Russische Revue: Band 2 [Reprint 2020 ed.]
 9783112371701, 9783112371695

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Russische Revue. Zeitschrift zur

Kunde des geistigen Ledens in Ruhland. Herausgegeben von

Dr. Wilhelm WM«hn.

Zwritrr Band.

Leipzig,

E. F. Steinacker.

St. Petersburg,

Kaiserliche Hofbuchhandlung von H. Schmitzdorff. 1863.

Seite

Der Acker. Gedicht von Apollonius Maikow..................................................... 1 Demetrius und Boris Godunow, historisch und poetisch. Von Rud. Kulemann 3 Zur Reform der Civilhospitäler in St. Petersburg................................................. 14 Paul. Erzählung vom Grafen Leon Tolstoy...................................................28. 105 Die russische Journalistik.................................................................................................. 51 Ein Tagebuch vom HofePeter's desGroßen............................................................... 54 Zur Musikliteratur............................................................................................................ 56 Der Pentarchist.................................................................................................................. 57 Zur Geschichte des russischenPapiergeldes.................................................................. 59 Tanejeff's Sendung und ihreErgebnisse....................................................................... 63 Von der K. russischen geographischenGesellschaft. Von H. Keferstein ... 74 Aus Odessa........................................................................................................................78 Weibliche Sklaverei............................................................................................................ 84 Die Juden in Kowno.......................................... 85 Friedrich Rückert an seine Verehrer in Petersburg.................................................. 87 Verwechselung der „Zeit" in deutschen Zeitungen. — Herr Wodowosoff . . 88 Bauernwallfahrten............................................................................................................ 90 Der Verein zur Unterstützung hilfsbedürftiger Schriftsteller und Gelehrten zu St. Petersburg............................................................................................... 91 Literarische Notizen............................................................................................................. 92 Die innere Stimme. Gedicht von Jacob Polonsky................................................. 97 Polemik gegen die Russen im Auslande........................................................................99 Zur Sache des Protestantismus in den russischen Ostseeprovinzen. Von Rud. Kulemann................................................................................................................ 147 Die Nationalzeitung über russische Zustände.......................................................... 160 Russische Erwerbungen auf dem Amurgebiete........................................................... 169 Die Eisenbahnfrage in Rußland................................................................................ 174 Aus Moskau......................................................................................................................178 Lieder von N. Nekrassow........................................................................... . . 185 Bilder aus Beflarabien. Von Rud. Kulemann..................................................... 187 Der Gasthof. Erzählung von Iwan Turgenew................................ 216. 287. 400

La Pologne et ses limites................................................................................. 234 Zur geographischen Literatur

..................................................................................... 239

IV

Inhalt. ©eite

Ein russisch-deutscher Handelsvertrag........................................................... 242 Gildeversammlungen ...................................................................................................... 243 Eine Streitfrage................................................................................................................. 246 Zur Geschichte des Mittelalters (Stassulewitsch)......................................................256 Verordnungen der Regierung........................................................................................... 261 Mahnruf. Gedicht von Michael Lermontow...........................................................267 Noch ein Wort über das Petersburger Hospitalwesen........................................... 269 Die russischen Zeitblätter II.............................................................................................. 278 Der Pontushandel . . . •................................ 310 Der Raskol ................................................................ 315 Aus Petermann's „Mittheilungen"...........................................................................318

Etüde sur Alexandre II...........................................................................................320 Zur Sprach- und Landeskunde (Dahl's russisches Wörterbuch).......................... 325 — — (P. Semenaw's Geographisch-statist. Lexicon des russ. Reichs.......................................... 325 Schilderungen aus Kurland........................................................................................... 327 Stschedrin in Deutschland................................................................................................ 329 Ludwig Mercklin................................................................................................................ 340 Wissenschaftliche Sammlungen in Odessa................................................................ 341 Körner's „Zriny" in Petersburg................................................................................ 342 Der Tod Jwan's des Schrecklichen. Trauerspiel von Alexis Grafen Tolstoy 347 Ueber das Volksschulwesen in Rußland. Von N. v. Gerbel ...... 383

Ein russischer Schauspieler........................................................................................... 394

Bulletin de la Societe Imperiale des naturalistes de Moscou........................414 Aus Moskau......................................................................................................................416 Das Nachtmahl Severs. Gedicht von Karoline v. Pawlow ...... 419 Russische Vagabunden................................................. 427 Kleinrussische Landedelleute. Idylle von Nikolaus Gogol..................................... 447 Der Weinbau in Bessarabien...................................................................................... 470 Theater in Moskau........................................................................................................... 474 Russische Städte: Cherson........................................................................................... 477 Der Stand der Bauernangelegenheit.......................................................................... 479 Der Hilfsverein der Handlungscommis in Moskau................................................ 481 Nikolaus Swertschkow..................................................................................................... 483

Tabaksbau in den deutschen Kolonieen an der Wolga...........................................483 Verfall des Theehandels................................................................................................484 Eine Rostower Zeitung..................................................................................................... 485 Dampfschifffahrt auf der Wolga........................................................................... . 485 Medicinische Gesellschaften................................................................................................ 486 Bibliographie...................................................................... 94. 181. 263. 344. 418. 487

Der Acker. Von Apollonius Maikow*).

Ach wanbf auf schmalem Rain, den stachelichte Meld'

Und bunter Klee umwächst, hin durch das Ackerfeld.

Allüberall, wohin ich blicke, dicht Getreide — Kaum, daß auf meinem Weg ich's mit den Händen scheide.

Es schimmert, rauscht vor mir; es stechen in's Gesicht, Daß ich mich bücken muß, ringsum die spitzen Aehren —

Als hätt' ich einen Schwarm von Bienen abzuwehren, Die, weil ich übersprang den grünen Weidenhag, Ich plötzlich aufgescheucht an sommerhellem Tag.

O Gottessegen!

O, wie labend ist's, zu liegen

Im Schatten hohen Korns, dem feuchte Kühl' entstiegen

ES stehen über mir die Aehren, sorgenschwer, Und führen ein Gespräch, ein ernstes, hin und her. Ich lausch' und seh': so weit die reichen Fluren schwellen.

Da taucht das Schnittervolk, gleichwie in Meereswellen. Schon binden fröhlich sie die vollen Garben ein,

Und Abends schlagen schon die Drescher tüchtig drein.

*) Unter den Gedichten dieses geschätzten Lyrikers ist das vorstehende, das wir hier treu wiedergeben, ein Lieblingsgedicht der Petersburger Gesellschaft. Der Verfasser selbst hat es wiederholt öffentlich vorgetragen. Wir brauchen kaum zu bemerken, daß der lebhafte Beifall, den es fand, wmiger der idyllischen Schilderung als dem rührenden Wunsche galt, mit dem es schließt und der in allen patriotischen Herzen nachklingen muß. «uüijche Stevue. u i. Heil, im

1

2

Der Acker. Aus Speichern in die Luft wird süßer Duft getragen; Auf allen Wegen knarrt^s von Hochbeladnen Wagen;

Am Hafen lagert man die Säcke lärmend ab,

Und wie ein Kranichzug, den ganzen Fluß hinab. Dicht ziehn die Schiffer an, fest in einander greifend,

Gebeugten Haupts, die Fluth mit langem Seile streifend.

O Gott! Du hast so reich mein Vaterland beglückt Mit Wärme, Fruchtbarkeit, des Himmels heiligen Gaben — Doch wenn du unsre Flur mit goldnem Korn geschmückt,

O wolle, Herr, auch mit des Geistes Brod uns laben!

Schon hat das Ackerfeld, darinnen du gesät, Herr, des Gedankens Saat, der Frühling angeweht;

Von allen Stürmen ist sie unversehrt geblieben, Und frische Keime hat jetzt diese Saat getrieben.

O gieb unS Sonnenschein, o gieb uns heitre Luft, Die aus den Furchen sie zu üpp'ger Blüthe ruft! Daß wir, wenn auch als Greis", uns auf die Enkel lehnen, Einathmen einst den Duft von ihren reichen Au"n,

Vergessend, daß wir sie getränkt mit unsren Thränen,

Ausrufen: „Himmel! welch" ein Segen, den wir schau"n!"

Demetrius und Boris Godunow, historisch und poetisch. Der Vorstand des Donnerstagsvereins zu Bonn hat einen daselbst im März 1861 von Professor Dr. Fr. Lorentz (weiland Director der deutschen Hauptschulen zu St. Petri in Petersburg) gehaltenen Vortrag

über den „falschen Demetrius" durch den Druck*) zur Kenntniß weiterer Kreise gebracht.

Es liegt uns mit dieser letzten Arbeit des verstorbenen

Verfassers eine sehr schätzenswerthe Schrift vor: eine aus einheimischen Quellen geschöpfte übersichtliche, gedrängte und doch an Einzelheiten reiche

Darstellung einer der merkwürdigsten Begebenheiten der russischen Geschichte, einer Begebenheit, die durch Schiller's leider unvollendet gebliebenes Drama

auch dem Antheil des größern Publikums in Deutschland nahe gerückt ist. Wir nehmen Veranlassung, zunächst an eine Stelle anzuknüpfen, in welcher sich Lorentz bezüglich der Schiller'schen Tragödie folgendermaßen

äußert:

„Wie bei allen historischen Stoffen hat Schiller sich auch bei

diesem erlaubt, mit der geschichtlichen Wahrheit frei umzuspringen, und

es wird daher nicht uninteressant fein, den Helden des Dichters in seiner wahren Gestalt kennen zu lernen." Nun, diese wahre Gestalt ist weiter nichts, als die eines Betrügers, der blos auf den Zaren

als solchen in der Fassung

äußerer in die

Sinne fallender Embleme und Zuthaten ausging, ohne die schlimmen Mittel, die ihn dahin führten, einmal durch Beziehung auf großartige,

das Reich beglückende Zwecke mildernd und versöhnend auszugleichen. Der historische Demetrius — sein eigentlicher Name ist Jurij

Otrepjew — sucht in dem Tschudowkloster zu Moskau durch das Gerücht, daß Demetrius, Jwan's Sohn, noch lebe, sich seinen abenteuerlichen Weg

*) Berlin, Verlag von Heinr. Müller, 1862.

4

Demetrius und Boris Godunow.

zum Thron zu bahnen.

Von Boris auf eine Insel des weißen Meeres

verbannt, weiß er nach Polen zu entrinnen.

Hier erlernt er in einer

Anabaptistenschule die lateinische Sprache, von der er in seinen spätern Manifesten Proben ablegt.

Bei den Saparoga-Kosaken, an deren Raub­

zügen gegen Türken und Tataren er Theil nimmt, sucht er sich einen ritterlichen Anstrich zu verschaffen.

Vornehmlich aber sind es die Je­

suiten, welche ihn emporheben: an ihn hoffen sie eine großartige, auf

Rußland

berechnete Intrigue zu

knüpfen.

Sie empfehlen

Fürsten Wischnewezky, der ihn in seine Dienste nimmt.

ihn

einem

Hier stellt sich

Otrepjew todtkrank; er macht auf ein unter seinem Bette befindliches

Papier

aufmerksam,

welches seine Lebensgeschichte

enthalte.

Ein mit

kostbaren Steinen besetztes goldnes Kreuz, bis zur Täuschung demjenigen

ähnlich, welches dem wahren Demetrius von seinem Taufpathen, dem Fürsten Mstiflawsky, umgehängt worden war, befindet sich — ohne Zweifel hatten es die Jesuiten von demselben Goldarbeiter nach dem Originale anfer­

tigen lassen — auf Otrepjew's Brust und bestärkt den leichtgläubigen

Fürsten in dem Wahne, daß er der wahre Demetrius sei.

Er macht

ihn mit seinem Bruder Constantin, dieser mit seinem Schwiegervater,

Georg Mnischek, Woiwoden von Sendoniir, bekannt.

Von dessen Schlosse

Sambor, wo sich der galizische und kleinpolnische Adel schmausend zu versammel^ pflegt, verbreitet sich die Nachricht; der kriegslustige polnische Adel iMeressirt sich für den Mann.

Inzwischen suchen ihm die Jesuiten

auch die Anerkennung des eifrig katholischen Königs Sigismund zu ver­

schaffen, der ihn zu Krakau in öffentlicher Audienz als den Sohn Jo­

hanns IV. anerkennt, unter der Bedingung, den katholischen Glauben anzunehmen, was denn auch im Jesuitencolleg zu Krakau, wohlweislich

vorerst im Geheimen, geschieht.

Bei der Abneigung des polnischen Reichs­

tages, den unlängst mit Rußland geschlossenen zwanzigjährigen Waffen­ stillstand zu brechen, erhält gleichwohl der falsche Demetrius Erlaubniß,

im Reiche Freischaaren zu werben — eine willkommene Gelegenheit für

den beutelustigen, beschäftigungslosen Adel Polens.

Der Woiwode Mni­

schek, der seine Tochter mit Demetrius verlobt hatte,

übernimmt den

Oberbefehl. — Nach dem plötzlichen Tode des Boris Godunow, der. an einem Nervenschlage stirbt (ein Ereigniß, welches das Volk für ein Straf­

gericht des Himmels nimmt), ist dem Demetrius der Weg nach Moskau

gebahnt.

Er schickt die Fürsten Massalsky und Galizyn dorthin, um

den bereits von dell Aufrührern entthronten Sohn Boris', Feodor II.,

„Das Schicksal dieser Getödteten, benierkt

und dessen Mutter zu todten.

Lorentz, ivar beueidenslverth im Vergleich mit dem Loose, das der armen Zarewna Lenia harrte.

Diese, eine der schönsten Prinzessinnen

ihrer

Zeit, hatte schon vor zwei Jahren das Unglück erfahren, ihren Verlobten,

den dänischen Prinzen Johann, den jüngsten Bruder König Christian's IV., durch den Tod zu verlieren; jetzt ward sie dem Henker ihrer Familie überliefert, um seinen unreinen Begierden zu dienen, und später, nachdem

er ihrer überdrüssig geworden war, in ein Kloster verstoßen, wo sie noch sechzehn Jahre lang

ihr entehrtes Leben vertrauerte."

hält seinen Einzug in Moskau.



Demetrius

Die Mutter des von Boris getödteten

lvahren Demetrius zwingt er durch Drohungen zu der Erklärung, daß

er ihr Sohn sei. erreicht.

Hierauf wird er zu Moskau gekrönt, er hat sein Ziel

Aber der Leichtsinn, mit welchem er sich über russische Art und

Sitte hinwegsetzt, beschleunigt seinen Sturz.

Er

stützt

sich

auf seine

deutsche Leiblvache von 300 Hellebardieren und auf die Polen, die sich mehr und mehr in Moskau einfinden.

Gegen allen Zarischen Anstand

schwingt er sich wie ein Kosak auf's Pferd, er geht auf die Bärenjagd; vor dem Esien bekreuzt er sich nicht vor den Heiligenbildern und nach

demselben wäscht er nicht seine Hände; er hält nicht die übliche Mittagssiesta, er läßt sich bei Tafel von polnischen Musikanten auffpielen, er

genießt Speisen, welche der Russe für unrein hält, er räumt neben seinem Palaste den Jesuiten ein Gebäude für den Gottesdienst nach römisch-

katholischem Ritus ein.

Endlich die Ankunft seiner Braut Marina mit

einem Gefolge von 2000 Polen, der Uebermuth, mit welchem diese auf­

treten, der Umstand, daß es nicht verborgen bleiben konnte, um welchen Preis er sich diese Marina und die polnische Hülfe erkauft — alles Das steigert die Gemüther zur höchsten Erbitterung, man vereinigt sich, den „polnischen Pfeifer", wie sie ihn nennen, zu stürzen.

morgens

4 Uhr,

an einem

der glänzenden Feste,

Am 17. Mai früh­

die auf die Ver­

mählung mit der Marina folgten, als Demetrius, der die Nacht über wie gewöhnlich getanzt und geschmaust hatte, sich in den Hof hinab begab, um frische Luft zu schöpfen, erschallt das Sturmgeläut von den zahl­

reichen Glockenthürmen Moskau's.

