrenze nach Abtretung der Provinz Posen und großer Teile Westpreußens] unmittelbar betroffen“ sei. Lippmann sei nach Berlin gereist, ohne Weisungen hinterlassen zu haben. Insgesamt zeigte Falkenhausen sich skeptisch über die Aussichten, Massendemonstrationen in der Provinz zu organisieren: Es könne „die Volksseele in Pommern nur durch dauernde Bearbeitung einigermaßen warmgehalten werden“.97 Die Enttäuschung militärischer und konservativer Kreise über das mangelnde Interesse der Verwaltung, gegen die Versailler Friedensbedingungen eine ablehnende Massenstimmung durch öffentliche Proteste und Versammlungen zu erzeugen, richtete sich wenig später direkt gegen Lippmann. Der Oberpräsident wurde zu einer negativen Projektionsfläche für das konservative Unbehagen über die Novemberrevolution, über die Störung von Ruhe und Ordnung, über demokratische Wahlen, über die anlaufende Demokratisierung der Verwaltung und für die quälende Diskussion um Annahme oder Ablehnung des Versailler Friedensvertrags. Am Tag nach dem Einrücken der Reichswehrtruppen nach Stettin veröffentlichte die Pommersche Tagespost den Leitartikel „Wie kam es doch?“, der eine Bilanz der Gewaltkonflikte seit Ende April 1919 zog. Der Sündenbock stand eindeutig fest. Dem Oberpräsidenten wurde „eine starke Neigung nach links“, Konfliktscheue und „übergroße Duldsamkeit“ gegenüber den Linken vorgeworfen. Für Leid, Schmerzen und Raub während der Unruhen wurde allein Lippmann mit seiner angeblich „beispiellosen 95 Major Freiherr Alexander von Falkenhausen (1878 – 1966) war in Stettin Verbindungsoffizier der Obersten Heeresleitung. Im Ersten Weltkrieg hatte er an der West- und Ostfront gedient, war im März 1915 Major geworden und wurde 1916 in die Türkei abkommandiert, wo er zuletzt Chef des Generalstabes der 7. Osmanischen Armee war. Für seine Leistungen gegen britische Truppen an der Palästinafront zeichnete ihn Kaiser Wilhelm  II . am 17. Mai 1918 mit dem höchsten preußischen Orden Pour le Mérite aus. Falkenhausen wurde im Herbst 1918 zum deutschen Militärbevollmächtigten in der türkischen Hauptstadt Konstantinopel ernannt und kehrte nach Kriegsende nach Deutschland zurück. 96 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 3, Bd. 2: Bericht des Presseoffiziers, 2. Armeekorps, Generalkommando (Stettin) an Major von Falkenhausen, stellvertretender Chef des Generalstabes (Stettin), 12. Mai 1919. 97 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 3, Bd. 2: Wilhelm Groener (Kolberg) an Major Feldmann, 21. Mai 1919, und Wilhelm Groener (Kolberg) an Generalkommando Lüttwitz, 21. Mai 1919 (darin wird ausdrücklich auf Groeners früheres Schreiben vom 7. Mai 1919 Bezug genommen); Major von Falkenhausen, Verbindungsoffizier der Obersten Heeresleitung, 2. Armeekorps, Generalkommando (Stettin), an Major von Schleicher, Oberste Heeresleitung (Kolberg), 17. Mai 1919.

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Energielosigkeit“ und „kindlichen Ahnungslosigkeit […] in allen realen Dingen“ verantwortlich gemacht. Das Blatt beschuldigte den Oberpräsidenten, „vorsätzlich jede erhöhte Sicherheit zu vereiteln verstanden“ zu haben, und es rief deshalb dazu auf, ihn „persönlich haftbar“ zu machen. Mit Blick auf die erhoffte Kundgebung gegen die Friedensbedingungen konstatierte man „ein völliges, geradezu unbegreifliches Versagen unseres obersten Provinzialbeamten“ und spielte erneut mit antijüdischen Ressentiments: „Wir brauchen in dieser harten Zeit an der Spitze Pommerns einen willensstarken Mann, und wir haben lediglich einen Oberpräsidenten männlichen Geschlechts.“ 98 Am selben Tag – 20. Mai 1919 – schlug die in Berlin erscheinende konservative Tägliche Rundschau in die gleiche Kerbe. In dem Artikel „Ein Demokrat und die Pressefreiheit“ wurde Lippmann vorgehalten, mit seinem angeblichen Veröffentlichungsverbot ähnlich wie die USPD vorgegangen zu sein und „sogar die Pressefreiheit zertrümmert“ zu haben. Das Blatt bezweifelte, ob der Oberpräsident weiter „als maßgebendes Organ einer demokratischen Regierung wirken“ könne und forderte die Berliner Regierung auf, „zu diesem seltsamen Vorkommnis schnellstens Stellung“ zu nehmen.99 Damit war das Thema von Pommern aus in die hauptstädtische Politikwelt getragen. Bereits am Folgetag legte Groener nach, als er seine Berliner Verbindungsleute beauftragte, zu Noske und Heine zu gehen und seine früheren Forderungen erneut vorzubringen. Es gehe nicht an, meinte er mit Hinweis auf die DDP, „dass das Partei-­Interesse über das Gesamtwohl gestellt“ werde. Direkt auf die Entlassung des pommerschen Oberpräsidenten zielte Groeners abschließende Aussage, es könne „irgendeine Vereinbarung zwischen den Regierungs-­Parteien über Stellenbesetzung“ nicht maßgebend bleiben, „wenn die betr. [betreffenden] Persönlichkeiten sich als gänzlich unzulänglich und für das Staatsinteresse schädlich erweisen.“ 100 Im Reichswehrministerium übernahm es Groeners dortiger Verbindungsoffizier, Major Hans von Feldmann, das Anliegen des OHL-Chefs an die beiden SPD-Minister weiterzugeben. Wegen einer Reise war Innenminister Heine nicht persönlich zu sprechen, so dass Feldmann ein Schreiben aufsetzte. Darin sprach er von „traurigen Auffassungen, die in maßgebenden Stellen in Stettin herrschen,“ und ließ auch wissen, dass er inzwischen mit Professor Martin Rade darüber gesprochen habe.101 Offenbar erhoffte Feldmann sich von dem linksliberalen Rade einen Einfluss auf die DDP-Regierungsmitglieder in Berlin: „Hoffentlich gelingt es durch ihn, die parteipolitischen Mißstände zu beseitigen.“ 102 98 Pommersche Tagespost, 20. Mai 1919: „Wie kam es doch?“ 99 Tägliche Rundschau, 20. Mai 1919: „Ein Demokrat und die Pressefreiheit“. 100 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 3, Bd. 2: Wilhelm Groener (Kolberg) an Major Feldmann, 21. Mai 1919, und Wilhelm Groener (Kolberg) an Generalkommando Lüttwitz, 21. Mai 1919. 101 Martin Rade (1857 – 1940), der als Hauptvertreter des Kulturprotestantismus galt, hatte seit 1899 eine Professur für Evangelische Theologie an der Universität Marburg inne und war 1919 als Abgeordneter der DDP in die Verfassunggebende Preußische Landesversammlung eingezogen. 102 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 3, Bd. 2: Major Hans von Feldmann, Reichswehrministerium (Berlin), an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 26. Mai 1919.

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Tatsächlich scheint Rade sich mit dem früheren Pfarrer und Sozialpolitiker Paul Göhre, seit 1919 Unterstaatssekretär im preußischen Kriegsministerium, in Verbindung gesetzt zu haben. Der Sozialdemokrat Göhre war durch sein Interesse an sozialen und religiösen Fragen, über die er zahlreiche Publikationen vorlegte, in der Öffentlichkeit weit bekannt.103 Lippmann erfuhr von seinen Parteifreunden, dass Göhre sich mit einer Beschwerde an die DDP-Fraktion der Preußischen Landesversammlung gewandt hatte. Offenbar von Konservativen und Militärs in Pommern genauestens instruiert, warf Göhre dem Oberpräsidenten vor, dieser habe am 15. Mai 1919 während des Stettiner Konflikts die Bewaffnung von Arbeitern angeordnet und stehe völlig unter dem Einfluss des Zentralrats und des Stettiner Arbeiterrates. Lippmann sei am 19. Mai 1919 beim Einrücken der Regierungstruppen nervös zusammengebrochen und von Stettin nach Stralsund geflohen. Göhres Vorwürfe gipfelten in der Behauptung, der Oberpräsident sei hochgradig nervenkrank. Infolge „solch ungeheuerlicher Behauptungen“, wie Lippmann sie nannte, reiste er sofort zu einer mehrstündigen Besprechung mit Reichswehrminister Noske, bei der auch Offiziere, darunter sicherlich auch Major von Feldmann, teilnahmen. Lippmann rügte anschließend das „ungehörige und respektlose Verhalten von einigen der Offiziere (Majore)“ und ließ wissen, er habe sich zu Recht darüber erregt. In seinem Schreiben an Heine vom 23. Mai 1919 wies er alle Vorwürfe zurück und bezeichnete seinen Gesundheitszustand als erfreulich: „Ich bin den schweren Aufregungen und Anstrengungen meines Amtes völlig gewachsen.“ 104 In den Folgetagen ließ der Innenminister Lippmanns Bericht und Stellungnahme zu den Vorwürfen zusammen mit den Artikeln der Pommerschen Tagespost unter den leitenden Beamten seines Hauses zirkulieren. Zwar wurde von ihnen leise Kritik an Lippmann geäußert, doch fand man keine gegen ihn verwendbaren Fakten. Magnus Freiherr von Braun, Personalchef des Innenministeriums, der im Ersten Weltkrieg Reichspressechef und nach der Revolution kurzzeitig Polizeipräsident in Stettin gewesen war, brachte es am 5. Juni 1919 auf den Punkt: „Herr Minister. Meines Erachtens ist im Augenblick gegen den Oberpräsidenten gar nichts zu unternehmen. Wir können nicht auf jeden Vorstoß hin Beamte absetzen.“ 105 Damit war das ministerielle Votum vorgegeben. In einer Stellungnahme, sicherlich für Ministerpräsident Hirsch, bewertete Heine den Stettiner Konflikt im Mai 1919, wie folgt: 103 Paul Göhre (1864 – 1928), Pfarrer in Frankfurt/Oder, gründete 1897 mit Friedrich Naumann den Nationalsozialen Verein und wurde dessen stellvertretender Vorsitzender. Nach dem Bruch mit Naumann trat er 1900 in die SPD ein und gab sein geistliches Amt auf. Seit 1903 war er SPD-Reichstagsabgeordneter und zählte zum rechten Flügel seiner Partei. 104 APS, 73 – 3774a: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 23. Mai 1919. 105 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 3, Bd. 2: Aktennotiz von Freiherr von Braun, 5. Juni 1919. Über seine Dienstzeit als „Personalienrat“ im preußischen Innenministerium 1919 – als Nachfolger von Dr. Wilhelm Kutscher – berichtete Braun in seiner Autobiographie; siehe M. Freiherr von Braun: Weg durch vier Zeitepochen. Vom ostpreußischen Gutsleben der Väter bis zur Weltraumforschung des Sohnes. Limburg (Lahn) 1965, S. 169 – 173.

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Oberpräsident Lippmann hat sich offenbar mit den Militärs nicht zu stellen gewußt, hat Spartakus gegenüber eine schwankende Haltung eingenommen, hat die skandalösen Spartakusversammlungen im Schloß geduldet und dadurch andere Kreise erbittert. Der Aufruf an die Bevölkerung angesichts des Vorfalls mit dem Freikorps Poensgen war nicht geschickt. Es hat alle Gegner des Spartakus-­Frevels entrüstet, auch diejenigen, die das Auftreten der Poensgen-­Leute in der Versammlung mißbilligen. Der Oberpräsident soll ferner nicht genug getan haben, um rechtzeitig für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen. Sein Corps Born hat völlig versagt. Trotzdem liegt keine Handhabe vor, ihn zu beseitigen, so lange seine Fraktion ihn hält. Antwort ist nicht nötig.106

Inzwischen hatte Lippmann an die ihm politisch nahestehenden Stettiner Zeitungen die Gegendarstellung von Regierungsassessor Saenger geschickt und auch die Tägliche Rundschau in Berlin entsprechend informiert. Zur Erklärung verwies er auf die Pommersche Tagespost, die ihn „wiederholt in persönlicher, ehrenkränkender Weise angegriffen“ habe. Trotzdem wolle er nicht gegen das Blatt vorgehen, weil das seinen Anschauungen über Pressefreiheit widerspreche. Er werde „auch etwaige ähnliche Angriffe der Pommerschen Tagespost nicht mehr erwidern und überlasse das Urteil über die Pommersche Tagespost der Öffentlichkeit.“ 107 Carl Kundel, Redakteur der DDP-Parteizeitung Demokratische Partei-­Korrespondenz, schrieb er: „Sie sehen, mit welchen Verleumdungen und welcher Gehässigkeit ich hier verfolgt werde.“ Natürlich habe er am 15. Mai 1919 das Generalkommando um Herbeiführung von Truppen ersucht, aber die „brave Tagespost“ sage das Gegenteil: „Der Zweck der Sache ist ersichtlich.“ 108

Machtkampf im Regierungsbezirk Stralsund Auch der Pommersche Landbund, die Interessenvertretung pommerscher Großgrundbesitzer, machte den Oberpräsidenten zur Zielscheibe ihrer Kritik an den neuen politischen Verhältnissen. Johann Georg von Dewitz, Gründer und Leiter des Landbundes, ließ am 27. Mai 1919 einen seiner Vertrauensleute wissen, er stehe „seit Wochen im Kampf mit ihm [Lippmann] beziehungsweise um seine Ersetzung durch einen energischen Mann“ und habe mit Innenminister Heine und Generalmajor von der Lippe gesprochen sowie schriftliche 106 GStA PK: I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 3, Bd. 2: Briefentwurf von Innenminister Wolfgang Heine (Berlin), 7. Juni 1919. 107 APS, 73 – 3774a: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an die Redaktionen von Stettiner Abendpost, Volks-­Bote, Ostsee-­Zeitung, General-­Anzeiger, 21. Mai 1919; GStA PK: I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 3, Bd. 2: Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an die Redaktion der Täglichen Rundschau (Berlin), 21. Mai 1919; Ostsee-­Zeitung, 22. Mai 1919: „Aus Stadt und Provinz“. 108 APS, 73 – 3774a: Briefentwurf von Oberpräsident Julius Lippmann (Stettin) an Carl Kundel, Demokratische Partei-­Korrespondenz (Berlin), 22. Mai 1919.

