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German Pages 380 [384] Year 1865
Aordische Aevue. Internationale Zeitschrift für
Literatur, Kunst und öffentliches Leben. Herausgegeben
von
Dr. Wilhelm Wolfsohn.
Driltkr |anh.
Lcipsig. Verlag von Veit und Comp. 1865.
Unter Rechtsverwahrung gegen Nachdruck und Uebersetzmg.
Inhalt. Seite
Durch Holland im Fluge.
Von Julius Rodenberg............................... 1. 180
Die Juden in Rußland................................................................................................. 20
Volkswirthschaftliche Briefe aus Rußland. Von Wilhelm Wackernagel 30.200.284 Volkswirthschaftliche Briefe aus Rußland.
Von Ant. E. Horn .
.
.
41. 298
Beraun und Karlstein. Ein Ausflug in's tschechische Land. Von Dr. Richard
Andree..................................................................... •.........................................51 Alt und Neu.
Lieder und Sprüche von Wilhelm Wolfsohn
Berliner Bilder.
Von Hermann Lessing
Gedichte von Norderney.
Väter und Kinder.
....
74
............................................................. 78
Bon FriedrichBodenstedt..................................... 129
Roman von Iwan Turgenew (I—X) ....
Geographische Arbeiten in Rußland.
135. 309
Von KarlAndree................................167
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland seit der ersten Theilung Polens.
Von Dr. A. v. Domin-PetruShevecz
Zur Charakteristik der Lady Macbeth.
.
Bon D. Asher..........................
210. 274
-
223
232
Gunib, die Veste Shamils..........................................
Die Schlacht bei Lützen............................................................................................... 257 Shakespearereliquien
.................................................................................................... 332
Musikalische Revue: Leipzig. — Dresden. — Wien. — Paris und London
................................................
108
St. Petersburg. - Neu-York. - Wien. — Aloys Ander. - Berlin. - München.
Deutsche Musik in Italien....................................................................................................
836
Berlin. — Wien. — Amsterdam. — Rotterdam...........................................................
348
Revue der bildenden Künste: AkademiejubtlLum in Dresden und St. Petersburg. — Der Papst und die Kunst
in Rom. — Nachklänge der jüngsten Bestimmungen in Frankreich. — Reglements für den Salon 1865 — Pecht über LranSlocation von Kirchenbildern nach-Galerien. Restaurirungen. — Graf Graimberg. — Neubauten. — Ein Antrag der Wiener
Bildhauer. — Plastische Werke. — Aus dem Gebiete der Malerei. - Daguerrefeur. — Nekrolog
.
...............................................................................
89
Kunst und Technik. - Der Staat und die Kunst. — Der^ Pariser Salon. — Das oldenburgische Museum. — Der Ulmer Dom. — Neubauten. — Zerstömng von Bauwerken durch Feuersbrünste. — Neue plastische Werke................................
338
Literarische Revue: Die neueste englische Ateratur. — Zur neueren Mustkliteratur in Deutschland .
117
Französische Romane und Novellen..........................................................................
Slavische Zeitschriften in deutscher Sprache. — Gustav Schwetfchke's Schriften .
243
.
Englische Romane und Gedichte...............................................................
358
Vermischte Mittheilungen: Fortschritte in Rußland. — Aus den deutschen Kreisen Rußland»-. — Die Weihnachts
spiele im böhmischen Erzgebirge. — Branntweingenuß in Rußland.......................... Die Blumenspiele von Toulouse
— Die serbische Trajanssage. — Raddes Reise
in Svanetien. — Die Messe von Kiew...............................................................................
376
Durch Holland im Fluge. Von Julius Rodenberg.
I.
Bon Berlin nach Amsterdam. Man fährt durch ein sehr schmutziges Land, ehe man in- das sprüch-
wörtliche Land der Reinlichkeit kommt.
und
hübsche
Die Rose, welche mir eine junge
Hannoveranerin in das obere Knopfloch meines
Rockes
gesteckt hatte, war ganz schwarz geworden von Kohlenstaub in der Gegend
von Essen und Oberhausen.
Dieses ist eine traurige Gegend mit ihrm
qualwenden Schloten und ihren Kohlengebirgen.
sehen alle wie Schornsteinfeger aus.
Die Menschen daselbst
Des Nachts, wenn die Flammen
aus den hohen Röhren und dickbauchigen Oefen schlagen, macht sie einen vulkanischen Eindruck.
Bei Tage, oder in früher Morgenstunde, wie
ich sie diesmal sah, wenn die Sonne auf ihre trägen Corrtouren und
matten Farben scheint, erinnert sie an das „ungastliche Land", welches
Horaz in einer seiner Oden schildert. Aber rechts von diesem westphälischen Limbo liegt die Romantik
des Rheins, von der Lurlei bis zum Kölner Dom; und links öffnet sich das Land der Gräben und Kanäle, der Wiesen und Windmühlen, der Käse und der Treckschniteu.
Wer in Oberhausen, auf dem Kreuzweg von Rheinland und Holland
wählen dürfte, würde sich vielleicht nicht besinnen, den Weg zur Rechten einzuschlagen, denn für einen Deutschen, besonders wenn er aus Berlin kommt, sind Rheinluft und Rebenlaub doch gar zu angenehme Dinge,
und
wem
der.„Siebenundfünfziger" unseres Freundes Trarbach aus
der Behrenstraße nur durch Gewohnheit und Tradition „süß" war, der nährt eint gerechte Sehnsucht nach den ungesiegelten Originalflaschen des
rechten Ufers. N»r»gche mime.
HI. i. Heft. 1865.
1
2
Durch Holland im Fluge.
Aber ich hatte diesmal keine. Wahl.
Mein Koffer war nach Hol
land adressirt.
„Nach Holland"!
war der Ruf des Portiers im Eisenbahnhofe in
Emmerich, und ich stieg in den mit rothem Sammet gepolsterten Wagen. Ich habe nur eine dunkle Idee davon, warum ich eigentlich nach Holland gereist bin.
Vielleicht habe ich es gethan, weil ich mir dachte,
es sei dort sehr still und kühl; und die Gedanken an Stille und Kühle
haben etwas Bezauberndes mitten in der Julihitze und dem Sommer
gewühl von Berlin.
Vielleicht habe ich es gethan, weil man bei uns
so viel von den Holländern spricht und so wenig von ihnen weiß.
Vielleicht
auch weil Holland in der Mtte liegt zwischen Berlin und London, und weil man diesen Weg nehmen kann, so gut wie jeden, anderen, wenn
man nach London reisen will.
Genug, ich habe es gethan.
In dem rothsammtenen Wagen, welchen ich in Emmerich bestiegen hatte, saß es sich sehr angenehm und weich.
Die sonnige Morgenluft fächelte
durch beide Fenster, und der bläuliche Duft meiner Eigarre (es war fjite von jenen Trabucco's, welche bei meinen Berliner Freunden sa sehr
in Gunst stehen) kräuselte behaglich in die Höhe und dann zum Fenster hiüaus in die frische Landschaft.
so schmutzig aussah.
Mein einziger Schmerz war, daß ich
Der Kohlenstaub von Effen und Umgegend lag
noch fingerdick auf meiner Rose und meinem Gesichte, und in dm beiden
anderen Ecken des Coupees saß. ein sehr reinlicher holländischer Vater mit einem sehr reinlichen holländischen Sohne.
Erst in Zrvenaar, der
holländischm Grenzstation, too' die Pässe und die Koffer untersucht wer
den, beruhigte ich mich.
Denn nachdem meine Person für ungefährlich
und meine Sachen für zollftei erklärt waren, passirte ich die Barre und
die holländischen Blauröcke mit dem Hochgefühl, daß es in dieser Welt
doch noch Stellen giebt, um mit dem Seume'schen Huronen ausrufen zu können:
„Sieh', wir Wllden sind doch beffere MenschenI"
Worauf ich meine unterthänigst ausgegangene Trabucco an dem kurzen Pfeifchm eines dieser „befferm" Menschen wieder anbrannte und in dem kleinen Bahnhöfe
von Zevenaar, welcher
schen Plakaten beklebt ist, umherspazierte.
ganz mit holländi
An diesen Plakaten machte
ich meine ersten Studien in holländischer Sprache, denn ich liebe nicht
fremde Sprachm aus Grammatiken zu lernen.
Ich denke, man kommt
eben so billig und viel rascher dazu, wenn man sie gleich frischweg im
fremden Lande
lernt.
Außerdeni bin ich ein
geborner Plattdeutscher,
und. uns Plattdeutschen liegt das Holländische und Englische so zu sagen im Blute.
Das Plakat, welches meine Aufmerksamkeit am meisten anzog
und am dauerndsten fesselte, war eins von literarischer Natur. Literatur steckt uns, so zu sagen auch im Blute. Plakats aber war folgender:
Der Wortlaut des
„ Nederlandsch Magazijn.
koopste Boek-en Plaatenwerk van Nederland.
Die
Het goed-
Under Redactie der
geliefkooste Letterkundige und Schilders.“ „Geliefkooste Letterkundige und Schilders!“ Welch ein sympa
thischer Klang! „Geliebkoste Schriftsteller und Maler", sagte mein Lexikon und „ach!" rief ich aus, „welch ein beneidenswerth loyales Verhältniß
zwischen Autoren, Publikum, Verleger und wie würdig nachgeahmt zu werden!
Welch ein entzückendes Honorar, sowohl für die Mitarbeiter
eines Blattes (Magazin oder Revue), als für das Budget von dessen
Herausgeber, wenn jedes hübsche Gedicht und jedes gelungene Bild mit Liebkosungen von einem gewissen Theil des Publikums belohnt würden!^
Ich hatte mich so tief in dieses Idyll der Literatur eingelebt, daß es mir später sehr leid that, zu erfahren, mein Lexikon fei schlecht, und ein „geliefkooster“ sei auch in Holland nichts weiter, als ein „beliebter
Schriftsteller", eine Phrase/ wie man weiß, ein nüchternes Wesen im
Vergleich zu jener Idealfigur, ein Mensch, wie wir Andere, geplagt von
seinem Publikum, schlecht bezahlt von seinem Verleger, und geliebkost höchstens von seinem — Recensenten!
Mit diesem bescheidenen Anfang in holländischer Sprache und Lite
ratur trennte ich mich von Zevenaar und den holländischen Grenzhuronen,
um wieder in meinen rothsammtnen Wagen zu steigen.
Es war ein
wunderherrlicher Julitag, der Wind fächelte durch die beiden offenen Fenster und es roch im Coup^ abwechselnd nach frisch gemähtem Heu und Camillenblüthen.
Breite Wiesen lagen zu beiden Seiten der Schie
nenstraße; unabsehbare Rasenflächen zuweilen, weit, monoton, aber vom allerschönsten
Grün.
Die holländische Wiesenlandschaft ist das
was dem Reisenden anffällt.
Erste,
Sie hat kein Leben außer jenem bezau-
bernden Stillleben, welches eher gemalt werden kann, als beschrieben. Sie hat keine Abwechselung, außer hier und da einer Mühle, und keine i*
4
Durch Hylkich im Kl«gr»
Farben, außer ihrem Grün und dem Blau des Himmels darüber, welches sich in zahllosen kleinen Wasierstreifen und Canälen spiegelt;, denn in
Holland gieb es keine Hecken wie bei uns, sondern nur Grähen,
Diese
Gräben, welche das Acker- und Wiesenland in scharfen Winkeln zu allen Arten von Merecken zerschneiden, dienen den verschiedenen Zweckm der
Grmzlinie, der Bewässerung und der Schifffahrt. was in unserer deutschen Flur die Feldwege sind.
Sie sind dasjenige, Der
holländische
Bauer besucht feine Gemarkung in kleinen Schiffm, welche wie Backtröge aussehen, und die Gruben, voll bis zum Ueberquellen, geben der Land
schaft eine Art von Amphibiencharakter.
Aber eine frische feuchte Luft,
mitten am heißen Sommertage, weht über derselben und weckt in dem Reisenden, welcher seinen Kopf aus dem Fenster steckt, um sie zu athmen, den Wunsch nach einem gleich glücklichen und kühlen Eden.
Bewohner dieses Sommerparadieses sind von Holland.
Die einzigen
die stattlichen Rinderheerden
Wer sie aus den Schildereien ihrer heimathlichen Maler
kennt, der kennt sie nur halb.
Man muß sie gesehen haben auf ihren
grünen Triften, wie sie bis an den Bauch im fetten Grase der Marschen stehen und ihre breiten Stirnen und zufriedenen Gesichter in dem ruhigen
Blau des Wassers spiegeln.
Man muß ihre Geselligkeit beobachten, wie
sie herumspazieren von Grabm> zu Graben, wie sie sich Hinstrecken auf das weiche und duftige Lager; wie sie ein Familienleben führen in engen Grenzen zwar, aber in der beneidenswerthesten Unabhängigkeit und wie
ihr einziges Wunder die Windmühle ist, die fern am Horizont gesehen wird, und ihre einzige Emotion die Dampfwolke und das Geräusch der
Eisenbahn, welches ihre Stille täglich mehreremal unterbricht — man muß den Reichthum des Bodens und die gleichmäßige Milde des Som mers in Anschlag bringen, um zu finden — woran noch kein Philosoph gedacht — daß es kein besseres Loos gebe, als Rindvieh in Holland zu
fein!
Selbst das Milchmädchen kommt nicht mehr so oft als früher,
um die beschauliche Einsamkeit und das sommerlange dolce far niente dieser Heerden zu stören.
Für diese Verbeffemng ihrer Lage, welche die
Verfassung ihres Staates der Platonischen Republik so. nahe bringt als möglich, sind die holländischen Kühe dem großen englischen Reformator
Sir Robert Peel verpflichtet.
Bis zum Jahre 1844 waren die Weiden
von Holland fast ausschließlich dem Mlchertrage gewidmet; aber die Auf-
5
Durch Holland km Fkuge.
Hebung der Einfuhrsteuer auf lebendiges Vieh in England führte rasch
Die holländischen Landwirthe begannen
eine große Umwandlung herbei.
ihr Vieh zu mästey und nach England auszuführen, und der Milcheimer machte
vielfach
dem Londoner Fleischmarkt Platz;
das ist allerdings
ein trauriger Hintergrund für das friedliche Bild, welches wir von der
holländischen Weide entworfen haben. wo er stirbt und wie?
Aber wen kümmert's am Ende,
Ist ja doch das Leben selbst des Lebens erste
Frage!
Es machte mir ein großes Vergnügen, den allmähligen Wechsel in
der Landschaft zu beobachten, sobald man sich einer von den Städten nähert.
Znerst wird die Einförmigkeit der Weide gebrochen durch ein
Haus oder eine Dteierei, welche am Rande derselben erscheint.
Man er
blickt ein paar Menschen, die kleinen Gräben recken sich zu großen und
breiten Cgnälen aus, auf deren glatter Wafferfülle ein eigenthümliches langes Schiff gesehen wird, von einem Pferde gezogen, auf dessen Rückm
ein träger Bursche hängt.
Dieses Schiff, dessen Deck einem kleinen, ge-
müthlichen Zimmer gleicht, mit kleinen gemüthlichen Gardinen vor den
Fensterchen und ein paar Frauen mit. Körben und ein paar Männem
mit großen Stöcken dahinter, gehört zu der nationalen Klaffe der Treck
schuten.
Die Treckschuiten sind eigentlich halb schon außer Cvurs gesetzt
durch die Eisenbahn, wie bei uns die guten alten Postwagen.
eigentliche Volk von Holland
Nur das
noch bedient sich dieser FahrgAegenheit.
Aber ich bin meinem Schicksal dankbar dafür, daß ich Postwagen itiüb
Treckschuiten noch gesehen habe.
Die Romantik des einsamen Dorfes,
des Posthorns und der Sommernwndnacht im Walde ist nicht für die Treckschuiten; aber eine solche Behaglichkeit ist mit ihrer altftänkischen Bauart, ihren kleinen Gardinen und ihrem sanften Dahingleiten auf der
geräuschlosen Wasserfläche verbunden, daß ich jede Treckschuite, die mir
vorüberzog, mit einer gewissen Wehmuth grüßte.
Der breite Kanal und
die Trenckschuite in Holland ist ein sicheres Zeichen, daß man sich einer
Stadt nähert; denn beide vermitteln für das niedere Volk den Bimen-
handtl und Verkehr.
Die Stadt, welcher wir uns näherten, war Uetrecht. Von einer mächti gen Gruppe alter und ehrwürdiger Kastanien beschattet, lag diese Stadt zur
Linken unseres Weges.
Ihr Name erweckt angenehme Erinnerungen in
6
Durch Holland im Fluge.
mir. Ich denke an den Friedensschluß von Uetrecht und an die Gesandten in Perrücken und seidenen Fräcken, die ihn geschloffen — an ihre Rangstreiügkeiten und ernsthaften Debatten über den Vorrang bei Tische und • den Vortritt zu den feierlichen Sitzungen.' Die Friedensschlüsse in jenen alten Zeiten waren sehr wichtige Staatsactionen, die gemeiniglich viel
länger dauerten, als in unsern Zeiten die Kriege selber.
Aber damals gab
es auch noch keine Armstrong-Kanonen und keine telegraphischen Depeschen. Holland ist recht eigentlich das Land dieser altm Friedensschlüsse im Roccocostyl.
Wie Belgien das Land ist, in welchem seit den Tagen
des großm Bourbonm bis zu denjenigm des großen Napoleon fast alle
weltbewegenden Schlachten geschlagen worden sind, so ist Holland das Land, in welchem fast alle berühmten Congreffe jener vergangenen Jahr
hunderte getagt haben.
Der Charakter Belgiens ist auch von einer ganz
anderen Beschaffenheit.
Kein zweites Land Europas vereinigt in so engem
Raum-so viele Gegensätze von breiten, mineralreichm Bergketten und
flachen, trefflich'bestellten Thalstreifen, von abgeschiedenen Meierhöfen und
unrühigm .Fabrikstädten,
von altmodischen Erkerhäusern und Mmschen
darin, welche der neuen französischen Cultur huldigen, hastig fortgeriffen
von dem Zuge der Gegenwart und doch immer im Colorit des Alltags lebens einen gewissen Rest verrathend von der starken katholischen Farbe
der spanischen Zeit, während Holland — im besten Sinne noch ein
wenig zurückgeblieben hinter der übrigen Welt — in der Eintönigkeit seiner Landschaft übereinstimmt mit der leidenschaftslosen Gleichform seines
Lebens, und durch den unnachahmlichen Zauber von Frieden, den Mes athmet, was das Auge hier erblickt, zum Frieden und Friedenschließen einzuladen scheint.
Bei Uetrecht theilt sich die Eisenbahn.
Rotterdam, der rechte nach Amsterdam.
Der linke Arm führt nach
In einer kleinen Stunde sind
beide Städte erreicht. Es, war drei Uhr Nachmittags, als ich die langgestreckten Häuser-
maffen, die zahllosen Windmühlen und die Thürme von Amsterdam er blickte, und keine Viertelstunde später, daß ich in Gesellschaft eines hollän
dischen Packträgers durch die engsten Gaffen, die er möglicherweise finden
konnte,
meinen höchst bescheidenm Einzug in die „Haupt- aber nicht
Residenzstadt" (vergleiche Bädeker) dieses Königreichs hielt.
Durch Holland im Fluge.
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II. Amsterdam. Die Straßen von Amsterdam sind sämmtlich eng und dunkel.
die Straßen sind in Amsterdam auch gar nicht die Hauptsache.
Aber
Sie sind
nicht da, um darin zu wohnen, zu fahren und zu flaniren, wie bei uns.
Für alles Dieses sind die Grachten da.
Die Grachten sind eine eigen
thümliche Erscheinung von einem Kanal in der Mitte, mit Schiffen darauf und Brücken darüber, und einer Reihe Häuser auf jeder Seite — alterthümliche Häuser, mit Treppen und Schnitzwerk und runden Erkerdächern.
Zwischen jeder Häuserreihe und dem Waffer ist ein Streifen Landes, auf welchem die Menschen gehen und fahren, und jene altmodischen Häuser
sind es, in welchen sie wohnen.
Ich möchte wohl in Amsterdam wohnen.
Hier haben wir Beides, das Waffer und die alten Häuser, aus einer
Zeit, wo man noch bürgerlich zu bauen verstand.
Heut und bei uns
baut man nur noch Kirchen und Kasernen. — Amsterdam ist ein Nürn berg am Waffer und im Waffer.
Die Häuser stehen auf Pfählen, welche
in den sumpfigen Boden gerammt sind.
Welch eine märchenhafte Vor
stellung ich mir von dieser Stadt machte in meinen Kinderjahren und nach
den Bildern und Schilderungen in Meyer'S
Wunderbuche meines Elternhauses!
Universuni,
diesem
Etwas von diesen! frühzeitigen Ge
fühl, etwas Ahnungsreiches empfand ich, als ich hinter meinem Pack träger herschritt, und durch die engen Vorstadtgassen nun auf einmal bei
der ersten Gracht heraustrat.
Za, >vär' es nicht um meinen ehrlichen
Mantelsack gewesen, den jener schiveigend mir vorauftrug, ich hätte mich von den Gestalten meiner Kindheit umgeben geglaubt, und nicht von der Wirklichkeit.
Hier war ja das glatte, dunkle Waffer mit den Fracht
kähnen und den Winden und Krähnen am Ufer; und dort standen die dunkeln, hohen Häuser, mit ihrer rothen oder braunen Farbe und ihren
weißen Einsätzen — Lagerhäuser, mit den Namen von alten und be
rühmten Städten, wie Nowgorod, Archangel, Bremen und Lübeck.
In
diesen Lagerhausgrachten ist es nun wohl stiller, als es ehedem zu sein
pflegte.
Aber die alten Tage der Hansa stiegen vor mir auf, als ich
an den hohen und geräumigen Magazinen dahinging, und meine Ein
bildung bevölkerte sie mit Gestalten ihrer eigenen Schöpfung.
Und ich
muß sagen, daß ich diese Stimmung, als ob ich in vergangenen Tagen
Durch Holland im Fluge.
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und unter Menschen toanble, die vor mir gelebt, nicht verlor, so lange ich in Amsterdam, ja so lange ich in Holland war.
Solch ein Reiz des
Alterthümlichen verbindet sich mit meinem Hollandsgang, und zumal mit meiner Erinnerung an Amsterdam, als ob dieses die Stadt der ehe des mittelalterlichen Reichthums
maligen Kaufmannsherrlichkeit,
Wohlbefindens in schönverzierten Häusern
und
dunan schwere» Tischen und
des Handels mit kostbaren Stoffen sei, zu einer Zeit, wo die Ferne noch ein. Wunder und die Schifffahrt noch ein Abenteuer war.
Trotzdenr
jedoch macht Amsterdam nicht jenen traumhaft verlorenen und überlebten
Eindruck, wie mehrere von den alteil Städten Belgiens, welche ganz der Vergangmheit
anzugehören
scheinen,
und durch
deren
ausgestorbene
Straßen und moosbewachsene Marktplätze die Menschen wie Schatten gehen.
Mitten in der Gegenwart steht Amsterdam wie ein lebendes
Bild der Vergangenheit.
Seine alten KaufmannspMste werden bewohnt
von Leuten, welche sich in der Sprache ihrer Väter unterhalten; in ihren alten „Kantoors" fahren die Eilkel fort zu arbeiten und mit den Kolonittl zu correspondiren.
Die Ostindienfahrer legen bei den alten Landungs
plätzen an, und bringen den Reis und Zucker, den Indigo und die
Baumwolle von Java.
Auf der Rhede wehen die Flaggen aller See
mächte, von den Konsulaten blicken die Schilder aller handeltreibenden
Nationen; und wenn auch Amsterdam heut nicht mehr ganz die Stadt ist, von welcher vor 150 Jahren unser Freund Berckemeyer, der „curiöse
Antiquarius" gesagt hat: „Sie wird die Perl aller Städte in der Welt; Item der Sitz und Sammelplatz alles Reichthums genennet", so ist der
Grund davon nicht, daß Amsterdam gesunken ist, sondern vielmehr, daß
die andern Städte sich gehoben haben.
Denn damals war Amsterdam
z. B. noch größer als Paris! —
Me gesagt, es war ein langer Weg, den mein Matelsackträger mich führte.
Er sprach wenig, und was er sprach, konnte ich nicht verstehen;
aber er hatte die unverkennbare Leidenschaft, immer wieder in enge Straßen einzubiegen.
Kaum hatten wir ein Stück von den Grachten
passirt, so sah ich mich schon wieder vor einem Schilde mit der Inschrift: „Verboden in te rijden.“
von Amsterdam eigenthümlich.
Diese Schilder sind den meisten Straßerl
Es ist verboten, in denselben zu fahren.
Aber auch ohne dieses Verbot würde sich kein Fuhrwerk in dieselben wagen,
Hmch Holland im Finge. aus Fmcht' darin stecken zu bleiben.
in Berlin kaum die Trottoirs.
Sie sind so schmal, wie bei uns
In alter Zeit wurde überhaupt in Amster
dam nicht gefahren, wie ich aus meinem Freunde, dem „Curieusen", ersehen, in dem er (17.12) sagt, daß es daselbst nicht erlaubt sei, „Ca-
rossen zu gebrauchen, als nur den Fremden und Medicis."
Gegenwärtig
•ist' man in dieser Beziehung liberaler geworden, und in den etwas brei teren Straßen, sowie an den Grachten sieht man Wagen genug.
Nur
nicht in den engeren Straßen, durch welche mein holländischer Cicerone mich mit möglichster Consequenz führte.
Doch war das Leben in den
selben bunt und anziehend.
Es waren Frauen darin mit großen, weißen
Hauben und Kattunjackeu.
Es waren Matrosen und Schiffsjungen darin.
Die malerischen Trachten von Bäuerinnen aus der Umgegend brachten Farbe in das Teniers'sche Helldunkel dieser Gaffen, und der Kopfputz derselben, mit goldenen Platten und Ringen, brachte sogar jenen kurzen.
Lichteffect hinein, welcher den Schildereien der heimathlichen Meister so
eigenartig
ist.
Ganz, absonderliche
Erscheinungen waren mir gewisse
Knaben und Mädchen, deren Anzug auf der einen Seite roth und auf
der andern Seite schwarz ist.
Ich wußte zuerst nicht, was ich daraus
machen sollte; unb es kostete mir ein gut Theil Mühe und Scharffinn,
ehe ich aus'meinem beredten Führer herausbrachte, daß dieses die Tracht der Waisenhauskinder sei.
Endlich machten wir vor dem Gasthause Halt, welches ich mir er
koren hatte, well es — nach meines Bädeker's Angabe — sich durch die drei Tugenden auszeichnete, einen holländischen Wrth, eine deutsche Be dienung unh den französischen Namen des „Hotel des Pays-Bas“ zu
haben.
Ich verlangte ein gutes Zimmer, still und nicht zu hoch, —
(welcher Reisende hätte je ein anderes verlangt?) und erreichte, nach zahllosen Haupt- und Nebentreppen eines, in welchem ich neben der Aus sicht in einen tiefen und dunklen Hof auch noch den Bortheil hatte, alle
Viertelstunde die Melodie des Wiegenliedes aus Dinorah zu vernehmen.
Ich bin nun zwar ein großer Berchrer unseres unsterblichen Giacomo; aber ich glaube, er selber hätte es nicht ausgehalten, seine eigene Melodie im Verlauf der vierundzwanzig Stunden von Tag. und Nacht 96 mql
zu hören,
Denn so oft erklang sie.
Aber „verbiete du dem Seidenwurm
zu spinnen!" — So hoch ich auch war — die Melodie war noch viql
10
Durch Holland int Fluge.
höher. thurms.
Sie war so hoch als möglich, nämlich in der Spitze eines Kirch Sie kam von einem Glockenspiele, das vereint mit einem Dutzend
anderer Glockenspiele sich alle 15 Minuten in Bewegung setzte.
Gegen
vier Uhr aber, kurze Zeit nach meinem Einzuge in das unglückselige Zimmer, ließ sich zu den Glocken von oben noch eine Glocke von unten vernehmen, so lang und so ausdauernd, daß ich seitdem Glocken uni/
Glockenspiele zu den unverdimten Qualm der Menschheit rechne. Glocke in Frage war die Tischglocke gewesm.
Di^
Aber sie jagte mich zußl
Hause hinaus, was die deutschen Kellner, von welchen Bädeker spricht
Allein das Licht und die Lust waren zu gut, um
sehr übel nahmen.
sie bei Tisch zu versitzen.
Ich möchte nicht daß die Leser mich für Emm
halten, der eine wohlgedeckte Tafel mit einer guten Flasche Wein darauf und ein paar ftöhlichen Gesichtem ringsum verachtet.
O, ich wdrde ihnm
davon im Verlauf dieser Schildereim noch Beweise geben.
Essen gehört zu dm Haupwergnügungm in Holland.
Denn das
Aber ich bin noch
nicht so alt, um" zu essen, allein wegen des Essens, wie ich andererseits auch nicht mehr so jung bin, um zu tanzen, blos wegen des Tanzens. Bei beiden Beschäftigungen kommt es mir sehr auf die Gesellschaft an, und da mich 'ein flüchtiger Blick in den Speisesaal nur von der Anwesen-
hest einiger sehr dicker und vergnügter Kaufleute aus der deutschen Heimath überzeugte, so zog ich es vor, sie ungestört zu lassm und meiner Wege
zu gehm. —
Mein Hotel lag in einer Straße, derm bloßer Name schon dunkel
klingt, nämlich Doelen-straat.
Kaum aber war ich um die Ecke derselbm
gebogen, so hatte ich wieder Wasser und Brückm, und auf beiden Seiten
große Häuser in Sicht.
Eines dieser Häuser, welches einem Palast gleicht,
ist die berühmte Bildergallerie von Amsterdam, „’s Ryks Museum“, das Reichs-Museum.
Mit einem Gefühl von Freude, als ging' ich zu
altm Bekanntm, stieg ich die breiten, stattlichm Treppen empor und sah mich bald von der gebräunten Leinwand mit dm starken, dunklen Farben
der niederländischen Meister umgeben.
Wenn ich in eine fremde Stadt
komme, so ist mein erster Gang zu ihren Monurnentm, ihrm Galerim
und Bibliotheken.
Kunstwerke, Bilder und Bücher reden in jedem Lande
dieselbe Sprache, und das empfängliche Herz versteht sie überall.
Ich
fühlte mich zu Hause vor diesm guten, viereckigen und strengen Gesichtern
der alten Bürgermeister von Amsterdam.
Edle Frauen und Jungftaueu,
die vor zwei oder drei Jahrhunderten lächelten und liebten, in hohen Tuchkleidern mit dicken Halskrausen schauten nieder.
Ruysdaels Waffer-
fälle rauschen; und in Potter's Thierstücken erkenne ich die Weide, ben Canal und die Heerde
wieder,
welche ich aus dem Wagenfenster heut
Morgen so vielmal gesehen habe.
i.
Der Horizont dieser Meisten ist so eng, er geht nicht über die Wind
mühle der Heimath, über den Mstenstrich oder die Versammlung der stMischen Gilde hinaus.
Aber dem -Herzen wird wohl in dieser Be
schränkung, wo jeder Gegenstand Vaterlandsliebe, den Stolz der Unab hängigkeit athmet, und das Auge ruht mit Behagen auf dem Detail,
welches — fertig in sich — die Welt im Kleinen schildert. Alles greifbar und faßbar.
Hier ist
Eine Darstellung von Ideen und Idealen
ist nicht versucht; aber die Wirklichkeit mit ihren derben Formen und natürlichen Farben tritt, nicht wie ihr Bild, fonbem wie sie selber, aus jebem dieser dunklen Rahmen.
Kein überirdisches Schweben fesselt die
Seele, kein Engelskopf, kein Glorienschein.
Aber wir sehen die Amster
damer Bürgergarde — Bartholomäus van der Helst's Meisterwerk —
wie sie mit ihrem Hauptmann am 18. Juni 1648 den Abschluß des
westphälischen Friedens feiern, 25 gute, handfeste Männer, in Wamms nnd Jacken, mit Tressen, wie echtes Gold, mit blauseidenen Fahnen,
mit Bechern und Kannen, mit Schüsseln und Schalen auf dem Tisch, und so viel Jovialität in dm Gesichtern, wie lauter Sonnenschein.
Hier
ist van der Helft noch einmal mit seinen „Vorstehern der Goldschmiedezunst," welche einen goldenen Becher und ein goldenes Halsgeschmeide prüfen.
Steine malt.
Wie dieses Goldgeflecht scheint und schimmert!
blitzen!
Wie diese edlen
Diese Leute haben keinen Goldgrund für Heilige ge
Sie malten das wirkliche Gold der Gnadenketten und Dublonen,
mit welchen ihre Patronen sie belohnten.
von Rembrandt
Hier ist mein Lieblingsstück
eine Compagnie Bogenschützen, die mit ihrem Haupt
mann, morgens früh,
zum Scheibenschießm ausrücken.
Ich habe nie
etwas Schöneres gesehen, als diesen Rembraudt'schen Sonnenschein auf
den
rothen
Röcken der Schützen.
Einem das Herz im Leibe!
Bei solch einem Sonnenschein lacht
— Madonnen sind nicht da, außer einer
von Murillo, deren südliches Dunkel wunderbar absticht gegen die lei-
1?
Durch Hollands« Fluge,
dvnschaftslosen flachen Gesichter, die sie umgeben. Madonnen, die
Die niederländischen
man hin und wieder sicht, verhalten sich zu dm Mu-
rillo'schen, wie die Sonne von Holland gegen die Sonne von Spanim.
Auch Murillo in seiner Weise ist ein Maler der Realität- Md man wird seine schwarzäugigen wollüstigm Madonnen wieder erkennen unter
so manchem Spitzenschleier von Madrid, auf so manchem Altan in Gra nada, gerade so, wie die Modelle zu dm Rubens'schm'Madonnm, diesen
dickm, wohlgenährten, zufriedmm Frauenzimmern, welche man in Hampton
Court sicht, noch hmt auf dm. Straßen von Amsterdam herumgehen. Nun ist allerdings in der warmen Gluth eines spanischen Auges mehr
Madonnenhaftes, als in dem matten Blau mit den gelben Augenbrauen einer Holländerin.
Aber das Ideal der Schönheit ist zum Glück ein
verschiedenes bei den verschiedmm Völkern.
Wie sollte es sonst solche
Dinge in Holland geben, als Liche und Begeisterung! Auf der Straße empfing mich zu meiner gerechten Freude-wieder das Megenlied aus Dinorah, welches ich seit einer Stunde nicht mehr
gehört hatte.
Unter dem Geläut deffelben erreichte ich zuerst wieder
meine Doelm-straat, mein Hotel, Md dann Kalver-ftraat, die Haupt straße von Amsterdam.
Ich weiß nicht, wie oft ich Kalver-ftraat auf-
und abgegangen bin-, aber ich weiß, daß mich zuletzt jedes Kind iwKalver-
ftraat kannte, denn so oft ich während meines Aufmthalts in Amster dam nicht recht wußte, was ich thun sollte, toanbte ich mich nach Kalverftraat.
Daraus
folgt nun keineswegs,
daß Kalver-ftraat eine schöne
Straße sei, aber sie ist eine von den wenigen Straßen Amsterdam's, in welcher Wagen fahren, Conditoreim sind, Buchbinder wohnen und Bilder
vor den Fmstern hängen.
In dieser Straße gefiel mir ein Haus sehr
gut, welches die Vortheile der Gastwirthschast mit Gottesfurcht in sinniger Weife verband.
Es war dies ein Hotel, welches als Schlld über feiner
Thür eine aufgefchlagme Bibel mit Goldschnitt führte, auf der geschrieben
stand
„Table d’höte ä
heures.“
Auch war es hier, wo ich darüber belehrt wurde, wie man es anzusangen
habe,
um Eintritt in ein holländisches Haus
Denn die Häuser in den Städten von Holland sind
schlossen, gleich den englischen.
zu erlangen.
regelmßig
ver
Aber verschieden von London, bevor eine
Thür sich öffnet, muß man in Amsterdam — bellen!
Das klingt sehr
Dmch tzslla«^i«^ Kk«M Ungliaubljch,
doch
-K ist. wahr.
kleinen Messmgschildern „2 mal bellen."
es $et tticht aaf all den
Steht
dicht an. den Thür
Hier sogar „3 mal bellen."
groß
geschrieben?
genug
Lediglich zu Wissenschaft
lichen Zwecken verfolgte ich eine der hübschesten Damen,, welche ich in
Amsterdam überhaupt gesehen habe, Kalvex-strqat zuMe.
indem sie einem
der Häuser in
Ich war. zu neugierig auf ihr Bellen.
SBie wird
diese Dame es machen,? dachte ich — und richtig — sie bellte!
Sie
bellte einmal, zweimal, und erst beim dritten Mal öffnete sich die Thür.
Aber der Effect war doch nicht ganz, der erwartete; denn „betten" heißt
leider int holländischen Lexicon nichts weiter als — die Glocke ziehen! Im Uebrigen habe ich wenig gute Schilder, sowohl in Amsterdam als in den andern Städten von Holland gefunden.
Denn, doch mau
hort sagt,: „En gestofferde Karner te huur,“ wo man bei u'as sagen
Würde
„Ein möblirtes Zimmer zu vermiethen,"
oder „Koffe ykamer“
für „Kaffeehaus", „Bloedzuingers“ für „Blutigel" und „T otkisten“
für Särge, das sind doch mehr Amönitäten der Sprache, als
.jener Li
teratur der Schilder, die zu studiren, anderwärts für den R eisenden «n
so wohlfeiles und lehrreiches Vergnügen ist, holländischen, Städte
noch
Regel nicht zu haben.
Die Wahrheit ist, daß die
so altväterlich sind- Ladenschi'lder. als. eine
In früheren Zeiten hatte, man
wie Ladenschilder, ebensowenig als Hausnummern.
waren, unbekannte Dinge in den Straßen^
solche Mnge,
Schri st und Zahlen
Jedes Haus k-atte, meist ohne
den geringsten Bezug auf Stand Md, Gewerbe, des Bett whners, sein be sonderes Zeichen^ einen Mohrenkopf, einen rothen Ochs en, einen Ritter,
einst blauen Löwen, einen goldenen, Ball, und was de rgteichen wMderbare Dinge, Thiere uyd Menschen, mehr waren..
Bei Ms hat sich de«
Mohr vor den Tabaksläden, der Schwan, das Einhorn vor den Apo
theken erhalten, während der Ritter, der blaue Löwe und der rothe
Ochse bei uns sowohl als auch in England sich mehr und mehr auf die Wirthshausschilder der Dörfer und Landstädte zurückgezogen,
und in
größeren Städten den Hotels mit stanzösischen Ramen Platz gemacht
hat.
Die Mrthshausschilder sind auch in England, nüchterner- nichts
sagender geworden,
als sie in den alten Zeiten waren, wo einige der
selben eine politische und andere
eine komische Bedeutung hatten.
Da
ist, wohl noch - „das, Schwein, und die Pfeife," „der Haase uyd. die Hunde",
H
Durch Hollaud im Flug«.
aber wo ist die „Königliche Eiche" dies Mrthshauszeichen der Jacobiten
im 18. Jahrhundert mit dem versteckten Bilde Karl's II.? man noch „das Bild von uns Dreien"
Wo sieht
auf welches Shakespeare au-
spielt (Heiliger Dreikönigsabend, III. 3.) — ein Mrthshausschild mit
zwei Narrm und der Inschrift „Wir sind dreie," so daß der unglück liche Wicht, welcher sich versuchen ließ, es zu lesen, „Stoff zum Reden
für eine Woche, Gelächter für einen Monat und einen guten Witz für's ganze Leben" lieferte? —
In Holland hat man in dieser Beziehung den befferen Humor der alten Sitte bewahrt.
Hier haben die Häuserzeichm alle noch eine Phy
siognomie, die, toenn sie selber nicht lustig ist, den Fremden und das Publikum insgemein doch lustig machen werden.
Hier sieht man noch
vor jedem Laden jene wunderlichen Figuren, welche „Gapers“ genannt werden, vermuthlich deswegm, well sie alle das Maul weit auffperren (gape-n
ist friesisch, holländisch und englisch für „gähnen").
Einige lachen, An
dere wemen. Andere wundern sich oder machen ein Gesicht, als ob sie
Zahnwch hätten. Alle oben strecken die Zunge aus und weisen den Vor übergehenden die Zähne in einer schreckenerregenden Weffe.
Sie sind
braun oder schwarz, haben Turbane und Kronm auf, oder sind im Ma trosenanzug, so daß sie einer kindlichen Phantasie alle Wunder und Aben teuer ftemder Länder und entfernter Zonen darzustellen scheinen, wie ich
denn auch nicht umhin konnte, immerfort an den vergnügten Mohrm zu
denken, welchen ich — auf Baumwollenballen sitzend und sein thönernes Pfeifchen schmauchend
auf dem Schilde des einzigen Tabaksladens
sah, dessen sich mein heimathliches Städtchen rühmt.
Dieses Tabaks
schild und Freiligrath's Gedicht vom Mohrenfürsten waren, mitten unter den grünen Hügeln meiner Heimath, die beiden Vorstellungen, die ich mit der See, der Schifffahrt und der toeiteti Welt verband, und sie
fielen mir lebhaft wieder ein, als ich die ersten Gapers von Amster
dam sah. Aber auch in anderer Weise sollte mich Amsterdam an die Kinder jahre erinnern.
Kalver-straat hat nämlich kein Trottoir, und das Ge
fühl von spitzen und unregelmäßig
nebeneinander
liegenden
Steinen,
welches ich seit jener Zeit nicht mehr gchabt, erneute sich an diesem Tage wieder in gMzex Glorie.
Aber leider zeigte sich mein Gemüth für diese
Art vo« Reminiscenz nicht schr empfänglich mehr.
Oester, als ich dies
unter anderen Umständen vielleicht gethan haben würde, machte ich in
dem „Grand Cafe restaurant“ am Damm (dem Ende der trottoirlosen Straße) Halt, und unterhielt mich abwechselnd damit, die Kölnische Zei
tung zu lesen, einen Absynth zu trinkm und vom Balkou nach dem
gegenüberliegenden „Palais" zu sehen, in welchem die Königin Hortense und der jetzige Kaiser der Franzosen die kurze Zeit lebte«, wo ein Bo
naparte König von Holland war.
Ein paar Schritte weiter brachten mich zum „Nieuwen Dyk“ und
zur „Nieuwen Brug“, und hier war es, wo ich den ersten Blick auf
das berühmte Waffer von Amsterdam, „het Y“, auf die Docks und die Schiffe hatte.
Diese Hafenansicht ist recht, wie man sich ein niederländisch
Seestück denken mag.
Im Hintergründe hat man die kleinen hollän
dischen Häuser mit den bunten Trachten von Weibern aus dem Volke und Matrosen, und vor sich, bis an den fernen Horizont, blaues Waffer, mit kreuzenden Böten, und Masten und Segeln.
auf diesen Blick gefreut,
Ich hatte mich recht
leider wurde mir nur der Genuß desselben
durch einen Stiefelputzer gestört, welcher nicht müde wurde, mir seine
Dienste anzutragen.
Dies war gewiß schon der zwanzigste Sttefelputzer,
der während der drei oder vier Stunden meines Aufenthaltes in Amster
dam sich begierig zeigte, meine Fußbekleidung zu säubem, ttotzdem diese so reinlich und blank war, als ich in meiner kriüschsten Laune nur hätte
wünschen können. Letzte übertraf an
Den Andern war ich glücklich entrönne«, aber dieser Verstocktheit
und Ausdauer alle seine Vorgänger.
Umsonst suchte ich ihm zu beweism, daß ich mit dem Aussehen meiner Stiefel vollkommen zufrieden sei.
Er plaidirte in drei Sprachen, hol
ländisch, deutsch und ftanzösisch dagegen, und berief fich zuletzt darauf, daß er ein Jude sei, morgen fasten müsse und heute noch nichts gegessen
habe.
Diese drei Gründe für das Putzen meiner Stiefel leuchteten mir
ein, aber da ich sah, daß es fich hier weniger um die gepriesene hol
ländische Reinlichkeit handle, vor der ich eine gerechte Scheu aus Deutsch land mitgebracht hatte (obgleich ich mich allmählich überzeugte, daß es da
mit doch nicht ganz so arg sei), so ließ ich mich mit dem religiösen
Stiefelwichser in ein Compromiß ein. unter der Bedingung nämlich, daß er alle ferneren Absichten auf meine Stiefel aufgebe, wollte ich ihn zu
16
Durch Holland im Flugr.
meinem Führer Nehmen nnd unter seiner Aegive die hochverühintek jü
dischen Synagogen besuchen, von denen ich in alten Sagen und Legenden früher so viel Wunderbares vernommen hatte.
Diesem bescheidenm Bürger von Amsterdam bin ich für die inte ressante Wanderung durch das Judmquartier dieser Stadt verbunden, welche ich in seiner Gesellschaft nunmehr antrat.
Ich kann gar nicht
beschreibm, wie eigenthümlich mir zu Muth ward in diesen Heimathstätten von Spinoza und Uriel Acosta.
Straßen voll schreiender Kinder Md
Enge, dumpfe und schmutzige dicker Weiber vor den Thüren
sind der Typus dieses Judenviertels wie der jedes andern.
Hier und da
stand ein Jüngling an die Wand gelehnt, Hände in der Tasche, Hut
auf dem Kopfe Md Cigarre im Munde — ein Dandy des Judm-
viertels und einer von jenen stets wiederkehrenden Repräsentanten Des jenigen, was man in demselbm „nmmodisch" nennt; sogar eines Schildes
entsinne ich mich, auf welchem zu lesen war men Haar naa’r model“
„Hier scheert und surft
Aber auch die wMdervvllm schwarzäugigm
Töchter Juda's fehlm hier so wenig, als im Ghetto von Rom, von FrMkfurt oder London.
In der That, ich habe da Manch eine dicke
Flechte um einen Kopf von so viel südlicher Schönheit und mit einem
Paar so funkelnder Augm darin gesehen, daß ich meinem Führer halb dankte und halb grollte für diesm flüchttgen Gang.
weilen blieb wenig Zeit übrig,
Denn zum Ver
da das Judenviertel von Amsterdam
aus zahllosen Gassm Md Mndungen besteht.
Was «Ns überall be
gleitete, war der Geruch von halbfaulm Mchm, die auf offener Straße
gebraten Md gebacken wurden, das Geschrei von Männern, welche hvch-
gepackte Wagen mit Datteln durch die Straße zogm und das Geschnatter Md Gekicher der grauen und Mädchen, wo wir uns sehm ließen.
Trottoir war auch in diesm Gassen keine Mede;
Bon
destomehr aber von
knietiefem Schmutz Md Lumpm aller Art, durch welche wir beständig waten Mußtm.
Mittm in diesem vielfältigen Lärm und Geräusch von
allen möglichen Gerüchm Recht gehabt.
liegen die Synagogen.
Mein Führer hatte
Am andern Tage war der große Fasttag Mr Erinnerung
an die Zerstörung von Jerusalem.
Vor allen SynagogM fandm wir
Gruppm alter Männer mit struppigen, weißen Bärtm, die sie der
Trauer wegm neun Tage lang hatten wachsen lassen.
Das Innere aller
Synagogen war mit Schwarz, behängt.
Die älteste dieser Synagogen
ist ein dunkles, enges Zimmer, in welchem es riecht, als ob zweihundert Jahr alte Luft darin sei, unb welches aussieht, als ob nicht hundert Men schen darin stehen könnten, obgleich sich regelmäßig mehr als dreihundert
darin versammeln.
Den tiefsten Eindruck auf mich
machte die Syna
goge der portugiesischen Juden, welche hinter einer hohen Mauer liegt. Der Vorsänger ließ mich durch das hohe Thor deffelben nicht eher ein treten, als bis er mit einem großen Schlnffel dreimal laut und langsam angeklopst hatte, damit die Geister der Abgeschiedenen, welche in der Synagoge Gottesdienst, halten, so lange die Lebenden
hätten,
sich
daraus
zurückzuziehen.
fern sind, Zeit
Das Allerheiligste ruht hier auf
Säulm von gebräuntem Mahagoniholz.
Schwere Messinglampen hängen
von der hohen, einfachen Decke herab.
Der Vorsänger in seinem ge
brochenen Holländisch-deuy'ch
erzählte mir viel von dem großen und
mächtigen Vorsteher dieser Gemeinde, Da Costa, welcher einen Sohn
gehabt, der sich taufen ließ und ein Christ und berühmter Dichter ge
worden, aber in seiner letzten Stunde, als es zu spät war, große Reue
Dieser Da
empfand, daß er den Glauben seiner Väter verlassen habe.
Costa ist noch immer einer der beliebtesten Dichter in Holland und die
illustrirte Prachtausgabe seiner Werke sah ich späterhin vor allen Büchläden in Amsterdam und den übrigen Städten.
Auch das Haus
Da Costa's wurde mir von meinem Führer gezeigt.
Juden-Heeren-Gracht.
Es stand
der
auf der
Die Judm-Heeren-Gracht ist der vornehme Theil
der Judenstadt von Amsterdam.
Man erinnert sich an die alten Er
zählungen von steinreichen Juden und bildschönen Jüdinnen, wenn man
an diesen Häusern mit den hohen, verhängten Fenstern, den starken, braunen Thüren und den massiven Treppen davor, vorbeigeht.
Den
Juden in Amsterdam ist es seit ältester Zeit besser ergangen, als irgendwo,
seit den Tagen der
gewiesenen spanischen Herrlichkeit, wo sie Minister
und Granden des Reiches waren.
Sagt doch schon mein curiöser Anti-
quarius von anno. 1712: „Die Jud en sind in Amsterdam in großem
Ansehen und Reichthum,
wie denn
einer daselbst ein Haus bauen
lassen, an welchem Gold, Silber und Atarmor an allen Ecken hervor
blickt, und ist in diesem Judenpalast ein Saal, welcher mit Dueatonen gepflastert ist." — Von diesem Judenpalast habe ich fteilich Nordische Revue, in. 1. Heft. 1865.
2
18
Hqrch HoLctod im Fluye.
nichts
«ehr gesehen, dagegm zeigte mir znm Abschied/, mein Führet
(welcher Schuhwichse und Bürste fortwährend unter dem Arme trug) eine ganze Reihe großer, fünf Stock hoher, Gebäude, welche .„ganz voll
von Brillanten" seien, wie.er sich ausdrückte, .und alle den Juden, ge hörten.
Es waren dies aber die berühmten Diamantmühlen. von Am
sterdam, die sich allerdings noch immer in den Händen der kunstver
ständigen Juden.befinden. So verbrachte
ich
diesen Tag
und
ein paar
folgende abwech-
seld damit, Kalver-straat auf- und niederzugehen,, über die. Brücke«, .und
unter den Ulmen der Grachten zu wandeln^ die Kölnische Zeitung., zu
lesen und das Wiegenlied aus Dinorah zu hören. Nur die Abende wurden mir, ich.will es aufrichtig bekennen, etwas langweilig.
Zwar war die Zeit des ersten Härings gekommen, und . diese
Zeit ist immer ein festliches Ereigniß für Holland.
Die Läden, -in wel
chen seit jenem Tage frische Häringe verkauft wurden, waren mit Blättepkronen und Laubgewinden, gar festlich geschmückt, wie. denn von nun an
bei keinem Diner mehr der frische Häring fehlte, mit einer rothen. Nelke in dem spitzen Mäulchen, und des Abends, wohin man hörte, wurde gesungen und getrunken.
Aber es blieb doch immer, dasselbe, und Grog
aus hohm Gläsern zu trinken und Tabak aus thöuernen Pfeifen dazu zu rauchen, ist.am Ende kein Vergnügen, für die Ewigkeit.
Die Theater
waren geschloffen, und zuletzt war mir, als ob die Hunde selber mich mit jenem „unterthänigen" Blick der Hunde von Aachen ansähen, welche
durch Heine's Wintermärchen unsterblich geworden sind. .Doch war da noch eine näher liegende, eine Art von Heimennnerung, die mir — Gott
weiß warum — immer wieder einfiel, wenn ich diese Hunde sah.
Als
nämlich im Jahre 1796 unter Pitt, diesem Mann der genialen Steuern,
die erste Hundesteuerbill in das
englische Parlament
gebracht wurde,
machte Einer von den Anhängern des Ministers als einen Grund für die Regierungsvorlage unter Anderm auch die Wafferscheu der.Hunde geltend.
Worauf der boshafte Courtenay, von der Opposition, sogleich
folgendes erwiederte
„Um diesen Gegenstand des Schreckens," sagte er,
„auf sein richtiges Maß zurückzuführev, bitte ich um die Erlaubniß,
auch einen von den großen Vortheilen anführen zu dürfen, die zuweilen daraus entspringen können.
Lord Chesterfield hat einmal die Maxime
19
Durch Holland im Fluge.
ausgestellt,
daß die einzige Möglichkeit für einen Holländer,
z« werden, die sei, daß ein toller-Hund
ihn beiße,
geistreich
und so ehrgeizig
war ein Bürgermeister von Amsterdam, daß er sich, um in dieser ge nannten Eigenschaft zu glänzen', der schmerzhaften Operation unterzog.
Hier ist daher ein Argument für den ehrenwerthen „Gentleman!"
So
erzählt der Earl Stanhope in dem „Leben" seines großen Ahnherrn.
Aber dies Argument des englischen Politikers muß doch in Anksterdam zu keiner allgemeinen (Stiftung gekommen sein, und kurz, nachdem
ich alle Grachten, Straßen und Museen von Amsterdam mehrere Tage nach einander durchwandert hatte, verließ ich endlich am fünften Morgen
nach meiner Ankunft, nicht ohne das erhebende Gefühl, meine Pflicht gethan
zu
haben,, die
„Perl aller ^Städte", und
dem Haag>
(Fortsetzung ürt nächsten Hefte.)
reiste
weiter
nach
tote Juden in Rußland.
Es liegt uns eine Denkschrift vor, die, wie »ns versichert wird, vor Kurzem von einem russischen Rabbiner der Regierung Alexanders II.,
richtiger dem betreffenden Reffortminister unterbreitet wurde Md welche
auf nichts weniger als die gänzliche Emancipatton der Inden im großen Kaiserstaate anträgt.