Bewaffnete dringen bereits in die

6

Demetrius und Boris Godunow.

Höfe des Kremls.

Demetrius, den man in den Palast hinein verfolgt,

auf ein für die Festillumination be­

flüchtet sich zum Fenster hinaus

stimmtes Gerüst, aber indem er von einem Balken zum andern springen

will, stürzt er 100 Fuß tief auf den Hof hinab, wo ihn aufgestellte

Strelezen durch Besprengen

mit Wasser wieder in's Leben rufen und

Anfangs gegen das andrängende Volk vertheidigen wollen, bis sie ihn herzutretenden Bojaren, die unter Drohungen seine Auslieferung fordern,

übergeben.

Demetrius

beharrt

bei seiner Aussage, er sei der Sohn

Jwan's, und beruft sich auf das Zeugniß seiner angeblichen Mutter, der Zarin Marfa.

Aber diese läßt sagen, sie

sei durch Drohungen zu der

fälWichen Erklärung gezwungen worden; ihr Sohn, der echte Deme­

läge zu Uglitsch begraben.

Demetrius will öffentlich auf dem

Marktplatz die Wahrheit enthüllen.

Als aber das Volk draußen brüllt:

trius,

schlagt ihn todt! drängt sich ein gewiffer Walujew heran und schießt

ihn mit den Worten nieder: das ist der rechte Segen für den polnischen Pfeifer!

Seine Leiche wird

außerhalb

des Thores

verscharrt,

dann

wieder ausgegraben, öffentlich verbrannt und die Asche in eine Kanone

geladen, die man in der Richtung nach Polen hin abschießt. der falsche Demetrius.

So endete

Gegen 2000 Polen wurden bei dieser Gelegenheit

erschlagen.

Auf Grund dieser, wie wir annehmen dürfen, unzweifelhaften That­ sachen, die man bei Lorentz weiter nachlesen mag, müssen wir denn freilich auch sagen: Schiller hat sich erlaubt, von der Geschichte abzuweichen,

oder, um mit Lorentz zu reden, mit der geschichtlichen Wahrheit frei um­ zuspringen.

So fehlt, um nur ein Beispiel anzuführen, in der wirk­

lichen Geschichte der Mörder

des

echten Demetrius

(er

wurde

un­

mittelbar nach der That von den Einwohnern von Uglitsch erschlagen), der bei Schiller aus Rache gegen Boris, welcher ihm den Lohn für die That versagt, in dem Knaben, späterhin genannt Demetrius, einen Kron­

prätendenten erweckt, das heißt mit andern Worten: In Jurij Otrepjew

entspringt der Entschluß, ein Zar zu werden, von vornherein aus selbst­ ständiger Berechnung, er geht von Anfang bis zu Ende-ohne die Ari­

stotelische Peripetie auf der geraden Linie der Betrügerschaft, während

bei dem aus Uglitsch entführten Knaben dieses unter solchen Umständen für ihn außerordentliche Ereigniß den Glauben an eine äußere Providenz

und hierdurch den innern Glauben an sich selbst erweckt.

Otrepjew ist

von vornherein ein ungläubiger, der Schiller'sche Demetrius ein gläubiger

Mensch.

Eine Persönlichkeit aber, bei der das Fatum, oder die äußere

Nöthigung zu der innern hinzutritt, eignet sich unendlich mehr zu einem tragischen Helden, als derjenige, der sich seine Zwecke aus bloßer mensch«

kicher Berechnung stellt.

Auch Macbeth steht sowohl unter dem Einfluffe

Die Erscheinung der Hexen läßt sich wohl

seines Ich, als des Fatums.

nicht auf eine nackte, geschichtliche Thatsache zurückführen.

Der gewöhn­

liche historische Nationalismus möchte das, aber was käme da heraus?

Wollte und sollte man sich bei. dramatischen Arbeiten lediglich an

die nackten Thatsachen halten, so würden wohl wenig Dramen geschrieben werden können.

Gewisse Historiker und namentlich auch Philologen, deren

Sinn auf die genaue Bestimmung von Einzelheiten gerichtet ist, vergeffen leicht, daß im Drama andere Gesetze obwalten, als in der Darstellung

Während die Geschichte als solche die Dinge

des thatsächlich Geschehenen.

mehr aus- und nebeneinander legt, hat es das Drama, namentlich die Tragödie

auf Abrundung

abgesehen.

Innerhalb dieses Kreises wirst

sich als Mittelpunkt und Höhe ein Charakter auf, durch welchen die Niederungen

Beziehung

und

Beleuchtung

erhalten.

Der

dramatische

Dichter meißelt das von der Geschichte ihm überlieferte Material zur Statue heraus, indem er das Widerstrebende entweder wegwirft, oder formend und bildend nach ihrer Hoheit hinbiegt.

Auf Einheit, Höhe,

Organismus, in welchem und durch welchen das Einzelne seine Bedeutung und Weihe erhält, auf Symmetrie und System, auf das unerbittliche

Gesetz der Logik, auf die Zwecke, auf die, wennschon noch in der Ferne

schwebenden Resultate des Wollens, nach denen sich die Einzelheiten als Mittel im raschen dramatischen Flusse hinbewegen, darauf kommt es an.

Die Ereignisse bloß cvpiren oder aneinander reihen, heißt Episodm und disjecta membra aufstellen, welche an den dramatischen Körper bloß

erinnern, aber ihn nicht erscheinen lassen.

Schiller zeigte oder wollte

einen solchen in seinem Demetrius zeigen.

Indem er die Thatsachen

meißelte, ergänzte, zurecht legte, schuf er sich eine neue Basis, auf welcher

ein Held zur Darstellung kommt, der zwar in den Thatsachen wurzelt, aber weit über dieselben hinausragt.

Der Zuschauer, der ihn von der

Bühne herab sieht und erlebt, geht mit dem Rufe: das ist ein Mann!

8

Demetrius und Boris Godunow.

von bamten, ohne reflexions- und kritiWchtig die genaue Uebereinstim­

mung desselben mit der MMchkeit darthun zu wollen.

Der Mann,

den er jetzt wahrhaft und wirklich in seinem Gemüthe nachempfindet, ist

ihm in der That wichtiger, als die Wahrheit geschichtlicher, gar häufig auch nur zufälliger und unconstatirter Einzelheiten, durch die er die Ver­

schiedenheit zwischen dem Helden des Historikers und dem des dramaüschen Künstlers nachweisen mag.

Lassen wir uns also den Schiller'schen Demetrius gefallen, trotz der

Abweichung von dem historischen, den wir bei der Entlegenheit des Stoffes und der Unsicherheit der Quellen, die um so größer wird, je

weiter von Osten her dieselben strömen, ant Ende doch auch nur auf guten Glauben hinnehmen müssen.

Der Schiller'sche Demetrius glaubt

an seine Abstammung von Iwan IV.: „Dunkel mächtig in den Adern

Empörte sich das ritterliche Blut." Und:

„Hier herrschten die Waräger, meine Ahnherrn." Mer er fühlte sich auch innerlich von dem „muthigen Geiste, der aus

Sclaven ftohe Menschen machen will," berechtigt, ein Zar Rußland's zu sein.

außen in die

Die bloß innerliche Berechtigung, mit der Kraft, derselben nach hin Geltung

zu verschaffen,

ohne sich

als integrirendes Glied

fortlaufende Kette regierender Vorfahren

einstigen zu

können,

erzeugt die Parvenüs in edler Bedeutung des Worts: sie datiren ihren Ursprung von sich, oder um die Sache noch weiter Herzuholm,

dem göttlichen Dämon

in

ihrer

venü.

Der

Brust.

bleibt

wie er bei Lorentz erscheint,

tragische Dichter

kann

stets

historische Demetrius,

Der

nur ein gewöhnlicher Par­

ihn nicht

offenbart sich der Schiller'sche mit äußerer als ein ganzer Mann.

aus

gebrauchen.

und

Und da ist es nun

Dagegen

innerer Berechtigung

sehr

tragisch,

wie

die

Einheit desselben beim Auftauchen des Zweifels an seiner äußern Be­ rechtigung in zwei Hälften auseinander brechen muß, von denen die eine, das Bewußtsein von dem eignen innern Werth, der andern zum Opfer fällt.

Warum das? ruft theilnahmvoll der Zuschauer, der diese Con­

flicte auf der Bühne erlebt.

Warum mußte Marfa's Zeugniß, daß De­

metrius ihr Sohn sei, letzterem so unerläßlich nothwendig sein?

Konnte

sich Rußland nicht

an der innern

Tüchtigkeit des Mannes

genügen

lasten, aus-der wie aus einem lebendigen Quell sich der Segen über

das Reich würde ergossen haben?

Bedurfte es noch eines Namens, um

dasjenige bloß äußerlich zu bestätigen, was bereits innerlich vorhanden

war?

Ja! anttvorten wir.

An dem einen Gegensatze, der sich ihm ge­

genüber negativ verhielt, mußte er zu Grunde gehen.

Er mußte, denn

für Rußland war die Aufgipfelung des Reiches zur Zarischen Spitze und

die unverkürzte Wiederholung derselben in den von ihr entsprungenen und sich fortsetzenden Trägern eine Naturnothwendigkeit, ein Fels, der

„rocher de bronce," an welchem die sich durchkreuzenden, befehdenden und die Gesammtheit schwächenden Sonderintereffen der Theilfürsten, der

Bojaren zerschellten.

Zu ihm sah und hob sich das Volk aus seiner

Niedrigkeit

Iwan IV. nannte

empor.

man den Schrecklichen! —

Dennoch that er für die Civilisation seines Volkes mehr als irgend einer

seiner Vorgänger; er legte Buchdruckereien an, er berief Gelehrte und Künstler in sein Reich, er schuf ein stehendes Heer, er brach mit dem

Keile der in ihm gipfelnden Staatsmacht die auf Kosten derselben sich

aufwerfenden Einzelgrößen —

dieser

Schreckliche

war

im Gmnde

genommen der Maste des Volks nicht so schrecklich als die einzelnen über das Land verstreuten Großen, die ihm dicht an den Fersen saßen, es nach Belieben drängen und drücken konnten.

einer

Ueber solche Höhen nach

höhern Höhe hinaufblicken, ja zu derselben sich hinaufretten zu

können — nun, man wird es begreiflich finden, daß das Volk die Noth­

wendigkeit einer ununterbrochenen Zarischen Reihenfolge stark instinktiv

herausfühlte.

Denn nur ein Glied aus dieser Kette herausgebrochen und

die Verwirrung, der Drang und Druck des Volkes brach in die Lücke.

Selbst der unvermittelte, äußerste Absolutismus dünkt ihm erträglicher, als das vervielfachte Herrenthum, das ihm um so drohender erscheint,

je näher es sich an seinen Leib herandrängen kann.

Erst einer andern,

der neuesten Zeit, ist es Vorbehalten, um die ragende Spitze weithinaus sich das Volk mit wurzelhaften, wohlumfriedeten Besitzthümern ansiedel«

zu lasten.

Die Folgen der Emancipation de.r Bauern werden sich wie

springende leuchtende Punkte um die Höhe legen. — Demnach also mußte der Schister'sche Demetrius trotz seiner innern Berechtigung, ein Zar zu

sein, an dem äußern nicht minder berechtigten Gegensatze, der ihm die Aner-

Demetrius und Boris Godunow. kennung der Abstammung von den Zaren versagte, zu Grunde gehen.

Wie

sehr müssen wir bedauern, daß es Schiller nicht vergönnt'war, seinen

Demetrius zu vollenden!

Gewiß wären da auch die Conflicte der beiden

Berechtigungen — jede wahre Tragödie beruht auf dem Principe gleich­ berechtigter nur zu schroff ausgeprägter Gegensätze — zu Tage getreten. Welch

ein Anlaß, in dem Gemüthe der Mutter des ermordeten Deme­

trius den Widerstreit zweier Gewalten: das Gefühl der vom mütterlichen HerM dictirten Rache, der sich Demetrius als Mittel darbot, und das

Bewußtsein, daß sich die Zarische Höhe, auf der sie selber als Zarin

stand,

nicht auf diesen Demetrius übertragen lasse,

in

Action

zu

bringen!

Aus Lorentz's Abhandlung ist es nun für die Geschichte Rußlands und namentlich dessen dynastische Verhältniffe

merkwürdig zu sehen,

interessant und

äußerst

welche Mittel Boris Godunow,

dieser

für das

Herrscheramt geborene und so sehr tüchtige Mann, in Bewegung setzte,

um den zweiten Factor, die äußere Berechtigung, zu erhalten.

geistig und

Von dem

körperlich schwachen und kinderlosen Zar Feodor 1,

mit

welchem seine Schwester Irene verheirathet ist, läßt er auf diese die Krone testamentarisch übertragen.

Feodor stirbt und die Kaiserin Irene geht

acht Tage darauf, die Krone ihrem Bruder überlassend, in ein Kloster.

Alle ohne Unterschied huldigen ihm. vollständig im Recht.

Demnach befindet sich Boris formell

Aber seine bereits lange vorher der Krone zuge­

wandten, durch den von ihm veranlaßten Mord des echten Demetrius erschütterten Gedanken, kränkeln ihm Furcht an, die ihn diese erste und

Hauptberechtigung durch andere erweitern läßt, wodurch denn der Ver­ dacht erregt werden mag, daß die Schwäche derselben verdoppelter Schilde

bedürfe.

Richt zufrieden mit der Uebertragung von Seiten der Zarin,

will er auch die Zustimmung des Volks. Die Abneigung vor dem Herrscher­ amt erheuchelnd, folgt er feiner Schwester, der Kaiserin-Nonne, in's Kloster

und überläßt das Reich anscheinend seinem Schicksal, während inzwischen

seine Agenten für ihn handeln und Weiteres anbahnen.

In hellen Haufen

umgeben sie den Palast, in welchem unter dem Vorsitz des Patriarchen Hiob die Bojaren versammelt sind, die Kaiserin aus dem Kloster zurück­ begehrend.

Als man ihnen antwortet, daß diese für immer auf die Welt

verzichtet habe und jetzt Anarchie zu befürchten sei, hört man den Ruf:

dann solle Boris regieren!

Der Patriarch Hiob giebt seine Zustimmung

die Bojaren, von Furcht getrieben, ebenfalls, die Kaiserin-Nonne segnet Aber Boris genügt es nicht an der Zustimmung der

ihren Bruder ein.

Stadt Moskau, er will auch die des ganzen Reichs.

Zu diesem Zwecke

wird eine Reichsversammlung, bestehend aus 474 Personen, durch welche

alle Stände repräsentirt sind, nach Moskau berufen.

In der That die

erste und einzige Reichsversammlung, die jemals in Rußland stattgefunden hat, aber sie war durch Boris' Agenten zusammengerafft, zur Debatte

kam es gar nicht.

Allein der Patriarch Hiob ergriff das Wort, um

Boris Godunow für die Krone in Vorschlag zu bringen. bei.

Alle stimmen

Boris, seine Heuchelei bis zur äußersten Spitze treibend, antwortet

der an ihn abgesandten Deputation zornig, daß er niemals die Krone

annehmen würde.

Nun begiebt sich die Geistlichkeit in feierlichem Aufzug

unter Glockengeläut und Kirchengesang in das Kloster, in welchem sich

Boris mit der Kaiserin-Nonne befindet und bittet letztere, ihrem Bruder zu befehlen, die Krone anzunehmen, ja, der Patriarch Hiob droht im

Falle der Weigerung mit Exkommunikation und Interdikt.