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Eingaben an Berliner Ministerien und andere Stellen gerichtet.109 Zu dieser Zeit plante Dewitz bereits einen massiven Machtkampf mit den Landarbeitern Pommerns, die von den Arbeiterräten in der Provinz unterstützt wurden und für den er die Unterstützung des Militärs benötigte. Vorausgegangen waren seit März 1919 Verhandlungen zwischen dem Landbund und den Landarbeiterräten Pommerns über maßvolle Lohnerhöhungen und den Abschluss von Tarifverträgen. Während dieser Monate rüsteten mehrere pommersche Großgrundbesitzer illegal Freischärler auf ihren Gütern mit Waffen aus. Geplant war, beim Abbruch der Verhandlungen und möglichen gewalttätigen Konflikten den Belagerungszustand durch das Generalkommando des 2. Armeekorps in Stettin verhängen zu lassen und gewaltsam gegen die Landarbeiterbewegung vorzugehen und sie zu zerschlagen. Noch während der laufenden Verhandlungen mit den Landarbeitern forderte Dewitz am 21. Mai 1919 in einer Eingabe an Reichsministerpräsident Scheidemann die Verhängung des Belagerungszustandes über Pommern, was in Berlin jedoch abgelehnt wurde. Am 8. Juli trat das Generalkommando in Stettin dieser Forderung bei, und am Folgetag brachen die Großgrundbesitzer im Kreis Franzburg die Tarifverhandlungen ab, obwohl bereits ein vorläufiger Abschluss erzielt worden war. Als Reaktion darauf traten am 11. und 12. Juli Landarbeiter auf einigen Gütern im Kreis Franzburg in den Streik. Angebliche Gewalttätigkeiten der Arbeiter gaben dem Landbund genug Anlass, um den Stralsunder Regierungspräsidenten Dr. Haussmann in zahlreichen Telegrammen auf Abhilfe zu drängen. Als der Franzburger Kreissekretär – Landrat Albert Bülow war abwesend – sogar militärischen Schutz forderte, beantragte Haussmann beim Generalkommando, den Belagerungszustand für den Kreis Franzburg zu verhängen. Das Generalkommando ging aber noch weiter und verlangte die Verhängung des Belagerungszustandes für den gesamten Regierungsbezirk Stralsund. Als der Regierungspräsident nachgab, verhängte das Generalkommando eigenmächtig den Belagerungszustand nicht nur für den Stralsunder Bezirk, sondern auch für drei Kreise des Regierungsbezirks Stettin, obwohl von dort aus keine Anträge für einen solchen Schritt gestellt worden waren. Über diese Vorgänge wurde der Oberpräsident nur sehr unzureichend informiert und sogar belogen. Als Lippmann am 12. Juli um elf Uhr beim Generalkommando nachfragen ließ, ob der Belagerungszustand über den Kreis Franzburg verhängt worden sei, wurde die Frage verneint. Tatsächlich waren die Plakate für die Verkündigung des Belagerungszustandes bereits Stunden vorher in Auftrag gegeben worden. Um 11:45 Uhr trat die Verhängung über den Stralsunder Bezirk und die anderen Kreise in Kraft, aber erst eine Stunde später teilte ein Offizier des Generalkommandos dem Oberpräsidium mit, dass der 109 Das Vorgehen des Pommerschen Landbundes im Frühjahr und Sommer 1919 wurde von Landwirtschaftsminister Otto Braun nach einer Hausdurchsuchung bei von Dewitz aufgedeckt und in der Nationalversammlung am 25. Juli 1919 ausführlich und beweiskräftig dargestellt. – Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 328: Stenographische Berichte. Berlin 1920: 66. Sitzung, 25. Juli 1919, S. 1900 – 1906 (das Zitat von Dewitz auf S. 1902).

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Belagerungszustand verhängt sei. Nach Ansicht von Landwirtschaftsminister Otto Braun, der am 25. Juli in der Nationalversammlung die Vorgänge auf der Grundlage schriftlicher Beweise schilderte, stand damit fest, dass alles zwischen Landbund und Militär „vereinbart“ gewesen sei und beide „zweifellos konform“ miteinander gearbeitet hätten: „Diese Behandlung des Oberpräsidenten versteht man, wenn man sich vergegenwärtigt, dass er der demokratischen Partei angehört und den Herren vom Pommerschen Landbund sehr wenig genehm ist.“ 110 Tatsächlich stellte die Verhängung des Belagerungszustandes sich als kontraproduktiv heraus. Angesichts des Einsatzes bewaffneter Truppen organisierten die Arbeiterräte im Regierungsbezirk Stralsund einen Generalstreik, und das Bürgertum in Stettin, Stralsund und Anklam rief zum Bürgerstreik auf. Daraufhin entsandten die Minister Heine und Braun eigene Beamte nach Pommern, denen es in kurzer Zeit gelang, einen Tarifvertrag mit den Landarbeitern auszuhandeln und den Belagerungszustand am 18. Juli 1919 zu beenden. An diesem Beispiel zeigte sich, dass die Machtposition der Weimarer Koalitionsregierung im Sommer 1919 viel stärker war, als in landwirtschaftlichen und militärischen Kreisen vermutet worden war.111 Durch das Zusammenwirken mit den Arbeiterräten, die den Generalstreik als wirkungsvolle Waffe einsetzten, kam es in kurzer Zeit zur politischen Niederlage des Landbundes und des Generalkommandos und letztendlich zu einer Stärkung der demokratischen Verwaltungsspitzen in Pommern und auch des Oberpräsidenten.

Nachwirkungen Beim 1. Parteitag der DDP vom 19. bis 22. Juli 1919 in Berlin kandidierte Lippmann für ein Vorstandsamt, konnte sich aber nicht durchsetzen. Offenbar war auch Kritik an seinem Verhalten während des Stettiner Gewaltkonflikts laut geworden. Um so nachdrücklicher setzte sich Erich Koch(-Weser),112 der den Parteitag leitete, für Lippmann ein. Dieser habe „unter den schwersten Anfeindungen in Stettin zu leiden wegen seiner Überzeugung“. Koch forderte den Parteitag auf, sich geschlossen hinter Lippmann zu stellen und dessen hervorragende Verdienste anzuerkennen. Sein Aufruf wurde mit lebhaftem Beifall beant-

110 Ebd., S. 1902; siehe auch: E. Kolb: Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918 – 1919. Frankfurt a. M. 1978, S. 398 – 400. 111 Kolb, S. 400 f.; Branig: Pommern als Grenzland in der Zeit der Weimarer Republik, S. 135 f. 112 Erich Koch(-Weser) (1875 – 1944) war von 1913 bis 1919 Oberbürgermeister von Kassel. 1918 war er Mitbegründer der DDP und von 1924 bis 1930 DDP -Parteivorsitzender. Er wurde 1919 für die DDP in die Weimarer Nationalversammlung gewählt, in der er dem Ausschuss zur Vorberatung der Reichsverfassung angehörte. 1920 wurde er zum Mitglied des Reichstags gewählt. Den Namenszusatz „Weser“ legte er sich erst 1927 zu, um sich von anderen Reichstagsabgeordneten gleichen Namens zu unterscheiden. In den 1920er-­Jahren war er in mehreren Reichskabinetten Innen- und schließlich Justizminister.

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wortet.113 Am letzten Parteitagstag, als das Thema „Vom Staate“ an der Reihe war, sprach der Historiker Ludwig Bergsträsser – außerordentlicher Professor für Neuere Geschichte in Greifswald und mit den pommerschen Verhältnissen vertraut,114 und erinnerte an frühere Zeiten, als die Deutschkonservative Partei in Pommern die Landräte, die Regierungsund Oberpräsidenten gestellt habe. Er rief auf zu einem neuen „Geist“, der grundsätzlich durchgesetzt werden solle, vor allem in Pommern, wo die DDP „den Kampf mit dem alten Geist“ am meisten habe führen müssen, vor allem durch Oberpräsident Lippmann. Man finde täglich zweimal Angriffe gegen Lippmann in den pommerschen konservativen Zeitungen, die gegen einen Mann gerichtet seien, „dem man weiß Gott niemals eine Parteilichkeit hat vorwerfen können, sondern von dem auch die Gegner zugeben müssen, dass er eine ehrliche Persönlichkeit ist“. Bergsträsser forderte den Parteitag auf, denjenigen, die in diesem Kampf an erster Stelle ständen, zu sagen: „Wir stehen hinter Euch gegen diese Gemeinheit“. Daraufhin erhielt er lebhaften Beifall und einstimmige Zustimmung für seinen Antrag, Lippmann in einer Resolution den Dank und die Anerkennung des Parteitages auszusprechen.115 Am 28. September 1919 ging Lippmann auf der Sitzung des DDP-Parteiausschusses in Berlin auf die politische Lage in Pommern ein. Er beklagte „das dauernde Eingreifen der Arbeiterräte in die Verwaltung“ und „die reaktionäre Tätigkeit des Generalkommandos in Stettin“, dem der Innenminister „untätig“ gegenüberstehe. Bevor die DDP in eine Regierung eintrete,116 sollte sie fordern, den Arbeiterräten jede Verwaltungs- und politische Tätigkeit zu verbieten. Vor allem sollte „unbedingte Unterstellung der Militärbehörden unter 113 Bericht über die Verhandlungen des 1. Parteitages der Deutschen Demokratischen Partei abgehalten in Berlin vom 19. bis 22. Juli 1919. Hrsg. von der Reichsgeschäftsstelle der Deutschen Demokratischen Partei. Berlin 1919, S. 242. 114 Ludwig Bergsträsser (1883 – 1960) studierte Geschichte, Staatsrecht und Nationalökonomie und wurde 1906 in Heidelberg promoviert und 1910 in Greifswald habilitiert. 1916 wurde er außerordentlicher Professor für Neuere Geschichte in Greifswald, habilitierte sich aber 1918 an die Berliner Friedrich-­Wilhelms-­Universität um. Anfang 1919 erschien seine Schrift Die Deutsche Demokratische Partei und ihr Programm (Greifswald 1919). 1920 bis 1933 war Bergsträsser als Archivar in der Forschungsabteilung des Reichsarchivs in Potsdam tätig. Von 1924 bis 1928 hatte er ein DDP-Reichstagsmandat inne, doch trat er 1930 zur SPD über. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er einflussreiches Mitglied des Parlamentarischen Rates und SPD-Abgeordneter im ersten Deutschen Bundestag. 115 Bericht über die Verhandlungen des 1. Parteitages der Deutschen Demokratischen Partei abgehalten in Berlin vom 19. bis 22. Juli 1919, S. 268 – 270. 116 Das Reichskabinett Scheidemann war am 20. Juni 1919 zurückgetreten, weil die DDP-Minister die Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages ablehnten und aus der Regierung ausschieden. Das am Folgetag gebildete Kabinett Bauer bestand nur aus SPD- und Zentrumsmitgliedern. Da die DDP sich nur in der Friedensvertragsfrage von den beiden anderen Parteien unterschied, konnte ihre Reichstagsfraktion die Regierung weitgehend tolerieren. Am 3. Oktober 1919 kehrte die DDP in die Weimarer Koalition zurück, die damit wieder über eine parlamentarische Dreiviertelmehrheit verfügte. – Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 1165 – 1168 und Bd. 7, S. 9 f.; siehe auch: O. Nuschke: Wie die Deutsche Demokratische

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die Zivilbehörden“ verlangt werden. Prinzipiell sprach sich Lippmann für einen Eintritt in die Regierung aus, um angesichts der anhaltenden Kohlen- und Ernährungskrise „das Vaterland nicht im Stich“ zu lassen.117 Seine Klage über die Räte macht deutlich, dass im Herbst 1919 ihre Kontrolle der pommerschen Verwaltung offenbar weiterbestand, obwohl solche Kontrollen seit März 1919, nachdem die verfassunggebende preußische Landesversammlung ihre Arbeit aufgenommen hatte, schrittweise in Preußen aufgehoben worden waren. Als das preußische Finanzministerium am 9. Oktober 1919 die finanziellen Mittel für Arbeiterräte im nächsten Haushaltsjahr strich, lösten sich die meisten Räte im Herbst und Winter 1919 auf.118

Bilanz Auf dem Parteitag der pommerschen DDP am 6./7. Dezember 1919 zog Lippmann eine Bilanz der Zeit seit der Novemberrevolution von 1918/19. Diese sei „ja gar keine Revolution gewesen“, meinte er, „sondern einfach der Zusammenbruch eines gepeinigten Volkes“. Mit Blick auf die anhaltenden Schwierigkeiten und Widerstände, „die sich in Pommern der Verwirklichung der demokratischen Ideen entgegenstellen“, konstatierte er für seine Partei und sich selbst: „Wir wußten in Weimar, als wir uns mit Zentrum und Sozialdemokraten zusammenfanden, dass wir an die Stelle von Bankrotteuren treten müßten, und dass diese Bankrotteure zu gegebener Zeit wieder aus ihren Winkeln hervorkommen würden.“ 119 Stellt man die Situation in Pommern in den größeren Zusammenhang, so zeigte sich auch dort, dass die Arbeiter- und Soldatenräte über ein großes demokratisches Potential und pragmatischen Reformwillen verfügten. Ansonsten hätte sich die Zusammenarbeit mit den Verwaltungsbehörden nicht so harmonisch gestalten können, wie es im Falle der Oberpräsidenten Michaelis und Lippmann tatsächlich der Fall war. Nur vereinzelt kam es zu einem radikaleren Auftreten von Unabhängigen Sozialdemokraten, wie im April und Mai 1919 in Stettin, doch waren solche Ereignisse von anderer Seite provoziert worden. Sowohl der Zentralrat in Stettin als auch lokale Arbeiter- und Soldatenräte stimmten mit der Verwaltung überein, unter allen Umständen einen Zusammenbruch des Staats- und Wirtschaftsapparats zu vermeiden und die grundlegende Versorgung und Sicherheit der Bevölkerung sicherzustellen. Trotz oder gerade wegen der funktionierenden Zusammenarbeit gab es in Teilen der Bevölkerung Pommerns große Sorgen über eine Destabilisierung der Situation und ein Auftreten „bolschewistischer“ Zustände. In dieser angespannten Situation, die durch innenPartei wurde, was sie leistete und was sie ist, in: Zehn Jahre deutsche Republik. Ein Handbuch für republikanische Politik. Hrsg. von A. Erkelenz. Berlin 1928, S. 35 f. 117 Albertini, S. 90, Dok. 38. 118 Runge, S. 19. 119 Pommersche Tagespost, 11. Dezember 1919: „Wie sie reden!“

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und außenpolitische Ereignisse noch verstärkt wurde, erhielt Oberpräsident Lippmann die Funktion einer negativen Projektionsfläche und sogar eines Sündenbocks konservativ-­ agrarischer und militärischer Kreise für ihre Enttäuschung, Wut und Frustration über Revolution, Sturz der Monarchie, Störung von Ruhe und Ordnung, demokratischen Neuanfang und Versailler Vertrag sowie ihre Furcht vor einer Ausbreitung des „Bolschewismus“ nach russisch-­sowjetischem Vorbild. Daraus erklären sich die gewalttätigen politischen Konflikte in Stettin Ende April und Mitte Mai 1919. Das Eingreifen des Freikorps Poensgen, das sich auf dem Weg nach Lettland befand, um dort gegen sowjetische Truppen zu kämpfen, zeigt diese Verbindung. Das fürchterliche Potential an Gewalt wurde in Zeitungsmeldungen detailliert dokumentiert, und die konservative Presse erging sich in wüsten Beschuldigungen gegenüber dem Oberpräsidenten. Das Stettiner Generalkommando lavierte zwischen Kooperation mit der Verwaltung und eigenmächtigem Vorgehen und beschädigte letztendlich Lippmanns Ansehen. Sogar von Berlin aus versuchten die Gegner der neuen Verhältnisse in Militär und Politik, den ersten republikanischen Oberpräsidenten Pommerns aus dem Amt zu drängen. Wenn auch die pommersche Staatsverwaltung versuchte, durch schnelles Handeln und entsprechende Pressemeldungen die Lage zu beruhigen, so blieb doch eine latente Unruhe bestehen. Bereits im Juli 1919 kam es zu einem Machtkampf zwischen agrarisch-­militärischen Kreisen und der Landarbeiterbewegung im Bezirk Stralsund, in dessen Verlauf der Oberpräsident bewusst umgangen und sogar vom Generalkommando belogen wurde. Noch im Herbst 1919 gab es Plünderungsversuche in Stettin, gegen die Regierungstruppen aber erfolgreich eingesetzt wurden. Dass Lippmann sich im Amt halten konnte, zeigt, dass die Gegner der neuen Republik nicht so mächtig waren, wie sie anfangs dachten. Was Oberpräsident Georg Michaelis angeht, so steht fest, dass im November 1918 mit ihm ein sehr erfahrener und sachkundiger höherer Verwaltungsbeamter der Monarchie an der Spitze Pommerns stand, der durch seine tiefen christlichen Überzeugungen in der Lage war, mit den Revolutionären kooperativ und pragmatisch umzugehen, allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Seine gute Vernetzung mit einer lange den politischen Ton angebenden Landwirtschaft und auch seine verdeckte Wahlkampfhilfe für die Deutschnationale Volkspartei im Januar 1919 wurden von konservativ-­agrarischen Kreisen in der Provinz zweifellos begrüßt. Deshalb war seine Entlassung unumgänglich, auch wenn Michaelis sie innerlich nicht akzeptierte und der SPD-geführten Weimarer Koalitionsregierung zur Last legte. Sein Vorwurf, SPD und DDP wollten durch das Beamtenrevirement ihren Mitgliedern und Anhängern gutdotierte Verwaltungsstellen sichern, war jedoch unzutreffend, wie genaue Untersuchungen gezeigt haben. Dennoch stand damals die Demokratisierung der Verwaltung unter diesem Generalverdacht, der das politische Klima – auch in Pommern – vergiftete. Der Austausch monarchisch gesinnter Verwaltungsbeamter durch eindeutig republikanische Kräfte erfolgte jedoch nicht auf einen Schlag, sondern war ein sukzessiv ablaufender Prozess, der sich anhand der pommerschen Landkreise aber nur ansatzweise und recht schematisch verfolgen lässt. In mehreren Fällen scheinen von der DNVP dominierte Kreistage, die das Vorschlagsrecht für Landratsposten besaßen, gegen