Das Factum selbst ist ein Zeichen der Zeit, um
so beachtenswertster, als es gewiß zum ersten Male geschieht, daß ein
jüdischer Seelsorger, der nicht nur für seine Stelle, sondern auch für das Wohl all
seiner Glaubensgenoffm besorgt zu sein hat, eine wenn
auch noch so leise Opposition gegen das Bestehende wagt.
Es
fehlte
wenig, daß nicht auch wir Anstand genommen hätten, von der besagten Denkschrift Gebrauch zu machen, in der Besorgniß, die Empfindlichkeiten
der russischen Behörden anzuregen und dadurch dem Herrn Verfasser, ja vielleicht auch der Sache selbst Nachtheil zu bringen.
keiten konnten aber nur von
kurzer Dauer sein.
meinem Interesse entziehen sich
Diese Bedenklich Fragm von allge
heute mehr als je der Geheimthuerei
und wo ein vernünftiges Wort darüber gesprochen wird, wird es Ge
meingut.
Man sollte nun freilich meinen,
mehr in der Sache sagen.
es lasse fich nichts Neues
In der Theorie ist der Satz: gleiche Pflichten,
gleiche Rechte, heute bereits von allen Staaten als Grundlage der ganzen Gesetzgebung anerkannt und es bliebe, auf denselben gestützt, nichts als
den Juden die Gleichberechtigung mit allen andern Staatsangehörigen zu
zuerkennen, oder aber ihre Lasten um so viel zu verringern, als ihre Rechte vermindert sind.
Da diese letztere wenigstens relative Gerechttgkeit aus
Opportunitäts- und andern Rücksichten weder zu wünschen noch zu er
warten ist, so erübrigt nur die wirkliche, vollständige bürgerliche und
staatliche Gleichberechtigung in jedem Lande, dem es ernstlich darum zu
thun ist, seine Einrichtungen auf das obige, dem Rechtsbewußtsein unserer Zeit entsprechende Princip zu basiren. Herr von Buschen in seinem Werke über die „Bevölkerung Ruß
lands" giebt bie Zahl der jüdischen Einwohnenschaft des Reichs (Polen
nicht eingerechnet) auf 1,425,784 an.
Aber in den verschiedenen Gou
vernements ist ihre Bertheilung nicht nur, sondern auch ihre Behand
lung eine verschiedenartige.
Mit Ausnahme der drei Baltischen Pro
vinzen Liv-, Est- und Kurland, von denen speciell gesprochen werden soll, giebt es nur fünfzehn Gouvernements,
in denen
der
regelmäßige
Aufenthalt den Juden gesetzlich gestattet und wo die Anzahl derselben
eine beträchtliche ist; sie schwankt zwischen 12,061 (Taurien) und 225,074
(Kiew).
Nimmt man noch die Gouvernements von St. Petersburg (mit
1,566 Seelen) und Nowgorod (1308) aus, so finden wir in den dreißig andern Gouvernements (Estland inbegriffen), je eine israelitische Bevöl
kerung von weniger als tausend Seelen.
Die bestehende Gesetzgebung läßt sich im Allgemeinen bezüglich ihrer Ausnahnlsbestimmungen wie folgt zusammenfaffen: In den obenerwähnten
fünfzehn
Gouvernements,
ivelche eine compacte jüdische Bevölkerung
haben*), ist dieselbe zum Aufenthalt in den Städten zugelassen, auch
berechtigt Grundbesitz anzukaufen; ja sogar an den Gemeindewahlen kann sie sich betheiligen; jedoch beschränkt sich factisch diese Betheiligung auf
die Zulassung eines jüdischen „Rathsmannes" in den Gemeindeconseil; von der Befähigung zum Bürgermeisteramte, ja sogar von der Wahl
des Bürgermeisters sind die jüdischen Stadträthe ausgeschlossen.
Für
die andem Gouvernements, wo die Juden blos einzeln tolerirt werden, wurde vor nicht langer Zeit, folgendes gesetzlich bestimmt:
Diejenigen,
welche bereits früher wenigstens zwei Jahre als Kaufleute erster Gilde geduldet waren, konnten sich nun definiüv daselbst niederlassen; andere
Kaufleute erster Gilde können die endgültige Zulassung erst nach einem
fünfjährigen Aufenthalte in dieser Eigenschaft erlangen; die aus andern
*) Diese sind: Kiew (225,074), Podolien (195,847), Wolhynien (183,890), Mohilew (102,855), Kowno (101,837), Minsk (96,981), Grodno (94,219), Bessara bien (79,125), Wilna (76,802), Cherson (74,557), Witebsk (62,628), Tscheringow (31,611), Poltawa (26,511), Jekaterinoslaw (23,155) und Taurien (12,061).
22
Die Jude« in Rußland.
Gouvernements zugereisten
jüdischen Kaufleute
Städten, wenn sie zur ersten
können sich in
solchen
Gilde gehören, jährlich zweimal drei
Monate und als Kaufleute zweiter Gilde zweimal zwei Monate jährlich
in den Städten solcher privilegirter Gouvernements aufhalten.
Personen,
welche an einer russischen Universität promovirt oder sonst.einen Doctor
grad erlangt Haben, können sich in allen Städten des Reichs niederlaffen und sind auch zum Eintritt in den Staatsdienst befähigte
In
dieser letztem Beziehung ist zu bemerken, daß Aerzte nicht in die Ka
tegorie der Niederlassungsfähigen gehören, sondem blos Doctoren,
imb es ist dies ein Uebelstand, der zu vielen Klagen Anlaß giebt, weil notorisch die meisten jüdischen Aerzte sich mit diesem Grade begnügten
und das ftüher vom praktischen Standpunkte aus unwesentliche Doctor»
examen
nicht
In
ablegten.
der Armee ist den Juden das Avance-
ntent nicht gestattet, erst in lauester Zeit ist die Beförderung zum Un teroffizier erlaubt worden:
Biel drückender aber als diese Beschränkung
ist die Unduldsamkeit, welche den jüdischen Soldaten m Staatswegen
verfolgt, nachdem er zwanzig Jahre in der Armee des Kaisers gedient
und auf den Schlachtfeldem mit geblutet hat. das mssische Rekmtirungsgesetz
Es ist bekannt, wie sehr
durch die lange Dauer der Dienstzeit,
WM sich noch die riesigen Distanzen des Reichs, die beschränkten Eom»
munikationsmittel und die Hülflosigkeit des Soldaten gesellen, wie sehr, sagen wir, all dies dazu beiträgt, diese
während andererseits
gewisse nur
ihrer Heimath zu entfremden,
der mssischm Armee eigenthümliche
Gewohnheiten, z: B. das Arbeiten beim Bürger und Bauer u. s. w. ihm den Gamisonsort zu einer neuen Heimath gestalten.
Wie grausam
ist es nun, einen solchen Soldaten, well er Jude ist, wenn er seine Dienst
zeit in einem privilegirten Gouvemement vollbracht, in seine Heimath
abzuschieben, die oft einige Tausend Werste vom Orte entfernt ist, wo er
sich
eingelebt hat,
geworden,
die
er
als
in diese Heimath,
Knabe verlassen,
welche' für ihn ganz fremd wo
in
den meisten Fällen
Niemand mehr ihn kennt imb wo er jedenfalls ohne alle Kenntniß der
Verhältnisse und ohne alle Mittel, ost auch in einem ganz veränderten Klima, ein alter Mann bereits, sich eine neue Existenz schaffen soll, mit
Beobachtung natürlich der für die Juden bestehenden Beschränkungen!
Hat man doch behauptet, die Armee habe auf die untersten Bevölkerungs-
klassen einen civilifirenden, einen bildenden Einfluß. Frage sich Bahn brechen:
Muß da nicht die
Hält man den russischen Juden für so ver
dorben oder die russische Armee für so unfähig, daß Ersterer, nachdenr
er zwanzig Jahre und noch länger in der letztern gelebt, noch nicht genug civilisirt ist, um ohne Gefahr in einer russischen Stadt oder in
einem russischen Dorfe belassen werden zu können? Doch wir bemerken soeben, daß wir nicht nur aus dem referirenden
in den raisonnirenden Ton übergegangen, sondern auch, daß wir von denl Gegenstände dieses Artikels, der Denkschrift des Rabbiners, abge
kommen sind.
Bevor wir jedoch zu dieser zurückkehreu, haben wir noch
einiges Thatsächliche zu constatiren, namentlich bezüglich der Baltischen
Provinzen.
Die jüdische Bevölkerung daselbst beträgt in Kurland 25,641,
in Livland 1,052, in Estland 458 Seelen.
Die Gesetzgebung liegt dort
bekanntermaßen nicht ausschließlich in den*Händen der Regierung, welche
sie'vielmehr mit den sog. Ständen theilt.
Kur- und Estland genießen
eigentlich das Privilegium einer rein-christlichen Bevölkerung, da das Procent Juden gar nicht in Betracht konimt.
Auch Livland hat letztere
nur in seiner Hauptstadt Riga in bedeutender Anzahl.
Die Verhältnisse
daselbst unterscheiden sich von denen in Großrußland nicht gerade zum
Vortheile der israelitischen Bevölkerung.
Die Anzahl der zugelassenen
Juden ist eine beschränkte und hängt vom bon plaisir der Localbehörden
ab;
hierzu kommen noch die
jenen Provinzen eigenthümlichen Zunft-
gesetze, welche den Juden von manchem Handwerke ganz ausschließen,
für andere ihm das Halten von Gesellen verbieten n. s. w.
Der An
kauf von Grundbesitz ist ihm in jenen junkerbenedeitcn Landen selbst verständlich
untersagt.
—
Blos
zur
Ergänzung
dieser
historischen
Uebersicht sei hier noch einer Maßregel gedacht, welche vor Kurzem in
den
westlichen und
südlichen Gouvernements
von Grundbesitz verbot, eine Maßregel,
den
Juden den Ankauf
deren bereits in Horn's volks-
wirthschaftlichen Briefen (Octoberheft d. Nord. Revue! genügend Erwähnung geschah. — Es soll natürlich in dem Vorstehenden nicht ein ausführ
licher Nachweis sämmtlicher das Judenthum betreffenden russischen Ge setze
geliefert
werden;
einzelne
Kreise,
ja
sogar
Städte haben ihre
speciellen Judenreglements, auf die wir selbstverständlich nicht eingehen konnten.
Aber aus der vorangehenden Skizze wird man zur Genüge
24
Die Juden in Rußland.
ersehen, wie gerechtfertigt die Stimmen sind, die endlich chrsurchtsvoll, aber eindringlich an die russische Regierung die Bitte richten, zur Ehre
der Civilisation, aber auch in ihrem eigenen Jntereffe, Zuständen ein Ende
zu machen, welche mit den freisinnigen Ansichten, die mit Recht an der Re gierung Alexanders II. gerühmt werden, in grellem Widerspmche stehen.
Was uns namentlich in dem vorliegenden Memorandum angezogen, ist der praktische Standpunkt, auf den sich der geistliche Verfasser stellt.
Nachdem
er in einer Einleitung den historischen Kampf der Freiheit,
mit welcher stets die Judenemancipation Hand in Hand gegangen, in
kurzen Zügen gezeichnet, erklärt er als Zweck seiner Denkschrift, darthun zu wollen, daß eine bessere Stellung der Juden im Staate, vom allge meinen Rechte empfohlen, von der innern Politik als Act der Staats
weisheit bezeichnet werden dürfte.
Der Verfasser legt den Schwerpunkt
der Frage auf das Pflichtgefühl des Staates, dem es als moralischem
Organismus nicht gleichgültig sein kann, wenn auch noch so eine kleine Anzahl seiner Angehörigen in ihrer Menschenwürde, in ihrer geistigen
Thätigkeit, in ihrem materiellen Wohlbefinden sich beeinträchtigt fühlt; dem es nicht gleichgültig sein darf, weil er zu gerecht sein muß, um Unglück
liche als durch seine Einrichtungen nothwendige Unglückliche zu schassen, weil er zu weise sein muß, als daß er die Kräfte, die er für seine allgemeinen
Zwecke benutzen könnte, durch Nichtbeachtung verloren gehen oder falsche Rich tungen einschlagen lassen dürfte." Denn wie in der materiellen Staatshaus haltung Alles, was nicht fördert, insofern schon hindert, als es den Platz eines möglicherweise Fördernden einnimmt, so kann auch Alles, was im höher«
Staatsleben dem allgemeinen Jntereffe nicht dient, schon insofern als schädlich gelten, als es nicht nützt und die Stelle eines möglicherweise positiven Faktors einnimmt.
Der Verfaffer erinnert nun daran, daß in den Staaten, wo
die Judenemancipation bereits eine vollbrachte Thatsache ist, durch die
Anerkennung des Rechtsprincips in diesem speciellen Falle das Rechts bewußtsein im Allgemeinen sich gekräftigt, daß die Juden der ihnen ge wordenen Rechtswohlthat sich würdig gezeigt und daß endlich die Staats
ökonomie einen bedeutenden Aufschwung genommen, Handel und Industrie in jeder Beziehung
öffentliches Leben,
blühender und productiver
geworden, resp, die Steuerfähigkeit und der öffentliche Credit gewachsen, — und fügt hinzu: „Suchen wir die Ursache in dieser Erscheinung, so
ergiebt sich, daß die dem jüdischen Stanime innewohnende Regsamkeit, Thätigkeit und Ausdauer das Gebiet des öffentlichm Verkehrs erweitert, ftische Quellen eröffnet, neue Märkte gegründet haben; daß die früher ander
weitig arbeitenden Kapitalien dem Ackerbau zugewandt, den Werth des Bodens gesteigert, die Production gemehrt, die Steuerkraft gehoben."
Es
wird daran erinnert, daß auch in geistiger und moralischer Beziehung
die Juden auf allen Gebieten der Kunst und Wissenschaft,
ebenso im
Staats- und Militärdienste der öffentlichen Rechtswohlthat sich würdig
gemacht und der Verf. wagt die Vermuthung, „die staatliche Stellung
der Juden sei in den verschiedenen Ländern der Thermometer nicht blos für die Cultur, sondern auch für den öffentlichen Wohlstand und folge
richtig für deil öffentlichen Credit". Wer sollte es glauben,
daß ein Mann, welchem die vorstehenden
Wahrheiten so geläufig sind,
doch schließlich anerkennt, der dermalige
Zustand der Juden sei noch nicht geeignet, dieselben an allen Rechten
und Ehren des öffentlichen Lebens Theil nehmen zu lassen? fügt der Verf. gleich hinzu,
Allerdings
daß eben dieser Zustand nicht die Schuld
der Juden, vielmehr die Folge ihrer unglücklichen Stellung ist und man
wohl annehmen dürfe,
daß,
sobald die Ursache aufgehoben,
auch die
Wirkung schwinden werde, und daß darum um so mehr von Seite der
Staatsverwaltung diejenigen Maßregeln zu ergreifen sein dürften, die eine
sittliche
dem
Verf.
und
materielle
auf dieses
Wiedergeburt
Gebiet
der
erniöglichen.
administrativen
Beyor
Thätigkeit
wir
folgen,
haben wir eine Bemerkung vorauszuschicken, deren Zweck ist, jüdischen
Lesern gegenüber, namentlich im Auslande, einen hochgebildeten Rabbiner
vor dem Vorwürfe
zu schützen,
als erachte
er selbst die gänzliche
Emancipation der Juden in Rußland für unzulässig.
Es braucht wohl
kaum gesagt zu werden, daß eine Unfähigkeit „zur Theilnahme an allm
Rechten und Ehren des öffentlichen (politischen) Lebens" in civilisirten Staaten den Gesetzgeber nicht berechtigt, auch die Unfähigkeit zum Ge
nusse der bürgerlichen Rechte auszusprechen.
Wo, wie in Rußland, die
Zuerkennung politischer Rechte (Landtagswahlen u. s. w.) selbst an die höhern und gebildeten Stände noch so neuesten Datums ist und wo, wie hier, die Bethelligung der untersten Stände nur in vielfach quintessenzi-
sirter Dosis zugelassen wird, kann man allerdings annehmen (wenn man
sich nicht geradezu für das suffrage universel begeistert), daß von einer aetiveit politischen Thätigkeit der unbestreitbar zum großen Theile sehr verwahrlosten jüdischen Bevölkemng vorläufig noch Abstand genommen werden könne, und es mag namentlich dem auf das Praktische hinzielen den Rabbiner nicht verargt werden, wenn er einer mächtigen Regierung gegenüber sich auf die Forderung der Gleichheit vor dem Civilgesetze beschränkt. Wir sreilich können von der Rleinung nicht lassen, es stehe dem jüdischen SteukMhler auch dieselbe politische Berechtigung zu wie dem russischen, katholischm oder protestantischen, um so mehr als wir auch der festen Ueberzeugung sind, daß sobald nur die Regierung das Emancipationsgebot ausspricht, auch der langbärtigste Jude für die Gemeinde-, Provinzial- und Reichsinteressen wenigstens so viel Berständniß mitbringen wird, als der erst vor drei Jahren der Leibeigenschaft ent wachsene russische Bauer. Doch hören wir auch, wie unser Memorandum sich die Mttel denkt, durch welche die sittliche und materielle Wiedergeburt des Judenthums in Rußland ermöglicht werden soll. Diese Mittel sind von zweierlei Art: Erstens äußere. Als ein solches gilt dem Berf. mit Recht die Frei zügigkeit innerhalb der ganzen Monarchie.. Schon aus dem in der Einleitung Gesagten hat man entnommen, wie sehr das Juden thum im Zarenreiche Agglommerationen bildet; unser Bers, weist des Längern die Vortheile nach, welche der jüdischen und nichtjüdischen Be völkerung aus der Wanderfähigkeit erwachsen würden. Er sagt mit Recht, daß zu dem idealen Vortheile der socialen Verbindung zweier sich fremden Racen noch hinzu käme, daß die Juden eine gewisse Intelli genz den russischen Bauern bringen und sie zu einem concurrirenden Eifer erwecken dürften, wodurch eine Masie von etwa 50,000,000 Seelen, die für. jetzt die relativ geringsten Bedürfniffe haben resp, wenig steuerfälrge Stoffe consumiren, in den großen Kreis der steuerzahlenden Consumtion eintritt und mit den erhöhten materiellen Bedürfnissen noth wendig auch einen höhern Kreis der Civilisation eröffnet. — Als zweites äußeres Mittel bezeichnet die Denkschrift die Berechtigung der Juden zum Erwerb des bereits angesiedelten Bodens. Die in dieser Beziehung bestehende Beschränkung mochte einen Sinn haben, so lange es in Rußland Leibeigne gab, deren Ankauf und Besitz man
nur Christen gestatten wollte. Unter bett jetzigen Verhältnissen ist sie ein Mißtrauensvotum, nicht gegen das Judenthum, sondern gegen das Russenthunl, von welchem man zu fürchten scheint, es werde sich für einige Wedro Branntwein von den „verschmitzten Juden" seinen ganzen Grund besitz abschwindeln lassen. Die Befürchtung ist eine um so ungeheuer lichere, als es in den meisten russischen Gouvernements keinen bäuer lichen Personal-Grundbesitz, sondern nur gemeindlich-collectiven Boden giebt und in Folge dieser in ihrer Sonderbarkeit hier weiter nicht zu besprechenden Gesetzes- und Gebrauchsbestimmung jede Gemeinde ohnehin schon das Recht genießt, neue Ankönimlinge in ihren Schooß aufzu nehmen, oder auszustvßen. - Ferner wird drittens und viertens die Anstellungsfähigkeit der Juden in Staatsämtern und ihre Avancementsberechtigung im Militär als äußeres.Mittel aufgezählt zum Zwecke ihrer sittlichen und materiellen Wiedergeburt. Wie gegründet auch diese zwei letzten Forderungen seien, von besonders großem praktischen Werthe scheinen sie uns nicht. Die Juden im Allgenleinen — wir sagen dies zur Beruhigung des russischen Bureaukratie- und Militäradels, welcher eine massenhafte Concurrenz von Seiten der Israe liten befürchten möchte — die Juden sind wenig geneigt zu dem geisttödtenden Bureau- und Kasernenleben; bei aller Pünktlichkeit ist ihnen das mecharlische Arbeiten unter den Befeblcn so und so vieler Kanzleichefs nicht das Ideal des Lebens, und wenn dennoch schon jetzt, ivie uns versichert wird, hie und da Juden in rusfischen Staatsämtern fungiren, so liegt die Ursache einfach darin, daß diese Stellungen ihnen eben erst zu ihren Menschenrechten verhelfen. Was die inner en Mittel betrifft, so braucht kaum gesagt zu wer den, .daß an der Spitze derselben die Errichtung und Vervielfäl tigung der Schulen steht. Man muß indeß die tiefe Verkommen heit der überwiegenden Mehrzahl im russischen Judenthnnie kenne«, nm sich mit dem weitern Vorschläge zu befteunden, wonach es geeignet er scheinen dürfte, vorerst in allen größern Gemeinden Zöglinge der Rab binerschulen oder auch deutsche Rabbiner anzustellen, denen die Aufsicht resp. Mitwiicksamkeit in der Schule zur Pflicht gemacht würde, indem zu erwarten stehe, daß diese im Geiste der Neuzeit gebildeten jungen Männer alle bessern Bestrebungen gewissenhaft fördern würden. In
Di« Juden in Rußland.
28
Anbetracht, daß dem israelitischen Seelsorger jener Nimbus der höhern
Weihe abgeht, welcher seinen Aussprüchen die Unantastbarkeit des Gottes wortes
beilegt, in Anbetracht allerdings auch des kritisch-zersetzenden
Geistes, welcher dem Judenthume innewohnt, ist die Stellung des Kanzel redners eine um so schwierigere, je aufgeklärter oder je raisonnirender
sein Publikum ist.
Wohnt seinen Worten nicht die Hinreißungskraft
inne, wie sie nur die wahre, die seltene Beredtsamkeit hat, so fallen sie
auf fteptische Gemüther und »erlaufen im Sande. Solche Betrachtungen sind es gewiß,, die unsern Autor zu dem Wunsche veranlaffen, es möge
ein Predigerseminar als Supplement der Rabbinerschulen errichtet werden, während ein anderer Uebelstand in dieser Richtung, der fort
währende Kampf nämlich zwischen dem orthodoxen und dem gebildeten Judenthume, ihm die Bitte eingiebt, der Staat möge die Rabbiner unabhängig von der Gemeinde anstellen, well die jüdische Ge
meinde in kleineren Städten in ihrer Majorität weder von dem Berufe eines Rabbiners, noch von der Bedeutung ihres Wahlrechtes einen Be griff hat und weil es sogar vorgekommen, daß junge durch den Einfluß der Regierung angestellte Rabbiner durch die Opposition des Obscurantismus die Zielscheibe aller möglichen Gehässigkeiten wurden.
Aus ähn
lichen Gründen hält der Bers, es für nothwendig, daß die Verwal
tung der Gemeinde als religiöser Körperschaft „in die Hand eines Vorstandes von Intelligenz und moralischem Charakter (Kaus leute, Aerzte, Advocaten) gelegt würde."
Diese letzteren Wünsche haben
ihre gefährliche Seite, und wir können nicht umhin, darauf aufmerksani zu machen.
Es entspricht vielleicht dem Geiste unseres strebsamen Jahr
hunderts, wo man ateliers de confection für alle möglichen Lebens bedürfnisse anlegt, sich auch die Kanzelberedtsamkell a»ts einem reuom-
ntirten Etablissement nach Bedarf und auf Bestellung kommen zu lassen; ob aber
aus der dogmattschen und schematischen Rabbinerschule auch
wahre, von ihrem Berufe begeisterte, mit dem Geiste der Zeit fortschreitenbe und nicht professionelle, an dem Erlernten starr festhaltende, auf
ihr Staatspatent eingebildete Rabbiner hervorgehen werden? —
Den
aufgeklärten Rabbiner mag oft Mißmuth befallen, wenn feine bestgemein ten, seine höchsten, wie seine geringfügigsten Bestrebungen durch die un wissende Mehrheit verellelt werden.
Aber ist dies nicht das Loos aller
Neuerer, aller Reformatoren?
Dürfen sie vergessen, daß der Fortschritt
nur erkämpft, nicht decretirt werden kann?
Ferner: wird heute die Ge
meinde ihrer Autonomie zu Gunsten' der Regierung im Jntereffe des Fortschrittes entkleidet, wer wird sie ihr wiedergeben, wenn eines Tages die durchaus nicht unfehlbaren Behörden es angemeffLner finden, sich auf die Seite der Orthodoxen zu schlagen, wie dies ja auch ihren» innersten
Wesen entspricht?
An Beispielen hierfür selbst aus der Mitte des mo
dernen Judeuthums mangelt es nicht. — Darum können wir auch dem
weiteren Wunsche der Denkschrift nach einer Centralstelle für das Juden thum am Sitze der Regierung unsern Beifall nicht zollen.
schende Kirche
in einen» Lande
Die herr
hat das Privllegium der Intoleranz
nicht allein; jede organisirte Behörde, vorzüglich aber Kirchenbehörden, glauben an ihre Unfehlbarkeit und wissen dieselbe auch durch Gewalt Andern aufzudrängen.
Sollen wir in dieser Beziehung an den evan
gelischen Pastor Coquelin erinnern, »velchem ganz kürzlich vom Pariser Consistorium die Kanzel mltersagt wurde, weil er, der Nichtkatholik, Re-
nan's Leben Jesu nicht etwa im Gotteshause, foiibetn in einer periodi schen Schrift vertheidigt hatte? ... Am Schluffe dieser Analyse angelangt,
ist es uns angenehm, mit den» Vers, der Denkschrift in der Forderung
übereinzustimmen:
es möge für die Verbreitung
von Handwerk und
Ackerbau unter der israelitischen Bevölkemng gesorgt werden. Doch müssen wir, obzwar die mehrfach eingeschalteten Bemerkungen über unsere Ansichten in dieser Frage kaum mehr einen Zweifel übrig lassen können — zur vollständigen Klarmachung unseres Standpunktes
Folgmdes hinzufügen.
Hätten wir ein Programm „für die sittliche und
materielle Wiedergeburt" des Judenthuins aufzustellen gehabt, so würden wir als äußeres Mittel, als solches, welches das Judenthum selbst sich nicht appliciren kann, nur eines gefordert haben: die vollständige
Gleichstellung vor dem Gesetze.
Was die inneren Mittel anbetrifft, so
hat das Judenthum allein als autonome Religionsgenossenschäst dieselben
zu wählm und zu bestimmen.
Denn hüben und drüben muß endlich
die Ueberzeugung durchdringen: das Judenthum ist nur eine religiöse, keine politische oder sociale Gemeinde, kein Staat im Staate.
Volkswirtschaftliche Griefe aus Deutschland. Berlin, den 16. December 1864.
Eine Zeit heißen Kampfes auf volkswirthschaftlichem Gebiete liegt
hinter uns, und wer mit uns das Princip des Freihandels auf sein Banner geschrieben hat,
der kann mit dem stolzen Bewußtsein auf die
Ereignisse dieses Jahres zurückblicken, daß ein mächtiger Schritt zum Siege einer großen Idee für immer gethan worden ist, der kann mit
uns ausrufen: Annum non perdidi.
Was in Deutschland für die An
bahnung gesunder volkswirthschaftlicher Zustände geschehen ist, das ist wesentlich durch Preußen geschehen.
Nicht daß den preußischen Staats
männern ein höheres Maß volkswirthschaftlicher Einsicht beige
wohnt hätte, als den Männern, welche in den übrigen deutschen Staa ten das Heft der Regierung in den Händen hatten ; nein, es waren in erster Linie politische Erwägungen, von denen aus es eine Hauptauf
gabe jeder preußischen Regierung erschien, die politisch von einander ge schiedenen Territorien, aus denen sich unser Deutschland zusammensetzt, im
Zollvereine zu einer höheren volkswirthschaftlichen Einheit, zu einem von jeder innern Schranke
erlösten und nach außen hin als ein ge
schloffenes Ganzes sich Geltung verschaffenden Verkehrsgebiete zusammen
zu bringen und zu halten.
Der politische Gedanke, welcher in andern
Fragen einem allzuspröden Widerstände begegnend, auf dem volkswirthschaftlichen Gebiete zur Befriedigung gelangte, war der:
durch einen
möglichst Mensiven Verkehr zwischen den Bevölkerungen der verschiedenen
Zollvereinsstaaten, die einer politischen Einigung Deutschlands am hart näckigsten Widerstand leistenden Verschiedenheiten der einzelnen Stämme möglichst schnell einzuebnen und so den Boden für die Aufnahme der
Idee der
deutschen Einheit vorzubereiten,
welche anfänglich nur das
Idol einzelner „Träumer", nun schon seit Jahren ein Thema für unsere
Bollswirthschastlich« Briefe aus Deutschland.
praktischen Politiker geworden ist, an dessen Bearbeitung sie ihre Kräfte messen und ihre Genialität erschöpfen. In der politischen Tendenz, welche Preußen bei seinen Bestre> bungeit, den Zollverein zu erhalten und zu erweitern, ganz unzweideutig verfolgt, hat von jeher die schwache Seite dieser Institution gelegen, liegt zugleich die dringendste Hinlveisung auf eine Reform der Zollver einsverfassung. Diese politische Tendenz hat der preußischen Regierung selten ein Opfer zu groß erscheinen lasien, welches zur Erhaltung des Zollvereins von ihren Biitcontrahenten ihr angesonnen wurde. Preußen hat den gesunden volkswirthschaftlichen Ideen, von welchen die großen Staatsmänner, denen es feine politische Wiedergeburt verdankt, sich leiten ließen, lange Zeit den Rücken zugewendet und schließlich von dem Luftbilde, lvelches die List'sche Schule in der „nationalen Industrie" ihm vorspie gelte, zu einer schutzzöllnerischen Handelspolitik sich verleiten lassen, namentlich und vor Allem weil es auf diesen Bahnen hoffen konnte, die süddeutschen Staaten durch das Band des Zollvereins. dauernd an sich zu fesseln. Im Jahre 1808, als zu Berlin loo Thlr. preußischer Tresorscheine für 59 4 Thlr. Courant zu kaufen waren, wurde in der Geschäftsinstruc tion für die Regierungen vom 26. Dec. 1808 auch die Handelsfrei heit als eine der wesentlichsten wirthschaftlichen Reformen in das Programnr der Regierung mit ausgenommen: „Es ist unrichtig", heißt es darin, „wenn man glaubt, es sei dem Staate Vortheilhaft, Sachen dann noch selbst zu verfertigen, wenn man sie im Auslande wohlfeiler haben kann. Die Mehrkosten, welche ihm die eigne Verfertigung verursacht, sind rein verloren und hätten, wären sie aus ein anderes Gewerbe an gelegt worden, nachhaltigen Gewinn bringen können. Es ist eine schiefe Ansicht, man müsse in einem solchen Falle das Geld im Lande zu be halten suchen und lieber nicht kaufen. Hat der Staat Produkte, die er abiaffen kann, so kann er sich auch Gold und Silber kaufen und es münzen lassen." Ein Rlenschenalter später galt es in Preußen, wie in Deutschland überhaupt, für einen Beweis liberaler Gesinnungen, wenn man in der Begründung und Hebung der nationalen Industrie eine Ausgabe des Staates erblickte. Wer sreihändlerischm Principien hilldigte, mußte sich erst einer förmlichen Feuerprobe feiner politischen Gesinnung unterziehen,
32
Lolk-Wirthschaftliche Brief« aus Deutschland.
eye es ihm verstattet wurde, sich als einen Anhänger liberaler Ideen M
bekennen, und doch hatten einst Stein und Hardenberg, deren Reformen von den märkischen Junkern als schieres Jacobinerthum verschrien wor
den waren,
Anschauungen, vor
ivelchen
List
und
sein
amerikanischer
Apostel Carey nicht Abscheu genug an den Tag legen können, als die allein dem Staate heilbringenden, den Behörden zur Nachachtung ans
Herz gelegt ! Die politischen Pläne, welchen Preußen im Zollvereine vor
arbeitete, erfreuten sich des Beifalls aller liberal gesinnten Männer; die Einigung Deutschlands bildet ja unter den Wünschen unseres Volkes nicht
der geringsten einen; es >var also leicht erklärlich, daß die Bundesge
nossenschaft
zwischen Liberalismus
und Schutzzoll,
zwischen nationaler
Politik und nationaler Industrie bei allen denen, ivelche in volkswirth-
schaftlichen Dingen sich ein selbstständiges Urtheil zu bilden, zu bequem oder dazu überhaupt nicht in der Lage waren, eine Amalgamirung von
Begriffen erzeugte,
welche fast an Begriffsverwirrung streifte.
Dazu
kam, daß der Schutzzoll am lautesten von den rheinischen Fabrikanten,
die Rückkehr zum Freihandel am lautesten von den Grundbesitzern der östlichen Provinzen verlangt wurde, und daß in den Vierziger Jahren
jene durchschnittlich für liberal — man denke nur an das Auftreten der Beckerath, v. d. Heydt u. s. w. auf dem vereinigten Landtag von 1847
— diese durchschnittlich für „Junker" galten.
Die Signatur war da
durch urwermeidlich gegeben. Die freiere Bewegung der Geister, welche das Jahr 1848. zur Folge
gehabt
und
welche
uns trotz aller Mißerfolge auf dem Gebiete des
Verfassungsrechtes schnell zu einer vorurtheUsfreien Auffassung der wirthschaftüchm Verhältniffe emporgetragen hat, räumte unter den traditionellen Schulbegriffen schnell auf.
In der Presse und in Vereinen bekämpften
sich Schutzzoll und Freihandel und es stellte sich heraus; daß wer in
politischer Bezichung
einer
liberalen Auffassung
ergeben ist,
deswegen
trotzdem auf volkswirthschaftlichem Gebiete dem Freihandelsprincipe an hängen. kann, daß andererseits der schntzzöllnerische Fabrikant, wenn es ihm sonst, in sein Interesse paßt, die liberalen Ideen,
für
welche er
früher mit Begeisterung eingetreten war, an den Nagel hängt, um- mit
der politischen Reaküon durch Dick und Dünn zu gehen, wie das Geschäft, es. so mit sich bringt, daß endlich die sog. feudale Partei nach wie vor
Bolkswirthschastliche Briefe aus Deutschland.
33
dem Freihandel Weihrauch streut und nur dann seine Attchre verhüllt,
wenn sie aus politischen Rücksichten einem Staate, dem dieser Cultus als
ein Greuel vor dem Herrn erschien, zu kajoliren sich bemüht.
Klärlich
zeigte es sich vor allem Volke, daß es aber nur das eigene Interesse
ist, welches Diesen in das schutzzöllnerische Lager treibt, Jenen der Sturm fahne des Freihandels zuführt,
und daß,
wie
der
Großkophtha der
Schutzzöllner, David Hausemann, einst so treffend bemerkte, in Geldsachen
die Gemüthlichkeit — und die ParteidiscWn aufhört. Nachdem die Frage von allem Beiwerk geklärt, konnte die Entschei dung nicht lange zweifelhaft sein; da in wirthschaftlichen Dingen für
Jeden nur das eigene Interesse maßgebend ist, der Staat aber nicht die Jntereffen des Einen oder des Andern, sondern die aller Staatsan gehörigen bei seinen Maßregeln ins Auge zu fassen hat, und wenn diese
Jntereffen sich widerstreiten, im Zweifel die der Mehrheit den gerechtesten Anspruch haben, befriedigt zu werden, so kann stets nur der Consument
in Betracht kommen und nicht der Producent; denn Consument ist eben Jeder, Producent im bestimmten Falle nur der Eine oder Andere.
Wenn
der Staat andere Maßregeln trifft, als die, welche sich aus diesem Ge sichtspunkte ergeben, so hat er die Bolkswirthschaft dabei nicht zu Rathe gezogen, nicht als Mandatar der Gesellschaft, sondern als Fiskus oder
politischer Körper gehandelt.
Es ist einer der wesentlichsten Fortschritte,
welche die europäische Gesellschaft in ihre Annalen zu verzeichnen gehabt hat, daß die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, die verschiedenen Func-
ttonen des Staates auseinanderzuhalten, in den leitenden Kreisen der westeuropäischen Staaten endlich zum Durchbruch gekommen ist und ge
genwärtig auch bei uns in Deutschland sich zu einem ähnlichen Siege durchzuringen im Begriffe steht.
So hoch die segensreichen Folgen auch
zu veranschlagen sind, welche der Sieg dieser Idee für Handel und Ge werbe und für den Berkehr im Einzelnen herbeiführen wird, höher noch steht, vom allgemein menschlichen Standpuncte aus betrachtet, die in diesem
Siege ihren
ersten Schritt vollziehende Erlösung der Menschheit von
einem Irrthume,
welcher die Jahrbücher der Geschichte mit Strömen
Blutes erfüllt hat, von dem Irrthume, daß der Staat Etwas sei, was seinen Zweck in sich trage, und um dieses Zweckes willen über die In teressen des in chm constituirten Bruchtheils der Gesellschaft nach BeNordische Revue. III. 1. Heil. 1865.
34
KoMwirthschafttiche Seiest «iS Deutschland.
lieben- verPgen könne, während es ddch die höchste Ausgabe des Staates
ist, im allen seinen Einrichtungen den einen Zweck zu verfolgen, daß in
chm die größte Summe menschlichen Glückes neben, dem kleinsten Rest menschlichen Elmds zur Erscheinung gelange.
In Deutschland hat diese Idee ihren neuesten Sieg errungen. Nach dem diejenigen Staaten, welche nicht sowohl aus Mcksicht auf die Jntereflen ihrer Unterthanen, als aus Gfersucht gegen das aufs Neue sie
belastende politische Uebergewicht Preußens bis in die zwölfte Stunde
hinein sich gesträubt hatten, am 30. September d. I. ihren Beitritt zu dem ohne ihr«Zuthun reeonstruirten Zollverein- erklärt- habm,
ist der
Zollverein für immer dem zum Freihandel als seinem Ideale hinstreben-
den Systemder westeuropäischen Handelsverträge gewonnen worden. Welche politischen Veränderungen, die nächsten zwölf Jahre auch für
Deutschland in ihrem Schooße bergen mögen, ein Rückfall zum Schutz zollsystem scheint
uns undenkbar zu sein.
Preußm
hat endlich nach
langer Abirrung sich zu jenen erleuchteten Grundsätzen zurückgefunden, welche bereits im Jahre 1808 seine Staatsmänner als Mchtschnur ihm
vorzeichneten.
Für die politischen Pläne, welche es ihm früher vortheil-
hast erscheinen ließen, auf Kosten seiner eigenen Interessen den schutzzöllnerischen Anschauungen des südlichen Deutschlands Opfer zu bringen,
hat Preußen aus dem Zollvereinsverbande denjenigen Rutzen gezogen,
der sich überhaupt davon erwarten ließ.
Die wirthschaftliche
Einheit
Deutschlands ist bereits so schr ein Gemeingut Aller, eine solche unbe
dingte Nothwendigkeit für die nattonale Existenz geworden, daß bei allem Haffe, .welcher Preußen von einzelnen deutschen Regierungen entgegenge-
trageu wird, es sich als eine pure Unmöglichkeit herausgestellt hat, den Zollverein zu sprengen und dadurch Preußm nicht blos zu isolirm, son-
dern auch sein politisches Ansehen zu schwächen.
Preußen kann für seine
politischen Pläne die wirthschaftüche Einigung Dmtschlands fortan als
eine feste Basis annehmen, von welcher aus sich weitere Schritte 'thun lassen.
Was ein Mmschenalter hindurch Ziel war, das ist jetzt Aus
gangspunkt der prmßischm Politik geworden und bildet.ein.so sichres
Moment der politischen Combinationen, wie es nur immer der instinkttve, darum aber nicht minder gewalttge Wille einer Ratton bilden kann:
stch nicht bei lebendigem Leibe zerreißen zu laffm.
Und diese Nation ist
VolkStvirthschaftliche Briese aus Deutschland.
35
außerdem zu der Einsicht gelangt, daß es nicht dem Schutze der sog.
„nationalen Industrie", sondern daß es der Freiheit des innern
und
äußern
Verkehrs
wenn sie sich, bis eine anderweite
gilt,
Einigung erfolgt, im Zollvereine als eine höhere wirthschaftliche Einheit
zusammenfaßt.
Nicht niehr gilt es als Zeichen liberaler Gesinnung, den
Freihandel zu verdächtigen; die freie Discussion hat das Volk darüber aufgeklärt, daß es das gleiche Ziel ist, was der Liberalismus und der Freihandel anstreben: Beseitigung der Vorrechte und Privile
gien Einzelner, Herstellung eines gleichen Rechtes für Alle. Der Zollverein wird in wenigen Monaten — der französische Handels vertrag soll mit dem neuen Zollvereinstarif am 1. Juli 1865 in Kraft
treten — auch äußerlich jenem großen Systeme angehören, welches die
Culttlrvölker des westlichen Europas umschließt und welches dann über 130 Millionen Seelen sich erstrecken wird.
Da die Begünstigungen,
welche der eine dieser Staaten dein andern zugesteht, eo ipso auch allen
übrigen Staaten zukommen, mit welchen ähnlich lautende Handelsverträge
abgeschlossen sind, so ist die schrittweise Annäherung an das Ideal der
Handelsfreiheit für die lvestliche Hälfte Europas damit gewährleistet.
Die Agitation für das Freihandelsprinzip >vird von jetzt ab weiter nach Osten zu tragen sein;
damit fällt uns Deutschen die Aufgabe zu, im
russischen Staate die Propoganda für freihändlerische Anschauungm
ernster-als bisher zu betreiben und zunächst auf den Abschluß eines Handels-
und Zollvertrags
zwischen Rußland
und
dem
Zollvereine hinzuwirken.
Wir beginnen mit dem Bekenntniß, daß die frühern Versuche,
welche Preußen in dieser Richtung unternommen hat, sämmtlich an einem und demselben inneren Gebrechen laborirtenu nd deshalb die Schuld des
Bkißlingeus von vornherein'sich
in trugen.
Die preußische Regierung
versuchte es, beim Austrag einer volkswirthschaftlichen Frage politische Erwägungen als Argumente zu benutzen, auf welche die russische Regie rung, wenn sie ihrem ganzen politischen Systeme nicht untreu werden wollte, nimmer einzugehen vermochte.
Den Ausgangspunkt für die
Argumentationen der preußischen Regierung bildete nicht etwa das Frei handelsprinzip, sondern der Theilungstraetat über das Herzog-
thum Warschau vom 3. Mai 1815, in welchem bekanntlich eine der 3*
36
BolvvviiMchaftlich« «riefe «uS DeUtfchl«^.
Hauptfchwierigkeiten des Mener Congresses, definitive Erledigung fand.
die polnische Frage,
Beide Verträge
—
ihre
es wurden zwischen
Rußland und Preußen und zwischen Rußlmd und Oesterreich besondere
Instrumente unterzeichnet — stellten» um dm Polen eine Art von Ent schädigung für den Verlust chrer staatlichen Selbstständigkeit zu gewähren,
den
Gedawken
einer
handelspolitischen
Einheit
Polens in den Grenzen von 1772 auf.
des
alten
Der preußisch--russische
Vertrag bestimmte im Art. 19, daß dem täglichen Verkehr unter den Grenzbewichnerm kein Hinderniß in den Weg gelegt werden solle; im
Art. 22, dich die Schifffahrt auf allen polnischen Strömen für alle Be
wohner der polnischen Provinzm frei sein solle; im Art. L8, daß die .einmal vereinbarten Schifffahrtsabgaben nur durch gemeinsames Ueber
einkommen abgeändert werden dürften.
Art. 28 endlich lautete:
„Um m allen Theilen des Ehemaligen Polens soweit als mög
lich den Ackerbau zu beleben, die Betriebsam^ der Einwohner zu
wecken und ihre Wohlfahrt zu befestigen, find die beiden Hohm «mtrahirendm Theile-------- übereingekommen, künftig und für immer
in allen ihrm Polnischen Provinzen allem dem, was der Bodm
und die Betriebsamkest dieser Provinzen erzeugen und hervorbringm,
dm unbeschränktesten Umlauf zu gestatten.
Die zu dm näheren
Vereinbarungen eruaunten Eommiffarien -------- - sollen beauftragt werdm,
—
—
sich über einen Tarff zu einigen, nach
welchem, der Ein- unb'Zstlsgangszoll von allm natürlichen Erzeug
nissen des Grundes und Bodens und von den -Erzeugnissen der Manufacturen und Fabriken m jenen Provinzen entrichtet werden
soll.
Dieser Zoll darf Zehn vom Hundert des Werthes
der Waaren am Absendungsorte nicht übersteigen." Der Transithandel endlich sollte in stllen Theilen des ehemaligen
Polens vollkommen frei sein und nur mit den mäßigsten Zöllen belegt
werden.
Aehulich lauteten die Bestimmungm des russisch-österreichischm
Vertrages, nur war darin kein Maximum der Ein- und Ausgangszölle
bestimmt.
Diese Traktate sind nie zur Ausführung gelangt, sie hättm
eine Ausscheidung der polnischen Lanhesthelle aus jebem der drei contra»
hirmden Staaten und die Constituirung derselben zu einem geschlossenen Verkehrsgebiet mit besondern Zollgrenzen bedingt.
Noch während die
BolkSivirthschaftliche Briefe aus Deutschland.
37
im Art. 18 des Vertrags vom 3. Mai 1815 vorgesehene Commission zu Warschau versammelt war, wurde der russische Tarif vom 31. März 1816
veröffentlicht, welcher die polnischen Provinzen Rußlands mit Ausnahme
des „Königreichs Polen" in die russischen Zolllinien hineinzog; waren die Arbeiten der Commission hinfällig geworden.
damit
Neue Verhand
lungen führten zu der s. g. Zusatzakte vom 19. Decbr. 1818, welche
im Art. 14 stipulirte, daß die ini angehängten Tarife normirten Ein und Ausgangszölle für die Landgrenze nur nach gemeinschaftlicher
Uebereinkunft erhöht und Ein- und Ausgangsverbote ebenfalls nur nach
gegenseitiger Uebereinkunft erlassen
Staaten blieben verboten: noch Tabak).
werden
dürften
(Für beide
Spielkarten und Salz, für Polen außerdem
Für wollene,
leinene und Lederwaaren preußischen
Ursprungs waren die Eingungszölle nach Polen noch bedyttend er
mäßigt.
trat mit bent
Dieser Tarif
er wurde indessen
—
und
zwar
1. Januar
1820 ins Leben;
ohne Zustimmung und gegen den
Wunsch Preußens — bereits durch einen Ukas vom 22. März 1822
wieder außer Kraft gesetzt. Rußland
und
Dieser Ukas veröffentlichte einen neuen für
Polen geltenden Zolltarif,
welcher auf dem strengsten
Prohibitivsystem beruhte; er verbot für Rußland die Einfuhr von Thee und Branntwein, grünen, schwarzen und weißen Tüchern, und erhöhte z. B. die Eingangszölle auf baumwollene Waaren von 10 Sgr. 6 Pf.
das Pfund preußisch auf 4 Thlr. 20 Sgr. 6 Pf.,
für seidene Waaren
von 1 Thlr. 20 Sgr. 6 Pf. das Pfund preußisch auf 6 Thlr. 18 Sgr.!
Dazu traten noch allerlei Nebenabgaben, welche zuweilen die Höhe des eigentlichen Eingangszolles erreichten, und eine ungemeine Erschwerung
des Personenverkehrs an der Grenze. — Ein neuer Handelsvertrag vom 11. Wirz 1825 erkannte die Aufhebung der Zusatzakte von 1818 förmlich an, führte indessen andrerseits nur sehr geringfügige Verkehrs
erleichterungen herbei und ist nach seinem Ablauf im Jahre 1834 nicht
wieder erneuert worden. preußischen Regierung
Seit jener Zeit haben die Beschwerden der
ihren Ausgang stets von
3. Mai 1815 genommen;
dem Traktate vom
es ist indeffen bis jetzt weder zu einer Eini
gung über eine Convention zur Ausführung jenes Traktates, noch zum Abschluß eines andern Handelsvertrages gekommen.
Die Zugeständnisse,
welche die russische Regierung in den s. g. Concessions definitives
38
Volkswirtschaftliche Briefe auS Deutschland.
vom Jahre 1842 gemacht hat,
sind nicht von großem Belang gewesen
und zudem nicht vertragsmäß gewährleistet.
Der factische Boden, auf
welchem der Traktat vom 3. Mai 1815 allein noch hätte angerufen werden können,
ist durch die Hineinziehung des Königreichs Polen in
die russische Zolllinie im Jahre 1851 vollends verloren gegangen. Vom volkswirthschaftlichen Standpunkte aus kann man nicht anders
sagen, als daß es so kommen mußte, wie es gekommen ist.
Rußland
trifft keine andre Schuld als die, einen von vornherein unausführbaren Vertrag nicht ausgeführt zu haben; ja, Preußen wäre sogar selber in der größten Verlegenheit gewesen,
wenn es an die Erfüllung des Ver
trags gemahnt, seine polnischen Landestheile aus dem Zollverbande hätte
ausscheiden
und mit einer Binnenzollgrenze gegen den übrigen Staat
hätte abschließen sollen.
Der Vertrag vom 3. Mai 1815 macht dem
Herzen Kaiser Alexander's mehr Ehre, als der Einsicht derjenigen Diplo maten, die ihn entworfen haben; er war von einer warmen Sympathie
für die nationalen Bestrebungen der Polen eingegeben, widersprach aber den Interessen,
welche die russische Politik seit jeher verfolgt hat:
die
dem mssischen Reiche nach und nach annectirten Gebietstheile in möglichst
kurzer Zeit zu asflmiliren. Glück dazu wünschen,
Württemberg
und
Wir als Deutsche endlich können uns nur
daß Posen und Westpreußen
mit Baden
uüd
nicht mit Volhynien und Podolien sich im Zoll
verbande befinden. Wenn
der Abschluß eines russisch-deutschen Handels-, und
Zollvertrages in Deutschland gegenwärtig so vielfältig ventilirt wird,
wenn
der bleibende Ausschuß des deutschen Handelstags im Februar
dieses Jahres den deutschen Regierungen eine darauf bezügliche „Denk
schrift" eingereicht, wenn der siebente Congreß deutscher Dolkswirthe, der zu Hannover im August dieses Jahres tagte,
Tagesordnung gesetzt hat —
diese Frage auf seine
wegen Kürze der Zeit konnte der vom
Abgeordneten Michaelis erstattete Bericht leider nicht mehr zum Vortrag
kommen — so bildete die Grundlage aller dieser Bestrebungen nicht
etwa der Traktat vom 3. Mai 1815, nicht die todten Buchstaben der Pergamente, sondern unsere eignen Interessen und die lebendige Ueber zeugung, daß diese Interessen nur gleichzeitig mit den Jntereffen Ruß
lands
zur Befriedigung
gelangen
können.
Die Zeiten
sind vorüber,
BolkSwirthschastliche Briefe aus Deutschland.
39
wo eine Nation daraus ausging, die andre beim Abschluß derartiger
Verträge zu übervortheilen. schon zu sehr verbreitet,
Die volkswirthschaftliche Einsicht hat sich
als daß so Etwas heut noch möglich wäre.
Der gegenseitige Vortheil allein kann maßgebend sein. Läßt sich in Ruß
land nicht die Ueberzeugung erwecken, daß eine freisinnige Umgestaltung des
bisherigen
Zollsystems
und
verschiedener damit eng verknüpfter
so geht bei
Institutionen im eigenen Interesse Rußlands liegt,
uns die Ansicht dahin, daß es besser ist, mit dem Abschluß eines solchen Handelsvertrages einstweilen noch zu warten. Seit dem Beginn der Zwanziger Jahre hat Rußland seine Pros
perität am besten dadurch zu fördern geglaubt, daß es alle ausländische Concurrenz
möglichst
ausschloß.
Durch
den
reichen Gewinn
gelockt,
welche die von feinem Rivalen geschmälerte Ausbeutung des inländischen
Rtarktes abwarf,
entstanden schnell zahlreiche Spinnereien,
und Druckerei«, cheinische und Zuckerfabriken.
behaupten,
Webereien
Es läßt sich indeffen kaum
daß diese Industrie dem Staate selber besondere Vortheile
gebracht hätte.
Die Fabriten zogen die Kapitalien an sich ;
ivirthschaft nmßte darunter leiden.
Freilich
die Land-
blieb das Geld,
welches
sonst für Fabrikate ins Ausland gegangen wäre, im Lande; es giebt aber
Staaten genug, »velche keine Edelmetalle erzengen, kein Prohibitivsystem befolgen und doch im Verkehre keinen Mangel an Metallgeld empfinden. Aus Rußland ist für Waaren allerdings «'eiliger Geld ins Ausland
abgefloffen; wie viel Geld aber im Auslande für Tagesbedürfniffe und
Tagesgenüsse von russischen Reisenden ansgegeben worden ist,
wird sich
schwer berechnen laffen; außerdem macht die Zinszahlung für die russische
Schuld jährlich doch auch Millionen Rubel für das Ausland flüssig; an Abzugskanälen für das russische Geld hat es doch nicht gefehlt und der gehoffte Vortheil
ist mithin
nicht erreicht worden.
Der positive
Nachtheil des Prohibitivsystems liegt hauptsächlich darin, daß die den Bodenverhältnissen entsprechende Industrie von künstlich getriebenen Zwei gen überwuchert wird; es wird dadurch die Production solcher Waaren beeinträchtigt, welche, da sie in andern Ländern nicht gleich vorthesshaft
erzengt werden können, sich für den internationalen Verkehr ganz vor züglich
eignen
und
mit dem nicht nur dir vom Auslande bezogenen
Artikel, sondern auch, ivenn man überhaupt eine solche Scheidung zu-
40
Dolkswirthschaftliche Briefe aus Deutschland.
lassen will, Edelmetalle nach Bedarf eingekaust werden sönnet.
