Nordische Revue: Band 3 [Reprint 2020 ed.]
 9783112371725, 9783112371718

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Aordische Aevue. Internationale Zeitschrift für

Literatur, Kunst und öffentliches Leben. Herausgegeben

von

Dr. Wilhelm Wolfsohn.

Driltkr |anh.

Lcipsig. Verlag von Veit und Comp. 1865.

Unter Rechtsverwahrung gegen Nachdruck und Uebersetzmg.

Inhalt. Seite

Durch Holland im Fluge.

Von Julius Rodenberg............................... 1. 180

Die Juden in Rußland................................................................................................. 20

Volkswirthschaftliche Briefe aus Rußland. Von Wilhelm Wackernagel 30.200.284 Volkswirthschaftliche Briefe aus Rußland.

Von Ant. E. Horn .

.

.

41. 298

Beraun und Karlstein. Ein Ausflug in's tschechische Land. Von Dr. Richard

Andree..................................................................... •.........................................51 Alt und Neu.

Lieder und Sprüche von Wilhelm Wolfsohn

Berliner Bilder.

Von Hermann Lessing

Gedichte von Norderney.

Väter und Kinder.

....

74

............................................................. 78

Bon FriedrichBodenstedt..................................... 129

Roman von Iwan Turgenew (I—X) ....

Geographische Arbeiten in Rußland.

135. 309

Von KarlAndree................................167

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland seit der ersten Theilung Polens.

Von Dr. A. v. Domin-PetruShevecz

Zur Charakteristik der Lady Macbeth.

.

Bon D. Asher..........................

210. 274

-

223

232

Gunib, die Veste Shamils..........................................

Die Schlacht bei Lützen............................................................................................... 257 Shakespearereliquien

.................................................................................................... 332

Musikalische Revue: Leipzig. — Dresden. — Wien. — Paris und London

................................................

108

St. Petersburg. - Neu-York. - Wien. — Aloys Ander. - Berlin. - München.

Deutsche Musik in Italien....................................................................................................

836

Berlin. — Wien. — Amsterdam. — Rotterdam...........................................................

348

Revue der bildenden Künste: AkademiejubtlLum in Dresden und St. Petersburg. — Der Papst und die Kunst

in Rom. — Nachklänge der jüngsten Bestimmungen in Frankreich. — Reglements für den Salon 1865 — Pecht über LranSlocation von Kirchenbildern nach-Galerien. Restaurirungen. — Graf Graimberg. — Neubauten. — Ein Antrag der Wiener

Bildhauer. — Plastische Werke. — Aus dem Gebiete der Malerei. - Daguerrefeur. — Nekrolog

.

...............................................................................

89

Kunst und Technik. - Der Staat und die Kunst. — Der^ Pariser Salon. — Das oldenburgische Museum. — Der Ulmer Dom. — Neubauten. — Zerstömng von Bauwerken durch Feuersbrünste. — Neue plastische Werke................................

338

Literarische Revue: Die neueste englische Ateratur. — Zur neueren Mustkliteratur in Deutschland .

117

Französische Romane und Novellen..........................................................................

Slavische Zeitschriften in deutscher Sprache. — Gustav Schwetfchke's Schriften .

243

.

Englische Romane und Gedichte...............................................................

358

Vermischte Mittheilungen: Fortschritte in Rußland. — Aus den deutschen Kreisen Rußland»-. — Die Weihnachts­

spiele im böhmischen Erzgebirge. — Branntweingenuß in Rußland.......................... Die Blumenspiele von Toulouse

— Die serbische Trajanssage. — Raddes Reise

in Svanetien. — Die Messe von Kiew...............................................................................

376

Durch Holland im Fluge. Von Julius Rodenberg.

I.

Bon Berlin nach Amsterdam. Man fährt durch ein sehr schmutziges Land, ehe man in- das sprüch-

wörtliche Land der Reinlichkeit kommt.

und

hübsche

Die Rose, welche mir eine junge

Hannoveranerin in das obere Knopfloch meines

Rockes

gesteckt hatte, war ganz schwarz geworden von Kohlenstaub in der Gegend

von Essen und Oberhausen.

Dieses ist eine traurige Gegend mit ihrm

qualwenden Schloten und ihren Kohlengebirgen.

sehen alle wie Schornsteinfeger aus.

Die Menschen daselbst

Des Nachts, wenn die Flammen

aus den hohen Röhren und dickbauchigen Oefen schlagen, macht sie einen vulkanischen Eindruck.

Bei Tage, oder in früher Morgenstunde, wie

ich sie diesmal sah, wenn die Sonne auf ihre trägen Corrtouren und

matten Farben scheint, erinnert sie an das „ungastliche Land", welches

Horaz in einer seiner Oden schildert. Aber rechts von diesem westphälischen Limbo liegt die Romantik

des Rheins, von der Lurlei bis zum Kölner Dom; und links öffnet sich das Land der Gräben und Kanäle, der Wiesen und Windmühlen, der Käse und der Treckschniteu.

Wer in Oberhausen, auf dem Kreuzweg von Rheinland und Holland

wählen dürfte, würde sich vielleicht nicht besinnen, den Weg zur Rechten einzuschlagen, denn für einen Deutschen, besonders wenn er aus Berlin kommt, sind Rheinluft und Rebenlaub doch gar zu angenehme Dinge,

und

wem

der.„Siebenundfünfziger" unseres Freundes Trarbach aus

der Behrenstraße nur durch Gewohnheit und Tradition „süß" war, der nährt eint gerechte Sehnsucht nach den ungesiegelten Originalflaschen des

rechten Ufers. N»r»gche mime.

HI. i. Heft. 1865.

1

2

Durch Holland im Fluge.

Aber ich hatte diesmal keine. Wahl.

Mein Koffer war nach Hol­

land adressirt.

„Nach Holland"!

war der Ruf des Portiers im Eisenbahnhofe in

Emmerich, und ich stieg in den mit rothem Sammet gepolsterten Wagen. Ich habe nur eine dunkle Idee davon, warum ich eigentlich nach Holland gereist bin.

Vielleicht habe ich es gethan, weil ich mir dachte,

es sei dort sehr still und kühl; und die Gedanken an Stille und Kühle

haben etwas Bezauberndes mitten in der Julihitze und dem Sommer­

gewühl von Berlin.

Vielleicht habe ich es gethan, weil man bei uns

so viel von den Holländern spricht und so wenig von ihnen weiß.

Vielleicht

auch weil Holland in der Mtte liegt zwischen Berlin und London, und weil man diesen Weg nehmen kann, so gut wie jeden, anderen, wenn

man nach London reisen will.

Genug, ich habe es gethan.

In dem rothsammtenen Wagen, welchen ich in Emmerich bestiegen hatte, saß es sich sehr angenehm und weich.

Die sonnige Morgenluft fächelte

durch beide Fenster, und der bläuliche Duft meiner Eigarre (es war fjite von jenen Trabucco's, welche bei meinen Berliner Freunden sa sehr

in Gunst stehen) kräuselte behaglich in die Höhe und dann zum Fenster hiüaus in die frische Landschaft.

so schmutzig aussah.

Mein einziger Schmerz war, daß ich

Der Kohlenstaub von Effen und Umgegend lag

noch fingerdick auf meiner Rose und meinem Gesichte, und in dm beiden

anderen Ecken des Coupees saß. ein sehr reinlicher holländischer Vater mit einem sehr reinlichen holländischen Sohne.

Erst in Zrvenaar, der

holländischm Grenzstation, too' die Pässe und die Koffer untersucht wer­

den, beruhigte ich mich.

Denn nachdem meine Person für ungefährlich

und meine Sachen für zollftei erklärt waren, passirte ich die Barre und

die holländischen Blauröcke mit dem Hochgefühl, daß es in dieser Welt

doch noch Stellen giebt, um mit dem Seume'schen Huronen ausrufen zu können:

„Sieh', wir Wllden sind doch beffere MenschenI"

Worauf ich meine unterthänigst ausgegangene Trabucco an dem kurzen Pfeifchm eines dieser „befferm" Menschen wieder anbrannte und in dem kleinen Bahnhöfe

von Zevenaar, welcher

schen Plakaten beklebt ist, umherspazierte.

ganz mit holländi­

An diesen Plakaten machte

ich meine ersten Studien in holländischer Sprache, denn ich liebe nicht

fremde Sprachm aus Grammatiken zu lernen.

Ich denke, man kommt

eben so billig und viel rascher dazu, wenn man sie gleich frischweg im

fremden Lande

lernt.

Außerdeni bin ich ein

geborner Plattdeutscher,

und. uns Plattdeutschen liegt das Holländische und Englische so zu sagen im Blute.

Das Plakat, welches meine Aufmerksamkeit am meisten anzog

und am dauerndsten fesselte, war eins von literarischer Natur. Literatur steckt uns, so zu sagen auch im Blute. Plakats aber war folgender:

Der Wortlaut des

„ Nederlandsch Magazijn.

koopste Boek-en Plaatenwerk van Nederland.

Die

Het goed-

Under Redactie der

geliefkooste Letterkundige und Schilders.“ „Geliefkooste Letterkundige und Schilders!“ Welch ein sympa­

thischer Klang! „Geliebkoste Schriftsteller und Maler", sagte mein Lexikon und „ach!" rief ich aus, „welch ein beneidenswerth loyales Verhältniß

zwischen Autoren, Publikum, Verleger und wie würdig nachgeahmt zu werden!

Welch ein entzückendes Honorar, sowohl für die Mitarbeiter

eines Blattes (Magazin oder Revue), als für das Budget von dessen

Herausgeber, wenn jedes hübsche Gedicht und jedes gelungene Bild mit Liebkosungen von einem gewissen Theil des Publikums belohnt würden!^

Ich hatte mich so tief in dieses Idyll der Literatur eingelebt, daß es mir später sehr leid that, zu erfahren, mein Lexikon fei schlecht, und ein „geliefkooster“ sei auch in Holland nichts weiter, als ein „beliebter

Schriftsteller", eine Phrase/ wie man weiß, ein nüchternes Wesen im

Vergleich zu jener Idealfigur, ein Mensch, wie wir Andere, geplagt von

seinem Publikum, schlecht bezahlt von seinem Verleger, und geliebkost höchstens von seinem — Recensenten!

Mit diesem bescheidenen Anfang in holländischer Sprache und Lite­

ratur trennte ich mich von Zevenaar und den holländischen Grenzhuronen,

um wieder in meinen rothsammtnen Wagen zu steigen.

Es war ein

wunderherrlicher Julitag, der Wind fächelte durch die beiden offenen Fenster und es roch im Coup^ abwechselnd nach frisch gemähtem Heu und Camillenblüthen.

Breite Wiesen lagen zu beiden Seiten der Schie­

nenstraße; unabsehbare Rasenflächen zuweilen, weit, monoton, aber vom allerschönsten

Grün.

Die holländische Wiesenlandschaft ist das

was dem Reisenden anffällt.

Erste,

Sie hat kein Leben außer jenem bezau-

bernden Stillleben, welches eher gemalt werden kann, als beschrieben. Sie hat keine Abwechselung, außer hier und da einer Mühle, und keine i*

4

Durch Hylkich im Kl«gr»

Farben, außer ihrem Grün und dem Blau des Himmels darüber, welches sich in zahllosen kleinen Wasierstreifen und Canälen spiegelt;, denn in

Holland gieb es keine Hecken wie bei uns, sondern nur Grähen,

Diese

Gräben, welche das Acker- und Wiesenland in scharfen Winkeln zu allen Arten von Merecken zerschneiden, dienen den verschiedenen Zweckm der

Grmzlinie, der Bewässerung und der Schifffahrt. was in unserer deutschen Flur die Feldwege sind.

Sie sind dasjenige, Der

holländische

Bauer besucht feine Gemarkung in kleinen Schiffm, welche wie Backtröge aussehen, und die Gruben, voll bis zum Ueberquellen, geben der Land­

schaft eine Art von Amphibiencharakter.

Aber eine frische feuchte Luft,

mitten am heißen Sommertage, weht über derselben und weckt in dem Reisenden, welcher seinen Kopf aus dem Fenster steckt, um sie zu athmen, den Wunsch nach einem gleich glücklichen und kühlen Eden.

Bewohner dieses Sommerparadieses sind von Holland.

Die einzigen

die stattlichen Rinderheerden

Wer sie aus den Schildereien ihrer heimathlichen Maler

kennt, der kennt sie nur halb.

Man muß sie gesehen haben auf ihren

grünen Triften, wie sie bis an den Bauch im fetten Grase der Marschen stehen und ihre breiten Stirnen und zufriedenen Gesichter in dem ruhigen

Blau des Wassers spiegeln.

Man muß ihre Geselligkeit beobachten, wie

sie herumspazieren von Grabm> zu Graben, wie sie sich Hinstrecken auf das weiche und duftige Lager; wie sie ein Familienleben führen in engen Grenzen zwar, aber in der beneidenswerthesten Unabhängigkeit und wie

ihr einziges Wunder die Windmühle ist, die fern am Horizont gesehen wird, und ihre einzige Emotion die Dampfwolke und das Geräusch der

Eisenbahn, welches ihre Stille täglich mehreremal unterbricht — man muß den Reichthum des Bodens und die gleichmäßige Milde des Som­ mers in Anschlag bringen, um zu finden — woran noch kein Philosoph gedacht — daß es kein besseres Loos gebe, als Rindvieh in Holland zu

fein!

Selbst das Milchmädchen kommt nicht mehr so oft als früher,

um die beschauliche Einsamkeit und das sommerlange dolce far niente dieser Heerden zu stören.

Für diese Verbeffemng ihrer Lage, welche die

Verfassung ihres Staates der Platonischen Republik so. nahe bringt als möglich, sind die holländischen Kühe dem großen englischen Reformator

Sir Robert Peel verpflichtet.

Bis zum Jahre 1844 waren die Weiden

von Holland fast ausschließlich dem Mlchertrage gewidmet; aber die Auf-

5

Durch Holland km Fkuge.

Hebung der Einfuhrsteuer auf lebendiges Vieh in England führte rasch

Die holländischen Landwirthe begannen

eine große Umwandlung herbei.

ihr Vieh zu mästey und nach England auszuführen, und der Milcheimer machte

vielfach

dem Londoner Fleischmarkt Platz;

das ist allerdings

ein trauriger Hintergrund für das friedliche Bild, welches wir von der

holländischen Weide entworfen haben. wo er stirbt und wie?

Aber wen kümmert's am Ende,

Ist ja doch das Leben selbst des Lebens erste

Frage!

Es machte mir ein großes Vergnügen, den allmähligen Wechsel in

der Landschaft zu beobachten, sobald man sich einer von den Städten nähert.

Znerst wird die Einförmigkeit der Weide gebrochen durch ein

Haus oder eine Dteierei, welche am Rande derselben erscheint.

Man er­

blickt ein paar Menschen, die kleinen Gräben recken sich zu großen und

breiten Cgnälen aus, auf deren glatter Wafferfülle ein eigenthümliches langes Schiff gesehen wird, von einem Pferde gezogen, auf dessen Rückm

ein träger Bursche hängt.

Dieses Schiff, dessen Deck einem kleinen, ge-

müthlichen Zimmer gleicht, mit kleinen gemüthlichen Gardinen vor den

Fensterchen und ein paar Frauen mit. Körben und ein paar Männem

mit großen Stöcken dahinter, gehört zu der nationalen Klaffe der Treck­

schuten.

Die Treckschuiten sind eigentlich halb schon außer Cvurs gesetzt

durch die Eisenbahn, wie bei uns die guten alten Postwagen.

eigentliche Volk von Holland

Nur das

noch bedient sich dieser FahrgAegenheit.

Aber ich bin meinem Schicksal dankbar dafür, daß ich Postwagen itiüb

Treckschuiten noch gesehen habe.

Die Romantik des einsamen Dorfes,

des Posthorns und der Sommernwndnacht im Walde ist nicht für die Treckschuiten; aber eine solche Behaglichkeit ist mit ihrer altftänkischen Bauart, ihren kleinen Gardinen und ihrem sanften Dahingleiten auf der

geräuschlosen Wasserfläche verbunden, daß ich jede Treckschuite, die mir

vorüberzog, mit einer gewissen Wehmuth grüßte.

Der breite Kanal und

die Trenckschuite in Holland ist ein sicheres Zeichen, daß man sich einer

Stadt nähert; denn beide vermitteln für das niedere Volk den Bimen-

handtl und Verkehr.

Die Stadt, welcher wir uns näherten, war Uetrecht. Von einer mächti­ gen Gruppe alter und ehrwürdiger Kastanien beschattet, lag diese Stadt zur

Linken unseres Weges.

Ihr Name erweckt angenehme Erinnerungen in

6

Durch Holland im Fluge.

mir. Ich denke an den Friedensschluß von Uetrecht und an die Gesandten in Perrücken und seidenen Fräcken, die ihn geschloffen — an ihre Rangstreiügkeiten und ernsthaften Debatten über den Vorrang bei Tische und • den Vortritt zu den feierlichen Sitzungen.' Die Friedensschlüsse in jenen alten Zeiten waren sehr wichtige Staatsactionen, die gemeiniglich viel

länger dauerten, als in unsern Zeiten die Kriege selber.

Aber damals gab

es auch noch keine Armstrong-Kanonen und keine telegraphischen Depeschen. Holland ist recht eigentlich das Land dieser altm Friedensschlüsse im Roccocostyl.

Wie Belgien das Land ist, in welchem seit den Tagen

des großm Bourbonm bis zu denjenigm des großen Napoleon fast alle

weltbewegenden Schlachten geschlagen worden sind, so ist Holland das Land, in welchem fast alle berühmten Congreffe jener vergangenen Jahr­

hunderte getagt haben.

Der Charakter Belgiens ist auch von einer ganz

anderen Beschaffenheit.

Kein zweites Land Europas vereinigt in so engem

Raum-so viele Gegensätze von breiten, mineralreichm Bergketten und

flachen, trefflich'bestellten Thalstreifen, von abgeschiedenen Meierhöfen und

unrühigm .Fabrikstädten,

von altmodischen Erkerhäusern und Mmschen

darin, welche der neuen französischen Cultur huldigen, hastig fortgeriffen

von dem Zuge der Gegenwart und doch immer im Colorit des Alltags­ lebens einen gewissen Rest verrathend von der starken katholischen Farbe

der spanischen Zeit, während Holland — im besten Sinne noch ein

wenig zurückgeblieben hinter der übrigen Welt — in der Eintönigkeit seiner Landschaft übereinstimmt mit der leidenschaftslosen Gleichform seines

Lebens, und durch den unnachahmlichen Zauber von Frieden, den Mes athmet, was das Auge hier erblickt, zum Frieden und Friedenschließen einzuladen scheint.

Bei Uetrecht theilt sich die Eisenbahn.

Rotterdam, der rechte nach Amsterdam.

Der linke Arm führt nach

In einer kleinen Stunde sind

beide Städte erreicht. Es, war drei Uhr Nachmittags, als ich die langgestreckten Häuser-

maffen, die zahllosen Windmühlen und die Thürme von Amsterdam er­ blickte, und keine Viertelstunde später, daß ich in Gesellschaft eines hollän­

dischen Packträgers durch die engsten Gaffen, die er möglicherweise finden

konnte,

meinen höchst bescheidenm Einzug in die „Haupt- aber nicht

Residenzstadt" (vergleiche Bädeker) dieses Königreichs hielt.

Durch Holland im Fluge.

7

II. Amsterdam. Die Straßen von Amsterdam sind sämmtlich eng und dunkel.

die Straßen sind in Amsterdam auch gar nicht die Hauptsache.

Aber

Sie sind

nicht da, um darin zu wohnen, zu fahren und zu flaniren, wie bei uns.

Für alles Dieses sind die Grachten da.

Die Grachten sind eine eigen­

thümliche Erscheinung von einem Kanal in der Mitte, mit Schiffen darauf und Brücken darüber, und einer Reihe Häuser auf jeder Seite — alterthümliche Häuser, mit Treppen und Schnitzwerk und runden Erkerdächern.

Zwischen jeder Häuserreihe und dem Waffer ist ein Streifen Landes, auf welchem die Menschen gehen und fahren, und jene altmodischen Häuser

sind es, in welchen sie wohnen.

Ich möchte wohl in Amsterdam wohnen.

Hier haben wir Beides, das Waffer und die alten Häuser, aus einer

Zeit, wo man noch bürgerlich zu bauen verstand.

Heut und bei uns

baut man nur noch Kirchen und Kasernen. — Amsterdam ist ein Nürn­ berg am Waffer und im Waffer.

Die Häuser stehen auf Pfählen, welche

in den sumpfigen Boden gerammt sind.

Welch eine märchenhafte Vor­

stellung ich mir von dieser Stadt machte in meinen Kinderjahren und nach

den Bildern und Schilderungen in Meyer'S

Wunderbuche meines Elternhauses!

Universuni,

diesem

Etwas von diesen! frühzeitigen Ge­

fühl, etwas Ahnungsreiches empfand ich, als ich hinter meinem Pack­ träger herschritt, und durch die engen Vorstadtgassen nun auf einmal bei

der ersten Gracht heraustrat.

Za, >vär' es nicht um meinen ehrlichen

Mantelsack gewesen, den jener schiveigend mir vorauftrug, ich hätte mich von den Gestalten meiner Kindheit umgeben geglaubt, und nicht von der Wirklichkeit.

Hier war ja das glatte, dunkle Waffer mit den Fracht­

kähnen und den Winden und Krähnen am Ufer; und dort standen die dunkeln, hohen Häuser, mit ihrer rothen oder braunen Farbe und ihren

weißen Einsätzen — Lagerhäuser, mit den Namen von alten und be­

rühmten Städten, wie Nowgorod, Archangel, Bremen und Lübeck.

In

diesen Lagerhausgrachten ist es nun wohl stiller, als es ehedem zu sein

pflegte.

Aber die alten Tage der Hansa stiegen vor mir auf, als ich

an den hohen und geräumigen Magazinen dahinging, und meine Ein­

bildung bevölkerte sie mit Gestalten ihrer eigenen Schöpfung.

Und ich

muß sagen, daß ich diese Stimmung, als ob ich in vergangenen Tagen

Durch Holland im Fluge.

8

und unter Menschen toanble, die vor mir gelebt, nicht verlor, so lange ich in Amsterdam, ja so lange ich in Holland war.

Solch ein Reiz des

Alterthümlichen verbindet sich mit meinem Hollandsgang, und zumal mit meiner Erinnerung an Amsterdam, als ob dieses die Stadt der ehe­ des mittelalterlichen Reichthums

maligen Kaufmannsherrlichkeit,

Wohlbefindens in schönverzierten Häusern

und

dunan schwere» Tischen und

des Handels mit kostbaren Stoffen sei, zu einer Zeit, wo die Ferne noch ein. Wunder und die Schifffahrt noch ein Abenteuer war.

Trotzdenr

jedoch macht Amsterdam nicht jenen traumhaft verlorenen und überlebten

Eindruck, wie mehrere von den alteil Städten Belgiens, welche ganz der Vergangmheit

anzugehören

scheinen,

und durch

deren

ausgestorbene

Straßen und moosbewachsene Marktplätze die Menschen wie Schatten gehen.

Mitten in der Gegenwart steht Amsterdam wie ein lebendes

Bild der Vergangenheit.

Seine alten KaufmannspMste werden bewohnt

von Leuten, welche sich in der Sprache ihrer Väter unterhalten; in ihren alten „Kantoors" fahren die Eilkel fort zu arbeiten und mit den Kolonittl zu correspondiren.

Die Ostindienfahrer legen bei den alten Landungs­

plätzen an, und bringen den Reis und Zucker, den Indigo und die

Baumwolle von Java.

Auf der Rhede wehen die Flaggen aller See­

mächte, von den Konsulaten blicken die Schilder aller handeltreibenden

Nationen; und wenn auch Amsterdam heut nicht mehr ganz die Stadt ist, von welcher vor 150 Jahren unser Freund Berckemeyer, der „curiöse

Antiquarius" gesagt hat: „Sie wird die Perl aller Städte in der Welt; Item der Sitz und Sammelplatz alles Reichthums genennet", so ist der

Grund davon nicht, daß Amsterdam gesunken ist, sondern vielmehr, daß

die andern Städte sich gehoben haben.

Denn damals war Amsterdam

z. B. noch größer als Paris! —

Me gesagt, es war ein langer Weg, den mein Matelsackträger mich führte.

Er sprach wenig, und was er sprach, konnte ich nicht verstehen;

aber er hatte die unverkennbare Leidenschaft, immer wieder in enge Straßen einzubiegen.

Kaum hatten wir ein Stück von den Grachten

passirt, so sah ich mich schon wieder vor einem Schilde mit der Inschrift: „Verboden in te rijden.“

von Amsterdam eigenthümlich.

Diese Schilder sind den meisten Straßerl

Es ist verboten, in denselben zu fahren.

Aber auch ohne dieses Verbot würde sich kein Fuhrwerk in dieselben wagen,

Hmch Holland im Finge. aus Fmcht' darin stecken zu bleiben.

in Berlin kaum die Trottoirs.

Sie sind so schmal, wie bei uns

In alter Zeit wurde überhaupt in Amster­

dam nicht gefahren, wie ich aus meinem Freunde, dem „Curieusen", ersehen, in dem er (17.12) sagt, daß es daselbst nicht erlaubt sei, „Ca-

rossen zu gebrauchen, als nur den Fremden und Medicis."

Gegenwärtig

•ist' man in dieser Beziehung liberaler geworden, und in den etwas brei­ teren Straßen, sowie an den Grachten sieht man Wagen genug.

Nur

nicht in den engeren Straßen, durch welche mein holländischer Cicerone mich mit möglichster Consequenz führte.

Doch war das Leben in den­

selben bunt und anziehend.

Es waren Frauen darin mit großen, weißen

Hauben und Kattunjackeu.

Es waren Matrosen und Schiffsjungen darin.

Die malerischen Trachten von Bäuerinnen aus der Umgegend brachten Farbe in das Teniers'sche Helldunkel dieser Gaffen, und der Kopfputz derselben, mit goldenen Platten und Ringen, brachte sogar jenen kurzen.

Lichteffect hinein, welcher den Schildereien der heimathlichen Meister so

eigenartig

ist.

Ganz, absonderliche

Erscheinungen waren mir gewisse

Knaben und Mädchen, deren Anzug auf der einen Seite roth und auf

der andern Seite schwarz ist.

Ich wußte zuerst nicht, was ich daraus

machen sollte; unb es kostete mir ein gut Theil Mühe und Scharffinn,

ehe ich aus'meinem beredten Führer herausbrachte, daß dieses die Tracht der Waisenhauskinder sei.

Endlich machten wir vor dem Gasthause Halt, welches ich mir er­

koren hatte, well es — nach meines Bädeker's Angabe — sich durch die drei Tugenden auszeichnete, einen holländischen Wrth, eine deutsche Be­ dienung unh den französischen Namen des „Hotel des Pays-Bas“ zu

haben.

Ich verlangte ein gutes Zimmer, still und nicht zu hoch, —

(welcher Reisende hätte je ein anderes verlangt?) und erreichte, nach zahllosen Haupt- und Nebentreppen eines, in welchem ich neben der Aus­ sicht in einen tiefen und dunklen Hof auch noch den Bortheil hatte, alle

Viertelstunde die Melodie des Wiegenliedes aus Dinorah zu vernehmen.

Ich bin nun zwar ein großer Berchrer unseres unsterblichen Giacomo; aber ich glaube, er selber hätte es nicht ausgehalten, seine eigene Melodie im Verlauf der vierundzwanzig Stunden von Tag. und Nacht 96 mql

zu hören,

Denn so oft erklang sie.

Aber „verbiete du dem Seidenwurm

zu spinnen!" — So hoch ich auch war — die Melodie war noch viql

10

Durch Holland int Fluge.

höher. thurms.

Sie war so hoch als möglich, nämlich in der Spitze eines Kirch­ Sie kam von einem Glockenspiele, das vereint mit einem Dutzend

anderer Glockenspiele sich alle 15 Minuten in Bewegung setzte.

Gegen

vier Uhr aber, kurze Zeit nach meinem Einzuge in das unglückselige Zimmer, ließ sich zu den Glocken von oben noch eine Glocke von unten vernehmen, so lang und so ausdauernd, daß ich seitdem Glocken uni/

Glockenspiele zu den unverdimten Qualm der Menschheit rechne. Glocke in Frage war die Tischglocke gewesm.

Di^

Aber sie jagte mich zußl

Hause hinaus, was die deutschen Kellner, von welchen Bädeker spricht

Allein das Licht und die Lust waren zu gut, um

sehr übel nahmen.

sie bei Tisch zu versitzen.

Ich möchte nicht daß die Leser mich für Emm

halten, der eine wohlgedeckte Tafel mit einer guten Flasche Wein darauf und ein paar ftöhlichen Gesichtem ringsum verachtet.

O, ich wdrde ihnm

davon im Verlauf dieser Schildereim noch Beweise geben.

Essen gehört zu dm Haupwergnügungm in Holland.

Denn das

Aber ich bin noch

nicht so alt, um" zu essen, allein wegen des Essens, wie ich andererseits auch nicht mehr so jung bin, um zu tanzen, blos wegen des Tanzens. Bei beiden Beschäftigungen kommt es mir sehr auf die Gesellschaft an, und da mich 'ein flüchtiger Blick in den Speisesaal nur von der Anwesen-

hest einiger sehr dicker und vergnügter Kaufleute aus der deutschen Heimath überzeugte, so zog ich es vor, sie ungestört zu lassm und meiner Wege

zu gehm. —

Mein Hotel lag in einer Straße, derm bloßer Name schon dunkel

klingt, nämlich Doelen-straat.

Kaum aber war ich um die Ecke derselbm

gebogen, so hatte ich wieder Wasser und Brückm, und auf beiden Seiten

große Häuser in Sicht.

Eines dieser Häuser, welches einem Palast gleicht,

ist die berühmte Bildergallerie von Amsterdam, „’s Ryks Museum“, das Reichs-Museum.

Mit einem Gefühl von Freude, als ging' ich zu

altm Bekanntm, stieg ich die breiten, stattlichm Treppen empor und sah mich bald von der gebräunten Leinwand mit dm starken, dunklen Farben

der niederländischen Meister umgeben.

Wenn ich in eine fremde Stadt

komme, so ist mein erster Gang zu ihren Monurnentm, ihrm Galerim

und Bibliotheken.

Kunstwerke, Bilder und Bücher reden in jedem Lande

dieselbe Sprache, und das empfängliche Herz versteht sie überall.

Ich

fühlte mich zu Hause vor diesm guten, viereckigen und strengen Gesichtern

der alten Bürgermeister von Amsterdam.

Edle Frauen und Jungftaueu,

die vor zwei oder drei Jahrhunderten lächelten und liebten, in hohen Tuchkleidern mit dicken Halskrausen schauten nieder.

Ruysdaels Waffer-

fälle rauschen; und in Potter's Thierstücken erkenne ich die Weide, ben Canal und die Heerde

wieder,

welche ich aus dem Wagenfenster heut

Morgen so vielmal gesehen habe.

i.

Der Horizont dieser Meisten ist so eng, er geht nicht über die Wind­

mühle der Heimath, über den Mstenstrich oder die Versammlung der stMischen Gilde hinaus.

Aber dem -Herzen wird wohl in dieser Be­

schränkung, wo jeder Gegenstand Vaterlandsliebe, den Stolz der Unab­ hängigkeit athmet, und das Auge ruht mit Behagen auf dem Detail,

welches — fertig in sich — die Welt im Kleinen schildert. Alles greifbar und faßbar.

Hier ist

Eine Darstellung von Ideen und Idealen

ist nicht versucht; aber die Wirklichkeit mit ihren derben Formen und natürlichen Farben tritt, nicht wie ihr Bild, fonbem wie sie selber, aus jebem dieser dunklen Rahmen.

Kein überirdisches Schweben fesselt die

Seele, kein Engelskopf, kein Glorienschein.

Aber wir sehen die Amster­

damer Bürgergarde — Bartholomäus van der Helst's Meisterwerk —

wie sie mit ihrem Hauptmann am 18. Juni 1648 den Abschluß des

westphälischen Friedens feiern, 25 gute, handfeste Männer, in Wamms nnd Jacken, mit Tressen, wie echtes Gold, mit blauseidenen Fahnen,

mit Bechern und Kannen, mit Schüsseln und Schalen auf dem Tisch, und so viel Jovialität in dm Gesichtern, wie lauter Sonnenschein.

Hier

ist van der Helft noch einmal mit seinen „Vorstehern der Goldschmiedezunst," welche einen goldenen Becher und ein goldenes Halsgeschmeide prüfen.

Steine malt.

Wie dieses Goldgeflecht scheint und schimmert!

blitzen!

Wie diese edlen

Diese Leute haben keinen Goldgrund für Heilige ge­

Sie malten das wirkliche Gold der Gnadenketten und Dublonen,

mit welchen ihre Patronen sie belohnten.

von Rembrandt

Hier ist mein Lieblingsstück

eine Compagnie Bogenschützen, die mit ihrem Haupt­

mann, morgens früh,

zum Scheibenschießm ausrücken.

Ich habe nie

etwas Schöneres gesehen, als diesen Rembraudt'schen Sonnenschein auf

den

rothen

Röcken der Schützen.

Einem das Herz im Leibe!

Bei solch einem Sonnenschein lacht

— Madonnen sind nicht da, außer einer

von Murillo, deren südliches Dunkel wunderbar absticht gegen die lei-

1?

Durch Hollands« Fluge,

dvnschaftslosen flachen Gesichter, die sie umgeben. Madonnen, die

Die niederländischen

man hin und wieder sicht, verhalten sich zu dm Mu-

rillo'schen, wie die Sonne von Holland gegen die Sonne von Spanim.

Auch Murillo in seiner Weise ist ein Maler der Realität- Md man wird seine schwarzäugigen wollüstigm Madonnen wieder erkennen unter

so manchem Spitzenschleier von Madrid, auf so manchem Altan in Gra­ nada, gerade so, wie die Modelle zu dm Rubens'schm'Madonnm, diesen

dickm, wohlgenährten, zufriedmm Frauenzimmern, welche man in Hampton

Court sicht, noch hmt auf dm. Straßen von Amsterdam herumgehen. Nun ist allerdings in der warmen Gluth eines spanischen Auges mehr

Madonnenhaftes, als in dem matten Blau mit den gelben Augenbrauen einer Holländerin.

Aber das Ideal der Schönheit ist zum Glück ein

verschiedenes bei den verschiedmm Völkern.

Wie sollte es sonst solche

Dinge in Holland geben, als Liche und Begeisterung! Auf der Straße empfing mich zu meiner gerechten Freude-wieder das Megenlied aus Dinorah, welches ich seit einer Stunde nicht mehr

gehört hatte.

Unter dem Geläut deffelben erreichte ich zuerst wieder

meine Doelm-straat, mein Hotel, Md dann Kalver-ftraat, die Haupt­ straße von Amsterdam.

Ich weiß nicht, wie oft ich Kalver-ftraat auf-

und abgegangen bin-, aber ich weiß, daß mich zuletzt jedes Kind iwKalver-

ftraat kannte, denn so oft ich während meines Aufmthalts in Amster­ dam nicht recht wußte, was ich thun sollte, toanbte ich mich nach Kalverftraat.

Daraus

folgt nun keineswegs,

daß Kalver-ftraat eine schöne

Straße sei, aber sie ist eine von den wenigen Straßen Amsterdam's, in welcher Wagen fahren, Conditoreim sind, Buchbinder wohnen und Bilder

vor den Fmstern hängen.

In dieser Straße gefiel mir ein Haus sehr

gut, welches die Vortheile der Gastwirthschast mit Gottesfurcht in sinniger Weife verband.

Es war dies ein Hotel, welches als Schlld über feiner

Thür eine aufgefchlagme Bibel mit Goldschnitt führte, auf der geschrieben

stand

„Table d’höte ä

heures.“

Auch war es hier, wo ich darüber belehrt wurde, wie man es anzusangen

habe,

um Eintritt in ein holländisches Haus

Denn die Häuser in den Städten von Holland sind

schlossen, gleich den englischen.

zu erlangen.

regelmßig

ver­

Aber verschieden von London, bevor eine

Thür sich öffnet, muß man in Amsterdam — bellen!

Das klingt sehr

Dmch tzslla«^i«^ Kk«M Ungliaubljch,

doch

-K ist. wahr.

kleinen Messmgschildern „2 mal bellen."

es $et tticht aaf all den

Steht

dicht an. den Thür

Hier sogar „3 mal bellen."

groß

geschrieben?

genug

Lediglich zu Wissenschaft

lichen Zwecken verfolgte ich eine der hübschesten Damen,, welche ich in

Amsterdam überhaupt gesehen habe, Kalvex-strqat zuMe.

indem sie einem

der Häuser in

Ich war. zu neugierig auf ihr Bellen.

SBie wird

diese Dame es machen,? dachte ich — und richtig — sie bellte!

Sie

bellte einmal, zweimal, und erst beim dritten Mal öffnete sich die Thür.

Aber der Effect war doch nicht ganz, der erwartete; denn „betten" heißt

leider int holländischen Lexicon nichts weiter als — die Glocke ziehen! Im Uebrigen habe ich wenig gute Schilder, sowohl in Amsterdam als in den andern Städten von Holland gefunden.

Denn, doch mau

hort sagt,: „En gestofferde Karner te huur,“ wo man bei u'as sagen

Würde

„Ein möblirtes Zimmer zu vermiethen,"

oder „Koffe ykamer“

für „Kaffeehaus", „Bloedzuingers“ für „Blutigel" und „T otkisten“

für Särge, das sind doch mehr Amönitäten der Sprache, als

.jener Li­

teratur der Schilder, die zu studiren, anderwärts für den R eisenden «n

so wohlfeiles und lehrreiches Vergnügen ist, holländischen, Städte

noch

Regel nicht zu haben.

Die Wahrheit ist, daß die

so altväterlich sind- Ladenschi'lder. als. eine

In früheren Zeiten hatte, man

wie Ladenschilder, ebensowenig als Hausnummern.

waren, unbekannte Dinge in den Straßen^

solche Mnge,

Schri st und Zahlen

Jedes Haus k-atte, meist ohne

den geringsten Bezug auf Stand Md, Gewerbe, des Bett whners, sein be­ sonderes Zeichen^ einen Mohrenkopf, einen rothen Ochs en, einen Ritter,

einst blauen Löwen, einen goldenen, Ball, und was de rgteichen wMderbare Dinge, Thiere uyd Menschen, mehr waren..

Bei Ms hat sich de«

Mohr vor den Tabaksläden, der Schwan, das Einhorn vor den Apo­

theken erhalten, während der Ritter, der blaue Löwe und der rothe

Ochse bei uns sowohl als auch in England sich mehr und mehr auf die Wirthshausschilder der Dörfer und Landstädte zurückgezogen,

und in

größeren Städten den Hotels mit stanzösischen Ramen Platz gemacht

hat.

Die Mrthshausschilder sind auch in England, nüchterner- nichts­

sagender geworden,

als sie in den alten Zeiten waren, wo einige der­

selben eine politische und andere

eine komische Bedeutung hatten.

Da

ist, wohl noch - „das, Schwein, und die Pfeife," „der Haase uyd. die Hunde",

H

Durch Hollaud im Flug«.

aber wo ist die „Königliche Eiche" dies Mrthshauszeichen der Jacobiten

im 18. Jahrhundert mit dem versteckten Bilde Karl's II.? man noch „das Bild von uns Dreien"

Wo sieht

auf welches Shakespeare au-

spielt (Heiliger Dreikönigsabend, III. 3.) — ein Mrthshausschild mit

zwei Narrm und der Inschrift „Wir sind dreie," so daß der unglück­ liche Wicht, welcher sich versuchen ließ, es zu lesen, „Stoff zum Reden

für eine Woche, Gelächter für einen Monat und einen guten Witz für's ganze Leben" lieferte? —

In Holland hat man in dieser Beziehung den befferen Humor der alten Sitte bewahrt.

Hier haben die Häuserzeichm alle noch eine Phy­

siognomie, die, toenn sie selber nicht lustig ist, den Fremden und das Publikum insgemein doch lustig machen werden.

Hier sieht man noch

vor jedem Laden jene wunderlichen Figuren, welche „Gapers“ genannt werden, vermuthlich deswegm, well sie alle das Maul weit auffperren (gape-n

ist friesisch, holländisch und englisch für „gähnen").

Einige lachen, An­

dere wemen. Andere wundern sich oder machen ein Gesicht, als ob sie

Zahnwch hätten. Alle oben strecken die Zunge aus und weisen den Vor­ übergehenden die Zähne in einer schreckenerregenden Weffe.

Sie sind

braun oder schwarz, haben Turbane und Kronm auf, oder sind im Ma­ trosenanzug, so daß sie einer kindlichen Phantasie alle Wunder und Aben­ teuer ftemder Länder und entfernter Zonen darzustellen scheinen, wie ich

denn auch nicht umhin konnte, immerfort an den vergnügten Mohrm zu

denken, welchen ich — auf Baumwollenballen sitzend und sein thönernes Pfeifchen schmauchend

auf dem Schilde des einzigen Tabaksladens

sah, dessen sich mein heimathliches Städtchen rühmt.

Dieses Tabaks­

schild und Freiligrath's Gedicht vom Mohrenfürsten waren, mitten unter den grünen Hügeln meiner Heimath, die beiden Vorstellungen, die ich mit der See, der Schifffahrt und der toeiteti Welt verband, und sie

fielen mir lebhaft wieder ein, als ich die ersten Gapers von Amster­

dam sah. Aber auch in anderer Weise sollte mich Amsterdam an die Kinder­ jahre erinnern.

Kalver-straat hat nämlich kein Trottoir, und das Ge­

fühl von spitzen und unregelmäßig

nebeneinander

liegenden

Steinen,

welches ich seit jener Zeit nicht mehr gchabt, erneute sich an diesem Tage wieder in gMzex Glorie.

Aber leider zeigte sich mein Gemüth für diese

Art vo« Reminiscenz nicht schr empfänglich mehr.

Oester, als ich dies

unter anderen Umständen vielleicht gethan haben würde, machte ich in

dem „Grand Cafe restaurant“ am Damm (dem Ende der trottoirlosen Straße) Halt, und unterhielt mich abwechselnd damit, die Kölnische Zei­

tung zu lesen, einen Absynth zu trinkm und vom Balkou nach dem

gegenüberliegenden „Palais" zu sehen, in welchem die Königin Hortense und der jetzige Kaiser der Franzosen die kurze Zeit lebte«, wo ein Bo­

naparte König von Holland war.

Ein paar Schritte weiter brachten mich zum „Nieuwen Dyk“ und

zur „Nieuwen Brug“, und hier war es, wo ich den ersten Blick auf

das berühmte Waffer von Amsterdam, „het Y“, auf die Docks und die Schiffe hatte.

Diese Hafenansicht ist recht, wie man sich ein niederländisch

Seestück denken mag.

Im Hintergründe hat man die kleinen hollän­

dischen Häuser mit den bunten Trachten von Weibern aus dem Volke und Matrosen, und vor sich, bis an den fernen Horizont, blaues Waffer, mit kreuzenden Böten, und Masten und Segeln.

auf diesen Blick gefreut,

Ich hatte mich recht

leider wurde mir nur der Genuß desselben

durch einen Stiefelputzer gestört, welcher nicht müde wurde, mir seine

Dienste anzutragen.

Dies war gewiß schon der zwanzigste Sttefelputzer,

der während der drei oder vier Stunden meines Aufenthaltes in Amster­

dam sich begierig zeigte, meine Fußbekleidung zu säubem, ttotzdem diese so reinlich und blank war, als ich in meiner kriüschsten Laune nur hätte

wünschen können. Letzte übertraf an

Den Andern war ich glücklich entrönne«, aber dieser Verstocktheit

und Ausdauer alle seine Vorgänger.

Umsonst suchte ich ihm zu beweism, daß ich mit dem Aussehen meiner Stiefel vollkommen zufrieden sei.

Er plaidirte in drei Sprachen, hol­

ländisch, deutsch und ftanzösisch dagegen, und berief fich zuletzt darauf, daß er ein Jude sei, morgen fasten müsse und heute noch nichts gegessen

habe.

Diese drei Gründe für das Putzen meiner Stiefel leuchteten mir

ein, aber da ich sah, daß es fich hier weniger um die gepriesene hol­

ländische Reinlichkeit handle, vor der ich eine gerechte Scheu aus Deutsch­ land mitgebracht hatte (obgleich ich mich allmählich überzeugte, daß es da­

mit doch nicht ganz so arg sei), so ließ ich mich mit dem religiösen

Stiefelwichser in ein Compromiß ein. unter der Bedingung nämlich, daß er alle ferneren Absichten auf meine Stiefel aufgebe, wollte ich ihn zu

16

Durch Holland im Flugr.

meinem Führer Nehmen nnd unter seiner Aegive die hochverühintek jü­

dischen Synagogen besuchen, von denen ich in alten Sagen und Legenden früher so viel Wunderbares vernommen hatte.

Diesem bescheidenm Bürger von Amsterdam bin ich für die inte­ ressante Wanderung durch das Judmquartier dieser Stadt verbunden, welche ich in seiner Gesellschaft nunmehr antrat.

Ich kann gar nicht

beschreibm, wie eigenthümlich mir zu Muth ward in diesen Heimathstätten von Spinoza und Uriel Acosta.

Straßen voll schreiender Kinder Md

Enge, dumpfe und schmutzige dicker Weiber vor den Thüren

sind der Typus dieses Judenviertels wie der jedes andern.

Hier und da

stand ein Jüngling an die Wand gelehnt, Hände in der Tasche, Hut

auf dem Kopfe Md Cigarre im Munde — ein Dandy des Judm-

viertels und einer von jenen stets wiederkehrenden Repräsentanten Des­ jenigen, was man in demselbm „nmmodisch" nennt; sogar eines Schildes

entsinne ich mich, auf welchem zu lesen war men Haar naa’r model“

„Hier scheert und surft

Aber auch die wMdervvllm schwarzäugigm

Töchter Juda's fehlm hier so wenig, als im Ghetto von Rom, von FrMkfurt oder London.

In der That, ich habe da Manch eine dicke

Flechte um einen Kopf von so viel südlicher Schönheit und mit einem

Paar so funkelnder Augm darin gesehen, daß ich meinem Führer halb dankte und halb grollte für diesm flüchttgen Gang.

weilen blieb wenig Zeit übrig,

Denn zum Ver­

da das Judenviertel von Amsterdam

aus zahllosen Gassm Md Mndungen besteht.

Was «Ns überall be­

gleitete, war der Geruch von halbfaulm Mchm, die auf offener Straße

gebraten Md gebacken wurden, das Geschrei von Männern, welche hvch-

gepackte Wagen mit Datteln durch die Straße zogm und das Geschnatter Md Gekicher der grauen und Mädchen, wo wir uns sehm ließen.

Trottoir war auch in diesm Gassen keine Mede;

Bon

destomehr aber von

knietiefem Schmutz Md Lumpm aller Art, durch welche wir beständig waten Mußtm.

Mittm in diesem vielfältigen Lärm und Geräusch von

allen möglichen Gerüchm Recht gehabt.

liegen die Synagogen.

Mein Führer hatte

Am andern Tage war der große Fasttag Mr Erinnerung

an die Zerstörung von Jerusalem.

Vor allen SynagogM fandm wir

Gruppm alter Männer mit struppigen, weißen Bärtm, die sie der

Trauer wegm neun Tage lang hatten wachsen lassen.

Das Innere aller

Synagogen war mit Schwarz, behängt.

Die älteste dieser Synagogen

ist ein dunkles, enges Zimmer, in welchem es riecht, als ob zweihundert Jahr alte Luft darin sei, unb welches aussieht, als ob nicht hundert Men­ schen darin stehen könnten, obgleich sich regelmäßig mehr als dreihundert

darin versammeln.

Den tiefsten Eindruck auf mich

machte die Syna­

goge der portugiesischen Juden, welche hinter einer hohen Mauer liegt. Der Vorsänger ließ mich durch das hohe Thor deffelben nicht eher ein­ treten, als bis er mit einem großen Schlnffel dreimal laut und langsam angeklopst hatte, damit die Geister der Abgeschiedenen, welche in der Synagoge Gottesdienst, halten, so lange die Lebenden

hätten,

sich

daraus

zurückzuziehen.

fern sind, Zeit

Das Allerheiligste ruht hier auf

Säulm von gebräuntem Mahagoniholz.

Schwere Messinglampen hängen

von der hohen, einfachen Decke herab.

Der Vorsänger in seinem ge­

brochenen Holländisch-deuy'ch

erzählte mir viel von dem großen und

mächtigen Vorsteher dieser Gemeinde, Da Costa, welcher einen Sohn

gehabt, der sich taufen ließ und ein Christ und berühmter Dichter ge­

worden, aber in seiner letzten Stunde, als es zu spät war, große Reue

Dieser Da

empfand, daß er den Glauben seiner Väter verlassen habe.

Costa ist noch immer einer der beliebtesten Dichter in Holland und die

illustrirte Prachtausgabe seiner Werke sah ich späterhin vor allen Büchläden in Amsterdam und den übrigen Städten.

Auch das Haus

Da Costa's wurde mir von meinem Führer gezeigt.

Juden-Heeren-Gracht.

Es stand

der

auf der

Die Judm-Heeren-Gracht ist der vornehme Theil

der Judenstadt von Amsterdam.

Man erinnert sich an die alten Er­

zählungen von steinreichen Juden und bildschönen Jüdinnen, wenn man

an diesen Häusern mit den hohen, verhängten Fenstern, den starken, braunen Thüren und den massiven Treppen davor, vorbeigeht.

Den

Juden in Amsterdam ist es seit ältester Zeit besser ergangen, als irgendwo,

seit den Tagen der

gewiesenen spanischen Herrlichkeit, wo sie Minister

und Granden des Reiches waren.

Sagt doch schon mein curiöser Anti-

quarius von anno. 1712: „Die Jud en sind in Amsterdam in großem

Ansehen und Reichthum,

wie denn

einer daselbst ein Haus bauen

lassen, an welchem Gold, Silber und Atarmor an allen Ecken hervor­

blickt, und ist in diesem Judenpalast ein Saal, welcher mit Dueatonen gepflastert ist." — Von diesem Judenpalast habe ich fteilich Nordische Revue, in. 1. Heft. 1865.

2

18

Hqrch HoLctod im Fluye.

nichts

«ehr gesehen, dagegm zeigte mir znm Abschied/, mein Führet

(welcher Schuhwichse und Bürste fortwährend unter dem Arme trug) eine ganze Reihe großer, fünf Stock hoher, Gebäude, welche .„ganz voll

von Brillanten" seien, wie.er sich ausdrückte, .und alle den Juden, ge­ hörten.

Es waren dies aber die berühmten Diamantmühlen. von Am­

sterdam, die sich allerdings noch immer in den Händen der kunstver­

ständigen Juden.befinden. So verbrachte

ich

diesen Tag

und

ein paar

folgende abwech-

seld damit, Kalver-straat auf- und niederzugehen,, über die. Brücke«, .und

unter den Ulmen der Grachten zu wandeln^ die Kölnische Zeitung., zu

lesen und das Wiegenlied aus Dinorah zu hören. Nur die Abende wurden mir, ich.will es aufrichtig bekennen, etwas langweilig.

Zwar war die Zeit des ersten Härings gekommen, und . diese

Zeit ist immer ein festliches Ereigniß für Holland.

Die Läden, -in wel­

chen seit jenem Tage frische Häringe verkauft wurden, waren mit Blättepkronen und Laubgewinden, gar festlich geschmückt, wie. denn von nun an

bei keinem Diner mehr der frische Häring fehlte, mit einer rothen. Nelke in dem spitzen Mäulchen, und des Abends, wohin man hörte, wurde gesungen und getrunken.

Aber es blieb doch immer, dasselbe, und Grog

aus hohm Gläsern zu trinken und Tabak aus thöuernen Pfeifen dazu zu rauchen, ist.am Ende kein Vergnügen, für die Ewigkeit.

Die Theater

waren geschloffen, und zuletzt war mir, als ob die Hunde selber mich mit jenem „unterthänigen" Blick der Hunde von Aachen ansähen, welche

durch Heine's Wintermärchen unsterblich geworden sind. .Doch war da noch eine näher liegende, eine Art von Heimennnerung, die mir — Gott

weiß warum — immer wieder einfiel, wenn ich diese Hunde sah.

Als

nämlich im Jahre 1796 unter Pitt, diesem Mann der genialen Steuern,

die erste Hundesteuerbill in das

englische Parlament

gebracht wurde,

machte Einer von den Anhängern des Ministers als einen Grund für die Regierungsvorlage unter Anderm auch die Wafferscheu der.Hunde geltend.

Worauf der boshafte Courtenay, von der Opposition, sogleich

folgendes erwiederte

„Um diesen Gegenstand des Schreckens," sagte er,

„auf sein richtiges Maß zurückzuführev, bitte ich um die Erlaubniß,

auch einen von den großen Vortheilen anführen zu dürfen, die zuweilen daraus entspringen können.

Lord Chesterfield hat einmal die Maxime

19

Durch Holland im Fluge.

ausgestellt,

daß die einzige Möglichkeit für einen Holländer,

z« werden, die sei, daß ein toller-Hund

ihn beiße,

geistreich

und so ehrgeizig

war ein Bürgermeister von Amsterdam, daß er sich, um in dieser ge­ nannten Eigenschaft zu glänzen', der schmerzhaften Operation unterzog.

Hier ist daher ein Argument für den ehrenwerthen „Gentleman!"

So

erzählt der Earl Stanhope in dem „Leben" seines großen Ahnherrn.

Aber dies Argument des englischen Politikers muß doch in Anksterdam zu keiner allgemeinen (Stiftung gekommen sein, und kurz, nachdem

ich alle Grachten, Straßen und Museen von Amsterdam mehrere Tage nach einander durchwandert hatte, verließ ich endlich am fünften Morgen

nach meiner Ankunft, nicht ohne das erhebende Gefühl, meine Pflicht gethan

zu

haben,, die

„Perl aller ^Städte", und

dem Haag>

(Fortsetzung ürt nächsten Hefte.)

reiste

weiter

nach

tote Juden in Rußland.

Es liegt uns eine Denkschrift vor, die, wie »ns versichert wird, vor Kurzem von einem russischen Rabbiner der Regierung Alexanders II.,

richtiger dem betreffenden Reffortminister unterbreitet wurde Md welche

auf nichts weniger als die gänzliche Emancipatton der Inden im großen Kaiserstaate anträgt.