Mittel wirkt.

Dies starke

Die Kaiserin befiehlt und Boris nimmt an.

Nun entfaltet sich weiterhin die Tüchtigkeit des Mannes.

Er sucht

die Kluft auszufüllen, welche Rußland von der Civilisation des Occidents trennt, er zieht gebildete Ausländer in's Reich. das ein Anlaß, den Zar verhaßt zu machen.

Aber den Gegnem ist

Er, als Bojar unter Bo­

jaren zum Kaiser ernannt, glaubt alle Ursache zu haben, vor letzteren be­ sorgt zu sein.

Seine durch Geivissensbisse gesteigerte Furcht läßt ihn

Spione entsenden, welche ihm die mächtige und ganz unschuldige Familie Romanow denunciren.

Nur den Michael Itomanow, den spätern Be­

gründer einer neuen Dynastie, rettet dessen unmündige Jugend. Die Folge ist erweiterter Haß gegen Boris.

ihn verschworen zu haben.

Selbst der Himmel scheint sich gegen

Eine Himgersnoth rafft allein in der Stadt

Moskau 200,000 Menschen hin.

Die Gutsbesitzer jagen ihre erst neuer­

dings erworbenen Leibeignen fort, um sie nicht ernähren zu müssen. Reich füllt sich mit Vagabunden an. waltthat.

Das

Weit und breit Raub und Ge­

Man legt Alles der Regierung zur Last.

In dieser für Boris

äußerst mißlichen Lage tritt der falsche Demetrius auf, der unbewußt sich mü einem noch größern Helden, dem Dämon im Gewissen

des Boris,

verbindet. Boris stirbt plötzlich zwei Stunden nach eingenommener Mit­ tagsmahlzeit. — Stellen wir nun diesen historischen Demetrius und diesen hi­ storischen Boris neben einander, so behaupten wir, daß sich ersterer gar nicht, letzterer aber in jeder Hinsicht zu einer Tragödie eigne. Wenn man zu dramatischen Aufgaben immerhin solche Stoffe wählen soll, wo die Darstellung sich auf der Basis der überlieferten Geschichte bewegen darf, ohne sich allzusehr von ihr zu entfernen, so liegt hier ein solcher Fall vor. Ja, man braucht diesen Boris mit seinen Berhältnisien und Umgebungen säst nur, so zu sagen, aus der Geschichte herauszuschälen und in den dramatischen Rahmen zu fügen und die Tragödie ist da, falls der Dichter nur das Geschick hat, das Einzelne durch richtige Motivirung und Vermittlung mit dem Höhenpunkte zu verknüpfen. Freilich, ohne alle Abweichung von dem historisch Ueberlieferten kommt man auch hier nicht ab. Nehmen wir z. B. den Fall an, daß ein Obennedicinalcolleg den plötzlichen Tod des Boris officiell gutachtlich als Nervenschlag oder als jähe Folge einer Indigestion constatirt habe, so würde der tra­ gische Dichter eine solche Todesart gar nicht gebrauchen können, sondern müßte, so sehr auch das Obermedicinalcolleg sich darüber erboste, eine andere erfinden. Also Gift? Nein; obwohl Schiller das nach seinem Prosa-Entwürfe wollte — er würde sich jedoch noch wohl bedacht haben. Brutus in der Schlacht von Philippi stürzte sich in's Schwert (Schwert ist bloß eine andere Form für Gift), aber dieser reine, rasche, abge­ rundete, plastische Mann, dieser „letzte Römer" konnte und durfte das, er zog es vor, lieber gleich ganz zu fallen, als da halb zu stehen, oder zu kriechen, wo Alles kroch. Aber Boris — diese Macbeth-Natur, der auch ein Zug von Hamlet'scher Grübelei beigemischt ist! Warum lassen wir ihn nicht am Dämon sterben? Den Kampf zweier Gewalten auf dem Gebiete des innern Seelenlebens zu schildern und bis zur Vernichtung zu steigern, ist eine schwierige Aufgabe, doch der Dramatiker würde sie zu überwinden haben. Aber wo ist denn der Dämon? sagt das Ober­ medicinalcolleg, welches die Geschichte so historisch genau kennt, d. h. der Historiker entkleidet das Factum seines idealen Motivs. Der Dämon ist da! sagt der dramatische Dichter, d. h. er entkleidet die Idee ihrer rohen Umhüllung, des bloß historisch constatirten Factums, das sie ver-

Nun, das ist auch ein Unterschied zwischen dem Historiker, der

barg.

sich auf Urkunden stützt, und dem dramatischen Dichter, der Ideen und

geheiniste Triebfedern zugleich mit dem Leibe des Factums geben will.

Für unsere oben ausgesprochene Behauptung citiren wir aber eine Stelle aus Lorentz: „Diesem mit ungeivöhnlichen Fähigkeiten ausgestatteten Manne (nämlich Boris) verdankt Rußland, daß es während der vierzehnjährigen

Regierung des Schattenzaren Feodor Ruhe

im Innern und Ansehen

nach außenhin genoß, und daß diese Zeit im Vergleich mit den ihr vor­ ausgegangenen Gräueln und den ihr folgenden noch größern Stürmen als eine der glücklichsten Epochen seiner Geschichte erscheint."

Mt diesen

Worten ist das Zeug zu einem tragischen Charakter gegeben, insofern

dessen Tüchtigkeit als Basis mit einem Gegensatze, der sich über ihm

schwebend erhält und nicht als so wesentlich erscheint, in Conflict gerät!) und überwunden wird.

Boris — ein solcher Zar! — fällt einem Namen,

dem Namen Zar zum Opfer, den er vergebens innerlich mit dec Tüch­

tigkeit seines Wesens zu amalgamiren versucht, obwohl er ihn äußerlich besitzt.

Die Tragödie hat zu schildern, wie dieser Mann sich abarbeitet,

um einen Namen zu erobern, wie er seine Mittel steigert, immer höher greift und doch in seinem Bewußtsein den Namen nicht gewinnen kann. Unter der Wucht eines bloßen Namens, der diesem Boris, wenn er sich

in die Tiefe seines Gewissens grübelnd versenkt, gespenstisch unter der Gestalt des gemordeten echten Demetrius wie ein anderer Banquo er­

scheint, fällt der auf starke Säulen gestiitzte Unterbau seines Charakters

trümmernd zusammen.

Run, wir sollten meinen, das wäre wahrhaft

tragisch.

Schließlich können wir nicht umhin, auf die anregmde Abhandlung von Lorentz mit dem Wunsche zurückzuweisen, daß ihr die wohlverdiente Aufmerksamkeit zu Theil werde.

Kudolf Kutemann.

Zur Reform der Civilhospitäler i« St. Petersburg. In einer Zeit, wo die Regierung nach allen Richtungen der Verwal­ tung hin durchgreifende Reformen vorbereitet und bemüht ist, den For­ derungen der öffentlichen Meinung, so

weü

dieselben begründet sind,

Rechnung zu tragen, darf es gewiß nicht überflüssig erscheinen, wenn wir eine Frage zur Besprechung bringen, die eben so tief, ja vielleicht mehr noch wie manche andere in das allgemeine Wohl der Bevölkerung ein­

greift.

Wir sind uns vollkommen der Schwierigkeiten bewußt, welchen

eine nach allen Seiten hin befriedigende Lösung dieser Frage unterworfen

sein dürfte und sind weit davon entfernt, uns Illusionen zu machen

über die Opferbereitwilligkeit aller jener Parteien, von deren Mitwirkung diese Lösung abhängig wird.

Nichtsdestoweniger glauben wir aber, daß

eine möglichst objective, von jedem Parteistandpunkte ferne Betrachtung

der Dinge zur Klärung der Ansichten beitragen muß und vielleicht in manchen Köpfen die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit einer Umge­ staltung

des Bestehenden

erwecken wird.

Unsere Tagespreffe

hat in

letzter Zeit mit lobenswerther Freimüthigkeit die verschiedenen Schatten­

seiten des ärztlichen Bemfes ans Licht gezogen und sich nicht gescheut, als die Wurzel alles Uebels die Unterordnung des medicinischen Elementes

unter -äs nichtmedicimsche, rein

büreaukratifche zu bezeichnen. Sie hat

uns gezeigt, daß alle Bemühungen des Einzelnen, mögen sie auch von dem lautersten Gefühle der Rechtlichkeit und beruflichen Pflichterfüllung geleitet sein, doch ohnmächtig an der Schutzlosigkeit des ärztlichen Standes

überhaupt zerschellen und nothwendig zu einer Entsittlichung desselben führen, die in einem traurigen Verhältnisse zu der erworbenen Bildung und den aufgewendeten Mitteln steht.

Wenn es auch nicht unser Zweck

fein kann, alle jene zur Besprechung gekommenen Uebelstände, die zum großen Theil das Wirken der Medicinalverwaltungen in den einzelnen

Zur Reform der Civilhospitäler in St. Petersburg.

15

Gouvernements im Allgemeinen und der Gerichtsärzte, Kreis- und Stadt­

ärzte im Speciellen betreffen,*) hier genauer wiederzugeben, so heben wir doch namentlich

drei Aufsätze

welche die Administration

heraus,

unserer Hispitäler, und somit auch die von uns zum Vorwurf genom­

mene Frage besonders berühren.

Das erste freie Wort, das in dieser Angelegenheit gesprochen wurde,

rührt vom Profeffor A. Walther in Kiew her.

(Sowr. Med. 1861.

42.) In einem kurzen Artikel betitelt: „Die Emancipation der Aerzte" hebt

er den

grellen Contrast

hervor, der zwffchen

der blankpolirten

Aeußerlichkeit unserer Hospitäler und dem Wohlbefinden der Kranken, dem Zutrauen des Publikums

derselben besteht.

Statt

daß

und

den

wissenschaftlichen Leistungen

dieselben Pflanzschulen tüchtiger Arzte

seien, in denen die jüngeren, von den Universitäten nachrückenden Ge­

nerationen eine praktische Ausbildung ihrer erlangten theoretischen Kennt­ nisse gewinnen und ans denen sich die medicinischen Behörden, Stadt und Land, mit erprobten zuverlässigen Kräften versehen könnten, wird

in ihnen

ein gedankenloser Schlendrian

groß

immer greller und greller zu Tage treten.

gezogen, dessen Früchte Die Ursachen dieser Er-,

scheinung können nur in der Uebertragung büreaukratischer Tendenzen

auf die Medicin, in der völlig kritiklosen Anstellung der Hospitalärzte, die oft genug durch

intensive Protektion

nichtmedicinischer Persönlich­

keiten erfolge, endlich in der sonderbaren, allen europäischen Begriffen zuwiderlaufenden Stellung der Oberärzte gesucht werden.

Eine Abhülfe

dieser Uebelstände ließe sich nur finden:

1) indem man die Hospitäler einem medicinischen Verwaltungs­ rathe unterordne;

2) indem man den Oberärzten das Recht nehme, sich in die Thä­ tigkeit der Ordinatoren des Hospitals einzumischen; 3) indem man Conferenzen der Hospitalärzte unter dem Präsidium

des Oberarztes einführe, in denen alle streitigen Angelegenheiten durch Stimmenmehrheit entschieden würden;

4) endlich, indem man den ökonomischen Theil der Verwaltung den Conferenzen unterordne.

Für

die genauere Leitung der ökonomischen

*) 8. Sowrem6nnaja Medizina. (Die Med. b. Gegenwart. Kiew 1861. S. 689. 782. 981. 725. 747. 477. 845. 1045. 1143.

16

Zur Reform der Civilhospitäler in St. Petersburg.

Geschäfte

könne ein

Comite gewählt werden, das aus dem Oberarzt,

zwei Ordinatoren und dem Auffeher des Hospitals bestände. Ohne hier auf eine Kritik dieser Vorschläge, die natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit machen können, näher einzugehen, muffen wir

nur bemerken, daß sie bei der obersten medicinischen Instanz unserer Hospitäler wahrscheinlich nicht

ohne Berücksichtigung blieben.

Wenig­

stens erging im Herbst 1862 ein Circular an die Oberärzte der Hos­ pitäler, die Ordinatoren monatlich zweimal einzuberufen und mit ihnen

theils

wissenschaftliche, theils administrattve Fragen zu besprechen.

wurde zugleich

der Wunsch ausgedrückt, daß

Es

die Krankenabtheilungen

den Ordinatoren nach ihren Specialitäten zugewiesen und bei Eröffnung

von Vakanzen hauptsächlich

die tüchtigeren Kräfte aus der Zahl der

jüngeren Aerzte, mit Beiseitelassung der Anciennität, berücksichtigt werden

möchten.

Die Ergebnisse dieser Conferenzen, die man aber ausdrücklich

nur als einen vorläufigen Versuch hinstellte, sollten protokollarisch aus­

genommen und dem medicinischen Jnspectorat eingeliefert werden. Dieses Programm machte, wie sich erwarten ließ, in der medicini­ schen Welt St. Petersburgs kein geringes Auffehen.

Von den jüngeren

Aerzten wurde es als Grundlage einer „neuen Aera" begrüßt, die den Keim

einer durchgreifenden Reform des ganzen Hospitalwesens in sich trage, von den älterm dagegen mißtrauisch als „parlamentarische" Neuerung ange­

sehen, die nothwendigerweise alle Autorität untergraben müsse.

Es ent­

stand natürlich sehr bald die Frage, was denn in diesen Conferenzen ei-

eigentlich vorzunehmm sei.

Ein recht sachlich gehaltener Aufsatz in einem

der liberaleren Tagesblätter (Sowremennoje slowo — Das Wort der Jetzt­

zeit — 1862, Nr. 141. 142) hob hervor, daß die uncollegialische Stellung zwischen Oberarzt und Ordinatoren allmählig eine Jsolirung beider Par­

teien und eine Abschwächung des medicinischen Elementes in der Hospital­

verwaltung zu Wege gebracht habe, daß die Conferenzen mithin fürs Erste

wiffenschaftliche Bestrebungen bei Seite lassen und ihre Kräfte einer ge­ nauen Controle der Administration zuwenden sollten. Zur Klärung der An­ sichten über allgemeine Fragen möge

ein Austausch zwischen den Con­

ferenzen der verschiedenen Hospitäler stattfinden.

Nur auf diesem Wege

könne sich das medicinische Element seine Stellung und die ihm so wich-

tige Initiative erobern, die es unter büreankratischem Drucke nach und nach eingebüßt habe. — Leider stellte sich nur mit der Zeit heraus, daß die Conferenzen nicht im Entferntesten eornpeteut seien, über administrative Fragen in den Hospitälern Beschluß zu fassen, daß selbst bei der bestehenden Unterordnung der Hospitäler unter das Curatorencvllegium — auf welches wir später noch zurückkommen — das mediciuische Jnspectorat gar nicht im Stande sei, irgend ivelche durchgreifende »ieformeit von sich aus einzuführen, daß mithin jenes vielgerühmte Programm zum größten Theil nur den Schein einer Reform an sich trage, im Grunde aber Alles beim Alten lasse, und nothgedrnngen lassen müsse. Wenn daher in den meisten Hospitälern die Eonferenzen sich allmählich in Zusammenkünfte umge­ wandelt haben, wo auf mehr oder minder eollegiale Weise etlvas Hos­ pitalstatistik und Easuistik durchgesprochen ivirb, so ist das wiederum nur ein Beweis, daß keine uürklichen Reformen möglich sind, wenn man das alte System unverändert beibehält, und daß das mediciuische Ele­ ment in seiner isolirten Stellung nichts zu leisten vermag. Trotzdem sind ivir weit davon entfernt, in der Einführung dieser Conferenzen keinen Fortschritt zu sehen, ober das Verdienst berer zu schmälern, bie ben besten Willen und bie beste Absicht in jenes Programm hineinge­ tragen. Die Conferenzen haben jebenfalls mehr kollegiales Wesen unter bie Aerzte ber Hospitäler gebracht, als bisher bestaub; sie haben enb lich bie schroffe Stellung zivischen den Oberärzten und Ordinatoren be­ deutend gemildert, und das ist ein Fortschritt, ben wir nicht hoch genug anschlagen können. Die dritte und bedeutungsvollste Arbeit über Reform der Civilhospitäler, weil sie uns in allgemeinen Zügen ein wohldurchdachtes, den bestehenden Berhältnissen möglichst angepaßtes Projekt bringt, verdanken wir Dr. F. H. Arneth. (St. Petersburg, med. Zeitschrift III. Bd. I. H. 1863.) Wir können uns nicht versagen, dasselbe im Auszüge kurz hier mitzutheilen. Berf. schlägt vor: I. Alle medicinischen Anstalten unter einem obersten Chef zu ver­ einigen und diesem unmittelbar den Med. Inspektor als exekutive Person an die Seite zu stellen. Die geschäftlichen Angelegenheiten würden durch drei Kollegien besorgt, deren Zusammensetzung etwa folgende wäre: Shiijijdje Ncvne. TL i. svü is«3. 2

Zur Reform der CivilhospitSler in St. Petersburg.