Die
Prosperität der Nationen beruht nicht auf der nati»nalen Arbeit, sondern auf der internationalen Arbeitsthrilung. Ein Land,
welches für eine intensive Bodencultur in Feld unv Wald
die trefflichste Gelegenheit bietet, kann gar nichts Verkehrteres beginnen, als
sein Kapital
und
seine Arbeitskraft in
künstlich
hervor;erufene
Jndustriebranchen zu stecken; in jeder Stunde Chquffee, in jeder Stunde
Eisenbahn »erben Beide weit lucrativer angelegt sein als in Kattun fabriken und Seidenwebereien.
Wir hoffen in Deutschland, Prohibitivsystem sich stützt,
daß jene Doctrinen, auf weiche das
auch in Rußland bald einer gesunderen
Einsicht den Platz räumen werden.
Diese Hoffnung ist nicht ohne die
Gewähr der Gewißheit; wir haben es an uns selber erlebt, wie schnell
ein Irrthum seine Macht verliert, wenn man nicht müde wird, ihn Tag
für Tag zu bekämpfen. Hat sich aber erst in Rußland die Ueberzeugung Bahn gebrochen, daß das eigene Jntereffe es erheischt, sich ferner nicht
mehr abzusperren von dem internationalen Waarenaustausch unb der internationalen Arbeitstheiluiig, so wird ein russisch-deutscher HandelsMd Zollvertrag sehr bald zu Stande kommen.
Wir verlangm nicht
auf Grund von Traktaten, welche ohne eine rechte Vorstellung von der
Tragweite ihrer Consequenzen abgeschloffen worden sind, nicht aus Grund besonderer Rücksichten, welche Rußland etwa unsrer fteundnachkarlichen
Haltung in politischen Fragen
wegen uns schuldig zu sein glauben
kannte, sondern im Rqmen unsrer gegenseitigen Interessen,
dgß man sich in Rußland ernstlich mit dem Gedanken beschäftige,
ob
nicht das bisherige, in den letzten Jahren ja bereits ein klen wenig
gemilderte Prohibitivsystem einer prinzipiellen Umgestaltung zu unter
werfen ist.
Magna est veritas et praevalebit.
Wilhelm Wackernagel,
Griefe aus Rußland. St. Petersburg, den 14. December 1864.
Einer der drei ^innnz-Jahresberichte, deren regelmäßige Wieder
kehr ich vor Kurzem (Septemberheft der Nord. Revue) erwähnte, ist soeben erschienen: es ist derjenige,
welchen
der Herr Finanzminister dem für
die Creditanstalten eingesetzten Conseil a»l 23. November a. St. in Form
einer Rede vorgelesen hat.
eine Ueberlieferung
Dieser Bericht,
der alten Zeit,
arrs
wenn wir »richt irren,
ist
wo die Creditanstallen unter
die Abhängigkeit der Wohlthätigkeits-Etablissements gestellt waren.
Wir
' beabsichtigen eines Tages auf die ganz eigenthümliche Organisation dieser letztern ausführlich einzugehen, da sie noch jetzt in Rußland eine Rolle
und einen Wirkungskreis haben,
wie kaum
in
einem andern Staate.
Für heute wollten wir blos diese kurze Bemer-kung voranschicken, um
den traditionellen Wirrwarr zu erklären, der noch immer bei Abfasiung jenes Berichtes vorwaltet.
Vor drei Jahren versicherte uns allerdings
ein geistreicher Beam teraus dem Finanzministerimn, jenes Tohu-wa-Bohn habe seinen tiefern Grund in der Unrichtigkeit und Nichtübereinstimmung
der von den unteren Behörden eingelieferten Rechnungen,
unmöglich werde,
wodurch es
einen correcten Ausweis über die ohnehin so ver
wickelten Beziehungen des Staates zu seinen Credit- und Wohlthätig Darum erscheint auch der ministerielle Bericht
keitsanstalten aufzustellen.
durchaus nicht als ein Expose der Finanzlage oder der Staatsschulden,
sondern vielmehr als ein Miscellaneum aller im Laufe des Vorjahres
ergriffenen Maßregeln, welche sich ans das Staats- und auf das Pri vatcreditwesen beziehen, und nur wer auch zwischen den Zeilen zu lesen versteht,
kann
daselbst
zu
manchen interessanten Beobachtungen über
unsere Finanzgebarung Anlaß finden.
So z. B. beginnt das amtliche
Documrnt mit einem Nachweis dessen, was in Folge des Decrets vorn
42
BolkSwirthschastlichr Briefe aus Rußland.
25. April 1862 geschah, welches bekanntlich die Einwechselung des Pa piergeldes
Die Maßregel wurde,
gegen Metall anordnete.
weiß, am 5. November 1863 wieder eingestellt.
wie man
Aus dem Berichte er
sehen wir nun, daß in dem gedachten Zeitraume von 18 Monaten für
72,615,427 R. Papiergeld im Umtausche gegen Metall aus dem Um
läufe gezogen wurde, wovon 45| Millionen auch bereits im Juni 1863 durch Verbrennen vernichtet wurden, während weitere 27} Mill, „jetzt
zur Verbrennung vorgestellt werden."
Hier kommt nun in erster Reihe
die Anmerkung, daß am 25. April 1862 eine Anleihe von 15 Mill. Pfd. Sterl., also von nahe an 100 Millionen Rubel zum Zwecke jener
Umwechselung ausgenommen wurde, daß also jedenfalls der vierte Theil derselben seiner ursprünglichen
wollen nicht danach fragen,
Bestimmung
entfremdet
wurde.
Wir
jetzt mit der Verbrennung
warum bis
jener 27 Mill, gezögert wurde und durchaus nicht annehmen, man warte
zu diesem Zwecke erst auf den Erlös der neuen Anleihe (siehe weiter unten), weil man in Nürnberg nicht verbrennt, was man nicht hat. Aber der Bericht und seine Ziffern regen noch eine andere Frage an. Am
die Masse
1. Mai 1863 betrug
707 Millionen.
Rubel;
der
umlaufenden Creditbillette
Der letzte Bankausweis beziffert dieselbe mit 643,670,590
sonach stellt sich nur eine Verminderung von 64} Mill, an
statt der oben erwähnten 72| Mill, heraus.
Es hat demnach eine neue
Ausgabe von Papiergeld stattgefunden; ein Decret, welches hierzu er mächtigte, ist aber niemals bekannt geworden. Eine ähnliche Bewandtniß hat es mit den s. g. 4 procentigen Bank-
billets.
Ursprünglich bestimmte das Decret vom 16. December 1860
deren successive Ausgabe bis zum Betrage von 100 Mill., in der Absicht
die Bankmittel zu vermehren.
aus dem
Dieser Zweck ist vom Anbeginne an ganz
Auge gelassen worden;
jede neue
Serie des Werthpapiers
diente nur dazu, den unerschöpflichen Staatsseckel zu füllen; noch auf
fälliger ist, daß nun bereits mehrere Serien (jede ä 12 Millionen) ausgegeben sind, ohne daß, wie es Anfangs gebräuchlich war, ein besonderes Decret hierüber veröffentlicht worden wäre.
Nur aus den Bankaus
weisen erfuhr das Publikum jeweilig die Ausgabe von Obligationen aus
der 4., 5. und 6. Serie,
und während
die letzte Wochenbilanz (vom
23. November a. St.) noch kaum die Hälfte der 6. Serie als ansgegeben
43
Bolkswirthschaftliche Briefe aus Rußland.
bezeichnet (sie bleibt bei 64J Mill, stehen), belehrt uns der am selben
Tage verlesene, aber geiviß schon früher verfaßte Ministerbericht, daß
auch die siebente Serie bereits in Ausgabe begriffen. - Zwischen den zwei Widersprüchen, die
>vir bis
jetzt signalisirt haben,
besteht indeß ein
innerer Zusammenhang, der freilich nur Denjenigen verständlich wird, die sich zu einer eingehenden Kenntniß unserer Finanz- und Bankver-
hältniffe hinaufgeschwungen
haben.
Die Bank tvill nämlich „correct"
sein, und weil sie nun, lote wir oben gesehen, neues Papiergeld aus gegeben, hat sie sich vom Staat die „Deckung" hierfür in der Berech
tigung ertheilen laffen, neue Aletalliques auszugeben;
weil man aber
diese nicht absetzen kann, blieben sie in den Bankcaffen und das. Papier
geld läuft unbedeckt durchs Ymib. Waaren,
Würde ein Privatmann,
auf die ihm Niemand etwas borgen will,
im
weil er
Keller
hat,
darauf hin Wechsel ausstellen, so würde man dies eine Wechselreiterei nennen.
Doch kehren wir zu unserem Berichte zllrück; er bietet noch manche
neue
die wir gern cvnstaiiren.
und auch erfreuliche Thutstichen,
So
z. B. erfahren wir aus demselben die Sanctionirnng der Statuten einer in Riga zu gründenden städtischen Hänserteihanstalt.
Diese lokale Boden
kreditbank, den ähnlichen Anstalten in Petersburg und Moskau nach
gebildet,
ist berechtigt,
die Immobilien
der baltischen Stadt bis zu
31 ihres Werthes zu belehnen und dafür Obligationen auszugeben; diese aber können nicht
im Wege der Ziehung, sondern nur durch Rückkauf
oder Rückzahlen eingelöst werden.
Erfreuliches enthält der Bericht über
das lokale Banktvesen, wie es sich in Folge des Ukases vom 6. Februar 1862 in den Provinzstädten entwickelt.
Eigenthümlich wie alles bei uns
st freilich auch die Organisation dieser kleinen'Creditanstalten. .Bor dem
obigen Decret gab es deren 21, deren Gründung ausschließlich philanthropi schen Stadtbewohnern zu verdanken war,
tvelche ihrem Geburts- ober
Aufenthaltsorte ein kleines Kapital vermachten, das zu Darleihgeschästen
verwendet werden sollte, Anstalt gewidmet ivnrben.
tvährend die Zinsen irgend einer wohlthätigen
Durch diese letztere Bestimmung trat die
„Bank" auch sofort unter die Bvrmnndschaft des Conseils der Wohl-
thättgkeitsanstalten, dieselbe nicht.
eine verantwortliche Berivaltung aber gab es für
Der Ukas von
1862 ermächtigte nun
jede Gemeinde,
Volk-tvirthschastliche Briese aus Rußland.
44
eine solche Bank zu gründen, sobald ein Mnimalkapital von 10,000 Rubel vorhanden;
mit der Bedingung jedoch, daß der erzielte Rein
gewinn zum Kapital geschlagen, die Statuten vom Minister des Innern bestätigt und die Leitung der Lokalbehörde anvertraut werde.
Es sind
nun wirklich bereits 67 solche Banken concessionirt worden, wovon 16
ein Gründungskapital von nicht mehr als je 10,000 R., 26 ein solches
von 10—25,000 R., 14 ein solches von 25—50,000 R., drei mit je 100,000 R. und eine (Rostow) mit 150,000 R. haben; es giebt Ort schaften, wie Wiatka, wo auch zwei solche Banken neben einander be
stehen; einzelne derselben haben bereits Depots von mehr als 100,000
Rubel.
Der Rechenschaftsbericht für 1863 liegt indeß blos für 25 dieser
Anstalten vor; das Gründungskapital derselbm betrug zu Anfang jenes
Jahres 1,165,280 R. nnd sie hatten' im Laufe desselben 1,260,854 R.
an Depots
sie 495,394 R.
rückzahlten; sie hatten
ferner für 3,665,375 R. Wechsel escomptirt
und für 1,173,549 R.
erhatten,
wovon
Vorschüsse auf verschiedene Depots gemacht. haben
zehn
einen Gewinn von
Von
diesen
Anstalten
mehr als 10 Procent erlangt,
neun andere betrug derselbe zwischen
5 und 10 Procent,
sechs endlich haben weniger als 5 Procent realisirt.
die
für
letzten
Der Herr Minister
spricht die Hoffnung aus, daß, da der erzielte Reingewinn, nach Abzug
einer Municipalsteuer, dem Kapital der Banken hinzugefügt werde, sich auch der Geschäftskreis derselben immer vergrößern dürfte.
Diese Hoff
nung theilen auch wir, es bleibt uns aber doch unerklärlich, warunl man die Gründer solcher Anstalten zwangsweise zu Wohlthätern ihrer
Gemeinden macht.
Die Solidität der Banke» kann hierbei nur ver
lieren, denn wo nicht eigenes Interesse fortwährend im Spiele ist, er
kaltet die Theilnahme gar kald und es möchte auch die Unparteilichkeit
der Creditertheiler manchem Zweifel unterliegen.
Wenn trotzdem bereits
67 Concessionen ertheilt sind, so beweist dies eben nur die ohnehin be
kannte Creditbedürstigkeit des Landes und berechtigt zu dem Schluffe, daß in dem kurzen Zeitraume von 20 Monaten bereits einige Hunderte
von Banken entstanden'wären, wenn man dem Geldbesitzer gestattete, auch ohne gezwungene Wohlthätigkeit seinen Mitbürgern dienlich zu -sein. Einen Beweis hierfür liefert der officielle Bericht selbst in der Ab
handlung über die im März 1864 in Petersburg gegründete Gegen-
seitigkeits =• Creditgcsellschaft.
Dieselbe ist der Brüsseler societe generale
du Credit mutuel nachgebildet und besteht gegenwärtig aus 490 Kaufleuten,
meist geringern Standes, die zusammen für ein Kapital von 1,996,800 Rubel eingestanden, wovon 10 Procent eingezahlt wurden.
Jedes Mitglied
kann nur auf so viel Credit Anspruch machen, als seine Kapitalhaftung
bei der Gesellschaft beträgt.
Mit dem bis jetzt eingezahlten Kapital hat
nun der Verein bereits 1,874 Wechsel seiner Mitglieder im Betrage von
980,666 R. rscomptirt, er hat bei der Staatsbank in Wechseln und in
Baargelde eine Rechnung von 2z Mill., und er hat von seinen eignen
Mitgliedern in laufender Rechnung zum Zinsfüße von Betrag von 2,384,000 R. erhalten.
Procent den
Schon jetzt beträgt der erzielte
Reingewinn 27,945 R.; die Mitglieder haben also, ganz abgesehen da
von, daß sie sich creditfähig gemacht, auf ihr eingezahltes Kapital noch ein Erträgniß von 26 Procent (für sechs Monate) erzielt.
Wirken solche
Beispiele nicht anspornender als die philanthropischen Maßregeln des
Decrets vom 6. Februar 1862 ? Unser Interesse regt auch jener Theil des amtlichen Berichtes an, welcher die mit der Bauernemancipation in Verbindung stehenden Finanz
maßregeln
betrifft. ' Einestheils
lasten
sich
dieselben in dem uner
quicklichen Streben zusammenfaffcn, dem Adel das Abzahlen seiner alten
Schulden möglichst zu erleichtern: zu diesem Zwecke werden die Anfangs immobilen Loskaufspapiere mehr nnd'mehr mobilisirt und der Renten-
nrarkt überladen; andererseits, wo der Staat als Gläubiger fungirt,
übt er alle mögliche 'Rachsicht, prvlongirt nicht nur alte Schulden, son dern gestattet auch die rückständigen Jntereffen zum Kapitale zu schlagen
und die Schuldentilgung auf eine längere Reihe von Jahren als die ursprünglich festgesetzte zn vertheilen. unnütz
Glicht als ob wir diese Maßregeln
oder unbillig fänden, aber es liegt in denselben eine Selbst
anklage der Regiermlg, daß sie seit fünf Jahren noch nicht vermocht, eines der vielen Bodencreditprojekte, die ihr vorgelegt wurden und noch
vorliegen, zu sanctioniren, weil man über bureaukratische Bedenklichkeiten, über
widerstreitende
Jntereffen kleinlicher
Art hinwegzukommen nicht
verinochte. — Erfreulicher ist, was der Bericht über die bis zur Stunde
mit Hülfe des Staates beiverkstelligten Loskaufsoperationen der ehema
ligen Leibeigenen sagt.
Bis zum 19. October 1864 hatten im Ganzen
46
DolkSwirthschaftlichr Briefe aus Rußland.
1,827,808 Bauern ihren Grundbesitz gänzlich losgekaust und der bezahlte
Werth belief sich auf 184| Millionen Rubel; davon sind durch die Be
hörde 171| Mill, bereits zur Auszahlung gelangt und zwar in folgender Weise: ein Betrag von 85| Mill., also genau die Hälfte, wurde an
die Staatsbank als Schuldentilgung der Grundbesitzer eingezahlt; die andere Hälfte erhielten die Letzteren theils in Sprocentigen Bankbillets
(20f Mill.), in Loskaufscertifikaten (an 40 Mill.), in 5|procentiger Rente
(24f Mill.) und den Rest von einer halben Million in Baargeld. — Auch der Sparkassen geschieht in dem ministeriellen Berichte Erwähnung.
Die Thättgkeit derselben ist eine sehr beschränkte, wie es sich nicht an ders erwarten läßt in einem Lande, wo es ohnedies leicht ist für jeden kleinen Betrag (50 Rubel) ein zinstragendes Staatspapier sich zu ver schaffen, welchem noch obendrein die Bequemlichkeit anhaftet, daß man
es allenthalben für baares Geld ausgeben kann und die aufgelaufenen Interessen mitgerechnet werden.
Dabei tragen die Schatzscheine, von
denen wir hier sprechen, einen höheren Zins, als die Einlagen in den
Letztere haben darum auch in den beiden Hauptstädten zu
Sparkassen.
sammengenommen nicht viel mehr als 6| Millionen am Beginne dieses
Jahres gehabt und es ist noch zu constatiren, der Einlagen gegen das Borjahr stattgefnnden.
daß eine Verminderung Dasselbe ist der Fall
mit den mit den Wohlthätigkeitsanstalten verbundenen Sparkaffm, deren Depots am 1. Januar 1863 sich mit 3f Mill., am 31. December aber
nur mit 3| Mill, beziffern. Als Resurn« stellung:
giebt der ministerielle Bericht folgende Zusammen
Zu Anfang des Jahres 1864 belief sich die Gesammtsumme
der zinstragenden Depots: 5 % Bankbillets (in 37 I. rückzahlbar)
273,801,550
Obligat, der consol. Staatsanleihe
152,303,595
Unwiderrufliche Depots ä 5%
Billets der frühern Creditanstalten Depots der Staatsbank
„
in laufender Rechnung
288,377 78,183,138
157,926,179 26,618,232
689,121,171
Volkswirthschastlichk Briefe aus Rußland.
47
Dieser Summe soll eine Schuldforderung von 544,986,883 Rubel als Aktivum der Creditanstalten entgegenstehen; nur wird nicht gesagt, wie viel von diesen« Betrage der Staat selbst au diese schuldet.
.Wäre die Nord. Revue ein Tagesblatt, welches, die wichtigsten Dinge in
Form von telegraphischen Depeschen mit fetten Letten« an hervorragen der Stelle abdnickt, so hätten auch wir unsern heutigen Bericht mit dem-
jmigeu Ereignisse beginnen müssen, welches in diesem Augenblicke die
wirthschaftlichen Verhältnisse Rußlands so «nächtig anregt; wir meinen
die neueste Anleihe in Betrage von 100 Mill. R., welche die Regierung
soeben emitirt und auf welche die Subscription morgen beginnt.
Da uns
zum Vorwurfe gemacht wird, daß «vir die ökonomische Lage des Reichs mit einer gewissen Vorliebe grau in grau malen, so beginnen wir unsere
Bemerkungen über diese neueste Creditoperation mit dem Ausdrucke der Zuversicht, ja mit der Versicherung, der von der Regierung geforderte
Betrag werde ihr vorn Lande bereitwilligst entgegengebracht werden; ja, es läßt sich voraussehen, daß wie bei allen Aktien- und andern Zeich
nungen, so auch hier jeder Einzelne in Voraussicht einer Reduktion weit mehr Rentenscheine fordern wird als er eigentlich einlösen könnte, und
an gewissen Orten wird dann das ««iivermeidliche Loblied ertönen über
die Unerschöpflichkeit der Hülfsquellen, die Opferbereitwilligkeit der Ra
tion u. s. w. u. s. w.
Es ist dies aber auch Alles,->vas wir Gutes von
Wir erachten es umsoweniger
der neuen Creditoperation sagen könnten.
nöthig, mit dieser unserer in den folgenden Zeilen begründeten Meinung hinter dem Berge zi« halten, als der gegenwärtige Brief erst im Drucke
erscheint und dein Publikum zugänglich wird,
tvenn schon längst die
Subscription auf die A««leihe geschlossen ist, wir also auch nicht Eine Seele dieser abwendig zu machen gedenken.
Ueber den Zweck der An
leihe wollen wir später sprechen; «vir haben es vor Allem mit dem Modus derselben: der Lotterie und der Prämie, zu thun.
Man hat Rußland
viel Schlechtes nachgesagt, aber z,« seinen guten Seiten gehörte bisher, daß es. von den Staatseinnahmen, tote sie der raffinirte Geldbedarf
moderner Regierungen
erfand,
nicht viel «vußte.
Wir hatten weder
Lotterie noch Tabaksmonopol, und auch die Salzregie würde vor zwei Jahren zu Gunsten der Privatindnstrie, aber auch im wohlverstandenen
Interesse des Staatsschatzes abgeschafft.
In Bezug auf Lotteriespiel war
48
BoMwirthschastNchr Brief« auS Rutzland.
man bis in die letzte Zeit so sittenstreng, daß selbst die Annoncen fremder
Lotterien in den hiesigm Zeitungen nicht abgedruckt werden dursten. Das Verbot besteht noch; es wird aber von nun an nur als Mittel zur Courshebung der eigenen Lotteriezettel betrachtet werden müssen. . Auch
das Prämienspiel war in unserer offiziellen Welt bis jetzt arg verpönt. Privatgesellschaften, die ihren
Aktien
oder Obligationen
eine
höhere
Rückzahlung als den eingelegten Betrag zusichern wollten, mußten ihre Vorschläge
verworfen
Die eine
sehen.
Anleihe
hat
sich mit einem
Schwünge über all diese Bedmken weit hinausgesetzt;, was der Staat
bis jetzt nicht duldete — übt er nun selbst.
Und in welchem Maße!
Die Antheilsscheine der neuen Anleihe sind auf hundert Rubel fixirt; dir Rückzahlung derselben, welche in 105 Halbjahrsziehungen erfolgt,
ergiebt schon in den ersten Jahren 120 Rubel und dieser Betrag.steigt succesive bis hundertfünfzig Rubel.
Außerdem finden in den 30 ersten
Jahren ztvei Ziehungen jährlich, später je eine Ziehung jährlich statt
und
für die gezogenen Loose
ist
jedesmal ein Gesammtgewinn
600,000 R. mit Haupttreffern von 200,000, 75,000 R. u. s. w. geworfen.
Ja
noch
von aus
mehr, da die Ziehung der Gewinnnummern ge
trennt von jener der rückzuzahlenden Obligationen stattfindet, so kann es geschehen, daß auf eine und dieselbe Obligation wiederholte Gewinne
fallen.
Daß somit die Spiellust aufs höchste angeregt ist, versteht sich
von selbst.
Einen Beweis hierfür, wenn es dessen noch bedürfte, fänden
wir in dem Umstande, daß
an den zwei letzten Börsentagen (Freitag
und Dienstag) in keinem Staatspapiere irgendwelche Geschäfte gemacht
wurdm, und die Börsenzettel unserer Tagesblätter mit leeren Rubriken veröffentlicht wurden.
Ganz natürlich.
Es wird Niemandem einfallen,
jetzt Rentenpapiere zu kaufen,
da noch nicht zu ermessen ist, welchen
Einfluß das neue Papier
den Werth der ältern ausüben werde;
auf
die Besitzer dieser letztem aber mögen dieselben auch nicht ,^losschlagen",
weil ihnen selbst
die schon
eingetretene Entwerthung
quasi ungerechter Verlust erscheint.
ein herber und
Auch in dieser Beziehung ist zu be
merken, wie schr die Regierung plötzlich ihre frühere Sorgfalt für die Empfindlichkeiten des Geldmarktes fallen gelassen hat.
Als die Bauern
emancipation in's Werk gesetzt wurde, umgab man die Loskaufsscheine, welche die Regierung den Grundbesitzern aushändigte, mit allen möglichen
49
Dolksivirthschaftliche Briefe aus Rußland.
Schranken; der Uebergang derselben von einer Hcyld in die andere wurde
erschivert, damit sie nicht zu leicht auf die Börse kämen und dort den
Cours der
Auch Privatgesellschaften,
andern Staatspapiere drückten.
welche sich rnit einem bedeutendere Kapitale bilden wollten, wurde zu
verstehen gegeben- es sei dies nicht zulässig, weil ihre Werthpapiere den Und nun!
Cours der Staatsrente beenrträchtigen könnten. Doch Nothwendigkeit kennt kein Gebot.
Und wenn wir es nicht
schon gewußt hätten, daß die Anleihe eine dringende war, weil zum
Jahresschlüsse Schuldposten im Auslande zu tilgen sind, so belehrt uns der „Invalide" darüber in einem zur Anempfehlung dieser Operation bestimmten Artikel.
Unseres Erachtens ist unter den gegebenen Uni-
ständen dies noch die beste Bmvenduiigsweise.
sonst noch als
Was
Zweck der Anleihe angegeben wird, ist entweder nicht recht verständlich
oder vom volkswirthschaftlichen Standpunkte aus nicht zu billigen.
Die
Vermehrung der Aiittel der Staatsbank stellte sich gerade nicht als ein so besonders dringendes Bedürftiiß heraus,
Allleihe
aufnehmen liurßte.
N'achdcm
daß man dazu eine solche
seit Jahren ihr
diese Anstalt
ZLechselportefenille verringert hat, läßt sich nicht annehmen, daß sie daran deicke,
es jetzt zil vermehren,
wo eben erst eine neue Handelsbank mit
deut Kapital von 5 Millionen, welches nach Bedürfniß verdoppelt werden faint, gegründet wurde und wo auch die todter oben erwähnte Credit-
gesellschaft
ihre Thätigkeit
immer kräftiger entfaltet.
Es bleibt also
mir die Annahme, welche die Vergangenheit übrigens nur zu sehr recht fertigt, daß auch die neue Anleihe für Regierungsbedürfniffe verwendet werden soll. —
Als zweiter Aveck der Anleihe wird der Bau der so
dringlich nvthlvendigen Eisenbahn von Moskau zum Schwarze» Meere angegeben.
Diese Dringlichkeit ist nnbestreitbar,
aber sie
hält
nicht
Stich angesichts der gewichtvollen Eimvendnngen und der schwere» Be
denken, welche gegen den Bau von Staats bahnen im Allgemeinen und
insbesondere in Zlnßland vorliegen. Wir haben auf diese Bedenken bereits vor längerer Zeit (Octobcrheft d. Nord. Revue) hingelviesen.
Wir sprachen
damals von den nichts weniger als befriedigenden Resultaten, welche an der Strecke Odessa Parkanv (am Dniester) erzielt wurden.
Die in- und aus
ländische Presse hat sich seither des Gegenstandes bemächtigt und diese Resultate einer scharfen, Kritik unterzogen.
-rordische Revue. HL 1. Heft, isstö.
Auch die Reise des Bauten-
-1
Bolkswirthschaftliche Briefe aus Rußland.
*>D
Ministers nach Bessarabien und der angeblich befriedigende Bericht, den
er über den Gang des Unternehmens erstattet haben soll,
Polemik nicht zum Schweigen gebracht.
haben die
Wir unsererseits haben über
die vorgebrachten Details, was die Ausführung der Arbeiten, den Kosten punkt it s. w. betrifft, natürlich keinerlei persönliche Meinung. Das hindert aber nicht, daß wir bei unserer früher ausgesprochenen und auch hinlänglich
motivirten, rein objectiven Ansicht verhanen, daß Staatsbahnen, mit oder ohne Strafcolonim gebaut, jedem Lande und Rußland vor allen andern un zuträglich seien, und hätte auch das Unternehmen des Herrn Baron Ungern-
Sternberg die glänzendsten Erfolge erzielt statt derjenigen, welche ihm seine
Gegner
nachwiesen. ...
Es
wäre
denn,
daß
alle
anderen
Mttel vergeblich versucht und der Regierung nichts übrig geblieben wäre, als die so nothwendige Bahnstrecke selbst zu bauen, nachdem sich keine Privatgesellschaft unter annehmbaren Bedingungen hierzu erbötig fand.
Wir wissen
aber,
daß dem nicht so ist, und hoffen darum auch, die
Staatsbahn Moskau-Odessa werde nichts
weiter als.ein papierenes
Projekt bleiben. Ant. E. Horn.
Geraun und Larlstein. Ein Ausflug ins tschechische Land. Von Dr. Richard Andree.
Man hat gesagt, jeder Stein in Prag predige Geschichte.
Aber es
ist nicht die „goldene Stadt" allein, in der uns die Vergangenheit fort
während mahnende Lehren zürnst, überall vor ihren Mauern begegnen wir Stätten, die an längst verschwundene Herrlichkeit vergangener Tage
erinnern, in denen das Tschechenvolk, wenn auch klein an Zahl, doch groß an Macht dastand.
Es scheint, als wolle es eine Art von Gerechtig
keit in der Geschichte, das; auch kleine Völker einmal große Tage er leben; so ist es mit den Portugiesen gewesen, mit den Niederländern,
den Schweden, und auch bei den Tschechen war es der Fall, denn das fünfzehnte Jahrhundert weist bei ihnen eine Fülle der Machtentwickelung nach innen und außen auf,
Aber
die
Zeiten
sind
die uns gewiß zur Bewunderung zwingt. vergangen.
Die politische Macht der
Tschechen ist dahin, die Krone des heiligen Wenzel verrostet, und-der jetzige Kaiser von Oesterreich hat es nicht einmal der Mühe werth ge
halten, sie sich auf dem Hradschin aufsetzen zu lasten.
Der Schall deutscher
Trommeln raffelt durch die Straßen Prags, die „ftemden Eindring linge", die Deutschen, lugen überall ins Land, von dem sie zwei Fünftel
schon eingenommen haben, und den Rest deffelben durchfurchen deutsche Eisenbahnen.
Die Tschechen
doch selbst aus: Kaiserstaates
auch schon meisten.
—
von heute sind gute „Oesterreicher";
rufen sie es
„Wir Tschechoslaven sind die treuesten Söhne des großen' aber
er muß vorherrschend slavisch werden,
die Hälfte seiner Bewohner slavisch ist."
wie ja
So denken die
Andere wieder liebäugeln mit dem Panslavismus und schwärmen 4*
52
Beraun unK Karlstein.
Einführung
für
kyrillischer Schriftzeichendamit
die Kluft
Ost und West auch äußerlich recht deutlich hervortrete.
zwischen
Der greise Pa-
lacky hat mit dem Aufwand all seiner Gelehrsamkeit sein Lebenlang für die „tschechische Krone" gewirkt;
er hat aus den Archiven Aktenstücke
über Aktenstücke hervorgesucht, die da beweisen sollen: Böhmen hat mit Deutschland nichts zu thun, wir sind auf ewig geschieden. — Aber dje Zusammengehörigkeit tritt im Leben,
stimmt, immer mehr und niehr hervor.
lisirtm
oder
fremden,
dem
durch den deutschen Handel be
Man hat 'mit dem entnationa-
eiugewanderten Adel kokettirt, man hat
Bündniffe mit den Männern des Concordats geschlossen
— doch der
politische Bankerott der Tschechen blieb, und mit ihm der Haß gegen die
Deutschen, der sich heute sogar in Parteinahme für die Dänen offen barte.
Als nationale Partei stehen die Tschechen fest und geschlossen
da, und wir mißgönnen ihnen keineswegs die Früchte, welche sie nach
redlicher Arbeit am Baume ihrer Sprache und Literatur ernten werden, wenn wir dabei anch wünschen, daß sie mehr Anerkennung nnd weniger Neid und Mißgunst gegen uns Deutsche zeigten.
Wir wenden dem po
litischen und nationalen Getreide der Hauptstadt den Rücken,
um uns
vor den Thoren umzusehen, wie weit dort der tschechische Nationalgeist
Wurzel geschlagen hat. Die im Jahre
böhmische West bahn führt ein
1862 eröffnete
großes Stück des Landes jetzt nahe vor die Thore Prags, und Gegenden,
die bisher von den Bewohnern
der Hauptstadt nur selten aufgesucht
wurden, werden nun von neugierigen Touristen förmlich überschwemmt. Die Scharka, Rostok, Bnbentsch u. s. w. haben ihr ausschließliches Pri
vilegium verloren und
der Strom wendet sich jetzt mit Vorliebe dem
vernachlässigten Westen zu,
um in dessen romantischen Thälern,
auf
alten zerfallenen Burgen und im frischen Grün der Laubwälder oder
unter düstern Tannen
die
Reize
der Natur
zu genießen.
Bis nach
Pilsen, bis nach Taus (Domazlice), der tschechischen ultima Thule, geht der Zug, bis dahin, wo an der
bayrischen Grenze der grüne Kamm
des Böhmerwaldes, die Schumava der Tschechen, den Deutschen
ein
nicht beachtetes Halt zuzurufen scheint. Früher war
das
anders.
Vom
Nachmittage bis
Morgen fuhr man mit dem „Stellwagen",
zum andern
ehe man nach Pilsen
gelangte, und eine solche Fahrt hatte auch ihre Reize. Inmitten der Stadt, in dem alteil, weitläuftigen Gasthofe „beim Platteis", der in Prags Lvcalgeschichte eine Rolle spielt, stand der überaus schmutzige Stellwagen zur Abfahrt bereit. Bis zur nächsten Station, dem Städt chen Beraun, fährt et fünf Stunden und wir haben Muße die Mit reisenden kennen zu lernen. Das Aujezder Thor war damals noch nicht der stattliche Bau, der setzt vor unsern Augen aufsteigt; der Wagen rumpelte hindurch nach dem Smichow und bog dann nach der jetzt verödeten Landstraße rechts ab. Sie beginnt hinter Koschir allmählich zu steigen, 'bei Motol springt ein mächtiger Grünsteiitfelsen in sie hineiil, der oben mit einem Kreuze gekrönt ist. Ueberall, rechts und links, wohin das Auge blickt, Heiligenbilder; bald ist es St. Florian, der in voller Rüstung mit Hammer und Zange an dem Hause eines Schmiedes angebracht ist, bald Johannes von Repomuk au einem Bächlein mit Palmenzlveig, Krucifix und dem Sternenkranze über dem Haupte. Die blondköpfigen Kinder, die in den Dörfer» an der Landstraße umher springen, grüßen mit: Gelobt sei Jesu Christ! — und das Alles aus althuffitischem Boden. Die Straße führt immer steiler hinan; der Kutscher, eilt echter Bollbluttscheche, der nur wenige Worte deutsch spricht, flucht und wettert auf die Pferde. Sacrnuient, zatracena nircha! so geht es fort. Die Leute find im Fluchen Birtuosen. Die Reisegesellschaft ist recht gemischt; mir gegenüber fitzt ein' Sohu Israels aus Pilsen, er ist noch vom alten Schlage und man sieht es ihm an, daß er strenggläubig ist und koscher lebt. Er kehrt heim von den Geschäften, die ihn nach Prag riefen. Dort hat er sich den neuesten „Tagesboten" gekauft, er zieht ihn aus der Tasche und beginnt zu lesen. Mein Nachbar zur Rechten ist ein junger tschechischer Student , der in die Ferien reift; er ist in National kleidung und schießt wüthende Blicke auf den Juden, der nichts Böses ahnt und über den doch das Gelvitter Hereinbrechen soll: „Warum haltet ihr Israeliten, so beginnt er seine Rede in wohlgesetztem Tschechisch, warum haltet ihr es mit den Feinden des Landes'? Lebt ihr nicht von tschechischem Brode'? Trotzdem lest ihr die schmähsüchtigen deut schen Blätter, die von Berunglimpfungen unsrer Nation wimmeln! Wollt ihr nie echte und wahre Söhne des Vaterlandes werden?"
Der Jude steckte seinen „Tagesboten" in die Tasche, schaute den
jungen „Wlastenec" (Vaterlandsfreund) über die Brille eine Weile an und begann dann in eigenthümlich accentnirtem Tschechisch: „Herr Stu dent, Sie sagen da viel auf einmal.
Unsere Vorfahren wohnen seit
länger als 1200 Jahren in diesem Lande und sind eine Wohlthat für dasselbe gewesen.
Denn da, wo-Ihre Nation ein Bürgerthum nicht
zu schaffen verstand, wo eine Lücke sich zwischen Hoch und Niedrig zeigte, da
traten
wir und die von euch herbeigerufenen Deutschen ein und
bildeten das Mittelglied. Ihrem Brode,
Wir leben von unserer Arbeit und nicht von
wir lesen die deutschen Blätter
und halten zu den
Deutschen, weil auf ihrer Seite Cultur und Handel sind."
Der Streit zog sich in die Länge und drohte heftiger zu werden. Als daher zur rechten das Plänerplateau des weißen Berges aus tauchte, warf ich die Frage hin, ob dort nicht die berühmte Schlacht
stattgefunden hätte?
Der Student war wohlbewandert in der Geschichte
seines Vaterlandes,
ließ den Streit mit dem Israeliten und sprach
ebenso fließend deutsch mit mir, wie vorher mit dem Juden tschechisch. „Dort oben haben die Deutschen und Jesuiteu uns den Schlag ver
setzt, den wir zweihundert Jahre nicht verwinden konnten. so kommen jetzt^ andere Zeiten.
Will's Gott,
Die Morgenröthe bricht an und Männer
wirken für unser Volk, so edel und tüchtig, wie sie wenig Nationen
aufzuweisen haben.
Hat man uns nicht geknechtet?
War unsere heilige
Muttersprache nicht aus den Landesschulen verbcknnt?' Kennen Sie die
strengen Patente Kaiser Josephs, der uns
mit Gewalt germanisiren
wollte?"
Das Sündenregister der österreichischen Regierung ward bis auf die neueste Zeit herab fortgeführt und den Schluß machte ein Knalleffect:
„Nicht einmal Telegramme dürfen wir in unsrer Sprache in unsrem Lande befördern,
während den fremden Sprachen nichts in den Weg
gelegt wird."
Was konnte ich erwidern?
Mir fiel es nicht ein, die Regierung
zu vertheidigen, zumal der Herr Studiosus nicht in den gewöhnlichen
Fehler verfiel und die Deutschen mit der Regierung indentificirte. Unter diesen Gesprächen war das Dorf Lodenitz erreicht. Kiltscher
mußte Durst verspüren und das Schild mit
Der
den Worten:
„Plzenske pivo ‘, Pilsener Bier, Ivar in der That zu verlockend. machten Halt.
Wir
Auf der Thürschivelle der Schenke lagerten einige herum
ziehende Slowaken,
die' uns
mit dem
katholischen
Gruße
empfingen.
Die arnien Bursche, welche einen weiten Weg aus ihrem elenden Kar
pathenlande hierher haben, sahen recht verhungert aus.
Aber es waren
schöne Gesichter unter ihnen, sie waren hoch und schlank gewachsen und die lang auf die Schultern herabwallenden kohlschwarzen Haare standen ihnen gut. Student,
Sie boten ihre kleinen Drahtarbeiten an und der tschechische in
dessen
Busen das Gefühl der tschechoslavischen Stamm
verwandtschaft wach wurde, griff gerührt in die, wohl nicht überfüllte Tasche.
Zum Dank sangen sie dem „milost pan“ (gnädiger Herr) eine
„Koleda."
Drinnen in der niedrigen Schenkstube sah es recht schmutzig und verräuchert aus; es war voll und ein wirres Durcheinander herrschte. An einem Tische abseits saßen zwei zerlunipte Männer, der eine spielte
die Harfe, der andere die Geige.
Die schrillen Töne wurden von dem
Gesang einiger tschechischen Rekruten begleitet, die mit Sträußen an den Mützen, die dampfenden Pfeifen im Munde, hier die letzten Kreuzer ver jubelten, welche ihnen die Mutter mit auf den Weg gab.
Morgen müssen
sie in Prag sein, da kommt das deutsche Commando und die cultivirende Seife und Zan, Pepik, Toniasch und üLaclav werden deutsch lernen, sie werden auf Schildwache stehen und „holberdo" (halt wer da?) schreien.
Und kommen sie dann einnial wieder ans Urlaub in ihr heimathliches Dorf, so sind sie stolze Männer in der weißen Uniform mit buntem Kragen, sprechen gut delltsch und wundern sich, daß die Marianka und
Faninka so dumm sind und blos „böhmisch" sprechen. Faninka aber denken:
Marianka und
so klug wie die wollen >vir auch bald sein.
gehen nach Prag in Dienst.
Sie
Und dann kommen sie wieder und können
deutsch sprechen, aber auch ein Kindchen bringen sie mit.
Der Pepik
und der Waclav haben ausgedient; sie kehren heim und nun nimmt der
Pepik die Marianka und der Waclav die Faninka und den Müttern
und Kindern ist geholfen. Für uns Deutsche ist ein regelmäßiger, fargförniiger Hügel in der
Nähe von Lodenitz besonders bemerkenslverth.
Hier stritten im elften
Jahrhundert zwei Premysliden, Friedrich und Sobieslav miteinander.
56
Beraun und Karlstein.
Sie wurden ge
Auf Friedrichs Seite standen deutsche Hilfstruppen.
schlagen.
Dem gefangeueu Führer der Deittschen schnitten die Sieger
Nase und Ohren ab und begruben ihn lebendig,
inden» sie in ihren
Helmen so viel Erde zilsammentrugen, bis jener regelmäßige Hügel ent stand.
Ich habe den Berg nicht näher untersucht, ob er ein künstlicher
Tumulus oder nur ein Naturspiel ist.
Aber die Gegend zeigt viele
„Hünengräber" und auch die Hradischte, jene sonderbaren Ningwälle,
die sich durch ganz Osteuropa hinziehen, finden sich häufig. Es war schon dunkel,
als
der Stellwagen über die Brücke der
Beraunka nach der alten Königsstadt Berann hineinfuhr. — So war die Fahrt auf der Pilsener Straße, über die damals Wageir an Wagen mit Eisen, Brettern, Holz und allen niöglichen Waaren
Jetzt ist es dort ziemlich still.
dahinzogen.
Mit der Westbahn erreicht
man Beraun in einer Stunde und die Fahrt mit dieser über Kuchelbad,
Königsaal und durch das ronnrntische Thal der Mies ist bei weiten»
angenehmer. Da lag das alte Städtchen vor mir, frenirdlich, anziehend und doch so bescheiden.
Ringsumher treten die Berge ui weiten Bogen zurück
und schließen eine fruchtbare Ebene eil», durch die wildschüumend mit
unregelmäßigen, bald sandigen, bald felsigen Ufern eingefaßt, der Beraun stuß sich hindurchivindet.
Fast alle Abhänge der Berge sind kahl uttb
von weißer glänzender Farbe, denn der obersilnrische, versteinerungs-
reiche Kalkstein tritt häufig zu Tage.
Weiter nach Südwestcn zu erhebt
sich ein langgestreckter massiger Bergrücken, es ist der Lisek oder Hasel-
berg und stolz hinter diesem bis zu 1900 Fuß aufsteigend die Krusch
na Hora,
jener erzreiche Höhenzug,
bestände an die einstige Herrlichkeit
aus dein noch prächtige Buchen der böhmischen Wälder erinnern,
die sprüchwörtlich geivorden, aber in Wahrheit schon sehr verschivunden sind.
Berann ist eine alte und zum Theil noch recht alterthmnliche Stadt,
die bi der böhmischen Geschichte
eine Nolle spielte.
Karl IV., jener
Kaiser, dem Böhmen nicht genug danken kann, von dessen Ruhme jede Scholle des Landes predigt, nannte auch Beraun „Verona mea“ und
die Bürger des Städtchens sind heute noch stolz auf das Prädieat „Königlich", das ihr Ort führt.
Der lllanie soll weder slavischen noch
germanischen Ursprungs, sondern keltisch und mit Brünn, Bern und
Verona glcichbedentend sein. Schon vom Flusse her präsentirt sich der Ort sehr nmlerisch — da stehen zunächst die Ruinen einer steinerne» Brücke, aber sehr moderne Ruinen, die davon zeugen, wie bei den Ver pachtungen von Staatsbauten an Meistbietende oft gewissenlos vvrgegangen wird. flieste alter Stadtmauern, aus Backsteinen aufgeführt und mit kleinen spitzdachigen Thürmen besetzt, von denen zierliche Giebel und Fialen sich abheben, umgeben Beran n, das ctroa 4000 Einwohner zählt. Hohe Kirchthürme und größere Bauten findet man freilich nicht, aber die zwei alten Hauptthore, das „Prager" und das „Pilsener" erfreuen das Auge des AlterthuniSforschers. Stattlich präsentiren sich die hohen spitzbvgigeil düstern Einfahrten mit den tschechischen Inschriften darüber, die uns ankün digen, daß Ivir uns hier auf rein slavischem Boden befinden. Wr stehen bald auf dem Ring, dem großen schlecht gepflasterten Marktplätze, der von niedrigen Häusern mit weiten rundbogigen Thoreinfahrteu umgeben ist. Hier und da tritt uns noch ein Erker entgegen oder ein zierlicher Renaissaueegiebel erhebt sich in die Luft. Inmitten des Platzes fehlt auch er nicht, dem jeder echte Böhme Liebe und Verehrung entgegenträgt, der heilige Johannes von B'epoiiiut. Dort steht er auf dem alten Brunnen, „hell glänzen die Sternlein ihm um das Haupt, daß selig das Volk tvird, das an ihn glaubt!" Ju der Rechten hält er den Gekreu zigten, iu der Linken den Palmziveig, unter ihm sprudelt frisch das Wasser des Brunnens, von dem die Dirnen der Stadt schöpfen, wo sie allabendlich ihr Stelldichein mit dem „Schamster" (Liebsten, abgeleitet von dem deutschen Gehorsamster!) habe». Außer dem Ring hat Beraun keinen Platz und nur tvenige kurze Straßen führen nach rechts und links; wenige Fabriken erheben ihre hohen Essen in der Umgebung der Stadt, die im Ganzen von einer armen Bevölkerung bewohnt wird. Die „Noblesse" tvird meistens durch Beamte vertreten, die in unverhältnißmäßig großer Zahl sich hier aufhalten. Leuchtet uns doch überall der k. k. Doppelaar entgegen, bald am Bezirksgericht, bald an der Post, den Tabakstrafsiken und der Gensdarmeriewache. Ist denn Beraun so gut kaiserlich? Ach nein, wir lernen die Spießbürger kennen uud finden bald, daß sie nur „königlich" gesinnt, daß ihnen der Kaiser von Oesterreich nur als „nase cesky kral“, unser böhmischer König gilt.
Ich stieg in einem Wirthshause am Ring ab, wo mich das kokette
und
„Stubenmädl" in wohlgesetztem Deutsch enipfing
nicht gerade sehr einladendes Zimmer geleitete.
in
ein
großes,
Auch an den Wänden
manifestirte sich das Tschechenthum; da hingen sie, alle die großen Führer
der Nation von heute. langweiligen
Der greise Historiker Franz Palacky mit dem
Profefforgesicht;
Ladislaus
Rieger
mit
dem deutschen
Namen, dem grimmigen Auge und dem tschechischen Herzen; Klaudy mit dem schönen blonden Vollbart, ,md dort endlich in der Tschamara,
dem schnurenbesetzten „Nationalkleide", Karl Havlitschek, der Jourilalist, der zu ftüh für die Tschechen in Folge der Quälereien, welche die Re
gierung an ihm verübte, dahinstarb.
Sie alle thronten über meinem
Bette und schienen mich zu fragen: „Was willst du deutscher Fremdling
auf diesem slavischen Boden?
Weißt du nicht,
daß Böhlnen nie zu
Deutschland gehörte, daß wir mit enerm Lande nichts -zu schaffen haben
wollen?
Ins Grab mit dem überlebten,
altersschwachen Germanien!
Unser- ist die Zuknnft, uns allein gehört sie, den jugendkräftigen Völkern
flavischer ZMge. Das waren schöne Auspicien
für meine Nachtruhe;
ich riß das
Fenster auf und schaute auf den Ring hinaus, ob denn wirklich hier so
gar nichts Deutsches zu finden wäre. erblickte waren einige
barfüßige,
Aber nein!
Das Erste was ich
zerlumpte Mitglieder
der Berauner
Straßenjugend, die sich an einem nationalen Spiel, Spalschek, er
götzten.
Sie waren unermüdlich darin, ehi kleines, etwa drei Zoll langes,
an beiden Enden zugespitztes Hölzchen sich
mit Stäben einander zuzu
werfen.
Meine Wiege stand nicht an der Moldau,
Sazava oder Mies,
ich bin daher auch nicht näher in die Mysterien des Spalschek einge drungen und kann dessen Regeln
nicht verrathen; in
den deutschen
Gegenden Böhmens scheint aber dies Spiel nicht bekannt zu sein.
Die Töne eines Leierkastens schallten von der Straße herauf an mein Ohr; meist waren es national-tschechische Weisen, welche das alte zahnlose Weib dem Instrument entlockte, und wie höhnend erklang cs
plötzlich:
Schuselka iiani pise —
„Schuselka schreibt uns aus dem deutschen Reiche, daß wir den Deutschen
zu Hilfe kommen sollen, denn sie haben Bauchgrimmen bekommen." — An Spottliedern auf uns fehlt es in Böhmen gerade nicht; ivenn sie
auch nicht alle zur Orgel gesungen tverden oder gedruckt sind, so gehen fie doch schriftlich von Hand zu Hand und erregen den Haß gegen alle
„Frankfurter", Ivie man die Deutschen zu nennen pflegt.
Auch schöne
Lieder, so ettva Ivie unsere „gedruckt in diesem Jahr", verkauft die alte Hexe dort unten; drauf ist ein roher Holzschnitt angebracht: ein zier pflückt Aepfel von
liches Mädchen
einem
Baume.
Die Ausführung
dieses xylographischeil Werkes erinnert an die Vigiletten auf den Tabaks packeten von Rathusiils — alles zeigt an, daß diese Druckwerke auf einem sehr ilicdrigeil Standpunkte stehen; aber niedrig, würden sie dem tschechischen Patrioten schon
sehr
niedrig
um deßtvillen erscheinen,
weil sie nach der alten Rechtschreibung und — horribile dicht — mit
deutschen Lettern gedruckt sind, denn groß und breit steht auf dem einen: „Noiva
Mladencnm a pannani."
pjsen
ihren Drucklverketl jetzt stets die
Die Tschecheit gebrauchen bei
lateinischen Lettern, und nur allerlei
Bolksschrifteil werden noch mit deutschen Buchstaben gedruckt; die Heran
wachsende Jugend bedient sich aber schon meisteder lateinischen Lettern. Unten im Schenkzimmer waren die Lichter angezündet worden; es
wurde lebhaft, und die erbgeseffenc Bügerschaft Berauns rückte heran;
der eine im gewöhnlichen Rocke, der andere in der neuerfundenen Tschamara.
Auch ein junger Kaplan, in langem schwarzem Rocke fehlte nicht.
Ich ging auch hinab.
Das „Stubemnädl", das oben recht gut deutsch
gesprochen hatte, antwortete mir hier unten auf meine Fragen nach einer
deutschen Zeitung kurz tschechisch: „Nername.“ wußte
also von
mußte
mich
welcher
Wir haben keine.
Seite hier unten der Wiitd blies,
schon bequemen,
mit
meinem
gerade
nicht
Ich
und ich
sehr
guten
Tschechisch herauszurücken, trenn ich mit den Herren verkehren wollte. Das
Mädchen
hatte
Recht:
nur
gut tschechische
Blätter,
wie
die
Narodni listy, der Hlas itnd das schmutzige Witzblatt Humoristicke listy
lagen auf.
Die Gesellschaft vergrößerte sich immer mehr.
Da war ein Gerber,
ein Klempner und auch der Herr „Purkmistr" (Bürgermeister), seines Zeichens ein Müller.
Sie alle waren Mitglieder
des Gesangvereines
60
Deraun und Karlstein. dem vor kurzem die Jungfrauen des Städtchens eine
„Slawosch",
neue Fahne gestickt hatten; diese und der darauf angebrachte böhmische Löwe bildeten das einleitende Gespräch,
von
Jdeenverbindung bald
das
sich
durch eine einfache
dem doppelgeschwänzten Leu
zur
,.6eska
Die „tschechische Krone" ist diesen Leuten das politische
koruna“ wandte.
Evangelium, ihr Eines und Alles.
Der Kaplan nahm eine Pnse mid
erklärte, man dürfe mit der Bereinigung von Böhmen, Mähren und Schlesien unter einem auf dem Hradschin thronenden Könige sich nicht begnügen; preußisch Schlesien, die Lausitz, wo 100,000 slavische Brüder
unter deutschem Joche seufzten, gehörten von rechtswegen auch dazu und früher, zu den Zeiten Karls IV. habe Böhmen bis an die Ostsee ge
reicht; man müsse auch ein Stück Meer besitzen, schon Shakespeare habe von den Küsten Böhmens
im Wintermärchen gesprochen, und Berlin,
Dresden und Breslau dürften Provinzialstädte werden, die, wenn ihnen
erst die Segnungen flavischer Cultur zu Theil würden, allmählich er
blühen könnten. Der geistliche Herr trug dick auf, aber desto größer wurde sein Ruhm als „Wlastenec."
Er schrieb auch die Correspondenzen für die
Narodni lisch und protestirte gegen den Ramen „Pochmatow", den
man der guten Stadt Beraun beigelegt hatte,
um es zu
einer Art
Kein Schadenfeuer, keine Gassengeburt,
tschechischen Abderas zn stempeln.
kein Diebstahl, keine Rauferei entgingen
seiner gewandten Feder und
Beraun glänzte daher unter den Correspondenzen der Narodni lisch alo treutschechische
Stadt
obenan.
Man
hatte
der Politik genug gethan
und weidlich auf die Deutschen geschimpft; wer hätte also den edlen
Kämpen für ^Rationalität und Freiheit eine Erholung verargen können?
Frischer Dreikönigstabak, gewachsen auf Ungarns Fluren und verkauft
in der kaiserlichen Traffik ward in die braungerauchten Meerschaum^ pfeifen
gestopft
und
das
Pilsener Bier
im
Glase
erneuert.