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geplante Besetzungen protestiert zu haben, doch fehlen auch hier oft konkrete fallspezifische und vor allem flächendeckende Untersuchungen. Preußenweit wurden bis 1926 durch Neubesetzung alle Ober- und Regierungspräsidenten und die Hälfte der Landräte ausgewechselt. Nach einer Studie des Deutschen Beamtenbundes von 1928 gehörten von den 1.084 politischen Beamten Preußens 50,7 % der SPD, dem Zentrum und der DDP an, 18,1 % zählten zur rechtsliberalen DVP und lediglich 1,3 % zur konservativen DNVP, und der Rest tendierte wohl zu anderen Rechtsparteien. Diese Zahlen belegen, dass nach zehn Regierungsjahren die Parteien der Weimarer Koalition nur die Hälfte der politischen Beamtenstellen mit eigenen Anhängern besetzt hatten oder aufgrund der wenig attraktiven Gehälter nur eine beschränkte Zahl von Bewerbern für den höheren Staatsdienst hatten gewinnen können. Um so unangemessener waren Verleumdungen seitens der politischen Rechten, die vor allem der SPD und der DDP vorwarfen, durch das Einsetzen von Außenseitern in Spitzenpositionen der Verwaltung das Berufsbeamtentum auszuschalten und durch sogenannte „Parteibuchbeamte“ zu ersetzen.120 Anders als Michaelis kam Lippmann nicht aus dem Verwaltungsdienst, sondern aus der Politik, kombiniert mit seinem Rechtsanwaltsberuf. Das sollte man bei den Problemen, die 1919 in Pommern auf ihn zukamen, nicht übersehen. Manche Fehler, die er machte, waren wohl einfach auf mangelnde Erfahrung mit Verwaltungsabläufen und auf weniger breite und stabile Netzwerke von Vertrauten in Verwaltung und Politik zurückzuführen, über die Michaels nach vielen Jahren Amtszeit verfügt hatte. Fest steht, dass seit 1919 mit Lippmann elf Jahre ein Oberpräsident an der Spitze der pommerschen Staatsverwaltung stand, der eine liberale Demokratie auch in der mehrheitlich konservativ gesinnten Agrarprovinz verwirklichen wollte. Ob es ihm wenigstens in Teilbereichen gelang, lässt sich nur durch eine genaue Untersuchung der 1920er-­Jahre in Pommern klären, was bisher noch weitgehend aussteht. Lippmanns Industrie- und Agrarprogramme scheinen insgesamt eine positive Wirtschaftsentwicklung der Provinz gefördert und auch in landwirtschaftlichen Kreisen allmählich Anerkennung gefunden zu haben. Der Pommern-­Historiker Hans Branig lobte Lippmann als einen Oberpräsidenten, „der ganz auf dem Boden der Demokratie stand und der als Jurist und durch seine frühere politische Tätigkeit im preußischen Abgeordnetenhaus die notwendigen Voraussetzungen“ für dieses Amt mitgebracht habe. „Sein ausgleichendes Wesen“ habe es ihm ermöglicht, „ein gedeihliches Leben in der Provinz unter den neuen Bedingungen zu gewährleisten.“ 121 Tatsächlich sollten Politik und Gesellschaft Pommerns in der Weimarer Republik nicht mit der Entwicklung der Deutschnationalen Volkspartei gleichgesetzt werden, wie die Forschungsliteratur über diesen Zeitabschnitt manchmal suggeriert, sondern durchaus vorhandene moderne und 120 H. Fenske: Monarchisches Beamtentum und demokratischer Staat. Zum Problem der Bürokratie in der Weimarer Republik, in: Demokratie und Verwaltung. Berlin 1972, S. 129; Wunder, S. 121 – 123. 121 Branig: Die Oberpräsidenten der Provinz Pommern, S. 104; Branig: Pommern als Grenzland in der Zeit der Weimarer Republik, S. 134.

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zukunftweisende Ansätze der 1920er-­Jahre, die auch von der pommerschen Verwaltung vorangetrieben wurden, stärker ins Licht gerückt und näher untersucht werden. Als Lippmann im März 1930 in den Ruhestand trat, war er ein allseits geachteter Mann, auch in deutschnationalen Kreisen, wie der DNVP -Landesverband Pommern zu seiner Verabschiedung deutlich machte.122 Für die hilfreiche Unterstützung bei der Erstellung meines Beitrages durch Hinweise und Materialien danke ich vielmals den Herren Eckhard Wendt (Remagen), Dr. hab. Paweł Gut (Stettin/ Szczecinie) und Dr. Dirk Schleinert (Stralsund).

122 Siehe Inachin (S. 473), die sich auf einen Artikel in der Pommerschen Tagespost vom 13. März 1930 bezieht.

Preußen, das Reich und Pommern. Verfassungsgebung und Demokratisierung Thomas Stamm-­Kuhlmann

Preußisches oder deutsches Volk Wenn die Spitze eines Staates stürzt, öffnen sich für den Staatszerfall die Tore. Als der Deutsche Kaiser Wilhelm II. von seinem eigenen Reichskanzler zur Abdankung genötigt wurde, haben nahezu zeitgleich in 22 Gliedstaaten die Fürsten ihre Throne verloren. Man hätte sich auf den Standpunkt stellen können, das – unter anderem auch durch Verträge dieser Fürsten fünfzig Jahre zuvor geschaffene – Völkerrechtssubjekt „Deutsches Reich“ stünde nun zur Disposition. In allen politischen Lagern, von links bis rechts, in Berlin wie in den Hauptstädten der Gliedstaaten des Deutschen Reiches, war man jedoch bestrebt, den Zusammenhalt des Reiches zu bewahren. Aus diesem Grund durfte auch eine Auffassung nicht Platz greifen, die nach der Abdankung der Monarchen die Souveränität in die Hände der Einzelvölker von 22 ehemaligen Monarchien und den Hansestädten als drei alten Republiken zurückgegeben hätte. Eine andere Doktrin wurde benötigt, die nur einen einzigen Träger der Volkssouveränität kannte. Hugo Preuß hat das in der Rückschau so begründet: Der militärische und politische Zusammenbruch, der das Kaisertum und die sämtlichen verbündeten Dynastien weggefegt hatte, bedrohte zugleich die nationale Einheit Deutschlands mit höchster Lebensgefahr. Diese Gefahr war nicht abzuwenden, wenn an die Stelle des Fürstenbundes ein Bund der neuen Freistaaten trat; Rettung konnte vielmehr nur die Erweckung und Neubelebung des nationalen Einheitsgefühls und Selbstbewußtseins bringen in inniger Verbindung und Wechselwirkung mit dem demokratischen Staatsgedanken.1

Die Weimarer Republik war demnach als „Selbstorganisation des nationalen Gemeinwillens“ entstanden und das deutsche Volk war für den Schöpfer der Weimarer Reichsverfassung das Unhintergehbare.2 Dennoch ist auch die andere, durch die Stunde Null des 9. November 1 Hugo Preuss: Reich und Länder. Bruchstücke eines Kommentars zur Verfassung des Deutschen Reiches, aus dem Nachlass des Verfassers. Hrsg. von Gerhard Anschütz. Berlin 1928, S. 14. Auch der Verfassungsentwurf von Fritz Stier-­Somlo (Die Vereinigten Staaten von Deutschland. Tübingen 1919, S. 37 f.) betont die Souveränität eines einheitlichen deutschen Volkes: „Daß umgekehrt die Freistaaten den neuen Bundesstaat nicht ohne das deutsche Volk schaffen können, leuchtet ohne weiteres ein; denn nur das Volk in seiner Gesamtheit, durch eine mit weitestgehendem demokratischem Wahlrecht geschaffene Vertretung kann die Einheit der deutschen Nation darstellen.“ 2 Ebd., S. 18.

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entstandene, Möglichkeit nicht realisiert worden, dass nämlich der Beseitigung der Fürsten die Beseitigung ihrer Staaten gefolgt wäre. Ein deutscher Einheitsstaat ist nicht geschaffen worden, den ersten Versuch hat erst die NS-Regierung mit der Gleichschaltung der Länder sowie der Auflösung der Landtage und des Reichsrates unternommen. Was sich dagegen 1918 vollzog, war in jeder Hinsicht ein Kompromiss. Für Preuß – und darin blieb er keineswegs unwidersprochen – war die Gliederung des Reiches in Länder ein abgeleiteter Vorgang, den er und die Sozialdemokraten hinnehmen mussten, weil vielen Traditionen und Gewohnheiten nachgegeben werden musste und sonst mit dem Widerstand der süddeutschen Länder zu rechnen war. Preuß war deshalb froh, dass die Reichsverfassung nicht von Freistaaten redete, sondern von Ländern, gerade, weil der Begriff des Landes einerseits volkstümlich, andererseits unbestimmt genug war.3 Freilich war ein Aufbau nach Ländern eine Struktur, die organisatorischen Zielen der Verfassungsgeber entgegenkam. Der Abschnitt ‚Reich und Länder‘ [in der WRV ] bekundet durch seine Überschrift wie durch seinen Inhalt, daß die staatsrechtlich-­politische Organisation des Reiches nicht auf dem Prinzip der Zentralisation, sondern auf dem einer starken Dezentralisation beruht.4

Die Revolution entscheidet über den Fortbestand Preußens So wären die Länder des Deutschen Reiches gewissermaßen als bessere Provinzen mit einer starken Selbstverwaltung zu begreifen gewesen. Mit einem solchen Konzept vertrug sich das nur historisch erklärbare Übergewicht Preußens, das rund zwei Drittel der Fläche und der Einwohner des Reiches umfasste, schlecht. Deswegen erlangten im Gefolge der Revolution von 1918/19 Bestrebungen der Frankfurter Nationalversammlung von 1849 neue Aktualität, Preußen in seine Provinzen aufzuteilen und diese mit den übrigen Ländern gleichzustellen.5 Hierzu wären Ruhe und Augenmaß erforderlich gewesen. Bestimmend aber in den Novembertagen des Jahres 1918 war zunächst der Wunsch, das Weiterarbeiten staatlicher Strukturen sicherzustellen, und hierzu griff man am einfachsten auf das Bestehende zurück. Die Revolution brachte keine neuen Staaten hervor, sondern sie hat in Gestalt der Räte lediglich Parallelstrukturen zum überlieferten staatlichen Aufbau geschaffen. Die Kontinuität des Verwaltungsapparats wurde als notwendig angesehen, um angesichts von Mangel und Rationierung die Versorgung zu garantieren und einen Staatszerfall zu verhindern. Und so hat der frisch ernannte Reichskanzler Friedrich Ebert bereits am 9. November 1918 das Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses, Paul Hirsch, 3 Vgl. ebd., S. 29. 4 Ebd., S. 29. 5 Vgl. Manfred Botzenhart: Deutsche Verfassungsgeschichte 1806 – 1949. Stuttgart/Berlin/ Köln 1993, S. 136.

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damit beauftragt, sich um die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ zu kümmern. Hirsch hat dann Fühlung mit der USPD aufgenommen 6 und die neue preußische Staatsregierung sollte, analog zum Rat der Volksbeauftragten auf Reichsebene, paritätisch aus Mehrheits-­SPD und USPD gebildet werden. An die Seite Hirschs trat daher das Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses von der USPD , Heinrich Ströbel. Weitere Regierungsmitglieder wurden die preußischen Landtagsabgeordneten Eugen Ernst und Otto Braun von der MSPD und Adolph Hoffmann von der USPD.7 So war eine Instanz geschaffen, die Autorität über Versorgungseinrichtungen und Polizei in der Reichshauptstadt und einige der wichtigsten Ballungsräume im Reich hatte. Die preußische Revolutionsregierung bedurfte freilich noch einer revolutionären Legitimation. Diese lieferte ihr die Hauptstadt. In Berlin war ein Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrates von Groß-­Berlin entstanden, streng genommen nur der regierende Ausschuss der Vertreter der arbeitenden Bevölkerung in der Hauptstadt. Es ist jedoch ein typisches Kennzeichen der Revolutionen ab 1789, dass in ihnen die Hauptstadt tonangebend ist und dass abschnittsweise die Bevölkerung der Hauptstadt agiert, als wäre sie der gesamtstaatliche Souverän. Dies geschah auch im revolutionären Berlin. Es waren die Delegierten der Hauptstadt, die in ihrem Vollzugsrat bestimmten, am 12. November 1918 die von Ebert bereits vorgeformte preußische Regierung einzusetzen, und damit eine Vorentscheidung über den Weiterbestand des preußischen Staates trafen. Die neue Regierung wandte sich noch am selben Tag an die Öffentlichkeit mit den Worten: Nachdem wir heute im Auftrag des Vollzugsrats des Arbeiter- und Soldatenrats die Staatsleitung in Preußen übernommen haben, fordern wir sämtliche preußische Behörden und Beamte auf, ihre amtliche Tätigkeit fortzusetzen, um auch ihrerseits im Interesse des Vaterlandes zur Erhaltung der Ordnung und Sicherheit beizutragen, wogegen ihnen ihre gesetzlichen Ansprüche ungekürzt bewahrt bleiben sollen.8

Die erste Chance zur Verschmelzung Preußens mit dem Reich war damit verschenkt. Da das Reich keinen verwaltungsmäßigen Unterbau und keine Polizei hatte, hätten andernfalls sofort alle preußischen Behörden direkt dem Rat der Volksbeauftragten unterstellt werden müssen. Es schien dagegen einfacher, die bestehenden Strukturen beizubehalten und nur die Spitze auszuwechseln. Da im Kaiserreich aber auch das Heer eine preußische 6 Vgl. Paul Hirsch: Der Weg der Sozialdemokratie zur Macht in Preußen. Berlin 1929, S. 111. 7 Nachdem die Mehrheitssozialdemokraten unter Ebert das Berliner Stadtschloss hatten gewaltsam räumen lassen, um den sozialdemokratischen Stadtkommandanten Otto Wels aus der Gefangenschaft durch die „Volksmarinedivision“ zu befreien, und es dabei Tote gegeben hatte, traten die USPD-Mitglieder am 3. Januar 1919 aus der preußischen Regierung aus. 8 Bekanntmachung der preußischen Regierung, betreffend die Fortsetzung der amtlichen Tätigkeit der Behörden und Beamten, vom 12. November 1918, in: Preussische Gesetzsammlung (GS) 1918, S. 187.

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Angelegenheit war und das Reich keinen Kriegsminister hatte, hat sich Ebert immerhin am 9. November genötigt gesehen, den preußischen Kriegsminister, Generalmajor Heinrich Schëuch, in sein neues Kabinett aufzunehmen.9 In der Forschung ist auch die Hypothese aufgestellt worden, Ebert habe durch seinen vorläufigen Verzicht auf die sofortige Verschmelzung Preußens mit dem Reich einem Separatismus der Süddeutschen vorbeugen wollen.10 Als die preußische Staatsregierung in ihrer Sitzung vom 23. Januar 1919 den unitarischen Verfassungsentwurf von Hugo Preuß zurückwies und die übrigen Länder auf der zwei Tage später im Reichstagsgebäude abgehaltenen Länderkonferenz zu weitgehende Eingriffe in die Eigenstaatlichkeit der Länder ablehnten,11 war spätestens klar geworden, dass Ebert hier die richtige Witterung gehabt hatte. Schon einen Tag nach ihrer Bestätigung durch den Vollzugsrat, also am 13. November 1918, wurde die neue preußische Regierung ausführlicher. Sie redete nun ausdrücklich ein „preußisches Volk“ an und erklärte: Preußen ist wie das Deutsche Reich und die anderen deutschen Bundesstaaten durch den Volkswillen zum freien Staat geworden. Aufgabe der neuen preußischen Landesregierung ist, das alte, von Grund auf reaktionäre Preußen so rasch wie möglich in einen völlig demokratischen Bestandteil der einheitlichen Volksrepublik zu verwandeln. Über die zukünftigen Staatseinrichtungen Preußens, seine Beziehungen zum Reich, zu den anderen deutschen Staaten und zum Ausland wird eine verfassunggebende Versammlung entscheiden; ihre Wahl erfolgt auf Grundlage des gleichen Wahlsystems für alle Männer und Frauen und nach dem Verhältniswahlsystem.12

Der Aufruf nahm zur Kenntnis, dass es in der Vergangenheit im Reich einerseits Preußen, andererseits die „anderen Bundesstaaten“ gegeben hatte und dass es derzeit diesen Unterschied noch gab, er setzte aber das Ziel, Deutschland in eine „einheitliche Volksrepublik“ zu verwandeln. Die Position Preußens hierbei sollte durch die preußische Konstituante festgelegt werden, die neben den Beziehungen zum Reich und zu den anderen deutschen Staaten auch die Beziehungen zum Ausland regeln sollte. Hier tauchte also vorübergehend sogar der Gedanke auf, Preußen könnte wieder eine eigene Außenpolitik betreiben. Die Anrede an ein „preußisches Volk“ drückte nicht die Vorstellung aus, es bestehe ein solches

9 Vgl. Enno Eimers: Das Verhältnis von Preußen und Reich in den ersten Jahren der Weimarer Republik (1918 – 1923) (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 11). Berlin 1969, S. 63. 10 Vgl. ebd., S. 42; Hagen Schulze: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1977, S. 226; Walter Mühlhausen (Friedrich Ebert (1871 – 1925), Reichspräsident der Weimarer Republik. Bonn 2006) sagt dazu nichts. 11 Vgl. Joachim Lilla: Der Reichsrat. Ein biographisches Handbuch (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 14), S. 15. 12 Aufruf der preußischen Regierung an das preußische Volk vom 13. November 1918, in: GS 1918, S. 187 – 189.