18

1) Das Collegium der Ordinatoren je eines Hospitals unter Prä­

sidium des Oberarztes, mit Hinzuziehung des Aufsehers oder Oekonomen

Dieses Collegium hätte sich monatlich ein Mal zu versam­

der Anstatt.

meln, Verbesserungen und administrative Fragen zu besprechen und ein genaues Protokoll jeder Sitzung dem med. Jnspector zu übermachen.

2) Das Collegium der Oberärzte unter

dem Präsidium des med.

Jnspectors, mit Hinzuziehung einzelner Ordinatoren, welches gleichfalls

monatlich ein Mal zusammenzutreten hätte, um den von den einzelnen

Hospitälern eingelaufenen Protokollen Aufmerksamkeit zu schenken.

Wmn

die Stelle eines Oberarztes oder Ordinators fr« würde, so hätte dieses Collegium die Ansprüche der Candidaten (etwa durch Concurs) zu prüfen und dem obersten Chef drei vorzuschlagen, aus deren Zahl die definittve Besetzung vorzunehmen wäre.

Die bei diesen Sitzungen aufgenommenen

Protokolle und gefaßten Beschlüsse hätte der med. Jnspector dem Curatorencollegium vorzutragen.

3) Das Curatorencollegium. Die Curatoren der Hospitäler würden wie bisher, durch allerhöchsten Befehl, oder vom obersten Chef der Hos­

pitäler

ernannt.

Demselben

hätten

Mitglieder

des

Medicinalrathes,

der Gmeral-Gouverneur, der Polizeimeister, der Stadtälteste rc. eo ipso

Den Vorsitz führe einer von den Curatoren, den der oberste

anzugehören.

Chef dazu bestimme. Dieses Collegium hätte die allgemeine Controle über das Hospital­

wesen zu führen, ohne das Recht, sich Executive zu mischen.

im Einzelnen in die

Die vom med. Jnspector, der im Curatoren­

collegium Sitz und Stimme hat, vorgetragenen Beschlüsse des Oberarzt­

collegiums,

hätte

das

Curatorencollegium mit einem bejahenden oder

verneinenden motivirten Gutachten ohne Ausnahme zur Kenntniß des obersten Chefs zu bringen, dem die letzte Entscheidung über alle wich­

tigen Angelegenheiten zustände.

Berichte über etwaige Beschwerden, so­

sie Oberärzte oder Ordinatoren beträfen, lägen dem Curatoren­

weit

collegium ob.

II. Die Thätigkeit des ärztlichen Personals müsse durchaus umge­

staltet

werden.

Da

der Oberarzt

unmöglich

weder die Behandlung

von mehreren 100 Kranken selbst leiten, noch auch die Ordinatoren in

ihrem Handeln überwachen köüne, so überweise man hinfort jedem Or-

19

Zur Reform der Civilhospitäler in St. Petersburg.

dinator eine Anzahl von Kranken, etwa 80, deren Behandlung er allein führe, für welche aber auch nur er allein verantwortlich sei.

III. Jedem Ordinator wären jüngere Aerzte, etwa zwei als Assistenten

oder Supernunierare beizugesellen, welche alle Verordnungen des Ordinators aufzuzeichnen, die Krankengeschichten zu führen und alle kleineren

chirurgischen Handleistungen, wie Aderlässen, Schröpfen, Verbinden rc. zu besorgen hätten.

Diese jüngeren Aerzte, welche natürlich im Hospi­

tal wohnen müßten, würden nach einer gewissen Reihenfolge den soge­

nannten

„Dujourdienst"

(Jnspectionsdienst)

im

Hospital

versehen

und in Abwesenheit der Ordinatoren auch die Krankenaufnahme zu be­

sorgen haben.

Niemand könnte Ordinator werden, der nicht mindestens

drei Jahre, Niemand Staatsdienst erlangen, der nicht mindestens zwei

Jahre als Assistent oder Supernumerar fungirt hätte. Ordinator in seiner Abwesenheit zu vertreten,

Das Recht, den

könne übrigens erst ein

Assistent erlangen, der bereits ein Jahr im Dienste stände.

(Intern-

und Extern-Präparanden des Wiener allgemeinen Krankenhauses).

IV. Vers, schlägt vor, den Wartedienst in den Hospitälern durch

barmherzige Schwestern versehen zu lassen, welche durch religiöses Ge­ fühl mehr

als durch den materiellen Vortheil ihrer Stellung geleitet

würden. 'Er macht auf das Institut der barmherzigen Schwestern in katholischen, und der Diakonissen in protestantischen Ländem, aufmerk­

sam und hebt hervor, daß bei richtiger Stellung dieses weiblichen Per­

sonals bisher nie Klagen

über dasselbe ilaut geworden seien.

Diesen

barmherzigen Schwestern wäre die Wartung und Pflege der Kranken, die Obsorge für Küche, Keller und Wäsche zu übertragen. (Wien, Münchens Für die gröberen

Handleistungen,

Wasser, Holz

und

Speisentragen,

wären ihnen Männer beizugesellen. V.

Nach

Einführung

der

Assistenzärzte und

der

barmherzigen

Schwestern, würde jene unglückliche, rohe, aufdressirte Mittelclaffe zwischen

Arzt und Laien, die Feldscheere, welche bisher in den Hospitälern alle kleineren chirurgischen

Handleistungen

versahen

und. Recepte schrieben,

ganz abzuschaffen sein, höchstens mit Ausnahme einiger, für die syphi­ litischen und

Hautkranken-Abtheilungen,

natürlich

mit Einschränkung

ihrer bisherigen Befugnisse. VI.

An den Hospitälern würden Aerzte anzustellen fein, die sich 2»

20

Zur Reform der EivilhvSPitLler in SSt. Petersburg.

ausschließlich

der

pathologischen

Anatomie,

Chemie und Mikroskopie

widmen, und dadurch die Arbeiten der übrigen Aerzte vervollständigen helfen.

Ferner muffe man von den Ordinatoren Berichte über ihre

VII.

Abtheilungen einfordern und diese, zu

größeren Berichten zusammen­

gefaßt, jährlich durch den Druck veröffentlichen.

VIII. Endlich wäre es von großem Vortheil, an allen Hospitälern, wie bereits am Marien-Hospitale geschehen, Ambulatorien zu er­

richten und Hülfsbedürftigen ärztlichen Rath und Arznei unentgeltlich zu verabfolgen.

Die Ordinatoren und Assistenten hätten sich nach einer ge-

wiffen Reihenfolge in diesem Geschäfte abzulösen. —

Manche von diesen Vorschlägen sind nun allerdings in letzter Zeit ifls Leben getreten. Die Hospitäler sind sämmtlich unter einem obersten Chef vereinigt, die Ordinatoren der Hospitäler versammeln sich allmonatlich, um, wie wir bereits oben erwähnten, administrative und wissenschaftliche

Fragen zu besprechen, es werden auch die Protokolle dieser Sitzungen dem

medicinischen Jnspector der Hospitäler eingeliefert und man hat unlängst

bei der Besetzung einiger Oberarztstellen mehr die Tüchtigkeit als Anciennität im Auge gehabt.

die

Wenn wir uns aber nun im Ernste fragen,

ob durch diese Neuerungen auch eine principielle Aenderung djs Ganzen angebahnt worden sei, ob diese sogenannten Reformen den Keim eines gesunden Hospitalwesens in sich tragen, so müssen wir leider antworten,

daß eben im Principe Alles, Alles unverrückt beim Alten geblieben ist. Um diesen scheinbaren Widerspruch lösen zu können, ist es nothwendig, daß wir auf das ganze System unserer hiesigen Hospitalverwaltung und dessen gesetzliche Grundlage etwas näher eingehen und den Beweis führen,

daß gerade eben dieses System ein schlechtes ist.

Die

vier Stadthospitäler

in St. Petersburg,

das

Obuchow-

Spital (gegründet um 1780, 680 Betten); das Kalinkin-Spital (gegründet 1778, 350 Betten); das Marien-Magdalenen-Spital

(gegründet 1829, 160 Betten) und das Peter-Pauls-Spital (ge­ gründet 1835, 252 Betten), standen, wie alle Civilhospitäler des Reichs, mit Ausnahme der Stiftungen der seligen Kaiserin Maria Feodo-

rowna und einiger Privatanstalten, bisher in Betreff ihrer Oekonomie-

verwaltung unter dem Collegium der allgemeinen Fürsorge,

das

die

Mittel zu ihrem Unterhalte hergab. Die medicinische Controls lag dem Medicinal-Jnspector, in letzter Instanz dem medicinischen Departement im Ministerium des Innern ob. Wenn nun somit gleich von vorn^ herein eine doppelte Verwaltung mit allen ihren Unbequemlichkeiten be­ stand, so war wenigstens das Gebiet eines jeden streng geschieden und dte Aerzte an den Hospitälern hingen in Bezug auf Anstellung und Entlassung von einer medicinischen Behörde ab, erfreuten sich somit in Sachen ihres medicinischen Berufes einer gewissen Selbständigkeit und Unabhängigkeit von dem nicht medicinischen Verwaltungsrathe. Dieses wurde nun 1828 dahin abgeändert, daß man dem Collegium der allge­ meinen Fürsorge und dem Btedicinaldepartement die Verwaltung jener oben genannten vier Hospitäler aus den Händen nahm und nebst einigen anderen Anstalten, Verpflegungshäuser, Irrenanstalt rc. einem allerhöchst bestätigten Curatorencollegium übergab. Das Curatorencollegium besteht aus den allerhöchst bestätigten Curatoren der einzelnen Anstalten, von denen einer zum Vorsitzenden ernannt wird, unter Hin­ zuziehung des Kriegs- und Civilgouverneurs, des Adelspräsidenten, des Stadtältesten und des für die obenerwähnten Anstalten ernannten me­ dicinischen Jnspectors, der gewöhnlich ein Leibarzt des kaiserlichen Hauses zu sein pflegt. Der Hauptziveck dieser Maßregel, die in ihrer ursprüng­ lichen Anlage von der seligen Kaiserin Maria Feodorowna ausging, gesetzlich aber erst in den vierziger Jahren festgestellt wurde, soll ge­ wesen sein, jene öffentlichen Humanitätsanstalten reichen, hochgestellten Perspnen anzuvertrauen, von deren Munificenz man eine Unterstützung der in vielen Beziehungen sehr spärlich dotirten Hospitäler erwartete. Leider ist dieser Wunsch nie in Erfüllung gegangen. Statt einer er­ sprießlichen Förderung des Hospitalwesens durch gute Verpflegung der Kranken und Heranziehung tüchtiger ärztlicher Kräfte nach dem Prin­ cip der wissenschaftlichen Concurrenz, sehen wir allmählich eine büreaukratische Controle austvachsen, die sich nur auf den äußeren Glanz der Hospitäler erstreckt und den eigentlichen Heilzweck ganz außer Augen läßt. Daß es so ist, können wir freilich den Curatoren der einzelnen Hospitäler nicht grabe zu einem persönlichen Borwurfe machen. Das Gesetz hatte Männer, denen Hospitalwesen und Krankenverpflegimg ihrer ganzen übrigen Stellung nach fern lag, mit unumschränkter Ge-

22

Zur Reform der Civilhospitäler in St. Petersburg.

Natürlich konnten sie dieselbe nur nach einer Richtung

walt betraut.

hin geltend machen, die ihnen aus ihrer bisherigen nnlitärischen oder büreaukratischen Carriere geläufig war. Nicht die Curatoren persönlich,

wir betonen dies ausdrücklich, die in anderen Sphären sehr competente Chefs sein mochten, sondern das Gesetz, das eben Nicht-Sachverständige

in solche Stellungen wies, trifft die Schuld aller jener Mißerfolge, die

unsere Hospitäler in der Meinung des hülfsbedürftigen Publikums und

vor dem Forum wiffenschaftlicher Kritik so sehr herabgedrückt haben. Die gleichzeitige Ernennung eines obersten medicinischen Jnspectors der

Hospitäler, der im Curatorencollegium Sitz und Stimme hatte, konnte hier nicht viel ändern, da die Controle dieses Jnspectors bei der nicht

geringen Anzahl von Anstalten nur eine sehr oberflächliche war und seine Stellung gegenüber den nichtmedicinischen ©liebem des Curatoren-

collegiums, die als unmittelbare Chefs fungirten, stets eine sehr isolirte sein mußte.

Wie weit sich die Machtvollkommenheit der Curatoren er­

streckt, sehen wir aus den §§. 1266 — 1430 des XIII. Bandes des K. Gesetzbuches (ed. 1842.):

„Sämmtliche Beamte des Hospitals mit

Ausnahme der niederen Dienstboten werden unmittelbar vom Curator angestellt; nur die Anstellung des Oberarztes und Auffehers wird dem

Collegium berichtet und nach deffen Zustimmung die allerhöchste Bestä­

tigung eingeholt (§. 1302).

Nach §. 1350 stehen alle Beamten sowohl

der medicinischen als ökonomischen Verwaltung in vollkommener Ab­ hängigkeit (bti iiojihoh aasHCHMOcTH nonemiTe.m) vom Curator, der

das Recht hat, ihnen Verweise zu ertheilen oder nach Ermessen sie aus

dem Dienste zu entlassen.

Nur bei der Entlassung des Oberarztes oder

des Aufsehers muß er das Collegium davon in Kenntniß setzen (§. 1354). Die ganze ökonomische Verwaltung steht unter unmittelbarer Controle des Curators.

Er hat das Recht, Veränderungen vorzunehmen und

Maßregeln zu treffen, die ihm gut dünken und deren Kosten sich nicht

höher als 1500 Rb. S. belaufen rc." Eine sehr natürliche Folge dieses Systems war die sehr unnatür­ liche Bevorzugung des nichtmedicinischen Elementes in unseren Hospitälern.

Der Oberarzt, eine jede Collision fürchtend, die seine von persönlicher Willkür abhängige Stellung gefährden konnte,

beschränkte seine direc-

tönale Thätigkeit im Hospital auf ein passives Zuschauen

zu allen

Zur Reform der Civilhospitäler in St. Petersburg.

23

Dingen, die nicht direct die medicinische Behandlung der Kranken anging.

Er schwieg still zu etwaigen Mißbräuchen in der Oekonomieverwaltung, weil er nicht iviffen konnte, ob der Aufseher oder Oekonom, der häufig

die Rolle einer Vertrauensperson beim Curator bekleidete, nicht vielleicht die

Sache

zu

feinem

Nachtheile

kehren

würde.