Das Factum selbst ist ein Zeichen der Zeit, um

so beachtenswertster, als es gewiß zum ersten Male geschieht, daß ein

jüdischer Seelsorger, der nicht nur für seine Stelle, sondern auch für das Wohl all

seiner Glaubensgenoffm besorgt zu sein hat, eine wenn

auch noch so leise Opposition gegen das Bestehende wagt.

Es

fehlte

wenig, daß nicht auch wir Anstand genommen hätten, von der besagten Denkschrift Gebrauch zu machen, in der Besorgniß, die Empfindlichkeiten

der russischen Behörden anzuregen und dadurch dem Herrn Verfasser, ja vielleicht auch der Sache selbst Nachtheil zu bringen.

keiten konnten aber nur von

kurzer Dauer sein.

meinem Interesse entziehen sich

Diese Bedenklich­ Fragm von allge­

heute mehr als je der Geheimthuerei

und wo ein vernünftiges Wort darüber gesprochen wird, wird es Ge­

meingut.

Man sollte nun freilich meinen,

mehr in der Sache sagen.

es lasse fich nichts Neues

In der Theorie ist der Satz: gleiche Pflichten,

gleiche Rechte, heute bereits von allen Staaten als Grundlage der ganzen Gesetzgebung anerkannt und es bliebe, auf denselben gestützt, nichts als

den Juden die Gleichberechtigung mit allen andern Staatsangehörigen zu­

zuerkennen, oder aber ihre Lasten um so viel zu verringern, als ihre Rechte vermindert sind.

Da diese letztere wenigstens relative Gerechttgkeit aus

Opportunitäts- und andern Rücksichten weder zu wünschen noch zu er­

warten ist, so erübrigt nur die wirkliche, vollständige bürgerliche und

staatliche Gleichberechtigung in jedem Lande, dem es ernstlich darum zu

thun ist, seine Einrichtungen auf das obige, dem Rechtsbewußtsein unserer Zeit entsprechende Princip zu basiren. Herr von Buschen in seinem Werke über die „Bevölkerung Ruß­

lands" giebt bie Zahl der jüdischen Einwohnenschaft des Reichs (Polen

nicht eingerechnet) auf 1,425,784 an.

Aber in den verschiedenen Gou­

vernements ist ihre Bertheilung nicht nur, sondern auch ihre Behand­

lung eine verschiedenartige.

Mit Ausnahme der drei Baltischen Pro­

vinzen Liv-, Est- und Kurland, von denen speciell gesprochen werden soll, giebt es nur fünfzehn Gouvernements,

in denen

der

regelmäßige

Aufenthalt den Juden gesetzlich gestattet und wo die Anzahl derselben

eine beträchtliche ist; sie schwankt zwischen 12,061 (Taurien) und 225,074

(Kiew).

Nimmt man noch die Gouvernements von St. Petersburg (mit

1,566 Seelen) und Nowgorod (1308) aus, so finden wir in den dreißig andern Gouvernements (Estland inbegriffen), je eine israelitische Bevöl­

kerung von weniger als tausend Seelen.

Die bestehende Gesetzgebung läßt sich im Allgemeinen bezüglich ihrer Ausnahnlsbestimmungen wie folgt zusammenfaffen: In den obenerwähnten

fünfzehn

Gouvernements,

ivelche eine compacte jüdische Bevölkerung

haben*), ist dieselbe zum Aufenthalt in den Städten zugelassen, auch

berechtigt Grundbesitz anzukaufen; ja sogar an den Gemeindewahlen kann sie sich betheiligen; jedoch beschränkt sich factisch diese Betheiligung auf

die Zulassung eines jüdischen „Rathsmannes" in den Gemeindeconseil; von der Befähigung zum Bürgermeisteramte, ja sogar von der Wahl

des Bürgermeisters sind die jüdischen Stadträthe ausgeschlossen.

Für

die andem Gouvernements, wo die Juden blos einzeln tolerirt werden, wurde vor nicht langer Zeit, folgendes gesetzlich bestimmt:

Diejenigen,

welche bereits früher wenigstens zwei Jahre als Kaufleute erster Gilde geduldet waren, konnten sich nun definiüv daselbst niederlassen; andere

Kaufleute erster Gilde können die endgültige Zulassung erst nach einem

fünfjährigen Aufenthalte in dieser Eigenschaft erlangen; die aus andern

*) Diese sind: Kiew (225,074), Podolien (195,847), Wolhynien (183,890), Mohilew (102,855), Kowno (101,837), Minsk (96,981), Grodno (94,219), Bessara­ bien (79,125), Wilna (76,802), Cherson (74,557), Witebsk (62,628), Tscheringow (31,611), Poltawa (26,511), Jekaterinoslaw (23,155) und Taurien (12,061).

22

Die Jude« in Rußland.

Gouvernements zugereisten

jüdischen Kaufleute

Städten, wenn sie zur ersten

können sich in

solchen

Gilde gehören, jährlich zweimal drei

Monate und als Kaufleute zweiter Gilde zweimal zwei Monate jährlich

in den Städten solcher privilegirter Gouvernements aufhalten.

Personen,

welche an einer russischen Universität promovirt oder sonst.einen Doctor­

grad erlangt Haben, können sich in allen Städten des Reichs niederlaffen und sind auch zum Eintritt in den Staatsdienst befähigte

In

dieser letztem Beziehung ist zu bemerken, daß Aerzte nicht in die Ka­

tegorie der Niederlassungsfähigen gehören, sondem blos Doctoren,

imb es ist dies ein Uebelstand, der zu vielen Klagen Anlaß giebt, weil notorisch die meisten jüdischen Aerzte sich mit diesem Grade begnügten

und das ftüher vom praktischen Standpunkte aus unwesentliche Doctor»

examen

nicht

In

ablegten.

der Armee ist den Juden das Avance-

ntent nicht gestattet, erst in lauester Zeit ist die Beförderung zum Un­ teroffizier erlaubt worden:

Biel drückender aber als diese Beschränkung

ist die Unduldsamkeit, welche den jüdischen Soldaten m Staatswegen

verfolgt, nachdem er zwanzig Jahre in der Armee des Kaisers gedient

und auf den Schlachtfeldem mit geblutet hat. das mssische Rekmtirungsgesetz

Es ist bekannt, wie sehr

durch die lange Dauer der Dienstzeit,

WM sich noch die riesigen Distanzen des Reichs, die beschränkten Eom»

munikationsmittel und die Hülflosigkeit des Soldaten gesellen, wie sehr, sagen wir, all dies dazu beiträgt, diese

während andererseits

gewisse nur

ihrer Heimath zu entfremden,

der mssischm Armee eigenthümliche

Gewohnheiten, z: B. das Arbeiten beim Bürger und Bauer u. s. w. ihm den Gamisonsort zu einer neuen Heimath gestalten.

Wie grausam

ist es nun, einen solchen Soldaten, well er Jude ist, wenn er seine Dienst­

zeit in einem privilegirten Gouvemement vollbracht, in seine Heimath

abzuschieben, die oft einige Tausend Werste vom Orte entfernt ist, wo er

sich

eingelebt hat,

geworden,

die

er

als

in diese Heimath,

Knabe verlassen,

welche' für ihn ganz fremd wo

in

den meisten Fällen

Niemand mehr ihn kennt imb wo er jedenfalls ohne alle Kenntniß der

Verhältnisse und ohne alle Mittel, ost auch in einem ganz veränderten Klima, ein alter Mann bereits, sich eine neue Existenz schaffen soll, mit

Beobachtung natürlich der für die Juden bestehenden Beschränkungen!

Hat man doch behauptet, die Armee habe auf die untersten Bevölkerungs-

klassen einen civilifirenden, einen bildenden Einfluß. Frage sich Bahn brechen:

Muß da nicht die

Hält man den russischen Juden für so ver­

dorben oder die russische Armee für so unfähig, daß Ersterer, nachdenr

er zwanzig Jahre und noch länger in der letztern gelebt, noch nicht genug civilisirt ist, um ohne Gefahr in einer russischen Stadt oder in

einem russischen Dorfe belassen werden zu können? Doch wir bemerken soeben, daß wir nicht nur aus dem referirenden

in den raisonnirenden Ton übergegangen, sondern auch, daß wir von denl Gegenstände dieses Artikels, der Denkschrift des Rabbiners, abge­

kommen sind.

Bevor wir jedoch zu dieser zurückkehreu, haben wir noch

einiges Thatsächliche zu constatiren, namentlich bezüglich der Baltischen

Provinzen.

Die jüdische Bevölkerung daselbst beträgt in Kurland 25,641,

in Livland 1,052, in Estland 458 Seelen.

Die Gesetzgebung liegt dort

bekanntermaßen nicht ausschließlich in den*Händen der Regierung, welche

sie'vielmehr mit den sog. Ständen theilt.

Kur- und Estland genießen

eigentlich das Privilegium einer rein-christlichen Bevölkerung, da das Procent Juden gar nicht in Betracht konimt.

Auch Livland hat letztere

nur in seiner Hauptstadt Riga in bedeutender Anzahl.

Die Verhältnisse

daselbst unterscheiden sich von denen in Großrußland nicht gerade zum

Vortheile der israelitischen Bevölkerung.

Die Anzahl der zugelassenen

Juden ist eine beschränkte und hängt vom bon plaisir der Localbehörden

ab;

hierzu kommen noch die

jenen Provinzen eigenthümlichen Zunft-

gesetze, welche den Juden von manchem Handwerke ganz ausschließen,

für andere ihm das Halten von Gesellen verbieten n. s. w.

Der An­

kauf von Grundbesitz ist ihm in jenen junkerbenedeitcn Landen selbst­ verständlich

untersagt.



Blos

zur

Ergänzung

dieser

historischen

Uebersicht sei hier noch einer Maßregel gedacht, welche vor Kurzem in

den

westlichen und

südlichen Gouvernements

von Grundbesitz verbot, eine Maßregel,

den

Juden den Ankauf

deren bereits in Horn's volks-

wirthschaftlichen Briefen (Octoberheft d. Nord. Revue! genügend Erwähnung geschah. — Es soll natürlich in dem Vorstehenden nicht ein ausführ­

licher Nachweis sämmtlicher das Judenthum betreffenden russischen Ge­ setze

geliefert

werden;

einzelne

Kreise,

ja

sogar

Städte haben ihre

speciellen Judenreglements, auf die wir selbstverständlich nicht eingehen konnten.

Aber aus der vorangehenden Skizze wird man zur Genüge

24

Die Juden in Rußland.

ersehen, wie gerechtfertigt die Stimmen sind, die endlich chrsurchtsvoll, aber eindringlich an die russische Regierung die Bitte richten, zur Ehre

der Civilisation, aber auch in ihrem eigenen Jntereffe, Zuständen ein Ende

zu machen, welche mit den freisinnigen Ansichten, die mit Recht an der Re­ gierung Alexanders II. gerühmt werden, in grellem Widerspmche stehen.

Was uns namentlich in dem vorliegenden Memorandum angezogen, ist der praktische Standpunkt, auf den sich der geistliche Verfasser stellt.

Nachdem

er in einer Einleitung den historischen Kampf der Freiheit,

mit welcher stets die Judenemancipation Hand in Hand gegangen, in

kurzen Zügen gezeichnet, erklärt er als Zweck seiner Denkschrift, darthun zu wollen, daß eine bessere Stellung der Juden im Staate, vom allge­ meinen Rechte empfohlen, von der innern Politik als Act der Staats­

weisheit bezeichnet werden dürfte.

Der Verfasser legt den Schwerpunkt

der Frage auf das Pflichtgefühl des Staates, dem es als moralischem

Organismus nicht gleichgültig sein kann, wenn auch noch so eine kleine Anzahl seiner Angehörigen in ihrer Menschenwürde, in ihrer geistigen

Thätigkeit, in ihrem materiellen Wohlbefinden sich beeinträchtigt fühlt; dem es nicht gleichgültig sein darf, weil er zu gerecht sein muß, um Unglück­

liche als durch seine Einrichtungen nothwendige Unglückliche zu schassen, weil er zu weise sein muß, als daß er die Kräfte, die er für seine allgemeinen

Zwecke benutzen könnte, durch Nichtbeachtung verloren gehen oder falsche Rich­ tungen einschlagen lassen dürfte." Denn wie in der materiellen Staatshaus­ haltung Alles, was nicht fördert, insofern schon hindert, als es den Platz eines möglicherweise Fördernden einnimmt, so kann auch Alles, was im höher«

Staatsleben dem allgemeinen Jntereffe nicht dient, schon insofern als schädlich gelten, als es nicht nützt und die Stelle eines möglicherweise positiven Faktors einnimmt.

Der Verfaffer erinnert nun daran, daß in den Staaten, wo

die Judenemancipation bereits eine vollbrachte Thatsache ist, durch die

Anerkennung des Rechtsprincips in diesem speciellen Falle das Rechts­ bewußtsein im Allgemeinen sich gekräftigt, daß die Juden der ihnen ge­ wordenen Rechtswohlthat sich würdig gezeigt und daß endlich die Staats­

ökonomie einen bedeutenden Aufschwung genommen, Handel und Industrie in jeder Beziehung

öffentliches Leben,

blühender und productiver

geworden, resp, die Steuerfähigkeit und der öffentliche Credit gewachsen, — und fügt hinzu: „Suchen wir die Ursache in dieser Erscheinung, so

ergiebt sich, daß die dem jüdischen Stanime innewohnende Regsamkeit, Thätigkeit und Ausdauer das Gebiet des öffentlichm Verkehrs erweitert, ftische Quellen eröffnet, neue Märkte gegründet haben; daß die früher ander­

weitig arbeitenden Kapitalien dem Ackerbau zugewandt, den Werth des Bodens gesteigert, die Production gemehrt, die Steuerkraft gehoben."

Es

wird daran erinnert, daß auch in geistiger und moralischer Beziehung

die Juden auf allen Gebieten der Kunst und Wissenschaft,

ebenso im

Staats- und Militärdienste der öffentlichen Rechtswohlthat sich würdig

gemacht und der Verf. wagt die Vermuthung, „die staatliche Stellung

der Juden sei in den verschiedenen Ländern der Thermometer nicht blos für die Cultur, sondern auch für den öffentlichen Wohlstand und folge­

richtig für deil öffentlichen Credit". Wer sollte es glauben,

daß ein Mann, welchem die vorstehenden

Wahrheiten so geläufig sind,

doch schließlich anerkennt, der dermalige

Zustand der Juden sei noch nicht geeignet, dieselben an allen Rechten

und Ehren des öffentlichen Lebens Theil nehmen zu lassen? fügt der Verf. gleich hinzu,

Allerdings

daß eben dieser Zustand nicht die Schuld

der Juden, vielmehr die Folge ihrer unglücklichen Stellung ist und man

wohl annehmen dürfe,

daß,

sobald die Ursache aufgehoben,

auch die

Wirkung schwinden werde, und daß darum um so mehr von Seite der

Staatsverwaltung diejenigen Maßregeln zu ergreifen sein dürften, die eine

sittliche

dem

Verf.

und

materielle

auf dieses

Wiedergeburt

Gebiet

der

erniöglichen.

administrativen

Beyor

Thätigkeit

wir

folgen,

haben wir eine Bemerkung vorauszuschicken, deren Zweck ist, jüdischen

Lesern gegenüber, namentlich im Auslande, einen hochgebildeten Rabbiner

vor dem Vorwürfe

zu schützen,

als erachte

er selbst die gänzliche

Emancipation der Juden in Rußland für unzulässig.

Es braucht wohl

kaum gesagt zu werden, daß eine Unfähigkeit „zur Theilnahme an allm

Rechten und Ehren des öffentlichen (politischen) Lebens" in civilisirten Staaten den Gesetzgeber nicht berechtigt, auch die Unfähigkeit zum Ge­

nusse der bürgerlichen Rechte auszusprechen.

Wo, wie in Rußland, die

Zuerkennung politischer Rechte (Landtagswahlen u. s. w.) selbst an die höhern und gebildeten Stände noch so neuesten Datums ist und wo, wie hier, die Bethelligung der untersten Stände nur in vielfach quintessenzi-

sirter Dosis zugelassen wird, kann man allerdings annehmen (wenn man

sich nicht geradezu für das suffrage universel begeistert), daß von einer aetiveit politischen Thätigkeit der unbestreitbar zum großen Theile sehr verwahrlosten jüdischen Bevölkemng vorläufig noch Abstand genommen werden könne, und es mag namentlich dem auf das Praktische hinzielen­ den Rabbiner nicht verargt werden, wenn er einer mächtigen Regierung gegenüber sich auf die Forderung der Gleichheit vor dem Civilgesetze beschränkt. Wir sreilich können von der Rleinung nicht lassen, es stehe dem jüdischen SteukMhler auch dieselbe politische Berechtigung zu wie dem russischen, katholischm oder protestantischen, um so mehr als wir auch der festen Ueberzeugung sind, daß sobald nur die Regierung das Emancipationsgebot ausspricht, auch der langbärtigste Jude für die Gemeinde-, Provinzial- und Reichsinteressen wenigstens so viel Berständniß mitbringen wird, als der erst vor drei Jahren der Leibeigenschaft ent­ wachsene russische Bauer. Doch hören wir auch, wie unser Memorandum sich die Mttel denkt, durch welche die sittliche und materielle Wiedergeburt des Judenthums in Rußland ermöglicht werden soll. Diese Mittel sind von zweierlei Art: Erstens äußere. Als ein solches gilt dem Berf. mit Recht die Frei­ zügigkeit innerhalb der ganzen Monarchie.. Schon aus dem in der Einleitung Gesagten hat man entnommen, wie sehr das Juden­ thum im Zarenreiche Agglommerationen bildet; unser Bers, weist des Längern die Vortheile nach, welche der jüdischen und nichtjüdischen Be­ völkerung aus der Wanderfähigkeit erwachsen würden. Er sagt mit Recht, daß zu dem idealen Vortheile der socialen Verbindung zweier sich fremden Racen noch hinzu käme, daß die Juden eine gewisse Intelli­ genz den russischen Bauern bringen und sie zu einem concurrirenden Eifer erwecken dürften, wodurch eine Masie von etwa 50,000,000 Seelen, die für. jetzt die relativ geringsten Bedürfniffe haben resp, wenig steuerfälrge Stoffe consumiren, in den großen Kreis der steuerzahlenden Consumtion eintritt und mit den erhöhten materiellen Bedürfnissen noth­ wendig auch einen höhern Kreis der Civilisation eröffnet. — Als zweites äußeres Mittel bezeichnet die Denkschrift die Berechtigung der Juden zum Erwerb des bereits angesiedelten Bodens. Die in dieser Beziehung bestehende Beschränkung mochte einen Sinn haben, so lange es in Rußland Leibeigne gab, deren Ankauf und Besitz man

nur Christen gestatten wollte. Unter bett jetzigen Verhältnissen ist sie ein Mißtrauensvotum, nicht gegen das Judenthum, sondern gegen das Russenthunl, von welchem man zu fürchten scheint, es werde sich für einige Wedro Branntwein von den „verschmitzten Juden" seinen ganzen Grund­ besitz abschwindeln lassen. Die Befürchtung ist eine um so ungeheuer­ lichere, als es in den meisten russischen Gouvernements keinen bäuer­ lichen Personal-Grundbesitz, sondern nur gemeindlich-collectiven Boden giebt und in Folge dieser in ihrer Sonderbarkeit hier weiter nicht zu besprechenden Gesetzes- und Gebrauchsbestimmung jede Gemeinde ohnehin schon das Recht genießt, neue Ankönimlinge in ihren Schooß aufzu­ nehmen, oder auszustvßen. - Ferner wird drittens und viertens die Anstellungsfähigkeit der Juden in Staatsämtern und ihre Avancementsberechtigung im Militär als äußeres.Mittel aufgezählt zum Zwecke ihrer sittlichen und materiellen Wiedergeburt. Wie gegründet auch diese zwei letzten Forderungen seien, von besonders großem praktischen Werthe scheinen sie uns nicht. Die Juden im Allgenleinen — wir sagen dies zur Beruhigung des russischen Bureaukratie- und Militäradels, welcher eine massenhafte Concurrenz von Seiten der Israe­ liten befürchten möchte — die Juden sind wenig geneigt zu dem geisttödtenden Bureau- und Kasernenleben; bei aller Pünktlichkeit ist ihnen das mecharlische Arbeiten unter den Befeblcn so und so vieler Kanzleichefs nicht das Ideal des Lebens, und wenn dennoch schon jetzt, ivie uns versichert wird, hie und da Juden in rusfischen Staatsämtern fungiren, so liegt die Ursache einfach darin, daß diese Stellungen ihnen eben erst zu ihren Menschenrechten verhelfen. Was die inner en Mittel betrifft, so braucht kaum gesagt zu wer­ den, .daß an der Spitze derselben die Errichtung und Vervielfäl­ tigung der Schulen steht. Man muß indeß die tiefe Verkommen­ heit der überwiegenden Mehrzahl im russischen Judenthnnie kenne«, nm sich mit dem weitern Vorschläge zu befteunden, wonach es geeignet er­ scheinen dürfte, vorerst in allen größern Gemeinden Zöglinge der Rab­ binerschulen oder auch deutsche Rabbiner anzustellen, denen die Aufsicht resp. Mitwiicksamkeit in der Schule zur Pflicht gemacht würde, indem zu erwarten stehe, daß diese im Geiste der Neuzeit gebildeten jungen Männer alle bessern Bestrebungen gewissenhaft fördern würden. In

Di« Juden in Rußland.

28

Anbetracht, daß dem israelitischen Seelsorger jener Nimbus der höhern

Weihe abgeht, welcher seinen Aussprüchen die Unantastbarkeit des Gottes­ wortes

beilegt, in Anbetracht allerdings auch des kritisch-zersetzenden

Geistes, welcher dem Judenthume innewohnt, ist die Stellung des Kanzel­ redners eine um so schwierigere, je aufgeklärter oder je raisonnirender

sein Publikum ist.

Wohnt seinen Worten nicht die Hinreißungskraft

inne, wie sie nur die wahre, die seltene Beredtsamkeit hat, so fallen sie

auf fteptische Gemüther und »erlaufen im Sande. Solche Betrachtungen sind es gewiß,, die unsern Autor zu dem Wunsche veranlaffen, es möge

ein Predigerseminar als Supplement der Rabbinerschulen errichtet werden, während ein anderer Uebelstand in dieser Richtung, der fort­

währende Kampf nämlich zwischen dem orthodoxen und dem gebildeten Judenthume, ihm die Bitte eingiebt, der Staat möge die Rabbiner unabhängig von der Gemeinde anstellen, well die jüdische Ge­

meinde in kleineren Städten in ihrer Majorität weder von dem Berufe eines Rabbiners, noch von der Bedeutung ihres Wahlrechtes einen Be­ griff hat und weil es sogar vorgekommen, daß junge durch den Einfluß der Regierung angestellte Rabbiner durch die Opposition des Obscurantismus die Zielscheibe aller möglichen Gehässigkeiten wurden.

Aus ähn­

lichen Gründen hält der Bers, es für nothwendig, daß die Verwal­

tung der Gemeinde als religiöser Körperschaft „in die Hand eines Vorstandes von Intelligenz und moralischem Charakter (Kaus­ leute, Aerzte, Advocaten) gelegt würde."

Diese letzteren Wünsche haben

ihre gefährliche Seite, und wir können nicht umhin, darauf aufmerksani zu machen.

Es entspricht vielleicht dem Geiste unseres strebsamen Jahr­

hunderts, wo man ateliers de confection für alle möglichen Lebens­ bedürfnisse anlegt, sich auch die Kanzelberedtsamkell a»ts einem reuom-

ntirten Etablissement nach Bedarf und auf Bestellung kommen zu lassen; ob aber

aus der dogmattschen und schematischen Rabbinerschule auch

wahre, von ihrem Berufe begeisterte, mit dem Geiste der Zeit fortschreitenbe und nicht professionelle, an dem Erlernten starr festhaltende, auf

ihr Staatspatent eingebildete Rabbiner hervorgehen werden? —

Den

aufgeklärten Rabbiner mag oft Mißmuth befallen, wenn feine bestgemein­ ten, seine höchsten, wie seine geringfügigsten Bestrebungen durch die un­ wissende Mehrheit verellelt werden.

Aber ist dies nicht das Loos aller

Neuerer, aller Reformatoren?

Dürfen sie vergessen, daß der Fortschritt

nur erkämpft, nicht decretirt werden kann?

Ferner: wird heute die Ge­

meinde ihrer Autonomie zu Gunsten' der Regierung im Jntereffe des Fortschrittes entkleidet, wer wird sie ihr wiedergeben, wenn eines Tages die durchaus nicht unfehlbaren Behörden es angemeffLner finden, sich auf die Seite der Orthodoxen zu schlagen, wie dies ja auch ihren» innersten

Wesen entspricht?

An Beispielen hierfür selbst aus der Mitte des mo­

dernen Judeuthums mangelt es nicht. — Darum können wir auch dem

weiteren Wunsche der Denkschrift nach einer Centralstelle für das Juden­ thum am Sitze der Regierung unsern Beifall nicht zollen.

schende Kirche

in einen» Lande

Die herr­

hat das Privllegium der Intoleranz

nicht allein; jede organisirte Behörde, vorzüglich aber Kirchenbehörden, glauben an ihre Unfehlbarkeit und wissen dieselbe auch durch Gewalt Andern aufzudrängen.

Sollen wir in dieser Beziehung an den evan­

gelischen Pastor Coquelin erinnern, »velchem ganz kürzlich vom Pariser Consistorium die Kanzel mltersagt wurde, weil er, der Nichtkatholik, Re-

nan's Leben Jesu nicht etwa im Gotteshause, foiibetn in einer periodi­ schen Schrift vertheidigt hatte? ... Am Schluffe dieser Analyse angelangt,

ist es uns angenehm, mit den» Vers, der Denkschrift in der Forderung

übereinzustimmen:

es möge für die Verbreitung

von Handwerk und

Ackerbau unter der israelitischen Bevölkemng gesorgt werden. Doch müssen wir, obzwar die mehrfach eingeschalteten Bemerkungen über unsere Ansichten in dieser Frage kaum mehr einen Zweifel übrig lassen können — zur vollständigen Klarmachung unseres Standpunktes

Folgmdes hinzufügen.

Hätten wir ein Programm „für die sittliche und

materielle Wiedergeburt" des Judenthuins aufzustellen gehabt, so würden wir als äußeres Mittel, als solches, welches das Judenthum selbst sich nicht appliciren kann, nur eines gefordert haben: die vollständige

Gleichstellung vor dem Gesetze.

Was die inneren Mittel anbetrifft, so

hat das Judenthum allein als autonome Religionsgenossenschäst dieselben

zu wählm und zu bestimmen.

Denn hüben und drüben muß endlich

die Ueberzeugung durchdringen: das Judenthum ist nur eine religiöse, keine politische oder sociale Gemeinde, kein Staat im Staate.

Volkswirtschaftliche Griefe aus Deutschland. Berlin, den 16. December 1864.

Eine Zeit heißen Kampfes auf volkswirthschaftlichem Gebiete liegt

hinter uns, und wer mit uns das Princip des Freihandels auf sein Banner geschrieben hat,

der kann mit dem stolzen Bewußtsein auf die

Ereignisse dieses Jahres zurückblicken, daß ein mächtiger Schritt zum Siege einer großen Idee für immer gethan worden ist, der kann mit

uns ausrufen: Annum non perdidi.

Was in Deutschland für die An­

bahnung gesunder volkswirthschaftlicher Zustände geschehen ist, das ist wesentlich durch Preußen geschehen.

Nicht daß den preußischen Staats­

männern ein höheres Maß volkswirthschaftlicher Einsicht beige­

wohnt hätte, als den Männern, welche in den übrigen deutschen Staa­ ten das Heft der Regierung in den Händen hatten ; nein, es waren in erster Linie politische Erwägungen, von denen aus es eine Hauptauf­

gabe jeder preußischen Regierung erschien, die politisch von einander ge­ schiedenen Territorien, aus denen sich unser Deutschland zusammensetzt, im

Zollvereine zu einer höheren volkswirthschaftlichen Einheit, zu einem von jeder innern Schranke

erlösten und nach außen hin als ein ge­

schloffenes Ganzes sich Geltung verschaffenden Verkehrsgebiete zusammen

zu bringen und zu halten.

Der politische Gedanke, welcher in andern

Fragen einem allzuspröden Widerstände begegnend, auf dem volkswirthschaftlichen Gebiete zur Befriedigung gelangte, war der:

durch einen

möglichst Mensiven Verkehr zwischen den Bevölkerungen der verschiedenen

Zollvereinsstaaten, die einer politischen Einigung Deutschlands am hart­ näckigsten Widerstand leistenden Verschiedenheiten der einzelnen Stämme möglichst schnell einzuebnen und so den Boden für die Aufnahme der

Idee der

deutschen Einheit vorzubereiten,

welche anfänglich nur das

Idol einzelner „Träumer", nun schon seit Jahren ein Thema für unsere

Bollswirthschastlich« Briefe aus Deutschland.

praktischen Politiker geworden ist, an dessen Bearbeitung sie ihre Kräfte messen und ihre Genialität erschöpfen. In der politischen Tendenz, welche Preußen bei seinen Bestre> bungeit, den Zollverein zu erhalten und zu erweitern, ganz unzweideutig verfolgt, hat von jeher die schwache Seite dieser Institution gelegen, liegt zugleich die dringendste Hinlveisung auf eine Reform der Zollver­ einsverfassung. Diese politische Tendenz hat der preußischen Regierung selten ein Opfer zu groß erscheinen lasien, welches zur Erhaltung des Zollvereins von ihren Biitcontrahenten ihr angesonnen wurde. Preußen hat den gesunden volkswirthschaftlichen Ideen, von welchen die großen Staatsmänner, denen es feine politische Wiedergeburt verdankt, sich leiten ließen, lange Zeit den Rücken zugewendet und schließlich von dem Luftbilde, lvelches die List'sche Schule in der „nationalen Industrie" ihm vorspie­ gelte, zu einer schutzzöllnerischen Handelspolitik sich verleiten lassen, namentlich und vor Allem weil es auf diesen Bahnen hoffen konnte, die süddeutschen Staaten durch das Band des Zollvereins. dauernd an sich zu fesseln. Im Jahre 1808, als zu Berlin loo Thlr. preußischer Tresorscheine für 59 4 Thlr. Courant zu kaufen waren, wurde in der Geschäftsinstruc­ tion für die Regierungen vom 26. Dec. 1808 auch die Handelsfrei­ heit als eine der wesentlichsten wirthschaftlichen Reformen in das Programnr der Regierung mit ausgenommen: „Es ist unrichtig", heißt es darin, „wenn man glaubt, es sei dem Staate Vortheilhaft, Sachen dann noch selbst zu verfertigen, wenn man sie im Auslande wohlfeiler haben kann. Die Mehrkosten, welche ihm die eigne Verfertigung verursacht, sind rein verloren und hätten, wären sie aus ein anderes Gewerbe an­ gelegt worden, nachhaltigen Gewinn bringen können. Es ist eine schiefe Ansicht, man müsse in einem solchen Falle das Geld im Lande zu be­ halten suchen und lieber nicht kaufen. Hat der Staat Produkte, die er abiaffen kann, so kann er sich auch Gold und Silber kaufen und es münzen lassen." Ein Rlenschenalter später galt es in Preußen, wie in Deutschland überhaupt, für einen Beweis liberaler Gesinnungen, wenn man in der Begründung und Hebung der nationalen Industrie eine Ausgabe des Staates erblickte. Wer sreihändlerischm Principien hilldigte, mußte sich erst einer förmlichen Feuerprobe feiner politischen Gesinnung unterziehen,

32

Lolk-Wirthschaftliche Brief« aus Deutschland.

eye es ihm verstattet wurde, sich als einen Anhänger liberaler Ideen M

bekennen, und doch hatten einst Stein und Hardenberg, deren Reformen von den märkischen Junkern als schieres Jacobinerthum verschrien wor­

den waren,

Anschauungen, vor

ivelchen

List

und

sein

amerikanischer

Apostel Carey nicht Abscheu genug an den Tag legen können, als die allein dem Staate heilbringenden, den Behörden zur Nachachtung ans

Herz gelegt ! Die politischen Pläne, welchen Preußen im Zollvereine vor­

arbeitete, erfreuten sich des Beifalls aller liberal gesinnten Männer; die Einigung Deutschlands bildet ja unter den Wünschen unseres Volkes nicht

der geringsten einen; es >var also leicht erklärlich, daß die Bundesge­

nossenschaft

zwischen Liberalismus

und Schutzzoll,

zwischen nationaler

Politik und nationaler Industrie bei allen denen, ivelche in volkswirth-

schaftlichen Dingen sich ein selbstständiges Urtheil zu bilden, zu bequem oder dazu überhaupt nicht in der Lage waren, eine Amalgamirung von

Begriffen erzeugte,

welche fast an Begriffsverwirrung streifte.

Dazu

kam, daß der Schutzzoll am lautesten von den rheinischen Fabrikanten,

die Rückkehr zum Freihandel am lautesten von den Grundbesitzern der östlichen Provinzen verlangt wurde, und daß in den Vierziger Jahren

jene durchschnittlich für liberal — man denke nur an das Auftreten der Beckerath, v. d. Heydt u. s. w. auf dem vereinigten Landtag von 1847

— diese durchschnittlich für „Junker" galten.

Die Signatur war da­

durch urwermeidlich gegeben. Die freiere Bewegung der Geister, welche das Jahr 1848. zur Folge

gehabt

und

welche

uns trotz aller Mißerfolge auf dem Gebiete des

Verfassungsrechtes schnell zu einer vorurtheUsfreien Auffassung der wirthschaftüchm Verhältniffe emporgetragen hat, räumte unter den traditionellen Schulbegriffen schnell auf.

In der Presse und in Vereinen bekämpften

sich Schutzzoll und Freihandel und es stellte sich heraus; daß wer in

politischer Bezichung

einer

liberalen Auffassung

ergeben ist,

deswegen

trotzdem auf volkswirthschaftlichem Gebiete dem Freihandelsprincipe an­ hängen. kann, daß andererseits der schntzzöllnerische Fabrikant, wenn es ihm sonst, in sein Interesse paßt, die liberalen Ideen,

für

welche er

früher mit Begeisterung eingetreten war, an den Nagel hängt, um- mit

der politischen Reaküon durch Dick und Dünn zu gehen, wie das Geschäft, es. so mit sich bringt, daß endlich die sog. feudale Partei nach wie vor

Bolkswirthschastliche Briefe aus Deutschland.

33

dem Freihandel Weihrauch streut und nur dann seine Attchre verhüllt,

wenn sie aus politischen Rücksichten einem Staate, dem dieser Cultus als

ein Greuel vor dem Herrn erschien, zu kajoliren sich bemüht.

Klärlich

zeigte es sich vor allem Volke, daß es aber nur das eigene Interesse

ist, welches Diesen in das schutzzöllnerische Lager treibt, Jenen der Sturm­ fahne des Freihandels zuführt,

und daß,

wie

der

Großkophtha der

Schutzzöllner, David Hausemann, einst so treffend bemerkte, in Geldsachen

die Gemüthlichkeit — und die ParteidiscWn aufhört. Nachdem die Frage von allem Beiwerk geklärt, konnte die Entschei­ dung nicht lange zweifelhaft sein; da in wirthschaftlichen Dingen für

Jeden nur das eigene Interesse maßgebend ist, der Staat aber nicht die Jntereffen des Einen oder des Andern, sondern die aller Staatsan­ gehörigen bei seinen Maßregeln ins Auge zu fassen hat, und wenn diese

Jntereffen sich widerstreiten, im Zweifel die der Mehrheit den gerechtesten Anspruch haben, befriedigt zu werden, so kann stets nur der Consument

in Betracht kommen und nicht der Producent; denn Consument ist eben Jeder, Producent im bestimmten Falle nur der Eine oder Andere.

Wenn

der Staat andere Maßregeln trifft, als die, welche sich aus diesem Ge­ sichtspunkte ergeben, so hat er die Bolkswirthschaft dabei nicht zu Rathe gezogen, nicht als Mandatar der Gesellschaft, sondern als Fiskus oder

politischer Körper gehandelt.

Es ist einer der wesentlichsten Fortschritte,

welche die europäische Gesellschaft in ihre Annalen zu verzeichnen gehabt hat, daß die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, die verschiedenen Func-

ttonen des Staates auseinanderzuhalten, in den leitenden Kreisen der westeuropäischen Staaten endlich zum Durchbruch gekommen ist und ge­

genwärtig auch bei uns in Deutschland sich zu einem ähnlichen Siege durchzuringen im Begriffe steht.

So hoch die segensreichen Folgen auch

zu veranschlagen sind, welche der Sieg dieser Idee für Handel und Ge­ werbe und für den Berkehr im Einzelnen herbeiführen wird, höher noch steht, vom allgemein menschlichen Standpuncte aus betrachtet, die in diesem

Siege ihren

ersten Schritt vollziehende Erlösung der Menschheit von

einem Irrthume,

welcher die Jahrbücher der Geschichte mit Strömen

Blutes erfüllt hat, von dem Irrthume, daß der Staat Etwas sei, was seinen Zweck in sich trage, und um dieses Zweckes willen über die In­ teressen des in chm constituirten Bruchtheils der Gesellschaft nach BeNordische Revue. III. 1. Heil. 1865.

34

KoMwirthschafttiche Seiest «iS Deutschland.

lieben- verPgen könne, während es ddch die höchste Ausgabe des Staates

ist, im allen seinen Einrichtungen den einen Zweck zu verfolgen, daß in

chm die größte Summe menschlichen Glückes neben, dem kleinsten Rest menschlichen Elmds zur Erscheinung gelange.

In Deutschland hat diese Idee ihren neuesten Sieg errungen. Nach­ dem diejenigen Staaten, welche nicht sowohl aus Mcksicht auf die Jntereflen ihrer Unterthanen, als aus Gfersucht gegen das aufs Neue sie

belastende politische Uebergewicht Preußens bis in die zwölfte Stunde

hinein sich gesträubt hatten, am 30. September d. I. ihren Beitritt zu dem ohne ihr«Zuthun reeonstruirten Zollverein- erklärt- habm,

ist der

Zollverein für immer dem zum Freihandel als seinem Ideale hinstreben-

den Systemder westeuropäischen Handelsverträge gewonnen worden. Welche politischen Veränderungen, die nächsten zwölf Jahre auch für

Deutschland in ihrem Schooße bergen mögen, ein Rückfall zum Schutz­ zollsystem scheint

uns undenkbar zu sein.

Preußm

hat endlich nach

langer Abirrung sich zu jenen erleuchteten Grundsätzen zurückgefunden, welche bereits im Jahre 1808 seine Staatsmänner als Mchtschnur ihm

vorzeichneten.

Für die politischen Pläne, welche es ihm früher vortheil-

hast erscheinen ließen, auf Kosten seiner eigenen Interessen den schutzzöllnerischen Anschauungen des südlichen Deutschlands Opfer zu bringen,

hat Preußen aus dem Zollvereinsverbande denjenigen Rutzen gezogen,

der sich überhaupt davon erwarten ließ.

Die wirthschaftliche

Einheit

Deutschlands ist bereits so schr ein Gemeingut Aller, eine solche unbe­

dingte Nothwendigkeit für die nattonale Existenz geworden, daß bei allem Haffe, .welcher Preußen von einzelnen deutschen Regierungen entgegenge-

trageu wird, es sich als eine pure Unmöglichkeit herausgestellt hat, den Zollverein zu sprengen und dadurch Preußm nicht blos zu isolirm, son-

dern auch sein politisches Ansehen zu schwächen.

Preußen kann für seine

politischen Pläne die wirthschaftüche Einigung Dmtschlands fortan als

eine feste Basis annehmen, von welcher aus sich weitere Schritte 'thun lassen.

Was ein Mmschenalter hindurch Ziel war, das ist jetzt Aus­

gangspunkt der prmßischm Politik geworden und bildet.ein.so sichres

Moment der politischen Combinationen, wie es nur immer der instinkttve, darum aber nicht minder gewalttge Wille einer Ratton bilden kann:

stch nicht bei lebendigem Leibe zerreißen zu laffm.

Und diese Nation ist

VolkStvirthschaftliche Briese aus Deutschland.

35

außerdem zu der Einsicht gelangt, daß es nicht dem Schutze der sog.

„nationalen Industrie", sondern daß es der Freiheit des innern

und

äußern

Verkehrs

wenn sie sich, bis eine anderweite

gilt,

Einigung erfolgt, im Zollvereine als eine höhere wirthschaftliche Einheit

zusammenfaßt.

Nicht niehr gilt es als Zeichen liberaler Gesinnung, den

Freihandel zu verdächtigen; die freie Discussion hat das Volk darüber aufgeklärt, daß es das gleiche Ziel ist, was der Liberalismus und der Freihandel anstreben: Beseitigung der Vorrechte und Privile­

gien Einzelner, Herstellung eines gleichen Rechtes für Alle. Der Zollverein wird in wenigen Monaten — der französische Handels­ vertrag soll mit dem neuen Zollvereinstarif am 1. Juli 1865 in Kraft

treten — auch äußerlich jenem großen Systeme angehören, welches die

Culttlrvölker des westlichen Europas umschließt und welches dann über 130 Millionen Seelen sich erstrecken wird.

Da die Begünstigungen,

welche der eine dieser Staaten dein andern zugesteht, eo ipso auch allen

übrigen Staaten zukommen, mit welchen ähnlich lautende Handelsverträge

abgeschlossen sind, so ist die schrittweise Annäherung an das Ideal der

Handelsfreiheit für die lvestliche Hälfte Europas damit gewährleistet.

Die Agitation für das Freihandelsprinzip >vird von jetzt ab weiter nach Osten zu tragen sein;

damit fällt uns Deutschen die Aufgabe zu, im

russischen Staate die Propoganda für freihändlerische Anschauungm

ernster-als bisher zu betreiben und zunächst auf den Abschluß eines Handels-

und Zollvertrags

zwischen Rußland

und

dem

Zollvereine hinzuwirken.

Wir beginnen mit dem Bekenntniß, daß die frühern Versuche,

welche Preußen in dieser Richtung unternommen hat, sämmtlich an einem und demselben inneren Gebrechen laborirtenu nd deshalb die Schuld des

Bkißlingeus von vornherein'sich

in trugen.

Die preußische Regierung

versuchte es, beim Austrag einer volkswirthschaftlichen Frage politische Erwägungen als Argumente zu benutzen, auf welche die russische Regie­ rung, wenn sie ihrem ganzen politischen Systeme nicht untreu werden wollte, nimmer einzugehen vermochte.

Den Ausgangspunkt für die

Argumentationen der preußischen Regierung bildete nicht etwa das Frei­ handelsprinzip, sondern der Theilungstraetat über das Herzog-

thum Warschau vom 3. Mai 1815, in welchem bekanntlich eine der 3*

36

BolvvviiMchaftlich« «riefe «uS DeUtfchl«^.

Hauptfchwierigkeiten des Mener Congresses, definitive Erledigung fand.

die polnische Frage,

Beide Verträge



ihre

es wurden zwischen

Rußland und Preußen und zwischen Rußlmd und Oesterreich besondere

Instrumente unterzeichnet — stellten» um dm Polen eine Art von Ent­ schädigung für den Verlust chrer staatlichen Selbstständigkeit zu gewähren,

den

Gedawken

einer

handelspolitischen

Einheit

Polens in den Grenzen von 1772 auf.

des

alten

Der preußisch--russische

Vertrag bestimmte im Art. 19, daß dem täglichen Verkehr unter den Grenzbewichnerm kein Hinderniß in den Weg gelegt werden solle; im

Art. 22, dich die Schifffahrt auf allen polnischen Strömen für alle Be­

wohner der polnischen Provinzm frei sein solle; im Art. L8, daß die .einmal vereinbarten Schifffahrtsabgaben nur durch gemeinsames Ueber­

einkommen abgeändert werden dürften.

Art. 28 endlich lautete:

„Um m allen Theilen des Ehemaligen Polens soweit als mög­

lich den Ackerbau zu beleben, die Betriebsam^ der Einwohner zu

wecken und ihre Wohlfahrt zu befestigen, find die beiden Hohm «mtrahirendm Theile-------- übereingekommen, künftig und für immer

in allen ihrm Polnischen Provinzen allem dem, was der Bodm

und die Betriebsamkest dieser Provinzen erzeugen und hervorbringm,

dm unbeschränktesten Umlauf zu gestatten.

Die zu dm näheren

Vereinbarungen eruaunten Eommiffarien -------- - sollen beauftragt werdm,





sich über einen Tarff zu einigen, nach

welchem, der Ein- unb'Zstlsgangszoll von allm natürlichen Erzeug­

nissen des Grundes und Bodens und von den -Erzeugnissen der Manufacturen und Fabriken m jenen Provinzen entrichtet werden

soll.

Dieser Zoll darf Zehn vom Hundert des Werthes

der Waaren am Absendungsorte nicht übersteigen." Der Transithandel endlich sollte in stllen Theilen des ehemaligen

Polens vollkommen frei sein und nur mit den mäßigsten Zöllen belegt

werden.

Aehulich lauteten die Bestimmungm des russisch-österreichischm

Vertrages, nur war darin kein Maximum der Ein- und Ausgangszölle

bestimmt.

Diese Traktate sind nie zur Ausführung gelangt, sie hättm

eine Ausscheidung der polnischen Lanhesthelle aus jebem der drei contra»

hirmden Staaten und die Constituirung derselben zu einem geschlossenen Verkehrsgebiet mit besondern Zollgrenzen bedingt.

Noch während die

BolkSivirthschaftliche Briefe aus Deutschland.

37

im Art. 18 des Vertrags vom 3. Mai 1815 vorgesehene Commission zu Warschau versammelt war, wurde der russische Tarif vom 31. März 1816

veröffentlicht, welcher die polnischen Provinzen Rußlands mit Ausnahme

des „Königreichs Polen" in die russischen Zolllinien hineinzog; waren die Arbeiten der Commission hinfällig geworden.

damit

Neue Verhand­

lungen führten zu der s. g. Zusatzakte vom 19. Decbr. 1818, welche

im Art. 14 stipulirte, daß die ini angehängten Tarife normirten Ein­ und Ausgangszölle für die Landgrenze nur nach gemeinschaftlicher

Uebereinkunft erhöht und Ein- und Ausgangsverbote ebenfalls nur nach

gegenseitiger Uebereinkunft erlassen

Staaten blieben verboten: noch Tabak).

werden

dürften

(Für beide

Spielkarten und Salz, für Polen außerdem

Für wollene,

leinene und Lederwaaren preußischen

Ursprungs waren die Eingungszölle nach Polen noch bedyttend er­

mäßigt.

trat mit bent

Dieser Tarif

er wurde indessen



und

zwar

1. Januar

1820 ins Leben;

ohne Zustimmung und gegen den

Wunsch Preußens — bereits durch einen Ukas vom 22. März 1822

wieder außer Kraft gesetzt. Rußland

und

Dieser Ukas veröffentlichte einen neuen für

Polen geltenden Zolltarif,

welcher auf dem strengsten

Prohibitivsystem beruhte; er verbot für Rußland die Einfuhr von Thee und Branntwein, grünen, schwarzen und weißen Tüchern, und erhöhte z. B. die Eingangszölle auf baumwollene Waaren von 10 Sgr. 6 Pf.

das Pfund preußisch auf 4 Thlr. 20 Sgr. 6 Pf.,

für seidene Waaren

von 1 Thlr. 20 Sgr. 6 Pf. das Pfund preußisch auf 6 Thlr. 18 Sgr.!

Dazu traten noch allerlei Nebenabgaben, welche zuweilen die Höhe des eigentlichen Eingangszolles erreichten, und eine ungemeine Erschwerung

des Personenverkehrs an der Grenze. — Ein neuer Handelsvertrag vom 11. Wirz 1825 erkannte die Aufhebung der Zusatzakte von 1818 förmlich an, führte indessen andrerseits nur sehr geringfügige Verkehrs­

erleichterungen herbei und ist nach seinem Ablauf im Jahre 1834 nicht

wieder erneuert worden. preußischen Regierung

Seit jener Zeit haben die Beschwerden der

ihren Ausgang stets von

3. Mai 1815 genommen;

dem Traktate vom

es ist indeffen bis jetzt weder zu einer Eini­

gung über eine Convention zur Ausführung jenes Traktates, noch zum Abschluß eines andern Handelsvertrages gekommen.

Die Zugeständnisse,

welche die russische Regierung in den s. g. Concessions definitives

38

Volkswirtschaftliche Briefe auS Deutschland.

vom Jahre 1842 gemacht hat,

sind nicht von großem Belang gewesen

und zudem nicht vertragsmäß gewährleistet.

Der factische Boden, auf

welchem der Traktat vom 3. Mai 1815 allein noch hätte angerufen werden können,

ist durch die Hineinziehung des Königreichs Polen in

die russische Zolllinie im Jahre 1851 vollends verloren gegangen. Vom volkswirthschaftlichen Standpunkte aus kann man nicht anders

sagen, als daß es so kommen mußte, wie es gekommen ist.

Rußland

trifft keine andre Schuld als die, einen von vornherein unausführbaren Vertrag nicht ausgeführt zu haben; ja, Preußen wäre sogar selber in der größten Verlegenheit gewesen,

wenn es an die Erfüllung des Ver­

trags gemahnt, seine polnischen Landestheile aus dem Zollverbande hätte

ausscheiden

und mit einer Binnenzollgrenze gegen den übrigen Staat

hätte abschließen sollen.

Der Vertrag vom 3. Mai 1815 macht dem

Herzen Kaiser Alexander's mehr Ehre, als der Einsicht derjenigen Diplo­ maten, die ihn entworfen haben; er war von einer warmen Sympathie

für die nationalen Bestrebungen der Polen eingegeben, widersprach aber den Interessen,

welche die russische Politik seit jeher verfolgt hat:

die

dem mssischen Reiche nach und nach annectirten Gebietstheile in möglichst

kurzer Zeit zu asflmiliren. Glück dazu wünschen,

Württemberg

und

Wir als Deutsche endlich können uns nur

daß Posen und Westpreußen

mit Baden

uüd

nicht mit Volhynien und Podolien sich im Zoll­

verbande befinden. Wenn

der Abschluß eines russisch-deutschen Handels-, und

Zollvertrages in Deutschland gegenwärtig so vielfältig ventilirt wird,

wenn

der bleibende Ausschuß des deutschen Handelstags im Februar

dieses Jahres den deutschen Regierungen eine darauf bezügliche „Denk­

schrift" eingereicht, wenn der siebente Congreß deutscher Dolkswirthe, der zu Hannover im August dieses Jahres tagte,

Tagesordnung gesetzt hat —

diese Frage auf seine

wegen Kürze der Zeit konnte der vom

Abgeordneten Michaelis erstattete Bericht leider nicht mehr zum Vortrag

kommen — so bildete die Grundlage aller dieser Bestrebungen nicht

etwa der Traktat vom 3. Mai 1815, nicht die todten Buchstaben der Pergamente, sondern unsere eignen Interessen und die lebendige Ueber­ zeugung, daß diese Interessen nur gleichzeitig mit den Jntereffen Ruß­

lands

zur Befriedigung

gelangen

können.

Die Zeiten

sind vorüber,

BolkSwirthschastliche Briefe aus Deutschland.

39

wo eine Nation daraus ausging, die andre beim Abschluß derartiger

Verträge zu übervortheilen. schon zu sehr verbreitet,

Die volkswirthschaftliche Einsicht hat sich

als daß so Etwas heut noch möglich wäre.

Der gegenseitige Vortheil allein kann maßgebend sein. Läßt sich in Ruß­

land nicht die Ueberzeugung erwecken, daß eine freisinnige Umgestaltung des

bisherigen

Zollsystems

und

verschiedener damit eng verknüpfter

so geht bei

Institutionen im eigenen Interesse Rußlands liegt,

uns die Ansicht dahin, daß es besser ist, mit dem Abschluß eines solchen Handelsvertrages einstweilen noch zu warten. Seit dem Beginn der Zwanziger Jahre hat Rußland seine Pros­

perität am besten dadurch zu fördern geglaubt, daß es alle ausländische Concurrenz

möglichst

ausschloß.

Durch

den

reichen Gewinn

gelockt,

welche die von feinem Rivalen geschmälerte Ausbeutung des inländischen

Rtarktes abwarf,

entstanden schnell zahlreiche Spinnereien,

und Druckerei«, cheinische und Zuckerfabriken.

behaupten,

Webereien

Es läßt sich indeffen kaum

daß diese Industrie dem Staate selber besondere Vortheile

gebracht hätte.

Die Fabriten zogen die Kapitalien an sich ;

ivirthschaft nmßte darunter leiden.

Freilich

die Land-

blieb das Geld,

welches

sonst für Fabrikate ins Ausland gegangen wäre, im Lande; es giebt aber

Staaten genug, »velche keine Edelmetalle erzengen, kein Prohibitivsystem befolgen und doch im Verkehre keinen Mangel an Metallgeld empfinden. Aus Rußland ist für Waaren allerdings «'eiliger Geld ins Ausland

abgefloffen; wie viel Geld aber im Auslande für Tagesbedürfniffe und

Tagesgenüsse von russischen Reisenden ansgegeben worden ist,

wird sich

schwer berechnen laffen; außerdem macht die Zinszahlung für die russische

Schuld jährlich doch auch Millionen Rubel für das Ausland flüssig; an Abzugskanälen für das russische Geld hat es doch nicht gefehlt und der gehoffte Vortheil

ist mithin

nicht erreicht worden.

Der positive

Nachtheil des Prohibitivsystems liegt hauptsächlich darin, daß die den Bodenverhältnissen entsprechende Industrie von künstlich getriebenen Zwei­ gen überwuchert wird; es wird dadurch die Production solcher Waaren beeinträchtigt, welche, da sie in andern Ländern nicht gleich vorthesshaft

erzengt werden können, sich für den internationalen Verkehr ganz vor­ züglich

eignen

und

mit dem nicht nur dir vom Auslande bezogenen

Artikel, sondern auch, ivenn man überhaupt eine solche Scheidung zu-

40

Dolkswirthschaftliche Briefe aus Deutschland.

lassen will, Edelmetalle nach Bedarf eingekaust werden sönnet.