Dann
gruppirte man sich zu einem „nationalen" Kartenspiel um die Tische. Die dabei gebrauchten Karten sind freilich die italienischen, aber das
Spiel selbst „Schestadwacet" (Sechsundzwanzig) scheint in Böhmen
entstanden zu sein. Ich war unschlüssig, wohin ich meinen Fuß weiter wenden sollte.
Stromaufwärts
nach
Westen zu
oder
in entgegengesetzter Richtung?
Die Wagschale schwankte.
Ging ich nach Westen, so kam ich zunächst in
die Eisenindustriegegend, dahin, wo die Gichtstammen der Hochöfen
ztvischen romantischen Bergkuppen
geil Himmel
lodern,
wo
die
Eisen-
häminer ihr gleichmäßiges Ticktack erschalle» lassen, und schwarze rußige Gestalten in den großen Wäldern das Holz zu Kohlen brennen.
Dort
balzt noch der Auerhahn, streift das Wildschwein unlher und bricht der stolze Zwölfender
in die Saaten
des armen Landmanns
ein.
Dort
wühlt bei Tag und Nacht das geschäftige Volk der Bergleute in den
Eingeweiden der Erde und fördert das Eisenerz, dort erhebt sich stolz
zwischen waldigeit Bergen die alte gothische'Burg Pürglitz, das Kfi-
voklat der Tschechen, wo in einsamer, stiller Abgeschiedenheit Erzherzog
Ferdinand von Oesterreich mit seiner schönen Philippine Welser wohnte, die ihnl hier ihren zweiten Sohn, Karl von Burgau, gebar.
Dort zieht
sich die wilde Thalschlucht Oupor hin, die noch wenig gekannt ist und
an ihrem Ausgang blicken die venvitterten Ruinen von Tjtow auf die Fluchen der tannenumkränzteir Mies herab.
Einst war sie ein stolzes
Jagdschloß des faulen Wenzel, der, wie die Sage geht, beim Königsstnhl von
Rhense für
eine Tonne
Asmannshäuser
^lluprechts von der Pfalz Hände legte.
den
Kaiserhermelin in
Mehr nach Südwesten erheben
sich zwei andere sehenstverthe Ruinen, die viel von vergangener Pracht
und Herrlichkeit zu erzählen wissen: Totschnik und Zebrak; dort liegt bei einem steilen Kieselschieferselsen am Fuße
Dorf Hudlitz,
wo
des Kruschnaberges das
ein neuer Messias der Tschechen, Josef Jung
mann geboren wurde.
Dort endlich erblicken
wir
zwischen Wäldern
einsam imi) verborgen das Dörflein Sw ata, in welchem die Reste einer
Husfitengemeinde aus dem silbernen Kelche der Borfahr'en noch heute das
Llbendmahl unter beiderlei Gestalt nehmen.
Vielleicht führen wir den Leser später einmal in jene wenig ge kannten Gegenden; heute senkte sich mir die Wagschale zu Gunsten der entgegengesetzten Seite.
Also stromabwärts, hin zu dir, Tetin, zu euch,
ihr romantischen Felsen von Srbsko und zu dir, Krone aller Btlrgm
Böhmens, du unvergleichliches Karlstein!
Stromabwärts von Beraun beginnen die Flußufer wieder steil an zusteigen und nur mit Mühe und vielen Kosten hat man einen Durch gang für die Eisenbahn ausfindig gemacht.
Ich folgte den engen Pfaden,
62
die
Verarm und Karlstein. sich
durch
die
Kalksteinfelsen hinschlängeln und
kurzem Marsche Tetin.
Einige
erreichte
nach
elende tschechische Bauernhäuser, aus
roh behauenen Holzbalken aufgeführt, repräsentiren jetzt das Dorf, das einst eine bedeutende Stadt gewesen sein soll.
Noch stehen vier Kirchen
in dem kleinen Orte, deren Grundmauern jedenfalls uralt 'sind.
Die
Geschichte und die Sage breiten ihren Schleier über Tetin aus: hier
ward die heilige Ludmila erschlagen, und alljährlich ziehen, am Tage'der
Heiligen von nah und fern die Landleute gläubig herbei, um ihre Ver
ehrung zu beweisen.
Es ist gleichsam als ob ein geheimnißvvller Zauber
den Tschechen nach Tetin locft; dort steht er oben auf den hohen Ber
gen und schaut herab in den Strom, hinter sich in die fruchtbare Land
schaft — und vom Schifflein da unten, das auf den Wogen der Be raunka tanzt, klingen die herrlichen Weisen tschechischer Volkslieder herauf:
Nad Berounku pod Tetinem Ruze jiz 86 cervena. — Wir vernehmen deutlich
die Worte; Melodie folgt auf Melodie,
eine gewaltiger und ergreifender als die andere — echte Kinder des
Volkes und der Natur, voll unendlichen Schmerzes, voll Sehnsucht und
tiefer Wehmuth; so ertönen sie in Mollweisen einschmeichelnd und be rauschend, doch nie zur Freude und Lust stimmend.
Me oft habt ihr
meine Seele ergriffen, ihr Lieder von hohen Bergen und tiefen
Thälern,
wie ost lauschte ich, selbst ein Fremdling und verlassen im Lande der
Tschechen, dem Gesang vom treulos verlassenen Mädchen, den Romanzen von Bretislaw und Judith! Ich stieg auch hinab zum Flusse
der langsam stromabwärts trieb.
und setzte mich in einen Kahn,
Die Felsen traten immer näher an den
Fluß heran, der sich in mannichfachen Krümmungen hindurchschlängelt. Da liegt das Dorf Srbsko und bei ihm ist der romantischste Punkt au der Beraunka erreicht.
Obstbaumgärten umgeben die strohgedeckten
Häuser, die in einer Schlucht zwischen den Bergen erbaut sind und von keiner Straße, als der Wasserstraße der Beraun berührt, einen gänzlich abgeschlossenen Ort bilden, in dem man fern von aller Cultur unter
tschechischen Böotiern versauem kann, ohne etwas von dem Getümmel der Welt, dem Hasse der Parteien zu vernehmen — denn der tschechi sche Landmann ist einer der tolerantesten, die es giebt, er kennt feine
vorgefaßten Meinungen gegenüber dem Protestanten und läßt sich auch durch seinen Geistlichen durchaus nicht gegen diesen aufhetzen, gleichsam als lebte noch ein altes Stück Hussitenthunl in ihni, als schwebten ihm die Thaten seiner Väter vor, die mit Kelch und Schwert für den ge läuterten Glauben auszvgen. Ich erwähne hier, durch die herrlichen Volksweisen der Tschechen, die in mir immer und immer wieder nach klingen, versöhnlich gestimmt, nur eine gute Seite int Charakter der Landbevölkerung; von dem langen Sündenregister schweige ich heute. Noch immer erblickt man Karlstein nicht, und doch müssen wir ganz nahe dabei sein. Zur Linken erhebt sich endlich auf einem Hügel das Dorf Budnau mit dem kleinen Palmatiuskirchlein, zur Rechten das ein zelne Gehöfte Poutschnik und bei demselben ein gutes Wirthshaus. Dorthin lenkte ich den Kahn und dort sah ich zuerst, gleichsam einge rahmt wie ein Bild, die mächtige Burg, thronend auf einem schroffen Kalksteinfelsen und rings umgeben von höheren, steilen, kahlen Berg wänden, die wie Wächter das Kleinod in ihrer Mitte zu schirmen scheinen. Da steht Karluv tyn mit dem massigen, viereckigen Hauptthurm, mit Erkern und zinnengekrvnten Mauern, mit den vielen Nebengebäuden, die Paläste und Kapellen in sich schließen, halb erhalten, halb verfallen, zerstört durch'Belagerungen, die Macht der Elemente und verständnißlose Restauratoren. Aber ehe wir in das Heiligthum des Burgbaues eintreten, den vor Zeiten kein Weib, selbst die Kaiserin nicht, betreten durfte, fesselt uns im Wirthshause zu Poutschnik ein tschechisches Fest. Man hatte mir den Fremden, den. Deutschen angesehen, man fragte nach meinem Namen und ich erhielt ein Karte: Pozväni k beseele v Poucnika. P. T. Blahorodemu panu doktoru------ Einladung zur Beseda in Poutschnik für den wohlgeborenen Herm Doctor — — Und schwärmt man hier noch so sehr für Freiheit, Gleichheit und Volksthum, der Titel und das „Wohlgeboren" dürfen nicht fehlen, das ist einmal so hergebracht; und so wurde ich denn gefragt, ob auf der Einlaßkarte auch allen Förm lichkeiten genügt sei. Ich durfte nun in die Beseda hinein und konnte mich überzeugen, >vie weit die Ideen der Herren Rieger und Genossen auf dem Lande Eingang gefunden hatten; fteilich waren Agitatoren von Prag da, welche
64
Äeraun und Karlstein.
alles leiteten und ordneten.
Die tschechische Agitation ist in ein System
gebracht, das, wie eine Spinne ihr Netz ausdehnt, sich über das ganze
Böhmerland ausbreitet, so weit die slavische Zunge klingt.
Als das beste
Mittel, den Rationalgeist aufzustacheln, betrachtet man eine Beseda, eine Zusammenkunft, bei der gesungen, getrunken, declamirt und getanzt
wird.
Ich habe diese Besedi im Verlauf meines mehrjährigen Aufent
haltes auf tschechischer Erde oft genug mitgemacht und fand sie alle eine wie die andere.
Drum mag die Poütschniker Beseda, die ich jetzt zu
schüdern versuche, als Typus aller andern angesehen werden. Die heutige Beseda — 'es war am 15. August 1861 — galt der „Tochter der Nation"; mit diesem Namen belegte man nämlich Zdenka
Hawlitschek, die 'einzige hinterlaffene Tochter des bekannten tschechischen
Journalisten, und ihr wollten die dankbaren „Böhmen slavischer Zunge" ein Vermögen zusammenb'ringen.
Der löbliche Zweck wurde auch er
reicht. — Ueber der Thür des Saales erhob sich ein grimmiger böh mischer Leu, auf Pappe gemalt, mit der Wenzelskrone auf dem Haupte;
rechts und links von ihm große rothweiße Fahnen und dabei eine ganz
winzige schwarzgelbe.
In dem hübsch ausgeschmückten Garten wechselten
Lanbgewinde mit bunten Papierlaternen in den slavischen und böhmi schen Farben.
Zwischm frischem Tannenreißig
stand der „unsterbliche
Held" (nesmrtelny hrdina) als Gypsbüste, Karel Havlitschek Borowsky,
der einst den Ausspruch that: „Lieber die slavische Knute als die deutsche
Frechett!"
Ihm zu Seiten Rieger und Palacky.
Wie
Umgebung das tschechoslavische Herz nicht höher schlagen!
sollte in dieser Sah es doch
seine VoMmpfer dort stehen, leuchteten ihm doch die rothweißblauen Fahnen entgegen, die aus Gott weiß was für einen: Grund, „slavisch" genannt werden.
Von nah und fern drängte sich das Publikum heran
und opferte einen Gulden auf dem Altare Zdenka's.
Beamte und kleine
Grundbesitzer aus der Nähe, Gevatter Schneider und Handschuhmacher
aus dem ferneren Beraun mit Weib und Tochter.
Wer eine Tschamara
besaß, der hatte sie sicher heute angelegt und eine rothe Halsbinde dazu,
mit einem silbernen Löwen
als Busennadel darauf.
Die Töchter der
national gesinnten Väter erschienen im „slavischen Alieder" mit Kränzen
von frischem Lindenlaub in den Haaren, denn die Linde ist der heilige Baum der Slaven und „slovänska lipa“ wird gern im Gegensatz zu
„deutsche Eiche" genannt.
Ich brauche nicht besonders hervorzuheben,
daß die Unterhaltung fast ausschließlich in tschechischer Sprache geführt
wurde;
in unbewachten Augenblicken kehrte freilich bei Manchem das
geschmähte Deutsch zurück, aber er verbesserte sich schnell, wenn der grim
mige Blick eines jungeil Heißsporn ihn traf oder wohl gar die Schlag Das letztere, ziemlich neue
worte „Frankfurtak" oder „Kulturak" fielen.
Wort, das sich mit „Culturträger" übersetzen läßt, ward auch mir ein mal zu Theil, als ich so verwegen war,
das
Seite nur
wälsche Wort „Bravo"
Es war freilich von meiner
statt des üblichen „Vyborne“ auszustoßen.
ironisch gemeint gewesen, denn auf der Emporbühne stand
eine Persönlichkeit, so dick und feist, daß man Thran aus ihr pressen konnte, und aus dem fettumlagerten Halse derselben quälten sich mühsam Tenorklänge hervor. Aber was scheerte meine Tiefenbacher die Kunst, die Form!
Sie verlangten Inhalt unb der ward ihnen auch zu Theil: das
war eine Variation des alten Themas „Schlagt die
vorgetragene Lied
Deutschen tobt, jagt sie zum Lande hinaus!"
Später folgte der Tanz, dem
selten mit patriotischen Declamationen. ich aber nicht beiwohnte.
Soli und Chorgesang wech
Zugleich begänne« in Folge des Bieres unge-
müthliche Scenen, schwankende Gestalten nahten sich, und die Erscheinung
manches modernen Tschechvslaven war der Art, daß ich für einen all Es kam mir vor, als hätte ich
gemeinen Katzenjammer besorgt war. ein
getreues
Bild
der
ganzen
tschechischen
weit sie sich auf politisches Gebiet
Bewegung vor mir,
erstreckt — auf den Rausch
so
folgt
Katzenjammer.
Ich hatte genug von den Proben tschechischer Gegenwart; von der tschechischen Zukunft konnte ich mir keinen klaren Begriff machen,
wenn auch die Besedatheilnehmer erklärten, großartig
sein.
Ich
beschloß,
mich
der
sie würde epochemachend,
tscheschischen Vergangen
heit in die Arme zu werfen und den Zweck meines Ausfluges, den
Besuch der Veste Karlstein auszuführen.
Auf einer Fähre setzte ich über den Fluß und schritt den Felsm eingesprengten Weg zur alten Burg hinauf.
in die
Was ist es denn,
was uns bei Karlstein so unwiderstehlich anzieht, so ungleich mehr fes
selt, als bei vielen andern Burgen? Warum treten andere Bergschlösser, selbst unsere Wartburg, hier in den Hintergrund, obgleich sie in architecRordtschk «»»», in. 1. Mi- 1865.
5
66
Beraun itnb Karlsteü».
tonischer Beziehung bei weitem Karlstein überragen?
Es ist das un
mittelbar Äerkommem Alterthum, der ursprüngliche Inhalt,
der
uns freilich nur noch sehr lückenhaft in den erhaltenen Kunstschätzen evtDie meisten Burgen unserer Zeit sind so sehr restaurirt, daß
gegentritt.
von dem Ursprünglichen nur wenig übrig blieb,
das Innere ist mit
Waffensammlungen und anderm archäologischen Inventar ausgeschmückt, das von allen Ecken der Welt zusammengekaust wurde und die Wand-
gemqlde, die z. B. die Wartburg schmücken, sind von moderne» Meistern ausgeführt.
Was wsr aber auf Karlstein erblicken, ist unzweifelhaft echt,
war von je hier an Oxt und Stelle gewesen und ist zum Theil über 5Q0 Jahre alt.
Nachdem Karl IV defl großartigen gothischen Veitsdom auf dem
Hradschin gegründet hatte, beschloßer in demselben Jahre, in welchem die Prager Universität, die erste Deutschlands gestiftet wurde, auch einen sicheren Platz für die deutschen und böhmischen Reichskleinodie» zu schaffen.
Der Meister, dar den Plan zum Prager Dom entworfen hafte, Mathias
von Arras, erhielt im Jahre 1348 den Auftrag, diese Burg zu baue« und Bischof Ernst von Pardubitz legte am Pfingstdieustage, den 10. Juni
1348, den Grundstein dazu.
Beinahe yeu» Jahre währte der Bau Md
am 27. März 1357 ging von eben diesem Bischof sich.
die Einweihung vor
Die Burg trägt hen Namen ihres Gründers; er ist ganz deutsch,
denn es war in Böhme« schon von ftüherer Zeit her Sitte, daß selbst
tschechische Adelige ihre Burgen mit deutschen Ramen belegten, dafür Mgen Klingenberg, Schreckenstein, Rosenberg, Sternberg
Gründungsinstrument kommt
u, A.
nur der Name ,Karlstein" vor,
Im
ältere
tschechische Schristeu haben ,Farlffteyn" und di« neuere Form „Karluv
tyn“ ist nur eine schlechte ftebexsetzung, welche do» deutschen Name»
ausmerzen soll. Damft die Burg nicht ohne Vertheidiger dastehe, wurden die zwei und zwanzig Karlsteiner Lehen gegründet, deren Besitzer zu jeher Zeit
mft Roß und Reisigen herbeieilen mußten, um den Helligen Ort zu be
schützen;
den»
zwei Kapellen mit einer Menge
kostbarer Reliquien
barg das Innere, und wir können uns eines Lächelns nicht erwehre»,
wenn wir unter den Reliquienfolgendeangeführt finden- pars de virga Aro», quae refloruit.
I nachdem die Muse, welche Vondel und Cats begeisterte, zwei Jahrhunderte verstummt war. Neben dem bereits
erwähnten Da Costa werden die Namen des Dramatikers van Lennep,
der Novellistm Gerard Keller und Mevrouw (Frau) Bosbom-Toussamt, sowie beS volkstümlichen Lyrikers Tollens mit Auszeichnung genannt.
Tollens und Da Costa sind bereits gestorben, noch in voller Rüstigkeit weiter schaffen.
während die Uebrigen
Aber ob solch ein Ding, wie
die Nationälliteratur der Holländer eine Möglichkeit ist?
Ich zweifle
daran; ich glaube, daß Jakob Grimm Recht hat, wenn er sagt, daß die Sprache der Dänen wie der Holländer bestimmt sei, Deutschen aufzugehen.
in derjenigen der
Und was von der Sprache gilt,
das gilt in
noch erhöhtem Sinne wohl von der Literatur. Unter solchen Plaudereien hatten wir das Ende der Allee und die
ersten kleinen Häuser von Scheveningen erreicht.
Ich steckte nunmehr
getrost meinen rothen Bädecker in die Tasche und hatte während meines ferneren Verweilens in Haag und Scheveningen auch nicht Gelegenheit
ihn wieder hervor zu ziehen, so gefällig in seiner Auskunft über Alles, was mich intereffiren konnte, erwies sich mein neuer Freund.
Er zeigte mir eines von den kleinen einstöckigen Häusern am Wege und sagte: „In dieser Stube zu ebener Erde hat Robert Schumann den letzten Sommer vor »dem Ausbruch seiner traurigen Krankheit gewohnt.
Clara Schumann war mit ihm.
Es ist eine schmerzliche Erinnerung
für mich, sagte Herr V., so oft ich an diesem Hause vorbeigehe, obwohl
mm Jahre seitdem verfloffen sind.
Ich habe ihn, nachdem ich in diesem
Hause Abschied von ihm genommen, nicht wieder gesehen." — Herr V.
erklärte sich als einen großen Verehrer der Schumann'schen Richtung, und später in seinem eigenen Hause hatte ich das Vergnügen, eine ganze
Reihe der intereffantesten Briefe, welche dieser Meister an ihn gerichtet, zu
lesen,
und
welchen
ist mir namentlich
Schumann
einer davon im Gedächtniß geblieben,
unmittelbar
nach
der Aufführung
Werkes, „Paradies und Peri" geschrieben.
seines
schönen
Nicht die Zweifel an dem
Erfolge dieses Werkes, sondern nur ein Schmerz beunruhigte ihn, daß
die wirkliche Gestalt desselben
so weit
hinter seinen Idealen zurück
geblieben sei. Solche Bekenntnisse, von vollendeten Meistern zurückgelaffen,
haben für uns,
die wir noch gänzlich in der Unsicherheit des Ringens
begriffen sind, etwas ungemein Tröstliches.
Ja, die Verklärung, welche
von dieser und ähnlichen Unterhaltungen auf die Tage meines Aufent halts in Haag zurückstrahlt, geben denselben in meinem Andenken noch
heut eine erhöhte Bedeutung. Nun hatte uns die volle frische Seeluft gefaßt und wir standen
vor den Dünen. Hinter uns lag die flache Haidelandschaft — denn das Dorf bedeckte mit seinen Häuschen und seinen Windmühlen den Blick
auf den Haag — und das Wehen jener langen, dünnen, gelbgrünen
Halme auf einem Boden von Sand zeigte uns die Nähe des Meeres an.
Auf einer Brücke, die über ein Stück trocknen Landes führt (denn
nur in ungewöhnlichen Fällen tritt das Wasser so weit aus),
standen
bunte Gruppen von Fischern und Jungen mit jenen traurigen Eseln, welche dem Seestrande
ganz
so
eigenthümlich zu
Muscheln, Sandroggen und Dünengras.
sein
als
scheinen,
Dennoch ward Einer ans der
Schaar nicht müde, uns seinen „Schnell-Esel" (eine wundervolle Com-
anzupreisen.
position!)
Aber selbst der holländische Eseljunge
nimmt
insofern Thell an den Eigenthümlichkeiten seines Volkes, daß er nicht überaus
zudringlich ist,
und sich,
wenn er abgewiesen wird,
begnügt, seine Pflicht gethan zu haben.
damit
Er ließ uns ziehen, nachdem
er uns. mit seinem verdrießlichen „Schnell-Esel" ein paar Schritte ge
folgt war,
und wir hatten nun die Genugthuung,
weitere Belästigung
von
das Meer
der Höhe der Dünen herab
ohne
begrüßen
zu
können. Wie dieses Element selbst nach der kürzesten Trennung die Seele
doch immer wieder aufs neue weidet!
Der weiße Sand ist da stich
188
Durch Holland im Fluge.
und breit, so daß das Auge jeden Halt und Maßstab der Vergleichung
verliert;
dahinter ist das Murmeln der Brandung, welches das Ohr
mit einem ähnlichen Eindruck des Unbestimmten aber Endlosen erfüllt
und dahinter die Monotonie und Majestät des Meeres mit den Leinen
Segeln hier und dort, oder einer Möve, welche im Gesichtskreis schwebt. Darüber wölbt sich ein hoher Himmel, welcher nur da zu enden scheint, wo er sich in das Wasser senkt und das ganze Bild, unsicher trotz seiner
festen Umrisse, und grenzenlos, obgleich, man sein Ende zu sehen meint, erfüllt die Seele mit einer unaussprechlichen Sehnsucht,
während
das
kurze, dumpfe Rollen der Wogen ihr wie ein heimathlicher Ton klingt,
und das volle,
starke Rauschen des Meerwindes ihre Flügel löst und
sie in eine Ferne voll wunderbarer Täuschungen entführt.
Das Bad in Scheveningen ist sehr angenehm und heilkräftig,
das
Badeleben jedoch steht nicht in dem Rufe, ein amüsantes zu sein.
Ich
kenne Scheveningen zu wenig, um darüber mit Sicherheit urtheilen zu
dürfen.
Aber was mich anbetrifft, so möchte ich's ohne Bedenken für
eine Saison wagen.
denheit an. Ansprüchen.
Mich spricht diese Ruhe, diese vornehme Abgeschie
Scheveningen ist in der That ein Bad von aristokratischen Es
Fürsten gewesen.
ist
immer
ein Lieblingsaufenthalt
einiger
deutschen
Die vornehme Welt von Holland versammelt sich hier.
Man wird nicht durch das modische Geplapper gestört, welches den Deich
von Ostende in der Höhe der Saison zu einem so lärmenden Aufenthalte macht.
Die Gesellschaft
von Scheveningen
gruppirt
sich um einzelne
Tische, welche vor dem großen Badehause auf einem bequem parquetürten Grunde angebracht sind.
Die Aussicht von hier auf das Meer ist ent
zückend; frei heraus wettert die köstliche Salzluft und man fühlt sich von keiner Seite beengt, weder durch Rücksicht auf Bekannte noch durch das
Aergerniß der Toilette,
die an andern Badeorten eine so „breite" und
fast lächerliche Rolle spielt.
Zu
bestimmten Stunden des Tages hat
man hier Musik, und in dem Badehause bei geöffneten Thüren und mit dem Blick auf das schillernde Meer, zu speisen- ist eines der angenehmsten
Dinge. Die holländischen Damen,
welche ich
hier in großer Auswahl zu
mustern Gelegenheit hatte, sind eigentlich nicht schön.
Ihr wasserblaues
Auge, ihr mattblondes Haar und eine gewisse Robustheit im Gesichts-
Dyrch Hollavd im Klug». ausdrmk, verbundn mit frühzeitiger Corprüery, find wenig geeignet, die
Leidenschaft zu erwecken.
Sie scheinm kalt und lassen kalt.
Aber ich
glaube wohl, daß sie gute Hausftaum sind. Die Natur scheint sie mehr Mr Ehe, als Mr Liebe geschaffen zu haben.
Sie besitzen einen vortreff
lichen Appetit und machen es ihrem Tischnachbar nicht schwer, dergleichen Neigung , zu folgen.
Denn sie lassen sich auf. weitläufige Gespräche nicht
ein und begnügen sich mit der Unterhaltung, welche ihnen der Gebrauch des Messers Md der Gabel gewährt. — Es giebt Nichts, was sie beim Esse« aus. ihrer Ruhe stören könnte.
Ich hatte eines Mittags, als wir
beim Pudding hielten , das Unglück — in der That,
ich habe dieses
Unglück oft und wame meine schönen Leserinnen im Voraus! — die Saucenschüssel umzuwerfen.
Meine. Nachbarin trug ein stattliches Kleid
von heüblaper Seide, und ich zitterte^ indem ich den unaufhaltsamen
Strom vom Tischtuch herab sich geradezu auf dieses Kleid ergießen sah. Was sollte ich Aermster thun? Ich ward roth, verlegen und stammelte
meine Entschuldigung in drei Sprachen.
Aber die Holländerin blieb
Sie Mterbrach sich nicht und mich nicht,
und aß lustig
weiter,, dm» sonst wäre der Pudding ja kalt geworden !
Dann, als sie
Mgerührf.
mit chxer Portion zu Ende war-,
ergriff sie die Serviette, wischte dje
bisher mbeachtet gebliebene Sauce von ihrem Kleide und mit einer höchst unbefangenen Wendung nach der Puddingschaale, welche in meiner
Nähe stand, sprach sie das erste und einzige Wort,
haupt von ihr vernahm:
welches ich über
„Believt ye, Mynheer!“ — worauf ich ihr
den Pudding; reichte Md sie ich zum Miten Male über denselben her
machte. In ihrem höchsten Mor sah ich die Dammwelt vom Haag an
einem Sonntag Mittag in dem allerliebsten Gehölze, welches unter dem
Namen des Haag'schen Busches, „het Bosch“, bekannt ist
Der Busch
ist ein großer Park voll Wald und Wiest, voll von Kaffeehäusern, und
Vergnügungslokalen und- am Sonntage ist er, wie gesagt, die Reunion „du beau monde“.
Eine beträchtliche Anzahl eleganter Karossm war
in dem dichtesten Theile des Gehölzes aufgefahrm, etwa ein halbes
Stündchen vom Thore entfernt; die bekannten Klänge von Offenbach's Orpheus in der Unterwelt" grüßten aus dem Baumdunkel, unb sobald
man über eine Brücke gegangen war — denn dieser Versammlungsort
190
Durch Holland tm Flage.
der schönen Welt im Bnsch bildet eine kleine Insel für sich — befand
man sich in der Mitte von glänzenden Toiletten- und OWersnniformen,
an denen sich die langen goldftansigen Epaulettes und Orangeschärpen vornehmlich bemerkbar machten.
So viel ich beobachten konnte, bestand
die Unterhaltung der Herren darin, Genever zu trinken,
Damen sich zum Absynth mit Wasser bekannten.
während die
Letzterem Glauben
schloß ich mich an, und ich wurde — da der Absynth hier zu Lande
ungemein stark ist — ein klein wenig seliger dabei, als ich wünschte. Meine angenehmsten Stunden waren in der Folge diejenigen, welche
ich in dem Garten und Wohnhaus meines musikalischen Gönners zu brachte.
Es liegt weit außerhalb des Thores, in einem ganz umwaldeten
Theile der Vorstadt und führt den poetischen Namen der „Rosenburg". Und sie waren poetisch, diese Abendstunden unter den Rosen des Gartens
oder am Flügel seines Arbeitszimmers, wenn mein Freund — der als
Compvnist sich eines guten Rufs, sowohl in seiner Heimath, als auch in den musikalischen Kreisen von Deutschland erfreut — mir seine hübschen Melodien zu holländischen Liedern spielte und sang, während unter dem
Fenster in der Dämmerung des Gartens und auf einem Kohlenfeuer
der in Holland allgegenwärtige Theekessel siedete.
Später pflegten wir
uns noch auf eine Stunde oder zwei in die Stadt zu begeben, wo wir
zuweilen bis Mitternacht vor der Thür einer „Tappesij“ in guter Ge sellschaft fröhlicher Freunde und auf offener Straße mit langen chönernen
Pfeifen und dem Bierkrug saßen.
Solche Tage
der Behaglichkeit und des heitersten Wohlbefindens
als im Haag werde ich lange nicht wieder erleben! —
Noch einer freundlichen Scene vom letzten Tage meines dortigen
Aufenthaltes muß ich Erwähnung thun.
Es war ein später Sonntag
nachmittag, und ich hatte die Rosenburg verlassen, um etwas selbem zu
gehen.
Der Wald war zurückgetreten und ich sah mich in einer jener
flachen holländischen Gegenden, mit einem Dorf und einer Windmühle im Hintergründe, wie ich sie in solcher Nähe der Residenzstadt nicht ver muthet hätte.
Der Schall der Abendglocken hallte leise und träumerisch
herüber und die lange Dämmerung des Sommerabends nahm ihren Anfang.
Plötzlich hörte ich Stimmen aus mäßiger Entfernung, helles
Lachen und dann wieder
unterdrücktes Gekicher.
Ich hätte mich gern
191
Durch Holland im Flug».
versteckt, um das Schauspiel nicht zu unterbrechen, welches sich mir jetzt bot.
Aber in einer so flachen Niederung war dazu keine Gelegenheit.
Ich sah eine Gruppe von holländischen Bauern und Bäuerinnen heran kommen.
Sie machte sich wohl mit diesem Gang in's Freie ein Sonn
tagsvergnügen.
Eins
von den Bauermädchen hatte seinen Arm ver
traulich um den Nacken eines Bauernburschen geschlungen. ein Canal und eine Brücke darüber
Plötzlich begann
Nur noch
trennte die Fröhlichen von mir.
einer von den Bauerburschen zu laufen, bis er die
Brücke erreicht hatte, und hier faßte er Posto.
Was er sprach, ver
stand ich nicht ganz genau; aber aus dem, was nun folgte, ging hervor, daß er die Mädchen nicht über die Brücke lassen wollte, ohne Zoll, und dieser Zoll — in natura zu erheben — bestand in einem Kuß.
Diese
Procedur ging denn nun auch, mit etwas Widerstreben zwar, aber doch so sehr in aller Form Rechtens vor sich, daß ich, am andern Ufer, die
Küffe, ich kann nicht anders sagen, als „knallen" hörte.
Auf mich nahm
man dabei weiter keine Rücksicht; im Gegentheil, man gab mir Zeit, dieses echt niederländische Bild mit aller Muße zu betrachten, und grüßte
mich, als der Zoll erhoben und die Brücke überschritten war, mit der allercharmantesten Unbefangenheit. Leider besitze ich nicht das glückliche Combinationstalent so vieler
anderer Schriftsteller, um aus diesem Impromptu auf der Brücke eine
Volkssitte zu machen ; aber es belebte die eintönig im absterbenden Lichte des Tages daliegende Landschaftsfläche auf eine so angenehme Weise, daß
ich nicht umhin konnte, jenem alten englischen Collegen, welcher einige
Jahrhunderte vor mir dieses Land bereist und beschrieben hat, sehr Un recht zu geben, lvo er von ihm sagt: „Ein sehr häßliches Land, heraus
gestiegen aus der See und welches viel besser gethan hätte, darin zu bleiben."
IV. Rotterdam. Wenn man von Amsterdam nach dem Haag fährt, so hat man vielleicht
die eigenthümlichste Strecke von Holland gesehen.
Man hat den Boden
gekreuzt, über welchen noch vor zwei Jahrzehnten das Haarlemer Meer
fluthete, und ist vielleicht erinnert worden an jenen unsterblichen Häring
aus Meidinger, durch welchen vor doppelt so viel Jahrhunderten die Ent-
Durch Holland im Fluge.
152
stehung desselben geweiffagt wurde.
Man sieht Wasserwerke mit hohen
Thürmen, und Mndmühlen, welche kein Korn mahlen,
Wasser aus den Mesen jagen.
sondern das
Hier ist noch etwas von jenem Kampfe
zwischen den beiden Elementen, der Erde und des Wassers, wahrzunehmen, und das Meer scheint hier noch immer drohend vor den Dämmen und
Deichen des Festlcmdes zu stehen.
Zur Rechten, wo es nach Westm
geht, überblickt man eine todte, leicht wogende Wasserfläche, und fern
ein paar Segel darauf, die vielleicht dem Meeere zuschwanken.
Emen
ganz andern Blick hat man
von dem Theil des „yzern
Spoorweg“ (der Eisenbahn), welcher den Haag mit Rotterdam verbindet.
Hier sind wieder die üppigen Wiesen und die Heerden, die KastanienMeen, die Kanäle und die Treckschuiten darauf.
Hier wechseln anmu-
thige Dörfer mit kleinen, fteundlichen Städten, und ich glaube, man bekommt dm besten Begriff von Holland, wenn man, wie in meinem
Falle, mit Amsterdam beginnt und mit Rotterdam schließt.
In seinem Aeußern, in den Giebeln in den jahrhundertgrauen
und Erkern seiner Häuser,
Zierrathen seiner Kirchenthürme und
der
mittelalterlichen Enge seiner mdstm Straßm giebt Rotterdam dem größerm und vornehmeren Amsterdam wenig nach; aber es ist ein ganz anders
und frischeres Leben in Rotterdam. jünger und rüstiger vor.
Man kommt sich sdber hier viel
Sogar die Mmschen im Allgemeinen sehen
hier moderner aus und die Frauen sind hübscher.
Die Eigenthümlich-
keiten der ersten großen Handelsstadt von Holland sind auch zum Thdl diejenigen der zweiten.
Auch in Rotterdam kreuzen Kanäle die Straßm,
und map fährt dort beständig über Brücken, zMvellen gar unter sehr bedenk-
lichen Umständen, wie mir z. B. gleich bei meinem Eintritt m die Stadt pasfirte, wo mdn Kutscher mit mir über eine solche Brücke jagte in dem
Augenblick, wo diese anfing, sich zu heben, um ein großes Barkschiff mit
Mast und Takelage durchzulassen.
Aber die Kanäle in Rotterdam sind
nicht vor der Straße dagewesen, tote in Amsterdam. Sie sind erst nach träglich, zur Bequemlichkeit des Handels, von dem Hafen aus gezogen
wordm, damit Schiffe aller Gattungen mit voller Ladung bis dicht vor die Häuser
der Eigenthümer
starrende Masse von
oder Beftachter
Stangen und Segeln
fahren können.
Diese
hat man nicht auf den
Grächtm von Amsterdam; dort gehen die Seeschiffe nicht weiter, als bis
Mr „Haringpaekerij“ am Hafen.
In Rotterdam dagvzert liegen die
größten Segelschiffe, dichtzusammengepackt, in dm Straßen herum, wie
anderstoo in den Docks, und es macht einen seltsamen Eindruck, Häuser
zu sehm mit Doppelgiebeln, wie in Nürnberg, vor derm Thüren Achter
schiffe, hoch aufgestapelt mit Wollballen und Zuckerfäffern anlegen, und mittelalterliche Dome,
deren Thüme toetteifem mit
einem Wald von
Mastspitzen ringsum. Ich hatte.mir
von
allen Rotterdamer Hotels
eines
ausgesucht,
welches in dem Rufe steht, ächt holländisch zu sein, das Hotel St. Lucas, oder „St. Lucaffen", wie es die Leute hier nennen.
Es ist ein großes
Gebäude- mit zahllosm Treppen, Gängen und Zimmern,
aber man ist
daselbst sehr sparsam mit Waffer und Leinen, und nicht überhöflich in der Bedienung.
Hier sollte ich zuerst die Bekanntschaft des nationalen
holländischen Kellners machen.
Derselbe heißt „Jan", wie er in Eng
land „John" heißt, und bei uns in der guten alten Zeit „Johann"
hieß, ehe er, durch den französischen „Louis" verdrängt, der Name des
deutschen Hausknechtes ward.
Der holländische Kellner trägt nicht den
servilen Frack anderer Nationen, sondern seinen gut bürgerlichm Rock. Er hört
nicht auf
die Glocke,
theilten Befehle auszuführen.
nimmt sich Zeit,
und
daß der Holländer nicht zum Kellner geboren ist.
Eigenschaft in der That, Trinkgeld zu nehmen.
—
Die
Hauptsache
die
ihm er
Er zeigt es mit jedem Wort und Blick, Eine lobenswerthe
wenn er nur auch so standhaft
wäre,
kein
Aber darin giebt er unserm „Louis" nichts nach.
in
St.
Lucassen
indessen
ist
auch
gar
nicht
Wohnung noch Bedienung, sondern einzig die tadle d’höte, und dies
ist dar Moment, wo ich meinen Hut abnehme und feierlich deklarire, daß- ich in meinem ganzen Leben noch nicht so gut und so viel gegeffen
habe, als dies in St. Lucaffen zu Rotterdam der Fall zu sein pflegte. Aber was ?ch auch in diesem Punkte mir einbildete: meine Leistung war doch nur das Stümperwerk eines Anfängers, verglichen mit den Thaten
der wohlgeübten und wohlgenährten
Stammgäste von
St. £u Rußland.
213
qm 10. Juli 1781 zwischen Joseph II. und Katharina in Wien ein Ver trag zu Stande gekommen zu sein, in welchem.sich beide Theile »er-
pflichtetM, für den ihren neutralen Unterthanen, im Widersprüche mit dssn v,on chnen ausgestellten Grundsätzen
des Völkerseerechts von den
krieg'führenden Staaten zugefügten Schadm m gemeinschaftlichen diplo matischen Unterhandlungen Genugthuung anzusprechen, ihre Handelsfahrie,uge wechselseitig
durch Couvoischiffe zu.beschützen,, ja erforderlichen
Falls Rußland zur See, Oesterreich zu Lande mit Waffengewalt die Sicherheit des Handels ihrer Unterthanen zn erzwingen.
Jedenfalls er
klärte Kaiser Joseph, wenn nicht früher, am 9. October 178,1 den Grund
sätzen her bewaffneten Neutralität beftreten zu wollen, und
eigenen Urkunde vom 19. Qctober 1781
vpn der russischen Kaiserin angenommen.
in einer
ward diese Beitrittserklärung
Allein nicht nur beschützen
wollte man den eigenen Handel gegen auswärtige Gefahren, die freund schaftliche Gesinnung der beiden Höfe war auch einer Ausbmtzmg und Vervielfältigung des gegenseitigen Handelsverkehres , günstig. Diesen Zweck zu erreichen, erließen beide Herrscher am 12. Novem
ber 1785 Edicte, in denen dem russisch-österreichischen Handel bedeutende
Vergünstigungen gewährt wurden.
Nationen
Den meist begünstigten
sollten in dieser Richtung die beiderseitigen Unterthanen gleichgehalten und die Ausübung ihrer Religion in ihren eigenen Häusern oder in den dazu bestimmten Gebäuden und Kirchen ihnen gestattet fein,
Insbeson
dere sollten.in Zukunft gewöhnliche ungarische Tafelweine, wie Erlauer,
Ofner und Rüster nicht mehr als 4 Rubel .50 Kopeken per Oxhoft,
feinere Desertweine, wie Tokaier, nicht mehr als 9 Rubel für dieselbe Quantität als Einfuhrzoll an der russischen Grenze bezahlen, hingegen
erklärte sich Oesterreich bereit, von den unter dem Namen der Juchten bekannten, russischen Ledergattungen künftig feinen höheren Einfuhrzoll als 6 Gulden 40 Kreuzer für den Rentner (beiläufig 137 russische Pfund)
zu erheben, und den Einfuhrzoll für russische Pelzwaarm auf 10 Pro cent ihres Werthes, jenen für Gabiar auf 5 Procent von dem Gentner Sporcogewicht herabzusetzen.
Bezüglich der Havarie oder anderer See
unfälle, der Befreiung von ungesetzlichen Anhaltungen und vom Kriegs dienste, der Justizpflege über die beiderseitigen Unterthanen,
der Er
richtung russischer Handelshäuser in Oesterreich und österreichischer in
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.
214
Rußland, über Mäkler, Handelsbücher, fteien Vermögensabzug , Banke
rotte und Verlaffenfchaften von Oesterreichern und Russen finden sich in diesen Edicten die umfaffendstm Bestimmungen, so wie in denselbm die Grundsätze der bewaffneten Neutralität von neuem ausführlich auseinander
gesetzt
und
die Befugnisse
der beiderseitigen Consuln
näher normirt
wurden. Doch nicht nur arif dem Gebiete bet Handelspolitik allein gingen damals Oesterreichs und Rußlands Herrscher Hand in Hand. Es ist bekaMt, daß Kaiser Joseph ungeachtet des Teschner Friedens
seine Pläne rücksichtlich Baierns nicht aufgab, sondern dieselben im Jahre 1785 in Form eines Tauschprojectes — Baiern für das aus dem größ ten Theil der österreichischen Mederlande zu bildende Königreich Burgund
— zum zweiten Male in Ausführung zu bringen suchte.
Katharina II.
ließ damals dieses Project durch ihren Gesandten den Grafen Rumanzow dringend dem präsumtiven Erben Carl Theodors,
dem Herzog
Earl
von Zweibrücken, 'empfehlet!, ungeachtet sie selbst zu den Garanten des
Teschner Friedens gehörte, und wahrlich nicht ihre Schuld war es, wenn
Kaiser Josephs Hoffnungen gleichwohl an dem durch den greisen Friedrich noch im Jahre vor seinem Tode, am 23. Juli 1785 ins Lebm ge-
tufenen deutschen Fürstenbunde zu Grunde gingen. Gleiches Interesse verband den Kaiser und die Kaiserin denn auch im türkischen Feldzug.
Auf Potemkins Antrieb war Katharina II. im
Januar 1787 nach Taurien gereist, um die kaum erworbenen Provinzen und
die neu gegründete Stadt Cherson, stanttnopel führen sollte, zu besuchen.
durch welche der Weg nach ConHieher kam Joseph II., Katharina
abermals zu begegnen und die Bande der Freundschaft noch enger zu
knüpftn.
Daß damals ein neuer Allianz-Vertrag zwischen beiden Herr
schern geschloffen wurde, ist vielfach behauptet und bestritten worden, so viel aber mag als gewiß angenommen werden,
die Angelegen
daß
heiten der Pforte den Hauptgegenstand ihrer politischm Unterhaltung
bilden mußtm.
Wie weit der Ehrgeiz der Kaiserin reichte,
ob in der
That nach ihren'Absichten eine Theilung der ttirkischen Provinzen jene Polens
vervollständigen
sein, H^othesen
sollte, hierüber
aufzustellen.
wird
Die Neckereien,
Handel im schwarM Meere von Seite
es
stets
nur gestattet
welchen der
der Türken
russische
ausgesetzt war,
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.
215
Verletzungen der Hoheitsrechte der Pforte in bereu eigenem Gebiete, welche sich Rußland sollte haben zu Schulden kommen lassen, nährten hüben und drüben dm Haß, der seit dem Frieden von Kutschuk Kainardschi unter der Asche fortgeglimmt hatte, und würde der Sultan dem drohmden Unwetter zuvorzukommen, nicht der Zarin am 24. August 1787 den Krieg erklärt haben, sicherlich hätte diese jenen nicht lange auf eine Kriegserklärung warten lassen. Joseph II. blieb dem Bündnisse treu, und so begann der österreichischtüMsche Krieg, deffm Ende der Kaiser nicht erleben sollte. Die Kriegs ereignisse selbst liegen außerhalb der Grenzen dieses Aufsatzes. Mannichfaltige Ursachen hemmten weittragende Erfolge, als nach manchem Schwanken der Sieg sich entschieden dm österreichisch-russischm Fahnm zuneigte. Joseph II. war am 20. Februar 1790 gestorben. Unruhen in den meisten Provinzen, nicht minder als drängende Gründe der äußeren Politik mußten seinem Nachfolger dm Frieden erwünscht machen. Die Eifersucht Preußens, das damals Friedrich Wlhelm II. beherrschte, hatte schon längst mit sorgendem Auge die Fortschritte der beiden kaiserlichm Heere beobachtet, an einer Zerstückelung der türkischen Provinzen konnte es ja nicht wie an jener Polens theilnehmen, und auf dm Vorschlag, einen Theil Galiziens an Preußen abzutreten, damit dieses, nun gleichfalls be friedigt, die Eroberungen Oesterreichs im Südosten sich gefallm ließe, konnte dieses nicht eingehen. Auch die beiden Seemächte, England und Holland, mit denm Preußen vor Kurzem die bekannte Tripelallianz zur Auftechthaltung der niederländischen Statthalterschaft im Hause Omnien eingegangen war, sahm mit Mißtrauen einer Erweiterung der öster reichischen und russischm Macht entgegen. Schon hatte Friedrich Wilhelm am 16t Januar 1790 eine förmliche Allianz mit der Pforte geschlossen, schon sammelte sich ein preußisches Corps in Schlesien, da trat zum Be hufe bet Friedensverhandlungen zu Reichenberg ein Congreß von Ge sandten der durch die Tripelallianz verbundenen, vermittelndm Mächte und Oesterreichs zusammen. Oesterreich war hierbei durch Fürst Hein rich XIV von Reuß und den Baron Spielmann, Preußen durch dm ©rasen Hertzberg, England durch Joseph Ewart, Holland durch bett Baron Reede vertreten. Schon am 27. Juli 1790 wurden Prälimina rien unterzeichnet, nach welchen ber Status quo ante bellum zur Basis
216
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich wtb Rußland.
der Verhandlung bestimmt wurde.
Doch erst am, 4. August 179 t kam
der Friede zu Szistowa zu Stande. Noch später, am 9. Jarmar 1792,
ward das russisch-türkische Friedensinstrument zu Jaffy unterzeichnet,
Wt größeren Vortheilen für Rußland, als
der Szistower Friede sie
Oesterreich gewährt hatte, denn die Macht der Tripelallianz war in zwischen durch Uneinigkeit gebrochen worden und die Revolution in Frankreich nahm Dimensionen an, welche die Blicke--Europas von dem Osten ab nach dem Westen zogen,
Zwei Tage vor Kaiser Joseph war Elisabeth vm Würtemberg, die
Gemahlin des nachmaligen ersten Kaisers von Oesterreich, gestorben; ihre Schwester war mit dem Großfürsten von Rußland vermählt und -so riß
ein Band- welches die Interessen der beiden Reiche auch für die Zukunft innigst zu verbinden verspmch; zu fest aber waren diese Interessen nach anderer Seite verknüpft, als- daß hierdurch eine merkliche Veränderung
m den fteundschaftlichen Beziehungen hätte herbeigeführt werden können, obwohl Leopold II. mit Preußen noch näher als mit Rußland sich zu
verbinden begann.
Während des türkischen Krieges hatte Preußens Eifersucht nicht Mit der Tripelallianz allein sich begnügt, auch in einer Verbindung mit Polen, von dem es durch friedliche Unterhandlungen Danzig und Thorn zu erlangm hoffte, suchte es Aequivalente für die von Oesterreich und
Rußland im Südosten gemachten Eroberungen. Polen jedoch, das sich inzwischen eine Verfassung gegeben hatte, wollte auf das Ansinnen Preußens nicht eingehen.
Da nun die Reichen
berger Verhandlungen zu einem glücklichen Resultat geführt hattm, der
Abschluß des Szistower Friedens nahe und Preußens Eifersucht rück sichtlich Oesterreichs damit befriedigt war, so suchte König Friedrich Wilhelm II. eine nähere Verbindung mit Kaiser Leopold, in der Hoff nung, seine Pläne in Betreff Polens in Vereinigung mit Oesterreich
auch ohne Rücksichtnahme auf Katharina II., mit welcher das gespannte Verhältniß fortdauerte,
ausführen zu können.
Ohnedies machten die
täglich weiter greifenden Fortschritte der ftanzösischen Revolution eine Verständigung zwischen beiden Höfen von Tag zu Tag dringender noth
wendig und so ward der Oberst von Bischofswerder von Berlin nach
Wien gesandt, neben den türkischen Arrangements auch wegen Abschließung einer Defensivallianz zu unterhandeln.
Leopold II. jedoch, eingedenk der Verbindung Oesterreichs mit Ruß land,
wollte so lange auf den definitiven Abschluß eines neuen, für
Rußland
möglicherweise unangenehmen Allianzvertrages
nicht eingehen,
mit
Preußen
bis Katharina ihren Frieden mit der Pforte geschlossen
haben würde und eingeladen werden konnte, nebst England, Holland und
dem zur Thronfolge in Polen berufenen Kurfürsten von Sachsen der neuen
Verbindung beizutreten. Alles was Vischofstverder erreichte, war demnach der Abschluß einer Art von Präliminarvertrag,
welcher am 25. Juli
1791 von ihm und dem damals noch an der Spitze der österreichischen Staatskanzlei stehenden Fürsten Kaunitz zu Wien unterzeichnet wurde. Der Hauptinhalt des Vertrages war gegen Frankreich gerichtet, doch wurde
hinzugefügt, der abzuschließende definitive Vertrag solle, um jede Eifer sucht und jede Befürchtung eines Uebergewichtes der drei Nachbarstaaten
Polens unter einander zu beseitigen, die Verpflichtung enthalten, nichts zu unternehmen,
wodurch die Unverletzbarkeit und Aufrechthaltung der
freien Verfaffung Polens angetastet würde und weder für einen Prinzen aus den Häusern Oesterreich, Preußen und Rußland, noch überhaupt ohne gemeinschaftliches Einverstandniß für irgend einen Eandidaten bei
der allfälligen Neuwahl eines Königs von Polen ihren Einfluß anzu wenden.
Auch für dieses Versprechen sollte die Zustimmung Kathari-
na's II. gewonnen werden.
Die Ereigniffe in Frankreich machten indeß kommen der Höfe von
vermuthen stand.
ein neues Ueberein-
Wien und Berlin schneller nothwendig , als z«
Leopold II. und Friedrich Wilhelm II.
trafen sich
persönlich zu Pillnitz und obwohl der Zweck der Conferenz zunächst auf
Maßregeln gegen Frankreich gerichtet war, konnte es wohl nicht anders
sein, als daß auch die polnischen Angelegenheiten zur Sprache kamen. Man wollte sich auf's schleunigste mit den« Hofe von St. Petersburg zu
Gunsten der Thronnachfolge des Kurfürsten von Sachsen ins Einver nehmen setzen, und für das Versprechen Friedrich Wilhelms, dem Erz« Herzoge Franz bei der Wahl zum römischen Könige seine Stimme zu
geben und bei England und Holland im Sinne einer von Leopold II.
gewünschten Abänderung der ans die belgischen Angelegenheiten bezÜtz-
218
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.
lichen, im Haag geschloffmen Convention vom 10. December 1790 zu wirken, erklärte sich dieser bereit,
seinen Einfluß in Petersburg und
Warschau für die auf Thorn ynb Danzig gerichteten Wünsche des Kö
nigs von Preußen zu verwenden.
Endlich, nachdem der Friede von Jaffy geschloffen worden war, kam der längst vorbereitete definitive Vertrag zwischen Oesterreich und
Preußen zu Stande und ward am 7. Februar 1792 zu Berlin von dem Fürsten Reuß als Bevollmächtigter Kaiser Leopold's, von den Grafen
Finkenstein und Schulenburg und dem Preußen unterzeichnet.
Baron von Alvensleben für
Die Bestimmungen des Präliminarvertrages vom
25. Juli 1791 wurden in einem Separatartikel ausgenommen, die beider
seitigen Besitzungen garantirt, gegenseitige Hilfe im Fall einer Invasion, wobei man namentlich Frankreich im Auge hatte, versprochen, und die
Einladung zum Beitritte an Rußland, England, Holland und Sachsen im 7. Artikel ausdrücklich Vorbehalten.
Drei Wochen später, am 1. März 1792, starb plötzlich Kaiser Leo pold n.
Franz II. übernahm die Regierung und am 20. April desselben
Jahres erfolgte die Kriegserklärung Frankreichs an Oesterreich.
Der
Krieg der ersten Coalition gegen Frankreich nahm seinen Anfang.
Rußland, so sehr es die Vorgänge
in Frankreich perhorrescirte
und ein so geneigtes Ohr es den Klagen der Emigrirten schenkte, war doch vom Kriegsschauplätze zu weit entfernt, um sogleich thätig einzugrei
fen; auch war es zunächst mit den polnischen Angelegenheiten beschäftigt. Die Streitigkeiten zwischen
den in der Conföderation von Targowicz
zusammengetretenen Anhängern der alten und jenen der neuen Berfaffung hatten die bewaffnete Intervention der Zarin herbeigeführt und schon
im Mai 1792 waren russische Truppen in' Polen eingerückt.
Oesterreich war damals ausschließlich mit dem Westen beschäftigt. Zu Petersburg erneuerte Graf Cobenzl im Namen des Kaiser Franz
mit den Bevollmächtigten Katharina's, den Grafen Ostermann, Besborodko
und Herrn
von
Markoff im
Juli
1792
die
alte
Allianz.
Neuerliche Garantie der beiderseitigen Besitzungen, mit Ausnahme der
russischen Provinzen in Asien und der österreichischen in Italien, so wie detaillirte Bestimmungen über die von einer Macht der anderen, für den Fall eines Angriffes von Seite eines dritten Staates, zu leistende Hilfe
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterrrich und Rußland.