In

seiner admini­

strativen Thätigkeit eingeschränkt, war es nicht zu verwundern, wenn er allmählich seine ganze Energie der ihm vorgeschriebenen Controle und

Aufsicht der subordinirten Aerzte zuwandte.

Was nützte es dem Arzte,

wenn das Gesetz ihm als Ordinator die Untersuchung und Behandlung der Kranken zur Pflicht machte

(Bd. XIII. ed. 1842. Anh. z. §. 914,

251 seqq.), dasselbe Gesetz stellte ihn so zu sagen als Subordinator unter die Aufsicht des Oberarztes, und befahl ihm alle „Rathschläge und Be­ fehle" desselben unbedingt auszuführen, ohne genau zu präcisiren, wie­

weit sich jene Rathschläge und Befehle erstrecken dürfen, um nicht die wissenschaftliche Selbständigkeit

des Ordinators

zu gefährden.

Es ist

also durchaus falsch, wenn nian die Oberärzte für die schiefe Stellung der Ordinatoren hat verantwortlich machen wollen, wie dies zum Theil

in dem oben erwähnten Aussätze von Prof. Walther und auch in dem citirten Artikel des „ Sowremennoje Slowo" geschieht.

Nur von den

Oberärzten fordert der Curator Rechenschaft, nur sie zieht er zur Ver­ antwortung.

Ganz natürlich, daß sie sich auch als die allein competen-

cen Spitzen der medicinischen Verwaltung ansehen mußten und sich in

ihrer Stellung auf mehr oder weniger feierliche Weise Geltung zu ver­ schaffen suchten.

Wer jene Gesetzesstellen über die Verpflichtungen der

Oberärzte und Ordinatoren durchlieft, der sieht klar, daß ein unbegrenztes

Mißtrauen gegen die medicinische Thätigkeit eines jeden jüngeren Arztes den Gesetzgeber erfüllte und daß er eben keine andere Garantie kannte, als die Beauffichtigung durch einen anderen wenigstens im Range und

Gehalt Höherstehenden.

Freilich

erklärt sich

das

durch

den

Mangel

eines wohlüberlegten Princips bei der Anstellung der Hospitalärzte über­ haupt und insbesondere

der

jüngeren.

Der

erste Schntt

blieb dem

Zufall, der Willkür, der mehr oder weniger intensiven Protection über­ lassen, alle weiteren erfolgten nach dem Princip

der Anciennität, und

daß bei diesem Principe keine Kritik zu Stande kam und eine derartige

Controle gerechtfertigt erschien, liegt wohl auf der Hand.

Was nützen

24

Zur Reform der Civilhospitäler in St. Petersburg.

unter solchen Vechältnissen Bildung und Talent, was nützen Univer­ sitäten und Diplome, Ivas endlich die Fortschritte der medicinischen Wissen­ schaft, die doch nicht selten in den jüngeren Kräften am fruchtbarsten Wurzel

schlagen?

Wenn die Gesetzgebung im Interesse für das Wohl der hos­

pitalbedürftigen Kranke» eine solche Controls der behandelnden Aerzte

anstellte — und wir müssen doch annehmen, daß ein solches Motiv zu Grunde lag — ivarum gestattete sie so und so vielen hundert und tausend Aerzten die freie Praxis in Stadt und Land, >vo sie doch unmöglich

eine Aufsicht üben konnte? jeder

Medicinalinspector

Waruni ordnete sie nicht wenigstens an, daß oder Stadtarzt

die Beipflichtung habe,

die

freie Praxis seiner College«: zu untersuchen, nach Gutdünken Berord-

nuilgen zu treffen und sogenannte „Rathschläge" zu ertheilen, die aber unfehlbar ausgeführt «verden müßten? In einem solche«: System würde noch Consequenz liegen, «venn es freilich auch unpraktisch «väre; aber ist

denn dieses Systen: auf die Hospitäler angeivandt, praktisch zu nennen? Mag man nun theoretisch über diese Sache denke«: wie

man will, so

viel ist gewiß und durch die Erfahrung leider hinlänglich constatirt, daß bei den: herrschenden Modus der Hospitalverivaltuvg nicht allein die Kranken, sondern auch der ärztliche Staub entschieden verloren haben; beim die kritiklose Anstellung und wissenschaftliche Ulibeständigkeit der Hospitalärzte nmßte in einem großen Theil des Publikuins das Ver­

trauen zun: ärztliche«: Stande überhaupt «vesentlich erschüttern, während auf der

andere«: Seite durch die künstlich provocirte Oberflächlichkeit

aller medicinischen Beaniten das Wohl der Kranken direct litt.

Wenn

die Dienstzeit der Ordinatore«: eine beschränkte «väre, etwa drei Jahre, wie

die der Assistenz- oder Secundarärzte in Deutschland,

der Internes in

Frankreich, so daß die jü«:geren Kräfte sich zu dm Oberärzten nur wie

hilfeleistende Lernende verhielten, so ließe sich der Nutzen dieser Controls

und Subordmation noch einsehen.

Aber «ve««n unsere Ordinatoren 25

bis 30 Jahre als Subalterne fungirm sollen und mau ihnen nicht eher

eine moralische Beraitttvortlichkeit zutraut, als bis sie durch das Gesetz der Trägheit und Anciennität in die Stellen der Oberärzte eingerückt sind — da hört der gesunde natürliche Zustand der Dinge auf, und es bilden sich jene Ernährungsstörungen, die wir «sicht anders als mit dem

Namen geistiger und moralischer Atrophie bezeichnen können.

Ob ein solches Raisonnement an competenter Stelle zum Durchbruch gekommen war, wissen wir nicht; Thatsache ist es aber, daß in der neuen Ausgabe des Reichsgesetzbuches vom Jahre 1857 das ganze Kapitel über die Berpflichtungen und Leistungen der Hospitalbeamten weggelassen ist, und des Curatorencollegiuins als administrativer Oberbehörde unserer Civilhospitäler mit keiner Sylbe Ertvähnung geschieht. In Bezug auf die Hospitaleinrichtnngcn ist iu dieser neuen Ausgabe von 1857 in einer Anmerkung nur ganz kurz gesagt, daß ein neues Projekt zur Vorlage kommen werde. Für die Civilhospitäler im übrigen Reich, die unter dem Medicinaldepartement stehen, ist denn auch ein solches Projekt ver­ öffentlicht, das aber im Princip nichts ändert, keine Gesetzeskraft besitzt, und sich auch nicht auf unsere Anstalten bezieht. Wir sind mithin seit 1857 eigentlich faktisch ohne jedes geschriebene Gesetz. Das alte von 1812 ist aber durch Tradition iin Gebrauch. Die unumschränkte Macht­ vollkommenheit der Curatoren besteht fort, und damit im Zusammen­ hänge alle jene Uebelstände, die ivir oben in kurzen Zügen gezeichnet. Da nun gegenwärtig an einer neuen Ausgabe des Reichsgesetzbuches ge­ arbeitet wird, so dürfte ivohl auch für uns der richtige Zeitpunkt ge­ kommen sein, freimüthig alle Uebelstände unserer Verwaltung aufzudecken und um Reformen zu bitten, die den allgemeinen Bedürfnissen und der Zeit entsprechen. Halten wir zunächst daran fest, daß in unserem Hospitalwesen nicht bloß äußerliche scheinbare Reformen vvrgenommen werden dürfen, die über den wahren Zustand der Dinge täuschen, sondern daß eine prin­ cipielle gründliche Umgestaltung nöthig ist, so werden es namentlich zwei Punkte sein, auf die wir hier den entschiedensten Flachdruck legen müssen. Erstens darf die unnüttelbarc Verwaltung der Hospitäler durch nichtmedicinische Directorcn (Curatoren) in der bisherigen Weise nicht fort­ bestehen, sondern muß durch ein medicinisches Direktorat ersetzt werden, dem die ganze Adnnnistralivn, Oekonomicver>valtnng rc. unterzuordnen ist; zweitens niuß eine Decentralisation der ärztlichen Thätigkeit am Krankenbette statlfinden, wenn man den Rutzen aus den Hospitälern bei uns ziehen will, den sie überall, in Frankreich, England und Deutsch­ land bringen. Am meisten Schwierigkeit dürfte die Durchführung des erstem Punktes barbieten, selbst wenn es dabei zunächst nur auf eine

26

Zur Reform der Civilhospitäler in St. Petersburg.

Functionsbeschränkung des Curatorencollegiums, und nicht auf eine voll­ kommene Beseitigung derselben ankäme.

Aber unendlich viel wäre schon

gewonnen, wenn die Oekonomiebeamten und namentlich der Aufseher des

Hospitals dem Oberarzte untergeordnet würden, und die directe Controls nur dem Oberarzte, nicht aber dem Curator zustände.

Der Ausieher

des Hospitals hat gegenwärtig eine Menge Befugnisse, die eigentlich dem medicinischen Direktorat angehören, so z. B. die Anstellung und Ent­

lastung

des

ganzen niederen Dienstpersonals,

der

Krankenwärter rc.

Nun find aber doch allein die Aerzte im Stande zu beurtheilen, ob ein Mensch im Krankenzimmer zu gebrauchen ist oder nicht.

Hinge die An­

stellung vom Oberarzte ab, so ließe sich mit der Zeit durch Verbessemng

des Lohnes rc. ein Stamm guter und brauchbarer Wärter heranziehen,

während sie jetzt fast alle Monate gewechselt werden, und man sie geradezu von der Straße nehmen muß, um überhaupt nur welche zu bekommen.

Das find Uebelstände, die nur durch eine gethellte Verwaltung Hervor­ gemfen werden, wie sie bei uns besteht.

Der Oberarzt ist nur zum Be­

handeln der Kranken da; in allen administrativen und ökonomischen An­ gelegenheiten hat er keine maßgebende Stimme, weil diese in die Competenz des Curators schlagen, und nur der Curator das Recht hat, nach

seinem Ermessen zu disponiren. und

So werden ost Geldsummen erspart,

dem Hospitalbudget entzogen, die

gewiß viel zweckmäßiger zur

Verbesserung der Krankenkost und Krankenpflege hätten verwendet werdm

können.

Es kann nicht unser Zweck sein, hier speciell auf alle Uebel­

stände einzugehen, hat; alle tung

theilen

durch

ein

deren jedes einzelne Hospital seine eigenthümlichen sie

aber denselben Entstehungsgrund:

nichtmedicinisches Directorat

ärztlichen Elementes.

die

Verwal­

und die Jsolirung

des

Wenn man eine Commission von Aerzten nieder­

setzen wollte, um unsere Hospitaleinrichtungen zu revidiren, und dafür

sorgte, daß Leute herbeigezogen würden, die mit den ausländischm Ein­ richtungen vertmut sind und auf der Höhe der Wissenschaft stehen, so würde sich gewiß eine nutzenbringende Reform anbahnen lassen, während wir durch einige gutgemeinte, aber nur wenig überlegte Octroyimngen

nicht um einen Schritt vorwärts rücken.

Eine Aendemng des Systems

thut uns Noth, und warum sollte diese sich auf dem Gebiete des Hos­

pitalwesens nicht ebensogut vornehmen lassen, wie auf dem Felde der

Zur Reform der Civilhospitälcr in St. Petersburg.

Justiz!

Die Justizreform

ist durchgearbeitet worden,

27

obgleich es an

rechtskundigen Leuten noch sehr fehlt und ein Juristenstand bei uns ei­

gentlich erst herauswachsen muß.

An tüchtigen ärztlichen Kräften fehlt

es hier aber keineswegs, wenn man nur daran festhalten wollte, daß Resormen im Hospitalwesen nur

von Sachkundigen ausgehen dürfen,

und daß die Hospitäler eben Anstalten sein müssen, in denen Alles einzig und allein nur dem Heilzwecke dienen soll.

St. Petersburg, den 3. Juni 1863.

Paul. Erzählung vom Grafen Leon Tolstoy.*) I.

— Wie Sie befehlen, gnädige Frau!

Nur Schade um die Dutlows.

Treffliche Jungen, einer wie der andere.

Aber dran wird einer von

ihnen müssen, toemi wir nicht wenigstens Einen vom Hausgesinde stellen.

Schon jetzt zeigen Alle auf sie.

Uebrigens, ganz wie Sie belieben.

Und beide Hände vor dem Leib haltend, legte er die rechte über die linke, bog den Kopf seitwärts, zog fast schmatzend die feinen Lippen ein, verdrehte die Augen und schwieg still mit der offenbaren Absicht, lange

zu schweigen und

ohne Gegenrede all

das

dumme Zeug

anzuhören,

welches die gnädige Frau ihm erwiedern sollte. Es war der zum Hausgesinde gehörige Verwalter (ein glattrasirter Mann in langem Rock von eigenthümlichem Verwalterschnitt), der eines

Abends

im Herbst mit dem Rapport vor der gnädigen Frau stand.

*) Nicht zu verwechseln mit dem Dramatiker und Lyriker Grafen Alexis Tolstoy, dessen Dichtung „Don Juan" im dritten Hefte unserer Revue besprochen wurde, und der sich neuerdings auch auf dem Gebiete der Erzählung durch seinen viel­ gelesenen Roman „Fürst Serebräpny" einen großen Ruf erworben. — Graf Leon Tolstoy ist unter den russischen Schriftstellern der Gegenwart einer der bedeutendsten, und zwar sowohl in der novellistischen als in der pädagogischen Literatur. Er gab gedankentiefe und lebensprühende Schilderungen aus häuslicher Stille und Umschlossenheit wie von geräuschvollem Schauplatz. Sein Buch „Kindheit und Knaben­ alter" gehört zu den poesiereichsten, die in russischer Sprache erschienen sind; seine „Kriegserzählungen" sind prächtige Bilder aus dem Kaukasus- und Krimkriege, voll charakteristischer Einzelheiten. Seit ein paar Jahren hat er sich ganz der Volks­ erziehung gewidmet, unterrichtet selbst die Bauern auf seinen Gütern und giebt eine Zeitschrift für das Volk heraus, die den Namen seines Hauptgutes trägt: „Jässnaja Poljäna“ (Heiteres Gefild — Heiterfeld). — Die vorliegende Erzählung erschien im Februarheft des „Russischen Boten" v. d. I. Wir haben den etwas fremdartigen Namen des Helden „Polykuschka — Polykej", in Paul umgeäildert.

Der Rapport bedeutete nach den Begriffen der gnädigen Frau, daß sie

über

vergangene

Wirthschaftsangelegenheiten

Rechenschafk entgegenzu­

nehmen und über zukünftige Anordnungen zu treffen hatte.

Nach den

Begriffen des Verwalters, Jegor Diichailowitsch, war der Rapport eine

Ceremonie, wobei er gleichmäßig auf beiden auswärts gekehrten Füßen in einer Ecke zu stehen, das Gesicht nach dem Sopha zu wenden, alles

mögliche Geschwätz, das nicht zur Sache paßte, anzuhören und schließlich die gnädige Frau durch verschiedene Mittel dahin zu bringen hatte, daß

sie auf alle seine Vorschläge rasch und ungeduldig sagte: „Gut, gut."

Bon dem Dorfe

Diesmal handelte es sich um die Recrutirung.

Pokrowskoje waren drei Leute zu stellen.

Zwei hatte das Schicksal selbst

unzweifelhaft dazu bestimmt — durch das Zusammentreffen von mora­ lischen, ökonomischen und Familienbedingungen.

Hinsichtlich dieser Zwei

konnte weder die Gemeinde, noch die gnädige Frau, noch die öffentliche Meinung schwankend oder in Streit sein. man uneins.