Die

Prosperität der Nationen beruht nicht auf der nati»nalen Arbeit, sondern auf der internationalen Arbeitsthrilung. Ein Land,

welches für eine intensive Bodencultur in Feld unv Wald

die trefflichste Gelegenheit bietet, kann gar nichts Verkehrteres beginnen, als

sein Kapital

und

seine Arbeitskraft in

künstlich

hervor;erufene

Jndustriebranchen zu stecken; in jeder Stunde Chquffee, in jeder Stunde

Eisenbahn »erben Beide weit lucrativer angelegt sein als in Kattun­ fabriken und Seidenwebereien.

Wir hoffen in Deutschland, Prohibitivsystem sich stützt,

daß jene Doctrinen, auf weiche das

auch in Rußland bald einer gesunderen

Einsicht den Platz räumen werden.

Diese Hoffnung ist nicht ohne die

Gewähr der Gewißheit; wir haben es an uns selber erlebt, wie schnell

ein Irrthum seine Macht verliert, wenn man nicht müde wird, ihn Tag

für Tag zu bekämpfen. Hat sich aber erst in Rußland die Ueberzeugung Bahn gebrochen, daß das eigene Jntereffe es erheischt, sich ferner nicht

mehr abzusperren von dem internationalen Waarenaustausch unb der internationalen Arbeitstheiluiig, so wird ein russisch-deutscher HandelsMd Zollvertrag sehr bald zu Stande kommen.

Wir verlangm nicht

auf Grund von Traktaten, welche ohne eine rechte Vorstellung von der

Tragweite ihrer Consequenzen abgeschloffen worden sind, nicht aus Grund besonderer Rücksichten, welche Rußland etwa unsrer fteundnachkarlichen

Haltung in politischen Fragen

wegen uns schuldig zu sein glauben

kannte, sondern im Rqmen unsrer gegenseitigen Interessen,

dgß man sich in Rußland ernstlich mit dem Gedanken beschäftige,

ob

nicht das bisherige, in den letzten Jahren ja bereits ein klen wenig

gemilderte Prohibitivsystem einer prinzipiellen Umgestaltung zu unter­

werfen ist.

Magna est veritas et praevalebit.

Wilhelm Wackernagel,

Griefe aus Rußland. St. Petersburg, den 14. December 1864.

Einer der drei ^innnz-Jahresberichte, deren regelmäßige Wieder­

kehr ich vor Kurzem (Septemberheft der Nord. Revue) erwähnte, ist soeben erschienen: es ist derjenige,

welchen

der Herr Finanzminister dem für

die Creditanstalten eingesetzten Conseil a»l 23. November a. St. in Form

einer Rede vorgelesen hat.

eine Ueberlieferung

Dieser Bericht,

der alten Zeit,

arrs

wenn wir »richt irren,

ist

wo die Creditanstallen unter

die Abhängigkeit der Wohlthätigkeits-Etablissements gestellt waren.

Wir

' beabsichtigen eines Tages auf die ganz eigenthümliche Organisation dieser letztern ausführlich einzugehen, da sie noch jetzt in Rußland eine Rolle

und einen Wirkungskreis haben,

wie kaum

in

einem andern Staate.

Für heute wollten wir blos diese kurze Bemer-kung voranschicken, um

den traditionellen Wirrwarr zu erklären, der noch immer bei Abfasiung jenes Berichtes vorwaltet.

Vor drei Jahren versicherte uns allerdings

ein geistreicher Beam teraus dem Finanzministerimn, jenes Tohu-wa-Bohn habe seinen tiefern Grund in der Unrichtigkeit und Nichtübereinstimmung

der von den unteren Behörden eingelieferten Rechnungen,

unmöglich werde,

wodurch es

einen correcten Ausweis über die ohnehin so ver­

wickelten Beziehungen des Staates zu seinen Credit- und Wohlthätig­ Darum erscheint auch der ministerielle Bericht

keitsanstalten aufzustellen.

durchaus nicht als ein Expose der Finanzlage oder der Staatsschulden,

sondern vielmehr als ein Miscellaneum aller im Laufe des Vorjahres

ergriffenen Maßregeln, welche sich ans das Staats- und auf das Pri­ vatcreditwesen beziehen, und nur wer auch zwischen den Zeilen zu lesen versteht,

kann

daselbst

zu

manchen interessanten Beobachtungen über

unsere Finanzgebarung Anlaß finden.

So z. B. beginnt das amtliche

Documrnt mit einem Nachweis dessen, was in Folge des Decrets vorn

42

BolkSwirthschastlichr Briefe aus Rußland.

25. April 1862 geschah, welches bekanntlich die Einwechselung des Pa­ piergeldes

Die Maßregel wurde,

gegen Metall anordnete.

weiß, am 5. November 1863 wieder eingestellt.

wie man

Aus dem Berichte er­

sehen wir nun, daß in dem gedachten Zeitraume von 18 Monaten für

72,615,427 R. Papiergeld im Umtausche gegen Metall aus dem Um­

läufe gezogen wurde, wovon 45| Millionen auch bereits im Juni 1863 durch Verbrennen vernichtet wurden, während weitere 27} Mill, „jetzt

zur Verbrennung vorgestellt werden."

Hier kommt nun in erster Reihe

die Anmerkung, daß am 25. April 1862 eine Anleihe von 15 Mill. Pfd. Sterl., also von nahe an 100 Millionen Rubel zum Zwecke jener

Umwechselung ausgenommen wurde, daß also jedenfalls der vierte Theil derselben seiner ursprünglichen

wollen nicht danach fragen,

Bestimmung

entfremdet

wurde.

Wir

jetzt mit der Verbrennung

warum bis

jener 27 Mill, gezögert wurde und durchaus nicht annehmen, man warte

zu diesem Zwecke erst auf den Erlös der neuen Anleihe (siehe weiter unten), weil man in Nürnberg nicht verbrennt, was man nicht hat. Aber der Bericht und seine Ziffern regen noch eine andere Frage an. Am

die Masse

1. Mai 1863 betrug

707 Millionen.

Rubel;

der

umlaufenden Creditbillette

Der letzte Bankausweis beziffert dieselbe mit 643,670,590

sonach stellt sich nur eine Verminderung von 64} Mill, an­

statt der oben erwähnten 72| Mill, heraus.

Es hat demnach eine neue

Ausgabe von Papiergeld stattgefunden; ein Decret, welches hierzu er­ mächtigte, ist aber niemals bekannt geworden. Eine ähnliche Bewandtniß hat es mit den s. g. 4 procentigen Bank-

billets.

Ursprünglich bestimmte das Decret vom 16. December 1860

deren successive Ausgabe bis zum Betrage von 100 Mill., in der Absicht

die Bankmittel zu vermehren.

aus dem

Dieser Zweck ist vom Anbeginne an ganz

Auge gelassen worden;

jede neue

Serie des Werthpapiers

diente nur dazu, den unerschöpflichen Staatsseckel zu füllen; noch auf­

fälliger ist, daß nun bereits mehrere Serien (jede ä 12 Millionen) ausgegeben sind, ohne daß, wie es Anfangs gebräuchlich war, ein besonderes Decret hierüber veröffentlicht worden wäre.

Nur aus den Bankaus­

weisen erfuhr das Publikum jeweilig die Ausgabe von Obligationen aus

der 4., 5. und 6. Serie,

und während

die letzte Wochenbilanz (vom

23. November a. St.) noch kaum die Hälfte der 6. Serie als ansgegeben

43

Bolkswirthschaftliche Briefe aus Rußland.

bezeichnet (sie bleibt bei 64J Mill, stehen), belehrt uns der am selben

Tage verlesene, aber geiviß schon früher verfaßte Ministerbericht, daß

auch die siebente Serie bereits in Ausgabe begriffen. - Zwischen den zwei Widersprüchen, die

>vir bis

jetzt signalisirt haben,

besteht indeß ein

innerer Zusammenhang, der freilich nur Denjenigen verständlich wird, die sich zu einer eingehenden Kenntniß unserer Finanz- und Bankver-

hältniffe hinaufgeschwungen

haben.

Die Bank tvill nämlich „correct"

sein, und weil sie nun, lote wir oben gesehen, neues Papiergeld aus­ gegeben, hat sie sich vom Staat die „Deckung" hierfür in der Berech­

tigung ertheilen laffen, neue Aletalliques auszugeben;

weil man aber

diese nicht absetzen kann, blieben sie in den Bankcaffen und das. Papier­

geld läuft unbedeckt durchs Ymib. Waaren,

Würde ein Privatmann,

auf die ihm Niemand etwas borgen will,

im

weil er

Keller

hat,

darauf hin Wechsel ausstellen, so würde man dies eine Wechselreiterei nennen.

Doch kehren wir zu unserem Berichte zllrück; er bietet noch manche

neue

die wir gern cvnstaiiren.

und auch erfreuliche Thutstichen,

So

z. B. erfahren wir aus demselben die Sanctionirnng der Statuten einer in Riga zu gründenden städtischen Hänserteihanstalt.

Diese lokale Boden­

kreditbank, den ähnlichen Anstalten in Petersburg und Moskau nach­

gebildet,

ist berechtigt,

die Immobilien

der baltischen Stadt bis zu

31 ihres Werthes zu belehnen und dafür Obligationen auszugeben; diese aber können nicht

im Wege der Ziehung, sondern nur durch Rückkauf

oder Rückzahlen eingelöst werden.

Erfreuliches enthält der Bericht über

das lokale Banktvesen, wie es sich in Folge des Ukases vom 6. Februar 1862 in den Provinzstädten entwickelt.

Eigenthümlich wie alles bei uns

st freilich auch die Organisation dieser kleinen'Creditanstalten. .Bor dem

obigen Decret gab es deren 21, deren Gründung ausschließlich philanthropi­ schen Stadtbewohnern zu verdanken war,

tvelche ihrem Geburts- ober

Aufenthaltsorte ein kleines Kapital vermachten, das zu Darleihgeschästen

verwendet werden sollte, Anstalt gewidmet ivnrben.

tvährend die Zinsen irgend einer wohlthätigen

Durch diese letztere Bestimmung trat die

„Bank" auch sofort unter die Bvrmnndschaft des Conseils der Wohl-

thättgkeitsanstalten, dieselbe nicht.

eine verantwortliche Berivaltung aber gab es für

Der Ukas von

1862 ermächtigte nun

jede Gemeinde,

Volk-tvirthschastliche Briese aus Rußland.

44

eine solche Bank zu gründen, sobald ein Mnimalkapital von 10,000 Rubel vorhanden;

mit der Bedingung jedoch, daß der erzielte Rein­

gewinn zum Kapital geschlagen, die Statuten vom Minister des Innern bestätigt und die Leitung der Lokalbehörde anvertraut werde.

Es sind

nun wirklich bereits 67 solche Banken concessionirt worden, wovon 16

ein Gründungskapital von nicht mehr als je 10,000 R., 26 ein solches

von 10—25,000 R., 14 ein solches von 25—50,000 R., drei mit je 100,000 R. und eine (Rostow) mit 150,000 R. haben; es giebt Ort­ schaften, wie Wiatka, wo auch zwei solche Banken neben einander be­

stehen; einzelne derselben haben bereits Depots von mehr als 100,000

Rubel.

Der Rechenschaftsbericht für 1863 liegt indeß blos für 25 dieser

Anstalten vor; das Gründungskapital derselbm betrug zu Anfang jenes

Jahres 1,165,280 R. nnd sie hatten' im Laufe desselben 1,260,854 R.

an Depots

sie 495,394 R.

rückzahlten; sie hatten

ferner für 3,665,375 R. Wechsel escomptirt

und für 1,173,549 R.

erhatten,

wovon

Vorschüsse auf verschiedene Depots gemacht. haben

zehn

einen Gewinn von

Von

diesen

Anstalten

mehr als 10 Procent erlangt,

neun andere betrug derselbe zwischen

5 und 10 Procent,

sechs endlich haben weniger als 5 Procent realisirt.

die

für

letzten

Der Herr Minister

spricht die Hoffnung aus, daß, da der erzielte Reingewinn, nach Abzug

einer Municipalsteuer, dem Kapital der Banken hinzugefügt werde, sich auch der Geschäftskreis derselben immer vergrößern dürfte.

Diese Hoff­

nung theilen auch wir, es bleibt uns aber doch unerklärlich, warunl man die Gründer solcher Anstalten zwangsweise zu Wohlthätern ihrer

Gemeinden macht.

Die Solidität der Banke» kann hierbei nur ver­

lieren, denn wo nicht eigenes Interesse fortwährend im Spiele ist, er­

kaltet die Theilnahme gar kald und es möchte auch die Unparteilichkeit

der Creditertheiler manchem Zweifel unterliegen.

Wenn trotzdem bereits

67 Concessionen ertheilt sind, so beweist dies eben nur die ohnehin be­

kannte Creditbedürstigkeit des Landes und berechtigt zu dem Schluffe, daß in dem kurzen Zeitraume von 20 Monaten bereits einige Hunderte

von Banken entstanden'wären, wenn man dem Geldbesitzer gestattete, auch ohne gezwungene Wohlthätigkeit seinen Mitbürgern dienlich zu -sein. Einen Beweis hierfür liefert der officielle Bericht selbst in der Ab­

handlung über die im März 1864 in Petersburg gegründete Gegen-

seitigkeits =• Creditgcsellschaft.

Dieselbe ist der Brüsseler societe generale

du Credit mutuel nachgebildet und besteht gegenwärtig aus 490 Kaufleuten,

meist geringern Standes, die zusammen für ein Kapital von 1,996,800 Rubel eingestanden, wovon 10 Procent eingezahlt wurden.

Jedes Mitglied

kann nur auf so viel Credit Anspruch machen, als seine Kapitalhaftung

bei der Gesellschaft beträgt.

Mit dem bis jetzt eingezahlten Kapital hat

nun der Verein bereits 1,874 Wechsel seiner Mitglieder im Betrage von

980,666 R. rscomptirt, er hat bei der Staatsbank in Wechseln und in

Baargelde eine Rechnung von 2z Mill., und er hat von seinen eignen

Mitgliedern in laufender Rechnung zum Zinsfüße von Betrag von 2,384,000 R. erhalten.

Procent den

Schon jetzt beträgt der erzielte

Reingewinn 27,945 R.; die Mitglieder haben also, ganz abgesehen da­

von, daß sie sich creditfähig gemacht, auf ihr eingezahltes Kapital noch ein Erträgniß von 26 Procent (für sechs Monate) erzielt.

Wirken solche

Beispiele nicht anspornender als die philanthropischen Maßregeln des

Decrets vom 6. Februar 1862 ? Unser Interesse regt auch jener Theil des amtlichen Berichtes an, welcher die mit der Bauernemancipation in Verbindung stehenden Finanz­

maßregeln

betrifft. ' Einestheils

lasten

sich

dieselben in dem uner­

quicklichen Streben zusammenfaffcn, dem Adel das Abzahlen seiner alten

Schulden möglichst zu erleichtern: zu diesem Zwecke werden die Anfangs immobilen Loskaufspapiere mehr nnd'mehr mobilisirt und der Renten-

nrarkt überladen; andererseits, wo der Staat als Gläubiger fungirt,

übt er alle mögliche 'Rachsicht, prvlongirt nicht nur alte Schulden, son­ dern gestattet auch die rückständigen Jntereffen zum Kapitale zu schlagen

und die Schuldentilgung auf eine längere Reihe von Jahren als die ursprünglich festgesetzte zn vertheilen. unnütz

Glicht als ob wir diese Maßregeln

oder unbillig fänden, aber es liegt in denselben eine Selbst­

anklage der Regiermlg, daß sie seit fünf Jahren noch nicht vermocht, eines der vielen Bodencreditprojekte, die ihr vorgelegt wurden und noch

vorliegen, zu sanctioniren, weil man über bureaukratische Bedenklichkeiten, über

widerstreitende

Jntereffen kleinlicher

Art hinwegzukommen nicht

verinochte. — Erfreulicher ist, was der Bericht über die bis zur Stunde

mit Hülfe des Staates beiverkstelligten Loskaufsoperationen der ehema­

ligen Leibeigenen sagt.

Bis zum 19. October 1864 hatten im Ganzen

46

DolkSwirthschaftlichr Briefe aus Rußland.

1,827,808 Bauern ihren Grundbesitz gänzlich losgekaust und der bezahlte

Werth belief sich auf 184| Millionen Rubel; davon sind durch die Be­

hörde 171| Mill, bereits zur Auszahlung gelangt und zwar in folgender Weise: ein Betrag von 85| Mill., also genau die Hälfte, wurde an

die Staatsbank als Schuldentilgung der Grundbesitzer eingezahlt; die andere Hälfte erhielten die Letzteren theils in Sprocentigen Bankbillets

(20f Mill.), in Loskaufscertifikaten (an 40 Mill.), in 5|procentiger Rente

(24f Mill.) und den Rest von einer halben Million in Baargeld. — Auch der Sparkassen geschieht in dem ministeriellen Berichte Erwähnung.

Die Thättgkeit derselben ist eine sehr beschränkte, wie es sich nicht an­ ders erwarten läßt in einem Lande, wo es ohnedies leicht ist für jeden kleinen Betrag (50 Rubel) ein zinstragendes Staatspapier sich zu ver­ schaffen, welchem noch obendrein die Bequemlichkeit anhaftet, daß man

es allenthalben für baares Geld ausgeben kann und die aufgelaufenen Interessen mitgerechnet werden.

Dabei tragen die Schatzscheine, von

denen wir hier sprechen, einen höheren Zins, als die Einlagen in den

Letztere haben darum auch in den beiden Hauptstädten zu­

Sparkassen.

sammengenommen nicht viel mehr als 6| Millionen am Beginne dieses

Jahres gehabt und es ist noch zu constatiren, der Einlagen gegen das Borjahr stattgefnnden.

daß eine Verminderung Dasselbe ist der Fall

mit den mit den Wohlthätigkeitsanstalten verbundenen Sparkaffm, deren Depots am 1. Januar 1863 sich mit 3f Mill., am 31. December aber

nur mit 3| Mill, beziffern. Als Resurn« stellung:

giebt der ministerielle Bericht folgende Zusammen­

Zu Anfang des Jahres 1864 belief sich die Gesammtsumme

der zinstragenden Depots: 5 % Bankbillets (in 37 I. rückzahlbar)

273,801,550

Obligat, der consol. Staatsanleihe

152,303,595

Unwiderrufliche Depots ä 5%

Billets der frühern Creditanstalten Depots der Staatsbank



in laufender Rechnung

288,377 78,183,138

157,926,179 26,618,232

689,121,171

Volkswirthschastlichk Briefe aus Rußland.

47

Dieser Summe soll eine Schuldforderung von 544,986,883 Rubel als Aktivum der Creditanstalten entgegenstehen; nur wird nicht gesagt, wie viel von diesen« Betrage der Staat selbst au diese schuldet.

.Wäre die Nord. Revue ein Tagesblatt, welches, die wichtigsten Dinge in

Form von telegraphischen Depeschen mit fetten Letten« an hervorragen­ der Stelle abdnickt, so hätten auch wir unsern heutigen Bericht mit dem-

jmigeu Ereignisse beginnen müssen, welches in diesem Augenblicke die

wirthschaftlichen Verhältnisse Rußlands so «nächtig anregt; wir meinen

die neueste Anleihe in Betrage von 100 Mill. R., welche die Regierung

soeben emitirt und auf welche die Subscription morgen beginnt.

Da uns

zum Vorwurfe gemacht wird, daß «vir die ökonomische Lage des Reichs mit einer gewissen Vorliebe grau in grau malen, so beginnen wir unsere

Bemerkungen über diese neueste Creditoperation mit dem Ausdrucke der Zuversicht, ja mit der Versicherung, der von der Regierung geforderte

Betrag werde ihr vorn Lande bereitwilligst entgegengebracht werden; ja, es läßt sich voraussehen, daß wie bei allen Aktien- und andern Zeich­

nungen, so auch hier jeder Einzelne in Voraussicht einer Reduktion weit mehr Rentenscheine fordern wird als er eigentlich einlösen könnte, und

an gewissen Orten wird dann das ««iivermeidliche Loblied ertönen über

die Unerschöpflichkeit der Hülfsquellen, die Opferbereitwilligkeit der Ra­

tion u. s. w. u. s. w.

Es ist dies aber auch Alles,->vas wir Gutes von

Wir erachten es umsoweniger

der neuen Creditoperation sagen könnten.

nöthig, mit dieser unserer in den folgenden Zeilen begründeten Meinung hinter dem Berge zi« halten, als der gegenwärtige Brief erst im Drucke

erscheint und dein Publikum zugänglich wird,

tvenn schon längst die

Subscription auf die A««leihe geschlossen ist, wir also auch nicht Eine Seele dieser abwendig zu machen gedenken.

Ueber den Zweck der An­

leihe wollen wir später sprechen; «vir haben es vor Allem mit dem Modus derselben: der Lotterie und der Prämie, zu thun.

Man hat Rußland

viel Schlechtes nachgesagt, aber z,« seinen guten Seiten gehörte bisher, daß es. von den Staatseinnahmen, tote sie der raffinirte Geldbedarf

moderner Regierungen

erfand,

nicht viel «vußte.

Wir hatten weder

Lotterie noch Tabaksmonopol, und auch die Salzregie würde vor zwei Jahren zu Gunsten der Privatindnstrie, aber auch im wohlverstandenen

Interesse des Staatsschatzes abgeschafft.

In Bezug auf Lotteriespiel war

48

BoMwirthschastNchr Brief« auS Rutzland.

man bis in die letzte Zeit so sittenstreng, daß selbst die Annoncen fremder

Lotterien in den hiesigm Zeitungen nicht abgedruckt werden dursten. Das Verbot besteht noch; es wird aber von nun an nur als Mittel zur Courshebung der eigenen Lotteriezettel betrachtet werden müssen. . Auch

das Prämienspiel war in unserer offiziellen Welt bis jetzt arg verpönt. Privatgesellschaften, die ihren

Aktien

oder Obligationen

eine

höhere

Rückzahlung als den eingelegten Betrag zusichern wollten, mußten ihre Vorschläge

verworfen

Die eine

sehen.

Anleihe

hat

sich mit einem

Schwünge über all diese Bedmken weit hinausgesetzt;, was der Staat

bis jetzt nicht duldete — übt er nun selbst.

Und in welchem Maße!

Die Antheilsscheine der neuen Anleihe sind auf hundert Rubel fixirt; dir Rückzahlung derselben, welche in 105 Halbjahrsziehungen erfolgt,

ergiebt schon in den ersten Jahren 120 Rubel und dieser Betrag.steigt succesive bis hundertfünfzig Rubel.

Außerdem finden in den 30 ersten

Jahren ztvei Ziehungen jährlich, später je eine Ziehung jährlich statt

und

für die gezogenen Loose

ist

jedesmal ein Gesammtgewinn

600,000 R. mit Haupttreffern von 200,000, 75,000 R. u. s. w. geworfen.

Ja

noch

von aus­

mehr, da die Ziehung der Gewinnnummern ge­

trennt von jener der rückzuzahlenden Obligationen stattfindet, so kann es geschehen, daß auf eine und dieselbe Obligation wiederholte Gewinne

fallen.

Daß somit die Spiellust aufs höchste angeregt ist, versteht sich

von selbst.

Einen Beweis hierfür, wenn es dessen noch bedürfte, fänden

wir in dem Umstande, daß

an den zwei letzten Börsentagen (Freitag

und Dienstag) in keinem Staatspapiere irgendwelche Geschäfte gemacht

wurdm, und die Börsenzettel unserer Tagesblätter mit leeren Rubriken veröffentlicht wurden.

Ganz natürlich.

Es wird Niemandem einfallen,

jetzt Rentenpapiere zu kaufen,

da noch nicht zu ermessen ist, welchen

Einfluß das neue Papier

den Werth der ältern ausüben werde;

auf

die Besitzer dieser letztem aber mögen dieselben auch nicht ,^losschlagen",

weil ihnen selbst

die schon

eingetretene Entwerthung

quasi ungerechter Verlust erscheint.

ein herber und

Auch in dieser Beziehung ist zu be­

merken, wie schr die Regierung plötzlich ihre frühere Sorgfalt für die Empfindlichkeiten des Geldmarktes fallen gelassen hat.

Als die Bauern­

emancipation in's Werk gesetzt wurde, umgab man die Loskaufsscheine, welche die Regierung den Grundbesitzern aushändigte, mit allen möglichen

49

Dolksivirthschaftliche Briefe aus Rußland.

Schranken; der Uebergang derselben von einer Hcyld in die andere wurde

erschivert, damit sie nicht zu leicht auf die Börse kämen und dort den

Cours der

Auch Privatgesellschaften,

andern Staatspapiere drückten.

welche sich rnit einem bedeutendere Kapitale bilden wollten, wurde zu

verstehen gegeben- es sei dies nicht zulässig, weil ihre Werthpapiere den Und nun!

Cours der Staatsrente beenrträchtigen könnten. Doch Nothwendigkeit kennt kein Gebot.

Und wenn wir es nicht

schon gewußt hätten, daß die Anleihe eine dringende war, weil zum

Jahresschlüsse Schuldposten im Auslande zu tilgen sind, so belehrt uns der „Invalide" darüber in einem zur Anempfehlung dieser Operation bestimmten Artikel.

Unseres Erachtens ist unter den gegebenen Uni-

ständen dies noch die beste Bmvenduiigsweise.

sonst noch als

Was

Zweck der Anleihe angegeben wird, ist entweder nicht recht verständlich

oder vom volkswirthschaftlichen Standpunkte aus nicht zu billigen.

Die

Vermehrung der Aiittel der Staatsbank stellte sich gerade nicht als ein so besonders dringendes Bedürftiiß heraus,

Allleihe

aufnehmen liurßte.

N'achdcm

daß man dazu eine solche

seit Jahren ihr

diese Anstalt

ZLechselportefenille verringert hat, läßt sich nicht annehmen, daß sie daran deicke,

es jetzt zil vermehren,

wo eben erst eine neue Handelsbank mit

deut Kapital von 5 Millionen, welches nach Bedürfniß verdoppelt werden faint, gegründet wurde und wo auch die todter oben erwähnte Credit-

gesellschaft

ihre Thätigkeit

immer kräftiger entfaltet.

Es bleibt also

mir die Annahme, welche die Vergangenheit übrigens nur zu sehr recht­ fertigt, daß auch die neue Anleihe für Regierungsbedürfniffe verwendet werden soll. —

Als zweiter Aveck der Anleihe wird der Bau der so

dringlich nvthlvendigen Eisenbahn von Moskau zum Schwarze» Meere angegeben.

Diese Dringlichkeit ist nnbestreitbar,

aber sie

hält

nicht

Stich angesichts der gewichtvollen Eimvendnngen und der schwere» Be­

denken, welche gegen den Bau von Staats bahnen im Allgemeinen und

insbesondere in Zlnßland vorliegen. Wir haben auf diese Bedenken bereits vor längerer Zeit (Octobcrheft d. Nord. Revue) hingelviesen.

Wir sprachen

damals von den nichts weniger als befriedigenden Resultaten, welche an der Strecke Odessa Parkanv (am Dniester) erzielt wurden.

Die in- und aus­

ländische Presse hat sich seither des Gegenstandes bemächtigt und diese Resultate einer scharfen, Kritik unterzogen.

-rordische Revue. HL 1. Heft, isstö.

Auch die Reise des Bauten-

-1

Bolkswirthschaftliche Briefe aus Rußland.

*>D

Ministers nach Bessarabien und der angeblich befriedigende Bericht, den

er über den Gang des Unternehmens erstattet haben soll,

Polemik nicht zum Schweigen gebracht.

haben die

Wir unsererseits haben über

die vorgebrachten Details, was die Ausführung der Arbeiten, den Kosten­ punkt it s. w. betrifft, natürlich keinerlei persönliche Meinung. Das hindert aber nicht, daß wir bei unserer früher ausgesprochenen und auch hinlänglich

motivirten, rein objectiven Ansicht verhanen, daß Staatsbahnen, mit oder ohne Strafcolonim gebaut, jedem Lande und Rußland vor allen andern un­ zuträglich seien, und hätte auch das Unternehmen des Herrn Baron Ungern-

Sternberg die glänzendsten Erfolge erzielt statt derjenigen, welche ihm seine

Gegner

nachwiesen. ...

Es

wäre

denn,

daß

alle

anderen

Mttel vergeblich versucht und der Regierung nichts übrig geblieben wäre, als die so nothwendige Bahnstrecke selbst zu bauen, nachdem sich keine Privatgesellschaft unter annehmbaren Bedingungen hierzu erbötig fand.

Wir wissen

aber,

daß dem nicht so ist, und hoffen darum auch, die

Staatsbahn Moskau-Odessa werde nichts

weiter als.ein papierenes

Projekt bleiben. Ant. E. Horn.

Geraun und Larlstein. Ein Ausflug ins tschechische Land. Von Dr. Richard Andree.

Man hat gesagt, jeder Stein in Prag predige Geschichte.

Aber es

ist nicht die „goldene Stadt" allein, in der uns die Vergangenheit fort­

während mahnende Lehren zürnst, überall vor ihren Mauern begegnen wir Stätten, die an längst verschwundene Herrlichkeit vergangener Tage

erinnern, in denen das Tschechenvolk, wenn auch klein an Zahl, doch groß an Macht dastand.

Es scheint, als wolle es eine Art von Gerechtig­

keit in der Geschichte, das; auch kleine Völker einmal große Tage er­ leben; so ist es mit den Portugiesen gewesen, mit den Niederländern,

den Schweden, und auch bei den Tschechen war es der Fall, denn das fünfzehnte Jahrhundert weist bei ihnen eine Fülle der Machtentwickelung nach innen und außen auf,

Aber

die

Zeiten

sind

die uns gewiß zur Bewunderung zwingt. vergangen.

Die politische Macht der

Tschechen ist dahin, die Krone des heiligen Wenzel verrostet, und-der jetzige Kaiser von Oesterreich hat es nicht einmal der Mühe werth ge­

halten, sie sich auf dem Hradschin aufsetzen zu lasten.

Der Schall deutscher

Trommeln raffelt durch die Straßen Prags, die „ftemden Eindring­ linge", die Deutschen, lugen überall ins Land, von dem sie zwei Fünftel

schon eingenommen haben, und den Rest deffelben durchfurchen deutsche Eisenbahnen.

Die Tschechen

doch selbst aus: Kaiserstaates

auch schon meisten.



von heute sind gute „Oesterreicher";

rufen sie es

„Wir Tschechoslaven sind die treuesten Söhne des großen' aber

er muß vorherrschend slavisch werden,

die Hälfte seiner Bewohner slavisch ist."

wie ja

So denken die

Andere wieder liebäugeln mit dem Panslavismus und schwärmen 4*

52

Beraun unK Karlstein.

Einführung

für

kyrillischer Schriftzeichendamit

die Kluft

Ost und West auch äußerlich recht deutlich hervortrete.

zwischen

Der greise Pa-

lacky hat mit dem Aufwand all seiner Gelehrsamkeit sein Lebenlang für die „tschechische Krone" gewirkt;

er hat aus den Archiven Aktenstücke

über Aktenstücke hervorgesucht, die da beweisen sollen: Böhmen hat mit Deutschland nichts zu thun, wir sind auf ewig geschieden. — Aber dje Zusammengehörigkeit tritt im Leben,

stimmt, immer mehr und niehr hervor.

lisirtm

oder

fremden,

dem

durch den deutschen Handel be­

Man hat 'mit dem entnationa-

eiugewanderten Adel kokettirt, man hat

Bündniffe mit den Männern des Concordats geschlossen

— doch der

politische Bankerott der Tschechen blieb, und mit ihm der Haß gegen die

Deutschen, der sich heute sogar in Parteinahme für die Dänen offen­ barte.

Als nationale Partei stehen die Tschechen fest und geschlossen

da, und wir mißgönnen ihnen keineswegs die Früchte, welche sie nach

redlicher Arbeit am Baume ihrer Sprache und Literatur ernten werden, wenn wir dabei anch wünschen, daß sie mehr Anerkennung nnd weniger Neid und Mißgunst gegen uns Deutsche zeigten.

Wir wenden dem po­

litischen und nationalen Getreide der Hauptstadt den Rücken,

um uns

vor den Thoren umzusehen, wie weit dort der tschechische Nationalgeist

Wurzel geschlagen hat. Die im Jahre

böhmische West bahn führt ein

1862 eröffnete

großes Stück des Landes jetzt nahe vor die Thore Prags, und Gegenden,

die bisher von den Bewohnern

der Hauptstadt nur selten aufgesucht

wurden, werden nun von neugierigen Touristen förmlich überschwemmt. Die Scharka, Rostok, Bnbentsch u. s. w. haben ihr ausschließliches Pri­

vilegium verloren und

der Strom wendet sich jetzt mit Vorliebe dem

vernachlässigten Westen zu,

um in dessen romantischen Thälern,

auf

alten zerfallenen Burgen und im frischen Grün der Laubwälder oder

unter düstern Tannen

die

Reize

der Natur

zu genießen.

Bis nach

Pilsen, bis nach Taus (Domazlice), der tschechischen ultima Thule, geht der Zug, bis dahin, wo an der

bayrischen Grenze der grüne Kamm

des Böhmerwaldes, die Schumava der Tschechen, den Deutschen

ein

nicht beachtetes Halt zuzurufen scheint. Früher war

das

anders.

Vom

Nachmittage bis

Morgen fuhr man mit dem „Stellwagen",

zum andern

ehe man nach Pilsen

gelangte, und eine solche Fahrt hatte auch ihre Reize. Inmitten der Stadt, in dem alteil, weitläuftigen Gasthofe „beim Platteis", der in Prags Lvcalgeschichte eine Rolle spielt, stand der überaus schmutzige Stellwagen zur Abfahrt bereit. Bis zur nächsten Station, dem Städt­ chen Beraun, fährt et fünf Stunden und wir haben Muße die Mit­ reisenden kennen zu lernen. Das Aujezder Thor war damals noch nicht der stattliche Bau, der setzt vor unsern Augen aufsteigt; der Wagen rumpelte hindurch nach dem Smichow und bog dann nach der jetzt verödeten Landstraße rechts ab. Sie beginnt hinter Koschir allmählich zu steigen, 'bei Motol springt ein mächtiger Grünsteiitfelsen in sie hineiil, der oben mit einem Kreuze gekrönt ist. Ueberall, rechts und links, wohin das Auge blickt, Heiligenbilder; bald ist es St. Florian, der in voller Rüstung mit Hammer und Zange an dem Hause eines Schmiedes angebracht ist, bald Johannes von Repomuk au einem Bächlein mit Palmenzlveig, Krucifix und dem Sternenkranze über dem Haupte. Die blondköpfigen Kinder, die in den Dörfer» an der Landstraße umher­ springen, grüßen mit: Gelobt sei Jesu Christ! — und das Alles aus althuffitischem Boden. Die Straße führt immer steiler hinan; der Kutscher, eilt echter Bollbluttscheche, der nur wenige Worte deutsch spricht, flucht und wettert auf die Pferde. Sacrnuient, zatracena nircha! so geht es fort. Die Leute find im Fluchen Birtuosen. Die Reisegesellschaft ist recht gemischt; mir gegenüber fitzt ein' Sohu Israels aus Pilsen, er ist noch vom alten Schlage und man sieht es ihm an, daß er strenggläubig ist und koscher lebt. Er kehrt heim von den Geschäften, die ihn nach Prag riefen. Dort hat er sich den neuesten „Tagesboten" gekauft, er zieht ihn aus der Tasche und beginnt zu lesen. Mein Nachbar zur Rechten ist ein junger tschechischer Student , der in die Ferien reift; er ist in National­ kleidung und schießt wüthende Blicke auf den Juden, der nichts Böses ahnt und über den doch das Gelvitter Hereinbrechen soll: „Warum haltet ihr Israeliten, so beginnt er seine Rede in wohlgesetztem Tschechisch, warum haltet ihr es mit den Feinden des Landes'? Lebt ihr nicht von tschechischem Brode'? Trotzdem lest ihr die schmähsüchtigen deut­ schen Blätter, die von Berunglimpfungen unsrer Nation wimmeln! Wollt ihr nie echte und wahre Söhne des Vaterlandes werden?"

Der Jude steckte seinen „Tagesboten" in die Tasche, schaute den

jungen „Wlastenec" (Vaterlandsfreund) über die Brille eine Weile an und begann dann in eigenthümlich accentnirtem Tschechisch: „Herr Stu­ dent, Sie sagen da viel auf einmal.

Unsere Vorfahren wohnen seit

länger als 1200 Jahren in diesem Lande und sind eine Wohlthat für dasselbe gewesen.

Denn da, wo-Ihre Nation ein Bürgerthum nicht

zu schaffen verstand, wo eine Lücke sich zwischen Hoch und Niedrig zeigte, da

traten

wir und die von euch herbeigerufenen Deutschen ein und

bildeten das Mittelglied. Ihrem Brode,

Wir leben von unserer Arbeit und nicht von

wir lesen die deutschen Blätter

und halten zu den

Deutschen, weil auf ihrer Seite Cultur und Handel sind."

Der Streit zog sich in die Länge und drohte heftiger zu werden. Als daher zur rechten das Plänerplateau des weißen Berges aus­ tauchte, warf ich die Frage hin, ob dort nicht die berühmte Schlacht

stattgefunden hätte?

Der Student war wohlbewandert in der Geschichte

seines Vaterlandes,

ließ den Streit mit dem Israeliten und sprach

ebenso fließend deutsch mit mir, wie vorher mit dem Juden tschechisch. „Dort oben haben die Deutschen und Jesuiteu uns den Schlag ver­

setzt, den wir zweihundert Jahre nicht verwinden konnten. so kommen jetzt^ andere Zeiten.

Will's Gott,

Die Morgenröthe bricht an und Männer

wirken für unser Volk, so edel und tüchtig, wie sie wenig Nationen

aufzuweisen haben.

Hat man uns nicht geknechtet?

War unsere heilige

Muttersprache nicht aus den Landesschulen verbcknnt?' Kennen Sie die

strengen Patente Kaiser Josephs, der uns

mit Gewalt germanisiren

wollte?"

Das Sündenregister der österreichischen Regierung ward bis auf die neueste Zeit herab fortgeführt und den Schluß machte ein Knalleffect:

„Nicht einmal Telegramme dürfen wir in unsrer Sprache in unsrem Lande befördern,

während den fremden Sprachen nichts in den Weg

gelegt wird."

Was konnte ich erwidern?

Mir fiel es nicht ein, die Regierung

zu vertheidigen, zumal der Herr Studiosus nicht in den gewöhnlichen

Fehler verfiel und die Deutschen mit der Regierung indentificirte. Unter diesen Gesprächen war das Dorf Lodenitz erreicht. Kiltscher

mußte Durst verspüren und das Schild mit

Der

den Worten:

„Plzenske pivo ‘, Pilsener Bier, Ivar in der That zu verlockend. machten Halt.

Wir

Auf der Thürschivelle der Schenke lagerten einige herum­

ziehende Slowaken,

die' uns

mit dem

katholischen

Gruße

empfingen.

Die arnien Bursche, welche einen weiten Weg aus ihrem elenden Kar­

pathenlande hierher haben, sahen recht verhungert aus.

Aber es waren

schöne Gesichter unter ihnen, sie waren hoch und schlank gewachsen und die lang auf die Schultern herabwallenden kohlschwarzen Haare standen ihnen gut. Student,

Sie boten ihre kleinen Drahtarbeiten an und der tschechische in

dessen

Busen das Gefühl der tschechoslavischen Stamm­

verwandtschaft wach wurde, griff gerührt in die, wohl nicht überfüllte Tasche.

Zum Dank sangen sie dem „milost pan“ (gnädiger Herr) eine

„Koleda."

Drinnen in der niedrigen Schenkstube sah es recht schmutzig und verräuchert aus; es war voll und ein wirres Durcheinander herrschte. An einem Tische abseits saßen zwei zerlunipte Männer, der eine spielte

die Harfe, der andere die Geige.

Die schrillen Töne wurden von dem

Gesang einiger tschechischen Rekruten begleitet, die mit Sträußen an den Mützen, die dampfenden Pfeifen im Munde, hier die letzten Kreuzer ver­ jubelten, welche ihnen die Mutter mit auf den Weg gab.

Morgen müssen

sie in Prag sein, da kommt das deutsche Commando und die cultivirende Seife und Zan, Pepik, Toniasch und üLaclav werden deutsch lernen, sie werden auf Schildwache stehen und „holberdo" (halt wer da?) schreien.

Und kommen sie dann einnial wieder ans Urlaub in ihr heimathliches Dorf, so sind sie stolze Männer in der weißen Uniform mit buntem Kragen, sprechen gut delltsch und wundern sich, daß die Marianka und

Faninka so dumm sind und blos „böhmisch" sprechen. Faninka aber denken:

Marianka und

so klug wie die wollen >vir auch bald sein.

gehen nach Prag in Dienst.

Sie

Und dann kommen sie wieder und können

deutsch sprechen, aber auch ein Kindchen bringen sie mit.

Der Pepik

und der Waclav haben ausgedient; sie kehren heim und nun nimmt der

Pepik die Marianka und der Waclav die Faninka und den Müttern

und Kindern ist geholfen. Für uns Deutsche ist ein regelmäßiger, fargförniiger Hügel in der

Nähe von Lodenitz besonders bemerkenslverth.

Hier stritten im elften

Jahrhundert zwei Premysliden, Friedrich und Sobieslav miteinander.

56

Beraun und Karlstein.

Sie wurden ge­

Auf Friedrichs Seite standen deutsche Hilfstruppen.

schlagen.

Dem gefangeueu Führer der Deittschen schnitten die Sieger

Nase und Ohren ab und begruben ihn lebendig,

inden» sie in ihren

Helmen so viel Erde zilsammentrugen, bis jener regelmäßige Hügel ent­ stand.

Ich habe den Berg nicht näher untersucht, ob er ein künstlicher

Tumulus oder nur ein Naturspiel ist.

Aber die Gegend zeigt viele

„Hünengräber" und auch die Hradischte, jene sonderbaren Ningwälle,

die sich durch ganz Osteuropa hinziehen, finden sich häufig. Es war schon dunkel,

als

der Stellwagen über die Brücke der

Beraunka nach der alten Königsstadt Berann hineinfuhr. — So war die Fahrt auf der Pilsener Straße, über die damals Wageir an Wagen mit Eisen, Brettern, Holz und allen niöglichen Waaren

Jetzt ist es dort ziemlich still.

dahinzogen.

Mit der Westbahn erreicht

man Beraun in einer Stunde und die Fahrt mit dieser über Kuchelbad,

Königsaal und durch das ronnrntische Thal der Mies ist bei weiten»

angenehmer. Da lag das alte Städtchen vor mir, frenirdlich, anziehend und doch so bescheiden.

Ringsumher treten die Berge ui weiten Bogen zurück

und schließen eine fruchtbare Ebene eil», durch die wildschüumend mit

unregelmäßigen, bald sandigen, bald felsigen Ufern eingefaßt, der Beraun stuß sich hindurchivindet.

Fast alle Abhänge der Berge sind kahl uttb

von weißer glänzender Farbe, denn der obersilnrische, versteinerungs-

reiche Kalkstein tritt häufig zu Tage.

Weiter nach Südwestcn zu erhebt

sich ein langgestreckter massiger Bergrücken, es ist der Lisek oder Hasel-

berg und stolz hinter diesem bis zu 1900 Fuß aufsteigend die Krusch

na Hora,

jener erzreiche Höhenzug,

bestände an die einstige Herrlichkeit

aus dein noch prächtige Buchen der böhmischen Wälder erinnern,

die sprüchwörtlich geivorden, aber in Wahrheit schon sehr verschivunden sind.

Berann ist eine alte und zum Theil noch recht alterthmnliche Stadt,

die bi der böhmischen Geschichte

eine Nolle spielte.

Karl IV., jener

Kaiser, dem Böhmen nicht genug danken kann, von dessen Ruhme jede Scholle des Landes predigt, nannte auch Beraun „Verona mea“ und

die Bürger des Städtchens sind heute noch stolz auf das Prädieat „Königlich", das ihr Ort führt.

Der lllanie soll weder slavischen noch

germanischen Ursprungs, sondern keltisch und mit Brünn, Bern und

Verona glcichbedentend sein. Schon vom Flusse her präsentirt sich der Ort sehr nmlerisch — da stehen zunächst die Ruinen einer steinerne» Brücke, aber sehr moderne Ruinen, die davon zeugen, wie bei den Ver­ pachtungen von Staatsbauten an Meistbietende oft gewissenlos vvrgegangen wird. flieste alter Stadtmauern, aus Backsteinen aufgeführt und mit kleinen spitzdachigen Thürmen besetzt, von denen zierliche Giebel und Fialen sich abheben, umgeben Beran n, das ctroa 4000 Einwohner zählt. Hohe Kirchthürme und größere Bauten findet man freilich nicht, aber die zwei alten Hauptthore, das „Prager" und das „Pilsener" erfreuen das Auge des AlterthuniSforschers. Stattlich präsentiren sich die hohen spitzbvgigeil düstern Einfahrten mit den tschechischen Inschriften darüber, die uns ankün­ digen, daß Ivir uns hier auf rein slavischem Boden befinden. Wr stehen bald auf dem Ring, dem großen schlecht gepflasterten Marktplätze, der von niedrigen Häusern mit weiten rundbogigen Thoreinfahrteu umgeben ist. Hier und da tritt uns noch ein Erker entgegen oder ein zierlicher Renaissaueegiebel erhebt sich in die Luft. Inmitten des Platzes fehlt auch er nicht, dem jeder echte Böhme Liebe und Verehrung entgegenträgt, der heilige Johannes von B'epoiiiut. Dort steht er auf dem alten Brunnen, „hell glänzen die Sternlein ihm um das Haupt, daß selig das Volk tvird, das an ihn glaubt!" Ju der Rechten hält er den Gekreu­ zigten, iu der Linken den Palmziveig, unter ihm sprudelt frisch das Wasser des Brunnens, von dem die Dirnen der Stadt schöpfen, wo sie allabendlich ihr Stelldichein mit dem „Schamster" (Liebsten, abgeleitet von dem deutschen Gehorsamster!) habe». Außer dem Ring hat Beraun keinen Platz und nur tvenige kurze Straßen führen nach rechts und links; wenige Fabriken erheben ihre hohen Essen in der Umgebung der Stadt, die im Ganzen von einer armen Bevölkerung bewohnt wird. Die „Noblesse" tvird meistens durch Beamte vertreten, die in unverhältnißmäßig großer Zahl sich hier aufhalten. Leuchtet uns doch überall der k. k. Doppelaar entgegen, bald am Bezirksgericht, bald an der Post, den Tabakstrafsiken und der Gensdarmeriewache. Ist denn Beraun so gut kaiserlich? Ach nein, wir lernen die Spießbürger kennen uud finden bald, daß sie nur „königlich" gesinnt, daß ihnen der Kaiser von Oesterreich nur als „nase cesky kral“, unser böhmischer König gilt.

Ich stieg in einem Wirthshause am Ring ab, wo mich das kokette

und

„Stubenmädl" in wohlgesetztem Deutsch enipfing

nicht gerade sehr einladendes Zimmer geleitete.

in

ein

großes,

Auch an den Wänden

manifestirte sich das Tschechenthum; da hingen sie, alle die großen Führer

der Nation von heute. langweiligen

Der greise Historiker Franz Palacky mit dem

Profefforgesicht;

Ladislaus

Rieger

mit

dem deutschen

Namen, dem grimmigen Auge und dem tschechischen Herzen; Klaudy mit dem schönen blonden Vollbart, ,md dort endlich in der Tschamara,

dem schnurenbesetzten „Nationalkleide", Karl Havlitschek, der Jourilalist, der zu ftüh für die Tschechen in Folge der Quälereien, welche die Re­

gierung an ihm verübte, dahinstarb.

Sie alle thronten über meinem

Bette und schienen mich zu fragen: „Was willst du deutscher Fremdling

auf diesem slavischen Boden?

Weißt du nicht,

daß Böhlnen nie zu

Deutschland gehörte, daß wir mit enerm Lande nichts -zu schaffen haben

wollen?

Ins Grab mit dem überlebten,

altersschwachen Germanien!

Unser- ist die Zuknnft, uns allein gehört sie, den jugendkräftigen Völkern

flavischer ZMge. Das waren schöne Auspicien

für meine Nachtruhe;

ich riß das

Fenster auf und schaute auf den Ring hinaus, ob denn wirklich hier so

gar nichts Deutsches zu finden wäre. erblickte waren einige

barfüßige,

Aber nein!

Das Erste was ich

zerlumpte Mitglieder

der Berauner

Straßenjugend, die sich an einem nationalen Spiel, Spalschek, er­

götzten.

Sie waren unermüdlich darin, ehi kleines, etwa drei Zoll langes,

an beiden Enden zugespitztes Hölzchen sich

mit Stäben einander zuzu­

werfen.

Meine Wiege stand nicht an der Moldau,

Sazava oder Mies,

ich bin daher auch nicht näher in die Mysterien des Spalschek einge­ drungen und kann dessen Regeln

nicht verrathen; in

den deutschen

Gegenden Böhmens scheint aber dies Spiel nicht bekannt zu sein.

Die Töne eines Leierkastens schallten von der Straße herauf an mein Ohr; meist waren es national-tschechische Weisen, welche das alte zahnlose Weib dem Instrument entlockte, und wie höhnend erklang cs

plötzlich:

Schuselka iiani pise —

„Schuselka schreibt uns aus dem deutschen Reiche, daß wir den Deutschen

zu Hilfe kommen sollen, denn sie haben Bauchgrimmen bekommen." — An Spottliedern auf uns fehlt es in Böhmen gerade nicht; ivenn sie

auch nicht alle zur Orgel gesungen tverden oder gedruckt sind, so gehen fie doch schriftlich von Hand zu Hand und erregen den Haß gegen alle

„Frankfurter", Ivie man die Deutschen zu nennen pflegt.

Auch schöne

Lieder, so ettva Ivie unsere „gedruckt in diesem Jahr", verkauft die alte Hexe dort unten; drauf ist ein roher Holzschnitt angebracht: ein zier­ pflückt Aepfel von

liches Mädchen

einem

Baume.

Die Ausführung

dieses xylographischeil Werkes erinnert an die Vigiletten auf den Tabaks­ packeten von Rathusiils — alles zeigt an, daß diese Druckwerke auf einem sehr ilicdrigeil Standpunkte stehen; aber niedrig, würden sie dem tschechischen Patrioten schon

sehr

niedrig

um deßtvillen erscheinen,

weil sie nach der alten Rechtschreibung und — horribile dicht — mit

deutschen Lettern gedruckt sind, denn groß und breit steht auf dem einen: „Noiva

Mladencnm a pannani."

pjsen

ihren Drucklverketl jetzt stets die

Die Tschecheit gebrauchen bei

lateinischen Lettern, und nur allerlei

Bolksschrifteil werden noch mit deutschen Buchstaben gedruckt; die Heran­

wachsende Jugend bedient sich aber schon meisteder lateinischen Lettern. Unten im Schenkzimmer waren die Lichter angezündet worden; es

wurde lebhaft, und die erbgeseffenc Bügerschaft Berauns rückte heran;

der eine im gewöhnlichen Rocke, der andere in der neuerfundenen Tschamara.

Auch ein junger Kaplan, in langem schwarzem Rocke fehlte nicht.

Ich ging auch hinab.

Das „Stubemnädl", das oben recht gut deutsch

gesprochen hatte, antwortete mir hier unten auf meine Fragen nach einer

deutschen Zeitung kurz tschechisch: „Nername.“ wußte

also von

mußte

mich

welcher

Wir haben keine.

Seite hier unten der Wiitd blies,

schon bequemen,

mit

meinem

gerade

nicht

Ich

und ich

sehr

guten

Tschechisch herauszurücken, trenn ich mit den Herren verkehren wollte. Das

Mädchen

hatte

Recht:

nur

gut tschechische

Blätter,

wie

die

Narodni listy, der Hlas itnd das schmutzige Witzblatt Humoristicke listy

lagen auf.

Die Gesellschaft vergrößerte sich immer mehr.

Da war ein Gerber,

ein Klempner und auch der Herr „Purkmistr" (Bürgermeister), seines Zeichens ein Müller.

Sie alle waren Mitglieder

des Gesangvereines

60

Deraun und Karlstein. dem vor kurzem die Jungfrauen des Städtchens eine

„Slawosch",

neue Fahne gestickt hatten; diese und der darauf angebrachte böhmische Löwe bildeten das einleitende Gespräch,

von

Jdeenverbindung bald

das

sich

durch eine einfache

dem doppelgeschwänzten Leu

zur

,.6eska

Die „tschechische Krone" ist diesen Leuten das politische

koruna“ wandte.

Evangelium, ihr Eines und Alles.

Der Kaplan nahm eine Pnse mid

erklärte, man dürfe mit der Bereinigung von Böhmen, Mähren und Schlesien unter einem auf dem Hradschin thronenden Könige sich nicht begnügen; preußisch Schlesien, die Lausitz, wo 100,000 slavische Brüder

unter deutschem Joche seufzten, gehörten von rechtswegen auch dazu und früher, zu den Zeiten Karls IV. habe Böhmen bis an die Ostsee ge­

reicht; man müsse auch ein Stück Meer besitzen, schon Shakespeare habe von den Küsten Böhmens

im Wintermärchen gesprochen, und Berlin,

Dresden und Breslau dürften Provinzialstädte werden, die, wenn ihnen

erst die Segnungen flavischer Cultur zu Theil würden, allmählich er­

blühen könnten. Der geistliche Herr trug dick auf, aber desto größer wurde sein Ruhm als „Wlastenec."

Er schrieb auch die Correspondenzen für die

Narodni lisch und protestirte gegen den Ramen „Pochmatow", den

man der guten Stadt Beraun beigelegt hatte,

um es zu

einer Art

Kein Schadenfeuer, keine Gassengeburt,

tschechischen Abderas zn stempeln.

kein Diebstahl, keine Rauferei entgingen

seiner gewandten Feder und

Beraun glänzte daher unter den Correspondenzen der Narodni lisch alo treutschechische

Stadt

obenan.

Man

hatte

der Politik genug gethan

und weidlich auf die Deutschen geschimpft; wer hätte also den edlen

Kämpen für ^Rationalität und Freiheit eine Erholung verargen können?

Frischer Dreikönigstabak, gewachsen auf Ungarns Fluren und verkauft

in der kaiserlichen Traffik ward in die braungerauchten Meerschaum^ pfeifen

gestopft

und

das

Pilsener Bier

im

Glase

erneuert.