219
von wenigstens 10,000 Mann Infanterie und 2000 Mann Cavallerie
bildeten den vorzüglichsten Inhalt des Hauptvertrages, Bestimmungen, die übrigens trotz des bereits mit Frankreich
ihre praktische Erfüllung aus Hand nicht erhalten sollten.
ausgebrochenm Krieges
den oben erwähnten Gründen vor der In zwei Separatartikeln wurde die Ab
tretung der von Dänemark erlauschten, vor kurzem erst zu Herzogthümern erhobenen Graffchaften Oldenburg und Delmenhorst von dem
Großfürsten Paul an die jüngere Linie des Hauses Holstein durch Franz II. anerkannt und das Uebereinkommen getroffen, die alte Ver
fassung Polens, seine Grundgesetze und Integrität aufrecht zu erhalten.
Wenig Erfolg aber hatte die letztere Bestimmung, denn schon im folgen
den Jahre, April 1793, kam die zweite Theilung zwischen Rußland und
Preußen zu Stande.
Oesterreich war diesmal unbetheiligt.
Die Fortdauer der anarchischen Zustände in Polen, die Gefahren, welche für die Ruhe und den Frieden der Nachbarstaaten hieraus er
wuchsen, die mit Rücksicht auf das eben erfolgte erschütternde Ende Lud
wigs XVI. und die nunmehr eintretende Entwicklung
der sieghaften
französischen Revolution begreifliche Besorgniß, die monarchienfeindlichm
Tendenzen und
Principien Frankreichs möchten in dem durchwühlten
Boden der königlichen Republik Polen empfängliches, ftuchtbares Acker
land finden und von hier aus sich weiter verbreiten über die angrenM-
den Lande, alles dies forderte dringend auf,
die Mittel zur Hintan
haltung solcher Gefahren emsig in Erwägung zir ziehen.
Rußland, da
durch seine Beziehungen zu Stanislaus Poniatowsky diesfalls zunächst interessirt war, hatte während des ganzen Laufes des Jahres 1796 in
dieser Richtung mit den Höfen von Wien und Berlin Berathungen und
Unterhandlungen gepflogen, als deren Resultat sich die Uebereinstimmung
der Ansicht aller drei Höfe darin ergab, es sei bei der erfahrungsmäßigen Unfähigkeit Polens, eine feste und kräftige Regierungsgewalt zu schaffen,
und die Unabhängigkeit bewahrend ftiedlich unter seinen Gesetzen zu leben, für den Frieden und das Glück ihrer Unterthanen unumgänglich
nothwendig, an die gänzliche Theilung der Republik unter die drei
Nachbarstaaten zu schreiten.
In diesem Sinne wurden Venn auch am
3. Januar 1795 zu Petersburg zwischen dem österreichischen Gesandten Graf Cobenzl und den drei Vertrauensmännern der russischen Kaiserin,
?20
Aplomcrtische Wzirhuugen -wischen Oesterreich uatz Rußlgnft.
welche, tat Vertrag vpm 14, Juli 1792 unterzeichnet Hatten, gleichlau-! tende Erklärungen ausgewechselt, in welchen die Art der Thellung vor? läufig festgesetzt ward, und Hie dem.preußischen Hofe mitgetheilt wep
den sollten. Während nun. die Truppen der drei Mächte den Rest Polms besetzten,
wurden gleichzeitig zu St. Petersburg die Conferenzen zur Abschließung
des Theilungsvertrages zwischen den genannten dxei russischen Bevoll* mächtigten, dem Grafen Cobenzl und dem preußischen Gesandten Graf Taueuzien eröffnet, und am 24. October 1794 wurde das Theilungs
instrument in der Form dreier Sonderverträge zwischen Oesterreich und Rußland, Oesterreich unb Preußen, Rußland und
Conferenzmitgliedern unterzeichnet.
Preußen von den
Doch ward damit nur der russische
Antheil vollkommen bestimmt, nach dem 3. Artikel blieb di« österreichisch
preußische Grenze längs der Pfalzgrafschaft Krakau unentschieden und die beiden contrahirenden Mächte kamen überein, sie durch Grenzregulirungscommissäre, welchen auch russische Abgeordnete in schiedsrichterlicher Mission beizugeben beschloffm wurde, an Ort und Stelle bestimmen zu lassen. Die ruffische Kaiserin selbst sollte,im Falle von Streitigkeiten zwischen
Leiden Höfen entscheiden und die ganze Grenzberichtjgungsarbeit in drei
Monaten vollendet sein,
Uebrigens versprach jeder >der contrahirendm
Theile den beiden andern^ seine Truppen aus den der letzteren gehörigen
Gebietm nach endlicher Feststellung derselben znrückzuziehen und im Falle
eines aus Anlaß der TheilMg entstandenen Angriffes von Seite dritter Maaten sich gegenseitig mit allen Kräften zu unterstützen.
In Folge
dieses Vertrages und der Unmöglichkeit, den Truppen der Alliirten fernerhin Widerstand zu leisten, verzichtete Stanislaus Poniatowsky am 25. Novbr. 1795 auf die Krone Polens und legte die Abdikafions-Urkunde in die Hände Katharinas nieder.
In dieser erkannte er an, daß die von den
alliirten Mächten ergriffenen Maßregeln die einzig möglichen seien, um
Len Frieden und die Ruhe in Polen wiederherzustellen.
Früher schon
am 18. Mqrz 1795 hatte Peter Biron, Herzog von Kurland, ßch freiwillig Her Kaiserin unterworfen.
Indeß ging es mit der preußisch-österreichischen Grenzregulirung nicht
so schnell, als man anfänglich gehofft hatte.
Oesterreich hatte für diese
schwierige^ in. Krakau tagende Commission den Warqujs voy Ghastelep
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.
22 t
und HeMr von CachK, Preußen den Herzog Friedrich von SchleswigHolstein-Beck mtd die Herren von Pfuell und von Hoym, endlich Ilüßlctnd
Herrn v. Lascy und von Fivow abgesendet.
Bon Seite Oesterreichs sowohl, als von jener Preußens, wurden namentlich strategische Gründe für eine ihnen günstige Bestimmung der
Krakauergrenze geltend gemacht und in weitläufigen Dissertationen nieder gelegt.
Doch erst am 21. October 1796
war das von Kacharina II.
Mit der Urtheilsfällung beauftragte aus den Grafen
Osterinann und
Besborodko und dem inzwischen in den Grafenstand erhobenen Herm v.
Markoff bestehende Ministerium in der Lage, auf Grund der obigen, vmr den mssischen Comünssärm mit einem Memoire begleiteten Auseinander setzungen, und in Erwägung nicht blos der militärischen, sondern auch
der übrigen aus.der Grenzregulm.ng beiden Theilen erwachsenden Vor theile den Schiedsspmch zu erfassen.
Hiernach sollten als Basis bei der
endlichen Feststellung die Flüsse Przemsza, Centoria und Pilica zur Grenze angenommen werden.
Ausspmche und
Oesterreich
und Preußen
unterwarfen sich dem
auf Grundlage der so gewonnenen Basis konnte das
GrenzreguliruNgsgeschäft einer ernsten Schwierigkeit nicht mehr begegnen.
Noch aber bliebe manche andere, in Folge der Theilung Polens herangetretene Frage zu erledigen, an deren endgültige Regelung zur Zeit
der Unterzeichnung des Theilungsvertrages nicht gleich konnte gedacht werden.
Hierher gehörten vor allen die Schulden des ehemaligen König
reiches, die Sustentation und die Güter des abgedankten Königs, die
Entschädigung
der von Polen apanagirten Söhne August III.,
endlich
die Angelegenheiten der fallirten, polnischen Banken und der sogenannten
gemischten Unterthanen.
Mitten unter den zn Petersburg gepflogenen Konferenzen über alle diese offenen Fragen starb Katharina II. am 17. November 1796 und
Paul I. bestieg den Thron der Zarm.
Die regelmäßig fortgesetzten Verhandlungen führten schließlich auch die Regelung dieser Angelegenheiten herbei: Graf von Tauenzien schloß
am 26. Zanuar 1797 den bezüglichen Vertrag mit den russischen Conferenzmitgliedem Graf Ostermann und Fürst Kourakin, und am selben Tage erklärte Graf Cobenzl die Zustimmung des Kaiser Franz zu diesem
Uebereinkommen.
222
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.
Die drei Mächte erklärten die Schulden des Königs und der Repn-
blik, zu deren Berification imb Liquidirung eine eigene Commission ein
gesetzt ward, nach einer bestimmten Proportion übernehmen zu wollen. Dem Könige, welchem alle seine, aus einem privatrechtlichen Titel erwor
benen Güter verbleiben sollten,
ward eine
Jahresrente von 200,000
Dukaten, den sächsischen Prinzen die auf dem Landtage von 1776 bestimmte
Apanage von je 8000 Dukaten jährlich zuerkannt.
Zu deren Bezahlung
sotten die drei Mächte gleichmäßig beitragen; zur Liquidation der fal-
lirten Banken ward eine Commission en Warschau ^errichtet und jenen polnischen Unterthanen, weltlichen und geistlichen, welche in den Gebieten
zweier oder aller drei Contrahenten
Besitzungen hatten, die Weisung
ertheilt, längstens innerhalb fünf Jahren zu erklären, welchen Staats Unterthan sie sein wollten, und binnen derselben Frist ihre in den anderen
beiden Staaten befindlichen Liegenschaften zu verkaufen,
wobei ihnen
von der Behörde der möglichste Beistand geleistet werden sollte. Nachdem am* 31. Januar 1797 zwischen den österreichischen, preu
ßischen und russischen Commiffären, auf Grundlage des Schiedsspruches vym 21. October 1796. der definitive Grenzregulirungsvertrag über die Krakauer Grenze in Krakau, und am 19. März desselben Jahres Mischen denselben Commiffären Oesterreichs und Prmßens, welchen letzteren nnr noch Herr von Klinkowström beigegeben wurde, ein Vertrag über die
österreichisch-preußische Grenze zwischen Koniecpol und Niemirow zu War
schau war unterzeichnet worden, konnten die polnischen Angelegenheüen für beendet angesehen werden und
wurden die bezüglichen Akten am
25. IM 1797 von den, bei der deutschen Reichsversammlung accreditirtem Ministern der drei Höfe, dem Herrn von Fahnenberg für Oester
reich, dem Grafen Schlitz für Preußen, und dem Herrn von Struve für
Rußland an das chur-mainzische Reichsdirektorium mitgetheilt. Andere Verhältnisse sind es, auf die wir nun unsere Aufmerksamkeit
richten müffen.
Jur Charakteristik -er Lady Macbeth. (Nach einer Correspondenz im Reader.)
Bei Gelegenheit der im Drury-Lane-Theater in London unlängst zur Aufführung gekommenen Tragödie Macbeth hat sich zwischen zwei englischen Shakespearekennern ein Streit über den Charakter der Lady Macbeth ent sponnen, der gewiß auch für den deutschen Leser manches Belehrende ent hält und daher wohl in seinen Hauptpunkten ein Plätzchen in einer inter nationalen Revue beanspruchen darf. 'Der Recensent T. G. T. erklärte zwar Miß Fancit's Darstellung der Lady Macbeth für eine klassische und ausdrucksvolle, doch weicht seine Auffassung des Charakters von der ihrigen ab. „Sie giebt die Lady Macbeth," sagt er, „mit Kraftaufwand und macht durchaus d'en vollen Eindruck der Wirklichkeit; sie geht mit Ernst, aber auch
mit Bewußtsein zu Werke. Sie verleiht jedem einzelnen Worte eine Be deutung, giebt aber dem Gesammtcharakter keinen rechten Zusammenhang. Sie scheint ebenso empfänglich und fast ebenso fieberhaft heftig zu sein, wie Macbeth. Fern davon, ihn weit zu überragen, Mord für etwas Geringes zu halten und Vorbedeutungen zu mißachten, scheint sie ebenso ergriffen von ihnen zu sein, wie er selbst. Sie führt zwar die Mordscene mit Standhaftigkeit durch und zeigt sich energisch genug dabei; um indessen einem solchen Manne zu imponiren und ihn seiner eigenen Gemüthsart zu entfremden, sollte sie gleichgiltig gegen Alle- sein, waS ihn erbleichen macht. Selbst ihre Rückkehr mit dem Dolche sollte gemächlich, unbekümmert und fast verächtlich erscheinen. So verfuhren MrS. Pritchard und MrS. SiddonS, nur daß letztere noch etwas imposanter austrat. Sie schritt gemächlich, fast gleichgiltig über die Bühne und erhob ihre blutgesärbten Hände mit einem gewissen Lächeln. Der Ausdruck ihrer gründlichen Verachtung der Todten und eingebildeter Schrecken hatte nichts Krampfhaftes an sich. Sie blieb ganz gefaßt und ruhig. Mit derselben Gemüthsruhe heißt sie Macbeth von der Bühne sich entfernen, und gerade dieser unerschütterliche Gleichmuth gewann ihr die Bewunderung ihres Gatten und bezauberte den empfäng lichen Than. Sie war durch und durch skeptisch, selbst ihre Anrufung der unsichtbaren Diener des Verbrechens war halb spöttisch. Ihr Selbst-
224
Zur Charakteristik der Lady Macbeth.
mord deutet ebenfalls auf diese Eigenschaft hin. Miß Jancit hingegen scheint sie nur als einen weiblichen Macbeth zu betrachten, und eine solche Aufsaffung zerstört den Contrast und die Wirkung, welche der Zauber ihrer größeren Unerschütterlichkeit, die Folge ihres bodenlosen ZwtifelS sowohl an guten, als an bösen Mächten auf Macbeth hervorbringen sollte." Hierauf erwiederte C. H. und wirst die Frage auf, ob Lady Macbeth eine Mörderin im Herzen, ein erbärmlicher männlicher Teufel sei, oder ein zärtliches Weib, welches nur vom Impuls deS Moments zum Verbrechen getrieben wird? — Seine Antwort füllt zu Gunsten der Lady Macbeth auS. Wie schrecklich auch die Grausamkeit ihreS Wesens in der Tragödie erscheinen mag, so ist doch kein sichtbarer Grund vorhanden, weshalb sie nicht bis zu dem Augenblicke, wo ihr der Ehrgeiz teuflische Gedanken ein« flößte, ein schätzbares und argloses Weib gewesen fein konnte. Macbeth'Brief an sie berichtet unS, was er war, als Duncan ihn zum Thon von Cawdor erhob: ein schlichtgesinnter, abergläubiger Soldat, aufgeregt durch Plötzliche Beförderung und den ihm von den drei Hexen auf einer öden Haide verheißenen Zuwachs an Größe. Bis dahin waren Beide unbeschotten; nach seiner Erzählung von ihrer künftigen Größe jedoch traten vor die Augen der Gattin Visionen von verbrecherischen Mitteln, durch welche das Verlangen eines nicht ganz taktfesten Gemüths um so leichte» befriedigt Werben können. Ihre Liebe zu einander ist augenscheinlich eine innige und für einander werden sie durch einen Zufall zu Dämonen. Bei Duncan'« Ankunft in Jnverneß unterhält er sich mit Banquo ebenso sehr über Mac beth'« häusliches Glück, wie über die schöne Lage deS Schlosses. Er nennt Lady M. unsre holde Wirthin und sagt von Macbeth: „wir halten ihn hoch." Lady M. war nicht gerade von Natur eigenwillig, treu» und rück sichtslos. Sie drängt Macbeth zum Verbrechen, weil ihr Ehrgeiz durch ihres Gatten Wankelmuth, welcher zur Schmach der Entdeckung führen könnte, gereizt ist, und eine Zeit lang ist sie der größere Teufel von beiden. Sie sieht die ihm bevorstehende Größe voraus, aber auch die Gefahr, die sie bedroht, und so ist sie für den Moment entschiedener zum Verbrechen eytschlosien, als Macbeth. Sobald aber die That vollbracht ist und sie sich ihres GisteS entladen hat, ist ihr Geist zerrüttet und ihre Gesundheit Purch die Ueberreizung deS Gehirns geschwächt. Im fünften Auszug sagt sie mit -einiger Gewissensangst: „Nichts hat man, Alles Lüge, Gelingt der Wunsch, und fehlt doch die Genüge. 'S ist sichrer daS zu fein, was wir zerstören, AlS durch Zerstörung ew'ger Angst zu schwören." Vor ihrem Gatten aber rafft sie sich wieder künstlich auf, um ihm Muth einzuflößen. Ihre Rede hat jetzt nichts an sich, waS auf ein Weiden
225
Zur Charakteristik der Lady Macbeth.
am Verbrechen hindeutete; im Gegentheil überwältigt sie die Furcht, und
anstatt wie früher mit ihrem Gatten im Herrscherton zu sprechen, bemüht
sie sich,
ihn durch Schmeichelworte zu stählen.
Im fünften Aufzug ent
weicht auch der letzte Rest von dämonischem Geist, der in ihr zurückgeblieben
war; ihr Gemüth ist der Qual preisgegeben, und die fieberhafte Leidenschaft, Wäre sie unzart
die ihren Geist verzehrt, hat sie zum Wahnsinn gebracht.
und männlich gewesen, so würde ihr Shakespeare schwerlich die Worte in
den Mund gelegt haben: „Alle Wohlgerüche Arabiens machen nicht süßduftend diese kleine Hand."
Wäre sie ein kaltblütiger,
abgehärteter Teufel gewesen, so würde sie
nicht zur Schlafwandlerin geworden sein, so würde der Geist, sie nicht verlasien haben.
zweiten Aufzuge beherrscht,
der sie im
Daß sie wahnsinnig
wird und der Irrsinn sie zum Selbstmord treibt, das dürfte die folgende
Stelle auö dem dritten Auftritt im fünften Aufzug ziemlich klar darthun: Macbeth: „Was macht die Kranke, Doctor?" Doctor: „Nicht so leidend, Herr, Als tief gestört von schwärmenden Phantomen, Sie rauben ihr den Schlaf." Macbeth: „Kurir' sie doch! Kannst nicht bedienen ein verstört Gemüth, Wurzelnden Gram ausreuten dem Gedächtniß,
Austhun die Wirren von des Hirnes Tafel, Und mit vergeßlich-süßem Gegengift
Die volle Brust des argen Stoffs entladen, Des herzbeschwerenden?" Auf diese
allerdings
äußerst schwachen Beweisgründe gestützt,
glaubt
C. H. annehmen zu dürfen, daß Lady M. nicht das verworfene Weib ist,
für welches man sie nach den hergebrachten Aufsaffungen gehalten hat, daß
sie vielmehr, wie eben Miß Fancit sie darstellt, ein zärtliches, liebevolles Weib sein mag,
daß sie, weichherzig von Natur,
gebung für einen Gatten, den sie anbetet,
nur grausam aus Hin
wird, und von zu zarter Ge
müthsart ist, um die Gewissensbisse ertragen zu können, die sie nach dem
Unheil plagen, welches
ihr Verbrechen
ein, seine Auslegung könne
gestiftet hat.
Schließlich räumt er
ihre Bedenken haben, und erklärt sich bereit,
falls man sie nicht gelten lassen wolle, von dem ausgezeichneten Shakespeare
kenner T. G. T. sich eines Beffern belehren zu lasten.
der
nicht gezögert, seine gewiß mit der
So aufgefordert,
hat T. G. T.
großen Mehrheit
übereinstimmende Auffassung
näher
zu begründen.
Seiner Ansicht nach ist Lady M., wie bereits oben angedeutet worden, ein
verwegenes, schlechtes, hartherziges und männliches Weib, bezaubernd aller
dings,
denn es
seine Gatlin vor;
liegen Beweise von Macbeths
großer Anhänglichkeit
an
muthig, aus völliger Unempfindlichkeit des Gemüths, ja
Nordische Revue, in. 2. Heft. 1865.
15
selbst bis zum religiösen Skepticismus abgestumpft. Um der Absicht des Dichters bei seiner Charakterschilderung auf die Spur zu kommen, gäbe eS, meint er mit Recht, nur ein Mittel: man muß mit der äußersten Sorgfalt prüfen, waS die betreffende Person selbst redet und thut; was die andern
Personen im Drama über sie aussagen, waS für einen Charakter sie in der Quelle hat, aus welcher der Dichter geschöpft hat, welches fein gewöhnliches Verfahren bei der Charakterzeichnung und dem Bau feines Werkes ist, endlich wie der Charakter von den Darstellern gewöhnlich aufgefaßt worden WaS Lady M. selbst sagt, ist leicht zu erledigen; denn in den sieben. Scenen, in welchen sie auftritt, kommen im Ganzen nur 200 Zeilen auf sie. Spricht sie also nicht viel, so spricht sie jedoch nachdrucksvoll. WaS sie als Mädchen war, darum haben wir unS nicht zu kümmern. Shakespeare stellt sie uns als gereiftes Weib dar, und nur als solches haben wir sie zu betrachten. Die Ansicht des Gegners beruht auf einer Verkennung der ersten Grundsätze, welche Shakespeare beim Bau der großen Scenen seiner Hauptdramen beobachtete. DaS Mittel, welches er stets anwendete, um große dramatische Wirkungen hervorzubringen, war Gegensatz der Charaktere; bei den untergeordneten Dramatikern hingegen treffen wir oft doppelte Schwäche in zwei ähnlichen Charakteren an. Othello und Äago, Brutus und Cassius, Jachimo und PosthumuS und viele andere dergleichen Gegen sätze sind allemal einander gegenübergestellt; zwei Macbethe aber, ein männ licher und ein weiblicher, in einem Stücke, dde beide auf dieselbe Weise zu
ihrem Verbrechen verleitet würden, wäre einem Shakespeare vollständig un möglich gewesen. Dieser tiefe und deutlich hervortretende Grundzug im Baue der ShakeSpeare'schen Dramen dürfte allein genügen, die Unhaltbarkeit der gegnerischen Ansicht darzuthun; da C. H. aber auf die Worte des Dich ter- und auf daS Drama selbst sich-stützt, so wolle auch er ebenso verfahren. Kaum hat Lady Macbeth den Brief empfangen und gelesen, als sie trotz dem Sprichwort: nemo repente turpissimus, den Plan zum Morde faßt und über die Gutmüthigkeit ihres Gatten, welcher indeffen, beiläufig gesagt, auch nicht besonders liebenswürdig ist, in Scheltworte ausbricht. Sie ruft ihn herbei, um ihm ihr Gift einzuflößen und mit ihrer unweiblichen Tapfer keit sein schwächeres Wesen zurechtzuweisen. Spöttisch (denn so sollte eS aufgefaßt werden) ruft sie die unsichtbaren Geister an, die ihm erschienen, zu ihr zu kommen, und, wie ihrer Rohheit' gemäß, spielt sie auf ihre Weib lichkeit an und heißt sie ihre Milch in Galle verwandeln.' Sie schließt da mit, daß sie sich in ihren Gedanken an dem beabsichtigten Morde weidet und in der Einbildung Duncan mit ihrem scharfen Messer eigenhändig tödtet; beiläufig gesagt, eine Grausamkeit, die sie später bestätigt, wo sie vom schlafenden Duncan spricht. Sie begrüßt ihren Gatten mit dem Pomp eine- Herolds, da sie von seiner gegenwärtigen Größe und seinet noch
227
Zur Charakteristik der Lady Macbeth.
größeren Zukunft ganz und gar erfüllt ist. Sie hat auch nicht ein einziges
zärtliches Wort für ihn, der nach seiner langen und gefahrvollen Abwesen
heit jetzt mit hohen Ehren gekrönt zurückkehrt, denn alle ihre Gedanken find mit dem beabsichtigten Morde beschäftigt, welcher allen ihren künft'gen Tag' und Nächten
Soll unbeschränktes Herrenthum erfechten."
So endet dieser erste und lange Auftritt (50 Zeilen aus den 200) dieses „liebenswürdigen und schätzenswerthen Weibes".
Das heuchlerische Gespräch mit Duncan, den sie sich bereits entschlossen hat zu ermorden, kann doch wohl nicht auf angeborene Tugenden Hinweisen,
da eS blos zehn Zeilen Humbug sind. Zunächst finden wir, daß sie ihren Gatten durch allerlei Sticheleien
zur Ausführung des Mordes anstachelt.
Ein einziges
„liebenswürdiges"
Wort oder eine einzige „schätzenswerthe" Gegenvorstellung würde Macbeth der Ehre und Tugend wiedergegeben haben; anstatt aber es auszusprechen, wird sie geradezu heftig im Ausdruck und poltert mit ihm.
Sie vergleicht
ihn mit einer armseligen Katze, nennt ihn einen Thoren, einen Lügner, eine Memme, dann äußert sie die schändlichste Gesinnung und schmückt sie
mit einem Bilde, welches kein Weib, das je wahrhaft „liebenswürdig" oder „schätzenSwerth" gewesen, hätte aussprechen können. Welches irgend anstän
dige Weib würde wohl die Aeußerung fallen lassen, einem Säugling daS Gehirn zu zerschmettern?
Wenn ihr teuflisches Geschwätz den thörichten,
eitlen Mann aufgerüttelt hat, sinnt sie wieder auf einen höchst frevelhaften
Mord.
ES heißt, sie achte ihren Gatten, und doch drängt sie ihn dazu,
einen Schlafenden zu tödten und zwei Unschuldigen, die sie selbst betäuben
will, daS Verbrechen in die Schuhe zu schieben.
Sie ist ebenso heuchlerisch
und bösartig, wie sie grausam ist und übernimmt es, jeden Ankläger zum
Stillschweigen zu bringen.
So sind 100 Zeilen auS ihren 200 erledigt
und noch keine Spur von einem einst „liebenswürdigen und schätzenswerthen
Weibe".
Nicht besser steht es mit den nächsten 40 Zeilen, deren Analyse
wir füglich übergehen können. Der nächste Auftritt ist der zweite im dritten
Act, auf den der Gegner hauptsächlich seine Ansicht zu gründen sucht. Die Thronräuber sind unterdessen gekrönt worden; im Königreich herrscht allge
meine Bestürzung; man haßt die neuen Inhaber des Thrones, und Alles
deutet auf Empörung.
Macbeth ist aufgeregter als je und hat Banquo'S
Mord, als zur Sicherung der Nachfolge seiner eigenen Linie nothwendig,
beschlossen.
Unter diesen Umstünden tritt Lady Macbeth allein auf, denn
ihr Gatte fängt an, sie zu meiden und in der Einsamkeit zu brüten.
ist natürlicherweise verstimmt und sagt:
Sie
2*8
Z«r Charakteristik der Lady Macbeth. „Nichts hat man, Alles Lüge, Gelingt der Wunsch, und fehlt doch die Gmüge. 'S ist sichrer das zu sein, was wir zerstören, AIS durch Zerstörung ew'ger Angst zu schwören."
Falls dies nicht ein bloßes gereimtes Conplet aus dem älteren Stücke ist, welches der ShakeSpeare'schen Tragödie zu Grunde lag, so ist eS nichts weiter, als eine Vorahnung des Selbstmordes, den sie zuletzt begeht.
Zn
Macbeth sich wendend, der in mürrischer Laune auftritt, und ihre früheren,
einem starke» Charakter ähnlich sehenden Beweisgründe wieder gebrauchend, spielt sie mit den Worten:
„Unheilbare Dinge wären bester auch Undenkbar. Was gescheh'n ist, ist gescheh'n,"
auf Banquo'S und Fleance'S Mord an.
Drücken diese Worte etwa was
Andres auS, als die getäuschte Hoffnung einer Verbrecherin, deren Verbrechen nicht die erwartete Befriedigung mit sich gebracht hat?
Wen» sie einen
Anflug von Mißmuth hat, so ist die Verzagtheit in Betreff der Zukunft, nicht etwa Reue für die Vergangenheit die Ursache.
In der Banquetscene
ist sie wieder ganz die alte: verwegen und guter Dinge.
Sie behandelt
Macbeth mit der äußersten Verachtung und schließt mit dem Gemeinplatz,
daß eS ihm wohl an Schlaf fehle,
nicht aber an Reue.
Zwar ist nicht
zu leugnen, daß sei» Eigensinn sie beunruhigt; denn sie erblickt darin un» vermeidliches Verderben ipib fühlt, daß eS mit ihrer Herrschaft über ihn zu Ende, ist; daß sie aber auch nur annähernd Reue empfände, ist nirgends
wahrzunehmen.
Sie ist in ihren Hoffnungen getäuscht, sie sieht das Verderben
eilends herannahen, und so fängt sie endlich an, unschlüssig zu werden.
Sie tritt dann erst wieder
im fünften Akte
auf,
sich auf nicht mehr als etwa zwanzig Zeilen belaufen.
hauptsächlich eine Wiederholung zweiten Aufzug.
und
zwar
als
Alles, was sie hier spricht, würde, in Blankvers gesetzt,
Schlafwandlerin.
der Ereignisse
Der Inhalt ist
der ErmordungSscene im
Auch nicht ein Wort, das auf Gewissensbisse hindeutete,
ist hier zu finden.
WaS sie äußert, ist nichts, als der Ausdruck der na-
türlichen Entstörung deS menschlichen Gefühls bei scheußlichen Thaten, allein, keine sittliche Empörung, keine Spur von Reue ist zu bemerken.
gern de» Beweis ihrer Schuld vertilgen.
Herzen aber lastet kein Schuldbewußtsein.
Sie möchte
Ihre Hand ist befleckt, auf ihrem Gelegentlich mag auch hier auf
das hingewiesen werden, was sie an dieser Stelle, sowie bei der Ermordung über Duncan äußert.
Dort sagt sie:
„Hätt' er geglichen meinem Vater nicht, MS er so schlief, ich hätt's gethan," Und setzt sagt sie:
„Doch — wer konnte denken, daß der alte Mann noch so viel Blut in sich gehabt?«
Augenscheinlich hatte die ehrwürdige Erscheinung deS Königs sie er griffen, und muß ihr Vater ein Mann gewesen sein, der sogar ihrem un gestümen Wesen Ehrfurcht einzuflößen vermochte. In der That erzählt man von vielen Vätern, die ihre widerspenstigen Tächter dahin gebracht hatten, sie zu achten, ja selbst zu lieben. Nach diesem letzten Auftreten der Lady Macbeth läßt unS der Arzt nicht mehr in Ungewißheit über ihren wahren Seelenzustand. „Unnatürliche Thaten brüten wieder Die Störungen, die unnatürlich, au-.
Ins taube Kissen werden ihr Geheimniß Entladen angesteckte Geister."
Ihr Geheimniß, sagt er, nicht ihren Gram.. AuS den Mittheilungen, die er dann Macbeth über sie macht, wenn er sagt, sie sei „tief gestört von schwärmenden Phantomen", will C. H. einen neuen Beweis für seine Ansicht schöpfen, jedoch ohne alle Berechtigung. Etwas später wird daS Geschrei der Frauen gehört, welches selbst einem Macbeth Schrecken einflößt. ES geht von den sie Umgebenden aus, die Zeugen deS Selbstmordes der auch im Tode noch sich eigenwillig zeigenden Lady Macbeth sind. DaS Letzte, waS wir über sie hören, sind Malcolms Aeußerungen, welcher, nachdem er zum König von Schottland ausgerufen worden, die Worte fallen läßt: „Die Teufelsfürstin,
Die, wie man spricht, mit eigner, wilder Hand Ihr Leben nahm."
Zn Shakespeares Zeitalter wurde der Selbstmord für das scheußlichste Verbrechen gehalten und als ein Zeichen von religiösem Skepticismus an gesehen. ES muß hervorgehobcn werden, daß Lady Macbeth nie anders, als in spöttischer Weise von der auf die Handlung einwirkenden Geisterwelt redet. Solche Dinge gelten ihr für Attweibermährchen. Sie kennt keinen Aber glauben und zeigt keine Spur von religiösem Gefühl. Sie sagt Macbeth nie, waS die Hexen sagen, und erkundigt sich weder nach den Beschwörungen, noch den Verheißungen der heraufbeschworenen Gestalten. Sie ist ein prak tisches, entschlossenes Weib, ohne alles sittliche Gefühl, obschon sie sich eines Abscheus bei dem Blutvergießen nicht ganz erwehren kann und so vom „Schauder" ergriffen wird. Daß sie dem Trünke (vielleicht war es Nepeuthe) ergeben gewesen sein mag, ist nicht unwahrscheinlich; denn sie gesteht beim ersten Male, ^daß sie von Wein oder sonst einem Getränke erhitzt sei, und ihr Ende deutet auf delirium tremens hin. WaS ihre Seele^ schmerzt, ist daS gänzliche Fehlschlagen ihres langen verbrecherischen Wandels und die nicht zu besiegende Schwäche ihres Mannes. Sie sieht das drohende Ver derben und greift ihm vor, indem sie ebenso muthwillig stirbt, wie sie gelebt
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Zür Charakteristik der Lady Macbeth.
S. G. T. vermag auch nichts vpn jener zärtlichen Liebe zwischen dem
hat.
Ehepaar zu erblicken, von der C. H. spricht.
Macbeth wird zweifelsohne
von ihrem festen Willen und ihrem klaren Geiste beherrscht, und ihre uner schütterliche Entschlostcnhett zwingt ihm Bewunderung ab, denn er bemerkt nicht, daß sie auS einem Mangel an sittlichem Gefühl hervorgeht.
Er selbst
besitzt diese Eigenschaft in reichlichem Maße und glaubt, sie entbehre sie zwar
auch nicht, ihr überlegener Geist aber überrage dieselbe.
Und dieser Glaube
erzeugt bei ihm eine Bewunderung, die fast an Anbetung grenzt.
Wahr
scheinlich fehlte es Lady Macbeth auch wirklich nicht an jenem persönlichen Zauber, welcher trotzigen, hochstrebenden und verwegenen Frauen eigen ist. Uebrigens kann die Bewunderung derer, die wir selbst sehr bewundern, leicht
den Geist verblende».
Daß sie ihn als einen großen Häuptling, als einen
heldenmüthigen und siegreichen Krieger betrachtete, kann man ebenfalls auS dem Texte entnehmen, daß sie sich aber wahrhaft oder innig geliebt hättm, ist nicht daraus zu ersehen. Sie starb, ohne Abschied von ihm zu nehme»; durch ihre Schuld kam all sein Elepd über ihn, und doch drückt sie nie ein
Wort der Reue gegen ihn aus und hat ihm kaum einen Trost zu reichen.
Was er bei ihrem Tode äußert, spricht durchaus nicht von tiefem Gram,
ja in seiner gewohnten selbstsüchttgen, empfindbaren Weise stellt er moralische Äetrachtungen darüber an und geräth am Ende in nichtssagende Gemein plätze.
Daß er ihr gegen den Schluß des Stückes fortwährend auöweicht,
könnte einen Verdacht erregen, als ob er sie mit zu den gaukelnden bösen
Geistern zählte, die ihn umstrickt und ins Verderben gelockt haben.
Wenn
C. H. behauptet, sie könne nicht plump und männlich gewesm sein, weil
sie sonst nicht von ihrer „kleinen Hand" gesprochen habe» würde, so ist diese Behauptung, gelind gesagt, sehr weit hergeholt. Höchstens könnte man daraus entnehmen, daß, wenn sie eine ticine Hand gehabt, auch ihr Körper klein
und schwächlich gewesen fein müsse; allein nichts berechtigt zu diesem Schluß, und selbst wenn dem so wäre, so ließe sich nichts daraus folgern, denn gar manche kleine und schwächliche Frauen sind entschlossene Mörderinnen und
verwegene, hartherzige, gefühllose Furien gewesen.
Wir brauchen unS in
dessen gar nicht in solche fernliegeade Betrachtungen einzulasien, denn Lady
Macbeth will blos andeuten, daß, wenn man auch alle Gewürze Arabiens anhäufte, sie dennoch selbst etwas so Kleinem, wie einer Hand, die blut
befleckt ist, keinen Wohlgeruch zu verleihen vermögen. Fassen wir nun das Vorangehende kurz zusammen, so finden wir, daß Lady Macbeth vom Augenblicke an, wo sie ihres Gatten Brief erhält, dm
Mord mit unersättlicher Grausamkeit beschließt und den Plan zu dessen Aus führung entwirft.
Das ganze Stück hindurch führt sie eine rohe Sprache;
sie wird vom Trünke aufgeregt, sie ist so brutal, daß sie im Blute ihrer Opfer herumplätschert; sie schlägt noch mehr Mordthaten vor, «nd als sie
schließlich findet, daß Macbeth ein unpraktischer, von mächtigen Feinden um gebener Träumer ist, sind eS die Berhältnisie, die ihre Pläne durchkreuzen, und körperlich zerrüttet, entleibt sie sich. Ob man geneigt sein wird, zu glauben, daß ein Charakter, wie er hier von Meisterhand gezeichnet vorli'egt, alS eine zarte, liebevolle Frau beabsichtigt sein könne, welche lediglich auinniger Liebe zu ihrem Gatten, den sie anbetet, grausam wird und nachdem ihre Verbrechen das Unheil gestiftet haben, zu schwach ist, die darauf folgende Gewissen-qual zu ertragen, da- weiß ich nicht; wäre dies aber die richtige Auslegung, dann hätten die Worte ihre Bedeutung verloren, dann könnte man aus den Handlungen nicht mehr auf den Charakter schließen, und die Kunst des Dramatikers wäre ein bloser Kunstgriff, einem Charakter Zwei deutigkeit zu verleihen. Nur noch ein Wort über die hergebrachte Auffassung des Charakter-, welche ein teuflisches Weib in ihr sieht. Die Chronisten, denen Shakespeare sich genau und zum Theil wörtlich angeschlossen hat, stellen Lady Macbeth überall als eine gewissenlose, ehrgeizige, rohe Frau dar, welche ihren Gatten zu der Verübung seiner Verbrechen antreibt — kurz, als eine rohe Mörderin von höheren! Range. Auch die Bühne hat sie stets so aufgefaßt. Mrs. SiddonS legte der Rolle allerdings ihre eigene Auslegung zu Grunde; dennoch blieb sie dabei im Ganzen der hergebrachten Auffaflung treu. Ihre Vorgängerin, Mrs. Pritchard, war eine ungebildete Frau, welche selbst verversicherte, sie lese vom Stücke stets nur die ihr zuertheilte Rolle. Auch sie indessen stellte den Charakter auf dieselbe Weise dar wie MrS. SiddonS, und gewiß war die Auffassung'nicht ihre eigene. Es ist in der That nicht zu bezweifeln, daß die Darstellung der Rolle in ihren Umrissen von Shakes peares Zeitalter her auf uns herabgekommen ist, und zwar wurde sie von Davenant auf Befferton, von ihm durch seine Gattin auf MrS. Barry, MrS. Oldfield und Mrs. Pritchard in direkter Reihenfolge übertragen. Demnach können wir der neuern, sentimentalen und paradoxen Auffassung deS Charakter- der Lady Macbeth unsere sachgemäßere Auslegung der Rolle selbst, den Commentar, welchen die andern Charaktere deS Stückes dazu liefern, den Grundsatz, welchen der Dichter bei seiner Arbeit verfolgte, sowie endlich das Zeugniß der Quellen, auS denen er schöpfte, die hergebrachte Auffassung auf der Bühne, liebst den Ansichten unserer größten Darsteller und Erklärer gegeuüberstellen und hoffen, sie damit widerlegt zu haben.
D. Asher.
Gunib, die Veste Lchamyls. Die Thaten des Imam Schamyl, des merkwürdigen Häuptling- der Tschetschenzen, der mit einer kleinen Schaar fünf und dreißig Jahre lang der Macht der Russen widerstand, gehören der Geschichte an. Er hat eS verstanden, die Blicke von ganz Europa nach dem felsigen Daghestan zu ziehen und unsere Aufmerksamkeit nach den Bergen deS Kaukasus zu lenken. Jeder neue Reisende, der in da- Ländergebiet zwischen dem Kaspischen und schwarzen Meer kommt, bringt neue Mär von dem wundersamen Manne mit, die dann
unsre Dichter zu „Tscherkessenliedern" begeistern, oder er erzählt unS von dey wilden Bergschluchten, durch welche die vom Blute tapferer Krieger gervtheten Ströme dahinrauschen, von den unendlichen Schwierigkeiten, welche Rußlands Soldaten hier zu überwinden hatten. Vor wenigen Jahren hat auch ein englischer Reisender, John Ussher, den Kaukasus durchzogen und ist dann weiter bis nach Persien gegangen. Sein an lebhaften Schilderungen reiches Buch ist soeben erschienen*); eS bringt auch eine gute Beschreibung von SchainylS Beste Gunib, welche lange Zeit für uneinnehmbar galt. Wir wollen den Lesern der „Nordischen Revue" daS Bild, welches der Verfasser vor unS ausrollt, wiedergeben. Ussher ging die Donau hinab bis nach Konstantinopel, durchführ dann daS schwarze Meer bis nach Sewastopol, durchreiste die Krim bis Kertsch und gelangte von da nach Poti. $on* hier ging er nach Tiflis und machte Ausflüge nach Gunib und zum heiligen Feuer von Baku am Kaspischen IReer. Nach seiner Rückkehr nach Tiflis besuchte er Gumri und KarS, später den Ban-See, dann Diarbekir, Mosul und Bagdad. Er ftijütg nun den gewöhnlichen Weg nach Babylon und Kerbela ein, kehrte nach der Stadt der Kalifen zurück, um sich nach Basra und Buschir zu begeben. Dann ging er. nach Persien, wo er Schiraz, Isfahan und Teheran besuchte. Ueber Täbriz und Tzapezunt kehrte er in die Heimath zurück. ♦) A Joumey from London to Persepolis; including Wanderings in Daghestan Georgia, Armenia, Kurdistan, Mesopotamia and Persia. With numerous coloured Illustration«. Hurst and Blackett. London 1865.
233
Gumb, die Beste SchanchlS.
Am 18. Juli 1860 findm rvir bett Reisenden m Tiflis, um feinen
Ausflug »ach Gunib fanzutreten.
In den Gebirge« arbeiteten die Rusie«
fleißig an der Befestigung der strategischen Punkte und an der Herstellung von Straßen.
Aber die arme« Menschen litte« an einigen Punkten furchtbar
vom Fieber, so daß von einem Bataillon, das 500 Mann stark war und a« dem Fort Preobrashensky baute, nur 90 Gesunde übrig geblieben waren.
Uflher ging durch das Land Avars, Worte enthält.
deffen Sprache viele Samojedische
Endlich gelangte er zur berühmten Beste Gunib.
„Nachdem
wir", so erzählt er, „ein weites grasiges Becken durchritten hatte», begann
daS Land anzusteigen und wir gelangten zu einer wohl bebauten Ebene, die nach Osten z« abfiel.
Wir folgten ihr and kamen nun in ein steile-,
felsiges Thal, das mehrere taufend Fuß tief war «ad in dem ein kleiner
Flnß riefelte.
An. der entgegengesetztm Seite des stundenbreiten Thales
erhob sich ei» einzelner Berg von merkwürdiger Gestalt.
Die ersten paar
tausend Fuß stieg er nur allmählich aus dem Thäte an, die. letzten tausend Fuß dagegen fiele» vollkommm senkrecht ab und bildeten eine vollständige Mauer aus Kalksteinen.
Der Gipfel erschien unS flach; er bildete eine
Ebene von fünf bis sechs, englischen Meilen Länge, die dreitausend Fuß über
dem Fluffe lag und durch die senkrechten Felswände, welche allseits von ihr abfielen, in eine natürliche, unangreifbare Festung verwandelt wurde.
Ein
breiter Raum trennte diesen Berg von allen umliegenden Gebirgen, so daß
er wie ei« Thurm von ungeheurer Höhe aus dem Thale aufstieg.
DaS
war der erste Anblick, den wir von Gunib hattm und obgleich wir noch
ziemlich fern davon waren, so war die Luft doch so durchsichtig» daß wir »nS ganz nahe dabei glaubten.
Einsam und allein stand eS da, als wäre
e- der Mittelpunkt, von dem alle benachbarte» Berge ausgegangen wären.
Der Gipfel bot einen sicheren Zufluchtsort für elfte kleine Anzahl Ver theidiger und jeder Fremde würde es gleich als daS bezeichnet haben, was
eS war, als den Platz, auf welchem sich der letzte Kampf einer hoffnuugSlosm Heilten Schaar gegen einen mächtigen Feind vollzog.
Die Einnahme GunibS wird stets ein denkwürdiger Tag in der russischen
Geschichte bleiben. der
Die Wichtigkeit des Falls dieser letztm Zufluchtsstätte
Bergvölker beginnt man erst jetzt im westlichen Europa zu schätzm.
Denn als Schamyl sich ergab, herrschte Rußland ungestört über den ganzen Kaukasus und alle Länder bis zur persischen Grenze.
Der Gipftl deS Berges Gunib, welchen die Rusten daS Gibraltar de!s Kaukasus nennen, ist in der Mitte leicht vertieft wie eine Schale.
Der
Boden steigt vom Mittelpunkt »ach den Seiten hin allmählich an und geht dann plötzlich in die 500 bis 1000 Fuß hohen jähen Abstürze über.
Nur
«n der Ostseite ist ein Aufgang, der in das Thal mündet, von dem -wir gekommen tdetdt.
Die Oberfläche ist mit saftigem Grase bedeckt, da- gutes
Weideland für Schafe und Pferde bildet. Man erzählte uns, daß die Ruffen 6000 Schafe und 200 Pferde bei der Eroberung vorsanden. Das Land um den Aul herum ist gut cultivirt und Alle-, was man zum Unter halt einer Besqtzung bedurfte, Nahrung und Kleidung, fand sich innerhalb dieser natürlichen Festung. Sogar einige Kohlenlager biffen in einem steinen Seitenthale aus, so daß, wenn man von den Materialien zur Pulverfabrikation absah, die Leute in Gunib nichts von außen bedurften. Die früheren Be wohner waren Avars, ein fleißiges, arbeitsames Volk, das auf seinem luftigen Horst frei und unabhängig von der umgebenden Welt lebte. Der Aul lag att dem einen Ende des kleinen Thales und die vielen Mauern und Ein zäunungen, welche sich um die bebauten Stellen herumzogen, zeugten von der Arbeit nnd dem Fleiße der früheren Besitzer. Sie wurden von Schamyl äuS ihrem Besitze vertrieben, als er sich an der Spitze, von 200 Mann in diesen letzten Zufluchtsort warf. Er glaubte, die Bergvölker, welche er durch Sendboten anfwiegeln ließ, würden von allen Seiten gegen die Ruffen zum Entsatz herbeieilen, und daß der geringe Borrath ein Milch und Korn, den er vorfand, für die Zwischenzeit für ihn und sein kleines Häuflein auSreichen ryürde. Fürst Barjatinsky, der von Alleyr Nachricht erhielt, zog aber sämmtliche Streitkräfte, über die er augenblicklich verfügen konnte, zusammen und schloß Gunib mit fünfundzwanzig Bataillonen eng ein. Der Fürst sah ein, daß bei den Hülfsmitteln der Eingeschlossenen die Belagerung sich in die Länge ziehen würde; außerdem waren Anzeichen vorhanden, daß die Bergvölker im Aufstande begriffen waren. Er übernahm daher persönlich das Commando und befahl den Sturm, gleichviel, wie groß die Opfer dabei auch wären. Drei oder vier mit Leitern versehene Sturmcolonnen schritten zum Angriff und setzten über den Abgrund weg. Der Widerstand war kräftig und zwei kleine Geschütze warfen mit ihren Kartätschenscheuern ganze Reihen der Stürmenden nieder. Die Schlacht tobte fort nnd neigte sich auf die Seite der Vertheidiger — da plötzlich hören diese in ihrem Rücken laute Rufe und Schießen. Sie sahen ein, daß sie ihre Stellung nicht länger behaupten könnten und zogen sich zum letzten verzweifelten Widerstände in den Aul an der Spitze deS kleinen Thales zurück. Der Sturm hatte in der Morgendämmerung begonnen; während nun die ganze Besatzung znr Abwehr nach dem bedrohten Punkte hineilte, schlich sich ein russisches Regiment nach der entgegengesetzten Seite, wo die Belagerten, auf die natürliche Festigkeit bauend, nicht einmal eine Schildwache aufgestellt hatten. Dort wollten die Russen hinanklimmen. Sie trieben Querhölzer in die Spalten nnd Ritzen des Felsens, befestigten daran Seile und kletterten Einer- nach dem Andern auf den Gipfel hinanf, ohne den geringsten Wider stand zu finden. Ein eingefangenes Pferd ward von dem kommandirenden Offizier bestiegen, der nun seine Leute sogleich in den Rücken SchamylS
führte. Dieser zog sich in den Aul zurück, wo die fanatischsten seiner An hänger ihr Leben lieber opfern wollten, als sich de» verhaßten Christe« unterwerfen. Die Rusien gingen sogleich.zum Angriff der festung-artig ge bauten Häuser über, von deren Dächern und Fenstern sie «in mörderischeFeuer empfing. Während der Kampf wüthete, versammelte Schamyl seine ergebensten Anhänger und legte ihnen die Frage vor, ob sie sich ergeben oder im Kampfe sterben wollten. Mit Ausnahme von zwei Muriden erklärten sich Alle für Ergebung. Die zwei aber sagten: „Dem Rechtgläubigen ist eS verboten, sein Haupt unter da- christliche Joch zn beugen!" So be reiteten sie sich zu einem Ausfälle vor, um fechtend unter den Waffen der Russen zu sterben. Schamyl zögerte einen Augenblick, ob er sie begleiten und seinem kriegerischen Leben ein paffende- Ende bereiten solle. Aber er ward von Andern von diesem Akt der Verzweiflung abgrhalten. Die zwei Fanatiker aber riefen ihrem Fürsten da« letzte Lebewohl zu, sprangen mit dem Säbel in der Faust unter die Ruffen und endeten von vielen Wunden bedeckt. Schamyl zog dann die weiße Fahne auf seinem Hause auf; da« Feuer schwieg und er ergab sich an General Lazareff. Er und die ander« Gefangenen wurden zum Fürsten Barjatinsky geführt, der den letzten An griff selbst geleitet hatte."
Musikalische Revue. St. Petersburg. — New-Dork. — Wien. — Aloys Ander. — Berlin. — München. — Deutsche Musik in Italien.