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als eigenständige, ethnisch von den übrigen Deutschen verschiedene Entität. Hier adressierte lediglich der Inhaber der staatlichen Gewalt die Bewohner seines Herrschaftsbereichs.

Demokratisierung von Staat und Verwaltung Bis die preußische Verfassung verabschiedet war, sollten sich alle außenpolitischen Ambitionen längst erledigt haben. Größere Bedeutung bekamen jedoch andere Bestimmungen vom 13. November. So hieß es, dass die neue Regierung in erster Linie für „Ordnung und Sicherheit im Lande und für die Volksernährung zu sorgen“ habe. Sie ist dabei angewiesen auf das Verständnis und den guten Willen der Bevölkerung im Allgemeinen und insbesondere auf die gewissenhafte Mitarbeit aller Beamten des Staates und der Selbstverwaltungskörperschaften. Alle Beamten, die sich der neuen Regierung zur Verfügung stellen, sind ausdrücklich in ihren Rechten bestätigt und auf ihre Pflichten hingewiesen worden.

Die Neuregelung der Dienstverhältnisse der Beamten wurde anschließend als eine Aufgabe der revolutionären Umgestaltung bezeichnet. Von heute aus gesehen mag uns vor allem das Resultat, die Beibehaltung des Beamtenrechts, konservativ anmuten. Wir müssen jedoch bedenken, dass es damals auch den Beamten schlecht ging, da ihre fixen Gehälter mit der Inflation, die längst begonnen hatte, nicht mithalten konnten. Für den inneren Aufbau des preußischen Staates kündigte der Aufruf an: Demokratisierung aller Verwaltungskörperschaften. Beseitigung der Gutsbezirke. Völlig gleiches Wahlrecht beider Geschlechter für alle Gemeindevertretungen in Stadt und Land. Entsprechende demokratische Umgestaltung der Kreis- und Provinzialverwaltungskörper.13

Das preußische Kronfideikommissvermögen, d. h. den seit 1820 vom Fiskus getrennten Besitz des Königshauses, belegte die Regierung Hirsch einen Tag nach ihrer Amtsübernahme mit Beschlag.14 Die „Zuständigkeiten, die nach den bisherigen Bestimmungen von der Krone und vom Staatsministerium ausgeübt wurden, sind auf die Preußische Regierung übergegangen, welche nach der Bekanntmachung vom 12. November 1918 die Staatsleitung

13 GS 1918, S. 188. 14 GS 1918, S. 189. Eine abschließende Regelung kam 1926 zustande: Gesetz über die Vermögensauseinandersetzung zwischen dem Preußischen Staate und den Mitgliedern des vormals regierenden Preußischen Königshauses vom 29. Oktober 1926. GS 1926, S. 267 – 289; vgl. Johann Viktor Bredt: Die Vermögens-­Auseinandersetzung zwischen dem preußischen Staat und dem Königshause. Berlin 1925.

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in Preußen übernommen hat.“ 15 Die Rechtmäßigkeit dieser Anordnung konnte nur aus der Revolution selbst hergeleitet werden.16 Am 15. November wurden tatsächlich die demokratiewidrigen Elemente der bislang gültigen preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850 aufgehoben. Das nach dem Dreiklassenwahlrecht zuletzt 1913 gewählte Abgeordnetenhaus wurde „aufgelöst“, das aus geborenen bzw. auf Lebenszeit ernannten Mitgliedern bestehende Herrenhaus wurde „beseitigt“.17 Das war folgenschwer, denn damit gab es erst einmal keine Gewaltenteilung mehr. Die Regierung Hirsch „nahm also bis auf weiteres sowohl die legislative als auch die exekutive Gewalt wahr.“ 18 Ein Ende des demokratischen Legitimationsdefizits war absehbar, als die Regierung am 21. Dezember die „Verordnung über die Wahlen zur verfassunggebenden preußischen Landesversammlung“ erlassen hatte. Das Wahlrecht wurde hier dem Verhältniswahlrecht nachgeformt, das seit dem 30. November für die verfassunggebende deutsche Nationalversammlung gelten sollte.19 Das neue Wahlrecht führte zu einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit, erkennbar daran, dass die Zahl der sozialdemokratischen Sitze von 10 im Abgeordnetenhaus des Jahres 1913 auf 145 in der verfassunggebenden Landesversammlung von 1919 anstieg. Die als Konsequenz dieses Wahlergebnisses gebildete Staatsregierung aus SPD, Zentrum und Deutscher Demokratischer Partei spiegelte die neuen Machtverhältnisse wider. Bis zur Landtagswahl 1932 sollte diese Koalition in Preußen die Führung behalten. Die 1,7 Millionen Einwohner des Wahlkreises 7 – Pommern – waren in der Landesversammlung mit insgesamt 17 Abgeordneten vertreten.20 Die verfassunggebende Landesversammlung verabschiedete sodann am 20. März 1919 ein Gesetz zur vorläufigen Ordnung der Staatsgewalt in Preußen aus elf Artikeln.21 Bei der Beratung der künftigen preußischen Verfassung in der Landesversammlung nahmen die Fraktionen und die Staatsregierung auch zum Problem der Aufteilung Preußens, zu der Möglichkeit eines rheinischen Separatstaates und zur Gefahr der Abtrennung von Gebieten, die Polen auf der Friedenskonferenz für sich beanspruchte, Stellung. Die Meinungen waren geteilt: Würde die Schaffung eines selbstständigen Rheinlandes dabei helfen, die 15 Ebd. 16 Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 91929, S. 4 f., stellt fest, „daß die, welche sich am 9. November 1918 in den Besitz der politischen Macht setzten, […] nicht Willkür üben, sondern eine neue Ordnung des deutschen Staatswesens haben schaffen wollen, ausgestattet mit allen Merkmalen des Rechts. Sie wollten […] das alte Recht nicht sowohl brechen als es zerbrechen, um es durch neues zu ersetzen.“ 17 GS 1918, S. 191. 18 Horst Möller: Preußen von 1818 bis 1947, in: Wolfgang Neugebauer (Hrsg.): Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 3. Berlin 2001, S. 149 – 316, hier S. 181. 19 GS 1918, S. 201 f. 20 GS 1918, S. 203. 21 GS 1919, S. 53.

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ses beim Reich zu behalten, oder würde die Abtrennung der Westprovinzen von Preußen deren Abtrennung vom Reich begünstigen?22 Die Anhänger eines separaten Rheinlandes erkannten bald, dass ihre Bestrebungen in der Landesversammlung aussichtslos waren.23 Schon in einer gemeinsamen Sitzung mit dem Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik am 23. Januar 1919 erklärten die vier preußischen Staatsminister Konrad Hänisch, Otto Braun, Adolf Südekum und Paul Hirsch, der Dualismus zwischen Preußen und dem Reich sei durch die Demokratisierung Preußens behoben. In Südekums Worten: „Die Argumente für die Aufteilung Preußens sind solche, die in der Vergangenheit liegen.“ 24 Nachdem er von der Landesversammlung erneut zum Ministerpräsidenten gewählt worden war, stellte Paul Hirsch klar, ein freies und unteilbares Preußen werde so lange bestehen, „bis der deutsche Einheitsgedanke auf der ganzen Linie siegt.“ 25 In seiner Regierungserklärung vom 25. März 1919 kündigte er an, die Regierung werde eine „demokratische Verwaltungsreform“, Ausbau der „Selbstverwaltung“, „Ablösung des Polizeistaates“ und „Kommunalisierung solcher Betriebe, die hierfür reif sind“, anstreben.26 Im Dezember 1919 beantragten die Koalitionsparteien, die Staatsregierung solle mit den „Regierungen aller deutschen Länder über die Schaffung eines deutschen Einheitsstaates“ 27 verhandeln. In der anschließenden Debatte wurde klar, dass „Preußen nur im Einvernehmen mit den anderen Ländern“ und gleichzeitig mit diesen im Reich aufgehen konnte.28 Dass es dazu so schnell nicht kommen würde, war durch die Verabschiedung der Reichsverfassung, in der Länder weiter vorgesehen waren, am 11. August 1919 deutlich geworden. Diese Reichsverfassung hatte zusammen mit der Erzbergerschen Finanzreform die Folge, dass die Gestaltungsmöglichkeiten der Länder stark eingeschränkt waren. Deswegen meinte der Abgeordnete Beyer vom Zentrum in der Debatte über den Verfassungsentwurf der preußischen Staatsregierung am 28. April 1920, „unsere ganze übrig bleibende Landesgewalt“ sei „keine eigenständige Staatsgewalt mehr“.29 Da schien es konsequent, die preußischen Provinziallandtage zu stärken und ihnen weitere Gesetzgebungskompetenzen zuzuweisen.30 Selbst Hugo Preuß, als Abgeordneter der DDP ebenfalls Mitglied der Landesversammlung, hielt es jetzt für das Beste, wenn Preußen zwar vorläufig bestehen bliebe, es dann aber dezentralisiert und demokratisch „von unten herauf“ aufzubauen und

22 Vgl. Thomas Müller: Die Debatte um die Auflösung Preußens in den verfassunggebenden Instanzen Preußens ab 1918/19. B. A.-Arbeit, Universität Greifswald 2002, S. 29 – 32. 23 Vgl. Sitzungsberichte der verfassunggebenden Preussischen Landesversammlung 9./24. 3. 1919, Sp. 569. 24 Eimers, S. 69. 25 Vgl. ebd., S. 33. 26 Vgl. ebd. 27 Ebd., S. 35. 28 Ebd., S. 38. 29 Ebd., S. 41. 30 Vgl. ebd.

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für „mehr Selbstverwaltung und Autonomie“ zu sorgen.31 Der Ansatz war also: In ferner Zukunft sollte es nur noch den Einheitsstaat und seine selbstverwalteten Provinzen geben. Um darauf hinzuarbeiten, war es das Beste, die schon existierenden Provinzen Preußens in ihrer Selbstverwaltung soweit zu stärken, dass sie dann eines Tages ohne die Berliner Vermittlungsinstanz Glieder des Reiches werden konnten. Die endlich am 30. November 1920 unterzeichnete „Verfassung des Freistaats Preußen“ erklärte Preußen für eine Republik und ein „Glied des Deutschen Reiches“ (Art. 1), „Träger der Staatsgewalt“ war „die Gesamtheit des Volkes“ (Art. 2). Die letztgenannte Bestimmung konnte noch einmal dazu dienen, mit den ständischen Gliederungsprinzipien zu brechen, die zuletzt noch für das Zweikammerparlament des preußischen Gesamtstaates gegolten hatten, während sie aus den Provinzialversammlungen schon durch die Gesetzgebung der Jahre 187532 und 188133 beseitigt worden waren. Abschnitt VIII der neuen Landesverfassung war der „Selbstverwaltung“ gewidmet. Artikel 71 stellte fest, dass der Staat sich „in Provinzen“ gliedere. Aufgezählt wurden sie in Artikel 32, der die Zusammensetzung des Staatsrats regelte. Unter der Annahme, dass Groß-­Berlin einer eigenen Provinz gleichzusetzen war, umfasste Preußen dreizehn Provinzen. Laut Artikel 72 werde ein künftiges Gesetz festlegen, welche Angelegenheiten den Provinzen und ihren eigenen Organen als Selbstverwaltungsangelegenheiten und welche ihnen als Auftragsangelegenheiten zugewiesen werden würden. Dabei hieß es, dass der Kreis der Selbstverwaltungsangelegenheiten erweitert werde. Ein solches Gesetz ist bis zum Untergang Preußens nicht mehr zustande gekommen.34 Artikel 73 regelte aber immerhin, dass es „Provinzial-­Landtage“ geben werde. Freilich wurden sie nur erwähnt, um festzustellen, dass sie das Recht haben würden, durch Provinzialgesetz neben der deutschen Sprache in gemischtsprachigen Landesteilen eine andere Amts- und Unterrichtssprache zuzulassen. Als die Staatsregierung 1921 den Versuch unternahm, per Gesetz den Provinzialverbänden tatsächlich erweiterte Befugnisse zuzuweisen, regte sich in den Provinziallandtagen teilweise Widerstand, weil man um die „ungeschwächte, einheitliche Staatsgewalt in Preußen“ fürchtete.35

31 Ebd., S. 42. 32 Provinzialordnung für die Provinzen Ost- und Westpreußen, Brandenburg, Pommern, Schlesien und Sachsen vom 29. Juni 1875. GS 1875, S. 335 – 365. 33 Gesetz, betreffend die Aufhebung der kommunalständischen Verbände in der Provinz Pommern vom 18. Januar 1881. GS 1881, S. 7 – 9. Mit dem Verschwinden der Verbände von Hinterpommern und Alt-­Vorpommern einerseits sowie von Neu-­Vorpommern und Rügen andererseits waren auch die überlieferten Verfassungen dieser Verbände aufgehoben worden. 34 Vgl. Harald Lutter: Zur verfassungsgeschichtlichen Stellung des Provinzialverbandes Pommern und seiner ständischen Vorformen, in: Baltische Studien N. F. 80 (1994), S. 52 – 80, hier S. 75. 35 Hans-­Joachim Behr: Die preußischen Provinzialverbände: Verfassung, Aufgaben, Leistung, in: Karl Teppe (Hrsg.): Selbstverwaltungsprinzip und Herrschaftsordnung. Bilanz und Perspektiven landschaftlicher Selbstverwaltung in Westfalen (Veröffentlichungen des Provinzialinstituts 25). Münster 1987, S. 11 – 44, hier S. 24.