Dann

gruppirte man sich zu einem „nationalen" Kartenspiel um die Tische. Die dabei gebrauchten Karten sind freilich die italienischen, aber das

Spiel selbst „Schestadwacet" (Sechsundzwanzig) scheint in Böhmen

entstanden zu sein. Ich war unschlüssig, wohin ich meinen Fuß weiter wenden sollte.

Stromaufwärts

nach

Westen zu

oder

in entgegengesetzter Richtung?

Die Wagschale schwankte.

Ging ich nach Westen, so kam ich zunächst in

die Eisenindustriegegend, dahin, wo die Gichtstammen der Hochöfen

ztvischen romantischen Bergkuppen

geil Himmel

lodern,

wo

die

Eisen-

häminer ihr gleichmäßiges Ticktack erschalle» lassen, und schwarze rußige Gestalten in den großen Wäldern das Holz zu Kohlen brennen.

Dort

balzt noch der Auerhahn, streift das Wildschwein unlher und bricht der stolze Zwölfender

in die Saaten

des armen Landmanns

ein.

Dort

wühlt bei Tag und Nacht das geschäftige Volk der Bergleute in den

Eingeweiden der Erde und fördert das Eisenerz, dort erhebt sich stolz

zwischen waldigeit Bergen die alte gothische'Burg Pürglitz, das Kfi-

voklat der Tschechen, wo in einsamer, stiller Abgeschiedenheit Erzherzog

Ferdinand von Oesterreich mit seiner schönen Philippine Welser wohnte, die ihnl hier ihren zweiten Sohn, Karl von Burgau, gebar.

Dort zieht

sich die wilde Thalschlucht Oupor hin, die noch wenig gekannt ist und

an ihrem Ausgang blicken die venvitterten Ruinen von Tjtow auf die Fluchen der tannenumkränzteir Mies herab.

Einst war sie ein stolzes

Jagdschloß des faulen Wenzel, der, wie die Sage geht, beim Königsstnhl von

Rhense für

eine Tonne

Asmannshäuser

^lluprechts von der Pfalz Hände legte.

den

Kaiserhermelin in

Mehr nach Südwesten erheben

sich zwei andere sehenstverthe Ruinen, die viel von vergangener Pracht

und Herrlichkeit zu erzählen wissen: Totschnik und Zebrak; dort liegt bei einem steilen Kieselschieferselsen am Fuße

Dorf Hudlitz,

wo

des Kruschnaberges das

ein neuer Messias der Tschechen, Josef Jung­

mann geboren wurde.

Dort endlich erblicken

wir

zwischen Wäldern

einsam imi) verborgen das Dörflein Sw ata, in welchem die Reste einer

Husfitengemeinde aus dem silbernen Kelche der Borfahr'en noch heute das

Llbendmahl unter beiderlei Gestalt nehmen.

Vielleicht führen wir den Leser später einmal in jene wenig ge­ kannten Gegenden; heute senkte sich mir die Wagschale zu Gunsten der entgegengesetzten Seite.

Also stromabwärts, hin zu dir, Tetin, zu euch,

ihr romantischen Felsen von Srbsko und zu dir, Krone aller Btlrgm

Böhmens, du unvergleichliches Karlstein!

Stromabwärts von Beraun beginnen die Flußufer wieder steil an­ zusteigen und nur mit Mühe und vielen Kosten hat man einen Durch­ gang für die Eisenbahn ausfindig gemacht.

Ich folgte den engen Pfaden,

62

die

Verarm und Karlstein. sich

durch

die

Kalksteinfelsen hinschlängeln und

kurzem Marsche Tetin.

Einige

erreichte

nach

elende tschechische Bauernhäuser, aus

roh behauenen Holzbalken aufgeführt, repräsentiren jetzt das Dorf, das einst eine bedeutende Stadt gewesen sein soll.

Noch stehen vier Kirchen

in dem kleinen Orte, deren Grundmauern jedenfalls uralt 'sind.

Die

Geschichte und die Sage breiten ihren Schleier über Tetin aus: hier

ward die heilige Ludmila erschlagen, und alljährlich ziehen, am Tage'der

Heiligen von nah und fern die Landleute gläubig herbei, um ihre Ver­

ehrung zu beweisen.

Es ist gleichsam als ob ein geheimnißvvller Zauber

den Tschechen nach Tetin locft; dort steht er oben auf den hohen Ber­

gen und schaut herab in den Strom, hinter sich in die fruchtbare Land­

schaft — und vom Schifflein da unten, das auf den Wogen der Be raunka tanzt, klingen die herrlichen Weisen tschechischer Volkslieder herauf:

Nad Berounku pod Tetinem Ruze jiz 86 cervena. — Wir vernehmen deutlich

die Worte; Melodie folgt auf Melodie,

eine gewaltiger und ergreifender als die andere — echte Kinder des

Volkes und der Natur, voll unendlichen Schmerzes, voll Sehnsucht und

tiefer Wehmuth; so ertönen sie in Mollweisen einschmeichelnd und be­ rauschend, doch nie zur Freude und Lust stimmend.

Me oft habt ihr

meine Seele ergriffen, ihr Lieder von hohen Bergen und tiefen

Thälern,

wie ost lauschte ich, selbst ein Fremdling und verlassen im Lande der

Tschechen, dem Gesang vom treulos verlassenen Mädchen, den Romanzen von Bretislaw und Judith! Ich stieg auch hinab zum Flusse

der langsam stromabwärts trieb.

und setzte mich in einen Kahn,

Die Felsen traten immer näher an den

Fluß heran, der sich in mannichfachen Krümmungen hindurchschlängelt. Da liegt das Dorf Srbsko und bei ihm ist der romantischste Punkt au der Beraunka erreicht.

Obstbaumgärten umgeben die strohgedeckten

Häuser, die in einer Schlucht zwischen den Bergen erbaut sind und von keiner Straße, als der Wasserstraße der Beraun berührt, einen gänzlich abgeschlossenen Ort bilden, in dem man fern von aller Cultur unter

tschechischen Böotiern versauem kann, ohne etwas von dem Getümmel der Welt, dem Hasse der Parteien zu vernehmen — denn der tschechi­ sche Landmann ist einer der tolerantesten, die es giebt, er kennt feine

vorgefaßten Meinungen gegenüber dem Protestanten und läßt sich auch durch seinen Geistlichen durchaus nicht gegen diesen aufhetzen, gleichsam als lebte noch ein altes Stück Hussitenthunl in ihni, als schwebten ihm die Thaten seiner Väter vor, die mit Kelch und Schwert für den ge­ läuterten Glauben auszvgen. Ich erwähne hier, durch die herrlichen Volksweisen der Tschechen, die in mir immer und immer wieder nach­ klingen, versöhnlich gestimmt, nur eine gute Seite int Charakter der Landbevölkerung; von dem langen Sündenregister schweige ich heute. Noch immer erblickt man Karlstein nicht, und doch müssen wir ganz nahe dabei sein. Zur Linken erhebt sich endlich auf einem Hügel das Dorf Budnau mit dem kleinen Palmatiuskirchlein, zur Rechten das ein­ zelne Gehöfte Poutschnik und bei demselben ein gutes Wirthshaus. Dorthin lenkte ich den Kahn und dort sah ich zuerst, gleichsam einge­ rahmt wie ein Bild, die mächtige Burg, thronend auf einem schroffen Kalksteinfelsen und rings umgeben von höheren, steilen, kahlen Berg­ wänden, die wie Wächter das Kleinod in ihrer Mitte zu schirmen scheinen. Da steht Karluv tyn mit dem massigen, viereckigen Hauptthurm, mit Erkern und zinnengekrvnten Mauern, mit den vielen Nebengebäuden, die Paläste und Kapellen in sich schließen, halb erhalten, halb verfallen, zerstört durch'Belagerungen, die Macht der Elemente und verständnißlose Restauratoren. Aber ehe wir in das Heiligthum des Burgbaues eintreten, den vor Zeiten kein Weib, selbst die Kaiserin nicht, betreten durfte, fesselt uns im Wirthshause zu Poutschnik ein tschechisches Fest. Man hatte mir den Fremden, den. Deutschen angesehen, man fragte nach meinem Namen und ich erhielt ein Karte: Pozväni k beseele v Poucnika. P. T. Blahorodemu panu doktoru------ Einladung zur Beseda in Poutschnik für den wohlgeborenen Herm Doctor — — Und schwärmt man hier noch so sehr für Freiheit, Gleichheit und Volksthum, der Titel und das „Wohlgeboren" dürfen nicht fehlen, das ist einmal so hergebracht; und so wurde ich denn gefragt, ob auf der Einlaßkarte auch allen Förm­ lichkeiten genügt sei. Ich durfte nun in die Beseda hinein und konnte mich überzeugen, >vie weit die Ideen der Herren Rieger und Genossen auf dem Lande Eingang gefunden hatten; fteilich waren Agitatoren von Prag da, welche

64

Äeraun und Karlstein.

alles leiteten und ordneten.

Die tschechische Agitation ist in ein System

gebracht, das, wie eine Spinne ihr Netz ausdehnt, sich über das ganze

Böhmerland ausbreitet, so weit die slavische Zunge klingt.

Als das beste

Mittel, den Rationalgeist aufzustacheln, betrachtet man eine Beseda, eine Zusammenkunft, bei der gesungen, getrunken, declamirt und getanzt

wird.

Ich habe diese Besedi im Verlauf meines mehrjährigen Aufent­

haltes auf tschechischer Erde oft genug mitgemacht und fand sie alle eine wie die andere.

Drum mag die Poütschniker Beseda, die ich jetzt zu

schüdern versuche, als Typus aller andern angesehen werden. Die heutige Beseda — 'es war am 15. August 1861 — galt der „Tochter der Nation"; mit diesem Namen belegte man nämlich Zdenka

Hawlitschek, die 'einzige hinterlaffene Tochter des bekannten tschechischen

Journalisten, und ihr wollten die dankbaren „Böhmen slavischer Zunge" ein Vermögen zusammenb'ringen.

Der löbliche Zweck wurde auch er­

reicht. — Ueber der Thür des Saales erhob sich ein grimmiger böh­ mischer Leu, auf Pappe gemalt, mit der Wenzelskrone auf dem Haupte;

rechts und links von ihm große rothweiße Fahnen und dabei eine ganz

winzige schwarzgelbe.

In dem hübsch ausgeschmückten Garten wechselten

Lanbgewinde mit bunten Papierlaternen in den slavischen und böhmi­ schen Farben.

Zwischm frischem Tannenreißig

stand der „unsterbliche

Held" (nesmrtelny hrdina) als Gypsbüste, Karel Havlitschek Borowsky,

der einst den Ausspruch that: „Lieber die slavische Knute als die deutsche

Frechett!"

Ihm zu Seiten Rieger und Palacky.

Wie

Umgebung das tschechoslavische Herz nicht höher schlagen!

sollte in dieser Sah es doch

seine VoMmpfer dort stehen, leuchteten ihm doch die rothweißblauen Fahnen entgegen, die aus Gott weiß was für einen: Grund, „slavisch" genannt werden.

Von nah und fern drängte sich das Publikum heran

und opferte einen Gulden auf dem Altare Zdenka's.

Beamte und kleine

Grundbesitzer aus der Nähe, Gevatter Schneider und Handschuhmacher

aus dem ferneren Beraun mit Weib und Tochter.

Wer eine Tschamara

besaß, der hatte sie sicher heute angelegt und eine rothe Halsbinde dazu,

mit einem silbernen Löwen

als Busennadel darauf.

Die Töchter der

national gesinnten Väter erschienen im „slavischen Alieder" mit Kränzen

von frischem Lindenlaub in den Haaren, denn die Linde ist der heilige Baum der Slaven und „slovänska lipa“ wird gern im Gegensatz zu

„deutsche Eiche" genannt.

Ich brauche nicht besonders hervorzuheben,

daß die Unterhaltung fast ausschließlich in tschechischer Sprache geführt

wurde;

in unbewachten Augenblicken kehrte freilich bei Manchem das

geschmähte Deutsch zurück, aber er verbesserte sich schnell, wenn der grim­

mige Blick eines jungeil Heißsporn ihn traf oder wohl gar die Schlag­ Das letztere, ziemlich neue

worte „Frankfurtak" oder „Kulturak" fielen.

Wort, das sich mit „Culturträger" übersetzen läßt, ward auch mir ein­ mal zu Theil, als ich so verwegen war,

das

Seite nur

wälsche Wort „Bravo"

Es war freilich von meiner

statt des üblichen „Vyborne“ auszustoßen.

ironisch gemeint gewesen, denn auf der Emporbühne stand

eine Persönlichkeit, so dick und feist, daß man Thran aus ihr pressen konnte, und aus dem fettumlagerten Halse derselben quälten sich mühsam Tenorklänge hervor. Aber was scheerte meine Tiefenbacher die Kunst, die Form!

Sie verlangten Inhalt unb der ward ihnen auch zu Theil: das

war eine Variation des alten Themas „Schlagt die

vorgetragene Lied

Deutschen tobt, jagt sie zum Lande hinaus!"

Später folgte der Tanz, dem

selten mit patriotischen Declamationen. ich aber nicht beiwohnte.

Soli und Chorgesang wech­

Zugleich begänne« in Folge des Bieres unge-

müthliche Scenen, schwankende Gestalten nahten sich, und die Erscheinung

manches modernen Tschechvslaven war der Art, daß ich für einen all­ Es kam mir vor, als hätte ich

gemeinen Katzenjammer besorgt war. ein

getreues

Bild

der

ganzen

tschechischen

weit sie sich auf politisches Gebiet

Bewegung vor mir,

erstreckt — auf den Rausch

so

folgt

Katzenjammer.

Ich hatte genug von den Proben tschechischer Gegenwart; von der tschechischen Zukunft konnte ich mir keinen klaren Begriff machen,

wenn auch die Besedatheilnehmer erklärten, großartig

sein.

Ich

beschloß,

mich

der

sie würde epochemachend,

tscheschischen Vergangen­

heit in die Arme zu werfen und den Zweck meines Ausfluges, den

Besuch der Veste Karlstein auszuführen.

Auf einer Fähre setzte ich über den Fluß und schritt den Felsm eingesprengten Weg zur alten Burg hinauf.

in die

Was ist es denn,

was uns bei Karlstein so unwiderstehlich anzieht, so ungleich mehr fes­

selt, als bei vielen andern Burgen? Warum treten andere Bergschlösser, selbst unsere Wartburg, hier in den Hintergrund, obgleich sie in architecRordtschk «»»», in. 1. Mi- 1865.

5

66

Beraun itnb Karlsteü».

tonischer Beziehung bei weitem Karlstein überragen?

Es ist das un­

mittelbar Äerkommem Alterthum, der ursprüngliche Inhalt,

der

uns freilich nur noch sehr lückenhaft in den erhaltenen Kunstschätzen evtDie meisten Burgen unserer Zeit sind so sehr restaurirt, daß

gegentritt.

von dem Ursprünglichen nur wenig übrig blieb,

das Innere ist mit

Waffensammlungen und anderm archäologischen Inventar ausgeschmückt, das von allen Ecken der Welt zusammengekaust wurde und die Wand-

gemqlde, die z. B. die Wartburg schmücken, sind von moderne» Meistern ausgeführt.

Was wsr aber auf Karlstein erblicken, ist unzweifelhaft echt,

war von je hier an Oxt und Stelle gewesen und ist zum Theil über 5Q0 Jahre alt.

Nachdem Karl IV defl großartigen gothischen Veitsdom auf dem

Hradschin gegründet hatte, beschloßer in demselben Jahre, in welchem die Prager Universität, die erste Deutschlands gestiftet wurde, auch einen sicheren Platz für die deutschen und böhmischen Reichskleinodie» zu schaffen.

Der Meister, dar den Plan zum Prager Dom entworfen hafte, Mathias

von Arras, erhielt im Jahre 1348 den Auftrag, diese Burg zu baue« und Bischof Ernst von Pardubitz legte am Pfingstdieustage, den 10. Juni

1348, den Grundstein dazu.

Beinahe yeu» Jahre währte der Bau Md

am 27. März 1357 ging von eben diesem Bischof sich.

die Einweihung vor

Die Burg trägt hen Namen ihres Gründers; er ist ganz deutsch,

denn es war in Böhme« schon von ftüherer Zeit her Sitte, daß selbst

tschechische Adelige ihre Burgen mit deutschen Ramen belegten, dafür Mgen Klingenberg, Schreckenstein, Rosenberg, Sternberg

Gründungsinstrument kommt

u, A.

nur der Name ,Karlstein" vor,

Im

ältere

tschechische Schristeu haben ,Farlffteyn" und di« neuere Form „Karluv

tyn“ ist nur eine schlechte ftebexsetzung, welche do» deutschen Name»

ausmerzen soll. Damft die Burg nicht ohne Vertheidiger dastehe, wurden die zwei und zwanzig Karlsteiner Lehen gegründet, deren Besitzer zu jeher Zeit

mft Roß und Reisigen herbeieilen mußten, um den Helligen Ort zu be­

schützen;

den»

zwei Kapellen mit einer Menge

kostbarer Reliquien

barg das Innere, und wir können uns eines Lächelns nicht erwehre»,

wenn wir unter den Reliquienfolgendeangeführt finden- pars de virga Aro», quae refloruit.

I nachdem die Muse, welche Vondel und Cats begeisterte, zwei Jahrhunderte verstummt war. Neben dem bereits

erwähnten Da Costa werden die Namen des Dramatikers van Lennep,

der Novellistm Gerard Keller und Mevrouw (Frau) Bosbom-Toussamt, sowie beS volkstümlichen Lyrikers Tollens mit Auszeichnung genannt.

Tollens und Da Costa sind bereits gestorben, noch in voller Rüstigkeit weiter schaffen.

während die Uebrigen

Aber ob solch ein Ding, wie

die Nationälliteratur der Holländer eine Möglichkeit ist?

Ich zweifle

daran; ich glaube, daß Jakob Grimm Recht hat, wenn er sagt, daß die Sprache der Dänen wie der Holländer bestimmt sei, Deutschen aufzugehen.

in derjenigen der

Und was von der Sprache gilt,

das gilt in

noch erhöhtem Sinne wohl von der Literatur. Unter solchen Plaudereien hatten wir das Ende der Allee und die

ersten kleinen Häuser von Scheveningen erreicht.

Ich steckte nunmehr

getrost meinen rothen Bädecker in die Tasche und hatte während meines ferneren Verweilens in Haag und Scheveningen auch nicht Gelegenheit

ihn wieder hervor zu ziehen, so gefällig in seiner Auskunft über Alles, was mich intereffiren konnte, erwies sich mein neuer Freund.

Er zeigte mir eines von den kleinen einstöckigen Häusern am Wege und sagte: „In dieser Stube zu ebener Erde hat Robert Schumann den letzten Sommer vor »dem Ausbruch seiner traurigen Krankheit gewohnt.

Clara Schumann war mit ihm.

Es ist eine schmerzliche Erinnerung

für mich, sagte Herr V., so oft ich an diesem Hause vorbeigehe, obwohl

mm Jahre seitdem verfloffen sind.

Ich habe ihn, nachdem ich in diesem

Hause Abschied von ihm genommen, nicht wieder gesehen." — Herr V.

erklärte sich als einen großen Verehrer der Schumann'schen Richtung, und später in seinem eigenen Hause hatte ich das Vergnügen, eine ganze

Reihe der intereffantesten Briefe, welche dieser Meister an ihn gerichtet, zu

lesen,

und

welchen

ist mir namentlich

Schumann

einer davon im Gedächtniß geblieben,

unmittelbar

nach

der Aufführung

Werkes, „Paradies und Peri" geschrieben.

seines

schönen

Nicht die Zweifel an dem

Erfolge dieses Werkes, sondern nur ein Schmerz beunruhigte ihn, daß

die wirkliche Gestalt desselben

so weit

hinter seinen Idealen zurück­

geblieben sei. Solche Bekenntnisse, von vollendeten Meistern zurückgelaffen,

haben für uns,

die wir noch gänzlich in der Unsicherheit des Ringens

begriffen sind, etwas ungemein Tröstliches.

Ja, die Verklärung, welche

von dieser und ähnlichen Unterhaltungen auf die Tage meines Aufent­ halts in Haag zurückstrahlt, geben denselben in meinem Andenken noch

heut eine erhöhte Bedeutung. Nun hatte uns die volle frische Seeluft gefaßt und wir standen

vor den Dünen. Hinter uns lag die flache Haidelandschaft — denn das Dorf bedeckte mit seinen Häuschen und seinen Windmühlen den Blick

auf den Haag — und das Wehen jener langen, dünnen, gelbgrünen

Halme auf einem Boden von Sand zeigte uns die Nähe des Meeres an.

Auf einer Brücke, die über ein Stück trocknen Landes führt (denn

nur in ungewöhnlichen Fällen tritt das Wasser so weit aus),

standen

bunte Gruppen von Fischern und Jungen mit jenen traurigen Eseln, welche dem Seestrande

ganz

so

eigenthümlich zu

Muscheln, Sandroggen und Dünengras.

sein

als

scheinen,

Dennoch ward Einer ans der

Schaar nicht müde, uns seinen „Schnell-Esel" (eine wundervolle Com-

anzupreisen.

position!)

Aber selbst der holländische Eseljunge

nimmt

insofern Thell an den Eigenthümlichkeiten seines Volkes, daß er nicht überaus

zudringlich ist,

und sich,

wenn er abgewiesen wird,

begnügt, seine Pflicht gethan zu haben.

damit

Er ließ uns ziehen, nachdem

er uns. mit seinem verdrießlichen „Schnell-Esel" ein paar Schritte ge­

folgt war,

und wir hatten nun die Genugthuung,

weitere Belästigung

von

das Meer

der Höhe der Dünen herab

ohne

begrüßen

zu

können. Wie dieses Element selbst nach der kürzesten Trennung die Seele

doch immer wieder aufs neue weidet!

Der weiße Sand ist da stich

188

Durch Holland im Fluge.

und breit, so daß das Auge jeden Halt und Maßstab der Vergleichung

verliert;

dahinter ist das Murmeln der Brandung, welches das Ohr

mit einem ähnlichen Eindruck des Unbestimmten aber Endlosen erfüllt

und dahinter die Monotonie und Majestät des Meeres mit den Leinen

Segeln hier und dort, oder einer Möve, welche im Gesichtskreis schwebt. Darüber wölbt sich ein hoher Himmel, welcher nur da zu enden scheint, wo er sich in das Wasser senkt und das ganze Bild, unsicher trotz seiner

festen Umrisse, und grenzenlos, obgleich, man sein Ende zu sehen meint, erfüllt die Seele mit einer unaussprechlichen Sehnsucht,

während

das

kurze, dumpfe Rollen der Wogen ihr wie ein heimathlicher Ton klingt,

und das volle,

starke Rauschen des Meerwindes ihre Flügel löst und

sie in eine Ferne voll wunderbarer Täuschungen entführt.

Das Bad in Scheveningen ist sehr angenehm und heilkräftig,

das

Badeleben jedoch steht nicht in dem Rufe, ein amüsantes zu sein.

Ich

kenne Scheveningen zu wenig, um darüber mit Sicherheit urtheilen zu

dürfen.

Aber was mich anbetrifft, so möchte ich's ohne Bedenken für

eine Saison wagen.

denheit an. Ansprüchen.

Mich spricht diese Ruhe, diese vornehme Abgeschie­

Scheveningen ist in der That ein Bad von aristokratischen Es

Fürsten gewesen.

ist

immer

ein Lieblingsaufenthalt

einiger

deutschen

Die vornehme Welt von Holland versammelt sich hier.

Man wird nicht durch das modische Geplapper gestört, welches den Deich

von Ostende in der Höhe der Saison zu einem so lärmenden Aufenthalte macht.

Die Gesellschaft

von Scheveningen

gruppirt

sich um einzelne

Tische, welche vor dem großen Badehause auf einem bequem parquetürten Grunde angebracht sind.

Die Aussicht von hier auf das Meer ist ent­

zückend; frei heraus wettert die köstliche Salzluft und man fühlt sich von keiner Seite beengt, weder durch Rücksicht auf Bekannte noch durch das

Aergerniß der Toilette,

die an andern Badeorten eine so „breite" und

fast lächerliche Rolle spielt.

Zu

bestimmten Stunden des Tages hat

man hier Musik, und in dem Badehause bei geöffneten Thüren und mit dem Blick auf das schillernde Meer, zu speisen- ist eines der angenehmsten

Dinge. Die holländischen Damen,

welche ich

hier in großer Auswahl zu

mustern Gelegenheit hatte, sind eigentlich nicht schön.

Ihr wasserblaues

Auge, ihr mattblondes Haar und eine gewisse Robustheit im Gesichts-

Dyrch Hollavd im Klug». ausdrmk, verbundn mit frühzeitiger Corprüery, find wenig geeignet, die

Leidenschaft zu erwecken.

Sie scheinm kalt und lassen kalt.

Aber ich

glaube wohl, daß sie gute Hausftaum sind. Die Natur scheint sie mehr Mr Ehe, als Mr Liebe geschaffen zu haben.

Sie besitzen einen vortreff­

lichen Appetit und machen es ihrem Tischnachbar nicht schwer, dergleichen Neigung , zu folgen.

Denn sie lassen sich auf. weitläufige Gespräche nicht

ein und begnügen sich mit der Unterhaltung, welche ihnen der Gebrauch des Messers Md der Gabel gewährt. — Es giebt Nichts, was sie beim Esse« aus. ihrer Ruhe stören könnte.

Ich hatte eines Mittags, als wir

beim Pudding hielten , das Unglück — in der That,

ich habe dieses

Unglück oft und wame meine schönen Leserinnen im Voraus! — die Saucenschüssel umzuwerfen.

Meine. Nachbarin trug ein stattliches Kleid

von heüblaper Seide, und ich zitterte^ indem ich den unaufhaltsamen

Strom vom Tischtuch herab sich geradezu auf dieses Kleid ergießen sah. Was sollte ich Aermster thun? Ich ward roth, verlegen und stammelte

meine Entschuldigung in drei Sprachen.

Aber die Holländerin blieb

Sie Mterbrach sich nicht und mich nicht,

und aß lustig

weiter,, dm» sonst wäre der Pudding ja kalt geworden !

Dann, als sie

Mgerührf.

mit chxer Portion zu Ende war-,

ergriff sie die Serviette, wischte dje

bisher mbeachtet gebliebene Sauce von ihrem Kleide und mit einer höchst unbefangenen Wendung nach der Puddingschaale, welche in meiner

Nähe stand, sprach sie das erste und einzige Wort,

haupt von ihr vernahm:

welches ich über­

„Believt ye, Mynheer!“ — worauf ich ihr

den Pudding; reichte Md sie ich zum Miten Male über denselben her

machte. In ihrem höchsten Mor sah ich die Dammwelt vom Haag an

einem Sonntag Mittag in dem allerliebsten Gehölze, welches unter dem

Namen des Haag'schen Busches, „het Bosch“, bekannt ist

Der Busch

ist ein großer Park voll Wald und Wiest, voll von Kaffeehäusern, und

Vergnügungslokalen und- am Sonntage ist er, wie gesagt, die Reunion „du beau monde“.

Eine beträchtliche Anzahl eleganter Karossm war

in dem dichtesten Theile des Gehölzes aufgefahrm, etwa ein halbes

Stündchen vom Thore entfernt; die bekannten Klänge von Offenbach's Orpheus in der Unterwelt" grüßten aus dem Baumdunkel, unb sobald

man über eine Brücke gegangen war — denn dieser Versammlungsort

190

Durch Holland tm Flage.

der schönen Welt im Bnsch bildet eine kleine Insel für sich — befand

man sich in der Mitte von glänzenden Toiletten- und OWersnniformen,

an denen sich die langen goldftansigen Epaulettes und Orangeschärpen vornehmlich bemerkbar machten.

So viel ich beobachten konnte, bestand

die Unterhaltung der Herren darin, Genever zu trinken,

Damen sich zum Absynth mit Wasser bekannten.

während die

Letzterem Glauben

schloß ich mich an, und ich wurde — da der Absynth hier zu Lande

ungemein stark ist — ein klein wenig seliger dabei, als ich wünschte. Meine angenehmsten Stunden waren in der Folge diejenigen, welche

ich in dem Garten und Wohnhaus meines musikalischen Gönners zu­ brachte.

Es liegt weit außerhalb des Thores, in einem ganz umwaldeten

Theile der Vorstadt und führt den poetischen Namen der „Rosenburg". Und sie waren poetisch, diese Abendstunden unter den Rosen des Gartens

oder am Flügel seines Arbeitszimmers, wenn mein Freund — der als

Compvnist sich eines guten Rufs, sowohl in seiner Heimath, als auch in den musikalischen Kreisen von Deutschland erfreut — mir seine hübschen Melodien zu holländischen Liedern spielte und sang, während unter dem

Fenster in der Dämmerung des Gartens und auf einem Kohlenfeuer

der in Holland allgegenwärtige Theekessel siedete.

Später pflegten wir

uns noch auf eine Stunde oder zwei in die Stadt zu begeben, wo wir

zuweilen bis Mitternacht vor der Thür einer „Tappesij“ in guter Ge­ sellschaft fröhlicher Freunde und auf offener Straße mit langen chönernen

Pfeifen und dem Bierkrug saßen.

Solche Tage

der Behaglichkeit und des heitersten Wohlbefindens

als im Haag werde ich lange nicht wieder erleben! —

Noch einer freundlichen Scene vom letzten Tage meines dortigen

Aufenthaltes muß ich Erwähnung thun.

Es war ein später Sonntag­

nachmittag, und ich hatte die Rosenburg verlassen, um etwas selbem zu

gehen.

Der Wald war zurückgetreten und ich sah mich in einer jener

flachen holländischen Gegenden, mit einem Dorf und einer Windmühle im Hintergründe, wie ich sie in solcher Nähe der Residenzstadt nicht ver­ muthet hätte.

Der Schall der Abendglocken hallte leise und träumerisch

herüber und die lange Dämmerung des Sommerabends nahm ihren Anfang.

Plötzlich hörte ich Stimmen aus mäßiger Entfernung, helles

Lachen und dann wieder

unterdrücktes Gekicher.

Ich hätte mich gern

191

Durch Holland im Flug».

versteckt, um das Schauspiel nicht zu unterbrechen, welches sich mir jetzt bot.

Aber in einer so flachen Niederung war dazu keine Gelegenheit.

Ich sah eine Gruppe von holländischen Bauern und Bäuerinnen heran­ kommen.

Sie machte sich wohl mit diesem Gang in's Freie ein Sonn­

tagsvergnügen.

Eins

von den Bauermädchen hatte seinen Arm ver­

traulich um den Nacken eines Bauernburschen geschlungen. ein Canal und eine Brücke darüber

Plötzlich begann

Nur noch

trennte die Fröhlichen von mir.

einer von den Bauerburschen zu laufen, bis er die

Brücke erreicht hatte, und hier faßte er Posto.

Was er sprach, ver­

stand ich nicht ganz genau; aber aus dem, was nun folgte, ging hervor, daß er die Mädchen nicht über die Brücke lassen wollte, ohne Zoll, und dieser Zoll — in natura zu erheben — bestand in einem Kuß.

Diese

Procedur ging denn nun auch, mit etwas Widerstreben zwar, aber doch so sehr in aller Form Rechtens vor sich, daß ich, am andern Ufer, die

Küffe, ich kann nicht anders sagen, als „knallen" hörte.

Auf mich nahm

man dabei weiter keine Rücksicht; im Gegentheil, man gab mir Zeit, dieses echt niederländische Bild mit aller Muße zu betrachten, und grüßte

mich, als der Zoll erhoben und die Brücke überschritten war, mit der allercharmantesten Unbefangenheit. Leider besitze ich nicht das glückliche Combinationstalent so vieler

anderer Schriftsteller, um aus diesem Impromptu auf der Brücke eine

Volkssitte zu machen ; aber es belebte die eintönig im absterbenden Lichte des Tages daliegende Landschaftsfläche auf eine so angenehme Weise, daß

ich nicht umhin konnte, jenem alten englischen Collegen, welcher einige

Jahrhunderte vor mir dieses Land bereist und beschrieben hat, sehr Un­ recht zu geben, lvo er von ihm sagt: „Ein sehr häßliches Land, heraus­

gestiegen aus der See und welches viel besser gethan hätte, darin zu bleiben."

IV. Rotterdam. Wenn man von Amsterdam nach dem Haag fährt, so hat man vielleicht

die eigenthümlichste Strecke von Holland gesehen.

Man hat den Boden

gekreuzt, über welchen noch vor zwei Jahrzehnten das Haarlemer Meer

fluthete, und ist vielleicht erinnert worden an jenen unsterblichen Häring

aus Meidinger, durch welchen vor doppelt so viel Jahrhunderten die Ent-

Durch Holland im Fluge.

152

stehung desselben geweiffagt wurde.

Man sieht Wasserwerke mit hohen

Thürmen, und Mndmühlen, welche kein Korn mahlen,

Wasser aus den Mesen jagen.

sondern das

Hier ist noch etwas von jenem Kampfe

zwischen den beiden Elementen, der Erde und des Wassers, wahrzunehmen, und das Meer scheint hier noch immer drohend vor den Dämmen und

Deichen des Festlcmdes zu stehen.

Zur Rechten, wo es nach Westm

geht, überblickt man eine todte, leicht wogende Wasserfläche, und fern

ein paar Segel darauf, die vielleicht dem Meeere zuschwanken.

Emen

ganz andern Blick hat man

von dem Theil des „yzern

Spoorweg“ (der Eisenbahn), welcher den Haag mit Rotterdam verbindet.

Hier sind wieder die üppigen Wiesen und die Heerden, die KastanienMeen, die Kanäle und die Treckschuiten darauf.

Hier wechseln anmu-

thige Dörfer mit kleinen, fteundlichen Städten, und ich glaube, man bekommt dm besten Begriff von Holland, wenn man, wie in meinem

Falle, mit Amsterdam beginnt und mit Rotterdam schließt.

In seinem Aeußern, in den Giebeln in den jahrhundertgrauen

und Erkern seiner Häuser,

Zierrathen seiner Kirchenthürme und

der

mittelalterlichen Enge seiner mdstm Straßm giebt Rotterdam dem größerm und vornehmeren Amsterdam wenig nach; aber es ist ein ganz anders

und frischeres Leben in Rotterdam. jünger und rüstiger vor.

Man kommt sich sdber hier viel

Sogar die Mmschen im Allgemeinen sehen

hier moderner aus und die Frauen sind hübscher.

Die Eigenthümlich-

keiten der ersten großen Handelsstadt von Holland sind auch zum Thdl diejenigen der zweiten.

Auch in Rotterdam kreuzen Kanäle die Straßm,

und map fährt dort beständig über Brücken, zMvellen gar unter sehr bedenk-

lichen Umständen, wie mir z. B. gleich bei meinem Eintritt m die Stadt pasfirte, wo mdn Kutscher mit mir über eine solche Brücke jagte in dem

Augenblick, wo diese anfing, sich zu heben, um ein großes Barkschiff mit

Mast und Takelage durchzulassen.

Aber die Kanäle in Rotterdam sind

nicht vor der Straße dagewesen, tote in Amsterdam. Sie sind erst nach­ träglich, zur Bequemlichkeit des Handels, von dem Hafen aus gezogen

wordm, damit Schiffe aller Gattungen mit voller Ladung bis dicht vor die Häuser

der Eigenthümer

starrende Masse von

oder Beftachter

Stangen und Segeln

fahren können.

Diese

hat man nicht auf den

Grächtm von Amsterdam; dort gehen die Seeschiffe nicht weiter, als bis

Mr „Haringpaekerij“ am Hafen.

In Rotterdam dagvzert liegen die

größten Segelschiffe, dichtzusammengepackt, in dm Straßen herum, wie

anderstoo in den Docks, und es macht einen seltsamen Eindruck, Häuser

zu sehm mit Doppelgiebeln, wie in Nürnberg, vor derm Thüren Achter­

schiffe, hoch aufgestapelt mit Wollballen und Zuckerfäffern anlegen, und mittelalterliche Dome,

deren Thüme toetteifem mit

einem Wald von

Mastspitzen ringsum. Ich hatte.mir

von

allen Rotterdamer Hotels

eines

ausgesucht,

welches in dem Rufe steht, ächt holländisch zu sein, das Hotel St. Lucas, oder „St. Lucaffen", wie es die Leute hier nennen.

Es ist ein großes

Gebäude- mit zahllosm Treppen, Gängen und Zimmern,

aber man ist

daselbst sehr sparsam mit Waffer und Leinen, und nicht überhöflich in der Bedienung.

Hier sollte ich zuerst die Bekanntschaft des nationalen

holländischen Kellners machen.

Derselbe heißt „Jan", wie er in Eng­

land „John" heißt, und bei uns in der guten alten Zeit „Johann"

hieß, ehe er, durch den französischen „Louis" verdrängt, der Name des

deutschen Hausknechtes ward.

Der holländische Kellner trägt nicht den

servilen Frack anderer Nationen, sondern seinen gut bürgerlichm Rock. Er hört

nicht auf

die Glocke,

theilten Befehle auszuführen.

nimmt sich Zeit,

und

daß der Holländer nicht zum Kellner geboren ist.

Eigenschaft in der That, Trinkgeld zu nehmen.



Die

Hauptsache

die

ihm er­

Er zeigt es mit jedem Wort und Blick, Eine lobenswerthe

wenn er nur auch so standhaft

wäre,

kein

Aber darin giebt er unserm „Louis" nichts nach.

in

St.

Lucassen

indessen

ist

auch

gar

nicht

Wohnung noch Bedienung, sondern einzig die tadle d’höte, und dies

ist dar Moment, wo ich meinen Hut abnehme und feierlich deklarire, daß- ich in meinem ganzen Leben noch nicht so gut und so viel gegeffen

habe, als dies in St. Lucaffen zu Rotterdam der Fall zu sein pflegte. Aber was ?ch auch in diesem Punkte mir einbildete: meine Leistung war doch nur das Stümperwerk eines Anfängers, verglichen mit den Thaten

der wohlgeübten und wohlgenährten

Stammgäste von

St. £u Rußland.

213

qm 10. Juli 1781 zwischen Joseph II. und Katharina in Wien ein Ver­ trag zu Stande gekommen zu sein, in welchem.sich beide Theile »er-

pflichtetM, für den ihren neutralen Unterthanen, im Widersprüche mit dssn v,on chnen ausgestellten Grundsätzen

des Völkerseerechts von den

krieg'führenden Staaten zugefügten Schadm m gemeinschaftlichen diplo­ matischen Unterhandlungen Genugthuung anzusprechen, ihre Handelsfahrie,uge wechselseitig

durch Couvoischiffe zu.beschützen,, ja erforderlichen

Falls Rußland zur See, Oesterreich zu Lande mit Waffengewalt die Sicherheit des Handels ihrer Unterthanen zn erzwingen.

Jedenfalls er­

klärte Kaiser Joseph, wenn nicht früher, am 9. October 178,1 den Grund­

sätzen her bewaffneten Neutralität beftreten zu wollen, und

eigenen Urkunde vom 19. Qctober 1781

vpn der russischen Kaiserin angenommen.

in einer

ward diese Beitrittserklärung

Allein nicht nur beschützen

wollte man den eigenen Handel gegen auswärtige Gefahren, die freund­ schaftliche Gesinnung der beiden Höfe war auch einer Ausbmtzmg und Vervielfältigung des gegenseitigen Handelsverkehres , günstig. Diesen Zweck zu erreichen, erließen beide Herrscher am 12. Novem­

ber 1785 Edicte, in denen dem russisch-österreichischen Handel bedeutende

Vergünstigungen gewährt wurden.

Nationen

Den meist begünstigten

sollten in dieser Richtung die beiderseitigen Unterthanen gleichgehalten und die Ausübung ihrer Religion in ihren eigenen Häusern oder in den dazu bestimmten Gebäuden und Kirchen ihnen gestattet fein,

Insbeson­

dere sollten.in Zukunft gewöhnliche ungarische Tafelweine, wie Erlauer,

Ofner und Rüster nicht mehr als 4 Rubel .50 Kopeken per Oxhoft,

feinere Desertweine, wie Tokaier, nicht mehr als 9 Rubel für dieselbe Quantität als Einfuhrzoll an der russischen Grenze bezahlen, hingegen

erklärte sich Oesterreich bereit, von den unter dem Namen der Juchten bekannten, russischen Ledergattungen künftig feinen höheren Einfuhrzoll als 6 Gulden 40 Kreuzer für den Rentner (beiläufig 137 russische Pfund)

zu erheben, und den Einfuhrzoll für russische Pelzwaarm auf 10 Pro­ cent ihres Werthes, jenen für Gabiar auf 5 Procent von dem Gentner Sporcogewicht herabzusetzen.

Bezüglich der Havarie oder anderer See­

unfälle, der Befreiung von ungesetzlichen Anhaltungen und vom Kriegs­ dienste, der Justizpflege über die beiderseitigen Unterthanen,

der Er­

richtung russischer Handelshäuser in Oesterreich und österreichischer in

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.

214

Rußland, über Mäkler, Handelsbücher, fteien Vermögensabzug , Banke­

rotte und Verlaffenfchaften von Oesterreichern und Russen finden sich in diesen Edicten die umfaffendstm Bestimmungen, so wie in denselbm die Grundsätze der bewaffneten Neutralität von neuem ausführlich auseinander­

gesetzt

und

die Befugnisse

der beiderseitigen Consuln

näher normirt

wurden. Doch nicht nur arif dem Gebiete bet Handelspolitik allein gingen damals Oesterreichs und Rußlands Herrscher Hand in Hand. Es ist bekaMt, daß Kaiser Joseph ungeachtet des Teschner Friedens

seine Pläne rücksichtlich Baierns nicht aufgab, sondern dieselben im Jahre 1785 in Form eines Tauschprojectes — Baiern für das aus dem größ­ ten Theil der österreichischen Mederlande zu bildende Königreich Burgund

— zum zweiten Male in Ausführung zu bringen suchte.

Katharina II.

ließ damals dieses Project durch ihren Gesandten den Grafen Rumanzow dringend dem präsumtiven Erben Carl Theodors,

dem Herzog

Earl

von Zweibrücken, 'empfehlet!, ungeachtet sie selbst zu den Garanten des

Teschner Friedens gehörte, und wahrlich nicht ihre Schuld war es, wenn

Kaiser Josephs Hoffnungen gleichwohl an dem durch den greisen Friedrich noch im Jahre vor seinem Tode, am 23. Juli 1785 ins Lebm ge-

tufenen deutschen Fürstenbunde zu Grunde gingen. Gleiches Interesse verband den Kaiser und die Kaiserin denn auch im türkischen Feldzug.

Auf Potemkins Antrieb war Katharina II. im

Januar 1787 nach Taurien gereist, um die kaum erworbenen Provinzen und

die neu gegründete Stadt Cherson, stanttnopel führen sollte, zu besuchen.

durch welche der Weg nach ConHieher kam Joseph II., Katharina

abermals zu begegnen und die Bande der Freundschaft noch enger zu

knüpftn.

Daß damals ein neuer Allianz-Vertrag zwischen beiden Herr­

schern geschloffen wurde, ist vielfach behauptet und bestritten worden, so viel aber mag als gewiß angenommen werden,

die Angelegen­

daß

heiten der Pforte den Hauptgegenstand ihrer politischm Unterhaltung

bilden mußtm.

Wie weit der Ehrgeiz der Kaiserin reichte,

ob in der

That nach ihren'Absichten eine Theilung der ttirkischen Provinzen jene Polens

vervollständigen

sein, H^othesen

sollte, hierüber

aufzustellen.

wird

Die Neckereien,

Handel im schwarM Meere von Seite

es

stets

nur gestattet

welchen der

der Türken

russische

ausgesetzt war,

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.

215

Verletzungen der Hoheitsrechte der Pforte in bereu eigenem Gebiete, welche sich Rußland sollte haben zu Schulden kommen lassen, nährten hüben und drüben dm Haß, der seit dem Frieden von Kutschuk Kainardschi unter der Asche fortgeglimmt hatte, und würde der Sultan dem drohmden Unwetter zuvorzukommen, nicht der Zarin am 24. August 1787 den Krieg erklärt haben, sicherlich hätte diese jenen nicht lange auf eine Kriegserklärung warten lassen. Joseph II. blieb dem Bündnisse treu, und so begann der österreichischtüMsche Krieg, deffm Ende der Kaiser nicht erleben sollte. Die Kriegs­ ereignisse selbst liegen außerhalb der Grenzen dieses Aufsatzes. Mannichfaltige Ursachen hemmten weittragende Erfolge, als nach manchem Schwanken der Sieg sich entschieden dm österreichisch-russischm Fahnm zuneigte. Joseph II. war am 20. Februar 1790 gestorben. Unruhen in den meisten Provinzen, nicht minder als drängende Gründe der äußeren Politik mußten seinem Nachfolger dm Frieden erwünscht machen. Die Eifersucht Preußens, das damals Friedrich Wlhelm II. beherrschte, hatte schon längst mit sorgendem Auge die Fortschritte der beiden kaiserlichm Heere beobachtet, an einer Zerstückelung der türkischen Provinzen konnte es ja nicht wie an jener Polens theilnehmen, und auf dm Vorschlag, einen Theil Galiziens an Preußen abzutreten, damit dieses, nun gleichfalls be­ friedigt, die Eroberungen Oesterreichs im Südosten sich gefallm ließe, konnte dieses nicht eingehen. Auch die beiden Seemächte, England und Holland, mit denm Preußen vor Kurzem die bekannte Tripelallianz zur Auftechthaltung der niederländischen Statthalterschaft im Hause Omnien eingegangen war, sahm mit Mißtrauen einer Erweiterung der öster­ reichischen und russischm Macht entgegen. Schon hatte Friedrich Wilhelm am 16t Januar 1790 eine förmliche Allianz mit der Pforte geschlossen, schon sammelte sich ein preußisches Corps in Schlesien, da trat zum Be­ hufe bet Friedensverhandlungen zu Reichenberg ein Congreß von Ge­ sandten der durch die Tripelallianz verbundenen, vermittelndm Mächte und Oesterreichs zusammen. Oesterreich war hierbei durch Fürst Hein­ rich XIV von Reuß und den Baron Spielmann, Preußen durch dm ©rasen Hertzberg, England durch Joseph Ewart, Holland durch bett Baron Reede vertreten. Schon am 27. Juli 1790 wurden Prälimina­ rien unterzeichnet, nach welchen ber Status quo ante bellum zur Basis

216

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich wtb Rußland.

der Verhandlung bestimmt wurde.

Doch erst am, 4. August 179 t kam

der Friede zu Szistowa zu Stande. Noch später, am 9. Jarmar 1792,

ward das russisch-türkische Friedensinstrument zu Jaffy unterzeichnet,

Wt größeren Vortheilen für Rußland, als

der Szistower Friede sie

Oesterreich gewährt hatte, denn die Macht der Tripelallianz war in­ zwischen durch Uneinigkeit gebrochen worden und die Revolution in Frankreich nahm Dimensionen an, welche die Blicke--Europas von dem Osten ab nach dem Westen zogen,

Zwei Tage vor Kaiser Joseph war Elisabeth vm Würtemberg, die

Gemahlin des nachmaligen ersten Kaisers von Oesterreich, gestorben; ihre Schwester war mit dem Großfürsten von Rußland vermählt und -so riß

ein Band- welches die Interessen der beiden Reiche auch für die Zukunft innigst zu verbinden verspmch; zu fest aber waren diese Interessen nach anderer Seite verknüpft, als- daß hierdurch eine merkliche Veränderung

m den fteundschaftlichen Beziehungen hätte herbeigeführt werden können, obwohl Leopold II. mit Preußen noch näher als mit Rußland sich zu

verbinden begann.

Während des türkischen Krieges hatte Preußens Eifersucht nicht Mit der Tripelallianz allein sich begnügt, auch in einer Verbindung mit Polen, von dem es durch friedliche Unterhandlungen Danzig und Thorn zu erlangm hoffte, suchte es Aequivalente für die von Oesterreich und

Rußland im Südosten gemachten Eroberungen. Polen jedoch, das sich inzwischen eine Verfassung gegeben hatte, wollte auf das Ansinnen Preußens nicht eingehen.

Da nun die Reichen­

berger Verhandlungen zu einem glücklichen Resultat geführt hattm, der

Abschluß des Szistower Friedens nahe und Preußens Eifersucht rück­ sichtlich Oesterreichs damit befriedigt war, so suchte König Friedrich Wilhelm II. eine nähere Verbindung mit Kaiser Leopold, in der Hoff­ nung, seine Pläne in Betreff Polens in Vereinigung mit Oesterreich

auch ohne Rücksichtnahme auf Katharina II., mit welcher das gespannte Verhältniß fortdauerte,

ausführen zu können.

Ohnedies machten die

täglich weiter greifenden Fortschritte der ftanzösischen Revolution eine Verständigung zwischen beiden Höfen von Tag zu Tag dringender noth­

wendig und so ward der Oberst von Bischofswerder von Berlin nach

Wien gesandt, neben den türkischen Arrangements auch wegen Abschließung einer Defensivallianz zu unterhandeln.

Leopold II. jedoch, eingedenk der Verbindung Oesterreichs mit Ruß­ land,

wollte so lange auf den definitiven Abschluß eines neuen, für

Rußland

möglicherweise unangenehmen Allianzvertrages

nicht eingehen,

mit

Preußen

bis Katharina ihren Frieden mit der Pforte geschlossen

haben würde und eingeladen werden konnte, nebst England, Holland und

dem zur Thronfolge in Polen berufenen Kurfürsten von Sachsen der neuen

Verbindung beizutreten. Alles was Vischofstverder erreichte, war demnach der Abschluß einer Art von Präliminarvertrag,

welcher am 25. Juli

1791 von ihm und dem damals noch an der Spitze der österreichischen Staatskanzlei stehenden Fürsten Kaunitz zu Wien unterzeichnet wurde. Der Hauptinhalt des Vertrages war gegen Frankreich gerichtet, doch wurde

hinzugefügt, der abzuschließende definitive Vertrag solle, um jede Eifer­ sucht und jede Befürchtung eines Uebergewichtes der drei Nachbarstaaten

Polens unter einander zu beseitigen, die Verpflichtung enthalten, nichts zu unternehmen,

wodurch die Unverletzbarkeit und Aufrechthaltung der

freien Verfaffung Polens angetastet würde und weder für einen Prinzen aus den Häusern Oesterreich, Preußen und Rußland, noch überhaupt ohne gemeinschaftliches Einverstandniß für irgend einen Eandidaten bei

der allfälligen Neuwahl eines Königs von Polen ihren Einfluß anzu­ wenden.

Auch für dieses Versprechen sollte die Zustimmung Kathari-

na's II. gewonnen werden.

Die Ereigniffe in Frankreich machten indeß kommen der Höfe von

vermuthen stand.

ein neues Ueberein-

Wien und Berlin schneller nothwendig , als z«

Leopold II. und Friedrich Wilhelm II.

trafen sich

persönlich zu Pillnitz und obwohl der Zweck der Conferenz zunächst auf

Maßregeln gegen Frankreich gerichtet war, konnte es wohl nicht anders

sein, als daß auch die polnischen Angelegenheiten zur Sprache kamen. Man wollte sich auf's schleunigste mit den« Hofe von St. Petersburg zu

Gunsten der Thronnachfolge des Kurfürsten von Sachsen ins Einver­ nehmen setzen, und für das Versprechen Friedrich Wilhelms, dem Erz« Herzoge Franz bei der Wahl zum römischen Könige seine Stimme zu

geben und bei England und Holland im Sinne einer von Leopold II.

gewünschten Abänderung der ans die belgischen Angelegenheiten bezÜtz-

218

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.

lichen, im Haag geschloffmen Convention vom 10. December 1790 zu wirken, erklärte sich dieser bereit,

seinen Einfluß in Petersburg und

Warschau für die auf Thorn ynb Danzig gerichteten Wünsche des Kö­

nigs von Preußen zu verwenden.

Endlich, nachdem der Friede von Jaffy geschloffen worden war, kam der längst vorbereitete definitive Vertrag zwischen Oesterreich und

Preußen zu Stande und ward am 7. Februar 1792 zu Berlin von dem Fürsten Reuß als Bevollmächtigter Kaiser Leopold's, von den Grafen

Finkenstein und Schulenburg und dem Preußen unterzeichnet.

Baron von Alvensleben für

Die Bestimmungen des Präliminarvertrages vom

25. Juli 1791 wurden in einem Separatartikel ausgenommen, die beider­

seitigen Besitzungen garantirt, gegenseitige Hilfe im Fall einer Invasion, wobei man namentlich Frankreich im Auge hatte, versprochen, und die

Einladung zum Beitritte an Rußland, England, Holland und Sachsen im 7. Artikel ausdrücklich Vorbehalten.

Drei Wochen später, am 1. März 1792, starb plötzlich Kaiser Leo­ pold n.

Franz II. übernahm die Regierung und am 20. April desselben

Jahres erfolgte die Kriegserklärung Frankreichs an Oesterreich.

Der

Krieg der ersten Coalition gegen Frankreich nahm seinen Anfang.

Rußland, so sehr es die Vorgänge

in Frankreich perhorrescirte

und ein so geneigtes Ohr es den Klagen der Emigrirten schenkte, war doch vom Kriegsschauplätze zu weit entfernt, um sogleich thätig einzugrei­

fen; auch war es zunächst mit den polnischen Angelegenheiten beschäftigt. Die Streitigkeiten zwischen

den in der Conföderation von Targowicz

zusammengetretenen Anhängern der alten und jenen der neuen Berfaffung hatten die bewaffnete Intervention der Zarin herbeigeführt und schon

im Mai 1792 waren russische Truppen in' Polen eingerückt.

Oesterreich war damals ausschließlich mit dem Westen beschäftigt. Zu Petersburg erneuerte Graf Cobenzl im Namen des Kaiser Franz

mit den Bevollmächtigten Katharina's, den Grafen Ostermann, Besborodko

und Herrn

von

Markoff im

Juli

1792

die

alte

Allianz.

Neuerliche Garantie der beiderseitigen Besitzungen, mit Ausnahme der

russischen Provinzen in Asien und der österreichischen in Italien, so wie detaillirte Bestimmungen über die von einer Macht der anderen, für den Fall eines Angriffes von Seite eines dritten Staates, zu leistende Hilfe

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterrrich und Rußland.