Das Mde des alten und der Beginn des neuen Jahres ließen überall längere Pausen in der Reihe der Concerte und Opernvorstellungen der großen Mittelpunkte für Musik eiptreten. Unser Bericht dürfte daher dies mal weniger umfangreich ausfallen. Zunächst haben wir noch auS dem alten Jahre über zwei weit von einander entfernte Punkte des Erdballs zu referiren, über St. Petersburg und Neu-Uork. ES muß ein deutsches Gemüth mit gerechtem Stolze erfüllen, daß auch an so entgegengesetzten Polen und in solcher Weite vom Mutterlande deutsche Tonkunst daS Scepter führt. So gelangten in diesem Winter in Petersburg im vierten Concert der „Russischen Gesellschaft für Tonkunst" Robert Schumanns L8-äur-Symphonie und das Beethoven^sche Biolin-Concert zur Aufführung. Aber auch national-russische Componisten und ausübende Künstler thaten sich rühmlichst hervor. Wir nennen unter den Arbeiten der Ersteren mehrere Gesangspiecen von Glinka und ein Concert symphonique in D von Litolff, welche die Anerkennung fanden, die achtungswerthen Arbeiten dieser Art gebührt, während die beiden vorzüglichen Virtuosen Wieniawski und Kroß, letzterer ein Schüler des Petersburger ConservatoriumS, die Concerte, deren wir oben erwähnten, trefflich auSführtcn. Warmes Lob erlangte auch die zweite Mattinee der Herren Wieniawski, Davidow, Pekel und Wenkmann. Dieselbe fand im Saale der kaiserlichen Hofsänger statt und brachte Beethovens L-moH-Quartett, Mendelssohns C-moII-Trio, dessen Klavierpartie Herr Dreyschock übernommen, und Haydn'S v-6ur-Quartett zu Gehör. Ein ähnliches Vorwalten deutscher Tonkunst zeigt sich uns in NeuAork. Weder der furchtbare und nunmehr schon Jahre andauernde Kampf zwischen den amerikanischen Nord- und Süd-Staaten, noch die ängstliche Spannung, in der sich der dortige Geldmarkt befindet, übten bis jetzt einen Einfluß auf das Musiktreiben der Hauptstadt. Im October eröffnete die philharmonische Gesellschaft zu Brooklyn ihre Concerte unter Eisfeldt^S Leitung mit Beethovens Pastoral-Symphonie. Fast gleichzeitig gelangte Haydn'S
Oratorium „die Schöpfung" unter der Leitung von Anschütz zur Aufführung. Der Chor, ebenso wie daS Orchester, meist auS Deutschen bestehend, betrug gegen fünfhundert Personen und unter den Solisten zeichnete sich wie immer der bekannte Bassist Formes aus. Vom Ende November berichtet man unS, daß die Direction der philharmonischen Concerte nunmehr alternirend von den Herren Eisfeldt und Bergmann übernommen worden. Man will dadurch dem Uebelstande begegnen, entweder nur klassische oder „Zukunfts musik" zur Aufführung gelangen zu sehen. Jeder der genannten Herren vertritt nämlich eine dieser beiden Richtungen. Eisfeldt, der conservative Musiker, dirigirte die Symphonien Mozarts, Haydn'S und Beethoven'-. Bergmann dagegen, dem musikalischen Jung-Deutschland angehörend, füllt seine Programme mit den Compositionen der Führer der Zukunftspartei. Wir lasten zwar Wagner, Lißt und Berlioz in diesem Sinne gelten, obwohl sich der letztere wiederholt gegen eine solche Zusammenstellung mit Juyg. Deutschland in der Tonkunst verwahrt hat, wenn aber Herr Bergmann auch Robert Schumann, Schubert und Neuere, wie Raff, Brahms, Bargiel und Rubinstein zu den Zukunftsmusikcrn rechnet, so heißt das diesen Begriff weit über seine Grenzen ausdehnen. Jedenfalls constatirt die Verschieden artigkeit und scharfe Trennung in der Zusammensetzung der symphonischen Programme der Herren EiSfeldt und Bergmann, daß auch jenseit deS Oceans der Kampf der musikalischen Parteien besteht, den wir in Europa zur Genüge kennen, oder besser gesagt, derselbe Grundirrthum, dieselbe Ver blendung. In unsern Augen giebt es weder eine Bergangenheils- noch eine Zukunftsmusik. Ohne organische Entwickelung der Motive, ohne Einheit der Stimmung und ohne eine durchgebildete oder gesund gegliederte künst lerische Form giebt es für uns überhaupt kein Kunstwerk. Nur da, wo Inhalt und Form einander so völlig decken, daß beide eine höhere Einheit oder eine harmonische Verschmelzung von Wesen und Sein der Gegensätze, die sich im Leben ewig fliehen, darstellen, haben wir es mit Kunstwerken zu thun und solche werden, ob nun der Vergangenheit oder Gegenwart angchörend, stets das Gepräge der Klassicität tragen. Ihnen allein gehört Mch die Zukunft, und in diesem Sinne sind Beethoven's 6-moII-Symphonie, Mozart'S Don Juan, Weber's Freischütz, oder um Neuere zu nennen — Franz Schubert's und Robert Schumann's Lieder — wahre Zukunfts musik. Auf Arbeiten dagegen, die weder den göttlichen Funken in sich tragen, noch sich nach unabweisbaren, den Naturgesetzen verwandten Normen, wie sie unS die künstlerische Form versinnlicht, entwickeln, findet Luthers berühmter Ausspruch Anwendung: „Jst's Gottes Werk wird's bestahn, ist-S Menschenwerk wird's untergahn" mit welcher letzteren Bezeichnung wir in der Kunst die subjective Willkür meinen, die kein höheres und allgemein waltendes Gesetz über und außer fich anerkennt. — Kehren wir zu den
philharmonischen Concerten zurück, die, so weit sie unter Bergmanns Direction sielen, Lißt'S Präludes, nicht weniger dessen Fapstsymphonien, sowie Wagner's Einleitungen und Märsche auS Lohengrin und Tannhäuser brachten. WaS darin genial, neu, geistreich oder pikant ist, wußte das Publikum zu schätzen, ohne sich in seiner Majorität deshalb zu einer Ueberschätzung oder einer Nebeneinanderstellung der genannten Tondichter mit den Herren der musikalischen Literatur fortreißen zu lassen. — Außer den Phil harmonischen Concerten haben wir noch der Symphonie-Soireen eines Herrn Thomas zu gedenken, die das gebildetere musikalische Publikum Neu-Uork'S fast nicht weniger anzogen. Es glänzten darin ihrer Reihenfolge nach als Hauptnummern: Raff^S PreiSfhmphonie, „Romeo und Julia" von Berlioz, Franz Lachner'S erste Orchester-Suite in D-dur, eine für Orchester arrangirte Toccata Sebastian Bach'S, Robert Schumanns Ouvertüre zur „Braut von Messina" und Beethovens Tripel-Concert für Piano, Violine und Violoncello. — Auch an deutschen Männergesangvereinen fehlt eS nicht in Neu-Dork, unter denen wir den „Liederkranz", dessen gewaltige Mit gliederzahl jeden europäischen Maßstab hinter sich läßt- und den „Arion" als die vorzüglichsten hervorheben. Daß das Publikum allen diesen Vereinen gegenüber nicht etwa nur' ein deutsches ist, sondern auch die UankeeS und ihre Damen deutscher Instrumentalmusik und dem deutschem Chorgesange Geschmack abgewonnen, bedarf keiner Versicherung. Die Vorliebe für German-Music, besonders aber noch für das deutsche Lied, grenzt bei den Amerikanern mitunter sogar an Schwärmerei, oder jenen blinden Enthusias mus, wie wir ihn bei den Stammvätern der Amerikaner, bei den Engländern, finden, denen schon die bloßen Namen von Meistern, wie Händel und Mendelssohn, hinreichen, sich in Enthusiasmus zu versetzen, oder in donnernde Cheers auSzubrechen. Und so hätten wir unS mit der Schnelle und Freiheit, wie sie dem Gedanken innewohnen, schon wieder nach Europa versetzt. Hier haben wir zunächst auS den beiden Hauptstädten Wien und Berlin über die Aufnahme neuer und einer gediegenen Kunstrichtung angehörender Werke zu berichten. In Wien gelangte im zweiten GesellschastSconcerte der „Musikfreunde" Franz Lachner'S Orchester-Suite in E-moll, deren künst lerischen Werth wir bereits in der vorigen Revue besprochen, zur Auf führung. Der bejahrte Meister war persönlich von München dazu herüber gekommen und erlebte die Freude, sein Werk unter seiner Direction einen wahren Triumph erringen zu sehen, da der Beifall- und Hervorruf nach jedem Satze stürmisch zu nennen war. Dieselbe Gesellschaft brachte am 18. December jm großen k. k. Redoutensaale Beethovens erhabenstes Werk, seine Missa solemnis in D zur Aufführung. Die Chöre besiegten die mormen Schwierigkeiten, die ihnen der große Meister zu überwinden gab,
in glänzender Weise und entwickelten eine Präcision, Vollkraft deS Tonund verständnißvolle Auffassung der tiefsinnigen Tondichtung, die ihrem Dirigenten, Herrn Herbeck alle Ehre macht. Nicht ganz dasselbe Lob wurde den Solisten zu Theil. Am wenigsten genügten ihrer. Aufgabe die Sängerinnen Fräulein Carina und Fräulein Bettelheim. Besser warLn die Herren Erl und Panzer, die geübtesten Oratoriensänger Wiens, die jedoch in Händel'S und Haydn'S Werken schon viel Bedeutenderes geleistet. Dagegen trug Herr HelmeSberger das'zaubervolle Violin-Solo im Bene dictus mit wahrer Weihe und Hingebung an die hohe Intention deS Meisters vor. Bei Gelegenheit der Aufführung dieses großartigen Werkes dürfte es interessant sein, an folgende Thatsachen zu erinnern. AlS Beet hoven dasselbe vollendet hatte, bot er es im Manuscript den Höfen Europa'S auf Subscription an. In dem deutschen Einladungsschreiben bezeichnete er dies Werk als sein gelungenstes, in dem an den französischen Hof ab gegangenen Exemplare aber nannte er es: „Foeuvre le plus accompli“. Er verlangte für das einzelne Exemplar 20 Ducaten und das Gesammtergebniß waren — 400 Ducaten! Ludwig XVIII. von Frankreich jedoch über sandte dem Meister eine goldene Medaille im. Gewichte von 24 Louisd'örS, welche daS Brustbild des Königs und auf ihrer Reversseite die Inschrift trug: „Donne par le Boi ä Monsieur Beethoven.“ Diese Medaille be findet sich jetzt im Besitze der Gesellschaft der Musikfreunde, die sie als ein unschätzbares Kleinod aufbewahrt. Bei unserm flüchtigen Rückblick auf daS Musikleben Wiens drängt eS uns, des großen Verlustes zu gedenken, welchen die dortige Oper erlitt. Am 11. De cember des vergangenen Jahres starb Aloys Ander, einer der hervorragendsten lyrischen Tenore deS letzten Deccnniums. Zu Budissin,. einem kleinen Dorfe Mährens, im August 1821 geboren, wo sein Vater Schullehrer war, fand er nach absolvirtsm Gymnasium eine Anstellung bei der Gutsverwaltung des Grafen Pallavicini. Bald darauf finden wir ihn in Wien in städtischem Dienste, von wo auS er seine Mutter mit seinem kleinen Gehalte unter stützte. Als Mitglied eines MännergesangvereinS erregte er durch den Wohlklang seiner lieblichen und sonoren Stimme zuerst besondere Aufmerk samkeit. Bald darauf ward er bei der k. k. Hofoper engagirt, in welcher Stellung er, steigend in Bedeutung und Gehalt, bis zu seinem Tode ver blieb. DaS Jahr 1849 sah ihn schon in der Reihe der ersten Tenoristen, und als Meyerbeer 1850 nach Wien kam, übergab er Ander die Titelpartie seines Propheten. In dieser hat ihn flieferent auch in Berlin gehört und den Sänger besonders in den lyrischen Nummern der Partie unübertrefflich geftrnden. Anders Stimme hatte bei außerordentlicher Ausgiebigkeit und Fülle eine seltene Frische und einen wahrhaft einschmeichelnden Wohllaut. Er war ebenso bedeutend als Liedersänger wie auf der Bühne. Auf der letztere
240
Musikalische Revue.
gehörten nicht weniger als 63 verschiedene große Partien zu seinem Repertoir.
Im Winter des Jahres 1863 auf 64 trat eine merkliche Abnahme
der Kräfte des Künstlers während seines Gastspieles in Leipzig und Darm stadt hervor.
Am 19. September des vergangenen Jahres trat Ander zum
letzten Male als Arnold in Rossinis „Wilhelm Tell" auf.
darauf wurde es nothwendig,
alle
sein rasch erfolgender Tod
Wenige Tage
ihn nach Bad Wartenberg zu bringen,
wo
für ihn gehegten Hoffnungen vernichtete.
Rührend und in ihrer Art kennzeichnend für Wien war die Theilnahme,
die sich bei dem frühen Ende, sowie bei dem Leichenbegängniß des Sängers Das letztere versammelte Alles, was Wien an künstlerischen
kund gab.-
Notabilitäten zählt und eine unabsehbare Schaar von Freunden und Ver
Die geräumige Augustinerkirche war so über
ehrern des Dahingeschiedenen. füllt,
daß die Kirchthüren im buchstäblichen Sinne des Wortes nicht ge
schlossen
werden konnten
benachbarten Straßen
und
draußen
am Lobkowitzplatz
stand die Menge noch Kopf an Kopf.
und
in
allen
Ander wird
noch lange im Andenken seiner treuen Wiener fortleben. In Berlin ist der bereits von uns angekündigte „Stern von Turan",
große Oper
in vier Acten von Richard Wüerst,
Scene gegangen.
am
14. December in
Der Text des Libretto ist von Ernst Wichert und liegt
demselben Paul Heyses reizende Dichtung „die Brüder" zu Grunde.
Aber
die Umgestaltung zu einem Operntexte ist dem Bearbeiter nur theilweise Man vermißt Spannung und Handlung; es macht sich zu sehr
gelungen.
der Mangel an Bühnenkenntniß fühlbar, was um so mehr zu bedauern, da der Stoff dramatischen Gehalt zur Genüge bot,
Operntext daraus zu gestalten.
Richard Wüerst's Musik.
um einen wirkungsvollen
Weit gelungener und interessanter ist Herrn
Sie ist die Arbeit eines tüchtigen, ernsten und
gewissenhaften Musikers, es fehlt ihr dabei nicht an echtem melodischen Reiz
und sowohl
die Behandlung
der
musikalischen Kunstformen wie die der
menschlichen Stimmen und des Orchesters offenbaren den erfahrenen und mit Strenge gegen sich selbst, d.h. ohne wohlfeile Efsecthascherei gestaltenden Künstler. Die Oper hat es leider dennoch nicht über einen succes d’estime gebracht und wir erklären offen,
daß wir die Ursache davon hauptsächlich in der
wirkungslosen und ermüdenden Bearbeitung des Textbuches suchen. Einzelne
spannende Momente können schädigen.
nicht
für
halbe Acte
ohne Handlung
ent
Wer mit uns ermessen kann, wie viel Fleiß, Opfer, Selbst
verleugnung, Energie und gute Stimmung für den Tondichter dazu gehörte, ein solches Werk zu schaffen, der wird es lebhaft bedauern, daß abermals
ein Libretto, das alte Hinderniß, das schon so viele der besten Opern wieder von
der
Bühne
verschwinden
ließ,
nun
auch Wüerst's Arbeit
dasselbe
Schicksal zu bereiten droht. Unsere Zuversicht steht noch auf Fräulein Lucca, die sowohl als Liebling des Publikums, wie auch, weil der Componist ein
Mrrfikakfche Nevvt. Paar wahrhaft reizende mustkalifche Momente fLr sie gefunden, vielleicht noch im Stande ist, die Oper auf dem Repertoire zu erhalten.
-
Richard Wagners seit längerer Zeit angekündigter „fliegender Holländer"'
ist nunmehr in München in Scene gegangen.
Man hatte den 4. December
für die erste Aufführung gewählt und nicht nur die Sänger, Maschinisten und DecoratiouSmaler befanden sich, beim Herannahen des genannten Ter
min-, in aufgeregter Thätigkeit, sondern auch der hohe Beschützer des Com-
ponisten, König Ludwig II., ließ sich die große Hofloge eigens für den erwählten Abend schmücken und deeoriren. Trotz aufgehobenen Abonnement-
war das Haus überfüllt und Aller Augen richteten sich ans Wagner, der sein Werk persönlich leitete.
Seine dramatische Art zu dirigiren, forderte
die Münchener unwillkürlich zu einer Vergleichung mit der schlichten Directioü ihres hochverdienten Kapellmeisters Franz Lachner auf und gab Ge legenheit zu der Beobachtung, wie sehr sich auch auf diesem Felde die ver schiedene Individualität spiegele und kennzeichne. Der zweite Set der Oper, der einige ganz reizende Nummern enthält,
die ein unbefaügeneS naiveS
Schaffen offenbaren, also durchaus noch keine Beziehung auf des Componisten spätere Theorien über Zukunftsmusik, machten die meiste Wirkung und riefen
einen ungekünstelten aufrichtigen Beifall hervor.
Am Schluffe mußte sich
Wagner wiederholt auf der Bühne Präsentiren. ES gewinnt den Anschein, als wenn klassische deutsche Musik sich nun
mehr auch in Italien einbürgern wolle.
Mailand und Turin gingen in
dieser Beziehung schon seit längerer Zeit mit gutem Beispiel voran.
Da
jedoch gerade in der Lombardei und im Piemontesischen vielleicht noch das meiste germanische Blut unter den Bewohnern der schönen Halbinsel eursirt
— Referenten erschienen, als er auS dem südlichen Italien kommend Turin berührte, Volk, Stadt und Land schon wieder wie die eigne Heimath —
so war ein eingehenderes Verständniß für den Ernst deutscher Tonkuüst dort im Norden nicht gerade auffallend.
Einen Fortschritt sehen, wir aber darm,
daß sich nunmehr auch im mittleren Italien — in Florenz, Modena ulld
Lncea — ein lebhaftes und thätiges Jntereffe für deutsche Musik entwickelt.
Än den drei genannten Städten bildeten sich vor kurzem Quartettgesell-
schaften, welche den Italienern die herrlichen Tongebilde deutscher Meister
dieser Gattung vorführen.
In Florenz führte man am 26. December vor
einem Publikum, daS sich — was beim Italiener viel heißen will — trotz schlechten Wetters dichtgedrängt eingefunden hatte, Beethoven's 6-äur-Quar-
tett, op. 59,
Mozart'S 6-woll-Quintett und ein Septett von Fetis auf.
Mozarts Quintett erregte einen wahren Enthusiasmus, überraschender aber
will eS uns scheinen, daß auch Beethovens Quartett einen tiefen Eindruck bei unsern südlichen Nachbarn hinterließ.
Nicht weniger warm wurde die am
6. Januar stattgefundene zweite Quartettsoirse ausgenommen, deren Programm «evm. m. s. Heft. 1865.
16
242
Musikalische Äevue.
Beethovens
Quintett
in A
(op.
18),
Mendelssohns
(op. 44) und Spohns Quartett in A-moll enthielt.
brachte man in Modena und Lucca am 11., Reihe
der
Kammermusik
Quartett
in D
In gleicher Weise
17. und 26. December eine
angehörige Arbeiten
von Beethoven,
Mozart,
Haydn, Onslyw, Mendelssohn und Mayseder zu Gehör. — In Rom wird
zwar auch viel deutsche Musik getrieben, jedoch fast nur von Deutschen, wäh
rend bei den Concerten in Mittel-Italien Hörende und Ausführende Italiener find.
Rufen wir denn den wackern Künstlern, die sich die Aufgabe gestellt,
klassische deutsche Kammermusik
in ihrem Vaterlaude heimisch zu machen,
ein herzliches „Glückauf" zu; mögen sie auf solcher Bahn rastlos und consequent fortschreiten und so in Wahrheit Mitarbeiter an dem großen Ber
mittelungswerke werden,
dessen Ziel
die
enge
geistige Berbrüderung der
beiden in Kunst und Wissenschaft gleich hochbegabten Nationen diesseil und
jenseit der Alpen ist.
E. N.
Literarische Revue. Französische Romane und Novellen.
Seit einer Reihe von Jahren hat sich das deutsche Lesepublikum ge wöhnt, die Erzeugnisse der französischen Belletristik mit einem gewissen Miß trauen, wir möchten sagen mit einer gewissen Nichtachtung aufzunehmen. Die massenhafte Production jener Schablonenromane, die ihre Gedanken leere, ihren Mangel an Wahrheit, an Poesie, an jeder höhern Auffassung des Lebens durch äußerliche Reizmittel, üppige Schilderungen, abenteuerliche Situationen, melodramatische Effecte zu verbergen suchten, ließ diese abwei sende Haltung nicht nur gerecht, sondern nothwendig erscheinen. ES dürfte jetzt aber an der Zeit sein, dieselbe aufzugeben. Eine gesundere Richtung voll sittlichen Ernstes bricht sich Bahn, erringt von Tag zu Tag größere Erfolge und wird bald daS Heer der Nachahmer an sich ziehen. Damit soll nicht gesagt sein, daß die französische Literatur schon völlig frei wäre von den Krankheitssymptomen deS letzten Jahrzehnts: der An betung des goldnen Kalbes, der Verherrlichung der demi-monde, oder den bis zum Ekel wiederholten Ehebruchsgeschichten 'mit blutiger Katastrophe. So finden wir unter ihren neuesten Erzeugnissen eine Gräfin de.Silva (La Comtesse de Silva, par Paul Delius), die ihren ungetreuen Gatten durch Lug, Trug und Mord für sich zu gewinnen sucht, statt dessen aber den geliebten Mann zum Selbstmord treibt. Wir lernen in Renee Mauperin (von JuleS und Edmond de Goncourt) eine junge Dame kennen, die sich mit einem Anbeter, den sie abweisen will, in der Seine badet. Der Rest des Buches ist diesem Anfang entsprechend. Paul Feval führt uns in ,,Annette Lais“ allerhand unmögliche Persönlichkeiten, wahre Carikaturen deS Menschengeschlechtes vor. „Henriette“ von Wailly verlangt unser In teresse für ein Ungeheuer im Sue'schen Styl, Graf Montbrun genannt. „Le combat de l’honneur“ von Adrien Robert ist eine jener abgedroschenen Liebes- und Jntriguengeschichten, die sämmtlich das unsichtbare Motto führen: ,,8'il est un conte use, commun et rabattu, C’est celui qu’en ces vers j’accommode ä ma guise.“
244
Literarische Revue.
DieS Derzeichniß könnten wir noch lange fortsetzen, aber aus dem Wust tauchen nicht nur wie bisher einzelne Namen, sondern ganze Gruppen als Vertreter des Bessern hervor.
Wir nennen zuerst den religiösen Roman, dessen Anfänge übrigens schon um einige Jahre zurückliegen. Octave Feuillet sprach daS erste Wort in seiner „Sybille“, einer Apotheose deS streng katholischen Kirchenglaubens. George Sand antwortete durch „Mademoiselle la Quintinie.“ Dies Buch, daS die Ohrenbeichte verwirft und den Einfluß des Beichtvaters als den Verderb deS Familienlebens bezeichnet, erregte ungeheures Aufsehen. Neuer dings hat ein unbekannter Geistlicher den Kampf auf diesem Gebiete fort gesetzt. Seine beiden Romane „Le mandit“ und „La religieuse“ malen in grellen Farben den Verfall der Kirche, den Mißbrauch der geistlichen Ge walt und verweisen aus die Nothwendigkeit einer Reformation, deren Auf gabe sein müßte, daS Christenthum, oder vielmehr die christliche Kirche mit der moderne» Bildung in Einklang zu bringen. Die Kritik mag im In« tereffe der Kunst gegen diese Tendenzliteratur mancherlei Bedenken erheben; ihre Bedeutung für die Entwickelung Frankreichs dürfen wir jedoch nicht unterschätzen. Eine zweite Gruppe bilden Romane und Novellen, welche Familien leben, Eheglück, HerzenSkämpfe, psychologische Entwickelungen zum Gegen stand haben. Unter diesen nennen wir: „Le man d’Antoinette“ von LouiS Ulbach. Hübsch erfunden und lebendig erzählt. Männer in reiferen Jahren
werdm demBerfafler dankbar sein; «beweist, daß nur bei ihnen der Ueberrest jener Jugend zu finde« ist, die unsre jungen Greise in übermäßig«« Gmuß vergeudet haben. Die Braut, die für den Sohn deS Helden geworben werde« sollte, wird darum dem Vater zu Theil. — I» „Trop herenx“ erzählt uns F. R. Way eine einfache traurige Herzensgeschichte: Der Held, Albin *be MSrian, geht an der Ehe mit einer geliebten, edel« Frau zu Grunde, weil fi« ihn nicht versteht. DaS Buch ist voll feiner Beobachtungen und die Behandlung deS Stoffes verräth eine Künstlerhand. — „Neof filles et un garton“ von Ernest Serret, ein Trost für töchterreiche Häuser. DaS Ganze ist heiter, hin und wieder selbst mit Humor erzählt. — „Le roman d’un homme serieux“, von Charles de Moüy, ist die Geschichte eines jungen Mannes ohne Vermögen, der sich vornimmt eine reiche Erbin z« heirathen, aber am Ende durch die Verbindung mit einem Mädchen, das so arm ist, als er selbst, zu Glück und Frieden kommt. — „Les mSmoires d’an inconnu“, von LouiS Ulbach, Geschichte eines politischen FlÜchÜingS auS dem Jahre 1851 — „Meryem“ von Camille Perier, eine algierische Liebesgeschichte, und „Le Chevalier du silence“, von Alexandre de Lavergne, gewähren ebenfalls eine anmuthige, leichte Unterhaltung.
Die dritte Gruppe, in der wir Localschilderungen, Sitten und Sagen der verschiedenen Provinzen Frankreichs finden, vertritt keine neue Richtung. Seit Charles Novier haben ihr die besten Namen: George Sand, Balzac, Emile Souvestre angehört; aber ein neues, in Deutschland wenigstens noch nicht gekannte- Talent tritt uns hier in Erkmann-Chatriant entgegen. Emile Erkmann und Alexandre Chatriant arbeiten gemeinschaftlich. Beide stammen ans PhalSburg im Ober-Elsaß, daher das liefinnerliche deutsche Element, das unS in ihren Werken so heimathlich anspricht. Es sind Er zählungen auS dem Elsaß, die sie uns geben; ihre Helden gehören sämmtlich dem Volke dieses Landstriches an. In den Sammlungen „Contea fantastiques“ — „Contes des bords du Rhin“ — „Contes de la montagne“ erschließt sich eine Sagen- und Märchenwelt, die uns mit eigenthümlichem Zauber umstrickt. Meisterhaft schildern die Verfaffer Land und Leute ihrer Heimath: die stillen Thäler der Vogesen, die waldigen Bergkuppen mit ihren Burgruinen, den kräftigen Menschenschlag in seiner althergebrachten Tracht, die Männer mit dem Dreispitz auf dem Kopfe, die Frauen im rothge streiften Rock und Hackenschuhen. Wir lernen das Leben in Dorf und Weiler, im Försterhaus und in der Köhlerhütte kennen, aber der Hinter grund ist es nicht allein, der diesen Märchen soviel Wahrheit giebt, eS ist vor Allem der Glaube der Erzähler, der uns mit fortreißt. „Wer vermöchte die Grenzen des Möglichen zu ziehen" fragen sie. „Sehen wir nicht, wie sich von Tag zu Tag daS Gebiet der Wirklichkeit erweitert? Und jene magische Zauberwelt, mit ihren verborgenen Einflüffen, ihrem mysteriösen Rapport, ihrer unfaßbaren Gewalt; jene Welt, die von Dielen glaubensvoll verkündet, von Vielen spottend geleugnet wird — wissen wir, ob sie nicht morgen schon in unsrer Mitte zur Erscheinung kommt? WaS wir gesunden Menschenverstand zu nennen pflegen, ist oft nur daS Er gebniß der allgemeinen Unwissenheit." — In diesen Märchen stehen wir deshalb sozusagen auf realem Boden. Es sind nicht wirre Nachklänge eines vergessenen Glaubens, die wir hören, nicht wesenlose, willkürliche Phantasie gebilde, die wir sehen, — es sind lebendig gewordene Leidenschaften und Begierden, Folgen böser Thaten, die als unheimliche Gewalten eingreifen in die Alltagswelt. Die folgenden Bände der Erkmann - Chatriant'fchen Werke (Oeuvres completes d’Erkmann-Chatriant, Collection Hetzel-Lacroix) sind Dorfge schichten; bald heiter, bald düster gefärbt, aber immer lebendig, kraftvoll, einfach und voll tiefen Gemüths. Die eigenthümlichste derselben ist vielleicht „Mattre Daniel Rock“, ein Blatt aus der Geschichte jenes ewigen Kampfe-, den daS Bestehende mit dem Werdenden kämpft, ein Thema, daS uns im modernen französischen Roman häufig begegnet. JuleS Sandeau hat im „Marquis de la Seigliere“ ein* typische- Bild de- Adel- geschaffen, der sich
246
Literarische Revue.
gegen die Eroberungen des Bürgerthums
sträubt
und Sandeau^s Nach
ahmer haben dies Bild hundertfältig wiederholt. Die Verfasser des Daniel
Rock dagegen zeigen uns, wie hin und wieder auch das Volk, seinen eigensten Interessen zum Trotz, im Fanatismus der Unwissenheit am Hergebrachten
festhält.
Meister Daniel Rock, ein alter Schmied, der mit seinen Kindern
in Felsenburg in den Vogesen lebt, ist ein hühnenhafter Gesell, starrköpfig, ungeschlacht, leidenschaftlich und von beschränktem Verstände, wie die Riesen
Durch Fleiß und Mäßigkeit ist er ein wohlhabender
der nordischen Sage.
Mann geworden;
er kauft die Ruinen des Schlosses Fclsenburg, die das
Dorf überragen und bringt seine Feierabendstunden vorzugsweise in diesem alten Gemäuer zu, wo er mit Fuldrade von Oberweg, einem abergläubischen
halbverrückten Weibe zusammenkommt.
Eines Tages erzählt sie ihm einen
Traum: sie hat jenseit der Berge das Zischen des siebcnköpsigen Drachen
gehört und das Brausen der Gewässer, die Alles zu verschlingen drohen. Beide kommen überein, daß dieser Traum eine prophetische Mahnung ent
hält und bald erkennt Daniel Rock, worauf derselbe hinweist.
Es kommen
Ingenieure in das Thal, um die Eisenbahn hindurch zu führen — Meister
Rock sieht im Geiste das patriarchalische Leben seiner Heimath bedroht; er hält sich für berufen, das Unheil abzuwenden, erklärt, daß die verhaßte Er
findung der neuern Zeit über seinen Gruud und Boden nicht geführt werden dürfe und entschließt sich, als seine Protestationen verlacht werden, zu thät lichem Widerstand.
Mit seinen beiden Söhnen überfällt er die Arbeiter,
die im Begriff sind, das Terrain abzustecken; nach langem blutigem Kampf werden die Angreifer überwältigt und jahrelanges Gefängniß ist die Folge
ihres unsinnigen Thuns.
Als sie den Kerker verlassen, ist Daniel Rock ein
alter Mann, aber sein Starrsinn ist derselbe geblieben. Der Aufenthalt in seinem Heimathdorfe widert ihn an: die moderne Industrie ist mit Werk
stätten und Fabriken aller Art darin eingezogen, die Eisenbahn ist der Voll endung nahe, unter seinem Schlosse ist ein Tunnel gebaut. Boll Ingrimm zieht sich der Alte in seine Ruine zurück und begirlnt mit Hilfe der Söhne
sein letztes Werk zu schmieden.
heran.
Der Tag der Eisenbahneinweihung kommt
Voll Erwartung sind die Bewohner des Thales herbeigeeilt, das
langersehnte Schauspiel zu genießen. dertstimmigem Jubel begrüßt.
Der Zug braust daher, von vielhun-
Plötzlich treten drei riesige Gestalten mit
nackter Brust und unbedecktem.Haupt aus dem Tunnel hervor. Meister Daniel
Rock und seine Söhne,
jeder mit einer ungeheuern Lanze in den Händen.
Mit Windeseile kommt die Maschine auf sie zu: „Tu ne passeras pas!“
ruft ihr der Alte entgegen, indem er seine Lanze in den Boden stößt. Söhne folgen seinem Beispiel.
Die Menge zittert.
Die
Es ist zu spät die
Maschine zu hemmen; mit schrillem Pfeifen fährt sie in den Tunnel ein.
Als sie verschwunden ist, wenden sich Aller »Augen der Stelle zu, wo eben
Meister Daniel Rock und seine Söhne gestanden — sie ist leer.
Die drei
Schmiede und ihre Lanzen sind zermalmt und weggefegt wie dürre Halme
und ohne Aufenthalt verfolgt die Maschine ihren Weg. Zu diesem düstern Bilde stehen die unmuthig humoristischen Erzählungen
»Le joueur de Clarinette“ — „L’ami Fritz“ — „Les ämcgireux de Ca therine“ — bLa taverne du jamhon de Mayence“ im schroffen Gegen
satz. L’ami Fritz, die Geschichte eines jungen Mannes, der in Gefahr durch
seinen Hang für das Wirthshausleben zu Grunde zu gehen, durch die Liebe
„der kleinen Susel" gerettet wird, ist darunter die bedeutendste. Alles was wir bisher genannt haben, wird jedoch von» der vorletzten Schöpfung der beiden Freunde „Histoire d’un conscrit de 1813“ übertroffen. Dies Buch
hat bei dem französischen Lesepublikum die allgemeinste Anerkennung gefunden
und wird von der Kritik für die bedeutendste
novellistische Erscheinung deS
letzten Jahres erklärt. Es ist das dritte Werk einer Reihenfolge von Kriegs geschichten, das vierte „Waterloo“ ist eben im Journal des vehats beendet.
Die ersten beiden waren: „Le fou Yegof“ und „Madame Therese“,
Ge
schichte einer Marketenderin.
Daß diese Bücher bei dem ruhmbegierigsten Volke der Welt Anklang
finden konnten, ist ein bedeutsames Zeichen der Zeit.
Zwar schildern sie
mit wunderbarer Lebendigkeit das Heldenthum des Soldaten, die Trunken heit des Kampfes, die Siegesfreude, die treue Kameradschaft der Waffen
gefährten, aber sie zeigen auch
die Kehrseite des glänzenden Bildes: ent
fesselte Leidenschaften, verwüstete Länder, zerrüttetes Familienglück und be
wiesen, daß der Krieg eine Barbarei ist, ein Rückschritt auf dem Wege der
Civilisation, ein Mißbrauch des Menschen. Die Geschichte des Conscrit ist im höchsten Grade einfach. Joseph Bertha,
ein Uhrmacher aus Phalsburg, wird trotz feines lahmen Beines und trotz seiner
Abneigung gegen den Soldatenstand gezwungen, der Fahne zu folgen; er über schreitet den Rhein, macht verschiedene Gefechte mit, wird bei Lützen und in der Schlacht bei Leipzig verwundet, kommt dem.Tode nahe zu den ©einigen zurück
und wird durch ihre treue Pflege dem Leben erhalten. — Auf diesem einfachen Hintergründe treten Schlachtenbilder hervor, die meisterhaft in Zeichnung und
Colorit, uns dem Krieg mit all feinen Schrecknissen, all seiner Begeisterung,
in seltner Lebendigkeit vor Augen führen.
Das Geheimniß ihrer Wirkung
beruht darauf, daß sie authentischen Berichten, d. h. den Tagebüchern eines Offiziers der großen Armee entnommen sind, und daß ein großes Talent der Wahrheit zu Hilfe gekommen ist, dies Stück Leben zum Kunstwerk ab
zurunden.
Wir erstaunen dem Conscrit gegenüber noch mehr als bei den
frühern Schöpfungen der Freunde, über ihr gemeinsames
Schaffen.
Ge
mälde, Vaudevilles, Romane ä la Dumas sind in Frankreich häufig von
zweien ausgeführt, aber eine Dichtung zu zweien war uns bisher undenkbar,
249
Literarische Revue.
und eine Dichtung ist der Conscrit in seiner tiefelegischen Stimmung. Wie die Freunde schaffen, ob einer von ihnen die Schöpfungskraft, der andere das Formtalcnt besitzt, wiffe« wir nicht. Sie selbst erzählen, daß sie bei einander sitzen und gemeinschaftlich nachdenkend arbeiten. Bon ihre» Süßem Verhältnisien^ wissen wir, daß Erkman» einen Theil deS ÄahreS in der Heimath lebt, Chatriant in Paris im BerwaltungSbureau der Ostbahn an gestellt ist. Beide sind noch jung. Möchten sie auf dem glücklich betretenm Wege in ungestörter Harmonie fortschreiten. (k
Vermischte Mittheilungen. Fortschritte in Rußland.
(Telegraphen, Eisenbahnen und Maschinenfabrikation.) ES «gt sich in alle» Kreisen deS mächtigen Zarenreiches, daS nach zuholen, was bisher versäumt wurde, um eS den Bölkem im Westen gleich zu thun. Gegenwärtig weilt im russischen Reiche kein unfreier Mensch mehr. DaS große Werk der Befreiung ist vollbracht und wird de» Namm deffe», von dem «S ausgegangen, für alle Zeiten in der Ge schichte der Menschheit verewige». Seitdem ist erst der wahre Fortschritt auf geistigem und materiellem Gebiete möglich und den ungrhmem natür lichen Hilfsmitteln des großen Reiches wird Gelegenheit geboten, sich nach allen Seite« der menschlichen Thätigkeit zu entfalten. Durch die Bauememancipation war eine ungeheme Menge Producmtm geschaffm worden, denm man auch die Möglichkeit zum Erwerb bieten mußte, und hierzu warm vor allen Dingen drei Sachen nothwendig: Wege, besonders Eisenbahnm, ein geregelter Geldverkehr und Verbreitung höherer Bildung. Besonder« sind eS die Verkehrsmittel, die*hier einm großen Auf schwung genommen habm. Das Telegraphennetz ist bis in dm äußerstm Osten Sibiriens ausgedehnt worden, denn am 30. November 1864 wurde, wie der »Russische Invalide" meldet, zwischen der Stadt Niko lajewsk und Chabarowka im Küstengebiet des AmurlandeS eine Telegraphen verbindung von 1000 Werst Länge eröffnet. Ueber die Thätigkeit der russischen Telegraphm im Jahre 1863 bringt das „Journal der Haupt verwaltung der Wege und vffmtlichen Bauten" Nachrichten; hiernach be trug die Zahl der beförderten Telegramme 741,901 Stück. Der Preis aller Depefchen betrug 1,703,454 Rubel. Auf die ausländische Correspondmz kamen 48,054 Telegramme, von denen 28,131 nach Preußen «nd Deutschland gingen, 12,339 nach England, 11,721 nach Frankreich, 6,95,9
nach Ocherreich.
250
Vermischte Mittheilungen.
Auch int Eisenbahnwesen zeigt sich allenthalben der Fortschritt. Die Bahnen
den Kohlenminen
von
in Gruschewka nach dem Don und von
Kolomna nach Rjasan wurden eröffnet; letztere soll auch bis nach^ Koslow fortgeführt werden.
Auf der Bahn von Odesia nach Parkany wurde be
reits eine Probefahrt unternommen.
Der Bau der wichtigsten Bahn, der
eigentlichen Lebensader des Landes, die Moskau mit dem schwarzen Meer
zu verbinden hat,
ist nun auch sicher gestellt.
scheidung wurde angeordnet,
Durch allerhöchste Ent
daß der Bau dieser Bahn von beiden Enden
in Angriff genommen und einerseits
die
bereits begonnene Strecke von
Moskau nach Serpuchow über Tula, Orel und Kursk nach Kiew, anderer
seits die im Bau begriffene Strecke von Odessa nach Balta über Krementschug nach Charkow verlängert werden solle. Mit dem Eisenbahnwesen und allen neuen Fortschritten in der Technik steht
die
Maschinenfabrikation
in
enger
Berbindung.
Nach
dem
„statistischen Magazin für Minenwesen" giebt es im russischen Reiche gegen
wärtig 139 Maschinenfabriken.
Davon befinden sich in Moskau und dem
Gouvernement gleichen Namens 32, in Petersburg 28, je sieben in Riga
und Kiew, in Odessa und in den Gouvernements Jekaterinoslaw,' Twer,
Pensa, Tschernigow und Orel vier in jedem, in Nishni-Nowgorod, Kaluga,
Charkow drei in jedem, in den Gouvernements Kasan, Perm, Tula, RjasanMohilew, Smolensk, Kostroma, Kursk, Wolhynien und Podolien zwei in jedem und nur je eine in den andern Gouvernements und im Amurlande.
Die
Gesammtproduction
der
Maschinenfabriken
hatte
einen Werth
voü
8J biß 9 Millionen Rubel, etwas mehr, als der Werth der jährlich vom
Auslande eingeführten Maschinen und Maschinenerzeugnisie ausmacht.
land und Polen kommen bei dieser Berechnung nicht in Betracht.
Finn
L.
AuS den deutschen Kreisen Rußlands. ist in der letzten Zeit, namentlich von Moskau aus, den Deutschen
G
Rußlands vorgeworfen worden, daß sie eine eigene „politische deutsche Partei" bildeten und sich in einen Gegensatz zum russischen Elemente stellten.
Man
hat zugleich versucht, ihnen gehässige und antiliberale Grundsätze zu unter
schieben, die, ebenso wie eine politisch-nationale Parteistellung, ihnen völlig fremd
sind. ' Der Zusammenhang
das denselben
der Deutschen Rußlands . wird
innewohnende Cultnrelement
geselligen Berhältnisie bedingt.
und
die
durch
landsmannschaftlich
Die St. Petersburger Zeitung hat daher
vollkommen Recht, wenn sie die obigen, gehässigen Anfeindungen entschieden zurückweist.
Sie sagt:
„Es leben allerdings viele Deutsche in Rußland,
Die
gebildete
Bevölkerung
der
Ostseeprovinzen
Deutsche sind als Militärs, Beamte, Kaufleute,
besteht
auS
Deutschen,
Handwerker, Kolonisten
über ganz Rußland zerstreut und verleugnen überall nicht die Eigenschaften,
die man als den Deutschen
vorzüglich angehörig bezeichnet: Neiß,
Ehr
lichkeit, Gewisienhaftigkeit, Achtung vor dem Gesetz, Liebe zu dem Boden, die Regierung und Treue für den
auf dem sie leben, Gehorsam gegen Landesherrn.
Aber eine „deutsche Partei" giebt es nirgends in Rußland;
eine deutsche Partei, als Vertreterin irgend einer politischen Richtung, na mentlich aber im Gegensatz zur „russischen", ist ein Wahngebilde, von dem
sich auch nirgends eine Spur findet.
Im Gegentheil,
die vernünftigen
Deutschen sehen mit Beifall auf daS Erwachen des nationalen Bewußtseins
in der russischen Gesellschaft und können eS nur im höchsten Grade billigen,
wenn dieselbe endlich einmal beginnt, den gewohnten flachen Kosmopolitis mus abzuwerfen und sich als ein Volk, als eine Nation zu fühlen.
Frei
lich gehen dieser Beifall und diese Billigung nur so weit, als jenes natio nale Bewußtsein nicht in Racenhaß, nicht in Verketzerung alles Nicht-Reinrussischen überschlägt."
In Petersburg hat das deutsche Element seinen wesentlichen Sammel die sich durch einen regen Wohl-
platz in der deutschen Gesellschaft,
thätigkeitstrieb auszeichnet.
Dieser Verein unterhält in seinem Armenhause
jetzt 28 Männer und 21 Frauen und erzieht in zwei Häusern 22 Mädchen und 15 Knaben.
Außerdem beschäftigt
mit Näharbeit und Unterstützungen.
gegen
Aber
er eine Menge Hülfsbedürftiger
1000 Individuen hat mit
der Verein
erhalten großen
jährlich einmalige
Schwierigkeiten
zu
kämpfen, die Ausgaben überstiegen im Jahre 1863 die Einnahme um mehr als 200 Rubel und man hat jetzt zu einer Tombolalotterie greifen müssen,
um das Unternehmen sicher zu stellen.
Gewiß wäre es sehr wünschenswerth,
wenn auch die Deutschen im Heimathlande sich diesem wohlthätigen Beginnen anschlössen und ähnlich, wie den deutschen Hilfsvereinen in London, Paris
und Lyon, den deutschen Armen in Rußland ihre Werkthätigkeit zuwendeten.
Der junge König von Baiern hat hierin einen schönen Anfang gemacht,
indem er
das
herrliche Kaulbach^sche Album
„Goethes Frauengestalten"
für die Lotterie schenkte.
Auch
die
deutsche bürgerliche
ihre Bälle zu wohlthätigen Zwecken.
Tanzgesellschaft
veranstaltet
Sie besteht schon seit dem Jahre 1789
und feierte am 6. (18.) Januar ihr Stiftungsfest.
Es fehlte beim Esien
nicht an Trinksprüchen auf die kaiserliche Familie, und die Liedertafel
versetzte die Anwesenden im Geiste in die theure Heimath, denn die alten schönen Gesänge: „Bekränzt mit Laub", „die Loreley" und Mendelssohns herrliches Lied „Wer hat dich, du schöner Wald" erbrausten mächtig bitrd^
den Saal.
252
Brimischte MtthfllW»g«u
>.DaS deutsche Zeitungswesen nimmt in Rußland immer mehr zu, denn vou vielen Orten wird jetzt die Gründung neuer dmtscher Jour nale gemeldet. Neben der qltbewührten Petersburger Zeitung, die jetzt von vr. Friedrich Meysr trefflich redigirt wird «nd bereits ihren 139. Jahr gang angetreten hat, erscheinen in Riga (sowie überhäuf an mehreren Orten der Ostseeprovinzen) und Odeffa deutsche Zeitungen. Die projectirte Mos kauer deutsche Zeitung ist nicht zu Stande gekommen, dagegen haben sich in Warschau mehrere angesehene deutsche Bürger zusammengethan, um ein,e deutsche Zeitung zu gründen. DaS nöthige Anlagekapital ist bereits gedeckt. Und auS Saratow meldet eine russische Zeitung Folgende-: „Die deutsche Saratower Zeitung ist vorzugsweise den Jntereffen der deutschen Kolonisten in den Gouvernements Saratow und Samara gewidmet. Außer einer allgemein verständlichen Darstellung der politischen Vorgänge, der anSwSrtigcn und inneren Regierungsverordnungen, besonders derjenigen, welche die Lage bei: Kolonisten berühren, den Anordnungen der Lokal- und Kolonialverwaltung, wird sie noch Nachrichten über Land- und HauSwirthschast, Wald kultur, Fabrik- und GewerbSthätigkeit und Handel bringen, soweit dieselbm sür daS Leben der Kolonisten Interesse haben können, Man kann den Deutschen, sagt daS russische Blatt weiter, die ihnen gebührende Achtung nicht versagen: Sie verstehen eS sich einzurichten, ihre Jntereffen zu ver treten. Wie viele Zeitungen haben sie — nun gar auch noch eine Saratow'sche. Wann wird sich eine russische Saratow'sche Zeitung einfinden? Und wenn fie sich eiufände, würde sie die Mittel austreiben, sich zu erhalten?"
Dir WeihnachtSspirke im böhmischen Erzgebirge. R. Seit daS Oberammergauer Passionsspiel namentlich durch Eduard Devrient'S Arbeiten in weiteren Kreisen bekannt geworden ist, hat sich die
Aufmerffamkeit in erhöhtem Maße der dramatischen BolkSpoeste zugewandt. Man sammelt nicht mehr einseitig daS Volkslied, sondern beschäftigt sich auch eingehender mit jenen Stücken, die von der ländliche« Bevölkerung meist bei Gelegenheit von Kirchenfesten aufgeführt werden. Manches Er sprießliche «nd Neue ist in dieser Beziehung zu Tage gefördert worden und hat zu Nachforschungen über die Entstehung dieser Volksspiele Anlaß ge geben. ES war in Deutschland im Mittelalter eine allgemeine Sitte, bei kirchlichen Feierlichkeiten biblische Begebenheiten in lebenden Bildern darzu stellen, und bis var uns ungünstig und schon
einer Viertelstunde hatten wir nur auf's Gerathewohl
in der Richtung hin geschoffen, in der wir sie vermutheten, als völlig unerwartet die preußischen Husaren in unser Quarre einbrachen.
We
es zugegangen sein konnte, weiß ich nicht — aber sie waren in unsrer
Mitte und hieben uns, ihre Pferde tummelnd, rechts und links ohne
Barmherzigkeit nieder.
Wir antworteten mit unsern Bajonetten, wir
schrieen — sie schossen mit Pistolen auf uns — es war ein entsetzlicher
Moment! Zebedäus, der Sergeant Pinto, ich und etwa zwanzig andre Leute unsrer Compagnie hielten fest zusammen.
Ich werde, so lange ich lebe,
diese Scene nicht vergessen. Weder jene feindlichen, vor Aufregung bleichen
Gesichter mit langen, bis hinter die Ohren reichenden Schnurrbärten, noch die schäumenden Pferde, die sich wiehernd auf Haufen von Todten
und Verwundeten bäumten.
Ich 'werde stets das Geschrei zu hören
glauben, das wir, die Einen in deutscher^ die Andern in ftanzösischer Sprache ausstießen.
„Schweinepelze!"
schriem
sie uns
zu,
während
Sergeant Pinto nicht aufhörte zu rufen: „Hardi, mes enfants! hardil“
Ich habe mir niemals klar machen können, wie wir diesem furcht baren Gemetzel eigentlich entgingen. Wir marschirten aufs Gerathewohl im Pulverdampf hin und her und wehrten uns rechts und links gegen Pferdehufe und Säbelhiebe, so gut es gehen wollte. Alles, woran ich mich erinnere ist, daß mir Zebedäus beständig zurief: „Komm, komm!" und daß wir schließlich auf einem abhängigen Acker hinter einem unsrer Quarros anlangten, welches seine Position standhaft behauptet hatte. Mit dem Sergeanten waren wir noch sieben Mann, die sämmtlich aus sahen wie Metzgerknechte. „Ladet's Gewehr!" kommandirte Pinto. Als ich den Ladestock in den Lauf meines Gewehres stieß, bemerkl ich, daß Blut und Haare an meinem Bajonett klebten, ein Beweis, daß ich in meiner Wuth und Verzweiflung furchtbare ©treuste- ausgetheilt hatte. „Das Regiment ist ausgelöst," sagte der alte Sergeant, nachdem wir ein wenig zu Achem -gekommen waren. „Diese verdammten Preußen haben die Hälfte davon niedergemacht. Mr werden uns später mit dem Rest wieder zusammenfinden. Für den Augenblick handelt es sich darum, uns im Dorfe festzusetzen. Links um kehrt! Vorwärts, marsch!" Wir stiegen nun eine Treppe hinab, die uns nach einem zu Klein-Görschen gehörenden Garten führte. Durch diesen drangen wir in ein von seinen Bewohnern »erlassenes Haus, dessen nach dem Feld und Garten führende Thür der Sergeant mit einem großen Küchentisch verrammelte. Die nach der Straße gelegene Thür, durch die wir viel leicht unsern Rückzug antreten mußten, blieb offen. Dann stiegen wir in die erste Etage hinauf, wo wir ein ziemlich großes Eckzimmer fanden. Dasselbe hatte zwei Fenster nach der Straße, zwei andere öffneten sich nach der Berglehne hin, wo das Knattern des Gewehrfeuers noch immer fortdauerte. In einem an dieses Zimmer stoßenden Alkoven fand ich ein ge brauchtes Bett und daneben eine Wiege. Die Bewohner hatten sich aller Wahrscheinlichkeit nach beim Beginn der Schlacht geflüchtet — aber unter dem Bette lag ein großer, weißer Hund mit buschigem Schwänze, spitzigen Ohren und spitziger Schnauze, der uns mit grün schimmernden Augen beobachtete.
Alles das steht vor mir, wie ein lebhafter Traum.
Der Sergeant öffnete das Fenster. zu schießen und
zwei oder
Man fing an, auf der Straße
drei preußische Husaren
Haufen von Dünger und zerbrochenen Wagen sichtbar.
wurden zwischen
Zebedäus und
die Andern beobachteten aufmerksam, die Flinte in Bereitschaft haltend,
Ich richtete mein Augenmerk auf den Bergab
was draußen vorging.
hang, um zu sehen, ob das Quarr« noch immer Stand hielt, UNd sah, daß es sich etwa 5—600 Schritt von uns in guter Ordnung zurückzog, indem es von allen vier Seiten auf die Cavaleriemaffen feuerte, die es
umschwärmten.
Durch den Pulverdampf hindurch sah ich den Obersten,
einen kurzen, starken Mann,
Mitte des Quarros hielt.
der mit dem Degen in der Hand in der
Neben ihm die Fahne, die so zerrissen war,
daß sie nur noch in Fetzen und Streifen an der Stange hing.
Weiterhin links,
wo die Straße
eine feindliche Colonne hervor,
eine Biegung machte,
brach eben
die auf Klein-Görschen vorrückte.
Es
war offenbar ihre Absicht, uns den Rückzug nach dem Dorfe abzuschnei den, aber schon waren Hunderte von versprengten Soldaten hier ange
kommen und noch immer strömten sie von allen Seiten herbei — die
Einen kämpfend
und sich aller fünfzig Schritte umdrehend,
um ihre
Flinten auf die Verfolger abzuschießen, die Andern verwundet und sich nur mühsam weiter schleppend.
Die Kampffähigen warfen sich in die
Häuser, empfingen den Feind mit einem mörderischen Feuer aus den
Fenstern und hielten dadurch sein Vorrücken auf, während sich zu gleicher Zeit an dem Abhange der Hügelkette rechts die Mafien der Divisionen
Bremer und Marchand
anfrollten,
welche der Fürst von der Moskwa
uns zu Hülfe schickte. Wir erfuhren
später,
daß
der Marschall Ney dem Kaiser nach
Leipzig hin gefolgt, durch den Donner der Kanonen aber aufmerksam
gemacht, zu unsrem Beistände herbeigeeilt war. Die Preußen machten Halt und das Feuer wurde für einen Mo
ment von beiden Seiten eingestellt.
Unsre Qnarr«s imd Colonnen er
klommen bei dem Dorfe Starsiedel aufs Neue die Höhe und jeder von
uns beeilte sich, das Dorf zu verlassen, um sich seinem Regimente wieder anzuschließen. Das unsrige war völlig versprengt und als die Divisionen
vor dem Dorfe Kaja Halt machten, vermochten wir kaum, uns wieder
zusammen zu finden.
Von unsrer Compagme waren beim Appell nur
noch 42 Mann vorhanden.
Von den Phalsburgem waren außer mir
mir Zebedäus und Klipfel mit Heller Haut davon gekommen. Unglücklicherweise war indessen der Kampf noch nicht beendigt, beim die Wirten, kühn gemacht durch unsern Rückzug, trafen bereits ihre
Dispositionen, um uns aufs Neue anzugreifen und ich sonnte mich an
gesichts dieser Gefahr des Gedankens nicht erwehrm, daß es für einen so großen Feldherrn wie unser Kaiser kein kleiner Fehler war,
nach
Leipzig zu geheu und uns von einer Armee von mehr als 100,000 Mann überfallen zu lassen. *)
Als wir eben noch dabei waren, uns hinter der Division Bremer zu ordnen, drangen 18,000 Mann der preußischen Garde — die Tschakos
unsrer Todten und Verwundeten als Siegeszeichen auf ihren Bajonetten tragend — im Sturmschritt
Auch links,
die Höhe herauf.
zwischen
Starsiedel und Klein-Görschen nahm der Kampf seinen Fortgang.
Die
russische Camlerie, deren Waffen wir früh in der Morgensonne blitzen sähen, hatte uns umgehen wollen, indessen war das 6. Armeecorps noch zur
rechten Zeit angekommen, um uns zu decken. wie die Mauern.
Die ganze Ebene glich
Die Regimenter standen
einer dunkeln Wolke,
aus
welcher Tausende von Helmen, Cüraffen und Lanzen hervorblitzten. Noch immer im langsamen Zurückweichen begriffen, sahen wir plötz
lich eine Art von wllder Jagd vorüberbrausen.
Es war der Marschall
Ney, der von seinem Generalstabe umgeben im gestrecktm Galopp herbei gejagt kam.
Er war bleich
vor Zorn und Auftegung; seine Auge»
sprüheten Blitze, seine Lippen bebten. der
ganzen Linie hinaufgesprengt und
Colonne.
Zn einem Moment war er an
hielt vor der Fronte unsrer
Mes folgte ihm, wie von einer übermächtigen Gewalt getrie
ben — statt zu retiriren gingen wir vorwärts,
den Preußen entgegen
und zehn Minuten später standen wir bereits wieder im heftigsten Feuer. Der Feind hielt wacker Stand.
Er hatte sich schon als Sieger gefühlt,
und wollte die errungenen Lorbeeren nicht aus der Hand lassen — auch erhielt er stets
neue Verstärkung,
während wir
seit 5 Stunden im
Gefecht standen und bereits erschöpft waren. *) Die Armee der Miirten war bekanntlich nur 85,000 Mann stark. Anm. b. Ueberj.
Unser Bataillon befand sich diesmal in zweiter Linie. pfiffen unschädlich über uns hin,
Die Kugeln
aber Has Anprallm der Kartätschen
an die Bajonette, das man weithin vernahm, war eine desto schauerlichere
Musik.
Inmitten des Geschreies,
der Kommandorufe Und des Knatterns
des Gewehrfeuers drangen wir über Haufen von Todten und Verwun
deten wieder nach Klein-Görschen vor.
Man schlug sich Mann gegen
Mann — in der Hauptgaffe des Dorfes sah man nur erhobene und
niedersausende Mntenkolben in der Lust;
die Generale stürzten sich mit
geschwungenem Degen in's Gefecht, wie der gemeine Soldat. Das währte einige Mnuten.
dringen vor!" riefen wir
„Es geht gut — es geht gut!