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Das „Gesetz über die Wahlen zum Staatsrate“ vom 16. Dezember 1920 schließlich bestimmte, dass die Provinziallandtage die Mitglieder des preußischen Staatsrats, der neben dem Landtag und der Staatsregierung existierte, „nach den Grundsätzen der Verhältniswahl“ zu wählen hätten.36 Diese Zusammensetzung eines gesamtpreußischen Staatsorgans aus Provinzialvertretern sollte, den Äußerungen des Abgeordneten Lauscher (DVP) im Verfassungsausschuss der verfassunggebenden Landesversammlung zufolge, den doppelten Zweck erfüllen, eine „absolute Parlamentsherrschaft“ zu verhindern und den Staatsrat auf der Grundlage der Provinzen auszubauen, […] weil man ihn sonst vielleicht, wenn auch nur zum Teil, nach berufsständischen Gesichtspunkten zusammensetzen würde und man dann sagen könnte, dieser Staatsrat sei nur eine etwas verschleierte Bemäntelung der Absicht, das alte Herrenhaus wieder ins Leben treten zu lassen.37

Der neue Provinziallandtag von Pommern hat am 18. März 1921 vier Mitglieder in den Staatsrat entsandt.38 Zwei von ihnen, nämlich Hans Jaspar Freiherr von Maltzahn,39 der von 1903 bis 1920 als Landrat in Bergen auf Rügen amtierte, und der am 11. November 1918 abgesetzte Landrat von Greifswald, Carl Graf von Behr-­Behrenhoff,40 gehörten der DNVP an. Ein weiterer Sitz entfiel auf die DVP und einer auf die SPD . Unter den Ersatzmännern für die DNVP befand sich ab 1923 auch der Greifswalder Professor für Chirurgie und mehrmalige Rektor Friedrich Pels-­Leusden.41 Rektor Pels-­Leusden hatte während des Kapp-­Putsches im März 1920 zugelassen, dass am Schwarzen Brett der Universität die Studenten aufgefordert wurden, in die Zeitfreiwilligen-­Einheit zur Unterstützung des Putsches einzutreten.42 Eine der Vertretung im preußischen Staatsrat analoge Vorschrift war durch die Weimarer Reichsverfassung (WRV) auf Reichsebene eingeführt worden. Ihr Artikel 63 besagte, dass im Reichsrat, dem neben Reichstag und Reichspräsidenten dritten Hauptorgan des Reiches, die Länder „durch Mitglieder ihrer Regierungen vertreten“ werden sollten. Für Preußen aber gab es eine Ergänzung: „Die Hälfte der preußischen Stimmen“ sollte „nach Maßgabe eines Landesgesetzes von den preußischen Provinzialverwaltungen bestellt“ werden. Damit ergab sich auch für die Provinz Pommern die Möglichkeit, unmittelbar auf Reichsebene 36 Gesetz über die Wahlen zum Staatsrate vom 16. Dezember 1920. GS 1921, S. 90 – 96. 37 Fritz Stier-­Somlo: Das Reichsrats- und Staatsratsproblem, in: Festgabe für Fritz Fleiner zum 60. Geburtstag. Tübingen 1927, S. 281; ebd., S. 289: „Die Vertretung von provinziellen Sonderinteressen in engem und buchstäblichem Sinne ist […] nicht Sache des Staatsrats.“ 38 Vgl. den 45. Bericht des Provinzialausschusses über die Verwaltung der Angelegenheiten des Provinzialverbandes von Pommern für das Rechnungsjahr 1920. Stettin 1922, S. 2. 39 Vgl. Lilla: Staatsrat, S. 102. 40 Vgl. ebd., S. 9. 41 Vgl. ebd., S. 273. 42 Vgl. Klaus Schreiner: Dokumente berichten aus der Geschichte der Greifswalder Arbeiterbewegung. Hrsg. vom Pädagogischen Kreiskabinett Greifswald. Greifswald 1958, S. 63.

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repräsentiert zu sein und die Mittelinstanz des preußischen Staates zu überspringen. Das ist nicht unwichtig angesichts der Tatsache, dass zumindest die Bewohner Vorpommerns im Jahr 1815 nur mit geringer Leidenschaft zu Preußen geworden waren. Es gibt Gründe zur Vermutung, dass sie, die seit dem Dreißigjährigen Krieg unter schwedischer Herrschaft gelebt hatten, eher den Wunsch verspürten, Deutsche zu werden, und den Anschluss an Preußen lediglich als das beste Mittel dazu betrachtet hatten.43 Die Forschung war lange Zeit der Ansicht, dass, neben Brandenburg, Pommern die einzige Provinz in Preußen gewesen sei, in der sich nach dem November 1918 keine Bestrebungen zur Loslösung vom ehemaligen Hohenzollernstaat gezeigt haben.44 Tatsächlich hat es jedoch von November 1918 bis Januar 1919 unter Landräten und Gutsbesitzern Pommerns die Überlegung gegeben, die Provinz müsse sich eventuell von Berlin lösen.45 Diese separatistischen Ideen hatten freilich keine antipreußische Stoßrichtung und richteten sich erst recht nicht gegen Deutschland als Ganzes, sondern gaben nur ein Misstrauen gegen die Regierung der Volksbeauftragten und die Furcht vor einer Durchsetzung des Spartakusbundes oder gar des „Bolschewismus“ in Berlin wieder. Hier war es die Großstadt mit ihren proletarischen Massen, vor der man sich fürchtete, in zweiter Linie die Besorgnis, die Regierung in Berlin könne polnischen Annexionsbestrebungen nachgeben. Nach der Niederschlagung des Spartakusaufstandes und der Aufstellung von Freiwilligenverbänden für den Grenzschutz zerstreuten sich die separatistischen Tendenzen in Pommern wieder.46 Die Reichsverfassung sah nicht vor, dass die preußischen Mitglieder im Reichsrat einheitlich, und dann noch womöglich im Sinne der preußischen Staatsregierung, abstimmen sollten. Eine solche Regelung hätte, wie der Abgeordnete Erich Koch von der DDP in der Weimarer Nationalversammlung zu bedenken gab, „den Zweck der ganzen Maßnahme illusorisch“ gemacht,47 der darin bestand, „Preußen wenigstens in seiner Repräsentation zu ‚zertrümmern‘“, um hier den Worten von Hugo Preuß, ebenfalls in der Nationalversammlung,48 zu folgen. Als Bevollmächtigter Pommerns im Reichsrat wurde im Geschäftsjahr des Provinzialverbandes 1921 der uns schon bekannte „Fideikommißbesitzer Landrat a. D. Kammerherr 49 43 Vgl. Karl Scharping: Stimmung und Verhalten der Bevölkerung Schwedisch-­Pommerns im Wandel der Zeit von 1806 – 1820. Stettin 1932, S. 21 – 29; Kyra T. Inachin: Nationalstaat und regionale Selbstbehauptung. Die preußische Provinz Pommern 1815 – 1945 (Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-­Vorpommerns 7). Köln/Weimar/Wien 1994, S. 200. 44 Vgl. Eimers, S. 53. 45 Vgl. Bert Becker: Pommerscher Separatismus 1918/19, in: Baltische Studien N. F. 84 (1998), S. 72 – 84. 46 Vgl. ebd., S. 84. 47 Lilla: Reichsrat, S. 23. 48 Ebd., S. 22. 49 Carl Graf von Behr-­Behrenhoff entsprach als Corpsstudent, Gardeoffizier und 1909 ernanntes Mitglied des Herrenhauses in vieler Hinsicht dem Klischee vom pommerschen Junker. Vgl. Lilla: Staatsrat, S. 9, ders.: Reichsrat, S. 18.

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[Carl] Graf Behr-­Behrenhoff“ und als sein Stellvertreter der „Rittergutsbesitzer [Karl] von Flemming-­Basenthin“ gewählt.50 Tatsächlich haben schon bald Vertreter der preußischen Provinzen im Reichsrat abweichend vom Staatsministerium abgestimmt.51 Das zeigte sich bei der Auseinandersetzung um das 1922 nach den Morden an den Reichsministern Erzberger und Rathenau vom Reichstag verabschiedete Republikschutzgesetz. Der Bevollmächtigte für die Provinz Ostpreußen, Wilhelm Freiherr von Gayl (DNVP), erklärte auf der Sitzung des Reichsrats am 3. Juli 1922, das Republikschutzgesetz müssten er und seine konservativen Reichsratskollegen aus den preußischen Provinzen in Gänze ablehnen, weil es antimonarchistisch sei.52 Zu diesen DNVP-Repräsentanten im Reichsrat zählten auch Carl Graf von Behr-­Behrenhoff und sein Stellvertreter Karl Freiherr von Flemming-­Basenthin.53 Hier wiederholte sich, was sich bereits auf der Ebene des Staatsrats gezeigt hatte:54 Die starke Position der SPD im preußischen Staatsministerium wurde durch die anders gelagerte Parteiausrichtung der Provinzialvertreter aus dem gesamten Freistaat abgeschwächt.55 Die Staatsregierung hat dieses Resultat früh kommen sehen und in das „Gesetz über die Bestellung von Mitgliedern des Reichsrats durch die Provinzialverwaltungen“ wurde unter § 8 eine Bestimmung aufgenommen, wonach sich die von der Regierung bestellten und die von den Provinzialausschüssen entsandten preußischen Mitglieder vor einer Sitzung des Reichsrats „zwecks Herbeiführung einheitlicher Stimmabgabe in gemeinschaftlicher Beratung der bestellten und der gewählten Mitglieder“ miteinander abzustimmen hätten.56 Eine auch von der DNVP für notwendig gehaltene einheitliche Stimmführung Preußens im Reichsrat aber könne, wie Hugo Preuß auf der Sitzung des preußischen Landtags vom 20. April 1921 entgegnete, nur in der Reichsverfassung vorgeschrieben werden.57

50 46. Bericht des Provinzialausschusses über die Verwaltung der Angelegenheiten des Provinzialverbandes von Pommern für das Rechnungsjahr 1921. Stettin 1923, S. 3. 51 Vgl. Möller: Parlamentarismus, S. 499. 52 Vgl. Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik. Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik 1922 – 1930 (Tübinger Studien zur Geschichte und Politik 16). Tübingen 1963, S. 72. 53 Vgl. Lutter, S. 76. 54 Vgl. Lilla: Staatsrat, S. 18 f. 55 Vgl. Möller: Parlamentarismus, S. 504. 56 GS 1921, S. 380. 57 Vgl. Hans Peter Ehni: Bollwerk Preußen? Preußen-­Regierung, Reich-­Länder-­Problem und Sozialdemokratie 1928 – 1932 (Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-­Ebert-­ Stiftung, Bd. 111). Bonn-­Bad Godesberg 1975, S. 80. Die weiteren Bestrebungen, das Gesetz über die Bestellung von Mitgliedern des Reichsrates durch die Provinzialverwaltungen zu ändern, sind bei Lilla: Reichsrat, S. 225 – 230 dokumentiert.

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Demokratisierung der Gesellschaft Die Verwendung irrelevant gewordener Bezeichnungen bei den im Bericht des Provinzialverbandes genannten Repräsentanten verweist auf einen Überhang sozialer Tradition in die nachrevolutionäre Gesellschaft hinein. Kammerherren gab es nicht mehr, weil es keinen König und keinen Hof mehr gab. Rittergüter hatten ihre ständische Sonderstellung bereits 1875 verloren und Fideikommisse waren bereits infolge Art. 155 Abs.  II der Weimarer Reichsverfassung aufzuheben. Dennoch glaubte der Provinzialverband, in seinem Rechenschaftsbericht diese Bezeichnungen verwenden zu sollen. Tatsächlich waren bis zum Zeitpunkt des Jahres 1921 aber in Preußen eine Reihe wesentlicher Gesetze ergangen, die geeignet waren, die Gesellschaft durchgreifend zu demokratisieren. Das begann mit der Aufhebung aller Gesindeordnungen und Gesetze, die die Rechte der Landarbeiter beschränkten, durch den Rat der Volksbeauftragten am 12. November 1918.58 In den ersten Monaten des Jahres 1919 hatten die Staatsregierung und die verfassunggebende Landesversammlung bestimmt, dass die Landräte in den Kreisen vom Staatsministerium zu ernennen und die zuletzt in der Monarchie gewählten Selbstverwaltungsorgane, also die Gemeindeversammlungen, Kreistage, Provinzial- und Kommunallandtage, aufzulösen seien.59 Bei allen Regelungen, die gleichzeitig für die Neuwahlen zu diesen Vertretungen getroffen wurden, fällt auf, dass immer wieder das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Männer und Frauen nach dem Prinzip der Verhältniswahl betont wurde. Das Verhältniswahlrecht wurde in Artikel 17 WRV für die Volksvertretungen aller deutschen Länder verbindlich gemacht und galt infolgedessen auch für die Neuwahl des preußischen Landtags 1921.60 Es wurde sogar für die kirchlichen Gemeindewahlen 61 und für die Wahlen zu den Landwirtschaftskammern 62 gesetzlich vorgeschrieben. Offensichtlich waren die Gesetzgeber der nachrevolutionären Periode davon überzeugt, dass das Verhältniswahlrecht dem Demokratieprinzip am besten entsprach.63 58 Aufruf des Rats der Volksbeauftragten vom 12. November 1918, in: Gerhard A. Ritter/Susanne Miller (Hrsg.): Die deutsche Revolution 1819 – 1919, Dokumente. Hamburg 1975, S. 103. 59 Verordnung über die anderweite Regelung des Gemeindewahlrechts vom 24. Januar 1919. GS 1919, S. 13 f.; Verordnung, betreffend die Zusammensetzung der Kreistage und einige weitere Änderungen der Kreisordnungen, vom 18. Februar 1919. GS 1919, S. 23 – 26; Gesetz, betreffend die Neuwahl der Provinziallandtage, vom 16. Juli 1919. GS 1919, S. 129 – 131. 60 Auch wenn der Begriff fehlt, entsprechen die Regelungen im Gesetz über die Wahlen zum Preußischen Landtag (Landeswahlgesetz) vom 3. Dezember 1920 (GS 1920, S. 559 – 566) dem Verhältniswahlrecht. 61 Gesetz, betreffend die Neuregelung der Verfassung der evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen Preußens, vom 8. Juli 1920. GS 1920, S. 401 – 408, hier S. 404. 62 Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Landwirtschaftskammern vom 30. Juni 1894 und vom 16. Dezember 1920. GS 1921, S. 41 – 44, hier S. 41. 63 Die Sozialdemokraten waren seit einem halben Jahrhundert davon überzeugt, dass das im Kaiserreich geltende Mehrheitswahlrecht undemokratisch und zu ihrem Nachteil sei, vgl. Ferdinand A. Hermens: Mehrheitswahlrecht oder Verhältniswahlrecht? Berlin/München

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Man glaubte also, dass bereits der Verzicht auf jegliche ständische Repräsentationsstrukturen im Staat der Demokratie zuarbeiten würde. Doch wie sah es in der preußischen Gesellschaft aus? Hier meinte die provisorische Regierung, sich nur das Nötigste erlauben zu dürfen. Paul Hirsch begründete das in der Rückschau so: Die Aufgaben der preußischen Revolutionsregierung waren ihr zwangsläufig vorgeschrieben. Auf dem Gebiete der Gesetzgebung galt es zunächst mit den zahllosen Überbleibseln aus der Zeit der Reaktion aufzuräumen. Die Verordnungen, die die Regierung zu diesem Zweck mit Gesetzeskraft erlassen hat und die später von der verfassungsmäßigen Landesversammlung sanktioniert wurden, bildeten aber nur den Anfang der neuen Ordnung. Nur das Allernotwendigste konnte zunächst geschehen. Denn zu ruhiger Arbeit war die Zeit nicht angetan. Unter dem Knattern der Maschinengewehre lassen sich nicht gut Gesetze gestalten.64

Es mag der Regierung und den Parlamentariern offensichtlich erschienen sein, dass „Standesvorrechte“ keinen Bestand haben konnten. Diese waren an sich schon durch Artikel 4 der Verfassungsurkunde für den preußischen Staat vom 31. Januar 1850 abgeschafft worden, in dem es außerdem hieß: „Alle Preußen sind vor dem Gesetz gleich.“ Dennoch wurde noch einmal ein „Gesetz über die Aufhebung der Standesvorrechte des Adels und die Auflösung der Hausvermögen“ für nötig befunden, das von der verfassunggebenden Landesversammlung beschlossen und am 23. Juni 1920 verkündet wurde. Das Gesetz zielte, ohne dass dieses genannt wäre, vor allem auf das Königshaus sowie auf die bisher noch bevorrechtigten mediatisierten Standesherren. Insbesondere das Eheschließungs- und Ehescheidungs- sowie das Entmündigungs- und Vormundschaftsrecht waren hier tangiert.65 Das Namensrecht war in Ausführung der Reichsverfassung neu zu regeln und das preußische Heroldsamt wurde aufgelöst.66 Für die soziale Wirklichkeit Pommerns aber bedeutungsvoller waren die Gesetze, in denen die letzten Relikte des Feudalismus in ökonomischer Hinsicht abgeschafft wurden. Das Gesetz vom 23. Juni 1920 regelte auch die Auflösung der Hausvermögen ehemals regierender Häuser. Noch vorher aber, noch vor dem Zusammentreten der verfassunggebenden Landesversammlung, verordnete die Regierung „mit Gesetzeskraft“: Die Familiengüter sind aufzulösen. […] Familiengüter im Sinne dieser Verordnung sind standesherrliche Hausvermögen, Familienfideikommisse, Lehen und Erbstammgüter.