219

von wenigstens 10,000 Mann Infanterie und 2000 Mann Cavallerie

bildeten den vorzüglichsten Inhalt des Hauptvertrages, Bestimmungen, die übrigens trotz des bereits mit Frankreich

ihre praktische Erfüllung aus Hand nicht erhalten sollten.

ausgebrochenm Krieges

den oben erwähnten Gründen vor der In zwei Separatartikeln wurde die Ab­

tretung der von Dänemark erlauschten, vor kurzem erst zu Herzogthümern erhobenen Graffchaften Oldenburg und Delmenhorst von dem

Großfürsten Paul an die jüngere Linie des Hauses Holstein durch Franz II. anerkannt und das Uebereinkommen getroffen, die alte Ver­

fassung Polens, seine Grundgesetze und Integrität aufrecht zu erhalten.

Wenig Erfolg aber hatte die letztere Bestimmung, denn schon im folgen­

den Jahre, April 1793, kam die zweite Theilung zwischen Rußland und

Preußen zu Stande.

Oesterreich war diesmal unbetheiligt.

Die Fortdauer der anarchischen Zustände in Polen, die Gefahren, welche für die Ruhe und den Frieden der Nachbarstaaten hieraus er­

wuchsen, die mit Rücksicht auf das eben erfolgte erschütternde Ende Lud­

wigs XVI. und die nunmehr eintretende Entwicklung

der sieghaften

französischen Revolution begreifliche Besorgniß, die monarchienfeindlichm

Tendenzen und

Principien Frankreichs möchten in dem durchwühlten

Boden der königlichen Republik Polen empfängliches, ftuchtbares Acker­

land finden und von hier aus sich weiter verbreiten über die angrenM-

den Lande, alles dies forderte dringend auf,

die Mittel zur Hintan­

haltung solcher Gefahren emsig in Erwägung zir ziehen.

Rußland, da­

durch seine Beziehungen zu Stanislaus Poniatowsky diesfalls zunächst interessirt war, hatte während des ganzen Laufes des Jahres 1796 in

dieser Richtung mit den Höfen von Wien und Berlin Berathungen und

Unterhandlungen gepflogen, als deren Resultat sich die Uebereinstimmung

der Ansicht aller drei Höfe darin ergab, es sei bei der erfahrungsmäßigen Unfähigkeit Polens, eine feste und kräftige Regierungsgewalt zu schaffen,

und die Unabhängigkeit bewahrend ftiedlich unter seinen Gesetzen zu leben, für den Frieden und das Glück ihrer Unterthanen unumgänglich

nothwendig, an die gänzliche Theilung der Republik unter die drei

Nachbarstaaten zu schreiten.

In diesem Sinne wurden Venn auch am

3. Januar 1795 zu Petersburg zwischen dem österreichischen Gesandten Graf Cobenzl und den drei Vertrauensmännern der russischen Kaiserin,

?20

Aplomcrtische Wzirhuugen -wischen Oesterreich uatz Rußlgnft.

welche, tat Vertrag vpm 14, Juli 1792 unterzeichnet Hatten, gleichlau-! tende Erklärungen ausgewechselt, in welchen die Art der Thellung vor? läufig festgesetzt ward, und Hie dem.preußischen Hofe mitgetheilt wep

den sollten. Während nun. die Truppen der drei Mächte den Rest Polms besetzten,

wurden gleichzeitig zu St. Petersburg die Conferenzen zur Abschließung

des Theilungsvertrages zwischen den genannten dxei russischen Bevoll* mächtigten, dem Grafen Cobenzl und dem preußischen Gesandten Graf Taueuzien eröffnet, und am 24. October 1794 wurde das Theilungs­

instrument in der Form dreier Sonderverträge zwischen Oesterreich und Rußland, Oesterreich unb Preußen, Rußland und

Conferenzmitgliedern unterzeichnet.

Preußen von den

Doch ward damit nur der russische

Antheil vollkommen bestimmt, nach dem 3. Artikel blieb di« österreichisch­

preußische Grenze längs der Pfalzgrafschaft Krakau unentschieden und die beiden contrahirenden Mächte kamen überein, sie durch Grenzregulirungscommissäre, welchen auch russische Abgeordnete in schiedsrichterlicher Mission beizugeben beschloffm wurde, an Ort und Stelle bestimmen zu lassen. Die ruffische Kaiserin selbst sollte,im Falle von Streitigkeiten zwischen

Leiden Höfen entscheiden und die ganze Grenzberichtjgungsarbeit in drei

Monaten vollendet sein,

Uebrigens versprach jeder >der contrahirendm

Theile den beiden andern^ seine Truppen aus den der letzteren gehörigen

Gebietm nach endlicher Feststellung derselben znrückzuziehen und im Falle

eines aus Anlaß der TheilMg entstandenen Angriffes von Seite dritter Maaten sich gegenseitig mit allen Kräften zu unterstützen.

In Folge

dieses Vertrages und der Unmöglichkeit, den Truppen der Alliirten fernerhin Widerstand zu leisten, verzichtete Stanislaus Poniatowsky am 25. Novbr. 1795 auf die Krone Polens und legte die Abdikafions-Urkunde in die Hände Katharinas nieder.

In dieser erkannte er an, daß die von den

alliirten Mächten ergriffenen Maßregeln die einzig möglichen seien, um

Len Frieden und die Ruhe in Polen wiederherzustellen.

Früher schon

am 18. Mqrz 1795 hatte Peter Biron, Herzog von Kurland, ßch freiwillig Her Kaiserin unterworfen.

Indeß ging es mit der preußisch-österreichischen Grenzregulirung nicht

so schnell, als man anfänglich gehofft hatte.

Oesterreich hatte für diese

schwierige^ in. Krakau tagende Commission den Warqujs voy Ghastelep

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.

22 t

und HeMr von CachK, Preußen den Herzog Friedrich von SchleswigHolstein-Beck mtd die Herren von Pfuell und von Hoym, endlich Ilüßlctnd

Herrn v. Lascy und von Fivow abgesendet.

Bon Seite Oesterreichs sowohl, als von jener Preußens, wurden namentlich strategische Gründe für eine ihnen günstige Bestimmung der

Krakauergrenze geltend gemacht und in weitläufigen Dissertationen nieder­ gelegt.

Doch erst am 21. October 1796

war das von Kacharina II.

Mit der Urtheilsfällung beauftragte aus den Grafen

Osterinann und

Besborodko und dem inzwischen in den Grafenstand erhobenen Herm v.

Markoff bestehende Ministerium in der Lage, auf Grund der obigen, vmr den mssischen Comünssärm mit einem Memoire begleiteten Auseinander­ setzungen, und in Erwägung nicht blos der militärischen, sondern auch

der übrigen aus.der Grenzregulm.ng beiden Theilen erwachsenden Vor­ theile den Schiedsspmch zu erfassen.

Hiernach sollten als Basis bei der

endlichen Feststellung die Flüsse Przemsza, Centoria und Pilica zur Grenze angenommen werden.

Ausspmche und

Oesterreich

und Preußen

unterwarfen sich dem

auf Grundlage der so gewonnenen Basis konnte das

GrenzreguliruNgsgeschäft einer ernsten Schwierigkeit nicht mehr begegnen.

Noch aber bliebe manche andere, in Folge der Theilung Polens herangetretene Frage zu erledigen, an deren endgültige Regelung zur Zeit

der Unterzeichnung des Theilungsvertrages nicht gleich konnte gedacht werden.

Hierher gehörten vor allen die Schulden des ehemaligen König­

reiches, die Sustentation und die Güter des abgedankten Königs, die

Entschädigung

der von Polen apanagirten Söhne August III.,

endlich

die Angelegenheiten der fallirten, polnischen Banken und der sogenannten

gemischten Unterthanen.

Mitten unter den zn Petersburg gepflogenen Konferenzen über alle diese offenen Fragen starb Katharina II. am 17. November 1796 und

Paul I. bestieg den Thron der Zarm.

Die regelmäßig fortgesetzten Verhandlungen führten schließlich auch die Regelung dieser Angelegenheiten herbei: Graf von Tauenzien schloß

am 26. Zanuar 1797 den bezüglichen Vertrag mit den russischen Conferenzmitgliedem Graf Ostermann und Fürst Kourakin, und am selben Tage erklärte Graf Cobenzl die Zustimmung des Kaiser Franz zu diesem

Uebereinkommen.

222

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.

Die drei Mächte erklärten die Schulden des Königs und der Repn-

blik, zu deren Berification imb Liquidirung eine eigene Commission ein­

gesetzt ward, nach einer bestimmten Proportion übernehmen zu wollen. Dem Könige, welchem alle seine, aus einem privatrechtlichen Titel erwor­

benen Güter verbleiben sollten,

ward eine

Jahresrente von 200,000

Dukaten, den sächsischen Prinzen die auf dem Landtage von 1776 bestimmte

Apanage von je 8000 Dukaten jährlich zuerkannt.

Zu deren Bezahlung

sotten die drei Mächte gleichmäßig beitragen; zur Liquidation der fal-

lirten Banken ward eine Commission en Warschau ^errichtet und jenen polnischen Unterthanen, weltlichen und geistlichen, welche in den Gebieten

zweier oder aller drei Contrahenten

Besitzungen hatten, die Weisung

ertheilt, längstens innerhalb fünf Jahren zu erklären, welchen Staats Unterthan sie sein wollten, und binnen derselben Frist ihre in den anderen

beiden Staaten befindlichen Liegenschaften zu verkaufen,

wobei ihnen

von der Behörde der möglichste Beistand geleistet werden sollte. Nachdem am* 31. Januar 1797 zwischen den österreichischen, preu­

ßischen und russischen Commiffären, auf Grundlage des Schiedsspruches vym 21. October 1796. der definitive Grenzregulirungsvertrag über die Krakauer Grenze in Krakau, und am 19. März desselben Jahres Mischen denselben Commiffären Oesterreichs und Prmßens, welchen letzteren nnr noch Herr von Klinkowström beigegeben wurde, ein Vertrag über die

österreichisch-preußische Grenze zwischen Koniecpol und Niemirow zu War­

schau war unterzeichnet worden, konnten die polnischen Angelegenheüen für beendet angesehen werden und

wurden die bezüglichen Akten am

25. IM 1797 von den, bei der deutschen Reichsversammlung accreditirtem Ministern der drei Höfe, dem Herrn von Fahnenberg für Oester­

reich, dem Grafen Schlitz für Preußen, und dem Herrn von Struve für

Rußland an das chur-mainzische Reichsdirektorium mitgetheilt. Andere Verhältnisse sind es, auf die wir nun unsere Aufmerksamkeit

richten müffen.

Jur Charakteristik -er Lady Macbeth. (Nach einer Correspondenz im Reader.)

Bei Gelegenheit der im Drury-Lane-Theater in London unlängst zur Aufführung gekommenen Tragödie Macbeth hat sich zwischen zwei englischen Shakespearekennern ein Streit über den Charakter der Lady Macbeth ent­ sponnen, der gewiß auch für den deutschen Leser manches Belehrende ent­ hält und daher wohl in seinen Hauptpunkten ein Plätzchen in einer inter­ nationalen Revue beanspruchen darf. 'Der Recensent T. G. T. erklärte zwar Miß Fancit's Darstellung der Lady Macbeth für eine klassische und ausdrucksvolle, doch weicht seine Auffassung des Charakters von der ihrigen ab. „Sie giebt die Lady Macbeth," sagt er, „mit Kraftaufwand und macht durchaus d'en vollen Eindruck der Wirklichkeit; sie geht mit Ernst, aber auch

mit Bewußtsein zu Werke. Sie verleiht jedem einzelnen Worte eine Be­ deutung, giebt aber dem Gesammtcharakter keinen rechten Zusammenhang. Sie scheint ebenso empfänglich und fast ebenso fieberhaft heftig zu sein, wie Macbeth. Fern davon, ihn weit zu überragen, Mord für etwas Geringes zu halten und Vorbedeutungen zu mißachten, scheint sie ebenso ergriffen von ihnen zu sein, wie er selbst. Sie führt zwar die Mordscene mit Standhaftigkeit durch und zeigt sich energisch genug dabei; um indessen einem solchen Manne zu imponiren und ihn seiner eigenen Gemüthsart zu entfremden, sollte sie gleichgiltig gegen Alle- sein, waS ihn erbleichen macht. Selbst ihre Rückkehr mit dem Dolche sollte gemächlich, unbekümmert und fast verächtlich erscheinen. So verfuhren MrS. Pritchard und MrS. SiddonS, nur daß letztere noch etwas imposanter austrat. Sie schritt gemächlich, fast gleichgiltig über die Bühne und erhob ihre blutgesärbten Hände mit einem gewissen Lächeln. Der Ausdruck ihrer gründlichen Verachtung der Todten und eingebildeter Schrecken hatte nichts Krampfhaftes an sich. Sie blieb ganz gefaßt und ruhig. Mit derselben Gemüthsruhe heißt sie Macbeth von der Bühne sich entfernen, und gerade dieser unerschütterliche Gleichmuth gewann ihr die Bewunderung ihres Gatten und bezauberte den empfäng­ lichen Than. Sie war durch und durch skeptisch, selbst ihre Anrufung der unsichtbaren Diener des Verbrechens war halb spöttisch. Ihr Selbst-

224

Zur Charakteristik der Lady Macbeth.

mord deutet ebenfalls auf diese Eigenschaft hin. Miß Jancit hingegen scheint sie nur als einen weiblichen Macbeth zu betrachten, und eine solche Aufsaffung zerstört den Contrast und die Wirkung, welche der Zauber ihrer größeren Unerschütterlichkeit, die Folge ihres bodenlosen ZwtifelS sowohl an guten, als an bösen Mächten auf Macbeth hervorbringen sollte." Hierauf erwiederte C. H. und wirst die Frage auf, ob Lady Macbeth eine Mörderin im Herzen, ein erbärmlicher männlicher Teufel sei, oder ein zärtliches Weib, welches nur vom Impuls deS Moments zum Verbrechen getrieben wird? — Seine Antwort füllt zu Gunsten der Lady Macbeth auS. Wie schrecklich auch die Grausamkeit ihreS Wesens in der Tragödie erscheinen mag, so ist doch kein sichtbarer Grund vorhanden, weshalb sie nicht bis zu dem Augenblicke, wo ihr der Ehrgeiz teuflische Gedanken ein« flößte, ein schätzbares und argloses Weib gewesen fein konnte. Macbeth'Brief an sie berichtet unS, was er war, als Duncan ihn zum Thon von Cawdor erhob: ein schlichtgesinnter, abergläubiger Soldat, aufgeregt durch Plötzliche Beförderung und den ihm von den drei Hexen auf einer öden Haide verheißenen Zuwachs an Größe. Bis dahin waren Beide unbeschotten; nach seiner Erzählung von ihrer künftigen Größe jedoch traten vor die Augen der Gattin Visionen von verbrecherischen Mitteln, durch welche das Verlangen eines nicht ganz taktfesten Gemüths um so leichte» befriedigt Werben können. Ihre Liebe zu einander ist augenscheinlich eine innige und für einander werden sie durch einen Zufall zu Dämonen. Bei Duncan'« Ankunft in Jnverneß unterhält er sich mit Banquo ebenso sehr über Mac­ beth'« häusliches Glück, wie über die schöne Lage deS Schlosses. Er nennt Lady M. unsre holde Wirthin und sagt von Macbeth: „wir halten ihn hoch." Lady M. war nicht gerade von Natur eigenwillig, treu» und rück­ sichtslos. Sie drängt Macbeth zum Verbrechen, weil ihr Ehrgeiz durch ihres Gatten Wankelmuth, welcher zur Schmach der Entdeckung führen könnte, gereizt ist, und eine Zeit lang ist sie der größere Teufel von beiden. Sie sieht die ihm bevorstehende Größe voraus, aber auch die Gefahr, die sie bedroht, und so ist sie für den Moment entschiedener zum Verbrechen eytschlosien, als Macbeth. Sobald aber die That vollbracht ist und sie sich ihres GisteS entladen hat, ist ihr Geist zerrüttet und ihre Gesundheit Purch die Ueberreizung deS Gehirns geschwächt. Im fünften Auszug sagt sie mit -einiger Gewissensangst: „Nichts hat man, Alles Lüge, Gelingt der Wunsch, und fehlt doch die Genüge. 'S ist sichrer daS zu fein, was wir zerstören, AlS durch Zerstörung ew'ger Angst zu schwören." Vor ihrem Gatten aber rafft sie sich wieder künstlich auf, um ihm Muth einzuflößen. Ihre Rede hat jetzt nichts an sich, waS auf ein Weiden

225

Zur Charakteristik der Lady Macbeth.

am Verbrechen hindeutete; im Gegentheil überwältigt sie die Furcht, und

anstatt wie früher mit ihrem Gatten im Herrscherton zu sprechen, bemüht

sie sich,

ihn durch Schmeichelworte zu stählen.

Im fünften Aufzug ent­

weicht auch der letzte Rest von dämonischem Geist, der in ihr zurückgeblieben

war; ihr Gemüth ist der Qual preisgegeben, und die fieberhafte Leidenschaft, Wäre sie unzart

die ihren Geist verzehrt, hat sie zum Wahnsinn gebracht.

und männlich gewesen, so würde ihr Shakespeare schwerlich die Worte in

den Mund gelegt haben: „Alle Wohlgerüche Arabiens machen nicht süßduftend diese kleine Hand."

Wäre sie ein kaltblütiger,

abgehärteter Teufel gewesen, so würde sie

nicht zur Schlafwandlerin geworden sein, so würde der Geist, sie nicht verlasien haben.

zweiten Aufzuge beherrscht,

der sie im

Daß sie wahnsinnig

wird und der Irrsinn sie zum Selbstmord treibt, das dürfte die folgende

Stelle auö dem dritten Auftritt im fünften Aufzug ziemlich klar darthun: Macbeth: „Was macht die Kranke, Doctor?" Doctor: „Nicht so leidend, Herr, Als tief gestört von schwärmenden Phantomen, Sie rauben ihr den Schlaf." Macbeth: „Kurir' sie doch! Kannst nicht bedienen ein verstört Gemüth, Wurzelnden Gram ausreuten dem Gedächtniß,

Austhun die Wirren von des Hirnes Tafel, Und mit vergeßlich-süßem Gegengift

Die volle Brust des argen Stoffs entladen, Des herzbeschwerenden?" Auf diese

allerdings

äußerst schwachen Beweisgründe gestützt,

glaubt

C. H. annehmen zu dürfen, daß Lady M. nicht das verworfene Weib ist,

für welches man sie nach den hergebrachten Aufsaffungen gehalten hat, daß

sie vielmehr, wie eben Miß Fancit sie darstellt, ein zärtliches, liebevolles Weib sein mag,

daß sie, weichherzig von Natur,

gebung für einen Gatten, den sie anbetet,

nur grausam aus Hin­

wird, und von zu zarter Ge­

müthsart ist, um die Gewissensbisse ertragen zu können, die sie nach dem

Unheil plagen, welches

ihr Verbrechen

ein, seine Auslegung könne

gestiftet hat.

Schließlich räumt er

ihre Bedenken haben, und erklärt sich bereit,

falls man sie nicht gelten lassen wolle, von dem ausgezeichneten Shakespeare­

kenner T. G. T. sich eines Beffern belehren zu lasten.

der

nicht gezögert, seine gewiß mit der

So aufgefordert,

hat T. G. T.

großen Mehrheit

übereinstimmende Auffassung

näher

zu begründen.

Seiner Ansicht nach ist Lady M., wie bereits oben angedeutet worden, ein

verwegenes, schlechtes, hartherziges und männliches Weib, bezaubernd aller­

dings,

denn es

seine Gatlin vor;

liegen Beweise von Macbeths

großer Anhänglichkeit

an

muthig, aus völliger Unempfindlichkeit des Gemüths, ja

Nordische Revue, in. 2. Heft. 1865.

15

selbst bis zum religiösen Skepticismus abgestumpft. Um der Absicht des Dichters bei seiner Charakterschilderung auf die Spur zu kommen, gäbe eS, meint er mit Recht, nur ein Mittel: man muß mit der äußersten Sorgfalt prüfen, waS die betreffende Person selbst redet und thut; was die andern

Personen im Drama über sie aussagen, waS für einen Charakter sie in der Quelle hat, aus welcher der Dichter geschöpft hat, welches fein gewöhnliches Verfahren bei der Charakterzeichnung und dem Bau feines Werkes ist, endlich wie der Charakter von den Darstellern gewöhnlich aufgefaßt worden WaS Lady M. selbst sagt, ist leicht zu erledigen; denn in den sieben. Scenen, in welchen sie auftritt, kommen im Ganzen nur 200 Zeilen auf sie. Spricht sie also nicht viel, so spricht sie jedoch nachdrucksvoll. WaS sie als Mädchen war, darum haben wir unS nicht zu kümmern. Shakespeare stellt sie uns als gereiftes Weib dar, und nur als solches haben wir sie zu betrachten. Die Ansicht des Gegners beruht auf einer Verkennung der ersten Grundsätze, welche Shakespeare beim Bau der großen Scenen seiner Hauptdramen beobachtete. DaS Mittel, welches er stets anwendete, um große dramatische Wirkungen hervorzubringen, war Gegensatz der Charaktere; bei den untergeordneten Dramatikern hingegen treffen wir oft doppelte Schwäche in zwei ähnlichen Charakteren an. Othello und Äago, Brutus und Cassius, Jachimo und PosthumuS und viele andere dergleichen Gegen­ sätze sind allemal einander gegenübergestellt; zwei Macbethe aber, ein männ­ licher und ein weiblicher, in einem Stücke, dde beide auf dieselbe Weise zu

ihrem Verbrechen verleitet würden, wäre einem Shakespeare vollständig un­ möglich gewesen. Dieser tiefe und deutlich hervortretende Grundzug im Baue der ShakeSpeare'schen Dramen dürfte allein genügen, die Unhaltbarkeit der gegnerischen Ansicht darzuthun; da C. H. aber auf die Worte des Dich­ ter- und auf daS Drama selbst sich-stützt, so wolle auch er ebenso verfahren. Kaum hat Lady Macbeth den Brief empfangen und gelesen, als sie trotz dem Sprichwort: nemo repente turpissimus, den Plan zum Morde faßt und über die Gutmüthigkeit ihres Gatten, welcher indeffen, beiläufig gesagt, auch nicht besonders liebenswürdig ist, in Scheltworte ausbricht. Sie ruft ihn herbei, um ihm ihr Gift einzuflößen und mit ihrer unweiblichen Tapfer­ keit sein schwächeres Wesen zurechtzuweisen. Spöttisch (denn so sollte eS aufgefaßt werden) ruft sie die unsichtbaren Geister an, die ihm erschienen, zu ihr zu kommen, und, wie ihrer Rohheit' gemäß, spielt sie auf ihre Weib­ lichkeit an und heißt sie ihre Milch in Galle verwandeln.' Sie schließt da­ mit, daß sie sich in ihren Gedanken an dem beabsichtigten Morde weidet und in der Einbildung Duncan mit ihrem scharfen Messer eigenhändig tödtet; beiläufig gesagt, eine Grausamkeit, die sie später bestätigt, wo sie vom schlafenden Duncan spricht. Sie begrüßt ihren Gatten mit dem Pomp eine- Herolds, da sie von seiner gegenwärtigen Größe und seinet noch

227

Zur Charakteristik der Lady Macbeth.

größeren Zukunft ganz und gar erfüllt ist. Sie hat auch nicht ein einziges

zärtliches Wort für ihn, der nach seiner langen und gefahrvollen Abwesen­

heit jetzt mit hohen Ehren gekrönt zurückkehrt, denn alle ihre Gedanken find mit dem beabsichtigten Morde beschäftigt, welcher allen ihren künft'gen Tag' und Nächten

Soll unbeschränktes Herrenthum erfechten."

So endet dieser erste und lange Auftritt (50 Zeilen aus den 200) dieses „liebenswürdigen und schätzenswerthen Weibes".

Das heuchlerische Gespräch mit Duncan, den sie sich bereits entschlossen hat zu ermorden, kann doch wohl nicht auf angeborene Tugenden Hinweisen,

da eS blos zehn Zeilen Humbug sind. Zunächst finden wir, daß sie ihren Gatten durch allerlei Sticheleien

zur Ausführung des Mordes anstachelt.

Ein einziges

„liebenswürdiges"

Wort oder eine einzige „schätzenswerthe" Gegenvorstellung würde Macbeth der Ehre und Tugend wiedergegeben haben; anstatt aber es auszusprechen, wird sie geradezu heftig im Ausdruck und poltert mit ihm.

Sie vergleicht

ihn mit einer armseligen Katze, nennt ihn einen Thoren, einen Lügner, eine Memme, dann äußert sie die schändlichste Gesinnung und schmückt sie

mit einem Bilde, welches kein Weib, das je wahrhaft „liebenswürdig" oder „schätzenSwerth" gewesen, hätte aussprechen können. Welches irgend anstän­

dige Weib würde wohl die Aeußerung fallen lassen, einem Säugling daS Gehirn zu zerschmettern?

Wenn ihr teuflisches Geschwätz den thörichten,

eitlen Mann aufgerüttelt hat, sinnt sie wieder auf einen höchst frevelhaften

Mord.

ES heißt, sie achte ihren Gatten, und doch drängt sie ihn dazu,

einen Schlafenden zu tödten und zwei Unschuldigen, die sie selbst betäuben

will, daS Verbrechen in die Schuhe zu schieben.

Sie ist ebenso heuchlerisch

und bösartig, wie sie grausam ist und übernimmt es, jeden Ankläger zum

Stillschweigen zu bringen.

So sind 100 Zeilen auS ihren 200 erledigt

und noch keine Spur von einem einst „liebenswürdigen und schätzenswerthen

Weibe".

Nicht besser steht es mit den nächsten 40 Zeilen, deren Analyse

wir füglich übergehen können. Der nächste Auftritt ist der zweite im dritten

Act, auf den der Gegner hauptsächlich seine Ansicht zu gründen sucht. Die Thronräuber sind unterdessen gekrönt worden; im Königreich herrscht allge­

meine Bestürzung; man haßt die neuen Inhaber des Thrones, und Alles

deutet auf Empörung.

Macbeth ist aufgeregter als je und hat Banquo'S

Mord, als zur Sicherung der Nachfolge seiner eigenen Linie nothwendig,

beschlossen.

Unter diesen Umstünden tritt Lady Macbeth allein auf, denn

ihr Gatte fängt an, sie zu meiden und in der Einsamkeit zu brüten.

ist natürlicherweise verstimmt und sagt:

Sie

2*8

Z«r Charakteristik der Lady Macbeth. „Nichts hat man, Alles Lüge, Gelingt der Wunsch, und fehlt doch die Gmüge. 'S ist sichrer das zu sein, was wir zerstören, AIS durch Zerstörung ew'ger Angst zu schwören."

Falls dies nicht ein bloßes gereimtes Conplet aus dem älteren Stücke ist, welches der ShakeSpeare'schen Tragödie zu Grunde lag, so ist eS nichts weiter, als eine Vorahnung des Selbstmordes, den sie zuletzt begeht.

Zn

Macbeth sich wendend, der in mürrischer Laune auftritt, und ihre früheren,

einem starke» Charakter ähnlich sehenden Beweisgründe wieder gebrauchend, spielt sie mit den Worten:

„Unheilbare Dinge wären bester auch Undenkbar. Was gescheh'n ist, ist gescheh'n,"

auf Banquo'S und Fleance'S Mord an.

Drücken diese Worte etwa was

Andres auS, als die getäuschte Hoffnung einer Verbrecherin, deren Verbrechen nicht die erwartete Befriedigung mit sich gebracht hat?

Wen» sie einen

Anflug von Mißmuth hat, so ist die Verzagtheit in Betreff der Zukunft, nicht etwa Reue für die Vergangenheit die Ursache.

In der Banquetscene

ist sie wieder ganz die alte: verwegen und guter Dinge.

Sie behandelt

Macbeth mit der äußersten Verachtung und schließt mit dem Gemeinplatz,

daß eS ihm wohl an Schlaf fehle,

nicht aber an Reue.

Zwar ist nicht

zu leugnen, daß sei» Eigensinn sie beunruhigt; denn sie erblickt darin un» vermeidliches Verderben ipib fühlt, daß eS mit ihrer Herrschaft über ihn zu Ende, ist; daß sie aber auch nur annähernd Reue empfände, ist nirgends

wahrzunehmen.

Sie ist in ihren Hoffnungen getäuscht, sie sieht das Verderben

eilends herannahen, und so fängt sie endlich an, unschlüssig zu werden.

Sie tritt dann erst wieder

im fünften Akte

auf,

sich auf nicht mehr als etwa zwanzig Zeilen belaufen.

hauptsächlich eine Wiederholung zweiten Aufzug.

und

zwar

als

Alles, was sie hier spricht, würde, in Blankvers gesetzt,

Schlafwandlerin.

der Ereignisse

Der Inhalt ist

der ErmordungSscene im

Auch nicht ein Wort, das auf Gewissensbisse hindeutete,

ist hier zu finden.

WaS sie äußert, ist nichts, als der Ausdruck der na-

türlichen Entstörung deS menschlichen Gefühls bei scheußlichen Thaten, allein, keine sittliche Empörung, keine Spur von Reue ist zu bemerken.

gern de» Beweis ihrer Schuld vertilgen.

Herzen aber lastet kein Schuldbewußtsein.

Sie möchte

Ihre Hand ist befleckt, auf ihrem Gelegentlich mag auch hier auf

das hingewiesen werden, was sie an dieser Stelle, sowie bei der Ermordung über Duncan äußert.

Dort sagt sie:

„Hätt' er geglichen meinem Vater nicht, MS er so schlief, ich hätt's gethan," Und setzt sagt sie:

„Doch — wer konnte denken, daß der alte Mann noch so viel Blut in sich gehabt?«

Augenscheinlich hatte die ehrwürdige Erscheinung deS Königs sie er­ griffen, und muß ihr Vater ein Mann gewesen sein, der sogar ihrem un­ gestümen Wesen Ehrfurcht einzuflößen vermochte. In der That erzählt man von vielen Vätern, die ihre widerspenstigen Tächter dahin gebracht hatten, sie zu achten, ja selbst zu lieben. Nach diesem letzten Auftreten der Lady Macbeth läßt unS der Arzt nicht mehr in Ungewißheit über ihren wahren Seelenzustand. „Unnatürliche Thaten brüten wieder Die Störungen, die unnatürlich, au-.

Ins taube Kissen werden ihr Geheimniß Entladen angesteckte Geister."

Ihr Geheimniß, sagt er, nicht ihren Gram.. AuS den Mittheilungen, die er dann Macbeth über sie macht, wenn er sagt, sie sei „tief gestört von schwärmenden Phantomen", will C. H. einen neuen Beweis für seine Ansicht schöpfen, jedoch ohne alle Berechtigung. Etwas später wird daS Geschrei der Frauen gehört, welches selbst einem Macbeth Schrecken einflößt. ES geht von den sie Umgebenden aus, die Zeugen deS Selbstmordes der auch im Tode noch sich eigenwillig zeigenden Lady Macbeth sind. DaS Letzte, waS wir über sie hören, sind Malcolms Aeußerungen, welcher, nachdem er zum König von Schottland ausgerufen worden, die Worte fallen läßt: „Die Teufelsfürstin,

Die, wie man spricht, mit eigner, wilder Hand Ihr Leben nahm."

Zn Shakespeares Zeitalter wurde der Selbstmord für das scheußlichste Verbrechen gehalten und als ein Zeichen von religiösem Skepticismus an­ gesehen. ES muß hervorgehobcn werden, daß Lady Macbeth nie anders, als in spöttischer Weise von der auf die Handlung einwirkenden Geisterwelt redet. Solche Dinge gelten ihr für Attweibermährchen. Sie kennt keinen Aber­ glauben und zeigt keine Spur von religiösem Gefühl. Sie sagt Macbeth nie, waS die Hexen sagen, und erkundigt sich weder nach den Beschwörungen, noch den Verheißungen der heraufbeschworenen Gestalten. Sie ist ein prak­ tisches, entschlossenes Weib, ohne alles sittliche Gefühl, obschon sie sich eines Abscheus bei dem Blutvergießen nicht ganz erwehren kann und so vom „Schauder" ergriffen wird. Daß sie dem Trünke (vielleicht war es Nepeuthe) ergeben gewesen sein mag, ist nicht unwahrscheinlich; denn sie gesteht beim ersten Male, ^daß sie von Wein oder sonst einem Getränke erhitzt sei, und ihr Ende deutet auf delirium tremens hin. WaS ihre Seele^ schmerzt, ist daS gänzliche Fehlschlagen ihres langen verbrecherischen Wandels und die nicht zu besiegende Schwäche ihres Mannes. Sie sieht das drohende Ver­ derben und greift ihm vor, indem sie ebenso muthwillig stirbt, wie sie gelebt

230

Zür Charakteristik der Lady Macbeth.

S. G. T. vermag auch nichts vpn jener zärtlichen Liebe zwischen dem

hat.

Ehepaar zu erblicken, von der C. H. spricht.

Macbeth wird zweifelsohne

von ihrem festen Willen und ihrem klaren Geiste beherrscht, und ihre uner­ schütterliche Entschlostcnhett zwingt ihm Bewunderung ab, denn er bemerkt nicht, daß sie auS einem Mangel an sittlichem Gefühl hervorgeht.

Er selbst

besitzt diese Eigenschaft in reichlichem Maße und glaubt, sie entbehre sie zwar

auch nicht, ihr überlegener Geist aber überrage dieselbe.

Und dieser Glaube

erzeugt bei ihm eine Bewunderung, die fast an Anbetung grenzt.

Wahr­

scheinlich fehlte es Lady Macbeth auch wirklich nicht an jenem persönlichen Zauber, welcher trotzigen, hochstrebenden und verwegenen Frauen eigen ist. Uebrigens kann die Bewunderung derer, die wir selbst sehr bewundern, leicht

den Geist verblende».

Daß sie ihn als einen großen Häuptling, als einen

heldenmüthigen und siegreichen Krieger betrachtete, kann man ebenfalls auS dem Texte entnehmen, daß sie sich aber wahrhaft oder innig geliebt hättm, ist nicht daraus zu ersehen. Sie starb, ohne Abschied von ihm zu nehme»; durch ihre Schuld kam all sein Elepd über ihn, und doch drückt sie nie ein

Wort der Reue gegen ihn aus und hat ihm kaum einen Trost zu reichen.

Was er bei ihrem Tode äußert, spricht durchaus nicht von tiefem Gram,

ja in seiner gewohnten selbstsüchttgen, empfindbaren Weise stellt er moralische Äetrachtungen darüber an und geräth am Ende in nichtssagende Gemein­ plätze.

Daß er ihr gegen den Schluß des Stückes fortwährend auöweicht,

könnte einen Verdacht erregen, als ob er sie mit zu den gaukelnden bösen

Geistern zählte, die ihn umstrickt und ins Verderben gelockt haben.

Wenn

C. H. behauptet, sie könne nicht plump und männlich gewesm sein, weil

sie sonst nicht von ihrer „kleinen Hand" gesprochen habe» würde, so ist diese Behauptung, gelind gesagt, sehr weit hergeholt. Höchstens könnte man daraus entnehmen, daß, wenn sie eine ticine Hand gehabt, auch ihr Körper klein

und schwächlich gewesen fein müsse; allein nichts berechtigt zu diesem Schluß, und selbst wenn dem so wäre, so ließe sich nichts daraus folgern, denn gar manche kleine und schwächliche Frauen sind entschlossene Mörderinnen und

verwegene, hartherzige, gefühllose Furien gewesen.

Wir brauchen unS in­

dessen gar nicht in solche fernliegeade Betrachtungen einzulasien, denn Lady

Macbeth will blos andeuten, daß, wenn man auch alle Gewürze Arabiens anhäufte, sie dennoch selbst etwas so Kleinem, wie einer Hand, die blut­

befleckt ist, keinen Wohlgeruch zu verleihen vermögen. Fassen wir nun das Vorangehende kurz zusammen, so finden wir, daß Lady Macbeth vom Augenblicke an, wo sie ihres Gatten Brief erhält, dm

Mord mit unersättlicher Grausamkeit beschließt und den Plan zu dessen Aus­ führung entwirft.

Das ganze Stück hindurch führt sie eine rohe Sprache;

sie wird vom Trünke aufgeregt, sie ist so brutal, daß sie im Blute ihrer Opfer herumplätschert; sie schlägt noch mehr Mordthaten vor, «nd als sie

schließlich findet, daß Macbeth ein unpraktischer, von mächtigen Feinden um­ gebener Träumer ist, sind eS die Berhältnisie, die ihre Pläne durchkreuzen, und körperlich zerrüttet, entleibt sie sich. Ob man geneigt sein wird, zu glauben, daß ein Charakter, wie er hier von Meisterhand gezeichnet vorli'egt, alS eine zarte, liebevolle Frau beabsichtigt sein könne, welche lediglich auinniger Liebe zu ihrem Gatten, den sie anbetet, grausam wird und nachdem ihre Verbrechen das Unheil gestiftet haben, zu schwach ist, die darauf folgende Gewissen-qual zu ertragen, da- weiß ich nicht; wäre dies aber die richtige Auslegung, dann hätten die Worte ihre Bedeutung verloren, dann könnte man aus den Handlungen nicht mehr auf den Charakter schließen, und die Kunst des Dramatikers wäre ein bloser Kunstgriff, einem Charakter Zwei­ deutigkeit zu verleihen. Nur noch ein Wort über die hergebrachte Auffassung des Charakter-, welche ein teuflisches Weib in ihr sieht. Die Chronisten, denen Shakespeare sich genau und zum Theil wörtlich angeschlossen hat, stellen Lady Macbeth überall als eine gewissenlose, ehrgeizige, rohe Frau dar, welche ihren Gatten zu der Verübung seiner Verbrechen antreibt — kurz, als eine rohe Mörderin von höheren! Range. Auch die Bühne hat sie stets so aufgefaßt. Mrs. SiddonS legte der Rolle allerdings ihre eigene Auslegung zu Grunde; dennoch blieb sie dabei im Ganzen der hergebrachten Auffaflung treu. Ihre Vorgängerin, Mrs. Pritchard, war eine ungebildete Frau, welche selbst verversicherte, sie lese vom Stücke stets nur die ihr zuertheilte Rolle. Auch sie indessen stellte den Charakter auf dieselbe Weise dar wie MrS. SiddonS, und gewiß war die Auffassung'nicht ihre eigene. Es ist in der That nicht zu bezweifeln, daß die Darstellung der Rolle in ihren Umrissen von Shakes­ peares Zeitalter her auf uns herabgekommen ist, und zwar wurde sie von Davenant auf Befferton, von ihm durch seine Gattin auf MrS. Barry, MrS. Oldfield und Mrs. Pritchard in direkter Reihenfolge übertragen. Demnach können wir der neuern, sentimentalen und paradoxen Auffassung deS Charakter- der Lady Macbeth unsere sachgemäßere Auslegung der Rolle selbst, den Commentar, welchen die andern Charaktere deS Stückes dazu liefern, den Grundsatz, welchen der Dichter bei seiner Arbeit verfolgte, sowie endlich das Zeugniß der Quellen, auS denen er schöpfte, die hergebrachte Auffassung auf der Bühne, liebst den Ansichten unserer größten Darsteller und Erklärer gegeuüberstellen und hoffen, sie damit widerlegt zu haben.

D. Asher.

Gunib, die Veste Lchamyls. Die Thaten des Imam Schamyl, des merkwürdigen Häuptling- der Tschetschenzen, der mit einer kleinen Schaar fünf und dreißig Jahre lang der Macht der Russen widerstand, gehören der Geschichte an. Er hat eS verstanden, die Blicke von ganz Europa nach dem felsigen Daghestan zu ziehen und unsere Aufmerksamkeit nach den Bergen deS Kaukasus zu lenken. Jeder neue Reisende, der in da- Ländergebiet zwischen dem Kaspischen und schwarzen Meer kommt, bringt neue Mär von dem wundersamen Manne mit, die dann

unsre Dichter zu „Tscherkessenliedern" begeistern, oder er erzählt unS von dey wilden Bergschluchten, durch welche die vom Blute tapferer Krieger gervtheten Ströme dahinrauschen, von den unendlichen Schwierigkeiten, welche Rußlands Soldaten hier zu überwinden hatten. Vor wenigen Jahren hat auch ein englischer Reisender, John Ussher, den Kaukasus durchzogen und ist dann weiter bis nach Persien gegangen. Sein an lebhaften Schilderungen reiches Buch ist soeben erschienen*); eS bringt auch eine gute Beschreibung von SchainylS Beste Gunib, welche lange Zeit für uneinnehmbar galt. Wir wollen den Lesern der „Nordischen Revue" daS Bild, welches der Verfasser vor unS ausrollt, wiedergeben. Ussher ging die Donau hinab bis nach Konstantinopel, durchführ dann daS schwarze Meer bis nach Sewastopol, durchreiste die Krim bis Kertsch und gelangte von da nach Poti. $on* hier ging er nach Tiflis und machte Ausflüge nach Gunib und zum heiligen Feuer von Baku am Kaspischen IReer. Nach seiner Rückkehr nach Tiflis besuchte er Gumri und KarS, später den Ban-See, dann Diarbekir, Mosul und Bagdad. Er ftijütg nun den gewöhnlichen Weg nach Babylon und Kerbela ein, kehrte nach der Stadt der Kalifen zurück, um sich nach Basra und Buschir zu begeben. Dann ging er. nach Persien, wo er Schiraz, Isfahan und Teheran besuchte. Ueber Täbriz und Tzapezunt kehrte er in die Heimath zurück. ♦) A Joumey from London to Persepolis; including Wanderings in Daghestan Georgia, Armenia, Kurdistan, Mesopotamia and Persia. With numerous coloured Illustration«. Hurst and Blackett. London 1865.

233

Gumb, die Beste SchanchlS.

Am 18. Juli 1860 findm rvir bett Reisenden m Tiflis, um feinen

Ausflug »ach Gunib fanzutreten.

In den Gebirge« arbeiteten die Rusie«

fleißig an der Befestigung der strategischen Punkte und an der Herstellung von Straßen.

Aber die arme« Menschen litte« an einigen Punkten furchtbar

vom Fieber, so daß von einem Bataillon, das 500 Mann stark war und a« dem Fort Preobrashensky baute, nur 90 Gesunde übrig geblieben waren.

Uflher ging durch das Land Avars, Worte enthält.

deffen Sprache viele Samojedische

Endlich gelangte er zur berühmten Beste Gunib.

„Nachdem

wir", so erzählt er, „ein weites grasiges Becken durchritten hatte», begann

daS Land anzusteigen und wir gelangten zu einer wohl bebauten Ebene, die nach Osten z« abfiel.

Wir folgten ihr and kamen nun in ein steile-,

felsiges Thal, das mehrere taufend Fuß tief war «ad in dem ein kleiner

Flnß riefelte.

An. der entgegengesetztm Seite des stundenbreiten Thales

erhob sich ei» einzelner Berg von merkwürdiger Gestalt.

Die ersten paar

tausend Fuß stieg er nur allmählich aus dem Thäte an, die. letzten tausend Fuß dagegen fiele» vollkommm senkrecht ab und bildeten eine vollständige Mauer aus Kalksteinen.

Der Gipfel erschien unS flach; er bildete eine

Ebene von fünf bis sechs, englischen Meilen Länge, die dreitausend Fuß über

dem Fluffe lag und durch die senkrechten Felswände, welche allseits von ihr abfielen, in eine natürliche, unangreifbare Festung verwandelt wurde.

Ein

breiter Raum trennte diesen Berg von allen umliegenden Gebirgen, so daß

er wie ei« Thurm von ungeheurer Höhe aus dem Thale aufstieg.

DaS

war der erste Anblick, den wir von Gunib hattm und obgleich wir noch

ziemlich fern davon waren, so war die Luft doch so durchsichtig» daß wir »nS ganz nahe dabei glaubten.

Einsam und allein stand eS da, als wäre

e- der Mittelpunkt, von dem alle benachbarte» Berge ausgegangen wären.

Der Gipfel bot einen sicheren Zufluchtsort für elfte kleine Anzahl Ver­ theidiger und jeder Fremde würde es gleich als daS bezeichnet haben, was

eS war, als den Platz, auf welchem sich der letzte Kampf einer hoffnuugSlosm Heilten Schaar gegen einen mächtigen Feind vollzog.

Die Einnahme GunibS wird stets ein denkwürdiger Tag in der russischen

Geschichte bleiben. der

Die Wichtigkeit des Falls dieser letztm Zufluchtsstätte

Bergvölker beginnt man erst jetzt im westlichen Europa zu schätzm.

Denn als Schamyl sich ergab, herrschte Rußland ungestört über den ganzen Kaukasus und alle Länder bis zur persischen Grenze.

Der Gipftl deS Berges Gunib, welchen die Rusten daS Gibraltar de!s Kaukasus nennen, ist in der Mitte leicht vertieft wie eine Schale.

Der

Boden steigt vom Mittelpunkt »ach den Seiten hin allmählich an und geht dann plötzlich in die 500 bis 1000 Fuß hohen jähen Abstürze über.

Nur

«n der Ostseite ist ein Aufgang, der in das Thal mündet, von dem -wir gekommen tdetdt.

Die Oberfläche ist mit saftigem Grase bedeckt, da- gutes

Weideland für Schafe und Pferde bildet. Man erzählte uns, daß die Ruffen 6000 Schafe und 200 Pferde bei der Eroberung vorsanden. Das Land um den Aul herum ist gut cultivirt und Alle-, was man zum Unter­ halt einer Besqtzung bedurfte, Nahrung und Kleidung, fand sich innerhalb dieser natürlichen Festung. Sogar einige Kohlenlager biffen in einem steinen Seitenthale aus, so daß, wenn man von den Materialien zur Pulverfabrikation absah, die Leute in Gunib nichts von außen bedurften. Die früheren Be­ wohner waren Avars, ein fleißiges, arbeitsames Volk, das auf seinem luftigen Horst frei und unabhängig von der umgebenden Welt lebte. Der Aul lag att dem einen Ende des kleinen Thales und die vielen Mauern und Ein­ zäunungen, welche sich um die bebauten Stellen herumzogen, zeugten von der Arbeit nnd dem Fleiße der früheren Besitzer. Sie wurden von Schamyl äuS ihrem Besitze vertrieben, als er sich an der Spitze, von 200 Mann in diesen letzten Zufluchtsort warf. Er glaubte, die Bergvölker, welche er durch Sendboten anfwiegeln ließ, würden von allen Seiten gegen die Ruffen zum Entsatz herbeieilen, und daß der geringe Borrath ein Milch und Korn, den er vorfand, für die Zwischenzeit für ihn und sein kleines Häuflein auSreichen ryürde. Fürst Barjatinsky, der von Alleyr Nachricht erhielt, zog aber sämmtliche Streitkräfte, über die er augenblicklich verfügen konnte, zusammen und schloß Gunib mit fünfundzwanzig Bataillonen eng ein. Der Fürst sah ein, daß bei den Hülfsmitteln der Eingeschlossenen die Belagerung sich in die Länge ziehen würde; außerdem waren Anzeichen vorhanden, daß die Bergvölker im Aufstande begriffen waren. Er übernahm daher persönlich das Commando und befahl den Sturm, gleichviel, wie groß die Opfer dabei auch wären. Drei oder vier mit Leitern versehene Sturmcolonnen schritten zum Angriff und setzten über den Abgrund weg. Der Widerstand war kräftig und zwei kleine Geschütze warfen mit ihren Kartätschenscheuern ganze Reihen der Stürmenden nieder. Die Schlacht tobte fort nnd neigte sich auf die Seite der Vertheidiger — da plötzlich hören diese in ihrem Rücken laute Rufe und Schießen. Sie sahen ein, daß sie ihre Stellung nicht länger behaupten könnten und zogen sich zum letzten verzweifelten Widerstände in den Aul an der Spitze deS kleinen Thales zurück. Der Sturm hatte in der Morgendämmerung begonnen; während nun die ganze Besatzung znr Abwehr nach dem bedrohten Punkte hineilte, schlich sich ein russisches Regiment nach der entgegengesetzten Seite, wo die Belagerten, auf die natürliche Festigkeit bauend, nicht einmal eine Schildwache aufgestellt hatten. Dort wollten die Russen hinanklimmen. Sie trieben Querhölzer in die Spalten nnd Ritzen des Felsens, befestigten daran Seile und kletterten Einer- nach dem Andern auf den Gipfel hinanf, ohne den geringsten Wider­ stand zu finden. Ein eingefangenes Pferd ward von dem kommandirenden Offizier bestiegen, der nun seine Leute sogleich in den Rücken SchamylS

führte. Dieser zog sich in den Aul zurück, wo die fanatischsten seiner An­ hänger ihr Leben lieber opfern wollten, als sich de» verhaßten Christe« unterwerfen. Die Rusien gingen sogleich.zum Angriff der festung-artig ge­ bauten Häuser über, von deren Dächern und Fenstern sie «in mörderischeFeuer empfing. Während der Kampf wüthete, versammelte Schamyl seine ergebensten Anhänger und legte ihnen die Frage vor, ob sie sich ergeben oder im Kampfe sterben wollten. Mit Ausnahme von zwei Muriden erklärten sich Alle für Ergebung. Die zwei aber sagten: „Dem Rechtgläubigen ist eS verboten, sein Haupt unter da- christliche Joch zn beugen!" So be­ reiteten sie sich zu einem Ausfälle vor, um fechtend unter den Waffen der Russen zu sterben. Schamyl zögerte einen Augenblick, ob er sie begleiten und seinem kriegerischen Leben ein paffende- Ende bereiten solle. Aber er ward von Andern von diesem Akt der Verzweiflung abgrhalten. Die zwei Fanatiker aber riefen ihrem Fürsten da« letzte Lebewohl zu, sprangen mit dem Säbel in der Faust unter die Ruffen und endeten von vielen Wunden bedeckt. Schamyl zog dann die weiße Fahne auf seinem Hause auf; da« Feuer schwieg und er ergab sich an General Lazareff. Er und die ander« Gefangenen wurden zum Fürsten Barjatinsky geführt, der den letzten An­ griff selbst geleitet hatte."

Musikalische Revue. St. Petersburg. — New-Dork. — Wien. — Aloys Ander. — Berlin. — München. — Deutsche Musik in Italien.