Allein über den Dritten war

Der Verwalter wollte einen der drei Dutlows schonen

und vom Hausgesinde den Paul stellen, einen Familienvater, der in sehr

schlechtem Rufe stand und mehrmals auf Entwendung von Säcken, Pferde­ leinen und Heu ertappt worden war; den aber wollte die gnädige Frau nicht hingeben, die Pauls zerlumpte Kinder öfter liebkoste und ihn selbst

durch biblische Ermahnungen befferte.

Dabei wollte sie auch den Dut­

lows nicht schaden, die sie weder kannte, noch jemals gesehen hatte.

Doch

es kam ihr aus irgend einem Grunde nicht bei, und der Verwalter ge­

wann es nicht über sich, ihr das geradaus zu erklären, daß wenn nicht

Paul, Dutlow ausgehoben würde.

„Ich will ja nicht das Unglück der

Dutlows," sagte sie gefühlvoll. — „Wenn Sie das nicht wollen, so er­ legen Sie dreihundert Rubel für einen Stellvertreter," hätte man ihr

antworten müssen.

Aber die Politik ließ das nicht zu.

Und so blieb denn Jegor Michailowitsch ruhig stehen, lehnte sich sogar unmerklich an die Thürpfoste, wobei er indeß den devotesten Aus­

druck im Gesicht bewahrte, und sah hin, wie die Lippen der gnädigen Frau sich bewegten, wie die Spitzen an ihrer Haube, zugleich mit ihrem Schatten an der Wand unter dem Bilde, hüpften.

durchaus nicht nöthig,

in

Aber er fand es

den Sinn ihrer Reden einzudringen.

Die

30

Paul.

gnädige Frau sprach lange und viel.

Er bekam einen Gähnkrampf

hinter den Ohren, verwandelte aber geschickt den Krampf in Husten, indem er sich den Mund mit der Hand zuhielt und that, als ob er

räusperte.

Ich sah vor Kurzem, wie Lord Palmerston bedeckten Hauptes

dasaß, während ein Mitglied der Opposition auf das Ministerium los­

schoß, und wie er sich plötzlich erhob nnd in einer dreistündigen Rede auf alle Punkte des Gegners antwortete; ich sah das — und wunderte

mich nicht, weil ich etwas Aehnliches tausend Mal zwischen Jegor Michailowitsch und seiner Gebieterin gesehen habe.

Sei es, daß er einzuschlafen

fürchtete, oder daß es ihm schien, sie lasse sich gar zu weit Hinreißen — er übertrug die Schwere seines Körpers vom linken Fuß auf den rechten und begann mit weihevoller Einleitung, wie er

immer anzufangen

pflegte: — Wie Sie belieben, gnädige Frau; nur.......

Die Gemeindever­

sammlung ist jetzt vor dem Comptoir und es muß zum Abschluß kommen.

Der Befehl lautet, daß bis zum 1. October die Rekruten nach der Stadt gebracht werden sollen.

Von den Bauern sind es Dutlows allein, auf

die man hinweist; sonst Niemand.

nicht wahr.

Die Gemeinde nimmt unser Interesse

Der gilt es gleich, daß die Dutlows ruinirt werden.

weiß ja doch, wie die sich abplagten.

lebten sie in Armuth.

Der Alte hat feinen jüngsten Neffen kaum er­

warten können; nun soll man sie wieder tuiniren.

Aber ich, mit Ehren

zu melden, sorge für Ihr Eigenthum wie für das meinige.

gnädige Frau!

Ich

So lange ich die Verwaltung habe,

Wie Ihnen belieben wird.

Schade,

Er ist weder mein Bruder

noch mein Vetter, und bekommen hab' ich nichts von ihnen.... —. Das denk' ich auch gar nicht, Jegor! unterbrach ihn die gnädige

Frau und dachte sogleich, daß er von den Dutlows bestochen sei. — Nun ist es der beste Bauerhof in ganz Pokrowskoje. fürchtige, arbeitsame Leute.

Gottes­

Der Alte seit dreißig Jahren Kirchenältester,

trintt weder Wein, noch bringt er ein schlechtes Wort über die Lippen,

geht fleißig in die Kirche. Frau wirkte.)

(Der Verwalter wußte, was auf die gnädige

Und die Hauptsache, Euer Gnaden zu melden: Söhne

hat er nur zwei; die übrigen sind seine Neffen.

Die Gemeinde deutet

auf ihn, und von Rechtswegen kam auf ihn doch nur das Zweier^Loos?) Andere, mit drei Söhnen, haben sich wegen Zahlungsunfähigkeit getheilt und behalten jetzt Recht; und die sollen ihre Gewissenhaftigkeit büßen. Davon verstand nun die gnädige Frau nichts nrehr: weder was das „Zweier-Loos", noch was die „Gelvissenhaftigkeit" hier zu bedeuten hatte. Sie vernahm bloße Laute und beobachtete die Rankinkllvpfe an dem Rock ihres Verwalters: den oberen musste er seltener zugeknöpft haben, denn der saß fest, wogegen der mittlere ganz lose hing, so daß derselbe längst hätte angenaht werden sollen. Indeß, wie Jedermann weiß, braucht man bei einem Gespräch, besonders bei einem geschäftlichen, gar nicht zu verstehen, was Einem gesagt wird, sondern nur daran zu denken, was man selbst sagen will. So verfuhr auch die gnädige Frau. — Wie willst du nur nicht begreifen, Jegor Michailmvitsch! sagte sie: ich wünsche ja durchaus nicht, daß Dutlow unters Militair kommeIch dächte doch, wie du mich senilst, mußt du ciusehen, daß ich Alles thue, was ich vermag, meinen Bauern zu Helsen, und daß ich nicht ihr Unglück will. Tu weißt, daß ich zu jedem Opfer bereit bin, um dieser traurigen Nothwendigkeit zu entgehen und weder Tutlow noch Choroschkin abzugeben. (Ich weiß nicht, wuruiu dem Verwalter nicht einfiel, daß es, um dieser traurigen Nothwendigkeit zu entgehen, nicht jedes Opfers bedurfte, sondern daß dreihundert Rubel genügten; aber das hatte ihm leicht einfallen können.) Eins nur sag' ich dir: den Paul geb’ ich um keinen Preis hin. N'ach dem Vorfall mit der Uhr, wie er mir's selbst gestand und weinte und schwor, daß er sich bessern ivollte, habe ich lange mit ihm gesprochen, und sah, daß er gerührt war und aufrichtig bereute. (Na, die ist int Zuge! dachte Jegor Michajlowitsch und betrachtete den Fruchtsaft in einem Glase Wasser, das neben ihr stand: ob das Apfel­ sinen- oder Citronensaft? „Muß wohl Bittres brüt sein", dachte er.) Seitdem sind nun sieben Monate vergangen, und er ist kein einzig Mal *) Die militairpflichilgen Bürger und Bauern kommen in Rußland bei den Aushebungen nach der größern Zahl der männlichen Familienmitglieder an die Reihe. Wir gebrauchen hier in diesem Sinne, ganz dem russischen Terminus entsprechend, die Worte: Zweier, Dreier rc. Eine Anwendung, die keines­ wegs gegen den deutschen Sprachgebrauch ist, da „Zweier, Dreier, Achter" rc. auch in der Bedeutung der Zusammengehörigkeit zu einer Genossenschaft von zwei, drei acht rc. Individuen vorkommt.

32

Paul. Seine Frau sagte

betrunken gewesen und führt sich vortrefflich auf.

mir, es sei ein ganz andrer Mensch geworden.

Wie willst du nun, daß

ich ihn jetzt strafen soll, nachdem er sich gebessert hat? Und ist es denn nicht unmenschlich, einen Mann hinzugeben, der fünf Kinder hat und der

selbst ein Einzelner ist? Nein, Jegor, rede mir gar nicht mehr davon......

Und die gnädige Frau that einen Schluck aus dem Glase. Jegor Michailowitsch verfolgte das Hinabgleiten des Wassers in

den Hals und versetzte dann kurz und trocken: — Also befehlen Sie, daß Dutlow bestimmt werde? Die gnädige Frau schlug die Hände zusammen. — Wie kannst du nur mich nicht verstehen?

Dutlotv's Unglück?

Wünsche ich denn

Habe ich denn etwas gegen ihn?

Zeuge, wie ich Alles für sie zu thun bereit bin.

Gott ist mein

(Sie blickte auf das

Bild in der Ecke, besann sich aber, daß das nicht „Gott" sei.

viel; nicht darum handelt es sich," dachte sie.

ihr nicht die dreihundert Rubel einfielen.) Weiß ich denn, >vie und was?

Was soll ich aber machen?

Das kann ich nicht wissen.

verlasse mich auf dich; du weißt, was ich will.

genügt wird und dem Gesetz.

Was thun!

Jedermann hat seine schweren Stunden.

hingeben.

„Gleich­

Abermals seltsam, daß

Nun, ich

Mach' es so, daß Allen Sie sind es nicht allein.

Aber den Paul kann ich nicht

Begreife doch, daß dies von meiner Seite schrecklich wäre.

Sie würde noch länger gesprochen haben, sie war so belebt; aber in diesem Augenblick trat das Stubenmädchen in's Zimmer.

— Was hast du, Dunjascha? — Ein Bauer ist gekommen und läßt Jegor Michailowitsch fragen, ob die Versammlung warten soll,

sagte Dunjascha und warf

zornigen Blick auf Jegor Michailowitsch.

dachte sie;

einen

(„Ueber diesen Verwalter!"

hat die gnädige Frau ausgeregt: jetzt wird sie mich wieder

bis zwei Uhr nicht schlafen lasten.") — So geh, Jegor, sagte die gnädige Frau; mach es auf's beste.

— Zu Befehl.

(Er bemerkte nichts mehr über Dutlow.)

wen soll man zum Gärtner nach dem Gelde schicken?

— Ist denn Peter nicht aus der Stadt zurück? — Nein, gnädige Frau. — Und kann Nikolaj nicht hinfahren?

Und

33

Paul. — Vater hat Kreuzweh uub liegt im Bette, sagte Dunjascha.

— Soll ich nicht selbst morgen hinfahren? fragte der Verwalter. — Nein, du bist hier nöthig, Jegor.

Sie wurde nachdenklich.

— Wie viel Geld ist's? — 462 Silberrubel. — Schicke den Paul hin, sagte sie, indem sie Jegor Mchailowitsch

entschlossen in's Gesicht blickte. Jegor Mchailowitsch zog, ohne die Zähne sehen zu lassen, seine

Lippen auseinander, als ob er lächelte und der Ausdruck seines Ge­ sichtes blieb unverändert.. - Zu Befehl.

— Schicke ihn zu mir. — Zu Befdhl.

Und Jegor Mchailowitsch ging nach dem Comptoir.

II. Paul hatte, als ein unbedeutender und schlecht angeschriebener Mensch,

der noch dazu aus einem andern Dorfe war, keine Protection, weder durch die Wirthschafterin noch durch das Stubenmädchen: weder durch

den Kellermeister noch durch den Verwalter.

Er bewohnte den aller­

schlechtesten „Winkel," obgleich er mit Frau und Kindern sieben Köpfe zählte.

Die „Winkel", waren noch von dem seligen Herrn in folgender

Weise angelegt.

In einem zehn Ellen langen steinernen Häuschen stand

ein russischer Ofen in

der Mitte; ringsum ging

der „Corridor" (wie

das Hausgesinde es nannte) und in jeder Ecke war ein durch einen

Bretterverschlag abgesonderter „Winkel". Viel Rauin also gab es da nicht, namentlich in Pauls Winkel, dem äußersten an der Thüre.

Da stand

das Ehebett mit Steppdecke und Kattunkiffen, eine Wiege, ein dreibeiniger Tisch, worauf gekocht, gewaschen, aller Hausrath gelagert wurde und an

welchem Paul der Roßarzt war, selbst arbeitete.

Fässer, Kleider, Hühner,

ein Kalb und sieben lebendige Menschen füllten diesen Winkel aus, die sich nicht hätten rühren können, wenn ihnen nicht der vierte Theil des allgemeinen Ofens zu Gebote stand, worauf Sachen und Personen Platz

fanden und wenn sie nicht auf die Treppe hinaus konnten.

Wu|flf*c Wt6*r. n.

i.Heft. 1863.

2

Eigentlich

34.

Paul,

ging Letzteres nicht wohl an: im October war's kalt und an warmer Bekleidung hatten alle sieben nur einen einzigen Pelz; aber die Kinder

konnten sich durch Laufen, die Erwachsenen durch Arbeit erwärmen und

die Einen wie die Andern, wenn sie sich auf den Ofen begaben, wo eine Wärme von 40" war.

Unter solchen Umständen zu leben, scheint

schrecklich; für sie aber war's nichts; es ließ sich leben.

Akulina wusch

und nähte für die Kinder und den Mann, spann und wob, bleichte ihre

Leinwand, kochte und buk in dem allgemeinen Ofen, zankte und klatschte mit den Nachbarn.

Das ihnen monatlich an Lebensmitteln Ausgesetzte

reichte nicht nur für die Kinder, sondern auch noch um der Kuh was Holz hatten sie frei und Viehfutter auch. Aus dem Stalle

vorzuwerfen.

fiel auch Heu ab.

Ein Streifchen im Genlüsegarten gehörte ihnen.

Kuh hatte gekalbt; sie besaßen ihre eigenen Hühner.

Die

Paul versah Stall­

dienste, putzte die zwei Hengste, ließ den Pferden wie dem Rindvieh zur

Ader, reinigte die Hufe, stach den Rachen und rieb Salben eigener Er­ Von dem herrschaft­

findung ein, was ihm Geld und Proviant abwarf. lichen Haber verblieb auch etwas.

Im Dorfe war ein Bauer, der für

zwei Maß allmonatlich zwanzig Pfund Hammelfleisch hergab. sich leben lassen, wenn man kein Herzeleid

aber hatte

großes Herzeleid.

Paul

Die ganze Familie

war von Jugend auf

andern Dorfe bei einer Stuterei gewesen.

er da gerieth, war

hatte.

Es hätte

in

einem

Der Stallknecht, zu welchem

der erste Dieb im Umkreis:

er wurde

deportirt.

Bei diesem Stallknecht ging Paul zuerst in die Lehre, und jung, wie er

war, gewöhnte er sich dermaßen an „diese Kleinigkeiten", daß er hernach

bei dem besten Willen nicht mehr davon lassen konnte.

Er war uner­

fahren und schwach, hatte weder Vater noch Mutter, Niemand, der ihn

belehrte.

Paul trank gern und mochte nicht, daß etwas herumlag.

Ein

Strick, ein Pferdepolster, ein Schloß, ein Deichselnagel oder auch etwas

Werthvolles — Alles fand seinen Platz bei Paul.

Ueberall gab es Leute,

welche diese Sächelchen annahmen und, je nach Uebereinkunft, mit Wein

oder Geld bezahlten.

Das ist leichter Verdienst, wie das Volk zu sagen

pflegt: dazu braucht nmn weder Lernen noch Mühe, gar nichts, und wenn

man's

einmal

gekostet, schmeckt

Uebles hat solcher Verdienst:

mühelos und

man

keine andere Arbeit.

erlangt zwar

Nur ein

alles wohlfeil

und

kann auch angenehm dabei leben, aber plötzlich machen

böse Menschen einen Strich durch dieses Gewerbe, man hat mit einem Mal alles zu entgelten und wird seines Lebens nicht froh.

So erging es auch Paul. ihm Segen.

Er verheirathete sich, und Gott verlieh

Zur Frau bekam er die Tochter des Viehwärters, ein ge­

sundes, kluges, arbeitskräftiges Mädchen. schöner als das andere.

Sie gebar ihm Kinder, eines

Paul ließ noch immer nicht von seinem Ge­

werbe und alles ging gut.