1949, S. 44; Hans Fenske: Strukturprobleme der deutschen Parteiengeschichte. Wahlrecht und Parteiensystem vom Vormärz bis heute. Kronberg im Taunus 1974, S. 177. 64 Hirsch, S. 124. 65 GS 1920, S. 367 – 382. 66 Verordnung, betreffend die Annahme des vollen Familiennamens durch uneheliche, an Kindes statt angenommene und für ehelich erklärte Kinder adeliger Personen, vom 3. November 1919. GS 1919, S. 180.

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Die Auflösung sollte freiwillig durch „Familienschluss“ 67 stattfinden. Wenn dieser nicht bis zum 1. April 1921 beschlossen war, folgte die Zwangsauflösung.68 Ziel war, alles Vermögen in freies Vermögen umzuwandeln.69 „Der Anteil der einzelnen Berechtigten an der Abfindung“ bestimmte sich „nach den Regeln des gesetzlichen Erbrechts.“ 70 Damit sollten die adeligen Gutsbesitzer den bürgerlichen gleichgestellt werden und sie hatten fortan unter den Bedingungen des freien Gütermarktes darum zu kämpfen, dass ihre Vermögensmassen beieinanderblieben, wenn sie dies wünschten.71 Besondere Bestimmungen der Zwangsauflösungsverordnung sahen Schutzmöglichkeiten vor, damit Wälder als geschlossene Waldgüter bewirtschaftet werden konnten.72 Andere Vorkehrungen sollten es verhindern, dass wertvolle Archive, Bibliotheken und Sammlungen auseinandergerissen wurden.73 Alle einschlägigen Verordnungen galten für den gesamten Freistaat. Sonderregelungen für Pommern finden sich im Gegensatz zu den meisten anderen Provinzen nicht. Das begründet sich daraus, dass in Pommern keine adeligen Standesherrschaften existiert hatten, die solche Sonderregelungen, auch hinsichtlich des Bergregals, nötig gemacht hätten. Die Aufhebung der Ortsschulinspektoren, hinter denen sich häufig die jeweiligen Pfarrer verbargen,74 sowie Regelungen, die die Besoldung der Volksschullehrer neu und einheitlich ordneten 75 und die zum Beispiel den „organischen“ Nexus zwischen dem Dorfschullehreramt einerseits und dem Kantoren- und Organistenamt andererseits lösten,76 runden das Bild einer Gesetzgebung ab, die auch auf dem Dorf traditionelle Unterordnungsverhältnisse abzuschaffen bestrebt war. Die Gliederung in demokratisch verwaltete Gebietskörperschaften musste allerdings noch durch die von Hirsch gleich in den ersten Novembertagen 1918 angekündigte Auflösung der Gutsbezirke vervollständigt werden. Welche Rolle die Gutsbezirke aus sozialdemokratischer Sicht spielten, sei anhand der Autobiografie des aus Treptow an der Tollense stammenden SPD-Innenministers Albert Grzesinski verdeutlicht. Seine Einschätzung lautete: Das Institut der Gutsbezirke und der Gutsvorsteher war im alten Preußen der prägnanteste Ausdruck der Machtverteilung. Die Reaktion zog ihre Kraft in erster Linie, auch nach 1918 noch, aus den ostelbischen Gutsbezirken. Die Gutsbezirke waren kleine absolute Standes-

67 68 69 70 71 72 73 74 75 76

GS 1919, S. 39.

Zwangsauflösungsverordnung vom 19. November 1920. GS 1920, S. 463 – 513, hier S. 511. Vgl. Zwangsauflösungsverordnung, S. 464. Zwangsauflösungsverordnung, S. 465. Carl Graf von Behr-­Behrenhoff erkannte offenbar, dass dieser Prozess gestaltet werden musste, und wurde 1921 Mitglied des Auflösungsamts für Familiengüter in Stettin, vgl. Lilla: Staatsrat, S. 9. Zwangsauflösungsverordnung, S. 474. Zwangsauflösungsverordnung, S. 481. Gesetz, betreffend die Aufhebung der Ortsschulinspektoren, vom 18. Juli 1919. GS 1919, S. 147. Volksschullehrer-­Diensteinkommensgesetz vom 7. Mai 1920. GS 1920, S. 264 – 268. Volksschullehrer-­Diensteinkommensgesetz vom 17. Dezember 1920. GS 1920, S. 631 f.

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herrschaften, in denen der Gutsherr polizeiliche Gewalt hatte und früher auch die Strafgerichtsbarkeit (Patrimonialgerichtsbarkeit) ausübte. Diese Vorrechte waren großenteils dem Adel vorbehalten. Die Bewohner der Gutsbezirke hatten so gut wie keine Rechte.77

Der Begriff der absoluten Standesherrschaft ist historisch sicherlich problematisch. Grzesinski war allerdings weder Historiker noch Jurist. Für ihn verkörperte sich aber das Ancien Régime Preußens in diesem Rechtsinstitut. Die Auflösung der Gutsbezirke verzögerte sich jedoch, weil der seit November 1921 amtierende Innenminister Carl Severing die Absicht verfolgte, sie gemeinsam mit einer neuen Landgemeindeordnung durchzusetzen.78 Koalitionsinterne Differenzen und der Widerstand der Oppositionsparteien DNVP und KPD bewirkten, dass die Auflösung der Gutsbezirke erst am 27. Dezember 1927 zustande gekommen ist.79 In seiner großen Darstellung der parlamentarischen Arbeit im Freistaat Preußen hat Horst Möller das Gesetzgebungswerk der zwanziger Jahre so bewertet: Dem großen Werk der Verfassunggebung der Jahre 1919/1920 fehlte oft genug die Fortsetzung, fehlte der adäquate Unterbau auf provinzialer und kommunaler Ebene.80

Diesen Unterbau, soweit er Pommern betrifft, wollen wir uns zum Schluss noch einmal ansehen.

Der Provinzialverband Pommern, die Gutsbesitzer und der preußische Staat Der aus dem Kaiserreich überkommene Provinziallandtag hatte sich im März 1918 noch damit beschäftigt, die Mitglieder der „Oberersatzkommission“ zu wählen, die an der Rekrutierung der Wehrpflichtigen mitwirkte. Die bei diesem Termin Nachgewählten und ihre Stellvertreter waren Rittergutsbesitzer mit entsprechenden Adressen und, mit einer Ausnahme, auch verabschiedete Offiziere.81 Man ist verblüfft zu sehen, dass die gleiche Prozedur im März 1919 mit der gleichen sozialen Zusammensetzung im Ergebnis noch einmal wiederholt wurde, ohne, dass von der Existenz der Arbeiter- und Soldatenräte etwas zu

77 Albert Grzesinski: Im Kampf um die deutsche Republik. Erinnerungen eines Sozialdemokraten. Hrsg. von Eberhard Kolb (Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-­Friedrich-­ Ebert-­Gedenkstätte 9). München 2001, S. 193. 78 Vgl. Möller: Parlamentarismus, S. 474. 79 GS 1927, S. 211 – 214; vgl. Möller: Parlamentarismus, S. 489. 80 Möller: Parlamentarismus, S. 481. 81 42. Bericht des Provinzialausschusses über die Verwaltung der Angelegenheiten des Provinzialverbandes von Pommern für das Rechnungsjahr 1917. Stettin 1919, S. 4. Die Rechnungsjahre liefen jeweils von April bis März.

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merken gewesen wäre.82 Der Provinziallandtag stammte zu diesem Zeitpunkt immer noch aus dem Ancien Régime, denn seine Auflösung wurde durch preußisches Landesgesetz erst am 16. Juli 1919 verfügt.83 Die Liste der während des Berichtsjahres 1919, das bis zum 30. März 1920 reichte, neubzw. wiedergewählten Mitglieder des Provinzialausschusses, verschiedener seiner Kommissionen, der Bezirksausschüsse und des Provinzialrats aber verzeichnet fast genauso viele Ritterguts- oder Fideikommissbesitzer einschließlich des Erblandmundschenks von Heyden-­Linden auf Tützpatz, Kreis Demmin, wie zuvor. Aus den Städten kamen Bürgermeister, Mittelschullehrer, Stadtverordnete und ein vereinzelter Parteisekretär, der für Kolberg gewählt worden war. Dass die Mitglieder des Steuerausschusses für die Gewerbesteuerklasse I und der Einkommensteuer-­Berufungskommission sich aus den Schichten zusammensetzten, die überhaupt für diese Steuerarten veranlagt wurden, versteht sich. Hier traten die Kaufmannschafts-­Vorsteher, Handelsrichter, Mühlen- und Fabrikbesitzer zu den Gutsbesitzern hinzu.84 Der letzte pommersche Provinziallandtag der Monarchie hatte 91 Abgeordnete gezählt, dem neuen, nach dem Wahlgesetz von 1919 gewählten, gehörten 71 Abgeordnete an. Die meisten Stimmen hatte die Deutschnationale Volkspartei erhalten; sie schickte 35 Abgeordnete in das Landeshaus nach Stettin. Die Sozialdemokraten hatten 21, USPD 3, die Deutsche Volkspartei 10 und die Deutsche Demokratische Partei 2 Mandate gewonnen. Die Wirtschaftspartei des Deutschen Mittelstandes und die VKPD verfügte ebenfalls über jeweils 2 Sitze.85 Bei den Wahlen vom 29. November 1925 konnte die DNVP ihren Vorsprung ausbauen, während die SPD deutlich verlor.86 Schon aus der Bismarck’schen Gesetzgebung des Jahres 1875 war der Provinzialverband als Kommunalverband mit Zuständigkeiten für Infrastruktur, Gesundheit, Bildung und Kultur hervorgegangen. Er betrieb psychiatrische Kliniken sowie Fürsorgeanstalten und Erziehungsheime. In diesen Einrichtungen hat die Revolution deutliche Spuren hinterlassen. Im Auftreten der Zöglinge der Provinzial-­Rettungshäuser und Fürsorgeanstalten machte sich nämlich mit dem „Umsturz“ eine wesentliche Änderung bemerkbar: Ein großer Teil der älteren Zöglinge wurde aufsässig, frech und ungehorsam und verrichtete nur widerwillig seine Arbeit. Viele waren der Meinung, dass durch den Regierungswechsel alle Gesetze mit einem Schlage außer Kraft seien und die Fürsorgeerziehung aufgehört habe. 82 43. Bericht des Provinzialausschusses über die Verwaltung der Angelegenheiten des Provinzialverbandes von Pommern für das Rechnungsjahr 1918. Stettin 1920, S. 2. 83 Gesetz, betr. die Neuwahl der Provinziallandtage, vom 19. Juli 1919. GS 1919, S. 129 – 131. 84 44. Bericht des Provinzialausschusses über die Verwaltung der Angelegenheiten des Provinzialverbandes von Pommern für das Rechnungsjahr 2019. Stettin 1921, S. 3 – 9. 85 45. Bericht des Provinzialausschusses über die Verwaltung der Angelegenheiten des Provinzialverbandes von Pommern für den Zeitraum vom 1. April 1920 bis 31. März 1921. Stettin 1922, S. 1. 86 50 Jahre Provinzialverband, S. 9.

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Verschiedene Väter kamen in die Anstalten, beriefen sich auf die Arbeiter- und Soldatenräte und forderten die sofortige Freigabe ihrer Kinder. Zur Vermeidung weiterer Unruhen ist in einigen Fällen von den Anstaltsvorständen dem Drängen der Leute nachgegeben und die Auslieferung der Zöglinge erfolgt. Auch bei den in Familienerziehung untergebrachten Fürsorgezöglingen ist es zu unliebsamen Auftritten mit den Dienstherren bzw. Pflegeeltern gekommen.

Inzwischen sei jedoch eine Beruhigung eingetreten. Man erfährt bei dieser Gelegenheit, dass häufig Jugendliche wegen „Verwahrlosung“ in die Anstalten gesteckt worden waren, weil ihre Väter zum Heeresdienst eingezogen waren. Da diese Väter nun zurückkehrten, hatte man nichts dagegen, Entlassungsanträgen für ihre Kinder stattzugeben.87 Im Lauf des Winters 1918/19 waren einige Delegierte „des Arbeiter- und Soldatenrats“ aber auch auf die Idee gekommen, die Fürsorgeanstalten unangemeldet zu revidieren. Ein auf Drängen der damaligen Delegierten des Arbeiter- und Soldatenrats unter Zurückstellung diesseitiger Bedenken an die Erziehungsanstalten gerichtetes Rundschreiben, von der Verhängung der Prügelstrafe gegen die vom Provinzialverbande überwiesenen Zöglinge bis auf weiteres überhaupt abzusehen, wurde nach kurzer Zeit auf Veranlassung derselben Delegierten wieder aufgehoben. Sie hatten eingesehen, daß eine gänzliche Aufhebung der Prügelstrafe nicht durchführbar war, ohne die Autorität der Erzieher völlig zu untergraben.88

Aus dem weiteren Jahr 1919 wurden zwar derartige Aufsässigkeiten nicht mehr berichtet, „jedoch waren infolge der allgemeinen Verrohung des Volkes die Vergehen und Verbrechen bedeutend schwerer und die Bestrafungen“, sofern sie von Gerichten verhängt werden mussten, waren „dementsprechend höher“.89 Neu war, dass der Provinzialverwaltung nunmehr „Arbeitervertreter“ zugeteilt waren, welche die Erziehungsanstalten besichtigten und dabei wiederum Beschwerden der Zöglinge zu hören bekamen. Für die sehr zahlreichen Anträge der Eltern, ihnen ihre Kinder zur weiteren Erziehung zu überlassen, traten die Arbeitervertreter lebhaft ein und erwirkten dadurch die Entlassung vieler Zöglinge, die noch der weiteren Anstaltserziehung bedurft hätten. Die Folgen dieser frühzeitigen Entlassungen machen sich jetzt mehr und mehr bemerkbar […] Teilweise hatten die Eltern selbst um Zurücknahme ihrer Kinder in die Erziehungsanstalten gebeten.90

87 43. Bericht des Provinzialausschusses, S. 48. 88 Ebd., S. 49. 89 44. Bericht des Provinzialausschusses, S. 56. 90 Ebd., S. 58.

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Zu den Zuständigkeiten des Provinziallandtags gehörten weiterhin das Versicherungswesen und die Schaffung eines Überlandverbundes bei der Elektrifizierung. Der Krieg hatte insgesamt die Mentalitäten geprägt und „das Verständnis der Versicherten gegenüber den Unfallverhütungsvorschriften hat unter den Kriegseinflüssen noch abgenommen.“ Wo täglich Tausende dem Tod ausgeliefert waren, machte man sich über die Sicherheit von Dampflokomobilen keine Sorgen mehr. „So hat z. B. ein Dreschmaschinenführer ein Sicherheitsventil der Dreschlokomobile verkeilt, um das Ablassen des Dampfes zu verhindern.“ 91 Krieg und wirtschaftliche Einschränkungen aber haben einen so fundamentalen Wandel wie die Elektrifizierung allenfalls verlangsamen, jedoch nicht aufhalten können. Hierbei hatte der Provinzialverband eine tragende Rolle. Die Elektrifizierung hatte einen Netzausbau erfordert, der lange vor dem Krieg begonnen hatte, an dem Jahrzehnte gearbeitet werden musste und der in der Peripherie zuletzt ankam. „Ein großer Teil der Arbeitsmaschinen“ wurde von nun an elektrisch angetrieben und musste „neu beschafft“ werden.92 Das Reichs-­Sozialisierungsgesetz vom 23. März 1919 sah vor, dass die Ausnutzung von Energieträgern und die Energiewirtschaft nach „gemeinwirtschaftlichen Gesichtspunkten geregelt“ werden sollten.93 Der Provinzialverband stellte sich darauf ein, dass der Staat private Anteile von Energieversorgungsunternehmen würde übernehmen müssen.94 Die weitere Verflechtung der Elektrizitätswirtschaft gestaltete sich jedoch unspektakulär. Die Gegensätze von alt und neu konnten dort nicht auftreten, wo bereits die Technik neuartig war. Außerhalb dieser Bereiche aber blieb zwischen den Mentalitäten der vom Provinzialverband Betreuten einerseits und seiner Entscheidungsträger andererseits ein Unterschied bestehen. Das lässt sich an der Distanz ablesen, mit der die Berichte des Provinzialverbandes die Veränderungen der Jahre 1918 und 1919 behandeln. Der im Bericht für das Geschäftsjahr 1918 verwendete Ausdruck „Umsturz“ 95 knüpft an die Terminologie der vorrevolutionären Zeit an, zu erinnern ist nur an die auf persönlichen Wunsch Wilhelms II. eingebrachte „Umsturzvorlage“, die 1895 vom Reichstag abgelehnt worden war. Dass ein Gesetz der verfassunggebenden Landesversammlung die Auflösung und Neuwahl des Provinziallandtages mit einem demokratischeren Wahlrecht zur Folge gehabt hatte, führte zu seiner „verspäteten Einberufung“, die in der Ausdrucksweise der Berichte „durch die politischen Verhältnisse verursacht“ war.96 Die Vorbehalte, die in Pommern gegenüber der neuen Ordnung geäußert wurden, sind also auf der Ebene des Provinzialverbands schon erkennbar. Deutlicher wurden sie in einem Machtkampf, den die im Pommerschen Landbund organisierten Gutsbesitzer mit dem preußischen Staat ausfochten, als dieser, konform mit der reichsweiten Entwicklung, 91 92 93 94 95 96

Ebd., S. 120. Ebd., S. 121. RGBl. 1919, S. 342. 44. Bericht, S. 71. 43. Bericht, S. 48. 44. Bericht, S. 71.