Das Mde des alten und der Beginn des neuen Jahres ließen überall längere Pausen in der Reihe der Concerte und Opernvorstellungen der großen Mittelpunkte für Musik eiptreten. Unser Bericht dürfte daher dies­ mal weniger umfangreich ausfallen. Zunächst haben wir noch auS dem alten Jahre über zwei weit von einander entfernte Punkte des Erdballs zu referiren, über St. Petersburg und Neu-Uork. ES muß ein deutsches Gemüth mit gerechtem Stolze erfüllen, daß auch an so entgegengesetzten Polen und in solcher Weite vom Mutterlande deutsche Tonkunst daS Scepter führt. So gelangten in diesem Winter in Petersburg im vierten Concert der „Russischen Gesellschaft für Tonkunst" Robert Schumanns L8-äur-Symphonie und das Beethoven^sche Biolin-Concert zur Aufführung. Aber auch national-russische Componisten und ausübende Künstler thaten sich rühmlichst hervor. Wir nennen unter den Arbeiten der Ersteren mehrere Gesangspiecen von Glinka und ein Concert symphonique in D von Litolff, welche die Anerkennung fanden, die achtungswerthen Arbeiten dieser Art gebührt, während die beiden vorzüglichen Virtuosen Wieniawski und Kroß, letzterer ein Schüler des Petersburger ConservatoriumS, die Concerte, deren wir oben erwähnten, trefflich auSführtcn. Warmes Lob erlangte auch die zweite Mattinee der Herren Wieniawski, Davidow, Pekel und Wenkmann. Dieselbe fand im Saale der kaiserlichen Hofsänger statt und brachte Beethovens L-moH-Quartett, Mendelssohns C-moII-Trio, dessen Klavierpartie Herr Dreyschock übernommen, und Haydn'S v-6ur-Quartett zu Gehör. Ein ähnliches Vorwalten deutscher Tonkunst zeigt sich uns in NeuAork. Weder der furchtbare und nunmehr schon Jahre andauernde Kampf zwischen den amerikanischen Nord- und Süd-Staaten, noch die ängstliche Spannung, in der sich der dortige Geldmarkt befindet, übten bis jetzt einen Einfluß auf das Musiktreiben der Hauptstadt. Im October eröffnete die philharmonische Gesellschaft zu Brooklyn ihre Concerte unter Eisfeldt^S Leitung mit Beethovens Pastoral-Symphonie. Fast gleichzeitig gelangte Haydn'S

Oratorium „die Schöpfung" unter der Leitung von Anschütz zur Aufführung. Der Chor, ebenso wie daS Orchester, meist auS Deutschen bestehend, betrug gegen fünfhundert Personen und unter den Solisten zeichnete sich wie immer der bekannte Bassist Formes aus. Vom Ende November berichtet man unS, daß die Direction der philharmonischen Concerte nunmehr alternirend von den Herren Eisfeldt und Bergmann übernommen worden. Man will dadurch dem Uebelstande begegnen, entweder nur klassische oder „Zukunfts­ musik" zur Aufführung gelangen zu sehen. Jeder der genannten Herren vertritt nämlich eine dieser beiden Richtungen. Eisfeldt, der conservative Musiker, dirigirte die Symphonien Mozarts, Haydn'S und Beethoven'-. Bergmann dagegen, dem musikalischen Jung-Deutschland angehörend, füllt seine Programme mit den Compositionen der Führer der Zukunftspartei. Wir lasten zwar Wagner, Lißt und Berlioz in diesem Sinne gelten, obwohl sich der letztere wiederholt gegen eine solche Zusammenstellung mit Juyg. Deutschland in der Tonkunst verwahrt hat, wenn aber Herr Bergmann auch Robert Schumann, Schubert und Neuere, wie Raff, Brahms, Bargiel und Rubinstein zu den Zukunftsmusikcrn rechnet, so heißt das diesen Begriff weit über seine Grenzen ausdehnen. Jedenfalls constatirt die Verschieden­ artigkeit und scharfe Trennung in der Zusammensetzung der symphonischen Programme der Herren EiSfeldt und Bergmann, daß auch jenseit deS Oceans der Kampf der musikalischen Parteien besteht, den wir in Europa zur Genüge kennen, oder besser gesagt, derselbe Grundirrthum, dieselbe Ver­ blendung. In unsern Augen giebt es weder eine Bergangenheils- noch eine Zukunftsmusik. Ohne organische Entwickelung der Motive, ohne Einheit der Stimmung und ohne eine durchgebildete oder gesund gegliederte künst­ lerische Form giebt es für uns überhaupt kein Kunstwerk. Nur da, wo Inhalt und Form einander so völlig decken, daß beide eine höhere Einheit oder eine harmonische Verschmelzung von Wesen und Sein der Gegensätze, die sich im Leben ewig fliehen, darstellen, haben wir es mit Kunstwerken zu thun und solche werden, ob nun der Vergangenheit oder Gegenwart angchörend, stets das Gepräge der Klassicität tragen. Ihnen allein gehört Mch die Zukunft, und in diesem Sinne sind Beethoven's 6-moII-Symphonie, Mozart'S Don Juan, Weber's Freischütz, oder um Neuere zu nennen — Franz Schubert's und Robert Schumann's Lieder — wahre Zukunfts­ musik. Auf Arbeiten dagegen, die weder den göttlichen Funken in sich tragen, noch sich nach unabweisbaren, den Naturgesetzen verwandten Normen, wie sie unS die künstlerische Form versinnlicht, entwickeln, findet Luthers berühmter Ausspruch Anwendung: „Jst's Gottes Werk wird's bestahn, ist-S Menschenwerk wird's untergahn" mit welcher letzteren Bezeichnung wir in der Kunst die subjective Willkür meinen, die kein höheres und allgemein waltendes Gesetz über und außer fich anerkennt. — Kehren wir zu den

philharmonischen Concerten zurück, die, so weit sie unter Bergmanns Direction sielen, Lißt'S Präludes, nicht weniger dessen Fapstsymphonien, sowie Wagner's Einleitungen und Märsche auS Lohengrin und Tannhäuser brachten. WaS darin genial, neu, geistreich oder pikant ist, wußte das Publikum zu schätzen, ohne sich in seiner Majorität deshalb zu einer Ueberschätzung oder einer Nebeneinanderstellung der genannten Tondichter mit den Herren der musikalischen Literatur fortreißen zu lassen. — Außer den Phil­ harmonischen Concerten haben wir noch der Symphonie-Soireen eines Herrn Thomas zu gedenken, die das gebildetere musikalische Publikum Neu-Uork'S fast nicht weniger anzogen. Es glänzten darin ihrer Reihenfolge nach als Hauptnummern: Raff^S PreiSfhmphonie, „Romeo und Julia" von Berlioz, Franz Lachner'S erste Orchester-Suite in D-dur, eine für Orchester arrangirte Toccata Sebastian Bach'S, Robert Schumanns Ouvertüre zur „Braut von Messina" und Beethovens Tripel-Concert für Piano, Violine und Violoncello. — Auch an deutschen Männergesangvereinen fehlt eS nicht in Neu-Dork, unter denen wir den „Liederkranz", dessen gewaltige Mit­ gliederzahl jeden europäischen Maßstab hinter sich läßt- und den „Arion" als die vorzüglichsten hervorheben. Daß das Publikum allen diesen Vereinen gegenüber nicht etwa nur' ein deutsches ist, sondern auch die UankeeS und ihre Damen deutscher Instrumentalmusik und dem deutschem Chorgesange Geschmack abgewonnen, bedarf keiner Versicherung. Die Vorliebe für German-Music, besonders aber noch für das deutsche Lied, grenzt bei den Amerikanern mitunter sogar an Schwärmerei, oder jenen blinden Enthusias­ mus, wie wir ihn bei den Stammvätern der Amerikaner, bei den Engländern, finden, denen schon die bloßen Namen von Meistern, wie Händel und Mendelssohn, hinreichen, sich in Enthusiasmus zu versetzen, oder in donnernde Cheers auSzubrechen. Und so hätten wir unS mit der Schnelle und Freiheit, wie sie dem Gedanken innewohnen, schon wieder nach Europa versetzt. Hier haben wir zunächst auS den beiden Hauptstädten Wien und Berlin über die Aufnahme neuer und einer gediegenen Kunstrichtung angehörender Werke zu berichten. In Wien gelangte im zweiten GesellschastSconcerte der „Musikfreunde" Franz Lachner'S Orchester-Suite in E-moll, deren künst­ lerischen Werth wir bereits in der vorigen Revue besprochen, zur Auf­ führung. Der bejahrte Meister war persönlich von München dazu herüber­ gekommen und erlebte die Freude, sein Werk unter seiner Direction einen wahren Triumph erringen zu sehen, da der Beifall- und Hervorruf nach jedem Satze stürmisch zu nennen war. Dieselbe Gesellschaft brachte am 18. December jm großen k. k. Redoutensaale Beethovens erhabenstes Werk, seine Missa solemnis in D zur Aufführung. Die Chöre besiegten die mormen Schwierigkeiten, die ihnen der große Meister zu überwinden gab,

in glänzender Weise und entwickelten eine Präcision, Vollkraft deS Tonund verständnißvolle Auffassung der tiefsinnigen Tondichtung, die ihrem Dirigenten, Herrn Herbeck alle Ehre macht. Nicht ganz dasselbe Lob wurde den Solisten zu Theil. Am wenigsten genügten ihrer. Aufgabe die Sängerinnen Fräulein Carina und Fräulein Bettelheim. Besser warLn die Herren Erl und Panzer, die geübtesten Oratoriensänger Wiens, die jedoch in Händel'S und Haydn'S Werken schon viel Bedeutenderes geleistet. Dagegen trug Herr HelmeSberger das'zaubervolle Violin-Solo im Bene­ dictus mit wahrer Weihe und Hingebung an die hohe Intention deS Meisters vor. Bei Gelegenheit der Aufführung dieses großartigen Werkes dürfte es interessant sein, an folgende Thatsachen zu erinnern. AlS Beet­ hoven dasselbe vollendet hatte, bot er es im Manuscript den Höfen Europa'S auf Subscription an. In dem deutschen Einladungsschreiben bezeichnete er dies Werk als sein gelungenstes, in dem an den französischen Hof ab­ gegangenen Exemplare aber nannte er es: „Foeuvre le plus accompli“. Er verlangte für das einzelne Exemplar 20 Ducaten und das Gesammtergebniß waren — 400 Ducaten! Ludwig XVIII. von Frankreich jedoch über­ sandte dem Meister eine goldene Medaille im. Gewichte von 24 Louisd'örS, welche daS Brustbild des Königs und auf ihrer Reversseite die Inschrift trug: „Donne par le Boi ä Monsieur Beethoven.“ Diese Medaille be­ findet sich jetzt im Besitze der Gesellschaft der Musikfreunde, die sie als ein unschätzbares Kleinod aufbewahrt. Bei unserm flüchtigen Rückblick auf daS Musikleben Wiens drängt eS uns, des großen Verlustes zu gedenken, welchen die dortige Oper erlitt. Am 11. De­ cember des vergangenen Jahres starb Aloys Ander, einer der hervorragendsten lyrischen Tenore deS letzten Deccnniums. Zu Budissin,. einem kleinen Dorfe Mährens, im August 1821 geboren, wo sein Vater Schullehrer war, fand er nach absolvirtsm Gymnasium eine Anstellung bei der Gutsverwaltung des Grafen Pallavicini. Bald darauf finden wir ihn in Wien in städtischem Dienste, von wo auS er seine Mutter mit seinem kleinen Gehalte unter­ stützte. Als Mitglied eines MännergesangvereinS erregte er durch den Wohlklang seiner lieblichen und sonoren Stimme zuerst besondere Aufmerk­ samkeit. Bald darauf ward er bei der k. k. Hofoper engagirt, in welcher Stellung er, steigend in Bedeutung und Gehalt, bis zu seinem Tode ver­ blieb. DaS Jahr 1849 sah ihn schon in der Reihe der ersten Tenoristen, und als Meyerbeer 1850 nach Wien kam, übergab er Ander die Titelpartie seines Propheten. In dieser hat ihn flieferent auch in Berlin gehört und den Sänger besonders in den lyrischen Nummern der Partie unübertrefflich geftrnden. Anders Stimme hatte bei außerordentlicher Ausgiebigkeit und Fülle eine seltene Frische und einen wahrhaft einschmeichelnden Wohllaut. Er war ebenso bedeutend als Liedersänger wie auf der Bühne. Auf der letztere

240

Musikalische Revue.

gehörten nicht weniger als 63 verschiedene große Partien zu seinem Repertoir.

Im Winter des Jahres 1863 auf 64 trat eine merkliche Abnahme

der Kräfte des Künstlers während seines Gastspieles in Leipzig und Darm­ stadt hervor.

Am 19. September des vergangenen Jahres trat Ander zum

letzten Male als Arnold in Rossinis „Wilhelm Tell" auf.

darauf wurde es nothwendig,

alle

sein rasch erfolgender Tod

Wenige Tage

ihn nach Bad Wartenberg zu bringen,

wo

für ihn gehegten Hoffnungen vernichtete.

Rührend und in ihrer Art kennzeichnend für Wien war die Theilnahme,

die sich bei dem frühen Ende, sowie bei dem Leichenbegängniß des Sängers Das letztere versammelte Alles, was Wien an künstlerischen

kund gab.-

Notabilitäten zählt und eine unabsehbare Schaar von Freunden und Ver­

Die geräumige Augustinerkirche war so über­

ehrern des Dahingeschiedenen. füllt,

daß die Kirchthüren im buchstäblichen Sinne des Wortes nicht ge­

schlossen

werden konnten

benachbarten Straßen

und

draußen

am Lobkowitzplatz

stand die Menge noch Kopf an Kopf.

und

in

allen

Ander wird

noch lange im Andenken seiner treuen Wiener fortleben. In Berlin ist der bereits von uns angekündigte „Stern von Turan",

große Oper

in vier Acten von Richard Wüerst,

Scene gegangen.

am

14. December in

Der Text des Libretto ist von Ernst Wichert und liegt

demselben Paul Heyses reizende Dichtung „die Brüder" zu Grunde.

Aber

die Umgestaltung zu einem Operntexte ist dem Bearbeiter nur theilweise Man vermißt Spannung und Handlung; es macht sich zu sehr

gelungen.

der Mangel an Bühnenkenntniß fühlbar, was um so mehr zu bedauern, da der Stoff dramatischen Gehalt zur Genüge bot,

Operntext daraus zu gestalten.

Richard Wüerst's Musik.

um einen wirkungsvollen

Weit gelungener und interessanter ist Herrn

Sie ist die Arbeit eines tüchtigen, ernsten und

gewissenhaften Musikers, es fehlt ihr dabei nicht an echtem melodischen Reiz

und sowohl

die Behandlung

der

musikalischen Kunstformen wie die der

menschlichen Stimmen und des Orchesters offenbaren den erfahrenen und mit Strenge gegen sich selbst, d.h. ohne wohlfeile Efsecthascherei gestaltenden Künstler. Die Oper hat es leider dennoch nicht über einen succes d’estime gebracht und wir erklären offen,

daß wir die Ursache davon hauptsächlich in der

wirkungslosen und ermüdenden Bearbeitung des Textbuches suchen. Einzelne

spannende Momente können schädigen.

nicht

für

halbe Acte

ohne Handlung

ent­

Wer mit uns ermessen kann, wie viel Fleiß, Opfer, Selbst­

verleugnung, Energie und gute Stimmung für den Tondichter dazu gehörte, ein solches Werk zu schaffen, der wird es lebhaft bedauern, daß abermals

ein Libretto, das alte Hinderniß, das schon so viele der besten Opern wieder von

der

Bühne

verschwinden

ließ,

nun

auch Wüerst's Arbeit

dasselbe

Schicksal zu bereiten droht. Unsere Zuversicht steht noch auf Fräulein Lucca, die sowohl als Liebling des Publikums, wie auch, weil der Componist ein

Mrrfikakfche Nevvt. Paar wahrhaft reizende mustkalifche Momente fLr sie gefunden, vielleicht noch im Stande ist, die Oper auf dem Repertoire zu erhalten.

-

Richard Wagners seit längerer Zeit angekündigter „fliegender Holländer"'

ist nunmehr in München in Scene gegangen.

Man hatte den 4. December

für die erste Aufführung gewählt und nicht nur die Sänger, Maschinisten und DecoratiouSmaler befanden sich, beim Herannahen des genannten Ter­

min-, in aufgeregter Thätigkeit, sondern auch der hohe Beschützer des Com-

ponisten, König Ludwig II., ließ sich die große Hofloge eigens für den erwählten Abend schmücken und deeoriren. Trotz aufgehobenen Abonnement-

war das Haus überfüllt und Aller Augen richteten sich ans Wagner, der sein Werk persönlich leitete.

Seine dramatische Art zu dirigiren, forderte

die Münchener unwillkürlich zu einer Vergleichung mit der schlichten Directioü ihres hochverdienten Kapellmeisters Franz Lachner auf und gab Ge­ legenheit zu der Beobachtung, wie sehr sich auch auf diesem Felde die ver­ schiedene Individualität spiegele und kennzeichne. Der zweite Set der Oper, der einige ganz reizende Nummern enthält,

die ein unbefaügeneS naiveS

Schaffen offenbaren, also durchaus noch keine Beziehung auf des Componisten spätere Theorien über Zukunftsmusik, machten die meiste Wirkung und riefen

einen ungekünstelten aufrichtigen Beifall hervor.

Am Schluffe mußte sich

Wagner wiederholt auf der Bühne Präsentiren. ES gewinnt den Anschein, als wenn klassische deutsche Musik sich nun­

mehr auch in Italien einbürgern wolle.

Mailand und Turin gingen in

dieser Beziehung schon seit längerer Zeit mit gutem Beispiel voran.

Da

jedoch gerade in der Lombardei und im Piemontesischen vielleicht noch das meiste germanische Blut unter den Bewohnern der schönen Halbinsel eursirt

— Referenten erschienen, als er auS dem südlichen Italien kommend Turin berührte, Volk, Stadt und Land schon wieder wie die eigne Heimath —

so war ein eingehenderes Verständniß für den Ernst deutscher Tonkuüst dort im Norden nicht gerade auffallend.

Einen Fortschritt sehen, wir aber darm,

daß sich nunmehr auch im mittleren Italien — in Florenz, Modena ulld

Lncea — ein lebhaftes und thätiges Jntereffe für deutsche Musik entwickelt.

Än den drei genannten Städten bildeten sich vor kurzem Quartettgesell-

schaften, welche den Italienern die herrlichen Tongebilde deutscher Meister

dieser Gattung vorführen.

In Florenz führte man am 26. December vor

einem Publikum, daS sich — was beim Italiener viel heißen will — trotz schlechten Wetters dichtgedrängt eingefunden hatte, Beethoven's 6-äur-Quar-

tett, op. 59,

Mozart'S 6-woll-Quintett und ein Septett von Fetis auf.

Mozarts Quintett erregte einen wahren Enthusiasmus, überraschender aber

will eS uns scheinen, daß auch Beethovens Quartett einen tiefen Eindruck bei unsern südlichen Nachbarn hinterließ.

Nicht weniger warm wurde die am

6. Januar stattgefundene zweite Quartettsoirse ausgenommen, deren Programm «evm. m. s. Heft. 1865.

16

242

Musikalische Äevue.

Beethovens

Quintett

in A

(op.

18),

Mendelssohns

(op. 44) und Spohns Quartett in A-moll enthielt.

brachte man in Modena und Lucca am 11., Reihe

der

Kammermusik

Quartett

in D

In gleicher Weise

17. und 26. December eine

angehörige Arbeiten

von Beethoven,

Mozart,

Haydn, Onslyw, Mendelssohn und Mayseder zu Gehör. — In Rom wird

zwar auch viel deutsche Musik getrieben, jedoch fast nur von Deutschen, wäh­

rend bei den Concerten in Mittel-Italien Hörende und Ausführende Italiener find.

Rufen wir denn den wackern Künstlern, die sich die Aufgabe gestellt,

klassische deutsche Kammermusik

in ihrem Vaterlaude heimisch zu machen,

ein herzliches „Glückauf" zu; mögen sie auf solcher Bahn rastlos und consequent fortschreiten und so in Wahrheit Mitarbeiter an dem großen Ber­

mittelungswerke werden,

dessen Ziel

die

enge

geistige Berbrüderung der

beiden in Kunst und Wissenschaft gleich hochbegabten Nationen diesseil und

jenseit der Alpen ist.

E. N.

Literarische Revue. Französische Romane und Novellen.

Seit einer Reihe von Jahren hat sich das deutsche Lesepublikum ge­ wöhnt, die Erzeugnisse der französischen Belletristik mit einem gewissen Miß­ trauen, wir möchten sagen mit einer gewissen Nichtachtung aufzunehmen. Die massenhafte Production jener Schablonenromane, die ihre Gedanken­ leere, ihren Mangel an Wahrheit, an Poesie, an jeder höhern Auffassung des Lebens durch äußerliche Reizmittel, üppige Schilderungen, abenteuerliche Situationen, melodramatische Effecte zu verbergen suchten, ließ diese abwei­ sende Haltung nicht nur gerecht, sondern nothwendig erscheinen. ES dürfte jetzt aber an der Zeit sein, dieselbe aufzugeben. Eine gesundere Richtung voll sittlichen Ernstes bricht sich Bahn, erringt von Tag zu Tag größere Erfolge und wird bald daS Heer der Nachahmer an sich ziehen. Damit soll nicht gesagt sein, daß die französische Literatur schon völlig frei wäre von den Krankheitssymptomen deS letzten Jahrzehnts: der An­ betung des goldnen Kalbes, der Verherrlichung der demi-monde, oder den bis zum Ekel wiederholten Ehebruchsgeschichten 'mit blutiger Katastrophe. So finden wir unter ihren neuesten Erzeugnissen eine Gräfin de.Silva (La Comtesse de Silva, par Paul Delius), die ihren ungetreuen Gatten durch Lug, Trug und Mord für sich zu gewinnen sucht, statt dessen aber den geliebten Mann zum Selbstmord treibt. Wir lernen in Renee Mauperin (von JuleS und Edmond de Goncourt) eine junge Dame kennen, die sich mit einem Anbeter, den sie abweisen will, in der Seine badet. Der Rest des Buches ist diesem Anfang entsprechend. Paul Feval führt uns in ,,Annette Lais“ allerhand unmögliche Persönlichkeiten, wahre Carikaturen deS Menschengeschlechtes vor. „Henriette“ von Wailly verlangt unser In­ teresse für ein Ungeheuer im Sue'schen Styl, Graf Montbrun genannt. „Le combat de l’honneur“ von Adrien Robert ist eine jener abgedroschenen Liebes- und Jntriguengeschichten, die sämmtlich das unsichtbare Motto führen: ,,8'il est un conte use, commun et rabattu, C’est celui qu’en ces vers j’accommode ä ma guise.“

244

Literarische Revue.

DieS Derzeichniß könnten wir noch lange fortsetzen, aber aus dem Wust tauchen nicht nur wie bisher einzelne Namen, sondern ganze Gruppen als Vertreter des Bessern hervor.

Wir nennen zuerst den religiösen Roman, dessen Anfänge übrigens schon um einige Jahre zurückliegen. Octave Feuillet sprach daS erste Wort in seiner „Sybille“, einer Apotheose deS streng katholischen Kirchenglaubens. George Sand antwortete durch „Mademoiselle la Quintinie.“ Dies Buch, daS die Ohrenbeichte verwirft und den Einfluß des Beichtvaters als den Verderb deS Familienlebens bezeichnet, erregte ungeheures Aufsehen. Neuer­ dings hat ein unbekannter Geistlicher den Kampf auf diesem Gebiete fort­ gesetzt. Seine beiden Romane „Le mandit“ und „La religieuse“ malen in grellen Farben den Verfall der Kirche, den Mißbrauch der geistlichen Ge­ walt und verweisen aus die Nothwendigkeit einer Reformation, deren Auf­ gabe sein müßte, daS Christenthum, oder vielmehr die christliche Kirche mit der moderne» Bildung in Einklang zu bringen. Die Kritik mag im In« tereffe der Kunst gegen diese Tendenzliteratur mancherlei Bedenken erheben; ihre Bedeutung für die Entwickelung Frankreichs dürfen wir jedoch nicht unterschätzen. Eine zweite Gruppe bilden Romane und Novellen, welche Familien­ leben, Eheglück, HerzenSkämpfe, psychologische Entwickelungen zum Gegen­ stand haben. Unter diesen nennen wir: „Le man d’Antoinette“ von LouiS Ulbach. Hübsch erfunden und lebendig erzählt. Männer in reiferen Jahren

werdm demBerfafler dankbar sein; «beweist, daß nur bei ihnen der Ueberrest jener Jugend zu finde« ist, die unsre jungen Greise in übermäßig«« Gmuß vergeudet haben. Die Braut, die für den Sohn deS Helden geworben werde« sollte, wird darum dem Vater zu Theil. — I» „Trop herenx“ erzählt uns F. R. Way eine einfache traurige Herzensgeschichte: Der Held, Albin *be MSrian, geht an der Ehe mit einer geliebten, edel« Frau zu Grunde, weil fi« ihn nicht versteht. DaS Buch ist voll feiner Beobachtungen und die Behandlung deS Stoffes verräth eine Künstlerhand. — „Neof filles et un garton“ von Ernest Serret, ein Trost für töchterreiche Häuser. DaS Ganze ist heiter, hin und wieder selbst mit Humor erzählt. — „Le roman d’un homme serieux“, von Charles de Moüy, ist die Geschichte eines jungen Mannes ohne Vermögen, der sich vornimmt eine reiche Erbin z« heirathen, aber am Ende durch die Verbindung mit einem Mädchen, das so arm ist, als er selbst, zu Glück und Frieden kommt. — „Les mSmoires d’an inconnu“, von LouiS Ulbach, Geschichte eines politischen FlÜchÜingS auS dem Jahre 1851 — „Meryem“ von Camille Perier, eine algierische Liebesgeschichte, und „Le Chevalier du silence“, von Alexandre de Lavergne, gewähren ebenfalls eine anmuthige, leichte Unterhaltung.

Die dritte Gruppe, in der wir Localschilderungen, Sitten und Sagen der verschiedenen Provinzen Frankreichs finden, vertritt keine neue Richtung. Seit Charles Novier haben ihr die besten Namen: George Sand, Balzac, Emile Souvestre angehört; aber ein neues, in Deutschland wenigstens noch nicht gekannte- Talent tritt uns hier in Erkmann-Chatriant entgegen. Emile Erkmann und Alexandre Chatriant arbeiten gemeinschaftlich. Beide stammen ans PhalSburg im Ober-Elsaß, daher das liefinnerliche deutsche Element, das unS in ihren Werken so heimathlich anspricht. Es sind Er­ zählungen auS dem Elsaß, die sie uns geben; ihre Helden gehören sämmtlich dem Volke dieses Landstriches an. In den Sammlungen „Contea fantastiques“ — „Contes des bords du Rhin“ — „Contes de la montagne“ erschließt sich eine Sagen- und Märchenwelt, die uns mit eigenthümlichem Zauber umstrickt. Meisterhaft schildern die Verfaffer Land und Leute ihrer Heimath: die stillen Thäler der Vogesen, die waldigen Bergkuppen mit ihren Burgruinen, den kräftigen Menschenschlag in seiner althergebrachten Tracht, die Männer mit dem Dreispitz auf dem Kopfe, die Frauen im rothge­ streiften Rock und Hackenschuhen. Wir lernen das Leben in Dorf und Weiler, im Försterhaus und in der Köhlerhütte kennen, aber der Hinter­ grund ist es nicht allein, der diesen Märchen soviel Wahrheit giebt, eS ist vor Allem der Glaube der Erzähler, der uns mit fortreißt. „Wer vermöchte die Grenzen des Möglichen zu ziehen" fragen sie. „Sehen wir nicht, wie sich von Tag zu Tag daS Gebiet der Wirklichkeit erweitert? Und jene magische Zauberwelt, mit ihren verborgenen Einflüffen, ihrem mysteriösen Rapport, ihrer unfaßbaren Gewalt; jene Welt, die von Dielen glaubensvoll verkündet, von Vielen spottend geleugnet wird — wissen wir, ob sie nicht morgen schon in unsrer Mitte zur Erscheinung kommt? WaS wir gesunden Menschenverstand zu nennen pflegen, ist oft nur daS Er­ gebniß der allgemeinen Unwissenheit." — In diesen Märchen stehen wir deshalb sozusagen auf realem Boden. Es sind nicht wirre Nachklänge eines vergessenen Glaubens, die wir hören, nicht wesenlose, willkürliche Phantasie­ gebilde, die wir sehen, — es sind lebendig gewordene Leidenschaften und Begierden, Folgen böser Thaten, die als unheimliche Gewalten eingreifen in die Alltagswelt. Die folgenden Bände der Erkmann - Chatriant'fchen Werke (Oeuvres completes d’Erkmann-Chatriant, Collection Hetzel-Lacroix) sind Dorfge­ schichten; bald heiter, bald düster gefärbt, aber immer lebendig, kraftvoll, einfach und voll tiefen Gemüths. Die eigenthümlichste derselben ist vielleicht „Mattre Daniel Rock“, ein Blatt aus der Geschichte jenes ewigen Kampfe-, den daS Bestehende mit dem Werdenden kämpft, ein Thema, daS uns im modernen französischen Roman häufig begegnet. JuleS Sandeau hat im „Marquis de la Seigliere“ ein* typische- Bild de- Adel- geschaffen, der sich

246

Literarische Revue.

gegen die Eroberungen des Bürgerthums

sträubt

und Sandeau^s Nach­

ahmer haben dies Bild hundertfältig wiederholt. Die Verfasser des Daniel

Rock dagegen zeigen uns, wie hin und wieder auch das Volk, seinen eigensten Interessen zum Trotz, im Fanatismus der Unwissenheit am Hergebrachten

festhält.

Meister Daniel Rock, ein alter Schmied, der mit seinen Kindern

in Felsenburg in den Vogesen lebt, ist ein hühnenhafter Gesell, starrköpfig, ungeschlacht, leidenschaftlich und von beschränktem Verstände, wie die Riesen

Durch Fleiß und Mäßigkeit ist er ein wohlhabender

der nordischen Sage.

Mann geworden;

er kauft die Ruinen des Schlosses Fclsenburg, die das

Dorf überragen und bringt seine Feierabendstunden vorzugsweise in diesem alten Gemäuer zu, wo er mit Fuldrade von Oberweg, einem abergläubischen

halbverrückten Weibe zusammenkommt.

Eines Tages erzählt sie ihm einen

Traum: sie hat jenseit der Berge das Zischen des siebcnköpsigen Drachen

gehört und das Brausen der Gewässer, die Alles zu verschlingen drohen. Beide kommen überein, daß dieser Traum eine prophetische Mahnung ent­

hält und bald erkennt Daniel Rock, worauf derselbe hinweist.

Es kommen

Ingenieure in das Thal, um die Eisenbahn hindurch zu führen — Meister

Rock sieht im Geiste das patriarchalische Leben seiner Heimath bedroht; er hält sich für berufen, das Unheil abzuwenden, erklärt, daß die verhaßte Er­

findung der neuern Zeit über seinen Gruud und Boden nicht geführt werden dürfe und entschließt sich, als seine Protestationen verlacht werden, zu thät­ lichem Widerstand.

Mit seinen beiden Söhnen überfällt er die Arbeiter,

die im Begriff sind, das Terrain abzustecken; nach langem blutigem Kampf werden die Angreifer überwältigt und jahrelanges Gefängniß ist die Folge

ihres unsinnigen Thuns.

Als sie den Kerker verlassen, ist Daniel Rock ein

alter Mann, aber sein Starrsinn ist derselbe geblieben. Der Aufenthalt in seinem Heimathdorfe widert ihn an: die moderne Industrie ist mit Werk­

stätten und Fabriken aller Art darin eingezogen, die Eisenbahn ist der Voll­ endung nahe, unter seinem Schlosse ist ein Tunnel gebaut. Boll Ingrimm zieht sich der Alte in seine Ruine zurück und begirlnt mit Hilfe der Söhne

sein letztes Werk zu schmieden.

heran.

Der Tag der Eisenbahneinweihung kommt

Voll Erwartung sind die Bewohner des Thales herbeigeeilt, das

langersehnte Schauspiel zu genießen. dertstimmigem Jubel begrüßt.

Der Zug braust daher, von vielhun-

Plötzlich treten drei riesige Gestalten mit

nackter Brust und unbedecktem.Haupt aus dem Tunnel hervor. Meister Daniel

Rock und seine Söhne,

jeder mit einer ungeheuern Lanze in den Händen.

Mit Windeseile kommt die Maschine auf sie zu: „Tu ne passeras pas!“

ruft ihr der Alte entgegen, indem er seine Lanze in den Boden stößt. Söhne folgen seinem Beispiel.

Die Menge zittert.

Die

Es ist zu spät die

Maschine zu hemmen; mit schrillem Pfeifen fährt sie in den Tunnel ein.

Als sie verschwunden ist, wenden sich Aller »Augen der Stelle zu, wo eben

Meister Daniel Rock und seine Söhne gestanden — sie ist leer.

Die drei

Schmiede und ihre Lanzen sind zermalmt und weggefegt wie dürre Halme

und ohne Aufenthalt verfolgt die Maschine ihren Weg. Zu diesem düstern Bilde stehen die unmuthig humoristischen Erzählungen

»Le joueur de Clarinette“ — „L’ami Fritz“ — „Les ämcgireux de Ca­ therine“ — bLa taverne du jamhon de Mayence“ im schroffen Gegen­

satz. L’ami Fritz, die Geschichte eines jungen Mannes, der in Gefahr durch

seinen Hang für das Wirthshausleben zu Grunde zu gehen, durch die Liebe

„der kleinen Susel" gerettet wird, ist darunter die bedeutendste. Alles was wir bisher genannt haben, wird jedoch von» der vorletzten Schöpfung der beiden Freunde „Histoire d’un conscrit de 1813“ übertroffen. Dies Buch

hat bei dem französischen Lesepublikum die allgemeinste Anerkennung gefunden

und wird von der Kritik für die bedeutendste

novellistische Erscheinung deS

letzten Jahres erklärt. Es ist das dritte Werk einer Reihenfolge von Kriegs­ geschichten, das vierte „Waterloo“ ist eben im Journal des vehats beendet.

Die ersten beiden waren: „Le fou Yegof“ und „Madame Therese“,

Ge­

schichte einer Marketenderin.

Daß diese Bücher bei dem ruhmbegierigsten Volke der Welt Anklang

finden konnten, ist ein bedeutsames Zeichen der Zeit.

Zwar schildern sie

mit wunderbarer Lebendigkeit das Heldenthum des Soldaten, die Trunken­ heit des Kampfes, die Siegesfreude, die treue Kameradschaft der Waffen­

gefährten, aber sie zeigen auch

die Kehrseite des glänzenden Bildes: ent­

fesselte Leidenschaften, verwüstete Länder, zerrüttetes Familienglück und be­

wiesen, daß der Krieg eine Barbarei ist, ein Rückschritt auf dem Wege der

Civilisation, ein Mißbrauch des Menschen. Die Geschichte des Conscrit ist im höchsten Grade einfach. Joseph Bertha,

ein Uhrmacher aus Phalsburg, wird trotz feines lahmen Beines und trotz seiner

Abneigung gegen den Soldatenstand gezwungen, der Fahne zu folgen; er über­ schreitet den Rhein, macht verschiedene Gefechte mit, wird bei Lützen und in der Schlacht bei Leipzig verwundet, kommt dem.Tode nahe zu den ©einigen zurück

und wird durch ihre treue Pflege dem Leben erhalten. — Auf diesem einfachen Hintergründe treten Schlachtenbilder hervor, die meisterhaft in Zeichnung und

Colorit, uns dem Krieg mit all feinen Schrecknissen, all seiner Begeisterung,

in seltner Lebendigkeit vor Augen führen.

Das Geheimniß ihrer Wirkung

beruht darauf, daß sie authentischen Berichten, d. h. den Tagebüchern eines Offiziers der großen Armee entnommen sind, und daß ein großes Talent der Wahrheit zu Hilfe gekommen ist, dies Stück Leben zum Kunstwerk ab­

zurunden.

Wir erstaunen dem Conscrit gegenüber noch mehr als bei den

frühern Schöpfungen der Freunde, über ihr gemeinsames

Schaffen.

Ge­

mälde, Vaudevilles, Romane ä la Dumas sind in Frankreich häufig von

zweien ausgeführt, aber eine Dichtung zu zweien war uns bisher undenkbar,

249

Literarische Revue.

und eine Dichtung ist der Conscrit in seiner tiefelegischen Stimmung. Wie die Freunde schaffen, ob einer von ihnen die Schöpfungskraft, der andere das Formtalcnt besitzt, wiffe« wir nicht. Sie selbst erzählen, daß sie bei einander sitzen und gemeinschaftlich nachdenkend arbeiten. Bon ihre» Süßem Verhältnisien^ wissen wir, daß Erkman» einen Theil deS ÄahreS in der Heimath lebt, Chatriant in Paris im BerwaltungSbureau der Ostbahn an­ gestellt ist. Beide sind noch jung. Möchten sie auf dem glücklich betretenm Wege in ungestörter Harmonie fortschreiten. (k

Vermischte Mittheilungen. Fortschritte in Rußland.

(Telegraphen, Eisenbahnen und Maschinenfabrikation.) ES «gt sich in alle» Kreisen deS mächtigen Zarenreiches, daS nach­ zuholen, was bisher versäumt wurde, um eS den Bölkem im Westen gleich zu thun. Gegenwärtig weilt im russischen Reiche kein unfreier Mensch mehr. DaS große Werk der Befreiung ist vollbracht und wird de» Namm deffe», von dem «S ausgegangen, für alle Zeiten in der Ge­ schichte der Menschheit verewige». Seitdem ist erst der wahre Fortschritt auf geistigem und materiellem Gebiete möglich und den ungrhmem natür­ lichen Hilfsmitteln des großen Reiches wird Gelegenheit geboten, sich nach allen Seite« der menschlichen Thätigkeit zu entfalten. Durch die Bauememancipation war eine ungeheme Menge Producmtm geschaffm worden, denm man auch die Möglichkeit zum Erwerb bieten mußte, und hierzu warm vor allen Dingen drei Sachen nothwendig: Wege, besonders Eisenbahnm, ein geregelter Geldverkehr und Verbreitung höherer Bildung. Besonder« sind eS die Verkehrsmittel, die*hier einm großen Auf­ schwung genommen habm. Das Telegraphennetz ist bis in dm äußerstm Osten Sibiriens ausgedehnt worden, denn am 30. November 1864 wurde, wie der »Russische Invalide" meldet, zwischen der Stadt Niko­ lajewsk und Chabarowka im Küstengebiet des AmurlandeS eine Telegraphen­ verbindung von 1000 Werst Länge eröffnet. Ueber die Thätigkeit der russischen Telegraphm im Jahre 1863 bringt das „Journal der Haupt­ verwaltung der Wege und vffmtlichen Bauten" Nachrichten; hiernach be­ trug die Zahl der beförderten Telegramme 741,901 Stück. Der Preis aller Depefchen betrug 1,703,454 Rubel. Auf die ausländische Correspondmz kamen 48,054 Telegramme, von denen 28,131 nach Preußen «nd Deutschland gingen, 12,339 nach England, 11,721 nach Frankreich, 6,95,9

nach Ocherreich.

250

Vermischte Mittheilungen.

Auch int Eisenbahnwesen zeigt sich allenthalben der Fortschritt. Die Bahnen

den Kohlenminen

von

in Gruschewka nach dem Don und von

Kolomna nach Rjasan wurden eröffnet; letztere soll auch bis nach^ Koslow fortgeführt werden.

Auf der Bahn von Odesia nach Parkany wurde be­

reits eine Probefahrt unternommen.

Der Bau der wichtigsten Bahn, der

eigentlichen Lebensader des Landes, die Moskau mit dem schwarzen Meer

zu verbinden hat,

ist nun auch sicher gestellt.

scheidung wurde angeordnet,

Durch allerhöchste Ent­

daß der Bau dieser Bahn von beiden Enden

in Angriff genommen und einerseits

die

bereits begonnene Strecke von

Moskau nach Serpuchow über Tula, Orel und Kursk nach Kiew, anderer­

seits die im Bau begriffene Strecke von Odessa nach Balta über Krementschug nach Charkow verlängert werden solle. Mit dem Eisenbahnwesen und allen neuen Fortschritten in der Technik steht

die

Maschinenfabrikation

in

enger

Berbindung.

Nach

dem

„statistischen Magazin für Minenwesen" giebt es im russischen Reiche gegen­

wärtig 139 Maschinenfabriken.

Davon befinden sich in Moskau und dem

Gouvernement gleichen Namens 32, in Petersburg 28, je sieben in Riga

und Kiew, in Odessa und in den Gouvernements Jekaterinoslaw,' Twer,

Pensa, Tschernigow und Orel vier in jedem, in Nishni-Nowgorod, Kaluga,

Charkow drei in jedem, in den Gouvernements Kasan, Perm, Tula, RjasanMohilew, Smolensk, Kostroma, Kursk, Wolhynien und Podolien zwei in jedem und nur je eine in den andern Gouvernements und im Amurlande.

Die

Gesammtproduction

der

Maschinenfabriken

hatte

einen Werth

voü

8J biß 9 Millionen Rubel, etwas mehr, als der Werth der jährlich vom

Auslande eingeführten Maschinen und Maschinenerzeugnisie ausmacht.

land und Polen kommen bei dieser Berechnung nicht in Betracht.

Finn­

L.

AuS den deutschen Kreisen Rußlands. ist in der letzten Zeit, namentlich von Moskau aus, den Deutschen

G

Rußlands vorgeworfen worden, daß sie eine eigene „politische deutsche Partei" bildeten und sich in einen Gegensatz zum russischen Elemente stellten.

Man

hat zugleich versucht, ihnen gehässige und antiliberale Grundsätze zu unter­

schieben, die, ebenso wie eine politisch-nationale Parteistellung, ihnen völlig fremd

sind. ' Der Zusammenhang

das denselben

der Deutschen Rußlands . wird

innewohnende Cultnrelement

geselligen Berhältnisie bedingt.

und

die

durch

landsmannschaftlich­

Die St. Petersburger Zeitung hat daher

vollkommen Recht, wenn sie die obigen, gehässigen Anfeindungen entschieden zurückweist.

Sie sagt:

„Es leben allerdings viele Deutsche in Rußland,

Die

gebildete

Bevölkerung

der

Ostseeprovinzen

Deutsche sind als Militärs, Beamte, Kaufleute,

besteht

auS

Deutschen,

Handwerker, Kolonisten

über ganz Rußland zerstreut und verleugnen überall nicht die Eigenschaften,

die man als den Deutschen

vorzüglich angehörig bezeichnet: Neiß,

Ehr­

lichkeit, Gewisienhaftigkeit, Achtung vor dem Gesetz, Liebe zu dem Boden, die Regierung und Treue für den

auf dem sie leben, Gehorsam gegen Landesherrn.

Aber eine „deutsche Partei" giebt es nirgends in Rußland;

eine deutsche Partei, als Vertreterin irgend einer politischen Richtung, na­ mentlich aber im Gegensatz zur „russischen", ist ein Wahngebilde, von dem

sich auch nirgends eine Spur findet.

Im Gegentheil,

die vernünftigen

Deutschen sehen mit Beifall auf daS Erwachen des nationalen Bewußtseins

in der russischen Gesellschaft und können eS nur im höchsten Grade billigen,

wenn dieselbe endlich einmal beginnt, den gewohnten flachen Kosmopolitis­ mus abzuwerfen und sich als ein Volk, als eine Nation zu fühlen.

Frei­

lich gehen dieser Beifall und diese Billigung nur so weit, als jenes natio­ nale Bewußtsein nicht in Racenhaß, nicht in Verketzerung alles Nicht-Reinrussischen überschlägt."

In Petersburg hat das deutsche Element seinen wesentlichen Sammel­ die sich durch einen regen Wohl-

platz in der deutschen Gesellschaft,

thätigkeitstrieb auszeichnet.

Dieser Verein unterhält in seinem Armenhause

jetzt 28 Männer und 21 Frauen und erzieht in zwei Häusern 22 Mädchen und 15 Knaben.

Außerdem beschäftigt

mit Näharbeit und Unterstützungen.

gegen

Aber

er eine Menge Hülfsbedürftiger

1000 Individuen hat mit

der Verein

erhalten großen

jährlich einmalige

Schwierigkeiten

zu

kämpfen, die Ausgaben überstiegen im Jahre 1863 die Einnahme um mehr als 200 Rubel und man hat jetzt zu einer Tombolalotterie greifen müssen,

um das Unternehmen sicher zu stellen.

Gewiß wäre es sehr wünschenswerth,

wenn auch die Deutschen im Heimathlande sich diesem wohlthätigen Beginnen anschlössen und ähnlich, wie den deutschen Hilfsvereinen in London, Paris

und Lyon, den deutschen Armen in Rußland ihre Werkthätigkeit zuwendeten.

Der junge König von Baiern hat hierin einen schönen Anfang gemacht,

indem er

das

herrliche Kaulbach^sche Album

„Goethes Frauengestalten"

für die Lotterie schenkte.

Auch

die

deutsche bürgerliche

ihre Bälle zu wohlthätigen Zwecken.

Tanzgesellschaft

veranstaltet

Sie besteht schon seit dem Jahre 1789

und feierte am 6. (18.) Januar ihr Stiftungsfest.

Es fehlte beim Esien

nicht an Trinksprüchen auf die kaiserliche Familie, und die Liedertafel

versetzte die Anwesenden im Geiste in die theure Heimath, denn die alten schönen Gesänge: „Bekränzt mit Laub", „die Loreley" und Mendelssohns herrliches Lied „Wer hat dich, du schöner Wald" erbrausten mächtig bitrd^

den Saal.

252

Brimischte MtthfllW»g«u

>.DaS deutsche Zeitungswesen nimmt in Rußland immer mehr zu, denn vou vielen Orten wird jetzt die Gründung neuer dmtscher Jour­ nale gemeldet. Neben der qltbewührten Petersburger Zeitung, die jetzt von vr. Friedrich Meysr trefflich redigirt wird «nd bereits ihren 139. Jahr­ gang angetreten hat, erscheinen in Riga (sowie überhäuf an mehreren Orten der Ostseeprovinzen) und Odeffa deutsche Zeitungen. Die projectirte Mos­ kauer deutsche Zeitung ist nicht zu Stande gekommen, dagegen haben sich in Warschau mehrere angesehene deutsche Bürger zusammengethan, um ein,e deutsche Zeitung zu gründen. DaS nöthige Anlagekapital ist bereits gedeckt. Und auS Saratow meldet eine russische Zeitung Folgende-: „Die deutsche Saratower Zeitung ist vorzugsweise den Jntereffen der deutschen Kolonisten in den Gouvernements Saratow und Samara gewidmet. Außer einer allgemein verständlichen Darstellung der politischen Vorgänge, der anSwSrtigcn und inneren Regierungsverordnungen, besonders derjenigen, welche die Lage bei: Kolonisten berühren, den Anordnungen der Lokal- und Kolonialverwaltung, wird sie noch Nachrichten über Land- und HauSwirthschast, Wald­ kultur, Fabrik- und GewerbSthätigkeit und Handel bringen, soweit dieselbm sür daS Leben der Kolonisten Interesse haben können, Man kann den Deutschen, sagt daS russische Blatt weiter, die ihnen gebührende Achtung nicht versagen: Sie verstehen eS sich einzurichten, ihre Jntereffen zu ver­ treten. Wie viele Zeitungen haben sie — nun gar auch noch eine Saratow'sche. Wann wird sich eine russische Saratow'sche Zeitung einfinden? Und wenn fie sich eiufände, würde sie die Mittel austreiben, sich zu erhalten?"

Dir WeihnachtSspirke im böhmischen Erzgebirge. R. Seit daS Oberammergauer Passionsspiel namentlich durch Eduard Devrient'S Arbeiten in weiteren Kreisen bekannt geworden ist, hat sich die

Aufmerffamkeit in erhöhtem Maße der dramatischen BolkSpoeste zugewandt. Man sammelt nicht mehr einseitig daS Volkslied, sondern beschäftigt sich auch eingehender mit jenen Stücken, die von der ländliche« Bevölkerung meist bei Gelegenheit von Kirchenfesten aufgeführt werden. Manches Er­ sprießliche «nd Neue ist in dieser Beziehung zu Tage gefördert worden und hat zu Nachforschungen über die Entstehung dieser Volksspiele Anlaß ge­ geben. ES war in Deutschland im Mittelalter eine allgemeine Sitte, bei kirchlichen Feierlichkeiten biblische Begebenheiten in lebenden Bildern darzu­ stellen, und bis var uns ungünstig und schon

einer Viertelstunde hatten wir nur auf's Gerathewohl

in der Richtung hin geschoffen, in der wir sie vermutheten, als völlig unerwartet die preußischen Husaren in unser Quarre einbrachen.

We

es zugegangen sein konnte, weiß ich nicht — aber sie waren in unsrer

Mitte und hieben uns, ihre Pferde tummelnd, rechts und links ohne

Barmherzigkeit nieder.

Wir antworteten mit unsern Bajonetten, wir

schrieen — sie schossen mit Pistolen auf uns — es war ein entsetzlicher

Moment! Zebedäus, der Sergeant Pinto, ich und etwa zwanzig andre Leute unsrer Compagnie hielten fest zusammen.

Ich werde, so lange ich lebe,

diese Scene nicht vergessen. Weder jene feindlichen, vor Aufregung bleichen

Gesichter mit langen, bis hinter die Ohren reichenden Schnurrbärten, noch die schäumenden Pferde, die sich wiehernd auf Haufen von Todten

und Verwundeten bäumten.

Ich 'werde stets das Geschrei zu hören

glauben, das wir, die Einen in deutscher^ die Andern in ftanzösischer Sprache ausstießen.

„Schweinepelze!"

schriem

sie uns

zu,

während

Sergeant Pinto nicht aufhörte zu rufen: „Hardi, mes enfants! hardil“

Ich habe mir niemals klar machen können, wie wir diesem furcht­ baren Gemetzel eigentlich entgingen. Wir marschirten aufs Gerathewohl im Pulverdampf hin und her und wehrten uns rechts und links gegen Pferdehufe und Säbelhiebe, so gut es gehen wollte. Alles, woran ich mich erinnere ist, daß mir Zebedäus beständig zurief: „Komm, komm!" und daß wir schließlich auf einem abhängigen Acker hinter einem unsrer Quarros anlangten, welches seine Position standhaft behauptet hatte. Mit dem Sergeanten waren wir noch sieben Mann, die sämmtlich aus­ sahen wie Metzgerknechte. „Ladet's Gewehr!" kommandirte Pinto. Als ich den Ladestock in den Lauf meines Gewehres stieß, bemerkl­ ich, daß Blut und Haare an meinem Bajonett klebten, ein Beweis, daß ich in meiner Wuth und Verzweiflung furchtbare ©treuste- ausgetheilt hatte. „Das Regiment ist ausgelöst," sagte der alte Sergeant, nachdem wir ein wenig zu Achem -gekommen waren. „Diese verdammten Preußen haben die Hälfte davon niedergemacht. Mr werden uns später mit dem Rest wieder zusammenfinden. Für den Augenblick handelt es sich darum, uns im Dorfe festzusetzen. Links um kehrt! Vorwärts, marsch!" Wir stiegen nun eine Treppe hinab, die uns nach einem zu Klein-Görschen gehörenden Garten führte. Durch diesen drangen wir in ein von seinen Bewohnern »erlassenes Haus, dessen nach dem Feld und Garten führende Thür der Sergeant mit einem großen Küchentisch verrammelte. Die nach der Straße gelegene Thür, durch die wir viel­ leicht unsern Rückzug antreten mußten, blieb offen. Dann stiegen wir in die erste Etage hinauf, wo wir ein ziemlich großes Eckzimmer fanden. Dasselbe hatte zwei Fenster nach der Straße, zwei andere öffneten sich nach der Berglehne hin, wo das Knattern des Gewehrfeuers noch immer fortdauerte. In einem an dieses Zimmer stoßenden Alkoven fand ich ein ge­ brauchtes Bett und daneben eine Wiege. Die Bewohner hatten sich aller Wahrscheinlichkeit nach beim Beginn der Schlacht geflüchtet — aber unter dem Bette lag ein großer, weißer Hund mit buschigem Schwänze, spitzigen Ohren und spitziger Schnauze, der uns mit grün schimmernden Augen beobachtete.

Alles das steht vor mir, wie ein lebhafter Traum.

Der Sergeant öffnete das Fenster. zu schießen und

zwei oder

Man fing an, auf der Straße

drei preußische Husaren

Haufen von Dünger und zerbrochenen Wagen sichtbar.

wurden zwischen

Zebedäus und

die Andern beobachteten aufmerksam, die Flinte in Bereitschaft haltend,

Ich richtete mein Augenmerk auf den Bergab­

was draußen vorging.

hang, um zu sehen, ob das Quarr« noch immer Stand hielt, UNd sah, daß es sich etwa 5—600 Schritt von uns in guter Ordnung zurückzog, indem es von allen vier Seiten auf die Cavaleriemaffen feuerte, die es

umschwärmten.

Durch den Pulverdampf hindurch sah ich den Obersten,

einen kurzen, starken Mann,

Mitte des Quarros hielt.

der mit dem Degen in der Hand in der

Neben ihm die Fahne, die so zerrissen war,

daß sie nur noch in Fetzen und Streifen an der Stange hing.

Weiterhin links,

wo die Straße

eine feindliche Colonne hervor,

eine Biegung machte,

brach eben

die auf Klein-Görschen vorrückte.

Es

war offenbar ihre Absicht, uns den Rückzug nach dem Dorfe abzuschnei­ den, aber schon waren Hunderte von versprengten Soldaten hier ange­

kommen und noch immer strömten sie von allen Seiten herbei — die

Einen kämpfend

und sich aller fünfzig Schritte umdrehend,

um ihre

Flinten auf die Verfolger abzuschießen, die Andern verwundet und sich nur mühsam weiter schleppend.

Die Kampffähigen warfen sich in die

Häuser, empfingen den Feind mit einem mörderischen Feuer aus den

Fenstern und hielten dadurch sein Vorrücken auf, während sich zu gleicher Zeit an dem Abhange der Hügelkette rechts die Mafien der Divisionen

Bremer und Marchand

anfrollten,

welche der Fürst von der Moskwa

uns zu Hülfe schickte. Wir erfuhren

später,

daß

der Marschall Ney dem Kaiser nach

Leipzig hin gefolgt, durch den Donner der Kanonen aber aufmerksam

gemacht, zu unsrem Beistände herbeigeeilt war. Die Preußen machten Halt und das Feuer wurde für einen Mo­

ment von beiden Seiten eingestellt.

Unsre Qnarr«s imd Colonnen er­

klommen bei dem Dorfe Starsiedel aufs Neue die Höhe und jeder von

uns beeilte sich, das Dorf zu verlassen, um sich seinem Regimente wieder anzuschließen. Das unsrige war völlig versprengt und als die Divisionen

vor dem Dorfe Kaja Halt machten, vermochten wir kaum, uns wieder

zusammen zu finden.

Von unsrer Compagme waren beim Appell nur

noch 42 Mann vorhanden.

Von den Phalsburgem waren außer mir

mir Zebedäus und Klipfel mit Heller Haut davon gekommen. Unglücklicherweise war indessen der Kampf noch nicht beendigt, beim die Wirten, kühn gemacht durch unsern Rückzug, trafen bereits ihre

Dispositionen, um uns aufs Neue anzugreifen und ich sonnte mich an­

gesichts dieser Gefahr des Gedankens nicht erwehrm, daß es für einen so großen Feldherrn wie unser Kaiser kein kleiner Fehler war,

nach

Leipzig zu geheu und uns von einer Armee von mehr als 100,000 Mann überfallen zu lassen. *)

Als wir eben noch dabei waren, uns hinter der Division Bremer zu ordnen, drangen 18,000 Mann der preußischen Garde — die Tschakos

unsrer Todten und Verwundeten als Siegeszeichen auf ihren Bajonetten tragend — im Sturmschritt

Auch links,

die Höhe herauf.

zwischen

Starsiedel und Klein-Görschen nahm der Kampf seinen Fortgang.

Die

russische Camlerie, deren Waffen wir früh in der Morgensonne blitzen sähen, hatte uns umgehen wollen, indessen war das 6. Armeecorps noch zur

rechten Zeit angekommen, um uns zu decken. wie die Mauern.

Die ganze Ebene glich

Die Regimenter standen

einer dunkeln Wolke,

aus

welcher Tausende von Helmen, Cüraffen und Lanzen hervorblitzten. Noch immer im langsamen Zurückweichen begriffen, sahen wir plötz­

lich eine Art von wllder Jagd vorüberbrausen.

Es war der Marschall

Ney, der von seinem Generalstabe umgeben im gestrecktm Galopp herbei­ gejagt kam.

Er war bleich

vor Zorn und Auftegung; seine Auge»

sprüheten Blitze, seine Lippen bebten. der

ganzen Linie hinaufgesprengt und

Colonne.

Zn einem Moment war er an

hielt vor der Fronte unsrer

Mes folgte ihm, wie von einer übermächtigen Gewalt getrie­

ben — statt zu retiriren gingen wir vorwärts,

den Preußen entgegen

und zehn Minuten später standen wir bereits wieder im heftigsten Feuer. Der Feind hielt wacker Stand.

Er hatte sich schon als Sieger gefühlt,

und wollte die errungenen Lorbeeren nicht aus der Hand lassen — auch erhielt er stets

neue Verstärkung,

während wir

seit 5 Stunden im

Gefecht standen und bereits erschöpft waren. *) Die Armee der Miirten war bekanntlich nur 85,000 Mann stark. Anm. b. Ueberj.

Unser Bataillon befand sich diesmal in zweiter Linie. pfiffen unschädlich über uns hin,

Die Kugeln

aber Has Anprallm der Kartätschen

an die Bajonette, das man weithin vernahm, war eine desto schauerlichere

Musik.

Inmitten des Geschreies,

der Kommandorufe Und des Knatterns

des Gewehrfeuers drangen wir über Haufen von Todten und Verwun­

deten wieder nach Klein-Görschen vor.

Man schlug sich Mann gegen

Mann — in der Hauptgaffe des Dorfes sah man nur erhobene und

niedersausende Mntenkolben in der Lust;

die Generale stürzten sich mit

geschwungenem Degen in's Gefecht, wie der gemeine Soldat. Das währte einige Mnuten.

dringen vor!" riefen wir

„Es geht gut — es geht gut!

Mr

uns ermuthigend zu — aber noch einmal

wurden uns stische Truppen entgegengeworfen und zum zweiten Male

mußten wir Klein-Görschen räumen, und zwar geschah der Rückzug so schnell, daß ein großer Theil unsrer Truppen sich erst in Kaja wieder

sammelte.