Plötzlich hatte er Mißgeschick und wurde

Die Riemenseile eines

ertappt — und zwar auf einer rechten Kleinigkeit. Bauers hatte er eingesteckt.

Man fand sie bei ihm, schlug ihn, hinter­

brachte es der Herrin und fing an, auf ihn Acht zu geben.

zum zweiten, dritten Mal ertappt.

Er wurde

Die Leute beschimpften ihn, der Ver­

walter drohte, ihn zum Militär zu geben, von der Herrin erhielt er

einen Verweis ; seine Frau weinte und grämte sich; alles ging der Quere. Er war kein übler Akensch, nur schwach und hatte eine solche Leiden­ schaft zum Trünke, daß er auf keine Weise davon lassen konnte.

mal schalt ihn seine Frau und gab ihm sogar Schläge,

Manch­

wenn er be-

tmnken nach Hause kaul; da weinte er und rief: „Ich Unglücklicher!

Was soll ich niachen! So wahr ich meine Augen im Kopf behalten will,

ich lass' es, ich thu's nicht wieder."

Ätach einem Monat entfernt er

sich wieder von Hause, trinkt sich voll und verschwindet auf zwei Tage.

„Irgend

wo muß

meinten die Leute.

er doch das Geld zum Schwärmen hernehmen", Sein letzter Streich war der mit der Comptoiruhr.

Im Comptoir hing eine alte Wanduhr, die längst nicht mehr ging. Er trat einmal allein in das offene Comptoir:

die Uhr lockte ihn, er

nahm sie weg und schlug sie in der Stadt los.

Nun mußte es sich

gerade treffen, daß der Krämer, welchem er die Uhr verkaufte, ein Vetter

von einem der Mädchen im Hausgesinde war.

Als der am Feiertag

nach der Stadt kam, erzählte er von der Uhr.

Man fing an nachzu­

spüren, als ob Jemandem was daran lag. mochte den Paul nicht.

Herrin.

Besonders der Verwalter

Es kam richtig heraus.

Die rief Paul zu sich.

Man meldete es der

Er fiel ihr sogleich zu Füßen und ge­

stand alles in gefühlvollen, rührenden Worten, wie seine Frau ihm be­ lehrt hatte.

Er führte alles sehr gut aus.

Die Herrin redete ihm ins

Gewissen, redete und ermahnte, mahnte ihn an Gott, an die Tugend, an

3*

das künftige Leben, an seine Frau und seine Kinder und brachte ihn zu Thränen.

Die gnädige Frau sagte:

— Ich verzeihe dir ; aber versprich mir, das niemals wieder zu thun.

— Zeitlebens nicht! In die Erde toiU ich versinken, bersten will

ich.... schwor Paul und weinte erschütternd.

Paul kam nach Hause; dort heulte er den ganzen Tag und lag

auf dem Ofen. Seitdem hatte er sich kein einzig Mal etwas zu Schulden kommen lassen.

Aber er führte ein trauriges Leben. Die Leute sahen ihn für einen

Dieb an; und als die Zeit der Rekrutirung kam, deuteten Alle auf ihn.

Paul war, wie schon

Wie er auf einmal zum

gesagt, Roßarzt.

Roßarzt geworden, das wußte Niemand und

noch weniger

er selbst.

In der Stuterei, unter dem deportirten Stallknecht hatte er kein anderes Geschäft versehen, Wasserführen..

Weber; dann

als Düngerkehren,

bisweilen Pferdereinigung und

Dort konnte er nichts gelernt haben. arbeitete er

im Garten

Darauf war er

und kehrte die Gänge; später

mußte er zur Strafe Ziegel schlagen, und als er dann Urlaub erhielt, vermiethete er sich als Hausknecht bei einem Kaufmann.

hatte er keine thierärztliche Praxis.

Also auch da

Aber seit er wieder zu Hause war,

verbreitete sich nach und nach der Ruf von seiner ungewöhnlichen, sogar

etwas übernatürlichen roßärztlichen Kunst.

Er schlug den Pferden die

Ader zu beiden Seiten mit einer stumpfen Lanzette, auf die er hämmerte, stach und schnitt herum (alles „zu größerer Erleichterung"), verband (ein­

mal mit einem Kopftuche seiner Frau), that auf jeden Schaden Vitriol

oder eine Flüssigkeit aus einem Fläschchen, gab innerlich ein, was ihm

in den Sinn kam; und je mehr er die Pferde quälte und todtcurirte, desto größer ward das Vertrauen zu ihm, desto mehr Pferde wurden

ihm in die Cur gegeben. Ich fühle, daß es uns Herrschaften nicht wohl zukommt, über Paul zu

lachen.

Die Manieren, deren er sich bediente, um Vertrauen einzuflößen,

sind dieselben, die auf unsere Väter gewirkt, auf uns wirken und auf

unsere Kinder wirken werden.

Der Bauer, welcher den Kopf seiner am

Boden liegenden einzigen Stute, die nicht nur seinen Reichthum, sondern

fast einen Theil seiner Familie ausmacht, mit seinem ganzen Leibe nieder­

hält und gläubig und angstvoll in das bedeutsam finstere Gesicht Pauls,

auf dessen dünne, aufgestreifte Arme blickt, wie derselbe gerade die schmerz­ hafte Stelle preßt und dreist einschneidet in das lebendige Fleisch mit dem

versteckten

Gedanken: „Hol's

der

Teufel,

wo

ich

hinkomme",

während er sich den Schein giebt, als wisse er, wo das Blut, die Mate­ rie, die Sehnen, die Adern, und zwischen den Zähnen das heilende Läpp­ chen oder das Fläschchen mit Vitriol hält — dieser Bauer kann sich

nicht vorstellen, daß Paul, ohne seiner Sache gewiß zu sein, die Hand zum Schneiden erhebe.

Er selbst wäre nicht im Stande, das zu thun.

Nachdem aber der Schnitt einmal geschehen, klagt er sich nicht an, daß

er nutzlos habe schneiden lassen.

Ich weiß nicht, ob Andere — ich we­

nigstens habe genau dasselbe an dem Doctor erfahren, der auf mein

Ersuchen mir theure Menschen quälte.

Die Lanzette, das geheimnißvolle

weißliche Fläschchen mit Sublimat und die Worte: „Blutfluß, Aderlaß, Materie", ist das nicht dasselbe, wie das Gerede von den „Nerven, Rheu­

matismen, Organismen" u. s. w.

Wage Du zu irren und zu träumen! — Das gilt nicht sowohl den Poeten, als den Aerzten und Roßärzten.

III. An jenem Abend, wo die Versammlung zur Aushebung der Re­

kruten vor dem Comptoir summte, in der kalten Dunkelheit der October­

nacht, saß Paul auf dem Bettrand

Flasche eine ihm selbst

am Tisch und zerrieb mit einer

unbekannte Pferdearznei.

Es

war Sublimat

darin und Schwefel und Glaubersalz und ein gewisses Kraut, welches Paul auflas, nachdem er sich einmal eingebildet, daß dasselbe gegen den

Dampf der Pferde von Nutzen sei, und dessen Anwendung auch gegen andere Krankheiten nicht überflüssig fand.

Die Kinder lagen schon: zwei

auf dem Ofen, zwei im Bette, eines in der Wiege, neben welcher Akulina an ihrem Spinnrad saß.

Ein Lichtstümpfchen, das von „herumliegen­

den" herrschaftlichen Kerzen übrig geblieben war, stand im hölzemen Leuchter am Fenster und damit der Mann sich in seiner wichtigen Be­

schäftigung nicht unterbräche, den Fingern zu putzen.

erhob sich Akulina, den Lichtstumpf mit

Es gab Freidenker, die von Paul sowohl als

Roßarzt, wie als Blenfchen inchts hielten.

Andere, und zwar die Mehr­

zahl, hielten ihn für einen schlechten Menschen, aber für einen Meister

38

Paul.

seiner Kunst.

Akulina hingegen, ungeachtet sie ihren Mann oft schalt

und bisweilen sogar schlug, hielt ihn unzlveifelhaft für den ersten Roß­

arzt und den vorzüglichsten Bkenschen in der Welt.

gewisse Species in

die Hand.

Paul schüttete eine

(Eine Wage gebrauchte er nicht und

äußerte sich etwas ironisch über die eine Wage gebrauchenden Deutschen. „Das", sagte er, „ist keine Apotheke.")

Paul warf die Species in der

Hand herum; es schien ihm zu wenig und er schüttete zehnmal mehr hinzu.

„Ich thu' alles hinein", sagte er für sich; „wird stärker wirken."

Akulina blickte auf die Stimme ihres Gebieters rasch um, in Erwartung eines Befehles; als sie aber sah, daß die Sache nicht sie anging, zuckte fit

die Achseln.

Wo er das alles

„Seh' mal Einer!

dachte sie und begann wieder zu spinnen. die Species herausgeschüttet lvorden,

hernimmt!"

Das Papierchen, aus welchem fiel unter den Tisch.

Akulina

übersah das nicht. — Aennchen! rief sie; da hat der Bater etlvas fallen lassen, heb's auf. Aennchen streckte die dünnen, nackten Füßchen unter dem sie be­

deckenden Capot hervor, schlüpfte wie eine Katze unter den Tisch und

holte das Papier. — Da, Väterchen! sagte sie und huschte mit den frierenden Füß­

chen wieder in's Bett. — Was tößt du mich!

quiekte die kleinere Schwester, mit der

Zunge anstoßend und mit verschlafener Stimme. — Wollt ihr gleich! rief Akulina und beide Köpfchen verschwanden

unter dem Capot. — Für drei Silberrubel will ich ihm das Pferd kuriren, sagte

Paul, die Arzneiflasche zupfropfend.

hinzu.

Und das ist noch billige setzte er

Zerbreche sich mal Einer den Kopf.

AkMna, geh, bitte Nikita

um etwas Tabak; geb's morgen ivieder.

Und Paul zog

aus der Hosentasche

ein ehemals

angestrichenes

hölzernes Pfeifenrohr, mit Siegellack statt des Mundstückes, und begann die Pfeife zu stopfen. Akulina verließ das Spinnrad und trat hinaus, ohne an etwas

hängen zu bleiben, was sehr schwer war.

Paul öffnete ein Schränkchen,

stellte die Flasche hinein und neigte an seinen Mund einen leeren Krug,

der aber keinen Tropfen Branntwein mehr hergab.

Er runzelte die

Stirn; als ihm jedoch die Frau den Tabak brachte, als er die Pfeife vollgestopft hatte, zu rauchen anfing und sich auf das Bett setzte, da

erstrahlte sein Gesicht von der Befriedigung und dem Stolze eines Menschen,

der sein Tagewerk vollendet.

Dachte er etwa daran, wie er morgen das

Pferd an der Zunge packen und ihm diese wunderbare Mixtur in den Mund gießen ivürde, oder sagte er sich, daß einem nothwendigen Manne

doch Niemand etwas abschlage und daß Nikita den Tabak wirklich ge­

schickt? Ihm war wohl zu Muthe.

Plötzlich wurde die in einer Angel

hängeilde Thüre zurückgeschlagen und hereintrat das Mädchen von „Oben", nicht das zweite, sondern das dritte, das kleinere, das man zum Aus­

schicken hielt.

„Oben" bedeutet,

haus, lvenn letzteres auch unten ist.

wie Jedermann weiß, das Herren­

Axiutka — so hieß das Mädchen —

flog immer, wie ein Pfeil, wobei sie die Arme steif hielt', die je nach

der Schnelligkeit ihrer Bewegung, lote ein Pendel, nicht an den Seiten, sondern vorn sich hin und her wiegten; ihre Backen waren stets röther

als ihr Rosakleid; ihre Zunge bewegte sich stets eben so rasch wie ihre

Füße.

Sie kam in's Zimmer geflogen, griff aus irgend einem Grunde

an den Ofen, begann sich zu schaukeln und als wollte sie durchaus nicht

mehr wie zwei, drei Worte auf einmal aussprechen, brachte sie plötzlich außer Athent, zu Akulina gewendet, Folgendes hervor: — Die gnädige Frau befehlen, daß Paul Jljitsch den Augenblick herauf kommen.... (Sie hielt inne und holte schwer Athem.)

Jegor

Michajlowitsch war bei der gnädigen Frau; sprachen von den Rekmten....

nannten Paul Jljitsch.... Soll den

Augenblick

heraufkommen.

Die

gnädige Frau befehlen .... (sie seufzte abermals) daß er den Augen­

blick komme. Einm Moment sah Axiutka auf Paul, auf Akulina, auf die Kinder,

die unter der Decke hervorguckten, ergriff eine auf dem Ofen liegende Nußschale, warf sie nach Aennchen hin, sagte noch einmal: „den Augen­

blick heraufkommen", dann rannte sie spornstreichs

aus dem Zimmer

und die Pendel vor ihr her kamen mit gewohnter Schnelligkeit in Bewegung.

Akulina erhob sich wieder und holte die Stiefel des Mannes. waren häßliche, zerrissene Soldatenstiefel.

Es

Sie nahm den Kaftan vom

Ofen und reichte ihm denselben, ohne ihn anzublicken. — Jljitsch, willst du nicht das Hemd wechseln?

Paul.

40 — Nein, sagte Paul.

Akulina warf keinen einzigen Blick auf sein Gesicht, während er

schweigend die Stiefel anzog und sich ankleidete, und sie that wohl daran, daß sie ihn nicht anblickte.

Pauls Gesicht lvar bleich, der Unterkiefer

zitterte und die Augen hatten jenen weinerlichen, unterwürfigen und tief

unglücklichen Ausdruck, den nur gute, schwache und schuldige Menschen haben.

Er strich das Haar zurecht und tvollte hinaustreten, aber die

Frau hielt ihn zurück, schob ihm das Hemdbändchen hinein, das über

den Rock hing, und setzte ihm die Mütze auf. — Ei, Paul Jljitsch, die gnädige Frau haben Sie rufen lassen!

erscholl die Stimme der Tischlersfrau hinter dem Verschlag. Die Tischlersfrau hatte erst am Morgen wegen eines Topfes mit

Lauge, den Paul's Kinder bei ihr ausgegofsen, mit Akulina eine starke Unannehmlichkeit gehabt, imd es war ihr im ersten Augenblick lieb, zu

hören, daß Paul zur Herrin gerufen wurde; denn was Gutes hatte das

wohl nicht zu bedeuten. Dame.

Dabei war sie eine feine, politische und giftige

Niemand verstand sich besser, als sie, auf ein scharfes Wort;

wenigstens bildete sie sich das selbst ein. — Sie sollen wohl nach der Stadt, um Einkäufe zu machen, setzte sie hinzu. — Ich denke, man will einen sichern Menschen dazu haben,

und da schickt man Sie.

Sie kaufen mir da wohl ein Viertelpfund Thee,

Paul Jljitsch.

Akulina hielt die Thränen zurück und ihre Lippen zogen sich zu

einem boshaften Ausdruck zusammen. Haare

dieses

Packs,

Wie hätte sie sich in die garstigen

dieser Tischlersfrau einkrallen mögen!

Als sie

aber einen Blick aus ihre Kinder warf und daran dachte, daß diese ver­

waisen, und sie selbst als eine Soldatenwittwe zurückbleiben sollte, da vergaß sie die giftige Tischlersfrau, bedeckte das Gesicht mit den Händen,

setzte sich auf das Bett und ließ ihren Kopf auf die Kissen sinken. — Mamaschen, du hast mich eindetlemmt, brummte das mit der Zunge anstoßende Dtädchen, und zog sein Mäntelchen unter dem Elbogen

der Mutter hervor.

— Wärt ihr doch alle todt!