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Tarifverträge auch für die Landarbeiter auf den Gütern durchsetzen wollte. Dies war ein persönliches Anliegen des preußischen Landwirtschaftsministers Otto Braun (SPD), der seine politische Karriere mit der gewerkschaftlichen Organisation der Landarbeiter begonnen hatte. Der Pommersche Landbund hatte ursprünglich darauf bestanden, dass die Gutsbesitzer „Herr im eigenen Hause bleiben“ sollten.97 Das Amt für Demobilmachung setzte sodann durch, dass der Landbund sich auf Verhandlungen über einen neu zu schaffenden Tarifvertrag einließ, die der Landbund jedoch am 9. Juli 1919 zum Scheitern brachte. Die Landarbeiter beantworteten dies am 17. Juli 1919 mit dem Ausruf des Generalstreiks; das Generalkommando des 2. Armeekorps in Stettin, das den Pommerschen Landbund bereits mit Waffen versorgt hatte, verhängte daraufhin den Belagerungszustand. Dies geschah unter Umgehung des Oberpräsidenten Julius Lippmann (DDP). Braun erklärte hierzu in der preußischen verfassunggebenden Landesversammlung: Dieses Treiben des Pommerschen Landbundes war im höchsten Grade gemeingefährlich, es hat hauptsächlich zu dem Ausbruch dieses Streiks beigetragen. Es müssen daher diejenigen Herren, die dort im Pommerschen Landbund diese verderbliche Tätigkeit ausgeübt haben, die in dieser Weise jede Herbeiführung wirtschaftlich friedlicher Verhältnisse sabotiert haben, ebenso mit aller Schärfe und Energie bekämpft werden wie jene kommunistischen Streikhetzer, denen sie erst die Hasen in die Küche treiben.98

Braun, der seinerseits beim Überschreiten seiner Kompetenzen wenig Skrupel hatte,99 konnte diese Auseinandersetzung in seinem Sinne beenden. Am 2. September 1919 ermächtigte er die Kommissare der Demobilmachungsämter per Verordnung, Arbeitsbedingungen für die Landarbeiter eines Kreises festzulegen, wenn in diesem Kreis keine Tarifabschlüsse bestanden. Der Demobilmachungskommissar durfte einem Arbeitgeber, der sich weigerte, die neuen Arbeitsbedingungen anzuerkennen, „nach Anhörung unparteiischer Sachverständiger die Verwaltung seines Grundstückes einschließlich des Zubehörs“ entziehen und dem zuständigen Kreiskommunalverband übergeben.100 Eine dauernde Feindschaft zwischen Braun und dem Landbund war damit gestiftet;101 sie mündete schließlich in den im März 1920 von Mecklenburg und Pommern ausgehenden Kapp-­Putsch.102 Nach dem Kapp-­Putsch löste Otto Braun den preußischen Ministerpräsidenten Paul Hirsch ab, den auch der inzwischen zum Reichspräsidenten gewählte Friedrich Ebert der Schwäche bezichtigt hatte.103 97 Schulze, S. 279. 98 Ebd., S. 285. 99 Ebd. 100 Ebd., S. 284 f. 101 Ebd. 102 Vgl. Martin Schaubs: Märzstürme in Pommern. Der Kapp-­Putsch in Preußens Provinz Pommern. Marburg 2008, S. 28 f. 103 Schulze, S. 297.

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Soweit, wie in der Aufnahme der preußischen Provinzialvertreter in den Reichsrat, die Absicht bestanden hatte, die Stellung Preußens im Reich zu schwächen, waren als Resultat der Wahlen zur und in der Provinzialversammlung gerade die Kräfte gestärkt worden, die dem Neuen abgeneigt waren, ein paradoxes, aber zumindest für Pommern nicht überraschendes Ergebnis. In der preußischen Staatsregierung legte man dagegen den größten Wert darauf, dass man mit dem Ancien Régime gebrochen hatte. Es gab genug antipreußische Affekte im Reich, so dass die Zentralregierung wiederholt genötigt war zu betonen, wie gründlich dieser Bruch ausgefallen war. Der aus Württemberg stammende Reichsfinanzminister Matthias Erzberger, ein Zentrumsmann, hat am 27. September 1919 in der Weimarer Nationalversammlung heftige Angriffe gegen Preußen gerichtet. Es sei hier noch ein letztes Mal dem preußischen Ministerpräsidenten Hirsch das Wort gegeben, der am folgenden Tag in der preußischen verfassunggebenden Landesversammlung geantwortet hat: Die heutige preußische Regierung kennt die Fehler, die das alte Regiment in der Behandlung des Volkes, insbesondere auch beim Kulturkampf und in der Behandlung nationaler Minderheiten gemacht hat. […] Die preußische Regierung steht auf dem Boden der weitestgehenden Demokratie und Selbstverwaltung, namentlich auch der Gemeinden und Provinzen, so daß schon hierdurch jede Unterdrückung religiöser und völkischer Rechte ausgeschlossen ist. Dieser Politik der Gegenwart gegenüber können die Versuche der Zersplitterung Preußens keine Rechtfertigung in den Fehlern der Vergangenheit beanspruchen.104

104 Hirsch, S. 187.

Nachwort Die hier versammelten Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die der Herausgeber am 9. und 10. November 2018 im Auftrag der Historischen Kommission für Pommern und der Arbeitsgemeinschaft zur Geschichte Preußens im Alfried-­Krupp-­Wissenschaftskolleg Greifswald veranstaltet hat. Dem Wissenschaftskolleg ist zu danken für die Möglichkeit, die exakten Gedenkdaten für die Tagung zu nutzen, sowie für einen substanziellen finanziellen Beitrag. Ebenso unterstützten die Historische Kommission und die Arbeitsgemeinschaft die Tagung, die Universität Greifswald und der Vorpommernfonds förderten die vorausgehenden Recherchen. Die Historische Kommission, die ihrerseits durch das Herder-­Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg an der Lahn sowie durch das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-­Vorpommern gefördert wird, hat die Drucklegung ermöglicht. Wenn sie auch immer noch nicht Teil des patriotischen Festkalenders geworden ist, so hat die Wertschätzung, die die demokratische Revolution der Jahre 1918/19 in Deutschland inzwischen wieder bekommt, ihren Ausdruck doch in dieser Förderung gefunden.

Abkürzungsverzeichnis AHR AKG APS

American Historical Review Archiv für Kulturgeschichte Archiwum Państwowe w Szczecinie [Staatsarchiv Stettin] Anm. Anmerkung Art. Artikel APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte AuSR Arbeiter- und Soldatenrat BAB Bundesarchiv, Abteilung Berlin-­Lichterfelde Bearb. Bearbeiter Bl. Blatt cf. confer ders. derselbe DDP Deutsche Demokratische Partei DNVP Deutschnationale Volkspartei DVP Deutsche Volkspartei E. M. A.-Universität Ernst Moritz Arndt-­Universität ebd. ebenda fig. figure f. folgende FVg Freisinnige Vereinigung FoVp Fortschrittliche Volkspartei GuG Geschichte und Gesellschaft GS Preußische Gesetzsammlung GStA PK Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz H. Heft HA Hauptabteilung Hrsg. Herausgeber HZ Historische Zeitschrift ibid. ibidem IBK Industriebaukombinat JbGMOD Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands KPD Kommunistische Partei Deutschlands LAGw Landesarchiv Greifswald MSPD Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei OHL Oberste Heeresleitung op. cit. opus citatum p. page

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Abkürzungsverzeichnis

pp. pages Phil. Diss. Philosophische Dissertation RAGE Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts Rep. Repositur RFV Reichsfürsorgepflichtverordnung RGBl. Reichsgesetzblatt RGZ Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen RJWG Reichsjugendwohlfahrtsgesetz RVG Reichsversorgungsgesetz SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sp. Spalte StAG Stadtarchiv Greifswald StAS Stadtarchiv Stralsund Tit. Titel TVVO Tarifvertragsverordnung UAG Universitätsarchiv Greifswald unfol. unfoliiert USPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands VEB Volkseigener Betrieb vgl. vergleiche VfZ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte vol. volume VSWG Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte WRV Weimarer Reichsverfassung ZfA Zeitschrift für Arbeitsrecht ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

Verzeichnis der Autoren Bert Becker, Dr. phil. habil., assoc. Professor of Modern European History, The University of Hong Kong, Department of History. Gunter Dehnert, M. A., Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Bereich Landesgeschichte, Pommersches Landesmuseum Greifswald. Ilya Dementev, PhD, Dozent am Institute for the Humanities, Immanuel Kant Baltische Föderale Universität (Kaliningrad, Russland). Eberhard Eichenhofer, Prof. Dr. Dr. h.c, Friedrich-­Schiller-­Universität Jena, im Ruhestand in Berlin lebend. Rüdiger Graf, PD Dr. phil., Leiter der Abteilung II „Geschichte des Wirtschaftens“ am Leibniz-­Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). Christoph Freiherr von Houwald, Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Hamburg, Richter am Sozialgericht Stralsund. Jenny Linek, Dr. phil., Historikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Neubrandenburg und an der Universität Greifswald, Lehrbeauftragte am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Greifswald. Tim B. Müller, Dr. phil., Historiker, Wissenschaftlicher Leiter des Verbands Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-­Württemberg, und der Forschungsstelle zur Kultur und Geschichte der Sinti und Roma in Mannheim, Lehrbeauftragter an der Universität Mannheim. Hedwig Richter, Dr. phil. habil., Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Thomas Stamm-­Kuhlmann, Dr. phil. habil., Professor für Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit an der Universität Greifswald, im Ruhestand.

Ortsregister Nicht aufgenommen sind: Versailler Vertrag, Weimarer Republik, Weimarer Verfassung A Alberta (Maine) ​217 Allenstein ​229 – 230 Altenpleen ​154 Alter Markt (Stralsund) ​140, 142 – 143, 151, 160, 163, 165 Anklam ​164, 247 B Bartmannshagen ​229 Behrenhoff ​183 – 184 Belgard ​232 Berlin ​7, 8, 11, 20 – 21, 24, 52, 68, 77, 79, 103 – 104, 124, 138, 151, 168, 173, 178, 180, 216 – 217, 219 – 221, 223, 228, 231, 240, 243, 248, 255, 259 – 260, 262 Białystok ​233 Bitterfeld ​140 Bonn ​20, 103 Bremen ​24 Breslau ​26, 222 – 223 Brest-Litowsk ​220 Bromberg ​240 Bublitz ​232 Bunzlau ​181 Busdorf ​184 C Cammin ​232 Chemnitz ​21 Chicago ​97 D Dänholm ​131 Damgarten ​162 Demmin ​164, 268 Detroit (Michigan) ​217 E Eisenbahn-Hauptwerkstatt (Greifswald) ​169, 183, 187 Erfurt ​226

F Frankenvorstadt ​133 Frankfurt am Main ​103, 181 Franzburg ​153, 164, 203, 231, 246 G Gent ​119 Genua ​54 Gera ​178 Gießen ​217 Göttingen ​169 Greifenberg ​162, 233 Greifenhagen ​223 Greifswald ​7, 10, 20, 167 – 191, 197, 199, 222, 248 Grimmen ​162, 228 Grodno ​233 Groß-Räschen ​142 Grünberg (Niederschlesien) ​228 H Hamburg ​92, 124, 151 Heidelberg ​169, 180 Herford ​96 Hildesheim ​212, 230 J Jena ​180 K Kiel ​7, 20, 131, 138 – 139, 143, 172 – 173, 177 – 178, 196, 220 Köln ​119 Königsberg (Preußen) ​82 Körlin ​233 – 234 Köslin ​140, 204, 206, 209, 228 – 229, 234 Kolberg ​162, 180, 184, 233 – 234, 241 – 242 Konitz (Westpreußen) ​229 Kreckow ​196, 236 Kronberg im Taunus ​180

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Ortsregister

L Lasbeck ​232 Lauenburg (Pommern) ​212 Leipzig ​30 Leverkusen ​20 Locarno ​63 – 64 London ​92 M Magdeburg ​140 Marienwerder ​229 Martensdorf ​140 Mohrungen ​217 Moskau ​77, 85 München ​7, 24, 180, 220 N Nassow ​228 Naugard ​218 Neuenkirchen bei Greifswald ​173 Neustettin ​213 New York ​98 O Offenbach ​22 Osnabrück ​27 – 28 P Panzers Garten (Stralsund) ​141, 145, 149 Paris ​54, 63, 80 Pasewalk ​168 Pinnow ​235 Pruchten ​203 R Rapallo ​54 Randow ​195, 236, 240 Regenwalde ​231 – 232 Rostock ​172, 178 Rügen ​138, 153, 184, 228 Rummelsburg ​233 S Saßnitz ​133, 138 Schanghai ​228

Schivelbein ​232 Stargard ​205, 241 Sternberg (Neumark) ​235 Stettin ​7, 10, 132, 144 – 145, 151, 162, 164, 168, 176, 178, 190, 194 – 209, 211 – 220, 223 – 232, 235 – 250 Stolp ​184, 199, 229, 233 Stralsund ​7, 10, 131 – 140, 142 – 149, 153 – 157, 160 – 166, 168, 172, 174, 186, 189, 197, 204, 206, 209, 228 – 229, 245 – 247, 250 Stuhm ​229 Stuttgart ​26, 124 Swinemünde ​204, 231, 240 T Tokio ​210 Trelleborg ​133 Tübingen ​169 Tützpatz ​268 U Ueckermünde ​164, 231 Usedom ​228, 231 V Versailles ​63, 241 Vitebsk ​68 Vulcan-Werft (Stettin) ​197 W Warnemünde ​178 Washington, D.C. ​54 – 55, 63 – 64 Weimar ​63, 103 – 104, 234, 249 Wilhelmshaven ​141, 177 Wismar ​178 Wollin ​228, 231 – 232 Y Yale University ​53 Z Zirkus Busch (Berlin) ​18 Zuckerfabrik (Stralsund) ​133, 140 – 141, 145, 157 – 158, 166 ​