Der Ort bestand aus einer einzigen langen Reihe von Häu­

sern, die durch kleine Gärten und Ställe getrennt waren.

Gelang es

dem Feinde, uns hier zu überwältigen, so war sein Zweck erreicht; die

eine Hälfte der französischen Armee war von der andern abgeschnitten. Während unsres eiligen Laufes dachte ich an die Worte, mit denen mein alter Meister in Phalsburg mich entlaffen hatte. „Wenn das Un­

glück wollte, daß die Alliirten euch schlügen, so würden sie kommen, um

sich für Alles,

rächen."

was wir ihnen seit zehn Jahren angethan haben,

zu

Ich glaubte die Schlacht verloren, denn ich sah, wie selbst der

Marschall Rey in der Mtte eines Quarrös zurückwich.

Die Soldaten

trugen ihre vemundeten Offiziere auf den Flintm aus dem Gewirr und Gedränge.

Es schim mir, als stünde unsre Sache völlig trostlos.

Ich erreichte das Dorf von der rechten Seite, übersprang die kleinen Zäune, welche die Gärten von einander trennten und bog eben um eine

Scheune, als ich plötzlich auf der gegenüber liegenden Höhe einen Trupp von etwa zwanzig Offizierm halten sah.

Hinter ihnen auf der Straße

von Leipzig kamen Waffen von Cavalerie in gestrecktem Galopp daher

gejagt.

Dies machte mich aufmerksam, ich sah genauer hin und erkamte

imn den Kaiser an der Spitze seiner Suite.

Er saß auf seinem weißen

268

Die Schlacht bei Mtzen.

Pferdtz wie in einem Fauteuil, ohne jede Bewegung und überschaute das Schlachtfeld mit einem Fernrohr.

Dieser Anblick erregte mich so freudig, „Vive FEmpereur!“

rief:

zwischen

Dann bog

daß ich aus voller Kehle

ich

durch

ein Seitengaßchen

zwei alten Häusern in die Hauptgaffe des Dorfes ein.

Ich

>var einer der ersten Ankömmlinge und sah noch, wie die Einwohner, Männer, Frauen und Kinder in die Keller flüchteten.

Mehre Leute, denen ich das erzählte, waren'der Meinung, ich wäre gar zu schnell gelaufen, aber wo Michel Ney zurückwich, durste gewiß

auch Joseph Bertha unbeschadet seiner Ehre das Feld räumen. Klipfel, Zebedäus, der Sergeant Pinto und die übrigen Bekannten

von der Compagnie befanden sich noch auf fteiem Felde, als ich plötzlich ein betäubendes Krachen vernahm.

Rauchwolken stiegen aus den Dächern

auf, die Ziegeln fielen zertrümmert auf die Straße, Kugeln zerschmetter­ ten das Gebälk und zerschlugen die Mauem mit furchtbarem Getöse.

Zu gleicher Zeit sah ich von allen Seiten durch die Gaffen,

über die

Hecken und Gartenzäune unsre Soldaten in wilder Flucht daherstürmen. Die wirre Maffe Regimenter.

bestand

aus

den Mannschaften der

verschiedensten

Die meisten waren ohne Tschako, zerriffen, mit Blut bedeckt,

saft alle, aber waren blutjunge, bartlose Bürschchen, fast halbe Kinder zwichen 15 und 20 Jahren.

Dennoch hielten sie von Zeit zu Zeit im

Laufen inne, um auf den nachdringenden Feind Feuer zu geben. Hinter ihnen erschienen die Preußen.

Sie waren von älteren Offi­

zieren kommandirt, die sie durch ein unaufhörliches:

wärts!" anzufeuern, suchten.

„Vorwärts, vor­

Im Eifer der Verfolgung sprang fast einer

über den andern hinweg.

Eine Anzahl der Flüchtigen, ich unter ihnen, hatten inzwischen an der Ecke einer Scheune Posto gefaßt, von wo aus wir uns nach Kräften bemühten, den Feinden durch unser Feuer das Uebtzrklettern einer kleinen

Mauer zu erschweren, die sie ein wenig aufhielt.

Zwischen uns befand

sich ein Garten mit blühenden Kirschbäumen und einem kleinen Bienen­ hause.

Ich sehe das Alles heute noch vor mir.

Wie viele Preußen von unsern Kugeln getroffen, in die nachdringende

Maffe zurückstürzten weiß ich nicht zu sagen — aber die Lücken füllten sich immer wieder.

Hunderte von Kugeln

pfiffen um unsere Ohren,

Die Schlacht bei Lützen.

SStz

platteten sich an den Mauem ab und schlugen den Kalkanwurs hemnter;

das Stroh hing in langen Strähnen von dem zerrissenen Dache,

große Thor war von Kugeln durchbohrt.

das

Wir luden hinter der Scheune

und sprangen dann rasch vor, um in die Masse der Feinde zu schießen

— dessenungeachtet waren schon 5 oder 6 Mann von uns gefallen.

Sie

lagen mit dem Gesicht an der Erde, aber unsre Erbitterung war so groß, daß wir kaum darailf achteten.

Als ich etwa zum zehnten Male hinter die schützende Scheune zurück­ springen wollte, fiel mir das Gewehr aus der Hand.

um es aufzuheben und stürzte selbst darauf nieder.

Ich bückte mich, Ich

hatte

eine

Kugel in die linke Schulter bekommen und das Blut floß mir heiß über die Brust herab.

Ein Versuch mich zu erheben mißglückte — Alles,

was ich zu thun vermochte, war, mich gegen die Mauer zu lehnen. Das

Blut rieselte mir jetzt bis auf die Hüfte herab. war,

Mein nächster Gedanke

daß ich hier sterben müßte und dabei überkam mich ein tiefes

Grauen.

Meine Kameraden fuhren fort, über meinen Kopf hinweg zu seitens,

die Preußen antworteten.

Ich fürchtete, daß eine zweite Kugel mich

treffen könnte, und mit der ganzen Kraft meines rechten Armes klam­

merte ich mich an die Ecke der Mauer, uni mich von der gefährlichen Stelle fortzuschleppen.

Graben,

Ich rollte bei dieser Anstrengung in einen Keinen

welcher bestimmt war,

Garten zu führen.

das

Wasser von der Straße in den

Mein linker Arm war schwer wie Blei — Alles

drehte sich mit mir im Kreise.

Ich hörte das Gewehrfeuer noch, aber

nur wie im Traume.

Als ich wieder zu mir kam,

brach eben die Dämmerung herein.

Die Preußen passirten das Gäßchen im vollen Laufen. Masse in das Dorf eingedrungen.

den

blühenden Kirschbäumen

Sie waren in

In dem Garten gegenüber unter

hielt ein alter preußischer General

mit

weißem Haar und unbedecktem Haupte auf einem großen, braunen Pferde

Er befahl mit wahrer Trontpetenstimme, Kanonen herbeizubringen und seine Adjudanten sprengten davon,

um seine Befehle weiter zu tragen.

Auf jener kleinen von Leichen umgebenen Mauer stand ein Wundarzt,

der dem General den Arm verband.

Hinter ihm hielt ein russischer

Offizier von sehr kleiner Gestalt ebenfalls zu Pferde.

Er trug einen

270

Die Schlacht bei Lützeü.

Hut mit grünem, lang herabfallendem Federbusch.

Ich sah Alles das

mit einem eiiyigen Blicke: den alten General mit mächtiger Nase, breiter

Stirn, lebhaften Augen und martialischem Wesen, den Wundarzt, einen kleinen, kahlköpfigen Mann, der eine Brille trug — und im Hintergründe des Thales, etwa 500 oder 600 Schritt von mir, zwischen zwei Häusern

unsre Soldaten, die sich sammeltm. Das Schießm war im Moment eingestellt — aber plötzlich hörte ich, wie sich zwischen Klein-Görschen und Kaja ein furchtbares, entsetz­ liches Geschrei erhob — ich hörte schwere Räder heranrollen,

wiehern, Peitschen knallen und wilde Flüche ausstoßen!

Pferde

Ohne recht zn

wiffen warum, schleppte ich mich mit dem Aufgebot meiner letzten Kräfte

aus dem Wege, um mich wieder an die Mauer zu lehnen — und fast

in demselben Augenblicke bogen zwei Sechszehnpfünder, jeder mit sechs Pferden bespannt im vollen Galopp

um die Ecke des ersten Hauses.

Die Artilleristen peitschten auf ihre Pferde,

was sie konnten und die

Räder drangen tief ein in die Haufen von Todten und Verwundeten. Die zermalmten Knochen krachten — ich wußte jetzt, was das Geschrei,

das ich vorhin hörte, zu bedeuten hatte und das Entsetzen trieb mir die Haare zu Berge!

„Hierher!" schrie der alte General.

„Dorthin richten, zwischen jene

beiden Häuser beim Brunnen!" Die Geschütze waren im Moment abgeprotzt;

kamen im Galopp herbei,

die Munitionswagen

der weißköpfige General,

der jetzt den Arm

in der Binde trug, ritt in dem Gäßchen herauf, indem er in befehlmdem

Tone zu dem jungen russischen Offizier sagte: „Melden Sie dem Kaiser Alexander,

daß ich in Kaja bin.

Die

Schlacht ist gewonnen, wenn man mir die nöthige Verstärkung schickt. Man soll nicht berathen, man soll handeln!

Mr haben einen furcht­

baren Stoß zu ermatten. Napoleon kommt — ich fühle das.

In einer

halben Stunde haben wir ihn und feine Garden auf dem Nacken. werde Stand halten, koste es, was es wolle.

Ich

Man soll nur um Gottes­

willen keine Zett verlieren ... dann ist der Sieg unser." Der junge Mann entfernte sich im Galopp auf der Straße nach

Klein-Görschen, während ich neben mir eine heisere Stimme sagen hörte:

Die Schlacht bei Lütze».

271

„Der Alte da — das ist Blücher ... Satan .. toemt ich meine Flinte hätte!" Ich wendete den Kopf und sah einen alten magern Sergeanten,

mit tiefen Falten und Runzeln auf Stirn und Wange, welcher am Thor

der Scheune lehnte und sich auf seine beiden Hände wie auf Krücken stützte, denn eine Kugel hatte ihm die Rippen zerschmettert. unterlaufnen Augen

folgten

Seine , gelb

dem preußischen General mit schielendm

Blickm, seine große, wachsbleiche Nase bog 'sich, wie der Schnabel eines

Vogels, nach dem mächtigen Schnurrbarte herab. „Hätte ich nur meine Flinte," sagte er noch einmal, „ich wollte Dir zeigen, wer die Schlacht gewonnen hat!"

Wir waren die beiden einzigen lebenden Wesen in der Nähe.

Mngs-

um lagen Leichen. Als ich daran dachte,

daß man mich morgen vielleicht mit alle

den Todten, die hier und gegenüber im Garten lagen, begrabm würde, tiefen mir die Thränen über die Wangen und ich konnte mich nicht «nt-

.halten zu seufzen: „Nun ist Alles vorbei!" Der Sergeant sah mich von der Seite an — als er bemerkte, wie jung ich noch war, fragte er mich:

„Was hast Du denn, Rekmt?" „Eine Kugel in der Schulter, Sergeant."

„In der Schulter — nun das ist besser als in den Rippen — man kann davon kommen;" und als er mich dann eine Weile angesehen hatte, fügte er mit milderer Stimme hinzu: „Mach' Dir keine Sorgen,

Rekmt, Du wirst Dein Vaterland Wiedersehen." Er hatte Mitleid mit meiner Jugend und wollte mich trösten, aber ich fühlte meine Brust wie zerschmettert und das nahm mir alle Hoffnung.

Der Sergeant sagte nichts mehr.

Ich sah nur, wie er von Zeit

zu Zeit eine Anstrengung machte, um den Kopf zu erhebm und zu sehm, ob unsre Truppen noch anrückten.

Endlich murmelte er einen Fluch

zwischen den Zähnen und ließ sich kraftlos in die Ecke des Thorweg«

stufen.

„Es ist aus mit mir," sagte er bann, sich noch einmal zu mir wendend, „aber ich habe doch den großen Satan dort mit gleicher Münze

bezahlt."

272

Die Schlacht bei Lützen. Ich suchte der Richtung seiner Augen zu folgen und erblickte in

geringer Entfernung an einer Hecke einen preußischen Grenadier,

der

auf dem Rücken lag, das Bajonett noch in der Bmst. Es mochte jetzt 6 Uhr sein.

Der Feind hatte Häuser und Gärten,

die Hauptgasse und alle Seiteugäßchen des Dorfes in Besitz.

Ich fror

und fühlte alle meine Glieder erstarrt — ich hatte den Kopf auf die Kniee gelegt und eine Art dumpfer Betäubung fing an sich meiner zu

bemächtigen, als ich noch einmal vom Kanonendonner aufgeschreckt wurde.

Die zwei in dem gegenüberliegenden Obstgarten aufgestellten Sechszehnpfünder, sowie mehre andre, weiter oben im Dorfe postirten Geschütze feuerten schon seit längerer Zeit und das aufblitzende Pulver beleuchtete

die Hauptgasse, in der sich Preußen und Russen hsiidrängten, wie ein dunkler Strom.

Auch aus den Fenstern wurde geschossen,

Alles klang wie Kinderspiel gegen die Kanonade,

aber das

welche plötzlich von

einer Batterie von 80 Geschützen eröffnet wurde, die der Kaiser auf dem

gegenüberliegenden Hügel hatte auffahren lassen, und unter deren Schutze jetzt die junge Garde in geschloffenen Reihen und im Sturmschritt heran­ Der Ponne,r dieser 80 Kanonen erschütterte, trotz der Entfernung,

kam.

das alte Gebäude, an dem wir lehnten, in seinen Grundvesten.

In der

Dorfgasse nahmen die Kugeln Preußen und Russen reihenweise hinweg.

Sie fielen wie reifes Korn unter der Sense. Hinter mir hörte ich die feindliche Artillerie antworten.

Ich hatte

nur noch einen Gedanken: „Wenn jetzt die Franzosen siegen, so werden sie ihre armen Verwundeten aufsuchen können — behaupten die Preußen

und Russen das Feld, so müssen wir Alle elend zu Grunde gehen, denn

sie werden sich gewiß zuerst um ihre eignen Leute kümmern." Ich beachtete jetzt nicht mehr den Sergeanten, sondern richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf die preußischen Kanoniere.

Ich sah, wie sie

ihre Geschütze luden, wie sie zielten und feuerten, indem ich im Grunde

meines Herzens ihre Geschicklichkeit verwünschte.

Mit Entzücken lauschte

ich dagegen dem „Vive l’Empereurl“, das, wie ich in den Intervallen

des Kanonendonners deutlich wahrnahm, immer lauter im Thale heraus­ drang. Endlich, nach etwa zwanzig langen Minuten, singen die Alliirten

an zu weichen.

Sie passirten in Masse das Gäßchen,

an dem ich -lag,

273

Die Schlacht bei Lützen. um sich gegen

den Abhang

FEmpereur!“ näherte sich.

zu werfen.

der Hügelkette

Das

„Vive

Die Kanoniere vor mir im Garten schossen

mit rasender Schnelligkeit, bis 3 oder 4 Kugeln in ihrer Mitte einschlugen, ein Rad zerschmetterten und sie mit Erde überschütteten.

Eins der Ge­

schütze fiel zur Seite, zwei Artilleristen wurden gelobtet, zwei verwundet.

In diesem Moment fühlte ich mich am Arme ergriffen.

Ich drehte

mich um und blickte in das erdfahle Gesicht des sterbenden Sergeanten, der mich mit einem triumphirenden wilden Lachen ansah.

Das Dach

der Scheune über uns drohte zusammen zu brechen, die Mauern bebten

und wankten — aber tvir hatten für Alles das weder Auge noch Ohr. Wir sahen nichts als den Rückzug des Feindes,

wir hörten durch das

Toben der Schlacht nur den Ruf unsrer Soldaten, der immer näher und näher kam.

„Da ist er!" rief plötzlich der Sergeant.

Dann richtete er sich

mühsam aus, ließ sich auf die Kniee sinken, und indem er sich mit einer Hand auf die Erde stützte, die andere hoch empvrhvb, rief er mit don­ nernder Stimme: „Vive FEmpereur!“

Dann fiel er mit dem Gesicht

zur Erde und regte sich nicht mehr. Auch ich beugte mich vor, um besser sehen zu können, und erblickte Napoleon, der mitten im Gewehrfeuer hinritt.

Er hatte den Hut fest

auf den großen Kopf gedrückt, der graue Ueberrock stand offen, über der weißen Weste war ein breites rothes Band sichtbar.

Sein gelbes

Gesicht war kalt und ruhig; der Schimmer der Bajonette schien es blitz­

artig zu erleuchten.

Alles wich vor ihm zurück.

Die preußischen Kanoniere verließen

ihre Geschütze und sprangen über die Gartenmauer,

trotz des Zurufs

ihrer Offiziere, die sie zurückzuhalten suchten.

Alles, was ich damals gesehen, hat sich wie mit Flammenschrift in

mein Herz und mein Gedächtniß gegraben.

Erst in dem Moment, wo

der Anblick des Kaisers mir die Gewißheit unsres Sieges gab, verlor

ich das Bewußtsein. Vom weiteren Verlauf der Schlacht weiß ich nichts zu sagen, denn ich lag gleich einem Todten unter den Todten.

Äerti|*e tt'tmt. in. s. Heft. isgs.

18

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland seit -er ersten Theilung Polens. Von Dr. Alfons v. Domin-Petrushevecz.

n., Während sich in Polen das blutige Drama abspielte, das mit dem

Untergange und der Zerstückelung

des Wahlkönigreiches enden sollte,

waren in Frankreich nicht minder schreckliche Ereignisse rasch aufeiMnder

gefolgt.

Wir haben der Ursachen, welche Rußland von einem thätigen

Eingreifen in den ersten Kämpfen abhielten, und des österreichisch-russi­ schen Vertrages vom 14. Juli 1792 schon oben gedacht.

Zwar hatte

Katharina II. schon vor dem unglücklichen Ende des Königs Ludwig

ihren Gesandten von Paris abgerufen, später, am 8. Februar 1793 erließ sie einen Ukas, durch welchen der mit Frankreich am 30. Dezember 1786

geschloffene Handelsvertrag

für aufgehoben erklärt, jeder Handel mit

jenem Lande verboten, den in Frankreich weilmden russischen Unterthanen der Auftrag heimzukehren ertheilt, und den in Rußland domicilirenden Franzosen befohlen wurde, das Land zu verlassen oder den Grundsätzen

der französischen Revolution nach einer vorgeschriebenen Eidesform öffent­ lich abzuschwören, und mit Edikt vom 19. April 1793 wurde diese Ver­

ordnung rücksichtlich der verbotenen französischen Waaren durch genaue

Vorschriften ergänzt.

Dabei blieb es aber auch.

Eine aküve Bethei­

ligung am Kampfe war von der in nächster Nähe vielfach thätigen Kai­ serin nicht zu erlangen, und die mit England am 25.

geschloffene Allianz blieb

März 1793

insoweit trotz allen Drohungen der Kaiserin

unftuchtbar.

Damals war es Wlhelm Pitt, welcher nach dem unglücklichen Feld­ zuge der Oesterreicher und Preußen vom Jahre 1792 und nach der Kriegs-

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich unb Rußland.

275

erklärung Frankreichs an England am 1. Februar 1793 die Ausbrei­ tung und Festigung der Coalition gegen die junge Republick sich zur Lebensaufgabe stellte.

So schloß England auch den erwähnten Vertrag

mit Rußland, Allianzen mit Sardinien (23. April), mit Spanien (25. Mai), mit Neapel (12. Juli), mit Preußen (14. Juli), mit Oesterreich (30. Aug.) mit Portugal (26. September), mit Toskana (28. October); zahlreicher

Subsidientraktate mit deutschen Fürsten nicht zu gedenken, Verträge, welche

alle den Krieg gegen Frankreich, die gänzliche Handelssperre gegen daffelbe, ja sogar die Verhinderung des Handels der Neutralen mit diesem Staate zum Gegenstand hatten, da man sich gegenüber Frankreich, mit Rücksicht

auf den außergewöhnlichen Charakter des Krieges, der Regeln des Völker­ rechtes ledig glaubte, und das durch das allgemeine Aufgebot von Feld­ arbeitern entblößte Land nicht nnnder durch den Hunger, als durch die

Waffen zu bezwingen hoffte.

Daß dieser Plan nicht gelang, ist bekannt.

Es würde uns aber zu weit von dem Gegenstände unserer Aufgabe entfernen, auf die in hohem Grade interessanten Verhandlungen mit

den neutralen Mächten einzugehen; namentlich mit Dänemark, Schweden

und den vereinigten Staaten von Nordamerika, zu denen die gewaltsamen Maßregeln, die im Gefolge solcher Principien auftreten, den Anlaß gaben

Die im Jahre 1793 errungenen Siege der Coalition wurden durch die Niederlagen des Jahres 1794 gänzlich ausgewogen.

England durch

seine Gesandten in Petersburg und Wien Lord Charles Whitworth'und

Sir Morton Eden unterhandelte wegen Erneuerung der AllianM vom

25. März und 30. August 1790.

Das russische Ministerium Oster­

mann, Besborodko, Marcoff — und der Staatskanzler Baron Thugut,

damals seit dem Rücktritt und den im selben Jahr erfolgten Tod Kaunitz's

(27. Juni 1794), Minister der auswärtigen Angelegenheiten in Oester­ reich, gingen bereitwillig darauf ein, so kam der St. Petersburger Ver­

trag zwischen Rußland und England am 18. Februar, Md der SBioter Vertrag zwischen Oesterreich und England vom 20. Mai 1795 zu Stande welche durch den in einer Erklärung Lord Whitworths von Petersburg 28. September 1795 enthaltenen Beitritt Großbritanniens zu der zwischen

Oesterreich und Rußland bestehenden

Verbindung zu einer förmlichen

Truppen-Allianz umgestaltet wurden.

Garantie der gegenseitigen Besitz­

ungen, bewaffnete Hllfe im Falle eines Angriffes und Wiederherstelluns

18*

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.

276

des Friedens und der Ruhe in Europa waren die ausgesprochenen Ziele dieser Verträge.

Inzwischen aber war die erste Coalition schon in der Preußen hatte am 5. April, Spanien am 22. Juli

Auflösung begriffen.

1795 zu Basel seinen Separatfrieden mit der Republik geschloffen, Sar­ dinien folgte mit dem Pariser Frieden am 15. Mai 1796.

So trat ein

Staat nach dem andern aus der Waffenbrüderschaft und aus dem System

der Handelssperre gegen Frankreich.

Oesterreich allein hielt noch das

Schwert in der Haud, denn Rußland, ungeachtet der Allianz, begnügte sich ein Geschwader in die Nordsee zu senden, das man eben dort, nicht

sehr nöthig hatte. Mantuas

Der italienische Feldzug vom Jahre 1796, der Fall

am 2. Februar 1797 und

das unaufgehaltene Vordringen

Bonapartes von Süden her, führte nun aber auch Oesterreich zudem

Präliminarfrieden von Leoben — 1797 — und zum Friedensschluß von Campo formio — 17. October 1797. — Paul I. aber folgte anfänglich

der Politik seiner großen Mutter, indem er bei aller Parteinahme gegen Frankreich voll thätigem Eingreifen in den Kampf sich fern hielt und nur die Handelssperre gegen die Republik fortbestehen ließ, dabei sollte jedoch

die

Einfuhr

von ftanzösischen Weinen,

Sardellen und gewissen holländischen

Provenceröl,

Kapern,

Waaren auf neutralen Schiffen

gestattet sein. — Zwei Ukase vom 22. Januar 1797. — Werden die Beziehungen zweier Staaten

zumeist durch die Welt­

lage und ihre Verhältnisse zu dritten Mächten bestimmt und kann demMch eine Skizzirung und ein Verständniß jener Beziehungen ohne Rück-

sichtnahme auf diese Verhältnisse nicht statt finden, so ist dieß um so mehr in einer Zeit der Fall, wo gewaltige

historische Ereignisse ihren Rück­

schlag auf alle Staaten und ihre Beziehungen äußern.

Auch für unsere

Zwecke müssen wir demnach, sollen wir ein klares Bild der Stellung Oesterreichs zu Rußland, während

der französischen Republik und des

ersten Kaiserreiches gewinnen, die allgemein europäischen Verhältnisse im Auge behalten. Deßwegen die scheinbare Abweichung von unserem Gegen­

stände. Mannichfalttge Gründe führten schon ein Jahr nach dem Frieden

von Campo Formio die zweite Coalitton gegen Frankreich herbei.

Das

gewaltsame Vorgehen der Republik in Italien und der Schweiz, die auf dem Rastatter Congreß sich ergebenden Schwierigkeiten, der Unwille der

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.

277

Pforte über die Ereignisse in Aegypten, vor. allem aber der Haß Eng­ lands und der durch die Einnahme Maltas wachgerufene Zorn des kai­

serlichen Großmeisters der Johanniter, Paul's I., verbunden mit dem Sieg

Nelsons bei Abukir, durch welchen der Moment zum gemeinsamen Vor­

gehen bezeichnet zu sein schien, müssen hier genannt werden.

Diesmal

aber sollte Rußland nicht unthäüg bleiben.

In Wien war bereits am 19. Mai 1798 zwischen dem Minister Baron Thugut

und

dem Gesandten des Königs

beider ©teilten ein

Allianz-Vertrag für den Fall eines Angriffes von Seiten Frankreichs geschlossen worden.

Oesterreich

und

Bald darauf begannen Unterhandlungen

Rußland

wegen

abermaliger

Erneuemng

Allianzen und wegen des Durchmarsches russischer Truppen.

zwischen

der

alten

Schon im

August 1798 war der geheime Vertrag geschloffen.

Im Gegensatz zu der früheren Politik des Hinhaltens war Paul I. nun der eifrigste Förderer der zweiten Coalition geworden. Am 29. Novbr.

1798

wurde

zu

St. Petersburg

von Beszborodko, Kotschubey

und

Rostopschin ein Allianzvertrag mit dem Herzog von Serracapriola dem

Gesandten Siciliens, am 23. December desselben Jahres zu Konstanti­ nopel zwischen dem russischen Gesandten Wassili Tamara und den tür­

kischen Bevollmächtigten Esseid Ibrahim Jhmet, und Achmet Att der Vertrag mit der Pforte geschloffen, welche bereits am 12. September an

Frankreich den Krieg erklärt hatte.

Endlich am 29. December 1798

schloß Lord Whitworth den formellen Allianz-Vertrag zwischen England

und Rußland mit dem genannten russischen Ministerium ab.

Zurück­

führung Frankreichs auf seine alten Grenzen, wie sie vor der Revolution

bestanden, wurde als Zweck des Bündnisses bezeichnet, 45,000 Mann

russische Truppen sollten sich mit der Armee Preußens, dessen König man für die Coalition zu gewinnen hoffte, zu gemeinsamen Operationen ver­ einigen, und England versprach die erforderlichen Subsidien zu zahlen. Allein Preußen blieb der seit dem Baseler Frieden gewahrten ReutraliM

getreu. Ein späterer russisch-englischer Vertrag vom 22. Juni 1799 setzte

die Cooperation beiderseitiger Truppen in Holland fest und eine weitere Convention vom 29. Juni bestimmte, daß bei dem Umstand, daß der

König von Preußen die Neutralität aufzugeben nicht zu bewegen sei, die

278

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.

im Vertrag vom 29. November 1798 erwähnten 45,000 Mann auch anderwärts als im Vereine mit Preußen gegen Frankreich agiren sollten. Auch

Machado,

mit dem Gesandten

wurde

am

Portugals,

28. September

dem Herm

von

Horta

1799 ein Freundschafts- und

Allianzvertrag vereinbart.

Unterdessen hatte der Krieg im November 1798 in Neapel, im Früh­

jahre 1799 in Deutschland begonnen.

60,000 Mann Russen waren im

December 1798 über die galizische Grenze gegangen.

Suworow führte

sie im April nach Jtalim, vereinigte sich mit der österreichischen Armee, welche inzwischm unter Krug erfolgreich gekämpft hatte, und übemahm am 16. des genannten Monats den Oberbefehl

über

die gesammten

österreichisch-mssischen Tmppen in Italien. Der Feldzug der vereinigten Armeen war ein glänzender.

Leider

daß die guten Beziehungen der Alliirten das Jahr nicht überdauerten

und ein unglückliches Ende den glänzenden Beginn zu nichte machen mußte. Eifersüchteleien zwischen den. Tmppen und Regiemngen gaben den Anlaß

zur Spaltung.

Die

österreichischen Heerführer

mochten

nur

ungern dem Oberbefehl Suworows sich fügen; daß Oesterreichs Einfluß

in der Schweiz zu mächtig werden könnte, ward von Rußland, daß die Anwesenheit mssischer Truppen das Ansehen

Oesterreichs

schmälern möchte, ward von Oesterreich gefürchtet.

in Italien

Man kam zwar int

September 1799 überein, daß um Reibungen zu vermeidm, die Russen

unter Suworow und Korsakow, etwa mit einem kleinen österreichischen Corps in der Schweiz, hingegen die Oesterreicher allein in Italien streiten sollten; aber eben die dazu erforderlichm Tmppenmärsche benutzte Massma,

um die Truppen beider Mächte aus der Schweiz zu drängen, und die Einnahme Anconas, das obwohl durch die vereinte österreichisch-russisch-

üttkische Macht erobert, von dem österreichischen General Fröhlich doch nur für seinen Monarchen in Empfang genommen wurde, steigerte die beginnende Erbitterung Pauls I. gegen Oesterreich, aller angewandtm Versuche, das Mißverständniß

zu heben ungeachtet, auf das höchste.

Der in dieselbe Zeit fallende unglückliche Ausgang der Expedition in

Nordholland ließ auch die Freundschaft des Zaren für England «falten.

Im Januar 1800 wurdm die mssischen Corps zurückbemfeu und auch die zweite Coalition war getrennt.

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.

279

Oesterreich setzte den Kampf während des Jahres 1800 gegen den aus Aegypten wunderbar zurückgekehrten Napoleon in Italien und gegen Moreau

in Deutschland fort. Doch verniochten die Gelder Englands, mit welchen am 20. Juni ein Anlehens-Vertrag war abgeschlossen worden, den Abgang der russischen Truppen nicht zu ersetzen. Bereits im Juli begannen Waffen­ stillstandsunterhandlungen und am 9. Februar von Lnneville geschlossen.

Hatte die engere Verbin­

Hofes ein gänzlicher Umschwung eingetreten.

dung

1801 ward der Friede

Inzwischen war in der Politik des russischen

mit Oesterreich eine Entfernung von Preußen zur Folge gehabt,

das seit dem Baseler Frieden mit Oesterreich in gespanntem Verhältnisse

staub, so führte der Bruch mit letzterem zu engerem Anschluß an ersteres.

England, vor Kurzem noch Pauls I. treuester Bundesgenosse, ward nun

von diesem bitter gehaßt.

Den nordischen Mächten suchte er sich wieder

zu nähern und die Gnmdsätze der bewaffneten Neutralität, welche Katha­

rina II. und er selbst gegen Frankreich vielfach verletzt hatten, zum Nachtheile Englands wieder zu beleben. Bereits im August 1800 begannen die diesfälligen Unterhandlungen

Rußlands mit Schweden, Dänemark und Preußen, als deren Resultat

die mit den Vertretern dieser drei Mächte, dem Baron Stedingk,. Niels Rosenkrantz und Graf von Lust am 16. und 18 schlossenen Verträge

der sogenannten

zweiten

December 1800 abge­

bewaffneten Neutralität

angesehen werden müssen, welche dadurch, daß jede einzelne der vier Mächte den Verträgen der übrigen drei beitrat, den. Charakter einer

Quadrupel-Allianz annehmen,

auf die

wir jedoch mit Rücksicht auf

unseren Gegenstand hier nicht näher eingehen können.

Graf Rostopschin,

welcher damals an der Spitze des Collegiums der auswärtigen Angele­

genheiten in Rußland stand, hatte die Uilterhandlungen geleitet.

Wie

diese Verträge fast zum Kriege zwischen England und Rußland geführt haben, wie aber nach dem am 25. März 1803 erfolgten Tode Pauls I.

gleichwohl die Schwierigkeiten durch die mit dem Grafen Panin unterhan­ delte

Seeconvention vom

17. Juni

1801

zwischen

Georg III. und

Alexander I. beseitigt und wie durch diese Convention die Grundsätze der

bewaffnete^'Neutralität alterirt wurden, das liegt glei." falls außerhalb

der Grenzen unserer Betrachtungen.

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.

280

Wie Oesterreich zu Luneville,

so

schloß

Rußland

zu

Paris am

8. October 1801, England zu Amiens am -H März 1802 mit Frankreich Frieden. Damals begann des russische Kabinet mit Beziehung auf das ver­ wandtschaftliche Verhältniß der Zaren zu der regierenden Famllie Wür-

tembergs und Badens unter dem bescheidenen Titel eines Vermittlers im Vereine mit Frankreich auf die Geschichte Deutschlands einen entschei­ denden Einfluß auszuüben, ohne daß es dem Grafen Franz Colloredo,

welcher nach dem Rücktritt Thugüts

kurz vor dem Luneviller Frieden,

die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten in Oesterreich übernommen hatte, gelungen wäre, diesen Einfluß dritter Mächte auf ein geringeres Maß zurückzuführen und den des deutschen Kaisers aufrecht zu erhalten. Dies kam folgendermaßen. schen

Reichsversammlung

zu

Die Artikel 5 und 7 des von der deut­ Regensburg

mit

Reichsgutachten

vom

7. März 1801, rücksichtlich der auf Deutschland bezüglichen Angelegen­

heiten, genehmigten Luneviller Friedens enthielten Bestimmnngen über die Entschädigung des Großherzogs Ferdinand III. von Toskana in Deutsch­ künd für seine an den Herzog von Parma abgetretenen

italienischen

Staaten und über die Entschädigung jener erblich regierenden Häuser

Deutschlands, welche durch die Abtretung des linken Rheinufers an Frank­ reich zu Schaden gekommen waren.

Die Art dieser in Deutschland selbst

zu suchenden Entschädigungen, welche demnach nur durch Sekularisation

zu erreichen waren, blieb besonderem Uebereinkommen Vorbehalten.

Schon mit Commissionsdecret vom 3. März 1801 forderte Kaiser

Franz die Reichsversammlung auf, sich über die Art

zu

äußern, in

welcher die Reichsstände an dieser zur Vollendung des Friedenswerkes

erforderlichen Verhandlung mitwirken wollten und am 30. April beschloß hierauf der Reichstag den Kaiser zu ersuchen, die gänzliche Berichtigung des Reichsftiedensschluffes einzuleiten und von der Festsetzung und Berich­

tigung die aus der Einleitung sich ergebenden Resultate, dem Reich zu einer neuen Berathung, deren Ergebniß zunächst der kaiserlichen Rati­ fikation vorzulegen sein werde, mitzntheilen.

Mag auch dieser Beschluß, welcher die Entschädigungsfrqge zunächst

in die Hände des Kaisers legte, dm Wünschen Preußens und Baierns wenig entsprochen haben, da diese von vom herein ihre Einflußnahme

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.

281

auf den Gang der Verhandlung sich gewahrt wissen wollten, und fürchten mochten vor dem Fomm des Kaisers, der mit Friedrich Wllhelm in.

auf schlechtem Fuße stand und seinen Bruder, den Großherzog mit zu entschädigen hatte,

zu kurz zu kommen : dennoch würde die Hauptver­

mittlerrolle dem Reichsoberhaupt zugefallen sein, die Fürstm des Rei­ ches hätten bei dem Umstande, daß Frankreich den Frieden mit Ruß­

land einer- und mit England andererseits noch nicht geschloffen hatte, nicht des französischen Cvnsuls und des russischen Zaren Vermittlung

zur Regelung der Entschädigungsfrage angerufen, und fremde Einmischung

in die deutschen Angelegenheiten wären vermieden^ worden, wmn der Kaiser den Ordonnanzen vom 30. April rasch seine Zustimmung ertheilt und die Ordnung und Zutheilung der zur Entschädigung bestimmten Gebietstheile sogleich kräftig in die Hand genommen hätte.

Allein das österreichische Kabinet zögerte nicht nur und gönnte dem Auslande Zeit, nach allseitigem Friedensschlüsse in die deutschen Händel

sich einzumischen, es faßte auch einen Entschluß, der, statt den Einfluß

des Kaisers zu heben, ihn geradezu untergraben mußte.

Man mochte

vielleicht erwartet haben, der Reichstag werde, so wie er den Abschluß

des Luneviller Friedens von Seite des Kaisers im Namen des Reiches billigte, dem Reichsoberhaupte auch zur Ausführung desselben und zur Regelung der Entschädigungen unumschränkte Vollmacht ertheilen;

da

nun dies nicht geschah, so übersah man auch die noch immer großen

Vortheile, welche im Anträge des Reichstages lagen, wies denselben zu­

rück, ertheilte mit Hosdecret vom 26. Juni der Mitwirkung des Kaisers

in der gewöhnlichen Form der Reichsberathung seinen Beifall und hob ausdrücklich hervor, daß auch Frankreich, welches den Luneviller Friedm

geschloffen, bei dessen Ausführung mitzuwirken habe. Kaiser Franz gab durch diese Entschließung allerdings seine Un­ eigennützigkeit

und Unparteilichkeit kund,

so

wie

den Eifer

den im

Luneviller Frieden gegen Frankreich übernommenen Verpflichtungen ge­ recht zu werden, allein das Kabinet, welches dem Kaiser dieselbe empfahl,

beging einen politischen Fehler,

dessen Folgen nicht ausbleiben konnten.

Daß die Reichsversammlung unter sich mit der Entschädigungsfrage

nicht zu Ende kommen würde, lag auf der Hand; hatte doch der schwer­ fällige Organismus derselben in Dingen, bei welchen die Interessen der

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und' Rußland.

282

Reichsstände bei weitem so lebhaft nicht betheiligt waren, die Erledigung

ins Unendliche verschleppt.

Hier war eine kräftige Hand nothwendig,

um Ordnung in das Chaos zu bringen. Die Reichsversammlung sah dies selbst ein und beschloß,

Gang der Verhandlung wenigstens etwas zu beschleunigen,

um den

die Ent­

schädigungsfrage durch eine außerordentliche Reichsdeputation verhandeln zu lassen. —

Diese sollte aus vier Mitgliedern des Kurfürstencollegiums

Sachsen,

Mainz,

und aus vier des

Böhmen, Brandenburg —

Fürstencollegiums — Baiern, Würtemberg, der Großmeister des deutschen Am 7. November 1801 geneh­

Ordens und Hessen-Kassel — bestehen.

migte der Kaiser diesen Beschluß, ohne jedoch vorläufig Ort und Zeit für

die Zusammenkunft der Reichsdeputation festzusetzen.

Inzwischen hatten Frankreich und Rußland Frieden geschloffen und Graf Marcoff ging als Gesandter Alexander's I. nach Paris.

Schon

hatte der Kurfürst von Baiern in seinem Partikularfrieden mit Frank­

reich vom 24. August 1801

ments

bei

der

im

den Einfluß des französischen Gouverne­

Luneviller Frieden

angelegenheit für sich in Anspruch Staaten Deutschlands,

vorgesehenen

genommen.

Entschädigungs­

Und

nun eilten alle

welche Entschädigung anzusprechen hatten,

Mtwirkung Rußlands oder Frankreichs bei dem zu ihren Gunsten sich zu versichern.

der

Entschädigungswerke

Besonders lebhaft wurden hierauf

bezügliche Verhandlungen seit dem Beginne des Jahres 1802 in Paris geführt, zwischen deutschen Fürsten und Ständen einer-, dann dem fran­ zösischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Talleyrand und dem

Chef des

deutschen

Departements

Mathieu, andererseits.

dieses

Ministeriums,

dem Bürger

Graf Marcoff nahm an diesen Unterhandlungen

lebhaften Antheil und selbst Oesterreich stand anfänglich denselben nicht ganz fern.

Wir können auf einzelne dieser Negotiationen hier nicht eingehen: am

4. Juni

1802

ward

zu Paris

zwischen

der

französischen und

russischen Regierung, welche die ihnen nahe gelegte Vermittlerrolle mit Eifer ausgenommen hatten, eine

förmliche Convention über die Ent­

schädigungen in Deutschland geschloffen, da nach ihrer Ansicht eine mäch-

ttge auswärtige Jnterventton das einzige Mittel war,

Werk friedlich zu vollenden.

das schwierige

Diplomatische Beziehungen zwischen Oesterreich und Rußland.

283

In Folge dieses Vertrages wurden dann am 16. Juli 1802 zu

St. Petersburg von dem Fürsten Kurakin und am 6. August desselben Jahres zu Paris von Talleyrand zwei gleichlautende Erklärungen unter­

zeichnet, welche einen ausführlichen Plan über die deutschen Entschä­ digungen

enthielten und

der

inzwischen mit Commissionsdecret vom

23. Juli 1802 von Kaiser Franz nach Regensburg berufenen Reichs­ deputation am 18. August von Laforest, welchen Napoleon an die Reichs­ deputation entsendet hatte, und Herrn von Klupffell, dem russischen Ge­

sandten am Reichstag, als Grundlage ihrer Verhandlungen überreicht

wurde.

Vorsitzender der Reichsdeputation war der österreichische Bevoll­

mächtigte Baron Hügel, von Seiten Rußlands intervenirte später noch der

Gesandte des Zaren am kurfürstlichen Hof von Baiern, Freiherr von Buhler.

Auf Grundlage der obigen Erklärungen kam endlich nach mehr­

fachen Modifikationen und Zusätzen, welche durch Reclamationen der Interessenten veranlaßt wurden, am 25. Februar 1803 der Reichs­

deputationshauptschluß zu Staude.

Ehe jedoch das Reichsgutachten vom 24. März 1803, mit welchem dasselbe dem Kaiser vorgelegt wurde, von letzterem am 27. April war

ratificirt worden, hatten sich die Stände zum großen Theile schon in

ben Besitz der ihnen von den vermittelnden Mächten zugedachten Ge­ biete gesetzt.

Auch die Entschädigung des Großherzogs von Toscana und des Herzogs von Modena war in Paris am 26. Dezember 1802 zwischen

dem österreichischen Gesandten Graf Philipp Cobenzl, Joseph Bonaparte

und Graf Marcoff vereinbart und dann in den Reichsdeputattonshaupt­ schluß ausgenommen worden.

So war Rußland in Deutschland mächttg geworden.

VMsmrthschafüiche Sriefe aus Deutschland. Berlin, den 20. Februar 1865.

Unser Abgeordnetenhaus hat sich in drei langen Sitzungen mit der

„socialen Frage" beschäftigt; die Veranlassung dazu bot ein von dm Abgeordnetm Schulze-Delitzsch und Dr. Faucher eingebrachter Antrag auf

Annahme eines Gesetzentwurfs, welcher die §§. 181 und 182 der allge­

meinen Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 aufzuheben bestimmt ist. Die ftühere preußische Gewerbegesetzgebung, wie sie im Zusammenhang mit den großen Stein-Hardenbergischen Reformen in's Leben genifen

wurde, beruhte bekanntlich

auf dem Princip der Gewerbefteiheit; die

Restaurationspolitik, welche unter der Regierung Friedrich Wilhelms IV.

den preußischen Staat durch Wiederbelebung seiner corporativen Gliede­ rung gegen die Stürme der Zeit in sich zu befestigen versuchte, ließ auch

die gewerblichen Zustände nicht unberührt.

Es kam ihr auf diesem Ge­

biete ganz besonders darauf an, den Handwerkerstand, der durch die

„zügellose Gewerbeftechheit" — so lautete das betreffende Schlagwort — „aus Rand und Band gekommen" war, wiederum zu „organisiren" und

„mit corporativem Selbstgefühl" zu erfüllen. Der Handwerkerstand sollte

einerseits gegen das Großgewerbe, andererseits gegen das Arbeiterprole­ tariat abgeschlossen und in sich selbst durch Jnnungsverbände gegliedert werdm. Im weiteren Verlaufe der Entwickelung, so hoffte man, würdm dan« diese Corporaüonen mit politischen Rechten bewidmet und dadurch

für

eine ständische

können.

Verfaffung

solide

Grundlagen

gewonnen werden

Das neunzehnte Jahrhundert erwies sich jedoch als ein sehr

undankbarer Boden für dergleichen romantische Ideen.

Es kann nicht

geläugnet werden, daß viele „kleine Handwerker", welche ohne Mldung

Bolkswirthschaftliche Briefe aus Deutschland.

285

und Besitz unter der Concurrenz der großen Industrie dahinkümmerten,

die von oben her mit bekannter Vorliebe gepflegten Ideen, mit mehr Eifer freilich als Einsicht, ergriffen, und in den politisch bewegten Tagen

der Jahre 1848 und 49 wurde neben

dem unklaren und ungestümen

Verlangen nach politischer Freiheit der Ruf nach Zunft und Zunftzwang

gerade aus diesen Kreisen heraus am lautesten gehört.

Von conserva-

tiver Seite wurde daraus mit Emsigkeit politisches Kapital gemacht; es wurde sogar im Jahre 1849 eine Novelle zur Gewerbeordnung octroyirt, welche „Gewerberäthe" einsetzte und diesen die Wahrung der Interessen

des Handwerkerstandes anvertraute. Lange hielten indessen die in Betreff

dieser Einrichtung gehegten Illusionen nicht vor; unter allgemeiner Gleich­ gültigkeit ist dieselbe, ohne daß es einer gesetzlichen Aufhebung bedurft hätte, in sich selber zusammengebrochen.

Die Fünftiger Jahre brachten

im Schooße des Handwerkerstandes eine gründliche Wandlung der Auf­

fassungen zu Wege; er erfüllte sich mehr und mehr mit deni Gedanken, daß er nur durch das Mttel der Selbsthilfe und zwar, wo die ver­

einzelte Kraft zu schwach erschien, der genossenschaftlichen Selbst­ hilfe zu einer Besserung seiner socialen Lage zu gelangen

vermöge.

Während die konservative Partei sich in unfruchtbaren Versuchen abmühte,

die Verfassung des Staates im ständischen Sinne zu revidiren — nur

das Herrenhaus ist als ein bleibendes Denkmal jener Tage auf uns ge­ kommen — machte das Bürgerthum eine gründliche volkswirthschastliche

Schule durch und klärte sich von jenen Elementen, die weniger durch eigene Arbeit als

Stellung innerhalb

durch Ausbeutung der Innung

der Vortheile, welche Amt und

gewähren,

emporzukommen bestrebt

waren. Die allgemeinen Wahlen der Jahre 1858 und 1861 zeigten, daß der Handwerkerstand, die eben characterisirten Ausnahmen abgerechnet,

fest zur liberalen Partei stand.

Das Bündniß der conservativen Partei

mit dieser verschwindenden Minderheit des Bürgerthums ist zwar noch

nicht gelöst; es hat sich dasselbe aber als ein völlig unfruchtbares er­ wiesen.

Die liberale Partei verfügt seit jenen Wahlen über die Mehr­

heit des Abgeordnetenhauses; sie hat zu verschiedenen Malen Versuch«

gemacht, zu einer gründlichen Reform der Gewerbegesetzgebung die Jnitiattve zu ergreifen,

ohne daß es indessen wegen äußerer Hindernisse zu

einer förmlichen Annahme der in das Haus eingebrachten Gesetzentwürfe

286

Volkswirtschaftliche Briefe auS Deutschland.

gekommen wäre; auch die Regierung hat ihrerseits das Bedürfniß einer solchen Reform nicht in Abrede gestellt. Es liegt auf der Hand, daß nach einer so gründlich vollzogenen

Klärung der Ansichten die conservative Partei aus der Begünstigung zünstlerischer Bestrebungen kein politisches Capital mehr machen kann. Der Handwerkerstand hat sich in eine überwältigende Mehrheit, die es

mit

der Gewerbefteiheit und mit der liberalen Partei hält, und in

eine verschwindende Mnderheit geschieden, welche auf Zunftzwang hin» arbeitet und deswegen bei den politischen Wahlen mit der conservativen

Partei stimmt. Für die letztere Partei ist aus einer weiteren Protection der Herren Panse und

Genossen

keine

weitere Verstärkung zu

er­

warten; sie hat sich daher in neuester Zeit ein anderes Feld ausgesucht, wo sie ihrm WeiM blühen zu sehen hofft, und sich auf die „Arbeiter­ frage" geworfen.

Wie sie einst den dritten Stand zu „organisireu" und

dadurch ihrm Plänen dienstbar zu machen versuchte, bis dieser, über seine wahren Interessen aufgeklärt, ihr kalt den Rücken wandte, so versucht sie jetzt, dem vierten Stande,

der arbeitenden Klaffe, es plausibel zu

machm, daß er sich „organisiren" müsse, um von der erdrückenden Wucht der Bourgeoisie nicht gänzlich zerquetscht zu werden. In Betreff der Or­

ganisation des dritten Standes konnte die conservative Partei ihre Ar­

muth an Ideen mit den malerisch aufgebauschten Bannem unserer chr-

würdigen Zünfte noch einigermaßen bedecken; aber für die Organisation des vierten Standes fehlt ihr jeder historische Anknüpfungspunkt.

Sie

hat sich daher darauf beschränkt, bei der „Socialdemokratie" neuesten

Datums eine Anleihe zu machen, obwohl diese ihr ganz offen erklärt hat, sich gelegentlich den gemachten Vorschnß nebst Zins und Zinseszins

zurückznfordern.

Wir in Deutschland haben lange Zeit in dem Glanben

gelebt, daß die sociale Frage,

welche die Vierziger Jahre mit ihren

phantastischen Lösungsversuchen in Aufregung erhielt, kein anderes Problem sei, als jenes Ideal zu verwirklichen, welchem die Menschheit in chrer geschichtlichm Entwickelung seit Anbeginn der Tage nachstrebt, und daß

die Ueberzeugung

davon zu

wenigsten fördern heiße.

verbreiten die

sociale

Frage nicht ant

Diese Auffassung leitet uns zwar auch hmte;

wir find indessen durch die Erfahrungen der letzten Jahre belehrt wor­

den, daß man hier und dort noch anders darüber denkt, und so spielt

sich denn gegenwärtig auf deutschem Boden ein matter Epilog zu dem

socialen Drama von 1848 und 49 ab. — Die genossenschaftliche Bewegung hatte in Deutschland sich über den Handwerkerstand hinaus auch auf jene

Schichten der Gesellschaft ausgedehnt, welche man gemeinhin mit dem Namen der „arbeitenden Klassen" zu belegen pflegt, auf jene unselbststän­

digen Gewerbtreibenden, welche in größeren industriellen Etablissements

auf Tagelohn oder in Accordarbeit beschäftigt sind.

Während es inner­

halb des Handwerkerstandes darauf ankam, eine in ihrer Existenz ge­ fährdete gewerbliche Selbstständigkeit vor dem Untergang zu bewahren

und dadurch einen gediegenen Mittelstand zu erhalten, handelt es sich, in

Betreff der arbeitenden Klaffen darum, den Weg zu finden, auf welchem

wenigstens eine ideale Selbstständigkeit sich erringen läßt, d. h. darum die Arbeiter zu ihren eigenen Unternehmern zu machen.

Es ist dies

eine der schwierigsten Aufgaben, welche jemals an die Gesellschaft heran­ getreten sind.

Es steht geschichtlich fest, daß ein Arbeiterstand, wie er

hier in Frage kommt, erst seit der Zeit sich entwickelt hat, wo es der

menschlichen Einsicht gelang, die Kräfte der Natur sich machen; Maschinenbetrieb

und

trennbare Entwickelungsphasen.

Arbeiterstand sind

von

dienstbar

zu

einander un­

Die moderne Industrie drängt immer

gewaltiger auf Ausdehnung der durch Maschinen geförderten Betriebs­

weisen hin und dem entsprechend wächst der Arbeiterstand täglich an Zahl und Macht und drückt den Handwerkerstand in den Hintergrund. Wenn diese Entwickelung der Industrie sich nun auch nicht hemmen läßt, ja,

wenn es selbst nur Wenige giebt, welche sie hemmen möchten, so ist doch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, ihren Einfluß auf die socialen Zu­ stände zu brechen und einer Desorganisation der Gesellschaft vorzubeugen, wie sie z. B. Nom und Italien in der späteren Kaiserzeit erlebt haben

und wie sie von schwarzblickenden Socialphilosophen für England pro-

gnosticirt wird.

Wer dieses Problem zu lösen weiß, der wird dereinst

als der Reformator der modernen Gesellschaft gepriesen werden.

Wo

ein solcher Ruhm als Preis der Lösung winkt, da ist es wohl nicht wun­ derbar, daß Berufene und Unberufene mit ihren Rathschlägen hervor-

treten und schon im Voraus sich ihren Lohn von der Mtwelt erbitten. Bis auf die neueste Zeit hat nun der deutsche Arbeiterstand sich in po­ litischer Beziehung stets zur liberalen Partei gehalten, well er in dieser

288

BolkSwirthschaftliche Briefe aus Deutschland.

die Vorkämpferin für seine eigenen Rechte und Freiheiten erblickte; die conservütive Partei stand ihm schon in geschäftlicher Beziehung fern und

für die politischen Bestrebungen derselben fehlte ihm vollends jedes Ver­

ständniß; er vertraute mit gläubigem Gemüth auf die von den Führem der liberalen Partei ihm in Aussicht gestellte Beffemng seiner socialen Lage durch die genossenschaftliche Selbsthilfe.

In Consum- und Sparvereinen

suchte er sich allmählich in den Besitz des nöthigen Capitals, in Arbeiter­ bildungsvereinen in den Besitz der nöthigen Bildung zu setzen, um schließ­ lich durch Begründung von Productiv-Associätionen sich aus der

Mhängigkeit von den Herren" zu befreien und sein eigener Unternehmer

zu werden.

In diesen ruhigen Entwickelungsgang griff die politische

Agitation ein.. Lassalle warf der Fortschrittspartei, nachdem diese seine

politischen Rathschläge von sich gewiesen hatte, den Fehdehandschuh hin

und versuchte es

den vierten Stand

zu einer

politischen Partei zu

organisiren, zwischen welcher und der conservativen Partei wie zwischen zween Mühlsteinen die mittleren Parteien zerrieben werden sollten.