Mr
uns ermuthigend zu — aber noch einmal
wurden uns stische Truppen entgegengeworfen und zum zweiten Male
mußten wir Klein-Görschen räumen, und zwar geschah der Rückzug so schnell, daß ein großer Theil unsrer Truppen sich erst in Kaja wieder
sammelte.
Der Ort bestand aus einer einzigen langen Reihe von Häu
sern, die durch kleine Gärten und Ställe getrennt waren.
Gelang es
dem Feinde, uns hier zu überwältigen, so war sein Zweck erreicht; die
eine Hälfte der französischen Armee war von der andern abgeschnitten. Während unsres eiligen Laufes dachte ich an die Worte, mit denen mein alter Meister in Phalsburg mich entlaffen hatte. „Wenn das Un
glück wollte, daß die Alliirten euch schlügen, so würden sie kommen, um
sich für Alles,
rächen."
was wir ihnen seit zehn Jahren angethan haben,
zu
Ich glaubte die Schlacht verloren, denn ich sah, wie selbst der
Marschall Rey in der Mtte eines Quarrös zurückwich.
Die Soldaten
trugen ihre vemundeten Offiziere auf den Flintm aus dem Gewirr und Gedränge.
Es schim mir, als stünde unsre Sache völlig trostlos.
Ich erreichte das Dorf von der rechten Seite, übersprang die kleinen Zäune, welche die Gärten von einander trennten und bog eben um eine
Scheune, als ich plötzlich auf der gegenüber liegenden Höhe einen Trupp von etwa zwanzig Offizierm halten sah.
Hinter ihnen auf der Straße
von Leipzig kamen Waffen von Cavalerie in gestrecktem Galopp daher
gejagt.
Dies machte mich aufmerksam, ich sah genauer hin und erkamte
imn den Kaiser an der Spitze seiner Suite.
Er saß auf seinem weißen
268
Die Schlacht bei Mtzen.
Pferdtz wie in einem Fauteuil, ohne jede Bewegung und überschaute das Schlachtfeld mit einem Fernrohr.
Dieser Anblick erregte mich so freudig, „Vive FEmpereur!“
rief:
zwischen
Dann bog
daß ich aus voller Kehle
ich
durch
ein Seitengaßchen
zwei alten Häusern in die Hauptgaffe des Dorfes ein.
Ich
>var einer der ersten Ankömmlinge und sah noch, wie die Einwohner, Männer, Frauen und Kinder in die Keller flüchteten.
Mehre Leute, denen ich das erzählte, waren'der Meinung, ich wäre gar zu schnell gelaufen, aber wo Michel Ney zurückwich, durste gewiß
auch Joseph Bertha unbeschadet seiner Ehre das Feld räumen. Klipfel, Zebedäus, der Sergeant Pinto und die übrigen Bekannten
von der Compagnie befanden sich noch auf fteiem Felde, als ich plötzlich ein betäubendes Krachen vernahm.
Rauchwolken stiegen aus den Dächern
auf, die Ziegeln fielen zertrümmert auf die Straße, Kugeln zerschmetter ten das Gebälk und zerschlugen die Mauem mit furchtbarem Getöse.
Zu gleicher Zeit sah ich von allen Seiten durch die Gaffen,
über die
Hecken und Gartenzäune unsre Soldaten in wilder Flucht daherstürmen. Die wirre Maffe Regimenter.
bestand
aus
den Mannschaften der
verschiedensten
Die meisten waren ohne Tschako, zerriffen, mit Blut bedeckt,
saft alle, aber waren blutjunge, bartlose Bürschchen, fast halbe Kinder zwichen 15 und 20 Jahren.
Dennoch hielten sie von Zeit zu Zeit im
Laufen inne, um auf den nachdringenden Feind Feuer zu geben. Hinter ihnen erschienen die Preußen.
Sie waren von älteren Offi
zieren kommandirt, die sie durch ein unaufhörliches:
wärts!" anzufeuern, suchten.
„Vorwärts, vor
Im Eifer der Verfolgung sprang fast einer
über den andern hinweg.
Eine Anzahl der Flüchtigen, ich unter ihnen, hatten inzwischen an der Ecke einer Scheune Posto gefaßt, von wo aus wir uns nach Kräften bemühten, den Feinden durch unser Feuer das Uebtzrklettern einer kleinen
Mauer zu erschweren, die sie ein wenig aufhielt.
Zwischen uns befand
sich ein Garten mit blühenden Kirschbäumen und einem kleinen Bienen hause.
Ich sehe das Alles heute noch vor mir.
Wie viele Preußen von unsern Kugeln getroffen, in die nachdringende
Maffe zurückstürzten weiß ich nicht zu sagen — aber die Lücken füllten sich immer wieder.
Hunderte von Kugeln
pfiffen um unsere Ohren,
Die Schlacht bei Lützen.
SStz
platteten sich an den Mauem ab und schlugen den Kalkanwurs hemnter;
das Stroh hing in langen Strähnen von dem zerrissenen Dache,
große Thor war von Kugeln durchbohrt.
das
Wir luden hinter der Scheune
und sprangen dann rasch vor, um in die Masse der Feinde zu schießen
— dessenungeachtet waren schon 5 oder 6 Mann von uns gefallen.
Sie
lagen mit dem Gesicht an der Erde, aber unsre Erbitterung war so groß, daß wir kaum darailf achteten.
Als ich etwa zum zehnten Male hinter die schützende Scheune zurück springen wollte, fiel mir das Gewehr aus der Hand.
um es aufzuheben und stürzte selbst darauf nieder.
Ich bückte mich, Ich
hatte
eine
Kugel in die linke Schulter bekommen und das Blut floß mir heiß über die Brust herab.
Ein Versuch mich zu erheben mißglückte — Alles,
was ich zu thun vermochte, war, mich gegen die Mauer zu lehnen. Das
Blut rieselte mir jetzt bis auf die Hüfte herab. war,
Mein nächster Gedanke
daß ich hier sterben müßte und dabei überkam mich ein tiefes
Grauen.
Meine Kameraden fuhren fort, über meinen Kopf hinweg zu seitens,
die Preußen antworteten.
Ich fürchtete, daß eine zweite Kugel mich
treffen könnte, und mit der ganzen Kraft meines rechten Armes klam
merte ich mich an die Ecke der Mauer, uni mich von der gefährlichen Stelle fortzuschleppen.
Graben,
Ich rollte bei dieser Anstrengung in einen Keinen
welcher bestimmt war,
Garten zu führen.
das
Wasser von der Straße in den
Mein linker Arm war schwer wie Blei — Alles
drehte sich mit mir im Kreise.
Ich hörte das Gewehrfeuer noch, aber
nur wie im Traume.
Als ich wieder zu mir kam,
brach eben die Dämmerung herein.
Die Preußen passirten das Gäßchen im vollen Laufen. Masse in das Dorf eingedrungen.
den
blühenden Kirschbäumen
Sie waren in
In dem Garten gegenüber unter
hielt ein alter preußischer General
mit
weißem Haar und unbedecktem Haupte auf einem großen, braunen Pferde
Er befahl mit wahrer Trontpetenstimme, Kanonen herbeizubringen und seine Adjudanten sprengten davon,
um seine Befehle weiter zu tragen.
Auf jener kleinen von Leichen umgebenen Mauer stand ein Wundarzt,
der dem General den Arm verband.
Hinter ihm hielt ein russischer
Offizier von sehr kleiner Gestalt ebenfalls zu Pferde.
Er trug einen
270
Die Schlacht bei Lützeü.
Hut mit grünem, lang herabfallendem Federbusch.
Ich sah Alles das
mit einem eiiyigen Blicke: den alten General mit mächtiger Nase, breiter
Stirn, lebhaften Augen und martialischem Wesen, den Wundarzt, einen kleinen, kahlköpfigen Mann, der eine Brille trug — und im Hintergründe des Thales, etwa 500 oder 600 Schritt von mir, zwischen zwei Häusern
unsre Soldaten, die sich sammeltm. Das Schießm war im Moment eingestellt — aber plötzlich hörte ich, wie sich zwischen Klein-Görschen und Kaja ein furchtbares, entsetz liches Geschrei erhob — ich hörte schwere Räder heranrollen,
wiehern, Peitschen knallen und wilde Flüche ausstoßen!
Pferde
Ohne recht zn
wiffen warum, schleppte ich mich mit dem Aufgebot meiner letzten Kräfte
aus dem Wege, um mich wieder an die Mauer zu lehnen — und fast
in demselben Augenblicke bogen zwei Sechszehnpfünder, jeder mit sechs Pferden bespannt im vollen Galopp
um die Ecke des ersten Hauses.
Die Artilleristen peitschten auf ihre Pferde,
was sie konnten und die
Räder drangen tief ein in die Haufen von Todten und Verwundeten. Die zermalmten Knochen krachten — ich wußte jetzt, was das Geschrei,
das ich vorhin hörte, zu bedeuten hatte und das Entsetzen trieb mir die Haare zu Berge!
„Hierher!" schrie der alte General.
„Dorthin richten, zwischen jene
beiden Häuser beim Brunnen!" Die Geschütze waren im Moment abgeprotzt;
kamen im Galopp herbei,
die Munitionswagen
der weißköpfige General,
der jetzt den Arm
in der Binde trug, ritt in dem Gäßchen herauf, indem er in befehlmdem
Tone zu dem jungen russischen Offizier sagte: „Melden Sie dem Kaiser Alexander,
daß ich in Kaja bin.
Die
Schlacht ist gewonnen, wenn man mir die nöthige Verstärkung schickt. Man soll nicht berathen, man soll handeln!
Mr haben einen furcht
baren Stoß zu ermatten. Napoleon kommt — ich fühle das.
In einer
halben Stunde haben wir ihn und feine Garden auf dem Nacken. werde Stand halten, koste es, was es wolle.
Ich
Man soll nur um Gottes
willen keine Zett verlieren ... dann ist der Sieg unser." Der junge Mann entfernte sich im Galopp auf der Straße nach
Klein-Görschen, während ich neben mir eine heisere Stimme sagen hörte:
Die Schlacht bei Lütze».
271
„Der Alte da — das ist Blücher ... Satan .. toemt ich meine Flinte hätte!" Ich wendete den Kopf und sah einen alten magern Sergeanten,
mit tiefen Falten und Runzeln auf Stirn und Wange, welcher am Thor
der Scheune lehnte und sich auf seine beiden Hände wie auf Krücken stützte, denn eine Kugel hatte ihm die Rippen zerschmettert. unterlaufnen Augen
folgten
Seine , gelb
dem preußischen General mit schielendm
Blickm, seine große, wachsbleiche Nase bog 'sich, wie der Schnabel eines
Vogels, nach dem mächtigen Schnurrbarte herab. „Hätte ich nur meine Flinte," sagte er noch einmal, „ich wollte Dir zeigen, wer die Schlacht gewonnen hat!"
Wir waren die beiden einzigen lebenden Wesen in der Nähe.
Mngs-
um lagen Leichen. Als ich daran dachte,
daß man mich morgen vielleicht mit alle
den Todten, die hier und gegenüber im Garten lagen, begrabm würde, tiefen mir die Thränen über die Wangen und ich konnte mich nicht «nt-
.halten zu seufzen: „Nun ist Alles vorbei!" Der Sergeant sah mich von der Seite an — als er bemerkte, wie jung ich noch war, fragte er mich:
„Was hast Du denn, Rekmt?" „Eine Kugel in der Schulter, Sergeant."
„In der Schulter — nun das ist besser als in den Rippen — man kann davon kommen;" und als er mich dann eine Weile angesehen hatte, fügte er mit milderer Stimme hinzu: „Mach' Dir keine Sorgen,
Rekmt, Du wirst Dein Vaterland Wiedersehen." Er hatte Mitleid mit meiner Jugend und wollte mich trösten, aber ich fühlte meine Brust wie zerschmettert und das nahm mir alle Hoffnung.
Der Sergeant sagte nichts mehr.
Ich sah nur, wie er von Zeit
zu Zeit eine Anstrengung machte, um den Kopf zu erhebm und zu sehm, ob unsre Truppen noch anrückten.
Endlich murmelte er einen Fluch
zwischen den Zähnen und ließ sich kraftlos in die Ecke des Thorweg«
stufen.
„Es ist aus mit mir," sagte er bann, sich noch einmal zu mir wendend, „aber ich habe doch den großen Satan dort mit gleicher Münze
bezahlt."
272
Die Schlacht bei Lützen. Ich suchte der Richtung seiner Augen zu folgen und erblickte in
geringer Entfernung an einer Hecke einen preußischen Grenadier,
der
auf dem Rücken lag, das Bajonett noch in der Bmst. Es mochte jetzt 6 Uhr sein.
Der Feind hatte Häuser und Gärten,
die Hauptgasse und alle Seiteugäßchen des Dorfes in Besitz.
Ich fror
und fühlte alle meine Glieder erstarrt — ich hatte den Kopf auf die Kniee gelegt und eine Art dumpfer Betäubung fing an sich meiner zu
bemächtigen, als ich noch einmal vom Kanonendonner aufgeschreckt wurde.
Die zwei in dem gegenüberliegenden Obstgarten aufgestellten Sechszehnpfünder, sowie mehre andre, weiter oben im Dorfe postirten Geschütze feuerten schon seit längerer Zeit und das aufblitzende Pulver beleuchtete
die Hauptgasse, in der sich Preußen und Russen hsiidrängten, wie ein dunkler Strom.
Auch aus den Fenstern wurde geschossen,
Alles klang wie Kinderspiel gegen die Kanonade,
aber das
welche plötzlich von
einer Batterie von 80 Geschützen eröffnet wurde, die der Kaiser auf dem
gegenüberliegenden Hügel hatte auffahren lassen, und unter deren Schutze jetzt die junge Garde in geschloffenen Reihen und im Sturmschritt heran Der Ponne,r dieser 80 Kanonen erschütterte, trotz der Entfernung,
kam.
das alte Gebäude, an dem wir lehnten, in seinen Grundvesten.
In der
Dorfgasse nahmen die Kugeln Preußen und Russen reihenweise hinweg.
Sie fielen wie reifes Korn unter der Sense. Hinter mir hörte ich die feindliche Artillerie antworten.
Ich hatte
nur noch einen Gedanken: „Wenn jetzt die Franzosen siegen, so werden sie ihre armen Verwundeten aufsuchen können — behaupten die Preußen
und Russen das Feld, so müssen wir Alle elend zu Grunde gehen, denn
sie werden sich gewiß zuerst um ihre eignen Leute kümmern." Ich beachtete jetzt nicht mehr den Sergeanten, sondern richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf die preußischen Kanoniere.
Ich sah, wie sie
ihre Geschütze luden, wie sie zielten und feuerten, indem ich im Grunde
meines Herzens ihre Geschicklichkeit verwünschte.
Mit Entzücken lauschte
ich dagegen dem „Vive l’Empereurl“, das, wie ich in den Intervallen
des Kanonendonners deutlich wahrnahm, immer lauter im Thale heraus drang. Endlich, nach etwa zwanzig langen Minuten, singen die Alliirten
an zu weichen.
Sie passirten in Masse das Gäßchen,
an dem ich -lag,
273
Die Schlacht bei Lützen. um sich gegen
den Abhang
FEmpereur!“ näherte sich.
zu werfen.
der Hügelkette
Das
„Vive
Die Kanoniere vor mir im Garten schossen
mit rasender Schnelligkeit, bis 3 oder 4 Kugeln in ihrer Mitte einschlugen, ein Rad zerschmetterten und sie mit Erde überschütteten.
Eins der Ge
schütze fiel zur Seite, zwei Artilleristen wurden gelobtet, zwei verwundet.
In diesem Moment fühlte ich mich am Arme ergriffen.
Ich drehte
mich um und blickte in das erdfahle Gesicht des sterbenden Sergeanten, der mich mit einem triumphirenden wilden Lachen ansah.
Das Dach
der Scheune über uns drohte zusammen zu brechen, die Mauern bebten
und wankten — aber tvir hatten für Alles das weder Auge noch Ohr. Wir sahen nichts als den Rückzug des Feindes,
wir hörten durch das
Toben der Schlacht nur den Ruf unsrer Soldaten, der immer näher und näher kam.
„Da ist er!" rief plötzlich der Sergeant.
Dann richtete er sich
mühsam aus, ließ sich auf die Kniee sinken, und indem er sich mit einer Hand auf die Erde stützte, die andere hoch empvrhvb, rief er mit don nernder Stimme: „Vive FEmpereur!“
Dann fiel er mit dem Gesicht
zur Erde und regte sich nicht mehr. Auch ich beugte mich vor, um besser sehen zu können, und erblickte Napoleon, der mitten im Gewehrfeuer hinritt.
Er hatte den Hut fest
auf den großen Kopf gedrückt, der graue Ueberrock stand offen, über der weißen Weste war ein breites rothes Band sichtbar.
Sein gelbes
Gesicht war kalt und ruhig; der Schimmer der Bajonette schien es blitz
artig zu erleuchten.
Alles wich vor ihm zurück.
Die preußischen Kanoniere verließen
ihre Geschütze und sprangen über die Gartenmauer,
trotz des Zurufs
ihrer Offiziere, die sie zurückzuhalten suchten.
Alles, was ich damals gesehen, hat sich wie mit Flammenschrift in
mein Herz und mein Gedächtniß gegraben.
Erst in dem Moment, wo
der Anblick des Kaisers mir die Gewißheit unsres Sieges gab, verlor
ich das Bewußtsein. Vom weiteren Verlauf der Schlacht weiß ich nichts zu sagen, denn ich lag gleich einem Todten unter den Todten.
Äerti|*e tt'tmt. in. s. Heft. isgs.
18
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland seit -er ersten Theilung Polens. Von Dr. Alfons v. Domin-Petrushevecz.
n., Während sich in Polen das blutige Drama abspielte, das mit dem
Untergange und der Zerstückelung
des Wahlkönigreiches enden sollte,
waren in Frankreich nicht minder schreckliche Ereignisse rasch aufeiMnder
gefolgt.
Wir haben der Ursachen, welche Rußland von einem thätigen
Eingreifen in den ersten Kämpfen abhielten, und des österreichisch-russi schen Vertrages vom 14. Juli 1792 schon oben gedacht.
Zwar hatte
Katharina II. schon vor dem unglücklichen Ende des Königs Ludwig
ihren Gesandten von Paris abgerufen, später, am 8. Februar 1793 erließ sie einen Ukas, durch welchen der mit Frankreich am 30. Dezember 1786
geschloffene Handelsvertrag
für aufgehoben erklärt, jeder Handel mit
jenem Lande verboten, den in Frankreich weilmden russischen Unterthanen der Auftrag heimzukehren ertheilt, und den in Rußland domicilirenden Franzosen befohlen wurde, das Land zu verlassen oder den Grundsätzen
der französischen Revolution nach einer vorgeschriebenen Eidesform öffent lich abzuschwören, und mit Edikt vom 19. April 1793 wurde diese Ver
ordnung rücksichtlich der verbotenen französischen Waaren durch genaue
Vorschriften ergänzt.
Dabei blieb es aber auch.
Eine aküve Bethei
ligung am Kampfe war von der in nächster Nähe vielfach thätigen Kai serin nicht zu erlangen, und die mit England am 25.
geschloffene Allianz blieb
März 1793
insoweit trotz allen Drohungen der Kaiserin
unftuchtbar.
Damals war es Wlhelm Pitt, welcher nach dem unglücklichen Feld zuge der Oesterreicher und Preußen vom Jahre 1792 und nach der Kriegs-
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich unb Rußland.
275
erklärung Frankreichs an England am 1. Februar 1793 die Ausbrei tung und Festigung der Coalition gegen die junge Republick sich zur Lebensaufgabe stellte.
So schloß England auch den erwähnten Vertrag
mit Rußland, Allianzen mit Sardinien (23. April), mit Spanien (25. Mai), mit Neapel (12. Juli), mit Preußen (14. Juli), mit Oesterreich (30. Aug.) mit Portugal (26. September), mit Toskana (28. October); zahlreicher
Subsidientraktate mit deutschen Fürsten nicht zu gedenken, Verträge, welche
alle den Krieg gegen Frankreich, die gänzliche Handelssperre gegen daffelbe, ja sogar die Verhinderung des Handels der Neutralen mit diesem Staate zum Gegenstand hatten, da man sich gegenüber Frankreich, mit Rücksicht
auf den außergewöhnlichen Charakter des Krieges, der Regeln des Völker rechtes ledig glaubte, und das durch das allgemeine Aufgebot von Feld arbeitern entblößte Land nicht nnnder durch den Hunger, als durch die
Waffen zu bezwingen hoffte.
Daß dieser Plan nicht gelang, ist bekannt.
Es würde uns aber zu weit von dem Gegenstände unserer Aufgabe entfernen, auf die in hohem Grade interessanten Verhandlungen mit
den neutralen Mächten einzugehen; namentlich mit Dänemark, Schweden
und den vereinigten Staaten von Nordamerika, zu denen die gewaltsamen Maßregeln, die im Gefolge solcher Principien auftreten, den Anlaß gaben
Die im Jahre 1793 errungenen Siege der Coalition wurden durch die Niederlagen des Jahres 1794 gänzlich ausgewogen.
England durch
seine Gesandten in Petersburg und Wien Lord Charles Whitworth'und
Sir Morton Eden unterhandelte wegen Erneuerung der AllianM vom
25. März und 30. August 1790.
Das russische Ministerium Oster
mann, Besborodko, Marcoff — und der Staatskanzler Baron Thugut,
damals seit dem Rücktritt und den im selben Jahr erfolgten Tod Kaunitz's
(27. Juni 1794), Minister der auswärtigen Angelegenheiten in Oester reich, gingen bereitwillig darauf ein, so kam der St. Petersburger Ver
trag zwischen Rußland und England am 18. Februar, Md der SBioter Vertrag zwischen Oesterreich und England vom 20. Mai 1795 zu Stande welche durch den in einer Erklärung Lord Whitworths von Petersburg 28. September 1795 enthaltenen Beitritt Großbritanniens zu der zwischen
Oesterreich und Rußland bestehenden
Verbindung zu einer förmlichen
Truppen-Allianz umgestaltet wurden.
Garantie der gegenseitigen Besitz
ungen, bewaffnete Hllfe im Falle eines Angriffes und Wiederherstelluns
18*
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.
276
des Friedens und der Ruhe in Europa waren die ausgesprochenen Ziele dieser Verträge.
Inzwischen aber war die erste Coalition schon in der Preußen hatte am 5. April, Spanien am 22. Juli
Auflösung begriffen.
1795 zu Basel seinen Separatfrieden mit der Republik geschloffen, Sar dinien folgte mit dem Pariser Frieden am 15. Mai 1796.
So trat ein
Staat nach dem andern aus der Waffenbrüderschaft und aus dem System
der Handelssperre gegen Frankreich.
Oesterreich allein hielt noch das
Schwert in der Haud, denn Rußland, ungeachtet der Allianz, begnügte sich ein Geschwader in die Nordsee zu senden, das man eben dort, nicht
sehr nöthig hatte. Mantuas
Der italienische Feldzug vom Jahre 1796, der Fall
am 2. Februar 1797 und
das unaufgehaltene Vordringen
Bonapartes von Süden her, führte nun aber auch Oesterreich zudem
Präliminarfrieden von Leoben — 1797 — und zum Friedensschluß von Campo formio — 17. October 1797. — Paul I. aber folgte anfänglich
der Politik seiner großen Mutter, indem er bei aller Parteinahme gegen Frankreich voll thätigem Eingreifen in den Kampf sich fern hielt und nur die Handelssperre gegen die Republik fortbestehen ließ, dabei sollte jedoch
die
Einfuhr
von ftanzösischen Weinen,
Sardellen und gewissen holländischen
Provenceröl,
Kapern,
Waaren auf neutralen Schiffen
gestattet sein. — Zwei Ukase vom 22. Januar 1797. — Werden die Beziehungen zweier Staaten
zumeist durch die Welt
lage und ihre Verhältnisse zu dritten Mächten bestimmt und kann demMch eine Skizzirung und ein Verständniß jener Beziehungen ohne Rück-
sichtnahme auf diese Verhältnisse nicht statt finden, so ist dieß um so mehr in einer Zeit der Fall, wo gewaltige
historische Ereignisse ihren Rück
schlag auf alle Staaten und ihre Beziehungen äußern.
Auch für unsere
Zwecke müssen wir demnach, sollen wir ein klares Bild der Stellung Oesterreichs zu Rußland, während
der französischen Republik und des
ersten Kaiserreiches gewinnen, die allgemein europäischen Verhältnisse im Auge behalten. Deßwegen die scheinbare Abweichung von unserem Gegen
stände. Mannichfalttge Gründe führten schon ein Jahr nach dem Frieden
von Campo Formio die zweite Coalitton gegen Frankreich herbei.
Das
gewaltsame Vorgehen der Republik in Italien und der Schweiz, die auf dem Rastatter Congreß sich ergebenden Schwierigkeiten, der Unwille der
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.
277
Pforte über die Ereignisse in Aegypten, vor. allem aber der Haß Eng lands und der durch die Einnahme Maltas wachgerufene Zorn des kai
serlichen Großmeisters der Johanniter, Paul's I., verbunden mit dem Sieg
Nelsons bei Abukir, durch welchen der Moment zum gemeinsamen Vor
gehen bezeichnet zu sein schien, müssen hier genannt werden.
Diesmal
aber sollte Rußland nicht unthäüg bleiben.
In Wien war bereits am 19. Mai 1798 zwischen dem Minister Baron Thugut
und
dem Gesandten des Königs
beider ©teilten ein
Allianz-Vertrag für den Fall eines Angriffes von Seiten Frankreichs geschlossen worden.
Oesterreich
und
Bald darauf begannen Unterhandlungen
Rußland
wegen
abermaliger
Erneuemng
Allianzen und wegen des Durchmarsches russischer Truppen.
zwischen
der
alten
Schon im
August 1798 war der geheime Vertrag geschloffen.
Im Gegensatz zu der früheren Politik des Hinhaltens war Paul I. nun der eifrigste Förderer der zweiten Coalition geworden. Am 29. Novbr.
1798
wurde
zu
St. Petersburg
von Beszborodko, Kotschubey
und
Rostopschin ein Allianzvertrag mit dem Herzog von Serracapriola dem
Gesandten Siciliens, am 23. December desselben Jahres zu Konstanti nopel zwischen dem russischen Gesandten Wassili Tamara und den tür
kischen Bevollmächtigten Esseid Ibrahim Jhmet, und Achmet Att der Vertrag mit der Pforte geschloffen, welche bereits am 12. September an
Frankreich den Krieg erklärt hatte.
Endlich am 29. December 1798
schloß Lord Whitworth den formellen Allianz-Vertrag zwischen England
und Rußland mit dem genannten russischen Ministerium ab.
Zurück
führung Frankreichs auf seine alten Grenzen, wie sie vor der Revolution
bestanden, wurde als Zweck des Bündnisses bezeichnet, 45,000 Mann
russische Truppen sollten sich mit der Armee Preußens, dessen König man für die Coalition zu gewinnen hoffte, zu gemeinsamen Operationen ver einigen, und England versprach die erforderlichen Subsidien zu zahlen. Allein Preußen blieb der seit dem Baseler Frieden gewahrten ReutraliM
getreu. Ein späterer russisch-englischer Vertrag vom 22. Juni 1799 setzte
die Cooperation beiderseitiger Truppen in Holland fest und eine weitere Convention vom 29. Juni bestimmte, daß bei dem Umstand, daß der
König von Preußen die Neutralität aufzugeben nicht zu bewegen sei, die
278
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.
im Vertrag vom 29. November 1798 erwähnten 45,000 Mann auch anderwärts als im Vereine mit Preußen gegen Frankreich agiren sollten. Auch
Machado,
mit dem Gesandten
wurde
am
Portugals,
28. September
dem Herm
von
Horta
1799 ein Freundschafts- und
Allianzvertrag vereinbart.
Unterdessen hatte der Krieg im November 1798 in Neapel, im Früh
jahre 1799 in Deutschland begonnen.
60,000 Mann Russen waren im
December 1798 über die galizische Grenze gegangen.
Suworow führte
sie im April nach Jtalim, vereinigte sich mit der österreichischen Armee, welche inzwischm unter Krug erfolgreich gekämpft hatte, und übemahm am 16. des genannten Monats den Oberbefehl
über
die gesammten
österreichisch-mssischen Tmppen in Italien. Der Feldzug der vereinigten Armeen war ein glänzender.
Leider
daß die guten Beziehungen der Alliirten das Jahr nicht überdauerten
und ein unglückliches Ende den glänzenden Beginn zu nichte machen mußte. Eifersüchteleien zwischen den. Tmppen und Regiemngen gaben den Anlaß
zur Spaltung.
Die
österreichischen Heerführer
mochten
nur
ungern dem Oberbefehl Suworows sich fügen; daß Oesterreichs Einfluß
in der Schweiz zu mächtig werden könnte, ward von Rußland, daß die Anwesenheit mssischer Truppen das Ansehen
Oesterreichs
schmälern möchte, ward von Oesterreich gefürchtet.
in Italien
Man kam zwar int
September 1799 überein, daß um Reibungen zu vermeidm, die Russen
unter Suworow und Korsakow, etwa mit einem kleinen österreichischen Corps in der Schweiz, hingegen die Oesterreicher allein in Italien streiten sollten; aber eben die dazu erforderlichm Tmppenmärsche benutzte Massma,
um die Truppen beider Mächte aus der Schweiz zu drängen, und die Einnahme Anconas, das obwohl durch die vereinte österreichisch-russisch-
üttkische Macht erobert, von dem österreichischen General Fröhlich doch nur für seinen Monarchen in Empfang genommen wurde, steigerte die beginnende Erbitterung Pauls I. gegen Oesterreich, aller angewandtm Versuche, das Mißverständniß
zu heben ungeachtet, auf das höchste.
Der in dieselbe Zeit fallende unglückliche Ausgang der Expedition in
Nordholland ließ auch die Freundschaft des Zaren für England «falten.
Im Januar 1800 wurdm die mssischen Corps zurückbemfeu und auch die zweite Coalition war getrennt.
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.
279
Oesterreich setzte den Kampf während des Jahres 1800 gegen den aus Aegypten wunderbar zurückgekehrten Napoleon in Italien und gegen Moreau
in Deutschland fort. Doch verniochten die Gelder Englands, mit welchen am 20. Juni ein Anlehens-Vertrag war abgeschlossen worden, den Abgang der russischen Truppen nicht zu ersetzen. Bereits im Juli begannen Waffen stillstandsunterhandlungen und am 9. Februar von Lnneville geschlossen.
Hatte die engere Verbin
Hofes ein gänzlicher Umschwung eingetreten.
dung
1801 ward der Friede
Inzwischen war in der Politik des russischen
mit Oesterreich eine Entfernung von Preußen zur Folge gehabt,
das seit dem Baseler Frieden mit Oesterreich in gespanntem Verhältnisse
staub, so führte der Bruch mit letzterem zu engerem Anschluß an ersteres.
England, vor Kurzem noch Pauls I. treuester Bundesgenosse, ward nun
von diesem bitter gehaßt.
Den nordischen Mächten suchte er sich wieder
zu nähern und die Gnmdsätze der bewaffneten Neutralität, welche Katha
rina II. und er selbst gegen Frankreich vielfach verletzt hatten, zum Nachtheile Englands wieder zu beleben. Bereits im August 1800 begannen die diesfälligen Unterhandlungen
Rußlands mit Schweden, Dänemark und Preußen, als deren Resultat
die mit den Vertretern dieser drei Mächte, dem Baron Stedingk,. Niels Rosenkrantz und Graf von Lust am 16. und 18 schlossenen Verträge
der sogenannten
zweiten
December 1800 abge
bewaffneten Neutralität
angesehen werden müssen, welche dadurch, daß jede einzelne der vier Mächte den Verträgen der übrigen drei beitrat, den. Charakter einer
Quadrupel-Allianz annehmen,
auf die
wir jedoch mit Rücksicht auf
unseren Gegenstand hier nicht näher eingehen können.
Graf Rostopschin,
welcher damals an der Spitze des Collegiums der auswärtigen Angele
genheiten in Rußland stand, hatte die Uilterhandlungen geleitet.
Wie
diese Verträge fast zum Kriege zwischen England und Rußland geführt haben, wie aber nach dem am 25. März 1803 erfolgten Tode Pauls I.
gleichwohl die Schwierigkeiten durch die mit dem Grafen Panin unterhan delte
Seeconvention vom
17. Juni
1801
zwischen
Georg III. und
Alexander I. beseitigt und wie durch diese Convention die Grundsätze der
bewaffnete^'Neutralität alterirt wurden, das liegt glei." falls außerhalb
der Grenzen unserer Betrachtungen.
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.
280
Wie Oesterreich zu Luneville,
so
schloß
Rußland
zu
Paris am
8. October 1801, England zu Amiens am -H März 1802 mit Frankreich Frieden. Damals begann des russische Kabinet mit Beziehung auf das ver wandtschaftliche Verhältniß der Zaren zu der regierenden Famllie Wür-
tembergs und Badens unter dem bescheidenen Titel eines Vermittlers im Vereine mit Frankreich auf die Geschichte Deutschlands einen entschei denden Einfluß auszuüben, ohne daß es dem Grafen Franz Colloredo,
welcher nach dem Rücktritt Thugüts
kurz vor dem Luneviller Frieden,
die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten in Oesterreich übernommen hatte, gelungen wäre, diesen Einfluß dritter Mächte auf ein geringeres Maß zurückzuführen und den des deutschen Kaisers aufrecht zu erhalten. Dies kam folgendermaßen. schen
Reichsversammlung
zu
Die Artikel 5 und 7 des von der deut Regensburg
mit
Reichsgutachten
vom
7. März 1801, rücksichtlich der auf Deutschland bezüglichen Angelegen
heiten, genehmigten Luneviller Friedens enthielten Bestimmnngen über die Entschädigung des Großherzogs Ferdinand III. von Toskana in Deutsch künd für seine an den Herzog von Parma abgetretenen
italienischen
Staaten und über die Entschädigung jener erblich regierenden Häuser
Deutschlands, welche durch die Abtretung des linken Rheinufers an Frank reich zu Schaden gekommen waren.
Die Art dieser in Deutschland selbst
zu suchenden Entschädigungen, welche demnach nur durch Sekularisation
zu erreichen waren, blieb besonderem Uebereinkommen Vorbehalten.
Schon mit Commissionsdecret vom 3. März 1801 forderte Kaiser
Franz die Reichsversammlung auf, sich über die Art
zu
äußern, in
welcher die Reichsstände an dieser zur Vollendung des Friedenswerkes
erforderlichen Verhandlung mitwirken wollten und am 30. April beschloß hierauf der Reichstag den Kaiser zu ersuchen, die gänzliche Berichtigung des Reichsftiedensschluffes einzuleiten und von der Festsetzung und Berich
tigung die aus der Einleitung sich ergebenden Resultate, dem Reich zu einer neuen Berathung, deren Ergebniß zunächst der kaiserlichen Rati fikation vorzulegen sein werde, mitzntheilen.
Mag auch dieser Beschluß, welcher die Entschädigungsfrqge zunächst
in die Hände des Kaisers legte, dm Wünschen Preußens und Baierns wenig entsprochen haben, da diese von vom herein ihre Einflußnahme
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.
281
auf den Gang der Verhandlung sich gewahrt wissen wollten, und fürchten mochten vor dem Fomm des Kaisers, der mit Friedrich Wllhelm in.
auf schlechtem Fuße stand und seinen Bruder, den Großherzog mit zu entschädigen hatte,
zu kurz zu kommen : dennoch würde die Hauptver
mittlerrolle dem Reichsoberhaupt zugefallen sein, die Fürstm des Rei ches hätten bei dem Umstande, daß Frankreich den Frieden mit Ruß
land einer- und mit England andererseits noch nicht geschloffen hatte, nicht des französischen Cvnsuls und des russischen Zaren Vermittlung
zur Regelung der Entschädigungsfrage angerufen, und fremde Einmischung
in die deutschen Angelegenheiten wären vermieden^ worden, wmn der Kaiser den Ordonnanzen vom 30. April rasch seine Zustimmung ertheilt und die Ordnung und Zutheilung der zur Entschädigung bestimmten Gebietstheile sogleich kräftig in die Hand genommen hätte.
Allein das österreichische Kabinet zögerte nicht nur und gönnte dem Auslande Zeit, nach allseitigem Friedensschlüsse in die deutschen Händel
sich einzumischen, es faßte auch einen Entschluß, der, statt den Einfluß
des Kaisers zu heben, ihn geradezu untergraben mußte.
Man mochte
vielleicht erwartet haben, der Reichstag werde, so wie er den Abschluß
des Luneviller Friedens von Seite des Kaisers im Namen des Reiches billigte, dem Reichsoberhaupte auch zur Ausführung desselben und zur Regelung der Entschädigungen unumschränkte Vollmacht ertheilen;
da
nun dies nicht geschah, so übersah man auch die noch immer großen
Vortheile, welche im Anträge des Reichstages lagen, wies denselben zu
rück, ertheilte mit Hosdecret vom 26. Juni der Mitwirkung des Kaisers
in der gewöhnlichen Form der Reichsberathung seinen Beifall und hob ausdrücklich hervor, daß auch Frankreich, welches den Luneviller Friedm
geschloffen, bei dessen Ausführung mitzuwirken habe. Kaiser Franz gab durch diese Entschließung allerdings seine Un eigennützigkeit
und Unparteilichkeit kund,
so
wie
den Eifer
den im
Luneviller Frieden gegen Frankreich übernommenen Verpflichtungen ge recht zu werden, allein das Kabinet, welches dem Kaiser dieselbe empfahl,
beging einen politischen Fehler,
dessen Folgen nicht ausbleiben konnten.
Daß die Reichsversammlung unter sich mit der Entschädigungsfrage
nicht zu Ende kommen würde, lag auf der Hand; hatte doch der schwer fällige Organismus derselben in Dingen, bei welchen die Interessen der
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und' Rußland.
282
Reichsstände bei weitem so lebhaft nicht betheiligt waren, die Erledigung
ins Unendliche verschleppt.
Hier war eine kräftige Hand nothwendig,
um Ordnung in das Chaos zu bringen. Die Reichsversammlung sah dies selbst ein und beschloß,
Gang der Verhandlung wenigstens etwas zu beschleunigen,
um den
die Ent
schädigungsfrage durch eine außerordentliche Reichsdeputation verhandeln zu lassen. —
Diese sollte aus vier Mitgliedern des Kurfürstencollegiums
Sachsen,
Mainz,
und aus vier des
Böhmen, Brandenburg —
Fürstencollegiums — Baiern, Würtemberg, der Großmeister des deutschen Am 7. November 1801 geneh
Ordens und Hessen-Kassel — bestehen.
migte der Kaiser diesen Beschluß, ohne jedoch vorläufig Ort und Zeit für
die Zusammenkunft der Reichsdeputation festzusetzen.
Inzwischen hatten Frankreich und Rußland Frieden geschloffen und Graf Marcoff ging als Gesandter Alexander's I. nach Paris.
Schon
hatte der Kurfürst von Baiern in seinem Partikularfrieden mit Frank
reich vom 24. August 1801
ments
bei
der
im
den Einfluß des französischen Gouverne
Luneviller Frieden
angelegenheit für sich in Anspruch Staaten Deutschlands,
vorgesehenen
genommen.
Entschädigungs
Und
nun eilten alle
welche Entschädigung anzusprechen hatten,
Mtwirkung Rußlands oder Frankreichs bei dem zu ihren Gunsten sich zu versichern.
der
Entschädigungswerke
Besonders lebhaft wurden hierauf
bezügliche Verhandlungen seit dem Beginne des Jahres 1802 in Paris geführt, zwischen deutschen Fürsten und Ständen einer-, dann dem fran zösischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Talleyrand und dem
Chef des
deutschen
Departements
Mathieu, andererseits.
dieses
Ministeriums,
dem Bürger
Graf Marcoff nahm an diesen Unterhandlungen
lebhaften Antheil und selbst Oesterreich stand anfänglich denselben nicht ganz fern.
Wir können auf einzelne dieser Negotiationen hier nicht eingehen: am
4. Juni
1802
ward
zu Paris
zwischen
der
französischen und
russischen Regierung, welche die ihnen nahe gelegte Vermittlerrolle mit Eifer ausgenommen hatten, eine
förmliche Convention über die Ent
schädigungen in Deutschland geschloffen, da nach ihrer Ansicht eine mäch-
ttge auswärtige Jnterventton das einzige Mittel war,
Werk friedlich zu vollenden.
das schwierige
Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.
283
In Folge dieses Vertrages wurden dann am 16. Juli 1802 zu
St. Petersburg von dem Fürsten Kurakin und am 6. August desselben Jahres zu Paris von Talleyrand zwei gleichlautende Erklärungen unter
zeichnet, welche einen ausführlichen Plan über die deutschen Entschä digungen
enthielten und
der
inzwischen mit Commissionsdecret vom
23. Juli 1802 von Kaiser Franz nach Regensburg berufenen Reichs deputation am 18. August von Laforest, welchen Napoleon an die Reichs deputation entsendet hatte, und Herrn von Klupffell, dem russischen Ge
sandten am Reichstag, als Grundlage ihrer Verhandlungen überreicht
wurde.
Vorsitzender der Reichsdeputation war der österreichische Bevoll
mächtigte Baron Hügel, von Seiten Rußlands intervenirte später noch der
Gesandte des Zaren am kurfürstlichen Hof von Baiern, Freiherr von Buhler.
Auf Grundlage der obigen Erklärungen kam endlich nach mehr
fachen Modifikationen und Zusätzen, welche durch Reclamationen der Interessenten veranlaßt wurden, am 25. Februar 1803 der Reichs
deputationshauptschluß zu Staude.
Ehe jedoch das Reichsgutachten vom 24. März 1803, mit welchem dasselbe dem Kaiser vorgelegt wurde, von letzterem am 27. April war
ratificirt worden, hatten sich die Stände zum großen Theile schon in
ben Besitz der ihnen von den vermittelnden Mächten zugedachten Ge biete gesetzt.
Auch die Entschädigung des Großherzogs von Toscana und des Herzogs von Modena war in Paris am 26. Dezember 1802 zwischen
dem österreichischen Gesandten Graf Philipp Cobenzl, Joseph Bonaparte
und Graf Marcoff vereinbart und dann in den Reichsdeputattonshaupt schluß ausgenommen worden.
So war Rußland in Deutschland mächttg geworden.
VMsmrthschafüiche Sriefe aus Deutschland. Berlin, den 20. Februar 1865.
Unser Abgeordnetenhaus hat sich in drei langen Sitzungen mit der
„socialen Frage" beschäftigt; die Veranlassung dazu bot ein von dm Abgeordnetm Schulze-Delitzsch und Dr. Faucher eingebrachter Antrag auf
Annahme eines Gesetzentwurfs, welcher die §§. 181 und 182 der allge
meinen Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 aufzuheben bestimmt ist. Die ftühere preußische Gewerbegesetzgebung, wie sie im Zusammenhang mit den großen Stein-Hardenbergischen Reformen in's Leben genifen
wurde, beruhte bekanntlich
auf dem Princip der Gewerbefteiheit; die
Restaurationspolitik, welche unter der Regierung Friedrich Wilhelms IV.
den preußischen Staat durch Wiederbelebung seiner corporativen Gliede rung gegen die Stürme der Zeit in sich zu befestigen versuchte, ließ auch
die gewerblichen Zustände nicht unberührt.
Es kam ihr auf diesem Ge
biete ganz besonders darauf an, den Handwerkerstand, der durch die
„zügellose Gewerbeftechheit" — so lautete das betreffende Schlagwort — „aus Rand und Band gekommen" war, wiederum zu „organisiren" und
„mit corporativem Selbstgefühl" zu erfüllen. Der Handwerkerstand sollte
einerseits gegen das Großgewerbe, andererseits gegen das Arbeiterprole tariat abgeschlossen und in sich selbst durch Jnnungsverbände gegliedert werdm. Im weiteren Verlaufe der Entwickelung, so hoffte man, würdm dan« diese Corporaüonen mit politischen Rechten bewidmet und dadurch
für
eine ständische
können.
Verfaffung
solide
Grundlagen
gewonnen werden
Das neunzehnte Jahrhundert erwies sich jedoch als ein sehr
undankbarer Boden für dergleichen romantische Ideen.
Es kann nicht
geläugnet werden, daß viele „kleine Handwerker", welche ohne Mldung
Bolkswirthschaftliche Briefe aus Deutschland.
285
und Besitz unter der Concurrenz der großen Industrie dahinkümmerten,
die von oben her mit bekannter Vorliebe gepflegten Ideen, mit mehr Eifer freilich als Einsicht, ergriffen, und in den politisch bewegten Tagen
der Jahre 1848 und 49 wurde neben
dem unklaren und ungestümen
Verlangen nach politischer Freiheit der Ruf nach Zunft und Zunftzwang
gerade aus diesen Kreisen heraus am lautesten gehört.
Von conserva-
tiver Seite wurde daraus mit Emsigkeit politisches Kapital gemacht; es wurde sogar im Jahre 1849 eine Novelle zur Gewerbeordnung octroyirt, welche „Gewerberäthe" einsetzte und diesen die Wahrung der Interessen
des Handwerkerstandes anvertraute. Lange hielten indessen die in Betreff
dieser Einrichtung gehegten Illusionen nicht vor; unter allgemeiner Gleich gültigkeit ist dieselbe, ohne daß es einer gesetzlichen Aufhebung bedurft hätte, in sich selber zusammengebrochen.
Die Fünftiger Jahre brachten
im Schooße des Handwerkerstandes eine gründliche Wandlung der Auf
fassungen zu Wege; er erfüllte sich mehr und mehr mit deni Gedanken, daß er nur durch das Mttel der Selbsthilfe und zwar, wo die ver
einzelte Kraft zu schwach erschien, der genossenschaftlichen Selbst hilfe zu einer Besserung seiner socialen Lage zu gelangen
vermöge.
Während die konservative Partei sich in unfruchtbaren Versuchen abmühte,
die Verfassung des Staates im ständischen Sinne zu revidiren — nur
das Herrenhaus ist als ein bleibendes Denkmal jener Tage auf uns ge kommen — machte das Bürgerthum eine gründliche volkswirthschastliche
Schule durch und klärte sich von jenen Elementen, die weniger durch eigene Arbeit als
Stellung innerhalb
durch Ausbeutung der Innung
der Vortheile, welche Amt und
gewähren,
emporzukommen bestrebt
waren. Die allgemeinen Wahlen der Jahre 1858 und 1861 zeigten, daß der Handwerkerstand, die eben characterisirten Ausnahmen abgerechnet,
fest zur liberalen Partei stand.
Das Bündniß der conservativen Partei
mit dieser verschwindenden Minderheit des Bürgerthums ist zwar noch
nicht gelöst; es hat sich dasselbe aber als ein völlig unfruchtbares er wiesen.
Die liberale Partei verfügt seit jenen Wahlen über die Mehr
heit des Abgeordnetenhauses; sie hat zu verschiedenen Malen Versuch«
gemacht, zu einer gründlichen Reform der Gewerbegesetzgebung die Jnitiattve zu ergreifen,
ohne daß es indessen wegen äußerer Hindernisse zu
einer förmlichen Annahme der in das Haus eingebrachten Gesetzentwürfe
286
Volkswirtschaftliche Briefe auS Deutschland.
gekommen wäre; auch die Regierung hat ihrerseits das Bedürfniß einer solchen Reform nicht in Abrede gestellt. Es liegt auf der Hand, daß nach einer so gründlich vollzogenen
Klärung der Ansichten die conservative Partei aus der Begünstigung zünstlerischer Bestrebungen kein politisches Capital mehr machen kann. Der Handwerkerstand hat sich in eine überwältigende Mehrheit, die es
mit
der Gewerbefteiheit und mit der liberalen Partei hält, und in
eine verschwindende Mnderheit geschieden, welche auf Zunftzwang hin» arbeitet und deswegen bei den politischen Wahlen mit der conservativen
Partei stimmt. Für die letztere Partei ist aus einer weiteren Protection der Herren Panse und
Genossen
keine
weitere Verstärkung zu
er
warten; sie hat sich daher in neuester Zeit ein anderes Feld ausgesucht, wo sie ihrm WeiM blühen zu sehen hofft, und sich auf die „Arbeiter frage" geworfen.
Wie sie einst den dritten Stand zu „organisireu" und
dadurch ihrm Plänen dienstbar zu machen versuchte, bis dieser, über seine wahren Interessen aufgeklärt, ihr kalt den Rücken wandte, so versucht sie jetzt, dem vierten Stande,
der arbeitenden Klaffe, es plausibel zu
machm, daß er sich „organisiren" müsse, um von der erdrückenden Wucht der Bourgeoisie nicht gänzlich zerquetscht zu werden. In Betreff der Or
ganisation des dritten Standes konnte die conservative Partei ihre Ar
muth an Ideen mit den malerisch aufgebauschten Bannem unserer chr-
würdigen Zünfte noch einigermaßen bedecken; aber für die Organisation des vierten Standes fehlt ihr jeder historische Anknüpfungspunkt.
Sie
hat sich daher darauf beschränkt, bei der „Socialdemokratie" neuesten
Datums eine Anleihe zu machen, obwohl diese ihr ganz offen erklärt hat, sich gelegentlich den gemachten Vorschnß nebst Zins und Zinseszins
zurückznfordern.
Wir in Deutschland haben lange Zeit in dem Glanben
gelebt, daß die sociale Frage,
welche die Vierziger Jahre mit ihren
phantastischen Lösungsversuchen in Aufregung erhielt, kein anderes Problem sei, als jenes Ideal zu verwirklichen, welchem die Menschheit in chrer geschichtlichm Entwickelung seit Anbeginn der Tage nachstrebt, und daß
die Ueberzeugung
davon zu
wenigsten fördern heiße.
verbreiten die
sociale
Frage nicht ant
Diese Auffassung leitet uns zwar auch hmte;
wir find indessen durch die Erfahrungen der letzten Jahre belehrt wor
den, daß man hier und dort noch anders darüber denkt, und so spielt
sich denn gegenwärtig auf deutschem Boden ein matter Epilog zu dem
socialen Drama von 1848 und 49 ab. — Die genossenschaftliche Bewegung hatte in Deutschland sich über den Handwerkerstand hinaus auch auf jene
Schichten der Gesellschaft ausgedehnt, welche man gemeinhin mit dem Namen der „arbeitenden Klassen" zu belegen pflegt, auf jene unselbststän
digen Gewerbtreibenden, welche in größeren industriellen Etablissements
auf Tagelohn oder in Accordarbeit beschäftigt sind.
Während es inner
halb des Handwerkerstandes darauf ankam, eine in ihrer Existenz ge fährdete gewerbliche Selbstständigkeit vor dem Untergang zu bewahren
und dadurch einen gediegenen Mittelstand zu erhalten, handelt es sich, in
Betreff der arbeitenden Klaffen darum, den Weg zu finden, auf welchem
wenigstens eine ideale Selbstständigkeit sich erringen läßt, d. h. darum die Arbeiter zu ihren eigenen Unternehmern zu machen.
Es ist dies
eine der schwierigsten Aufgaben, welche jemals an die Gesellschaft heran getreten sind.
Es steht geschichtlich fest, daß ein Arbeiterstand, wie er
hier in Frage kommt, erst seit der Zeit sich entwickelt hat, wo es der
menschlichen Einsicht gelang, die Kräfte der Natur sich machen; Maschinenbetrieb
und
trennbare Entwickelungsphasen.
Arbeiterstand sind
von
dienstbar
zu
einander un
Die moderne Industrie drängt immer
gewaltiger auf Ausdehnung der durch Maschinen geförderten Betriebs
weisen hin und dem entsprechend wächst der Arbeiterstand täglich an Zahl und Macht und drückt den Handwerkerstand in den Hintergrund. Wenn diese Entwickelung der Industrie sich nun auch nicht hemmen läßt, ja,
wenn es selbst nur Wenige giebt, welche sie hemmen möchten, so ist doch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, ihren Einfluß auf die socialen Zu stände zu brechen und einer Desorganisation der Gesellschaft vorzubeugen, wie sie z. B. Nom und Italien in der späteren Kaiserzeit erlebt haben
und wie sie von schwarzblickenden Socialphilosophen für England pro-
gnosticirt wird.
Wer dieses Problem zu lösen weiß, der wird dereinst
als der Reformator der modernen Gesellschaft gepriesen werden.
Wo
ein solcher Ruhm als Preis der Lösung winkt, da ist es wohl nicht wun derbar, daß Berufene und Unberufene mit ihren Rathschlägen hervor-
treten und schon im Voraus sich ihren Lohn von der Mtwelt erbitten. Bis auf die neueste Zeit hat nun der deutsche Arbeiterstand sich in po litischer Beziehung stets zur liberalen Partei gehalten, well er in dieser
288
BolkSwirthschaftliche Briefe aus Deutschland.
die Vorkämpferin für seine eigenen Rechte und Freiheiten erblickte; die conservütive Partei stand ihm schon in geschäftlicher Beziehung fern und
für die politischen Bestrebungen derselben fehlte ihm vollends jedes Ver
ständniß; er vertraute mit gläubigem Gemüth auf die von den Führem der liberalen Partei ihm in Aussicht gestellte Beffemng seiner socialen Lage durch die genossenschaftliche Selbsthilfe.
In Consum- und Sparvereinen
suchte er sich allmählich in den Besitz des nöthigen Capitals, in Arbeiter bildungsvereinen in den Besitz der nöthigen Bildung zu setzen, um schließ lich durch Begründung von Productiv-Associätionen sich aus der
Mhängigkeit von den Herren" zu befreien und sein eigener Unternehmer
zu werden.
In diesen ruhigen Entwickelungsgang griff die politische
Agitation ein.. Lassalle warf der Fortschrittspartei, nachdem diese seine
politischen Rathschläge von sich gewiesen hatte, den Fehdehandschuh hin
und versuchte es
den vierten Stand
zu einer
politischen Partei zu
organisiren, zwischen welcher und der conservativen Partei wie zwischen zween Mühlsteinen die mittleren Parteien zerrieben werden sollten.