Personenregister Die Transliteration russischer Eigennamen folgt der Schreibweise im Beitrag von Ilya Dementev. ​ A Ackermann, Friedrich ​201, 208, 237, 241 Ahrendts, Carl ​233 von Alvensleben, Landrat ​233 – 234 Anderson, Margaret Lavinia ​36 Angell, Norman ​98 Andreyev, Leonid ​77 Anschütz, Gerhard ​258 Anthony, Susan B. ​90 Augspurg, Anita ​98 B Bader-Zaar, Birgitta ​88 Badke, Otto ​136 – 137 Baker, Keith ​16, 32 Baker, Paula ​100 Baldwin, Stanley ​39 Bartels, Oberpräsidialrat ​213 Barth, Emil ​22 von Baudissin, Nikolaus Graf ​232 Bauer, Gustav Adolf ​61 – 62, 70, 248 Baum, Marie ​91 Baumann, Emil ​228 Bebel, August ​97 Bechly, Hans ​30 – 31 Becker[-Bartmannshagen], Gutsbesitzer ​228 Becker, Landrat ​233 Becker, Bert ​10, 167, 194, 208 Becker, Carl Lotus ​41, 45 – 47, 56 von Behr[-Behrenhoff], Carl Graf ​183 – 184, 199, 261, 263, 266 Berdyayev, Nikolai ​79 Bergmann, W., Abgeordneter ​228 Bergsträsser, Ludwig ​248 von Berlepsch, Hans Freiherr ​92, 105 Beyer, Eduard ​259 von Bismarck, Herbert ​232 von Bismarck, Otto ​105, 268 Bloch, Ernst ​107 – 108 Blok, Alexander ​67 Boehm, Max Hildebert ​30

von Bötticher, Polizeipräsident ​198, 201, 205 – 206, 234 Bonn, Moritz Julius ​48 Born, Führer der Sicherheitswehr ​239 Bosse, Christoph ​182 Bracher, Karl Dietrich ​9 Bracht, Regierungsassessor ​232 Branig, Hans ​251 von Braun, Magnus Freiherr ​244 Braun, Otto ​11, 227, 246 – 247, 255, 259, 270 Breitscheid, Rudolf ​211 Breyer, Waldemar ​233 Brock, Vorsitzender des Soldatenrats ​144 – 145, 148 – 151 Broemel, Max ​218 Bröse, Siegfried ​231 Bruckner, Direktor der Zuckerfabrik ​157 – 158 Brüning, Heinrich ​65 Brüning, Walter ​233 Brusch, Arthur ​140 – 141, 145 Bryce, James, 1st Viscount Bryce ​41 – 49, 53, 55 – 56, 60 Bülow, Albert ​231, 246 Bunin, Ivan ​80 Burmann, Ulrich ​180 – 187, 191 – 192 Butler, Jack ​85 Buttgereit, Jens ​131 C Churchill, Winston S. ​63 – 64 Claß, Heinrich ​30 Cohen[-Reuß], Max ​24, 212 Copius, Joachim ​167 Cronau, Curt ​228 – 229 Cunow, Heinrich ​37 D Däumig, Ernst ​23 Damaschke, Adolf ​124, 224 von Dannenberg, Landrat ​231 David, Eduard ​61 Davidenko, Alexey A. ​85

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Personenregister

Decker, Adolf ​228 Dehnert, Gunter ​10, 187 Delbrück, Hans ​51 – 52 Dementev, Ilya ​12 Deutscher, Isaac ​73 Dewey, John ​40 von Dewitz, Johann Georg ​245 – 246 Dittmann, Wilhelm ​22 Dombois, Friedrich Wilhelm ​233 Dombrowski, Erich ​26 – 27 Dopierała, Bogdan ​194 Drabkin, Iakov ​67, 70 Duisberg, Carl ​20 Dunant, Henry ​98 E Ebert, Friedrich ​8, 18, 21, 25, 81, 104, 109, 147, 149, 153, 159, 200, 211, 227, 254 – 256 Edelstein, Dan ​16, 32 Edwards, Laura F. ​38 Eichenhofer, Eberhard ​10 – 11, 92 von Eisenhart-Rothe, Lukas ​232 Engels, Friedrich ​16 Erdmann, Karl Dietrich ​20, 32 Ernst, Eugen ​255 Erzberger, Matthias ​259, 263, 272 F Falkenberg, Delegierter zur Reichskonferenz der AuS-Räte ​206 von Falkenhausen, Alexander Freiherr ​240, 242 Fedin, Konstantin ​68 von Feldmann, Hans ​242 – 244 Fischbeck, Otto ​222 – 223 Fleischmann, Max ​168, 178 – 186, 188, 191 von Flemming[-Basenthin], Karl Freiherr ​263 Föllmer, Moritz ​16 von Forstner, Korvettenkapitän ​158 Fraenkel, Ernst ​114 Frank, Semyon ​80 Freyer, Paul ​139, 143, 146, 165 Friedberger, Ernst ​184, 190 Friedrich II. der Große, König von Preußen ​ 218 G Gauchet, Marcel ​39 von Gayl, Wilhelm Freiherr ​263

Geffke, Herta ​193 – 194, 202 – 203 Gerding, Willy ​171 Gerlach, Hellmut von ​107 Gerlach, Nikolaus von ​199 Gershenzon, Mikhail ​76 Geßler, Otto ​229 Gierke, Anna von ​97 Gillin, John Lewis ​41, 47 – 48, 56 Gippius, Zinaida ​77 Goebel, Wilhelm ​136, 139, 143, 153 Göhre, Paul ​244 Goehtz, Walter ​232 – 233 von der Goltz, Freiherr, Landrat ​232 Gothein, Georg ​181, 222 Gorky, Maxim ​74 Graf, Rüdiger ​11 – 12 Groener, Wilhelm ​241 – 243 von Gröning, Johann Stephan ​139, 186, 189, 228 Gronow, August Friedrich ​138 – 139, 142 – 144, 146 – 148, 150, 152, 155, 162 Groppe, Carola ​93 Groß, Leutnant ​236 Grothe, Hermann ​223 Grzesinski, Albert ​11, 266 – 267 Guske, Wilhelm ​231 Gut, Paweł ​252 H Haack, Albert ​153, 165 Haase, Hugo ​18, 73 Hänisch, Konrad ​259 Haffner, Sebastian ​8 von Hagen, Gustav ​232 Hamburger, Ernest ​219 Hartung, Fritz ​48 Hartwig, Theodor ​228 Haussmann, Hermann ​229, 233, 246 Heckert, Fritz ​21 Hein, Mitglied der USPD ​236 Heine, Wolfgang ​162, 227 – 228, 231 – 234, 237 – 238, 240 – 245, 247 Herbert, Fritz ​194 – 195, 197 – 198, 202, 206, 208, 218 – 219 Hergt, Oskar ​29 Hermens, Ferdinand Aloys ​48, 65 von Hertzberg, Gertzlaff ​231 Heuss, Theodor ​26 – 27

Personenregister

von Heyden-Linden, Albrecht ​268 Heydemann, Carl ​152, 158, 162, 164 Heymann, Lida Gustava ​98 Hilgendorf, Schlossaufseher ​236, 238 Hilferding, Rudolf ​22 von Hindenburg, Paul ​9, 233 Hintze, Otto ​48 Hirsch, Paul ​10, 200, 207 – 208, 211, 213 – 214, 226 – 227, 244, 254 – 255, 257 – 259, 265 – 266, 270 Hirschfeld, Leiter des DDP-Wahlverbands 7 ​ 223 Hitler, Adolf ​8, 126 Höhnen, Leopold ​229 – 230 Hoepfner, Franz ​161 Hoffmann, Adolph ​255 Hollander, Gottfried ​228 Horn, August ​193 – 194, 198, 202, 205 – 207 Hornburg, Johannes ​134, 136 – 137, 159 – 160 Hornburg, Frau Superintendent ​136 von Houwald, Christoph Freiherr ​10 Hughes, Charles Evans ​53 Hunger, Gustav ​196, 228 I Ilyin, Andrei A. ​85 Ilyin, Ivan ​81 – 82, 84 Inachin, Kyra T. ​194, 236 J Janitz, Gerhard ​193 – 194 Janzen, Hans ​233 Jellinek, Georg ​111 Joffe, Adolph ​71, 73 Junghann, Otto ​228 – 229 K Kampffmeyer, Hans ​96 Katzenstein, Simon ​156 Kautsky, Karl ​23 Kennan, George F. ​106 Kesseler, Eisengießerei ​169 Kessler, Harry Graf ​99 Key, Ellen ​93 Keynes, John Maynard ​56 Kinzler, Sonja ​131 Kirchheimer, Otto ​48 Kirchmann, Karl ​139 – 141, 146, 153

Knaus, P., Delegierter zum Reichskongress der AuS-Räte ​22 Koch(-Weser), Erich ​247, 262 Köbis, Albin ​140 Koeppel, Garnisonkommandeur ​151 Koselleck, Reinhart ​57 Kraatz, Ernst ​231 Kramer, Theodor ​233 Kraus, Karl ​106 Krause, Paul ​140 – 141, 146, 153, 162 Krobielt, Wally ​223 Kuntze, Mitglied im Aktionsausschuss der Sozialdemokratie ​196 Kutscher, Wilhelm ​212 – 214, 244 Kundel, Carl ​245 Kupke, Mitglied der USPD ​165 L Lamprecht, Werner ​167, 193 Lange, Landrat ​231 Langemak, Paul ​136, 146, 158, 160 Langemak, Frau Justizrat ​136 Laski, Harold ​64 Lassalle, Ferdinand ​112 Lau, Fortbildungsschuldirektor ​157 Lauscher, Albert ​261 Legien, Carl ​114 Lenin, Vladimir ​23, 68 – 70, 73 – 75, 78 – 79 Leibholz, Gerhard ​48 Lerner, Warren ​73 Liebknecht, Karl ​18, 21, 68, 71 – 73, 140, 144, 207, 212, 220, 235 Linek, Jenny ​10 von der Lippe, Georg ​241, 245 Lipmann, Julius ​10, 200, 208 – 209, 215 – 252, 270 Lippmann, Michael Georg ​216 Lippmann, Rosalie ​216 Lippmann, Werner O. ​217 Llanque, Marcus ​36 Lockenvitz, Paul ​222, 225 Löwenstein, Karl ​48 Löwenthal, Richard ​196 Lotmar, Philip ​115 Lotz, Hermann ​228 Lucht, Baurat ​176 Ludendorff, Erich ​241 Ludwig III., König von Bayern ​7

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Personenregister

Lüdtke, Bürgermeister ​144 von Lüttwitz, Walther Freiherr ​242 – 243 Luks, Leonid ​75 Luxemburg, Rosa ​19, 21, 68, 73, 144, 207, 212, 235 M Mallmann, Rudolf ​232 von Maltzahn, Hans Jaspar Freiherr ​199, 233, 261 Mann, Thomas ​53, 106 von der Marwitz, Walter ​199 Marx, Karl ​16 von Massow, Ewald Valentin ​232 Max, Prinz von Baden ​109, 147, 281 Mayakowsky, Vladimir ​74 Meier, Friedrich ​143 Mendelssohn Bartholdy, Albrecht ​48 Matthiesen, Helge ​167, 185, 188 Medikus, Franz Albrecht ​231 Metzner, Oberlehrerin ​159 Meyer, Eduard ​29 Michaelis, Eva ​212 Michaelis, Georg ​147, 149, 178, 183, 188, 194, 195, 197 – 215, 227, 235 – 237, 249 – 251 Milenz, Richard ​228 Möller, Horst ​267 Moeller van den Bruck, Arthur ​30 Montessori, Maria ​93 Muckermann, Friedrich ​25 Müller, Karl ​157 – 158, 160 Müller, Richard ​19, 21 Müller, Tim B. ​12 N Naumann, Friedrich ​218, 224, 241 von Nerée, Donata ​167, 193 Neubach, Helmut ​219 Neumann, Otto ​142 – 143, 146, 148, 165 Niemann, Major ​237 Nietzsche, Friedrich ​93 Nobel, Alfred ​98 Nolte, Paul ​40 Noske, Gustav ​7 – 8, 240 – 241, 243 – 244 O Orlow, Dietrich ​67 Otte, Waldemar ​26

P Passy, Frédéric ​98 Passehl, Otto ​231 Pateman, Carole ​88 Pels-Leusden, Friedrich ​261 Pernice, Erich ​182 Peukert, Detlev ​90 Poensgen, Freikorpsführer ​236 – 238, 245, 250 von Posadowsky-Wehner, Arthur Graf ​92 Prehn, Wilhelm ​165 Preuß, Hugo ​37, 51, 223, 226, 253 – 256, 259, 262 – 263 Prishvin, Mikhail ​68, 76, 85 Pugh, Martin ​39 Pyl, Forstmeister ​180 R Radack, Hermann ​180 Rade, Martin ​243 – 244 Radek, Karl ​23, 68 – 69, 73 – 74 Radüge, Walter ​133, 152 Rathenau, Walther ​27, 54, 229, 263 Reichpietsch, Max ​141 Reisberg, Arnold ​73 Reissner, Larissa ​75 Richter, Hedwig ​10 – 11 Riis, Jacob ​95 Röhrdanz, Adrian ​131 Rönneburg, Heinrich ​231 Rosanvallon, Pierre ​39 Rosenstein, Siegmund ​217 Rudeloff, Garnisonkommandant ​139 Rudnev, Vadim ​79 – 80 Runge, Wolfgang ​234 S Saenger, Regierungsassessor ​239 – 240, 245 von Saenger, J., stellv. kommandierender General ​237 – 240 Salewski, Michael ​89 Sarnow, Johannes ​204 – 205, 207 Schaser, Angelika ​88 Schauer, Wilhelm ​197, 206, 228 Scheidemann, Philipp ​70 – 74, 181, 227, 246, 248 Scheler, Max ​106 Schëuch, Heinrich ​256 Schielke, Paul ​232

Personenregister

von Schleicher, Kurt ​242 Schleinert, Dirk ​252 von Schmeling, Kurt ​195, 198, 229, 233, 237, 241 Schmidt, Adolf ​136, 158, 160 Schmidt, Frau Bankdirektor ​136 Schmidt, Arno ​103 Schmidt, Theodor ​218 Schmidt, Willy ​239 Schmitt, Carl ​48 Schneider, Bürgermeister ​232 Schreiner, Klaus ​167 Schröder, Julius ​179, 187 Schulte-Heuthaus, Arthur ​232 Schumpeter, Joseph ​65 Schuster, Paul Oskar ​232 Schwenke, Landrat ​232 Sentke, Otto ​228 Serge, Victor ​76 Severing, Carl ​267 Sharp, Ingrid ​87 Shepel, Iakov G. ​85 Sinzheimer, Hugo ​115 Smirnov, Iakov ​82 Sombart, Werner ​92 Spengler, Oswald ​54 Stadtler, Eduard ​30 Stahlberg, Max ​217 Stamm-Kuhlmann, Thomas ​11 Stanton, Elizabeth Cady ​90 Stapel, Wilhelm ​30 von Stempel, Kurt Baron ​234 Stepun, Fyodor ​81 Stier-Somlo, Fritz ​253 Stinnes, Hugo ​114 Stöcker, Helene ​98 Storch, Franz ​231 Stresemann, Gustav ​25, 27 – 28 Striewski, Hauptmann ​151 Ströbel, Heinrich ​79, 255 Struve, Piotr ​79 Südekum, Albert ​70, 259 von Suttner, Berta ​98 T Teuchert, Bataillonskommandeur ​186 Thaer, Clemens ​158 Thode, Carl ​237

von Thode, J., Bürgermeister ​237 Thoma, Richard ​48 de Tocqueville, Alexis ​57 Tönnies, Ferdinand ​48 von Treitschke, Heinrich ​216 Troeltsch, Ernst ​15, 32 – 33, 41, 49 – 60, 62 – 64 Trotsky, Leon ​73, 83 – 84 Trubetskoy, Evgeny ​77 – 78 Tucholsky, Kurt ​125 – 126 V Vandervelde, Émile ​95 Vette, Beauftragter des AuS-Rats ​153 von Vietinghoff-Scheel, Hermann Freiherr ​ 170, 174 Vinogradov, Pavel ​76 Vlasov, Andrei ​82 W Wagner, Mitglied des Zentralrats der Provinz Pommern ​228 von Wangenheim[-Klein-Spiegel], Ulrich Conrad Freiherr ​225 Weber, Max ​84 Wels, Otto ​255 Wendt, Eckhard ​252 Wendtlandt, Bürodirektor ​234 Wernicke, Horst ​167 Werner, Elise ​217 Werner, Margarete ​217 Werner, Oscar ​217 Westphal, Albert ​140 Wilhelm II., Deutscher Kaiser und König von Preußen ​30, 70, 105 – 106, 196, 253, 270 Wilhelmus, Wolfgang ​167, 179, 203 Wilson, Woodrow ​12, 15, 35, 220 Winkler, Heinrich August ​196 von Winterfeldt, Richard ​231 Wolff, Kerstin ​88 Wolff, Theodor ​19 Z von Zedlitz und Neukirch, Heinrich Freiherr ​ 228 Zetkin, Clara ​87 Zhukova, Olga ​78 Zypries, Brigitte ​104 ​

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