Mit

Hllfe des allgemeinen gleichen Wahlrechts, so wurde den Arbeitem vor-

demonstrirt, würde man eine Volksvertretung zu Stande bringen, welche die Interessen des vierten Standes in ganz anderer Weise wahrnehmen

würde wie die „Bourgeois"

der Fortschrittspartei.

Es würden der

StaatSregiemng die nöthigen Mttel, 100 Millionen Thaler und mehr,

bewilligt werdm,

um

den

Productiv-Associätionen der Arbeiter, die

überall begründet werden würden, die nöthigen Betriebscapitalien vorznschießen, und damit wäre dann die sociale Frage gelöst.

tionen, so geringfügig sie auch in ihren

Ergebnissen

Diese Agita­

waren, wurden

democh von der conservativen Partei mit schlecht verhehlter Schaden­ freude begrüßt; ja sie betheiligte sich schließlich ganz offen an denselben und proclamirte es Äs die Aufgabe des preußischen Königthums, sich

der bedrückten Arbeiter gegen ihre harten Herren anzunehmen. Auf den Rath des

Mnisterpräsidenten von Bismarck wurde

eine

Deputatton

schlesischer Weber aus dem Kreise Waldenburg beim Könige vorgelaffen

um in einer, wie es heißt, von Laffalle abgefaßten Adresse ihre Klagen an den Stufen des Thrones niederzulegen; ja es wurden aus der könig­

lichen Schatulle denselben Webern Gelder zur Begründung einer Productiv-Association überwiesen.

Eine amtliche Untersuchung der in der

289

Volkswirthschaftliche Briefe aus Deutschland.

Waldenburger Adresse enthaltenen Beschwerden hat ergeben, daß dieselben größtentheils unbegründet gewesen sind.

Lassalle's jäher Tod beraubte

die „Socialdemokratie" ihres Führers; die Leitung der Agitation ist in die Hände von Personen übergegangen, welche sich in geistiger Beziehung mit dem Verfasser „Herakleitos' des Dunklen" und des „Systems der

erworbenen Rechte" nicht entfernt zu messen vermögen. Inzwischen waren

Stimmen

aus

der

Mtte

des

Arbeiterstandes

heraus

laut geworden, welche, ganz abgesehen von dem allgemeinen

gleichen Stimmrecht gewisse praküsch realisirbare Forderungen desselben betonten.

Die gedrückte Lage des Arbeiterstandes, so führten sie aus,

rühre zum großen Theile davon her, daß der Arbeiter durch die bestehende

Gesetzgebung

verhindert sei, mit dem Arbeitgeber über die Höhe des

Lohnes in nachdrücklicher Weise zu verhandeln.

Stelle der einzelne Ar­

beiter eine erhöhte Forderung, so werde er entlassen und gerathe in

Roth, ohne daß die anderen Arbeiter einen Vortheil davon hätten; denn

die Lücke, welche die Arbeitseinstellung eines Einzelnen in der Gamitur

mache, werde leichtersetzt; gemeinschaftliche Arbeitseinstellungen auf Ver­ abredung aber seien (Gewerbeordnung, § 182) mit Gefängnißstrafe bis zu einem Jahre bedroht.

Nur wenn diese Strafbestimmung aufgehoben

und den Arbeitem das Coalitionsrecht gewährt werde, sei auf die Er­ zielung eines gerechteren Verhältnisses des Arbeitslohnes zum Gewinn

des Unternehmers zu rechnen.

In

England bestehe

freiheit schon seit Jahren ohne Schaden für

die Coalitions-

die öffentliche Ordnung

und in Frankreich sei sie gerade in der letzten Zeit den Arbeitem neu

verliehen worden.

— Dieser Darstellung lassen sich keine stichhaltigen

Argumente entgegenstellen,

es sei denn,

Folgen von dergleichen gemeinsamen

daß man über die schließlichen

Arbeitseinstellungen nicht so san­

guinisch denkt, wie diejenigen es thun, welche sie als Mttel zur Erzielung höherer Löhne empfehlen.

Im Uebrigen war auch schon in dem letzten Ge­

werbegesetzentwurf, welchen die Fortschrittspartei in das Haus der Abgeord­

neten eingebracht hatte, die Aufhebung des §. 182 der Gewerbeordnung

enthalten gewesen, und da die Arbeiter auf dieselbe als eine unabweisliche Forderung der politischen Gerechtigkeit drangen, so brachten die Ab­ geordneten Schulze-Delitzsch und Dr. Faucher in der laufenden Session

einen dahin zielenden Gesetzentwurf in das Abgeordnetenhaus ein.

Nordische Revue, in. 3. Heft. 1865.

Die

500

Volkswirtschaftliche Briefe ou8 Deutschland.

Debatten über diesen Gesetzentwurf haben über die Stellung der politischen

Parteien Mr socialen Frage interessante Streiflichter verbreitet.

Die

liberale Partei ist gegen jede Intervention des Staates und von diesem Gesichtspunkte aus auch gegen ein vom Staate geschirmtes Verbot der

Arbeitercoalitionen, sie erwartet, daß die Arbeiter, durch die Ausübung

des Coalitionsrechtes zu der Ueberzeugung gelangen werden, der Arbeits­

lohn könne weder vom Arbeiter, noch vom Arbeitgeber einseitig be­ stimmt werden, und daß damit auch jener Argwohn schwinden werde, welcher die Arbeiter int Allgemeinen den Arbeitgebern gegenüber erfüllt.

Die Coalitionsfreiheit an und für sich sei ganz ohne Bedenken zu ge­

währen; bedenklich sei nur die Agitation zur Erlangung derselben. Der Besitz des Coalitionsrechts werde zur moralischen Beruhigung weit mehr

als zu« materiellen Hebung des Arbeiterstandes beitragen; letztere sei nur

im Wege einer nachhaltigen Entwickelung des Genossenschaftswesens zu erzielen. — Die konservative Partei ist zwar auch für die Gewährung

des Coalitionsrechtes, aber nicht ohne eine gleichzeitige Regelung der Jntervmüon des Staates; ja, es scheint in der letzteren für sie das Haupt­

motiv zu liegen, sich dieser Frage überhaupt anzunehmm.

Sie hat sich

die Sache so zmechtgelegt, daß bei Differenzen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern über die Höhe des Lohnes u. st w. der Staat als Schieds­

richter austreten unt> dadurch

sowohl auf die Arbeitgeber wie auf die

Arbeiter auch in politischen Angelegenheiten Einfluß üben solle.

Die Ar­

beiter wären in -korporativen Verbänden zu orgapisiren, wie z. B.> die

Knappschaften der Bergwerke, und diese Korporationen-, schließlich in die

politische Gliederung des Staates einzuordnen.

Diese Schablone ist, wie

man sieht, gerade nicht neu; mit denselben Phantasieen trug sich die kon­ servative Partei auch in Bezug auf den dritten Stand; jetzt soll der

vierte Stande „organifirt" werden!—Die Regierung hat durch den Mund des Handelsministers Grafen Jtzenplitz eine sehr gewundene Erklä­

rung abgegeben, die sich gegen beide Auffassungen wendet, und eigenttich nur besagt, daß die Regierung noch picht wisse,

wie sie sich zu dieser

Frage, deren hohe Wichtigkeit sie übrigens nicht verkenne, stellen solle oder

daß sie doch die Zeit noch nicht dazu für angethan halte, um mtt einem

fertigen Programme hervorzutreten. Mit „positiven Mitteln" beabsichtigt

sie „die Genossenschaften der Neuzeit d. h. Vorschuß-, Consum-, Pro-

Volkswirtschaftliche Briefe aus Deutschland.

291

ductivvereine zu fördern; sie hat also zwar keine corporative Organisatton

des

Genossenschaftswesens im

Auge,

will aber andererseits auch die

Staatshilfe nicht geradezu ausgeschlossen wissen.

Da die Regierung, be­

vor sie legislative Maßregeln trifft, zuvor noch eine Commission aus den

Betheiligten mit der Prüfung der ganzen Frage betrauen will, so wird der im Abgeordnetenhaus angenommene Gesetzentwurf, welcher die §§ 181

und 182 der Gewerbeordnung aufhebt, schon im Herrenhause unter dm

Tisch fallen, Letzteres wird vermuthlich in einer Resolution aussprechm, daß es

die etwa nöthigm

legislativen Maßregeln vertrauensvoll der

Initiative der Regierung anheimstelle.

Diese Vertagung der defimtivm

Entscheidung gewährt zudem der conservativen Partei für etwaige NmWahlen den Vortheil, die Gewährung des Coaliüonsrechts dem Arbeiter­

stande als Preis für eine Sümmabgabe im conservaüven Sinne offerirm

zu können.—Am meisten von allmMnistern hofft wohl Herr v.Bismarck

aus einer geschickten Behandlung der Arbeiterfrage eine Stärkung der

Regierung hervorgehm zu sehen und sich im vierten Stande eine Stütze gegen den Parlamentarismus Heranzuziehm.

So interessant diese Expe­

rimente auch sind, so wenig werden sie zu Erfolgen führen, well sie eben

von einem tiefen Mißverständniß der Ansichten und Absichtm sowohl des brüten, wie des vierten Standes Zeugniß ablegen und die Möglichkeit

voraussetzen, im Staate und mit dm positiven Mitteln des Staates eine Aufgabe zu lösen, welche eben nur im Laufe der geschichtlichen Entwicke­ lung

von

der

gesammten

menschlichen

Gesellschaft

gelöst zu werdm

vermag.

Zwei andere Gegenstände von hoher volkswirthschaftlicher Bedeutung

wurden aus polittschen Gründen vorläufig von der Tagesordnung des Mgeordnetenhauses entfernt, über den einm derselben, die Eisenbahn­

vorlagen, habe ich schon in meinem letzten Briefe gesprochen. Es kann

hier nicht der Ort sein, die Motive näher darzulegen, welche im Schooße der liberalen Partei dafür geltend gemacht werden, daß das Abgeord­

netenhaus, bevor nicht sein Budgetrecht anerkannt sei, keine außerordent­ lichen Credite, ja nicht einmal die Uebernahme vor» Zinsgarantieen be­ willigen dürfe, da mich dies zu weit auf das politische Gebiet hinüber­

führen würde.

292

BoMtvirthschaftliche Briefe aus Deutschland.

Auch tn die Behandlung der Bankvorlage spielen politische Sym-

pathieen imb Antipathieen hinein. Unsere „preußische Bank" welche neben­ bei bemerkt, in diesem Jahre ihr hundertjähriges Jubiläum feiert —

sie wurde, am 17. Juni 1765 als königliche Giro- und Lehnbank geWet und am 2Q. Juni 1765 eröffnet — ist nach der Bankordnung vom 5. October 1846 nur berechtigt, im preußischen Jnlande Filialan­

stalten zu errichten.

In der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 11.

Februar hat nun der Handelsminister Graf Jtzenplitz, der gleichzeitig

auch Chef der Bankverwaltung ist, einen Gesetzentwurf eingebracht, welcher die erwähnte Beschränkung aufzuheben bestimmt ist, so daß in Zukunft

die preußische Bank also auch außerhalb Preußens in deutschen Handelsplätzen Filialanstalten zu errichten berechtigt sein soll.

Es steht diese

Idee in einem leicht nachweisbaren Zusammenhangs mit den Machter­

weiterungsplänen der preußischen Regierung in Bezug auf die Elbherzogthümer, die Absicht, eine Filialanstalt der preußischen Bank in Hamburg zu errichten, datirt übrigens aus einer viel frühern Zeit als die Bank-

vorlage.

Zwei preußische Bankbeamte, Herr Schayer aus Magdeburg

und Herr Fellingen aus Siegen, producirten, um beim Hamburger HandÄsgericht die Firma der Bankfiliale einregistriren zu lassen, eine Er-

Mächtigung des Grafen Jtzenplitz als Chefs der preußischm Bank; das

Hamburger Handelsgericht gewann jedoch aus der Einsicht der Bankord­ nung die Ueberzeugung, daß erst nach einer Abänderung derselben — die, weil die Bankordnung den Charakter eines Gesetzes an sich trägt, nur unter Zustimmung des preußischen Landtags zu Stande kommen kann — die Errichtung einer Filiale der preußischen Bank im Aus­ lande statthaft sei, beanstandete aus diesem Grunde am 10. Februar die

Eintragung in das Firmenregister und gestattete dieselbe am 11. Februar nur unter Vorbehalt des Nachweises, daß es zu einer solchen Abweichung

von der Bankordnung der Genehmigung des Landtags nicht bedürfe. Die an demselben 11. Februar dem Landtage gemachte Bankvorlage be­

sagt in ihren Motiven aber ganz dürr, daß die preußische Bank nur im Jnlande Filialen zu errichten berechtigt ist, so daß es also der LaMag in

seiner Hand hat, das Project der Bankerweiterung durch seinen Wider­ spruch scheitern zu machen.

Es kann nicht verhehlt werden, daß die

hiesigen industriellen und commerciellen Kreise, deren Ansichten ja auch

Bolkswirthschaftliche Briefe aus Deutschland.

293

für die Generalversammlung der Meistbetheiligten der Bank maßgebend

waren, sich „mit Applaus", wie Graf Jtzenplitz bei der Einbringung der Vorlage hervorhob, für die von der Regierung beabsichtigte Maßregel

erklärt haben, der Landtag

hat aber höhere Pflichten- zu erfüllen, als

einem solchen „plausiblen" Projekte, so zu sagen, unbesehen seine Geneh­

migung zu erthellen.

Es handelt sich dabei um poliüsche und volks-

wirthschaftliche Gesichtspunkte von der größten Tragweite und gewiß kann man deshalb den Beschluß des Abgeordnetenhauses vom 18. Febr. nur billigen, welcher diese Vorlage, die schon in der Schlußberathung begriffen

war, an die Fachkommission für Handel und Gewerbe zur Vorberathung zurückverwies und diese selbst um sieben Mtglieder verstärke. Die Gründe, welche der Handelsminister für die Beschleunigung der Berathung an­

führte, sind in keiner Weise stichhaltig; ob die preußische Bank im Febmar

oder März 1865 eine Befugniß erlangt, welche sie, so lange sie besteht, — und das-sind doch genau hundert Jahre — noch niemals besessen hat, ist für die zukünftige Entwickelung des Instituts gewiß höchst gleich-

giltig, schwerlich hat auch gerade das Abgeordnetenhaus Veranlassung, blos

um der gegenwärtigen Regiemng die Beschämung abzukürzen, daß sie bei ihren Maßregeln ohne genügende Kenntniß der Landesgesetze vorge­ gangen ist, sich von der Verpflichtung zu dispensiren, die ihm gemachten

Vorlagen mit gewissenhafter GrüMichkeit zu prüfen.

Me Regierung

verlangt vom Landtage, daß er der preußischen Bank die Ausdehnung ihrer Geschäfte auf das Ausland gestatte, der Landtag ist daher in der

Lage, eine Gegenforderung stellen zu können, und diese sollte nach der Ansicht Bieler darin bestchen, zu verlangen, daß den bisher durch die Rormattvbedingungen vom 15. September 1848 so sehr eingeengten Pri­

vatbanken ihre Fesseln gelüftet werden. Die Mottve der Regierungsvorlage besagen: „die engen Handels­

beziehungen zwischen Preußen und den übrigen deutschen Staaten, die allgemeine Verbreitung der Noten der preußischen Bank in ganz Deutsch­

land und das sich darin deutlich aussprechende Bedürfniß eines allge­

mein gütigen Werthzeichens für den großen Handelsverkehr machen es dringend wünschenswerth, daß die preußische Bank, das bisher festge­ haltene und gesetzlich gebotene Princip der Abgeschlossenheit aufgiebt und

von der sich ihr ftüher oder später darbietenden Gelegenheit, durch Er-

294

Volkswirthschaftliche. Briefe auS Deutschland.

richtung von Walanstatten in ankern deutschen Staaten, ihre Wirksam­ kett über die Gränzen des engeren Vaterlandes anszudehnen, Gebrauch

machen könne."

Die Bankftage gewinnt von dieser Seite her eine noch

allgemeinere Bedeutung; es handelt sich darum, der Notencirculation

der preußischen Bank im Auslande gewissermaßen die gesetzliche Sanction zu ertheilen ; denn thatsächlich hat, wie die „Hamburger Börsenhalle" sehr

richtig bemerkt, „die preußische Bank binnen wenigen Jahren in der fried­

lichsten Weise fast Mmerklich den Rang einer allgemeinen deutschen

Bank rücksichtlich der Notencirculation erobert und zur Geldcirculatiou in Deutschland eine ganz ähnliche hervorragende und mächtige Stellung gewonnen, wie die Bank von England und die Bank von Frankreich dem

Geldnmlauf ihrer Länder gegenüber einnehmen."

Die Notencirculation

in Deutschland hat sich bekannüich erst seit der Mitte der Vierziger Jahre entwickelt. - Im Jahre 1845 gab es an Staatspapiergeld — Oesterreich

außer Berechnung gelaffen — 25f Millionen Thlr. preußische und 4 Millionen Thlr. sächsische Kaffenanweisungen und außerdem etwa 7 Mil­

lionen Thlr. Banknoten.

Bei der Umgestaltung der königlichen Bank

zu Berlin, welche gleichzeitig 10 Millionen Thlr. Privatcapital in sich

aufnahm, erhielt dieselbe im Jahre 1846 die Befugniß bis 21 Millionen Thlr. Banknoten zu emittiren. Das Jahr 1848 vermehrte die Papiergeldcttculation durch 10 Millionen preußischer Darlehnskaffeuscheiue und

mannichfache Emissionen von Staatspapiergeld in den kleineren deutschen Staaten.

Der Bedarf des Verkehrs nach papiernen Werthzeichen war

dadurch indeffen noch nicht beftiedigt; um das Jahr 1854 herum ent­

standen, um diesem

Bedürfniß abzuhelfen, zahlreiche Zettelbanken in

Dessau, Sondershausen, Gera, Meiningen, Gotha, Weimar, Brannschweig, Bückburg, Darmstadt, Luxemburg u. s. w. u. s. w.; die meisten derselben

speculirtm auf den Mangel an papiernen Werthzeichen, der in Preußen bestand, und überschwemmten daher die preußischen Plätze mit ihren

Rötens für welche im natürlichen Laufe des Verkehrs nur sehr geringe

Aussicht war, an den Ort der Emission zur Einlösung zurückzukehren.

Diesem lucrativen Geschäfte setzte die preußische Gesetzgebung ein schnelles

Ziel, indem sie zuerst sämmtliches fremdes Papiergeld in Appoints unter

10 Thalern und darauf sämmtliche fremde Banknoten ohne Unterschied des Werthbetrages bei Strafe als Zahlungsmittel zu benutzen verbot.

BoMwirthschaftlich« Briefe aus Deutschland.

295

Gleichzeittg wurde zwischen der Regierung und der preußischen Bank 1856 ein neuer Vertrag abgeschlossen, welcher den Umlauf des Papiergeldes regelte.

Außer den bereits eingezogenen Darlehnskaflenscheinen wurden

weitere 10 Millionen Thlr. Kassenanweisungen eingezogen; dagegen wurde das Actiencapital der Bank auf 15 Millionen Thlr. erhöht und ihr zugleich die Befugniß zu einer unbegrenzten Notenemission (gegen Deckung

von einem Drittel in Edelmetall und des Restes in bankmäßigen Wechseln) bewilligt.

Seit der Zeit ist die Cirkulation der preußischen Banknoten

stetig gestiegen und hat die Notenemission der übrigen deutschen Bänken mehr und mehr überflügelt, so daß nur noch die Leipziger und Frank­

furter Bank daneben genannt zu werden verdienen.

Der Notenumlauf

der preußischen Bank betrug 1856 (Ende April): 20,511,000 Thlr.; 1857 durchschnittlich: 60,092,000 Thlr.; 1858 durchschnittlich: 67,729,000

Thlr.; 1859 durchschnittlich: 75,268,000 Thlr.;

81,394,000.Thlr.; 1861

1860 durchschnittlich:

Minimum (15. März):

85,242,000 Thlr.;

Maximum (30. Juni): 103,846,000 Thlr.; 1862 Minimum (7. März): 96,902,000 Thlr., Maximum (7. Octbr.):

Minimum (23. März):

119,026,000 Thlr.; 1863

103,469,000 Thlr., Maximum (30. Juni):

126,493,000 Thlr., 1864 (30. Juni): 131,036,000 Thlr.

Eine solche

Zunahme des Notenumlaufs, bei völliger Freiheit der Annahme der Noten statt Münze in Zahlung, ist eben nur dadurch zu erklären, daß die preu­

ßischen Banknoten, wie übrigens auch der Augenschein lehrt, in sämmt­

lichen übrigen deutschen Slaaten gern in Zahlung angenommen werden, ohne daß der, welcher die Zahlung zu leisten hat, sich dabei einem Coursver­

luste zu unterwerfen hätte.

Für den Bedarf der Reisenden giebt.es

eben kein bequemeres Zahlungsmittel als solide, keinen Valutaschwan­

kungen ausgesetzte Banknoten. Für diesen thatsächlichen Zustand soll nun dadurch eine gesetzliche Gmndlage geschaffen werden, daß die preußische

Bank im Auslande Filialen errichtet, in welchen jeden Augenblick ihre Noten gegen baares Geld umgetauscht werden können. Wenn diese Maß­

regel zur Ausführung gelangt, so wird die natürliche Folge davon sein,

daß die preußischen Banknoten in solchen Bankplätzen und deren Geschäftsrayons alle andern papiernen Werthzeichen von gleichem Betrage ver­

drängen werden, daß die Notenemission eine noch viel schnellere Steige­

rung als bisher erfahren und dadurch eine neue Vermehrung des Aktien-

286

Volkswirthschaftliche Briefe aus Deutschland.

capitals und des Einflusses der Bank bedingt werden wird.

Solchm

Eventualitäten gegenüber erscheint eine sorgfältige Erörterung des Ver­ hältnisses der preußischen Bank zu den ihr gegenüber sehr benachtheiligten

Privatbanken als ein upabweisliches Bedürfniß und steht demnach in unserem Abgeordnetenhause eine sehr interessante Debatte über die Bankftage in Aussicht; dieselbe ist um so mehr am Orte, als gerade gegen­

wärtig in Frankreich eine Untersuchungscommission eingesetzt ist, um die Einwirkungen des Monopols der Bank von Frankreich auf den Geld­

markt und den öffeMchen Credit in Erwägung zu ziehen.

Veber die Ergebnisse der'Unterhandlungen, welche hier gegenwärtig über dm Abschluß eines Handelsvertrages mit England gepflogm

werden, läßt sich noch nichts Authenüsches berichten.

Die „volkswirth-

schaMche Gesellschaft" hat diese Frage in ihrer letzten Sitzung am 18. Febr.

erörtert; es ist dabei der Ansicht Ausdruck verliehen worden, daß es im Interesse der preußischen Spiritusfabricatton wünschenswerth wäre, von

England eine Ermäßigung des Eingangszolls von 1 Sh. 5 Pence für das Gallon proof auf mindestens 1 Sh.

1 Pence zu

erlangen,

da

der in England erzeugte Spiritus nur 1 Sh. Tranksteuer zahlt und die

5

Pence Schutzzoll für importirte Sprite den Export

des preußischm

Spiritus nach England verbieten, während ftanzösische Cognacs denselbm

fchr wohl zu tragen vermögen.

Es ist indessen kaum zu erwartm, daß

England die Spritzölle ermäßigm wird, da erst gelegentlich des Ab­ schlusses des mglisch-ftanzösischen Haudelsverttages die im Parlamente

schr einflußreichm englischen Brennereibesitzer es durchzusetzm vermochten, daß die Sprüzölle auf die erwähnte Höhe von 1 Sh- 5 Pence normirt

wurden. Bon dm projecürten Bahnen,

welche speciell russische Interessen

berühren, verdient die Warschau-Breslauer hier noch zum Schluffe

Erwähnung.

über;

Es stehen sich in dieser Beziehung zwei Projekte gegen­

das eine

derselbe bezweckt die kürzeste Verbindung

der beidm

Städte Breslau und Warschau auf der Linie Breslau-Kempen-WieruszowRokicziny, das andere sucht durch die Linie

Breslau-Ostrowo-Kalisz-

Lodz-Rottcziny die beidm wichtigm Plätze Kalisz und Lodz in dm in-

ternattonalen Schienenverkehr hineinzuziehen.

Vorläufig bekämpfen sich

noch beide Projekte, ohne daß die beiderseitigen Regierungen sich endglltig

Volkswirtschaftliche Briefe aus Deutschland.

297

für das eine oder andere entschieden hätten; es scheint jedoch von Seiten der russischen Regierung der über Lodz und Kalisz laufenden Linie der Vorzug zugestanden zu werden, zumal die letztere Linie durch eine Flügel­

bahn von Ostrowo über Krotoszyn nach Lissa einen bequemen Anschluß über

Glogau nach dem nördlichen und mittleren Deutschland, nach Berlin und Dresden hin erhalten könnte, während die erste Linie gerade den Zweck

verfolgt, auch diesen Verkehr nur über Breslau, also auf einem Um­

wege, nach Deutschland gelangen zu lassen.

Wilhelm Wackernagel.

Volkswirtschaftliche Griefe aus Rußland. ©t. Petersburg, den 9. Februar 1865.

Das Jahr 1864, welches wir nun hinter uns haben, wird in volkswirthschaftlicher Beziehung für Rußland als kein erfreuliches und fegen-

bringendes betrachtet werden.

Auch nicht Eine der vielen Fragen, welche

auf den Gesetzgeber eindringm, ist der Lösung nahe, geschweige denn zur Lösung selbst gebracht worden.

Die Finanzverhältnisse, die Valutafrage,

die Eisenbahnangelegenheiten, das Bankwesen, der Bodencredit, die Post­ anstalten u. s. w., sie sind alle heute noch auf demselben Standpunkte,

wo wir sie vor einem Jahre, vor zwei Jahren fanden, und wo wir Ver­

änderungen begegnen, sind es entweder Verschlechterungen oder doch nur sehr unmerkliche Schritte zum Bessern.

Gehen wir zu den einzelnen oben­

bezeichneten volkswirthschaftlichen Gebieten über, so wird sich das Gesagte als ein keinesfalls zu strenges und leider nur zu gerechtfertigtes Urtheil

herausstellen.

Die Mängel unseres Postwesens gehören mit zu denjenigen,

welche selbst der optimistischesten Voreingenommenheit nicht Stand halten

und den Fremden schon in den ersten Stunden seines Aufenthaltes im Reiche zu höchst unangenehmen Kritiken herausfordern.

Hat man nur

einen einzigen Brief wegzuschicken oder zu empfangen, so dünkt man sich

sofort in eine jener Städte des Orients versetzt, wo jede Nation, wie ihre eigene konsularische Gerichtsbarkeit, so auch ihren eigenen Briefkasten hat. Als

Schreiber dieses vor etwa acht Jahren zum erstenmale nach Paris kam und nach der Ankunft einen Brief absenden wollte, konnte ihm eine vierjährige Nichte den Weg zum nächsten Briefkasten zeigen. Hier zu Lande, in unserer civilisirten Großhauptstadt, die sich alle Raffinements des Lu^us und des

Comforts so schnell eigen zu machen weiß, gehört ein volles Studium und Kenntniß der Landessprache dazu, um zu wissen, welchem Kasten

man seine Briefe anvertrauen muß,

um sie an die rechte Adresse zu

bringen. *)

Es geschieht nie ohne vorläufige längere Belehrung, daß wir

einem Diener einen einfachen frankirten oder unfrankirten Brief über­ geben, damit er ihn der Post anvertraue.

Das Postgebäude selbst hat

nicht, wie in andern Ländern, einen oder mehrere große Behälter, in welche alle Briefe ohne Unterschied der Bestimmung gelegt werden können,

sondern es sind vor diesem Gebäude etwa ein halbes Dutzend Büchsen in der Höhe von etlva dreiviertel Elle und in der Breite von einer halben Elle

angebracht,

deren jede für eine besondere Art von Briefen, je nach den

verschiedenen Richtungen, welche einzuschlagen, bestimmt ist.

Findet von

Seite des Aufgebers eine Verwechselung statt, so ist die geringste Strafe derselben eine 24 stündige, oft auch noch längere Verspätung.

In den

verschiedenen Stadttheilen sind ebenfalls solche Büchsen angebracht, verschie­

denfarbig je nach der Bestimmung, welcher sie dienen; aber sie hängen frei

auf der Straße, die Aushebung der Briefe ist dem guten Willen der Post­ diener überlassen und man hat nicht, wie dies in andern Ländern geschieht,

dafür gesorgt, daß irgend ein Geschäftsmann den Dienst bei jenen Brief­ kasten controlire und allenfalls auch dem Publikum eine nothwendige

Auskunft ertheile.

Für die inländische Correspondenz besteht der Fran-

kirungszwang; nichtsdestoweniger aber werden Freimarken nur auf dem

einzigen Postamte zum normalen Preise verkauft; einige Krämerläden,

wo man dieselben auch findet, Auch die Localcorrespondenz

geben sie nur mit einem Aufgelde ab.

ist dem Fraukirungszwange unterworfen;

für diese giebt es wieder eine besondere Specialität der Briefkasten in *) Wir können nicht umhin, unserm geehrten Herrn Correspondenten einige

Thatsachen entgegenzuhalten, welche vielleicht geeignet sind, seine trüben Betrach­ tungen, namentlich in Bezug auf das Postwescn, einigermaßen aufzuhellen. In unserm civilisirten Deutschland giebt es auch eine Großhauptstadt, ja eine Weltstadt, welche in Aneignung aller Raffinements des Comforts und Luxus jedenfalls mit Petersburg concurriren kann. Wir meinen Hamburg. Und diese Stadt der mächtigen Handelspatricier hat, unseres Wissens, erst seit ganz kurzer Zeit Briefkasten über­ haupt in ihren Straßen erhalten Eine Beaufsichtigung und Controle der Heraus­

nahme von Briesen aus den Kasten von Seiten eine» Geschäftsmannes findet lvedcr in Dresden noch in Berlin statt; sie wird von der Post allein ausgeübt. England, das Staminland der Briefmarke», dessen Bricsverkehr wohl der bedeutendste ist, hat gleichfalls verschiedenartige Briefkasten, für Newspapers, foreign letters, Stadtbriefe und Provinzbriefe, die alle nur englische Ueberschriften tragen. Wir bemerken dies keineswegs, um die von unserm Correspondenten gerügten empfindlichen Uedelstände zu entschuldigen, sondern nur, um zu zeigen, daß das Vollkommene in öffentlichen Einrichtungen selbst an den gepriesenstcn Kulturstätten ein pium

desiderium bleibt.

D. R e d.

300

BolkSwirthschastliche Briefe a«s Rußland.

Käse- und Obstbuden, wo gegen Erlag der Taxe der Brief hinterlegt wird.

Diese Taxe beträgt nicht weniger als fünf Kopeken, wozu noch

weitere drei -Kopeken kommen, welche der Empfänger dem Briefträger zu

zahlen hat. Wenn man bedenkt, daß für den ganzen Umfang des Reichs das Postporto nicht mehr als zehn Kopeken und mit Hinzurechnung des

Bestellgeldes dreizehn Kopeken beträgt, so wird man. jene Localgebühr

gewiß übertrieben finden.

Handelt es sich nun gar darum, einen Geld-

brief zu expediren oder zu empfangen, so ist der FormMäten kein Ende. Trifft ein solches Schreiben für Sie ein, so werden Sie am selben oder

am nächsten Tage mit einem „Aviso" der Postbehörde beehrt, welches Sie von dem großen Ereigniß in Kenntniß setzt.

Sie werden sich nun

sofort — auf das Postamt begeben? Nein, denn das wäre ein unnützer Gang; ehe man Ihnen einen solchen Brief aushändigen kann, nmß der

Polizeiviertelmeister Ihre Identität schriftlich bezeugt haben.

Der Mann

aber kann unmöglich alle Bewohner seines Sprengels persönlich kennen, und so dient als Mittelglied zwischen ihm und Ihnen der Hausmeister,

an den Sie sich mit Ihrem Anliegen zu wenden haben.

Da aber die

Post ihre Briefträger erst in den Mttagsstunden aussendet und der Herr Polizeimeister für solche Fälle nur von 2 bis 3 Uhr zu treffen ist, so

würde der Hausmeister nur einen unnützen Gang thun, wenn er sich noch am selben Tage hinbemühte.

Er thut dies also erst am nächsten

Tage, nachdem er, der Vielbeschäftigte, sämmtliche Insassen des Hauses mit Wasser und Holz versehen; es ist darüber wieder 2 Uhr geworden,

ehe der Mann vom Polizeibureau heimkehrt;

du bist nun endlich im

ersehnten Besitze deines Certificats; du eilst auf das Postamt — wo

man dir eröffnet, daß nach 2 Uhr die Austhellung der Briefe nicht mehr stattfindet.

Du

kannst

am nächsten Tage zeitiger wiederkehren,

wmn nicht etwa dieser nächste Tag ein Sonn- oder Feiertag ist.

So

vergehm oft fünf bis sechs, in. den besten Fällen drei bis vier Tage, ehe ein Geldbrief in die Hände des Adreffaten gelangt.

Es ist in den vorstehen­

den Zeilen nicht die genngste Uebertreibung; mir selbst ist es vor Jahren

vorgekommen,

daß eine bekannte Familie, die aus der Provinz vom

FaMimchef das Geld für den Wohnungszins erhalten hatte, auf dem

Sprunge stand, vom Hausherrn im December vertrieben zu werden oder sich einer Zinssteigerung zu unterwerfen, weil volle sechs Tage verstrichen

zwischen der Ankunft und der Aushändigüng des Geldbriefes.

Noch

kürzlich erhielt ich das Aviso eines Geldbriefes aus Moskau erst am

einundzwanzigsten Tage nach der Aufgabe, und weitere vier Tage ver­

M das sind Unzukömm­

strichen bis zum Empfang des Briefes selbst. lichkeiten,

zu

keine vorbereitenden Maßregeln, keine

deren Abstellung

Studien nothwendig sind«; ein Decret würde genügen, um dieselben auf­ hören zu machen, und nach 24 Stunden könnte man diesen Thell' unserer Posteinrichtungen den besten ausländischen gleichgestellt haben.

Ist es

nicht mehr als wunderlich, daß hier, zur Bequemlichkeit der Postbeamte«

ten,

aber zur Belästigung des Publikums, sechs bis acht verschiedene

Briefkasten bestehen, während es in einer Stadt wie Paris, wo die Correspondenz wmigstens hundertmal bedeutender ist, einförmige Schalter

für alle Briefe giebt und nichtsdestoweniger die Befördenmg eine viel schnellere und pünktlichere ist?

Was rechtfertigt ferner die übertriebene

Reglementation bei Empfang von Geldbriefen?

Ist das Postamt nicht

genügend gesichert, wenn der Empfänger des Avisos sich zur Empfang­ nahme einer solchen Sendung einstellt, und ist schon ein Uebermaß von

Vorsicht nothwendig, so würde doch die Vorzeigung eines Passes oder irgend eine§ Patentes genügen. Wie erklärt sich ferner der Frankirungs-

zwang für die inländische Correspondenz, während Briefe in die Fremde auch unfraukirt abgesendet werden dürfen?

Eine andere Klage betrifft

die enormen Preise des Portos für diese letztere Art von Briefen und für die aMändischen Journale.

Die Post,

welche das Monopol der

Abonnements für letztere hat, läßt sich im Durchschnitte ungefähr 75 bis

100 Procent Aufschlag zum Preise derselben in dem Heimachlande zahlen. Man sagt, daran sei die Postconvention mit Preußen Schuld, welcher Staat den größten Thell jenes Benefizes abhebe;

aber warum solche

Löwenverträge auftecht erhalten, und was geschieht, um dieselben zu ändern, nachdem sie nun abgelaufen?

Was die Brieftaxe für das Aus­

land betrifft, so bietet diSselbe noch besondere Eigenthümlichkeiten.

Ge­

meinhin wird angenommen, der Taris sei gegenseitig derselbe und ei« Brief von Rußland nach Frankreich z. B. müsse gerade soviel an Porto

zahlen, als ein Brief von Frankreich nach Rußland. Dem ist aber keines­ falls so; der Franzose frankirt ein Schreiben nach letzterem Lande mit 1 Fr. 10 Cent. (274 Kop.), während der Russe für ei« solches nach

SüL

Bollstvirthschastliche Briefe aus Rußland.

Frankreich 37 Kop. (1 Fr. 48 Cent.) zu bezahlen hat.

Daß unter den

heutigen Verhältnissen selbst eine Taxe von 27i Kop. unverhältnißmäßig

hoch sei, ist wohl kaum nöthig zu bemerken.

Bon Seite der französischen

Behörde, die in den letzten Jahren Post- und Telegraphenverbindungen

mit den meisten Ländern Europas abgeschlossen,

wäre gewiß auf das

freundlichste Entgegenkommen zu rechnen, wenn man sich nur hier ent­ schließen könnte, die bessernde Hand anzulegen.

Noch ärger liegen die

Dinge, was die Correspondenz mit Italien betrifft.

Obwohl Rußland

das junge Königreich bereits 1862 anerkannt, ja sogar im vorigen Jahre einen Handelsvertrag mit demselben abgeschlossen, ist doch noch für die

verschiedenen Provinzen, je nachdem sie früher zu Oesterreich, zu Sar­ dinien oder zu Neapel

gehörten,

die Tariftaxe eine verschiedene und

variirt zwischen 20 und 56 Kopeken! ... Wir lieben es nicht, uns hier mit den amtlichen Persönlichkeiten zu befassen; wir kennen die gren­

zenlose Empfindlichkeit derselben für jedes gedruckte Wort;

doch aber

dürfte es uns gestattet sein, daran zu erinnern, daß es jetzt zwei Jahre sind, seit Herr von Tolstoy zum Director des Postdepartements ernannt

wurde; den Drängem erklärte er damals,

man möge ihm nur sechs

Monate Zeit geben, er werde es an Verbesserungen nicht mangeln lassen. Es sind seither zwei Jahre verflossen, und die einzige Reform, deren

wir uns zu erfreuen hatten,

war die Einführung der Postmarken für

die ausländische Correspondenz (s. Augustheft der Nord. Revue). Nach solchen Prämissen muß es fraglich bleiben, ob wir den eben

erfolgten Uebergang des Telegraphenwesens vom Departement der öffentlichen Bauten zu jenen der Postanstalten als einen Schritt zum

Bessern zu betrachten haben.

Bis jetzt stand dasselbe unter der fast un­

abhängigen Leitung des Generals Gerhard, der sich zwar jede Verbesse­

rung erst gern abringen oder abbitten ließ, aber doch verständigen An­ liegen ein offenes Ohr lieh.

Der ihm vorgesetzte Bautenminister befolgte

das Princip des laisser-faire, und so verdanken wir dem gedachten Ge­ neral doch manches Gute, wie die Abschaffung der doppelten Taxe für

Nachtdepeschen u. s. w.

Nun das Postdepartement sich der Oberleitung

bemeistert hat, möchte fast zu besorgen sein, die demselben eigenthümliche

Schneckenlangsamkeit werde auch auf das Telegraphenwesen übergehen.

Und doch ist hier eine schnelle und durchgreifende Reform im Interesse

wichtiger materieller Fragen von Dringlichkeit.

In ganz Europa sind

nun schon in Folge der jüngsten Verträge die Preise für den Telegraphen­

dienst so erheblich herabgesetzt, daß die unseren sich dagegen ganz unge­

Und nicht nur unsere inländischen Beziehungen

heuerlich ausnehmen. leiden

unter

dieser

unverhältnißmäßigen Vertheuerung,

sondern auch

unsere Correspondenz mit dem Auslande, da wir die alten Telegraphen­ verträge nur dann ändern könnten, wenn auch im Jnlande eine Preis­ herabsetzung einträte.

So zahlen wir schon seit Jahren an Preußen

einen freiwilligen Tribut für die Depeschen,

die von Rußland dahin

gehen oder von dort hierher gelangen; denn in jenem Lande beträgt die

Gebühr für eine einfache Depesche höchstens 16 Silbergroschen; ist letz­

tere aber nach Rußland bestimmt, so zahlt sie nach Umständen 4 Thlr. und mehr, wovon die preußische Verwaltung die Hälfte behält, und somit

nahezu viermal soviel, als sie zu bekommen hätte, wenn ein Telegramm blos bis zur Landesgrenze befördert worden wäre.

Wie exorbitant die

hiesigen Tarife sind, mögen einige Vergleichungen lehren;

ein einfaches

Telegramm (20 Worte) von Petersburg nach Moskau (87 Meilen) zahlt 21 Rubel (10 Franken), von hier nach Berlin 3 R. 72 Kop. (15 Fr.), nach Paris 5 R. 58 Kop. (22 Fr. 32 Cent.); des preußischen Tarifs mit dem Maximrrm von 16 Sgr. (2 Fr. oder 50 Kop.) haben wir

bereits erwähnt; der französisch-preußische Vertrag

vom 30. Januar

1865, welchen der „Btoniteur" soeben veröffentlichte, bestimmt als höchsten Preis einer zwischen beiden Ländem ausgetauschten Depesche den Betrag

von 4 Fr., ja sogar (für die Rheinlande) von 3 Fr.

Auch mit Belgien,

Spanien und Portugal Hat-Frankreich in jüngster Zeit ähnliche Verträge

abgeschlossen, selbst der päpstliche Staat, dessen Souverän eben erst alle

modernen Erfindungen mit dem Bannstrahl belegte, hat sich bereit ge­ funden, ein Maximum von 5 Fr. für die zwischen Frankreich und dem

rönnschen Gebiete telegraphisch auszutauschenden Ideen als genügend zu erachten und so bewiesen, daß wirklich, wie Cardinal Antonelli behauptet,

der Syllabus nur ein rein geistlicher Act ist, welchem man in Rom selbst

den Einfluß auf weltliche Dinge abspricht.

Unter solchen Verhältnissen

möchte es an der Zeit sein, daß auch Rußland endlich eine Reform dllrch-

führte, die nur bureaukratische Trägheit als eine voreilige und überstürzte

zu verschreien vermag.

364

BolkSwirthschaftliche Briefe aus Rußland.

Die Nod'encre'ditfrage, deren wir ferner im Eingänge erwähn­

ten', ist im Lmfe des vergangenen Jahres mch nicht «m einen Schütt ihrer Lösnng näher gebracht worden.

Freilich sind bei dieser für das'

Land so wichtigen Frage die Schwierigkeiten erheblicher, umsomehr, als MM es hier liebt, die kostbare Zeit in kleinlichen Canzleinergeleien zu ver­ tändeln und als allerdings ein Regiernngsdecret nicht genügt, um in

dieser Angelegenheit Fehlendes zu schaffen.

Aber wir haben ftüher die

mehrfachen Projekte erwähnt, welche zum Theile seit Jahren den Be­

hörden vorliegen und über die man nicht zum Beschluß kommen kann.

In neuester Zeit ist den Bestrebungen der Privaten zur Gründung von Boden- und andern Creditanstalten ein neuer gesetzlicher Hemmschuh an­

gelegt worden. Auf Vorschlag des Herm FmMzminifiers wurde nämlich

vom Finmzcomit« des Reichsraths bestimmt,

daß es keinerlei Privat­

unternehmungen gestattet werden dürfe, ihre Werthpapiere mit Lotterien oder Prämien in Verbindung zu setzen.

Es läßt sich diesem Beschlusse

durchaus keine lobenswerthe Seite abgewimen.

Man sonn im Principe

das Lotterie- und Prämienspiel als ein in vielen Beziehungm schädliches verdammen; höher aber als diese Rücksicht steht für uns die Betrachtung,

daß der wirthschastliche Markt frei und ungebunden sein müsse und es

keiner Regiemng zukommt, dem Capital die Art und Weise vorzuschreiben, wie es sich zum Nutzen des Landes verwenden lassen solle — womit

übrigens nur erzielt wird, daß das Capital mdere Wege außerhalb des Lmdes sucht.

Noch weniger läßt sich aber die Maßregel Migm, wenn

man bedenkt, daß jene moralischen Skrupel auf dieselbe gar nicht be­ stimmend einwirkten, daß sie vielmehr in Folge der jüngsten mssischen

LvtterieMleihe ergriffen wurde, um diese vor jeder Concurrenz zu schützen.

Von diesem Stmdpunkte aus ist sie aber nicht nur unzweckmäßig, weil sie den Gmndbesitz

im Interesse des Staatscredits vom Geldmärkte

ausschließt; sie ist Mch vollständig Mnütz in den

Augm

Derjenigen,

welche mit dem Wesen des letzteren einigermaßen vertraut sind.

Es ist

bekannt, daß Lotterie- und Prämienpapiere vorzüglich mit Hinblick auf

die deutschen Börsen geschaffen werden, ebenso weiß avch jeder BMguier

in Deutschland, daß es dort ein besonderes Publikum für die sogenmmten ausländischen Renten, d. h. Staatspapiere giebt und wieder eine ott»

bete Classe von Liebhabern für Werthpapiere mit Alea, also für Lotterie-

Volkswirthschaftliche Briefe aus Rußland und Prämienscheine.

305

Bekannt ist auch, daß Diejenigen, welche in Ruß­

land mit Gründung der Bodencreditanstalten vorgehen wollen, zumeist, ja

auschließlich

beabsichngen.

die Unterbringung ihrer Werthpapiere im

Auslande

Die Regierrmg hat also, selbst wenn sie für die neueste,

angeblich innere Anleihe auch dem ausländischen Geldmarkt concurrirt,

doch von den Privatcreditanstalten eine Concurrenz nicht zu besorgen. Des bringt uns auf das Thema der neuesten Anleihe, deren erste

Phasen in unserem letzten Berichte (Januarheft) erwähnt wurdcil. Nach

amtlichin Angaben soll die Betheiligung des Publikums die Wünsche der Regiermg übertroffen haben und die Zeichnungen auf die verlangten

hundert Millionen hätten sich auf 115« Million belaufen.

Es ist indessen

notorisch, daß trotz mancherlei patriotischer Pression das wirkliche Angebot

des PMkums nicht ganz dreiviertel der ausgebotenen Anleihe deckte und daß im letzten Augenblicke ein Konsortium von Kapitalisten unter Be-

dingunxen,

die wir nicht neunen wollen,

weil uns vielleicht nicht alle

Details bekannt sein dürften, den fehlenden Rest mit einem kleinen Auf­

schläge dazu (um das Decorum zu retten) übernommen hat. fachen Erleichterungen,

Die viel­

durch Belehnung der Jnteriinsscheine u. s. w-,

welche sofort den Unterzeichnern gewährt werden mußten, zeugen übrigens dafür, daß es dem Lande nicht leicht wird, den Betrag der neuen An­

leihe dem Staate zur Verfügung zu stellen und zu immobilisiren.

Es

soll danit nicht gesagt sein, daß nicht wirklich im Lande Ersparnisse im Betrage von 100 Millionen gewinnlos liegen, welche aus ihren Verstecken hervorzrziehen gewiß ein Verdienst wäre und was auch gelungen sein

würde, wenn das Werk geschicktererl Händen anvertrant gewesen wäre. Aber es ist augenscheinlich bei der jüngsten Anleihe mit Ueberstürzung

gehandelt worden; sei es, daß man die eigenthümlichen Verhältniffe des

Landes mißkannte, sei es, daß die Noth des Moments, die fälligen Be-

dürfniffr des Jahresschlusses eine längere Vorbereitung nicht zuließen. Man wollte ein Spektakelstück in Scene setzen, ähnlich den in Frankreich bei Natlonalanleihen erzielten Resultaten,

wo in acht bis zehn Tagen

eine Anleihe von 500 Millionen Franken fünf- bis sechsfach gedeckt wurde. Man vagaß dabei die intellectuellen und geographischen Verschiedenheiten

der beiden Länder. In Frankreich wird, wie jeder Rekrut den Marschall­ stab im Tornister hat, so auch jeder Bürger mit der Anlage zum Ehren»«»«che

III 3. Heft. 1865.

20

Bolkswirthschaftliche Briefe auS Rußland.

306

legionskreuze und zum „Rentier" geboren.

Bei uns in Rußland sind

wohl zinstragende Staatspapiere in aller Leute Händen, aber doch nur diejenigen, welche auch als Umlaufsmittel benützt werden können, wie

die Schatzscheine, die vierprocmttgen Metalliques; die eigentlichen Renten­ papiere sind bekanntlich zum großen Theile im Besitz? des AMandes;

„Couponsschneider" von Profession sind hier zu Lande äußerst selten,

und in unseren Hotelverzeichniffen pflegen gewöhnlich nur Franzosen und Französinnen unter der in Folge deffen hier etwas verrufenen Bezeich­

nung „rentiers“

und „rentieres“ vorzukommen.

Ferner stehen der

französischen Regierung nicht nur ein sehr ausgedehntes Telegraphennetz und an siebzig Banksuccursalen zur Benachrichtigung des Publikums und zur Aufnahme der Subscripüonen zu Gebote, sondern es werdm auch sämmtliche SteuereiMehmer, Bürgermeister und Privatcreditanstalten zu

diesem Zwecke aufgeboten.

In Rußland fehlen all diese Mttel zur Bul-

garisaüon und Popularisation der Rente.

Es hätte eines Zeitraumes

von wenigstens sechs Monaten bedurft, um, nach den Urtheilen fach- und landeskundiger Männer, die Anleihe in jene Kreise zu bringen, wo allein noch unfruchtbares Capital vergraben ist.

Statt deffen hatte man im

Ganzen einen kaum dreiwöchentlichen Termin angenommen, und so mußte

es kommen, daß nicht nur das Publikum, welches man heranziehen wollte, sondern selbst Gouverneure aus entlegenen Provinzen das Decret ganz

und gar nicht kannten.

Vergleichm wir die Lage des Staatscredils zu

Ende des Jahres 1864 mit der des Vorjahres, so ergiebt sich eine Ver­

mehrung der fundirten und schwebenden Schuld von nahe an 200 Mllonen, ohne ein irgendwie entsprechendes Aequivalent durch Leistungen

der Regierung zur, Entwickelung des materiellen Wohls. — Daß für Verbesserung der Valutaverhältniffe weder direct noch indirect im Laufe

des Jahres etwas gethan wurde, beweist am schlagendstm die folgende Nebeneinanderstellung der Wechselcourszettel vom 31. December 1863 und 31. December 1864: 31. Dec. 1863.

Wechselcours London

31. Dec. 1864. 34ir

Amsterdam 1311 Hamburg

Paris

301 3661

311 Pence für 1 Rubel,

1521 Cents

-

27?« Schill. 324? Cent.

307

BolkSwirthschastliche Briefe auS Rußland.

We aus dieser kurzen Tabelle hervorgeht, hat der Werth unseres

Papiergeldes gegen Metall im Laufe des letzten Jahres einen Verlust von mehr als 10 Procent erlitten und ist heute auf 80 Procent des

Nennwerthes herabgesunken. Ueber die Eittwickelung der privaten Creditanstalten im Laufe des vergangenen Jahres haben wir in unserem letzten Berichte ausführlich

gesprochen, und der dort nicht erwähnten Petersburger Handelsbank ist

in früheren Briefen gedacht worden. dem Eisenbahnwesen zu reden,

Resultate zu Stande brachte.

Es bleibt uns also nur noch von

welches im Jahre

1864 nur negative

Zwei große Eisenbahnconcessionen,

von

.Kiew mch Odessa und von Moskau nach Sebastopol, welche im Jahre 1863 ertheilt wurden, die eine an russische, die andere an englische Un­

ternehmer, sind beide der Regierung zurückgestellt worden, weil man über

nachträglich nothwendig

gewordene Statntenveränderungen

nicht einig

werden konnte und weil die Regierung, unterstützt von einem Theile der öffentlichen Meinung,

sich wieder stark der Idee zuneigte,

selbst nüffe die Eisenbahnen bauen.

Wenn man

der Staat

also die noch sehr

problematischen Erfolge der Ungern-Sternberg'schen Sträflingsbauten in Abzug bringt, so ist in Rußland im Jahre 1864 so gut wie gar nichts

für die Verlängerung des Schienennetzes geschehen, und dürfte sich Aehnliches vm keinem andern europäischen Lande sagen lassen — etwa Däne­

mark aisgenommen. — Das Jahr 1865 wäre also vollkommen berech­ tigt,

de Erbschaft seines Vorgängers nur cum beneficio inventarii

antreten zu wollen.

Leider aber bestätigt die Geschichte auf jeder ihrer

Seiten die unvergängliche Wahrheit des Ausspruches des Propheten vom Berge Sinai:

Die Sünden

Kindeskndem gebüßt.

der

Väter werden an den Kindern und

Was der wirthschaftlichen Verwaltung Rußlands

zur Laß gelegt werden muß, das sind vor Allem Unterlassungssünden; ein wilbnloses Hineingehm in den immer tieferen Schlund der System-

losigkeit, wobei nur zuweilen zu einer kraftlosen Anstrengung ein kurzer Halt genacht wird.

Die angeborene Dmkträgheit des größten Theiles

der Bevilkerung, und zwar nicht nur der untersten Schichten (ein Ueberbleibsel der Sklaverei),

trägt das Ihrige dazu bei,

daß man es am

bequemsrn findet, von der Hand in den Mund zu leben und der Zukunft, dem nationalen „Awoß" die Lösung der Probleme zu überlassen, die mit jedem

20*

308

BoMwirthschaftliche »tiefe au» Rußland.

Tage drängender an uns herantreten und die, wenn ihnen nicht bald abgeholfen wird, das Reich mit wirthschaftlicher Jsolirung bedrohen. Diese Jsolirung ist ftellich der Lieblingswunsch einer gewissen ultra­ nationalen Schule, aber unmöglich kann die Regiemng darauf hinsteuem wollen. Ant. E. Horn.

Väter und Kinder. Roman von Iwan Turgenew.

VIII. Paul Petrowitsch wohnte nicht lange der Unterredung seines Bruders mit den Verwalter

bei, einem langen Hagern Manne mit süßlicher,

schwind uchtiger Stimme und schelmischen Augen, der auf alle Bemerungen Nikolaj Petrowitsch's erwiderte:

„Ich bitte Sie,

das ist eine

bekannt: Sache" und die Bauern als Trunkenbolde und Diebe darzu­

stellen suchte.

Die kürzlich auf neue Art eingerichtete Wirthschaft knarrte

wie ein ungeschmiertes Rad, krachte wie ein zu Hause gefertigtes Möbel

aus feuchtem Holze.

Iiikolaj Petrowitsch ließ den Muth nicht sinken,

doch stufte er oft und wurde nachdenklich.

Er fühlte, daß die Sache

ohne G