Mit
Hllfe des allgemeinen gleichen Wahlrechts, so wurde den Arbeitem vor-
demonstrirt, würde man eine Volksvertretung zu Stande bringen, welche die Interessen des vierten Standes in ganz anderer Weise wahrnehmen
würde wie die „Bourgeois"
der Fortschrittspartei.
Es würden der
StaatSregiemng die nöthigen Mttel, 100 Millionen Thaler und mehr,
bewilligt werdm,
um
den
Productiv-Associätionen der Arbeiter, die
überall begründet werden würden, die nöthigen Betriebscapitalien vorznschießen, und damit wäre dann die sociale Frage gelöst.
tionen, so geringfügig sie auch in ihren
Ergebnissen
Diese Agita
waren, wurden
democh von der conservativen Partei mit schlecht verhehlter Schaden freude begrüßt; ja sie betheiligte sich schließlich ganz offen an denselben und proclamirte es Äs die Aufgabe des preußischen Königthums, sich
der bedrückten Arbeiter gegen ihre harten Herren anzunehmen. Auf den Rath des
Mnisterpräsidenten von Bismarck wurde
eine
Deputatton
schlesischer Weber aus dem Kreise Waldenburg beim Könige vorgelaffen
um in einer, wie es heißt, von Laffalle abgefaßten Adresse ihre Klagen an den Stufen des Thrones niederzulegen; ja es wurden aus der könig
lichen Schatulle denselben Webern Gelder zur Begründung einer Productiv-Association überwiesen.
Eine amtliche Untersuchung der in der
289
Volkswirthschaftliche Briefe aus Deutschland.
Waldenburger Adresse enthaltenen Beschwerden hat ergeben, daß dieselben größtentheils unbegründet gewesen sind.
Lassalle's jäher Tod beraubte
die „Socialdemokratie" ihres Führers; die Leitung der Agitation ist in die Hände von Personen übergegangen, welche sich in geistiger Beziehung mit dem Verfasser „Herakleitos' des Dunklen" und des „Systems der
erworbenen Rechte" nicht entfernt zu messen vermögen. Inzwischen waren
Stimmen
aus
der
Mtte
des
Arbeiterstandes
heraus
laut geworden, welche, ganz abgesehen von dem allgemeinen
gleichen Stimmrecht gewisse praküsch realisirbare Forderungen desselben betonten.
Die gedrückte Lage des Arbeiterstandes, so führten sie aus,
rühre zum großen Theile davon her, daß der Arbeiter durch die bestehende
Gesetzgebung
verhindert sei, mit dem Arbeitgeber über die Höhe des
Lohnes in nachdrücklicher Weise zu verhandeln.
Stelle der einzelne Ar
beiter eine erhöhte Forderung, so werde er entlassen und gerathe in
Roth, ohne daß die anderen Arbeiter einen Vortheil davon hätten; denn
die Lücke, welche die Arbeitseinstellung eines Einzelnen in der Gamitur
mache, werde leichtersetzt; gemeinschaftliche Arbeitseinstellungen auf Ver abredung aber seien (Gewerbeordnung, § 182) mit Gefängnißstrafe bis zu einem Jahre bedroht.
Nur wenn diese Strafbestimmung aufgehoben
und den Arbeitem das Coalitionsrecht gewährt werde, sei auf die Er zielung eines gerechteren Verhältnisses des Arbeitslohnes zum Gewinn
des Unternehmers zu rechnen.
In
England bestehe
freiheit schon seit Jahren ohne Schaden für
die Coalitions-
die öffentliche Ordnung
und in Frankreich sei sie gerade in der letzten Zeit den Arbeitem neu
verliehen worden.
— Dieser Darstellung lassen sich keine stichhaltigen
Argumente entgegenstellen,
es sei denn,
Folgen von dergleichen gemeinsamen
daß man über die schließlichen
Arbeitseinstellungen nicht so san
guinisch denkt, wie diejenigen es thun, welche sie als Mttel zur Erzielung höherer Löhne empfehlen.
Im Uebrigen war auch schon in dem letzten Ge
werbegesetzentwurf, welchen die Fortschrittspartei in das Haus der Abgeord
neten eingebracht hatte, die Aufhebung des §. 182 der Gewerbeordnung
enthalten gewesen, und da die Arbeiter auf dieselbe als eine unabweisliche Forderung der politischen Gerechtigkeit drangen, so brachten die Ab geordneten Schulze-Delitzsch und Dr. Faucher in der laufenden Session
einen dahin zielenden Gesetzentwurf in das Abgeordnetenhaus ein.
Nordische Revue, in. 3. Heft. 1865.
Die
500
Volkswirtschaftliche Briefe ou8 Deutschland.
Debatten über diesen Gesetzentwurf haben über die Stellung der politischen
Parteien Mr socialen Frage interessante Streiflichter verbreitet.
Die
liberale Partei ist gegen jede Intervention des Staates und von diesem Gesichtspunkte aus auch gegen ein vom Staate geschirmtes Verbot der
Arbeitercoalitionen, sie erwartet, daß die Arbeiter, durch die Ausübung
des Coalitionsrechtes zu der Ueberzeugung gelangen werden, der Arbeits
lohn könne weder vom Arbeiter, noch vom Arbeitgeber einseitig be stimmt werden, und daß damit auch jener Argwohn schwinden werde, welcher die Arbeiter int Allgemeinen den Arbeitgebern gegenüber erfüllt.
Die Coalitionsfreiheit an und für sich sei ganz ohne Bedenken zu ge
währen; bedenklich sei nur die Agitation zur Erlangung derselben. Der Besitz des Coalitionsrechts werde zur moralischen Beruhigung weit mehr
als zu« materiellen Hebung des Arbeiterstandes beitragen; letztere sei nur
im Wege einer nachhaltigen Entwickelung des Genossenschaftswesens zu erzielen. — Die konservative Partei ist zwar auch für die Gewährung
des Coalitionsrechtes, aber nicht ohne eine gleichzeitige Regelung der Jntervmüon des Staates; ja, es scheint in der letzteren für sie das Haupt
motiv zu liegen, sich dieser Frage überhaupt anzunehmm.
Sie hat sich
die Sache so zmechtgelegt, daß bei Differenzen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern über die Höhe des Lohnes u. st w. der Staat als Schieds
richter austreten unt> dadurch
sowohl auf die Arbeitgeber wie auf die
Arbeiter auch in politischen Angelegenheiten Einfluß üben solle.
Die Ar
beiter wären in -korporativen Verbänden zu orgapisiren, wie z. B.> die
Knappschaften der Bergwerke, und diese Korporationen-, schließlich in die
politische Gliederung des Staates einzuordnen.
Diese Schablone ist, wie
man sieht, gerade nicht neu; mit denselben Phantasieen trug sich die kon servative Partei auch in Bezug auf den dritten Stand; jetzt soll der
vierte Stande „organifirt" werden!—Die Regierung hat durch den Mund des Handelsministers Grafen Jtzenplitz eine sehr gewundene Erklä
rung abgegeben, die sich gegen beide Auffassungen wendet, und eigenttich nur besagt, daß die Regierung noch picht wisse,
wie sie sich zu dieser
Frage, deren hohe Wichtigkeit sie übrigens nicht verkenne, stellen solle oder
daß sie doch die Zeit noch nicht dazu für angethan halte, um mtt einem
fertigen Programme hervorzutreten. Mit „positiven Mitteln" beabsichtigt
sie „die Genossenschaften der Neuzeit d. h. Vorschuß-, Consum-, Pro-
Volkswirtschaftliche Briefe aus Deutschland.
291
ductivvereine zu fördern; sie hat also zwar keine corporative Organisatton
des
Genossenschaftswesens im
Auge,
will aber andererseits auch die
Staatshilfe nicht geradezu ausgeschlossen wissen.
Da die Regierung, be
vor sie legislative Maßregeln trifft, zuvor noch eine Commission aus den
Betheiligten mit der Prüfung der ganzen Frage betrauen will, so wird der im Abgeordnetenhaus angenommene Gesetzentwurf, welcher die §§ 181
und 182 der Gewerbeordnung aufhebt, schon im Herrenhause unter dm
Tisch fallen, Letzteres wird vermuthlich in einer Resolution aussprechm, daß es
die etwa nöthigm
legislativen Maßregeln vertrauensvoll der
Initiative der Regierung anheimstelle.
Diese Vertagung der defimtivm
Entscheidung gewährt zudem der conservativen Partei für etwaige NmWahlen den Vortheil, die Gewährung des Coaliüonsrechts dem Arbeiter
stande als Preis für eine Sümmabgabe im conservaüven Sinne offerirm
zu können.—Am meisten von allmMnistern hofft wohl Herr v.Bismarck
aus einer geschickten Behandlung der Arbeiterfrage eine Stärkung der
Regierung hervorgehm zu sehen und sich im vierten Stande eine Stütze gegen den Parlamentarismus Heranzuziehm.
So interessant diese Expe
rimente auch sind, so wenig werden sie zu Erfolgen führen, well sie eben
von einem tiefen Mißverständniß der Ansichten und Absichtm sowohl des brüten, wie des vierten Standes Zeugniß ablegen und die Möglichkeit
voraussetzen, im Staate und mit dm positiven Mitteln des Staates eine Aufgabe zu lösen, welche eben nur im Laufe der geschichtlichen Entwicke lung
von
der
gesammten
menschlichen
Gesellschaft
gelöst zu werdm
vermag.
Zwei andere Gegenstände von hoher volkswirthschaftlicher Bedeutung
wurden aus polittschen Gründen vorläufig von der Tagesordnung des Mgeordnetenhauses entfernt, über den einm derselben, die Eisenbahn
vorlagen, habe ich schon in meinem letzten Briefe gesprochen. Es kann
hier nicht der Ort sein, die Motive näher darzulegen, welche im Schooße der liberalen Partei dafür geltend gemacht werden, daß das Abgeord
netenhaus, bevor nicht sein Budgetrecht anerkannt sei, keine außerordent lichen Credite, ja nicht einmal die Uebernahme vor» Zinsgarantieen be willigen dürfe, da mich dies zu weit auf das politische Gebiet hinüber
führen würde.
292
BoMtvirthschaftliche Briefe aus Deutschland.
Auch tn die Behandlung der Bankvorlage spielen politische Sym-
pathieen imb Antipathieen hinein. Unsere „preußische Bank" welche neben bei bemerkt, in diesem Jahre ihr hundertjähriges Jubiläum feiert —
sie wurde, am 17. Juni 1765 als königliche Giro- und Lehnbank geWet und am 2Q. Juni 1765 eröffnet — ist nach der Bankordnung vom 5. October 1846 nur berechtigt, im preußischen Jnlande Filialan
stalten zu errichten.
In der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 11.
Februar hat nun der Handelsminister Graf Jtzenplitz, der gleichzeitig
auch Chef der Bankverwaltung ist, einen Gesetzentwurf eingebracht, welcher die erwähnte Beschränkung aufzuheben bestimmt ist, so daß in Zukunft
die preußische Bank also auch außerhalb Preußens in deutschen Handelsplätzen Filialanstalten zu errichten berechtigt sein soll.
Es steht diese
Idee in einem leicht nachweisbaren Zusammenhangs mit den Machter
weiterungsplänen der preußischen Regierung in Bezug auf die Elbherzogthümer, die Absicht, eine Filialanstalt der preußischen Bank in Hamburg zu errichten, datirt übrigens aus einer viel frühern Zeit als die Bank-
vorlage.
Zwei preußische Bankbeamte, Herr Schayer aus Magdeburg
und Herr Fellingen aus Siegen, producirten, um beim Hamburger HandÄsgericht die Firma der Bankfiliale einregistriren zu lassen, eine Er-
Mächtigung des Grafen Jtzenplitz als Chefs der preußischm Bank; das
Hamburger Handelsgericht gewann jedoch aus der Einsicht der Bankord nung die Ueberzeugung, daß erst nach einer Abänderung derselben — die, weil die Bankordnung den Charakter eines Gesetzes an sich trägt, nur unter Zustimmung des preußischen Landtags zu Stande kommen kann — die Errichtung einer Filiale der preußischen Bank im Aus lande statthaft sei, beanstandete aus diesem Grunde am 10. Februar die
Eintragung in das Firmenregister und gestattete dieselbe am 11. Februar nur unter Vorbehalt des Nachweises, daß es zu einer solchen Abweichung
von der Bankordnung der Genehmigung des Landtags nicht bedürfe. Die an demselben 11. Februar dem Landtage gemachte Bankvorlage be
sagt in ihren Motiven aber ganz dürr, daß die preußische Bank nur im Jnlande Filialen zu errichten berechtigt ist, so daß es also der LaMag in
seiner Hand hat, das Project der Bankerweiterung durch seinen Wider spruch scheitern zu machen.
Es kann nicht verhehlt werden, daß die
hiesigen industriellen und commerciellen Kreise, deren Ansichten ja auch
Bolkswirthschaftliche Briefe aus Deutschland.
293
für die Generalversammlung der Meistbetheiligten der Bank maßgebend
waren, sich „mit Applaus", wie Graf Jtzenplitz bei der Einbringung der Vorlage hervorhob, für die von der Regierung beabsichtigte Maßregel
erklärt haben, der Landtag
hat aber höhere Pflichten- zu erfüllen, als
einem solchen „plausiblen" Projekte, so zu sagen, unbesehen seine Geneh
migung zu erthellen.
Es handelt sich dabei um poliüsche und volks-
wirthschaftliche Gesichtspunkte von der größten Tragweite und gewiß kann man deshalb den Beschluß des Abgeordnetenhauses vom 18. Febr. nur billigen, welcher diese Vorlage, die schon in der Schlußberathung begriffen
war, an die Fachkommission für Handel und Gewerbe zur Vorberathung zurückverwies und diese selbst um sieben Mtglieder verstärke. Die Gründe, welche der Handelsminister für die Beschleunigung der Berathung an
führte, sind in keiner Weise stichhaltig; ob die preußische Bank im Febmar
oder März 1865 eine Befugniß erlangt, welche sie, so lange sie besteht, — und das-sind doch genau hundert Jahre — noch niemals besessen hat, ist für die zukünftige Entwickelung des Instituts gewiß höchst gleich-
giltig, schwerlich hat auch gerade das Abgeordnetenhaus Veranlassung, blos
um der gegenwärtigen Regiemng die Beschämung abzukürzen, daß sie bei ihren Maßregeln ohne genügende Kenntniß der Landesgesetze vorge gangen ist, sich von der Verpflichtung zu dispensiren, die ihm gemachten
Vorlagen mit gewissenhafter GrüMichkeit zu prüfen.
Me Regierung
verlangt vom Landtage, daß er der preußischen Bank die Ausdehnung ihrer Geschäfte auf das Ausland gestatte, der Landtag ist daher in der
Lage, eine Gegenforderung stellen zu können, und diese sollte nach der Ansicht Bieler darin bestchen, zu verlangen, daß den bisher durch die Rormattvbedingungen vom 15. September 1848 so sehr eingeengten Pri
vatbanken ihre Fesseln gelüftet werden. Die Mottve der Regierungsvorlage besagen: „die engen Handels
beziehungen zwischen Preußen und den übrigen deutschen Staaten, die allgemeine Verbreitung der Noten der preußischen Bank in ganz Deutsch
land und das sich darin deutlich aussprechende Bedürfniß eines allge
mein gütigen Werthzeichens für den großen Handelsverkehr machen es dringend wünschenswerth, daß die preußische Bank, das bisher festge haltene und gesetzlich gebotene Princip der Abgeschlossenheit aufgiebt und
von der sich ihr ftüher oder später darbietenden Gelegenheit, durch Er-
294
Volkswirthschaftliche. Briefe auS Deutschland.
richtung von Walanstatten in ankern deutschen Staaten, ihre Wirksam kett über die Gränzen des engeren Vaterlandes anszudehnen, Gebrauch
machen könne."
Die Bankftage gewinnt von dieser Seite her eine noch
allgemeinere Bedeutung; es handelt sich darum, der Notencirculation
der preußischen Bank im Auslande gewissermaßen die gesetzliche Sanction zu ertheilen ; denn thatsächlich hat, wie die „Hamburger Börsenhalle" sehr
richtig bemerkt, „die preußische Bank binnen wenigen Jahren in der fried
lichsten Weise fast Mmerklich den Rang einer allgemeinen deutschen
Bank rücksichtlich der Notencirculation erobert und zur Geldcirculatiou in Deutschland eine ganz ähnliche hervorragende und mächtige Stellung gewonnen, wie die Bank von England und die Bank von Frankreich dem
Geldnmlauf ihrer Länder gegenüber einnehmen."
Die Notencirculation
in Deutschland hat sich bekannüich erst seit der Mitte der Vierziger Jahre entwickelt. - Im Jahre 1845 gab es an Staatspapiergeld — Oesterreich
außer Berechnung gelaffen — 25f Millionen Thlr. preußische und 4 Millionen Thlr. sächsische Kaffenanweisungen und außerdem etwa 7 Mil
lionen Thlr. Banknoten.
Bei der Umgestaltung der königlichen Bank
zu Berlin, welche gleichzeitig 10 Millionen Thlr. Privatcapital in sich
aufnahm, erhielt dieselbe im Jahre 1846 die Befugniß bis 21 Millionen Thlr. Banknoten zu emittiren. Das Jahr 1848 vermehrte die Papiergeldcttculation durch 10 Millionen preußischer Darlehnskaffeuscheiue und
mannichfache Emissionen von Staatspapiergeld in den kleineren deutschen Staaten.
Der Bedarf des Verkehrs nach papiernen Werthzeichen war
dadurch indeffen noch nicht beftiedigt; um das Jahr 1854 herum ent
standen, um diesem
Bedürfniß abzuhelfen, zahlreiche Zettelbanken in
Dessau, Sondershausen, Gera, Meiningen, Gotha, Weimar, Brannschweig, Bückburg, Darmstadt, Luxemburg u. s. w. u. s. w.; die meisten derselben
speculirtm auf den Mangel an papiernen Werthzeichen, der in Preußen bestand, und überschwemmten daher die preußischen Plätze mit ihren
Rötens für welche im natürlichen Laufe des Verkehrs nur sehr geringe
Aussicht war, an den Ort der Emission zur Einlösung zurückzukehren.
Diesem lucrativen Geschäfte setzte die preußische Gesetzgebung ein schnelles
Ziel, indem sie zuerst sämmtliches fremdes Papiergeld in Appoints unter
10 Thalern und darauf sämmtliche fremde Banknoten ohne Unterschied des Werthbetrages bei Strafe als Zahlungsmittel zu benutzen verbot.
BoMwirthschaftlich« Briefe aus Deutschland.
295
Gleichzeittg wurde zwischen der Regierung und der preußischen Bank 1856 ein neuer Vertrag abgeschlossen, welcher den Umlauf des Papiergeldes regelte.
Außer den bereits eingezogenen Darlehnskaflenscheinen wurden
weitere 10 Millionen Thlr. Kassenanweisungen eingezogen; dagegen wurde das Actiencapital der Bank auf 15 Millionen Thlr. erhöht und ihr zugleich die Befugniß zu einer unbegrenzten Notenemission (gegen Deckung
von einem Drittel in Edelmetall und des Restes in bankmäßigen Wechseln) bewilligt.
Seit der Zeit ist die Cirkulation der preußischen Banknoten
stetig gestiegen und hat die Notenemission der übrigen deutschen Bänken mehr und mehr überflügelt, so daß nur noch die Leipziger und Frank
furter Bank daneben genannt zu werden verdienen.
Der Notenumlauf
der preußischen Bank betrug 1856 (Ende April): 20,511,000 Thlr.; 1857 durchschnittlich: 60,092,000 Thlr.; 1858 durchschnittlich: 67,729,000
Thlr.; 1859 durchschnittlich: 75,268,000 Thlr.;
81,394,000.Thlr.; 1861
1860 durchschnittlich:
Minimum (15. März):
85,242,000 Thlr.;
Maximum (30. Juni): 103,846,000 Thlr.; 1862 Minimum (7. März): 96,902,000 Thlr., Maximum (7. Octbr.):
Minimum (23. März):
119,026,000 Thlr.; 1863
103,469,000 Thlr., Maximum (30. Juni):
126,493,000 Thlr., 1864 (30. Juni): 131,036,000 Thlr.
Eine solche
Zunahme des Notenumlaufs, bei völliger Freiheit der Annahme der Noten statt Münze in Zahlung, ist eben nur dadurch zu erklären, daß die preu
ßischen Banknoten, wie übrigens auch der Augenschein lehrt, in sämmt
lichen übrigen deutschen Slaaten gern in Zahlung angenommen werden, ohne daß der, welcher die Zahlung zu leisten hat, sich dabei einem Coursver
luste zu unterwerfen hätte.
Für den Bedarf der Reisenden giebt.es
eben kein bequemeres Zahlungsmittel als solide, keinen Valutaschwan
kungen ausgesetzte Banknoten. Für diesen thatsächlichen Zustand soll nun dadurch eine gesetzliche Gmndlage geschaffen werden, daß die preußische
Bank im Auslande Filialen errichtet, in welchen jeden Augenblick ihre Noten gegen baares Geld umgetauscht werden können. Wenn diese Maß
regel zur Ausführung gelangt, so wird die natürliche Folge davon sein,
daß die preußischen Banknoten in solchen Bankplätzen und deren Geschäftsrayons alle andern papiernen Werthzeichen von gleichem Betrage ver
drängen werden, daß die Notenemission eine noch viel schnellere Steige
rung als bisher erfahren und dadurch eine neue Vermehrung des Aktien-
286
Volkswirthschaftliche Briefe aus Deutschland.
capitals und des Einflusses der Bank bedingt werden wird.
Solchm
Eventualitäten gegenüber erscheint eine sorgfältige Erörterung des Ver hältnisses der preußischen Bank zu den ihr gegenüber sehr benachtheiligten
Privatbanken als ein upabweisliches Bedürfniß und steht demnach in unserem Abgeordnetenhause eine sehr interessante Debatte über die Bankftage in Aussicht; dieselbe ist um so mehr am Orte, als gerade gegen
wärtig in Frankreich eine Untersuchungscommission eingesetzt ist, um die Einwirkungen des Monopols der Bank von Frankreich auf den Geld
markt und den öffeMchen Credit in Erwägung zu ziehen.
Veber die Ergebnisse der'Unterhandlungen, welche hier gegenwärtig über dm Abschluß eines Handelsvertrages mit England gepflogm
werden, läßt sich noch nichts Authenüsches berichten.
Die „volkswirth-
schaMche Gesellschaft" hat diese Frage in ihrer letzten Sitzung am 18. Febr.
erörtert; es ist dabei der Ansicht Ausdruck verliehen worden, daß es im Interesse der preußischen Spiritusfabricatton wünschenswerth wäre, von
England eine Ermäßigung des Eingangszolls von 1 Sh. 5 Pence für das Gallon proof auf mindestens 1 Sh.
1 Pence zu
erlangen,
da
der in England erzeugte Spiritus nur 1 Sh. Tranksteuer zahlt und die
5
Pence Schutzzoll für importirte Sprite den Export
des preußischm
Spiritus nach England verbieten, während ftanzösische Cognacs denselbm
fchr wohl zu tragen vermögen.
Es ist indessen kaum zu erwartm, daß
England die Spritzölle ermäßigm wird, da erst gelegentlich des Ab schlusses des mglisch-ftanzösischen Haudelsverttages die im Parlamente
schr einflußreichm englischen Brennereibesitzer es durchzusetzm vermochten, daß die Sprüzölle auf die erwähnte Höhe von 1 Sh- 5 Pence normirt
wurden. Bon dm projecürten Bahnen,
welche speciell russische Interessen
berühren, verdient die Warschau-Breslauer hier noch zum Schluffe
Erwähnung.
über;
Es stehen sich in dieser Beziehung zwei Projekte gegen
das eine
derselbe bezweckt die kürzeste Verbindung
der beidm
Städte Breslau und Warschau auf der Linie Breslau-Kempen-WieruszowRokicziny, das andere sucht durch die Linie
Breslau-Ostrowo-Kalisz-
Lodz-Rottcziny die beidm wichtigm Plätze Kalisz und Lodz in dm in-
ternattonalen Schienenverkehr hineinzuziehen.
Vorläufig bekämpfen sich
noch beide Projekte, ohne daß die beiderseitigen Regierungen sich endglltig
Volkswirtschaftliche Briefe aus Deutschland.
297
für das eine oder andere entschieden hätten; es scheint jedoch von Seiten der russischen Regierung der über Lodz und Kalisz laufenden Linie der Vorzug zugestanden zu werden, zumal die letztere Linie durch eine Flügel
bahn von Ostrowo über Krotoszyn nach Lissa einen bequemen Anschluß über
Glogau nach dem nördlichen und mittleren Deutschland, nach Berlin und Dresden hin erhalten könnte, während die erste Linie gerade den Zweck
verfolgt, auch diesen Verkehr nur über Breslau, also auf einem Um
wege, nach Deutschland gelangen zu lassen.
Wilhelm Wackernagel.
Volkswirtschaftliche Griefe aus Rußland. ©t. Petersburg, den 9. Februar 1865.
Das Jahr 1864, welches wir nun hinter uns haben, wird in volkswirthschaftlicher Beziehung für Rußland als kein erfreuliches und fegen-
bringendes betrachtet werden.
Auch nicht Eine der vielen Fragen, welche
auf den Gesetzgeber eindringm, ist der Lösung nahe, geschweige denn zur Lösung selbst gebracht worden.
Die Finanzverhältnisse, die Valutafrage,
die Eisenbahnangelegenheiten, das Bankwesen, der Bodencredit, die Post anstalten u. s. w., sie sind alle heute noch auf demselben Standpunkte,
wo wir sie vor einem Jahre, vor zwei Jahren fanden, und wo wir Ver
änderungen begegnen, sind es entweder Verschlechterungen oder doch nur sehr unmerkliche Schritte zum Bessern.
Gehen wir zu den einzelnen oben
bezeichneten volkswirthschaftlichen Gebieten über, so wird sich das Gesagte als ein keinesfalls zu strenges und leider nur zu gerechtfertigtes Urtheil
herausstellen.
Die Mängel unseres Postwesens gehören mit zu denjenigen,
welche selbst der optimistischesten Voreingenommenheit nicht Stand halten
und den Fremden schon in den ersten Stunden seines Aufenthaltes im Reiche zu höchst unangenehmen Kritiken herausfordern.
Hat man nur
einen einzigen Brief wegzuschicken oder zu empfangen, so dünkt man sich
sofort in eine jener Städte des Orients versetzt, wo jede Nation, wie ihre eigene konsularische Gerichtsbarkeit, so auch ihren eigenen Briefkasten hat. Als
Schreiber dieses vor etwa acht Jahren zum erstenmale nach Paris kam und nach der Ankunft einen Brief absenden wollte, konnte ihm eine vierjährige Nichte den Weg zum nächsten Briefkasten zeigen. Hier zu Lande, in unserer civilisirten Großhauptstadt, die sich alle Raffinements des Lu^us und des
Comforts so schnell eigen zu machen weiß, gehört ein volles Studium und Kenntniß der Landessprache dazu, um zu wissen, welchem Kasten
man seine Briefe anvertrauen muß,
um sie an die rechte Adresse zu
bringen. *)
Es geschieht nie ohne vorläufige längere Belehrung, daß wir
einem Diener einen einfachen frankirten oder unfrankirten Brief über geben, damit er ihn der Post anvertraue.
Das Postgebäude selbst hat
nicht, wie in andern Ländern, einen oder mehrere große Behälter, in welche alle Briefe ohne Unterschied der Bestimmung gelegt werden können,
sondern es sind vor diesem Gebäude etwa ein halbes Dutzend Büchsen in der Höhe von etlva dreiviertel Elle und in der Breite von einer halben Elle
angebracht,
deren jede für eine besondere Art von Briefen, je nach den
verschiedenen Richtungen, welche einzuschlagen, bestimmt ist.
Findet von
Seite des Aufgebers eine Verwechselung statt, so ist die geringste Strafe derselben eine 24 stündige, oft auch noch längere Verspätung.
In den
verschiedenen Stadttheilen sind ebenfalls solche Büchsen angebracht, verschie
denfarbig je nach der Bestimmung, welcher sie dienen; aber sie hängen frei
auf der Straße, die Aushebung der Briefe ist dem guten Willen der Post diener überlassen und man hat nicht, wie dies in andern Ländern geschieht,
dafür gesorgt, daß irgend ein Geschäftsmann den Dienst bei jenen Brief kasten controlire und allenfalls auch dem Publikum eine nothwendige
Auskunft ertheile.
Für die inländische Correspondenz besteht der Fran-
kirungszwang; nichtsdestoweniger aber werden Freimarken nur auf dem
einzigen Postamte zum normalen Preise verkauft; einige Krämerläden,
wo man dieselben auch findet, Auch die Localcorrespondenz
geben sie nur mit einem Aufgelde ab.
ist dem Fraukirungszwange unterworfen;
für diese giebt es wieder eine besondere Specialität der Briefkasten in *) Wir können nicht umhin, unserm geehrten Herrn Correspondenten einige
Thatsachen entgegenzuhalten, welche vielleicht geeignet sind, seine trüben Betrach tungen, namentlich in Bezug auf das Postwescn, einigermaßen aufzuhellen. In unserm civilisirten Deutschland giebt es auch eine Großhauptstadt, ja eine Weltstadt, welche in Aneignung aller Raffinements des Comforts und Luxus jedenfalls mit Petersburg concurriren kann. Wir meinen Hamburg. Und diese Stadt der mächtigen Handelspatricier hat, unseres Wissens, erst seit ganz kurzer Zeit Briefkasten über haupt in ihren Straßen erhalten Eine Beaufsichtigung und Controle der Heraus
nahme von Briesen aus den Kasten von Seiten eine» Geschäftsmannes findet lvedcr in Dresden noch in Berlin statt; sie wird von der Post allein ausgeübt. England, das Staminland der Briefmarke», dessen Bricsverkehr wohl der bedeutendste ist, hat gleichfalls verschiedenartige Briefkasten, für Newspapers, foreign letters, Stadtbriefe und Provinzbriefe, die alle nur englische Ueberschriften tragen. Wir bemerken dies keineswegs, um die von unserm Correspondenten gerügten empfindlichen Uedelstände zu entschuldigen, sondern nur, um zu zeigen, daß das Vollkommene in öffentlichen Einrichtungen selbst an den gepriesenstcn Kulturstätten ein pium
desiderium bleibt.
D. R e d.
300
BolkSwirthschastliche Briefe a«s Rußland.
Käse- und Obstbuden, wo gegen Erlag der Taxe der Brief hinterlegt wird.
Diese Taxe beträgt nicht weniger als fünf Kopeken, wozu noch
weitere drei -Kopeken kommen, welche der Empfänger dem Briefträger zu
zahlen hat. Wenn man bedenkt, daß für den ganzen Umfang des Reichs das Postporto nicht mehr als zehn Kopeken und mit Hinzurechnung des
Bestellgeldes dreizehn Kopeken beträgt, so wird man. jene Localgebühr
gewiß übertrieben finden.
Handelt es sich nun gar darum, einen Geld-
brief zu expediren oder zu empfangen, so ist der FormMäten kein Ende. Trifft ein solches Schreiben für Sie ein, so werden Sie am selben oder
am nächsten Tage mit einem „Aviso" der Postbehörde beehrt, welches Sie von dem großen Ereigniß in Kenntniß setzt.
Sie werden sich nun
sofort — auf das Postamt begeben? Nein, denn das wäre ein unnützer Gang; ehe man Ihnen einen solchen Brief aushändigen kann, nmß der
Polizeiviertelmeister Ihre Identität schriftlich bezeugt haben.
Der Mann
aber kann unmöglich alle Bewohner seines Sprengels persönlich kennen, und so dient als Mittelglied zwischen ihm und Ihnen der Hausmeister,
an den Sie sich mit Ihrem Anliegen zu wenden haben.
Da aber die
Post ihre Briefträger erst in den Mttagsstunden aussendet und der Herr Polizeimeister für solche Fälle nur von 2 bis 3 Uhr zu treffen ist, so
würde der Hausmeister nur einen unnützen Gang thun, wenn er sich noch am selben Tage hinbemühte.
Er thut dies also erst am nächsten
Tage, nachdem er, der Vielbeschäftigte, sämmtliche Insassen des Hauses mit Wasser und Holz versehen; es ist darüber wieder 2 Uhr geworden,
ehe der Mann vom Polizeibureau heimkehrt;
du bist nun endlich im
ersehnten Besitze deines Certificats; du eilst auf das Postamt — wo
man dir eröffnet, daß nach 2 Uhr die Austhellung der Briefe nicht mehr stattfindet.
Du
kannst
am nächsten Tage zeitiger wiederkehren,
wmn nicht etwa dieser nächste Tag ein Sonn- oder Feiertag ist.
So
vergehm oft fünf bis sechs, in. den besten Fällen drei bis vier Tage, ehe ein Geldbrief in die Hände des Adreffaten gelangt.
Es ist in den vorstehen
den Zeilen nicht die genngste Uebertreibung; mir selbst ist es vor Jahren
vorgekommen,
daß eine bekannte Familie, die aus der Provinz vom
FaMimchef das Geld für den Wohnungszins erhalten hatte, auf dem
Sprunge stand, vom Hausherrn im December vertrieben zu werden oder sich einer Zinssteigerung zu unterwerfen, weil volle sechs Tage verstrichen
zwischen der Ankunft und der Aushändigüng des Geldbriefes.
Noch
kürzlich erhielt ich das Aviso eines Geldbriefes aus Moskau erst am
einundzwanzigsten Tage nach der Aufgabe, und weitere vier Tage ver
M das sind Unzukömm
strichen bis zum Empfang des Briefes selbst. lichkeiten,
zu
keine vorbereitenden Maßregeln, keine
deren Abstellung
Studien nothwendig sind«; ein Decret würde genügen, um dieselben auf hören zu machen, und nach 24 Stunden könnte man diesen Thell' unserer Posteinrichtungen den besten ausländischen gleichgestellt haben.
Ist es
nicht mehr als wunderlich, daß hier, zur Bequemlichkeit der Postbeamte«
ten,
aber zur Belästigung des Publikums, sechs bis acht verschiedene
Briefkasten bestehen, während es in einer Stadt wie Paris, wo die Correspondenz wmigstens hundertmal bedeutender ist, einförmige Schalter
für alle Briefe giebt und nichtsdestoweniger die Befördenmg eine viel schnellere und pünktlichere ist?
Was rechtfertigt ferner die übertriebene
Reglementation bei Empfang von Geldbriefen?
Ist das Postamt nicht
genügend gesichert, wenn der Empfänger des Avisos sich zur Empfang nahme einer solchen Sendung einstellt, und ist schon ein Uebermaß von
Vorsicht nothwendig, so würde doch die Vorzeigung eines Passes oder irgend eine§ Patentes genügen. Wie erklärt sich ferner der Frankirungs-
zwang für die inländische Correspondenz, während Briefe in die Fremde auch unfraukirt abgesendet werden dürfen?
Eine andere Klage betrifft
die enormen Preise des Portos für diese letztere Art von Briefen und für die aMändischen Journale.
Die Post,
welche das Monopol der
Abonnements für letztere hat, läßt sich im Durchschnitte ungefähr 75 bis
100 Procent Aufschlag zum Preise derselben in dem Heimachlande zahlen. Man sagt, daran sei die Postconvention mit Preußen Schuld, welcher Staat den größten Thell jenes Benefizes abhebe;
aber warum solche
Löwenverträge auftecht erhalten, und was geschieht, um dieselben zu ändern, nachdem sie nun abgelaufen?
Was die Brieftaxe für das Aus
land betrifft, so bietet diSselbe noch besondere Eigenthümlichkeiten.
Ge
meinhin wird angenommen, der Taris sei gegenseitig derselbe und ei« Brief von Rußland nach Frankreich z. B. müsse gerade soviel an Porto
zahlen, als ein Brief von Frankreich nach Rußland. Dem ist aber keines falls so; der Franzose frankirt ein Schreiben nach letzterem Lande mit 1 Fr. 10 Cent. (274 Kop.), während der Russe für ei« solches nach
SüL
Bollstvirthschastliche Briefe aus Rußland.
Frankreich 37 Kop. (1 Fr. 48 Cent.) zu bezahlen hat.
Daß unter den
heutigen Verhältnissen selbst eine Taxe von 27i Kop. unverhältnißmäßig
hoch sei, ist wohl kaum nöthig zu bemerken.
Bon Seite der französischen
Behörde, die in den letzten Jahren Post- und Telegraphenverbindungen
mit den meisten Ländern Europas abgeschlossen,
wäre gewiß auf das
freundlichste Entgegenkommen zu rechnen, wenn man sich nur hier ent schließen könnte, die bessernde Hand anzulegen.
Noch ärger liegen die
Dinge, was die Correspondenz mit Italien betrifft.
Obwohl Rußland
das junge Königreich bereits 1862 anerkannt, ja sogar im vorigen Jahre einen Handelsvertrag mit demselben abgeschlossen, ist doch noch für die
verschiedenen Provinzen, je nachdem sie früher zu Oesterreich, zu Sar dinien oder zu Neapel
gehörten,
die Tariftaxe eine verschiedene und
variirt zwischen 20 und 56 Kopeken! ... Wir lieben es nicht, uns hier mit den amtlichen Persönlichkeiten zu befassen; wir kennen die gren
zenlose Empfindlichkeit derselben für jedes gedruckte Wort;
doch aber
dürfte es uns gestattet sein, daran zu erinnern, daß es jetzt zwei Jahre sind, seit Herr von Tolstoy zum Director des Postdepartements ernannt
wurde; den Drängem erklärte er damals,
man möge ihm nur sechs
Monate Zeit geben, er werde es an Verbesserungen nicht mangeln lassen. Es sind seither zwei Jahre verflossen, und die einzige Reform, deren
wir uns zu erfreuen hatten,
war die Einführung der Postmarken für
die ausländische Correspondenz (s. Augustheft der Nord. Revue). Nach solchen Prämissen muß es fraglich bleiben, ob wir den eben
erfolgten Uebergang des Telegraphenwesens vom Departement der öffentlichen Bauten zu jenen der Postanstalten als einen Schritt zum
Bessern zu betrachten haben.
Bis jetzt stand dasselbe unter der fast un
abhängigen Leitung des Generals Gerhard, der sich zwar jede Verbesse
rung erst gern abringen oder abbitten ließ, aber doch verständigen An liegen ein offenes Ohr lieh.
Der ihm vorgesetzte Bautenminister befolgte
das Princip des laisser-faire, und so verdanken wir dem gedachten Ge neral doch manches Gute, wie die Abschaffung der doppelten Taxe für
Nachtdepeschen u. s. w.
Nun das Postdepartement sich der Oberleitung
bemeistert hat, möchte fast zu besorgen sein, die demselben eigenthümliche
Schneckenlangsamkeit werde auch auf das Telegraphenwesen übergehen.
Und doch ist hier eine schnelle und durchgreifende Reform im Interesse
wichtiger materieller Fragen von Dringlichkeit.
In ganz Europa sind
nun schon in Folge der jüngsten Verträge die Preise für den Telegraphen
dienst so erheblich herabgesetzt, daß die unseren sich dagegen ganz unge
Und nicht nur unsere inländischen Beziehungen
heuerlich ausnehmen. leiden
unter
dieser
unverhältnißmäßigen Vertheuerung,
sondern auch
unsere Correspondenz mit dem Auslande, da wir die alten Telegraphen verträge nur dann ändern könnten, wenn auch im Jnlande eine Preis herabsetzung einträte.
So zahlen wir schon seit Jahren an Preußen
einen freiwilligen Tribut für die Depeschen,
die von Rußland dahin
gehen oder von dort hierher gelangen; denn in jenem Lande beträgt die
Gebühr für eine einfache Depesche höchstens 16 Silbergroschen; ist letz
tere aber nach Rußland bestimmt, so zahlt sie nach Umständen 4 Thlr. und mehr, wovon die preußische Verwaltung die Hälfte behält, und somit
nahezu viermal soviel, als sie zu bekommen hätte, wenn ein Telegramm blos bis zur Landesgrenze befördert worden wäre.
Wie exorbitant die
hiesigen Tarife sind, mögen einige Vergleichungen lehren;
ein einfaches
Telegramm (20 Worte) von Petersburg nach Moskau (87 Meilen) zahlt 21 Rubel (10 Franken), von hier nach Berlin 3 R. 72 Kop. (15 Fr.), nach Paris 5 R. 58 Kop. (22 Fr. 32 Cent.); des preußischen Tarifs mit dem Maximrrm von 16 Sgr. (2 Fr. oder 50 Kop.) haben wir
bereits erwähnt; der französisch-preußische Vertrag
vom 30. Januar
1865, welchen der „Btoniteur" soeben veröffentlichte, bestimmt als höchsten Preis einer zwischen beiden Ländem ausgetauschten Depesche den Betrag
von 4 Fr., ja sogar (für die Rheinlande) von 3 Fr.
Auch mit Belgien,
Spanien und Portugal Hat-Frankreich in jüngster Zeit ähnliche Verträge
abgeschlossen, selbst der päpstliche Staat, dessen Souverän eben erst alle
modernen Erfindungen mit dem Bannstrahl belegte, hat sich bereit ge funden, ein Maximum von 5 Fr. für die zwischen Frankreich und dem
rönnschen Gebiete telegraphisch auszutauschenden Ideen als genügend zu erachten und so bewiesen, daß wirklich, wie Cardinal Antonelli behauptet,
der Syllabus nur ein rein geistlicher Act ist, welchem man in Rom selbst
den Einfluß auf weltliche Dinge abspricht.
Unter solchen Verhältnissen
möchte es an der Zeit sein, daß auch Rußland endlich eine Reform dllrch-
führte, die nur bureaukratische Trägheit als eine voreilige und überstürzte
zu verschreien vermag.
364
BolkSwirthschaftliche Briefe aus Rußland.
Die Nod'encre'ditfrage, deren wir ferner im Eingänge erwähn
ten', ist im Lmfe des vergangenen Jahres mch nicht «m einen Schütt ihrer Lösnng näher gebracht worden.
Freilich sind bei dieser für das'
Land so wichtigen Frage die Schwierigkeiten erheblicher, umsomehr, als MM es hier liebt, die kostbare Zeit in kleinlichen Canzleinergeleien zu ver tändeln und als allerdings ein Regiernngsdecret nicht genügt, um in
dieser Angelegenheit Fehlendes zu schaffen.
Aber wir haben ftüher die
mehrfachen Projekte erwähnt, welche zum Theile seit Jahren den Be
hörden vorliegen und über die man nicht zum Beschluß kommen kann.
In neuester Zeit ist den Bestrebungen der Privaten zur Gründung von Boden- und andern Creditanstalten ein neuer gesetzlicher Hemmschuh an
gelegt worden. Auf Vorschlag des Herm FmMzminifiers wurde nämlich
vom Finmzcomit« des Reichsraths bestimmt,
daß es keinerlei Privat
unternehmungen gestattet werden dürfe, ihre Werthpapiere mit Lotterien oder Prämien in Verbindung zu setzen.
Es läßt sich diesem Beschlusse
durchaus keine lobenswerthe Seite abgewimen.
Man sonn im Principe
das Lotterie- und Prämienspiel als ein in vielen Beziehungm schädliches verdammen; höher aber als diese Rücksicht steht für uns die Betrachtung,
daß der wirthschastliche Markt frei und ungebunden sein müsse und es
keiner Regiemng zukommt, dem Capital die Art und Weise vorzuschreiben, wie es sich zum Nutzen des Landes verwenden lassen solle — womit
übrigens nur erzielt wird, daß das Capital mdere Wege außerhalb des Lmdes sucht.
Noch weniger läßt sich aber die Maßregel Migm, wenn
man bedenkt, daß jene moralischen Skrupel auf dieselbe gar nicht be stimmend einwirkten, daß sie vielmehr in Folge der jüngsten mssischen
LvtterieMleihe ergriffen wurde, um diese vor jeder Concurrenz zu schützen.
Von diesem Stmdpunkte aus ist sie aber nicht nur unzweckmäßig, weil sie den Gmndbesitz
im Interesse des Staatscredits vom Geldmärkte
ausschließt; sie ist Mch vollständig Mnütz in den
Augm
Derjenigen,
welche mit dem Wesen des letzteren einigermaßen vertraut sind.
Es ist
bekannt, daß Lotterie- und Prämienpapiere vorzüglich mit Hinblick auf
die deutschen Börsen geschaffen werden, ebenso weiß avch jeder BMguier
in Deutschland, daß es dort ein besonderes Publikum für die sogenmmten ausländischen Renten, d. h. Staatspapiere giebt und wieder eine ott»
bete Classe von Liebhabern für Werthpapiere mit Alea, also für Lotterie-
Volkswirthschaftliche Briefe aus Rußland und Prämienscheine.
305
Bekannt ist auch, daß Diejenigen, welche in Ruß
land mit Gründung der Bodencreditanstalten vorgehen wollen, zumeist, ja
auschließlich
beabsichngen.
die Unterbringung ihrer Werthpapiere im
Auslande
Die Regierrmg hat also, selbst wenn sie für die neueste,
angeblich innere Anleihe auch dem ausländischen Geldmarkt concurrirt,
doch von den Privatcreditanstalten eine Concurrenz nicht zu besorgen. Des bringt uns auf das Thema der neuesten Anleihe, deren erste
Phasen in unserem letzten Berichte (Januarheft) erwähnt wurdcil. Nach
amtlichin Angaben soll die Betheiligung des Publikums die Wünsche der Regiermg übertroffen haben und die Zeichnungen auf die verlangten
hundert Millionen hätten sich auf 115« Million belaufen.
Es ist indessen
notorisch, daß trotz mancherlei patriotischer Pression das wirkliche Angebot
des PMkums nicht ganz dreiviertel der ausgebotenen Anleihe deckte und daß im letzten Augenblicke ein Konsortium von Kapitalisten unter Be-
dingunxen,
die wir nicht neunen wollen,
weil uns vielleicht nicht alle
Details bekannt sein dürften, den fehlenden Rest mit einem kleinen Auf
schläge dazu (um das Decorum zu retten) übernommen hat. fachen Erleichterungen,
Die viel
durch Belehnung der Jnteriinsscheine u. s. w-,
welche sofort den Unterzeichnern gewährt werden mußten, zeugen übrigens dafür, daß es dem Lande nicht leicht wird, den Betrag der neuen An
leihe dem Staate zur Verfügung zu stellen und zu immobilisiren.
Es
soll danit nicht gesagt sein, daß nicht wirklich im Lande Ersparnisse im Betrage von 100 Millionen gewinnlos liegen, welche aus ihren Verstecken hervorzrziehen gewiß ein Verdienst wäre und was auch gelungen sein
würde, wenn das Werk geschicktererl Händen anvertrant gewesen wäre. Aber es ist augenscheinlich bei der jüngsten Anleihe mit Ueberstürzung
gehandelt worden; sei es, daß man die eigenthümlichen Verhältniffe des
Landes mißkannte, sei es, daß die Noth des Moments, die fälligen Be-
dürfniffr des Jahresschlusses eine längere Vorbereitung nicht zuließen. Man wollte ein Spektakelstück in Scene setzen, ähnlich den in Frankreich bei Natlonalanleihen erzielten Resultaten,
wo in acht bis zehn Tagen
eine Anleihe von 500 Millionen Franken fünf- bis sechsfach gedeckt wurde. Man vagaß dabei die intellectuellen und geographischen Verschiedenheiten
der beiden Länder. In Frankreich wird, wie jeder Rekrut den Marschall stab im Tornister hat, so auch jeder Bürger mit der Anlage zum Ehren»«»«che
III 3. Heft. 1865.
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Bolkswirthschaftliche Briefe auS Rußland.
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legionskreuze und zum „Rentier" geboren.
Bei uns in Rußland sind
wohl zinstragende Staatspapiere in aller Leute Händen, aber doch nur diejenigen, welche auch als Umlaufsmittel benützt werden können, wie
die Schatzscheine, die vierprocmttgen Metalliques; die eigentlichen Renten papiere sind bekanntlich zum großen Theile im Besitz? des AMandes;
„Couponsschneider" von Profession sind hier zu Lande äußerst selten,
und in unseren Hotelverzeichniffen pflegen gewöhnlich nur Franzosen und Französinnen unter der in Folge deffen hier etwas verrufenen Bezeich
nung „rentiers“
und „rentieres“ vorzukommen.
Ferner stehen der
französischen Regierung nicht nur ein sehr ausgedehntes Telegraphennetz und an siebzig Banksuccursalen zur Benachrichtigung des Publikums und zur Aufnahme der Subscripüonen zu Gebote, sondern es werdm auch sämmtliche SteuereiMehmer, Bürgermeister und Privatcreditanstalten zu
diesem Zwecke aufgeboten.
In Rußland fehlen all diese Mttel zur Bul-
garisaüon und Popularisation der Rente.
Es hätte eines Zeitraumes
von wenigstens sechs Monaten bedurft, um, nach den Urtheilen fach- und landeskundiger Männer, die Anleihe in jene Kreise zu bringen, wo allein noch unfruchtbares Capital vergraben ist.
Statt deffen hatte man im
Ganzen einen kaum dreiwöchentlichen Termin angenommen, und so mußte
es kommen, daß nicht nur das Publikum, welches man heranziehen wollte, sondern selbst Gouverneure aus entlegenen Provinzen das Decret ganz
und gar nicht kannten.
Vergleichm wir die Lage des Staatscredils zu
Ende des Jahres 1864 mit der des Vorjahres, so ergiebt sich eine Ver
mehrung der fundirten und schwebenden Schuld von nahe an 200 Mllonen, ohne ein irgendwie entsprechendes Aequivalent durch Leistungen
der Regierung zur, Entwickelung des materiellen Wohls. — Daß für Verbesserung der Valutaverhältniffe weder direct noch indirect im Laufe
des Jahres etwas gethan wurde, beweist am schlagendstm die folgende Nebeneinanderstellung der Wechselcourszettel vom 31. December 1863 und 31. December 1864: 31. Dec. 1863.
Wechselcours London
31. Dec. 1864. 34ir
Amsterdam 1311 Hamburg
Paris
301 3661
311 Pence für 1 Rubel,
1521 Cents
-
27?« Schill. 324? Cent.
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BolkSwirthschastliche Briefe auS Rußland.
We aus dieser kurzen Tabelle hervorgeht, hat der Werth unseres
Papiergeldes gegen Metall im Laufe des letzten Jahres einen Verlust von mehr als 10 Procent erlitten und ist heute auf 80 Procent des
Nennwerthes herabgesunken. Ueber die Eittwickelung der privaten Creditanstalten im Laufe des vergangenen Jahres haben wir in unserem letzten Berichte ausführlich
gesprochen, und der dort nicht erwähnten Petersburger Handelsbank ist
in früheren Briefen gedacht worden. dem Eisenbahnwesen zu reden,
Resultate zu Stande brachte.
Es bleibt uns also nur noch von
welches im Jahre
1864 nur negative
Zwei große Eisenbahnconcessionen,
von
.Kiew mch Odessa und von Moskau nach Sebastopol, welche im Jahre 1863 ertheilt wurden, die eine an russische, die andere an englische Un
ternehmer, sind beide der Regierung zurückgestellt worden, weil man über
nachträglich nothwendig
gewordene Statntenveränderungen
nicht einig
werden konnte und weil die Regierung, unterstützt von einem Theile der öffentlichen Meinung,
sich wieder stark der Idee zuneigte,
selbst nüffe die Eisenbahnen bauen.
Wenn man
der Staat
also die noch sehr
problematischen Erfolge der Ungern-Sternberg'schen Sträflingsbauten in Abzug bringt, so ist in Rußland im Jahre 1864 so gut wie gar nichts
für die Verlängerung des Schienennetzes geschehen, und dürfte sich Aehnliches vm keinem andern europäischen Lande sagen lassen — etwa Däne
mark aisgenommen. — Das Jahr 1865 wäre also vollkommen berech tigt,
de Erbschaft seines Vorgängers nur cum beneficio inventarii
antreten zu wollen.
Leider aber bestätigt die Geschichte auf jeder ihrer
Seiten die unvergängliche Wahrheit des Ausspruches des Propheten vom Berge Sinai:
Die Sünden
Kindeskndem gebüßt.
der
Väter werden an den Kindern und
Was der wirthschaftlichen Verwaltung Rußlands
zur Laß gelegt werden muß, das sind vor Allem Unterlassungssünden; ein wilbnloses Hineingehm in den immer tieferen Schlund der System-
losigkeit, wobei nur zuweilen zu einer kraftlosen Anstrengung ein kurzer Halt genacht wird.
Die angeborene Dmkträgheit des größten Theiles
der Bevilkerung, und zwar nicht nur der untersten Schichten (ein Ueberbleibsel der Sklaverei),
trägt das Ihrige dazu bei,
daß man es am
bequemsrn findet, von der Hand in den Mund zu leben und der Zukunft, dem nationalen „Awoß" die Lösung der Probleme zu überlassen, die mit jedem
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BoMwirthschaftliche »tiefe au» Rußland.
Tage drängender an uns herantreten und die, wenn ihnen nicht bald abgeholfen wird, das Reich mit wirthschaftlicher Jsolirung bedrohen. Diese Jsolirung ist ftellich der Lieblingswunsch einer gewissen ultra nationalen Schule, aber unmöglich kann die Regiemng darauf hinsteuem wollen. Ant. E. Horn.
Väter und Kinder. Roman von Iwan Turgenew.
VIII. Paul Petrowitsch wohnte nicht lange der Unterredung seines Bruders mit den Verwalter
bei, einem langen Hagern Manne mit süßlicher,
schwind uchtiger Stimme und schelmischen Augen, der auf alle Bemerungen Nikolaj Petrowitsch's erwiderte:
„Ich bitte Sie,
das ist eine
bekannt: Sache" und die Bauern als Trunkenbolde und Diebe darzu
stellen suchte.
Die kürzlich auf neue Art eingerichtete Wirthschaft knarrte
wie ein ungeschmiertes Rad, krachte wie ein zu Hause gefertigtes Möbel
aus feuchtem Holze.
Iiikolaj Petrowitsch ließ den Muth nicht sinken,
doch stufte er oft und wurde nachdenklich.
Er fühlte, daß die Sache
ohne G