Zum Wehe habe ich euch geboren!

rief Akulina und brach in lautes Weinen aus, zum Ergötzen der Tischlers­

frau, welche die Morgenlauge noch nicht vergessen hatte.

IV. Eine halbe Stunde verging. schreien an.

aber

ihr

Das Kind in der Wiege fing zu

Akulina stand auf und stillte es.

Sie weinte nicht mehr;

noch hübsches, hageres Gesicht aufstützend,

heftete sie

ihre

Augen auf das herabbrennende Licht und dachte darüber nach, warum sie geheirathet, ivarum man so viel Soldaten brauche, und dann noch,

wie sie es der Tischlersfrau vergelten könne.

Sie wischte die

Da ließen sich die Schritte ihres Mannes hören.

Spuren der Thränen aus ihrem Gesicht und erhob 'sich, um ihm Platz zu Nlachen.

Paul trat stolz eiu, warf seine Mütze auf's Bett, knöpfte

sich los und nahm den Gürtel ab. — Nun, lvie ist's?

Weshalb hat sie dich rufen lassen?

— Hm, das weiß man, der Paul ist der Letzte, der Geringste, und

wenn es was zu thun giebt, >vem überträgt man's? dem Paul. — Was giebt es denn? Paul beeilte sich nicht mit der Antwort, sondern rauchte gemächlich seine Pfeife an.

— Ich soll zum Kaufmann, Geld holen.

— Geld bringen? fragte Akulina.

Paul lächelte und nickte mit

dem Kopfe. — Was sie hübsch die Worte setzen kann!

ein unzuverlässiger Mensch vermerkt;

irgend einem Andern. konnten.)

Du, sagt sie, warst als

ich aber traue dir mehr,

als

(Paul sprach laut, damit die Nachbarn es hören

Du hast mir versprochen, dich zu bessern, sagt sie, da hast

du den ersten Beweis, daß ich dir traue: fahre, sagt sie, zum Kauf­ mann, hole Geld und bring' es her.

Ich, sage ich, gnädige Frau, wir,

sage ich, sind Alle Ihre Diener und wie dem lieben Gott haben wir

Ihnen zu dienen.

Darum fühle ich mich im Stande, für Ihr Wohl

Alles zu thu« und kann mich keines Dienstes weigern.

fehlen, das vollbringe ich, denn ich bin Ihr Knecht.

Was Sie be­

(Er lächelte wieder

mit jenem eigenthünilichen Ausdruck eines schwachen, guten und schuld­

bewußten Menschen.)

Also, sagt sie, wirst du das sicher besorgen? Du

begreifst doch wohl, sagt sie, daß dein Schicksal davon abhängt?

sollte ich nicht begreifen, daß ich Alles besorgen kann!

Wie

Wenn man mich

beredet hat, so kann man Jeden anklagen; aber ich meine, daß ich gegen

Ihr Wohl nie auch nur einen Gedanken habe fassen können. Hab' ihr so zu Herzen gesprochen, daß meine gnädige Frau ganz weich wurde. Du, sagt sie, sollst mir der beste Mensch werden. (Er schwieg und wieder zeigte sich jenes Lächeln auf seinem Gesicht.) Ich verstehe mich darauf, mit ihnen zu reden. Wie ich noch auf Urlaub war, was kam da nicht Alles über mich! Sobald ich aber nur mit ihnen reden konnte, wurden sie seidenweich. — Ist es viel Geld? fragte Akulina. — Fünfzehnhundert Rubel Papier, entgegnete Paul nachlässig. Sie schüttelte den Kopf. — Wann sollst du hinfahren? — Morgen. Du nimmst, sagte sie, tvelches Pferd du willst. Geh in's Comptoir und mache dich mit Gott auf. — Dank sei dem Himmel! sagte Akulina, sich erhebend und be­ kreuzte sich. Gott stehe dir bei, Jljitsch, setzte sie flüsternd hinzu, damit man sie hinter dem Verschlag nicht hören könnte, und hielt ihren Mann am Hemdärmel. — Jljitsch, höre mich! Bei unserem Herrn und Hei­ land beschwör' ich dich, küsse das Kreuz darauf, daß du auf der Fahrt keinen Tropfen in den Mund nimmst! — Werd' ich trinken, ivenn ich mit fremdem Gelde fahre! schnaubte er ihr entgegen. — Hat da Jemand Clavier gespielt, setzte er nach ei­ nigem Schweigen lächelnd hinzu, ging Einem durch's Herz; muß das Fräulein gewesen sein. Wie ich vor ihr stand, vor der gnädigen Frau, da spielte das Fräulein im andern Zimmer. Das klang und brauste, daß es eine Lust war. Möchte auch so spielen können, und ich hätt's wahrlich gekonnt, ich bin geschickt in solchen Dingen. Morgen gieb mir ein weißes Hemd. Und sie legten sich beglückt schlafen. V.

Inzwischen ging es in der Gemeindeversammlung vor dem Comptoir laut her. Es handelte sich um keinen Spaß. Fast alle Bauern waren beisammen und während Jegor Michailotvitsch zur Herrin ging, bedeckten sich die Häupter, ließen sich im allgemeinen Gerede immer mehr und immer lautere Stimmen hören. Der dumpfe Hall der Stimmen, bis-

weilen von athemloser, heiserer, schreiender Rede mrterbrochen, durchzog

die Luft und drang Ivie Meeresgeräusch an die Fenster der Herrin, die es in eine nervöse Unruhe versetzte, jenem Gefühle gleich, Ivelches ein

heftiges Gewitter erregt. zu Muthe.

Es war ihr bald ängstlich, bald unbehaglich

Sie bangte fortivährend, daß diese Stimmen noch lauter,

noch zahlreicher ivürden und sich etwas ereignen könnte.

„Läßt sich denn

nicht Alles still, friedlich, ohne Streit, ohne Geschrei abmachen", dachte

sie, „in christlichem Gehvrsani und christlicher Liebe?"

Mehrere Stimmen sprachen durcheinander; aber lauter als alle schrie

der Zimmermann Fedor Resuu. Dutlow an.

Er war von den „Zweiern" und griff

Der alte Dutlow vertheidigte sich; er trat aus dem Haufen

vor, hinter tvelchem er erst gestanden und sich verschnaubend, indem er mit den Händen uniherfocht und sich an's Kinn faßte, näselte er so viel

durcheinander, daß er selbst kaum verstehen konnte, >vas er sprach. Seine Kinder und Iteffen,

sämnitlich prächtige Jungen, hielten sich dicht an

ihn und der alte Dutlow erinnerte in seiner Erscheinung an die „Vogel­ mutter" in dem „Geierspiel".

Der Geier war Resnn und nicht Resun

allein, alle „Zweier" und „Einzle", fast die ganze Versammlung rückte

dem Dutlow zu Leibe.

Es handelte sich darum, daß ein Bruder Dut-

lows vor dreißig Jahren zum Rtilitair abgegeben war.

Deshalb wollte

er nicht, daß ihn das Loos für drei traf und begehrte, daß der Mili-

tairdienst des Bruders ihm angerechnet, daß er somit zu den „Zweiern" gezählt werden sollte, zuloosen war.

aus

denen dann der fehlende Rekrut Heraus­

Es waren außer Dutlow noch vier, deren Familien drei

Militairpflichtige zählten; aber der eine >var Starost und den hatte die

Herrin von der Militairpflicht befreit, aus der zweiten Familie war bei

der vorigen Rekrutirung einer abgegeben worden, von den übrigen waren

zwei designirt.

Der eine erschien nicht einmal in der Versammlung; nur

seine Frau war da und stand traurig hinter Allen, mit einem dunkeln

Gefühl von Hoffnung, daß das Rad sich zu ihren Gunsten wenden könnte.

Der Andere der beiden Designirten, der rothhaarige Roman,

der, ob­

gleich nicht arm, einen zerlumpten Kittel trug, lehnte an der Treppe

und schwieg die ganze Zeit gesenkten Hauptes.

Nur bisweilen warf er

den am lautesten Sprechenden einen Blick zu und ließ dann wieder den

Kopf sinken.

Seine ganze Gestalt athmete Unglück.

Der alte Dutlow

Paul.

44

war ein Mann, welchem Jeder, der ihn nur einigermaßen kannte, Hun­ derte und Tausende von Rubeln anvertraut hätte.

gottesfürchtiger, vermögender Mann.

Es war ein gesetzter,

Dazu war er Kirchenältester.

Desto

auffallender war die Erregung, in welcher er sich jetzt befand.

Der Zimmermann Resun

hingegen,

ein

langer, schwarzhaariger

Mann, war unbändig, keck, dem Trünke ergeben und besonders gewandt

in Streit und Gegenrede, bei den Gemeindeversammlungen, auf dem Markt, gegen Arbeiter, Kaufleute, Bauern oder Herrschaften.

Jetzt war

er ruhig, beißend und mit der ganzen Wucht seiner Gestalt, mit der ganzen Macht seiner volltönenden Stimme und seines rednerischen Ta­

lentes drückte er auf den sich verschnaubenden und vollständig aus dem Gleise seiner Gelaffenheit herausgebrachten Kirchenältesten. Streite nahmen noch der stämmige Garassim Kopülow,

Antheil am

ein jugendlich

aussehender Mann mit nrndem Gesicht, quadratem Kopfe, krausem Bart,

ein Mann, der mehr der jüngem Generation angehörend, sich als Redner an Resun anschloß, stets durch seine kecke Rede sich auszeichnete und in der Versammlung bereits ein Gewicht errungen hatte; ferner der Fedor

Melnitschny, ein Bauer von gebückter Haltung, hager, lang, ebenfalls noch jung, mit spärlichem Bart und kleinen Augen; stets gallig, finster,

an Allem die böse Seite wahrnehmend, verblüffte er die Versammlung oft durch seine unerwarteten, abgebrochenen Fragen und Bemerkungen. Diese beiden Redner waren auf Seiten Resuns.

Außerdem mischten sich

noch bisweilen zwei Schwätzer hinein; der Eine mit gutmüthigem Gesicht und breitem, blonden Bart, Chrapkoff, sagte immer:

Freund!"

und der Andere,

ein

„Du, mein lieber

kleines Männchen mit einem Vogel­

gesicht, Schidkoff, sagte zu Allen: „Folglich ihr lieben Brüder!" Er wen­

dete sich an Alle und sprach fließend, aber niemals zur Sache.

Beide

hielten es bald mit dem Einen, bald mit dem Andern, doch achtete Nie­

mand auf sie.

Es waren noch manche der Art da; aber diese beiden

lärmten am meisten, zum Schrecken der gnädigen Frau, wurden am we­

nigsten gehört, und betäubt von dem allgemeinen Geräusch, gaben sie sich in vollen Zügen der Lust ihres Zungenkitzels hin.

Es gab da noch viel

verschiedne Charaktere unter den Gemeindemitgliedern: düstere, gemeffene, gleichgültige und ängstliche, auch Weiber waren da, die hinter den Bauern standen; aber von all Denen erzähle ich,

so Gott will, ein andermal.

Der größere Haufen, der die Versammlung bildete, hielt sich still, wie in der Kirche, oder flüsterte leise hinter den Sprechern über wirthschast-

liche Angelegenheiten.

Ein paar Reiche nahmen wenig Notiz von der

Versammlung, die ihren Wohlstand weder mehren noch mindern konnte. Ein Solcher war Jermil, mit breitem, glänzenden Gesicht, welchen die

Bauern wegen seines Reichthums den „Dickbauch" nannten.

Ein Solcher

war auch Starostin, auf dessen Gesicht das Selbstgenügen der Macht

sich spiegelte: „Redet, was ihr wollt, mich rührt doch Keiner an, habe

vier Söhne und keiner

von ihnen

wird abgegeben."

Mitunter fielen

solche Freidenker, wie Kopülow und Resun, auch gegen sie aus, und da antworteten sie, aber ruhig und fest, im Bewußtsein ihrer Unantast­

barkeit.

Wenn Dutlow der „Vogelmutter" im „Geierspiel" glich, so er­

innerten seine Jungen doch nicht an Nestlinge; sie warfen sich nicht hin und her, quiekien nicht, sondern standen ruhig hinter ihm.

Der Aelteste,

Jgnat, war schon dreißig Jahre alt, der zweite, Wassily, war auch schon

verheirathet, aber zum Rekruten untauglich, der dritte, Jljuschka, sein

Neffe, der vor Kurzem erst geheirathet, ein junger Mann von blühender Gesichtsfarbe (in elegantem Pelz, den er als Fuhrmann trug), sah auf

die Leute hin und kraute sich zuweilen hinter den Ohren; die ganze Sache schien ihn nicht anzugehen und doch war er's just, welchen die

Geier packen wollten.

— Also weil mein Großvater einmal Soldat gewesen, sagte Resun,

werde ich mich dem Loos entziehen!

Solch Gesetz giebt es nicht.

In

voriger Rekrutirung nahm man beu Michailow und sein Onkel war noch

nicht zurück. — Weder dein Vater noch dein Onkel haben rief Dutlow gleichzeitig darein,

dem Zar gedient,

und du selbst dienst weder der Herr­

schaft noch der Gemeinde, hast nur gezecht und deine Kinder haben sich von dir abgesondert. sonnirst

Weil sich mit dir nicht zusammen leben läßt, rä-

du und zeigst auf Andere;

ich aber

habe seit zehn Jahren

Gemeindeämter versehen, war Starost, bin zwei Mal abgebrannt, 'Nie­ mand half mir — und darum, daß es bei mir im Hause friedlich und

ehrlich hergeht, will man mich ruiniren? Bruder zurück.

So gebt mir doch meinen

Gelt, der ist wohl gar schon todt'?

Drum, als recht-

46

Pauk.

gläubige Gemeinde urtheilt nach der Wahrheit, nach dem Sinne Gottes, aber hört nicht auf das Belfern eines Betrunkenen.

Gleichzeitig sagte Kopülow zu Dutlow: Du weisest auf deinen Bruder

hin; aber den hat nicht die Gemeinde abgegeben, sondern die Herrschaft wegen seiner Liederlichkeit.

Also kannst du dich auf den nicht berufen.

Noch hatte Kopülow nicht ausgesprochen, als der lange Fedor Melnitschny vortrat und finster anhub: — Das ist's ja ; die Herrschaften geben hin> wen sie wollen, und hernach soll es die Gemeinde ausmachen.

Gemeinde hat deinen Sohn bestimmt; du willst aber nicht. di« Herrin, wenn es der beliebt, so muß ich das einzige Kind stellen.

Die

So bitte

Da hast

du's Gesetz, sagte er gallig, machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand und trat auf seinen früheren Platz zurück.

Der rothhaarige Roman, dessen Sohn designirt war,, hob den Kopf

Und vor Verdruß setzte

in die Höhe und sagte: — Ja, so, so ist es! er sich sogar auf die Stufe. Das

waren noch nicht

alle Stimmen, die auf einmal sprachen.

Außer denen, die sich im Hintergründe von ihren Geschäften unterhielten,

vergaßen auch die Schwätzer ihres Amtes nicht. — Als

Gemeinde, sagte

rechtgläubige

Worte Dutlow's

wiederholend,

müßt ihr

der

Schidkoff, die

kleine

allerdings

nach

urtheilen

Christenpfiicht, folglich ihr lieben Brüder, nach Christenpflicht müßt ihr

urtheilen. — Nach bestem Gewissen Freund,

sagte

niuß man

der gutmüthige Chrapkoff,

Dutlow anl Pelz zerrte,

urtheilen, du und

indem

mein er

lieber

den alten

wiederholte er die Worte Kopülow's:

Das

war der Wille der Herrschaft, nicht die Entscheidung der Gemeinde.

— Richtig, das war's, sagten Andere. — Wer belfert als Betrunkener?

versetzte Resun.

Hast du mir

etwa zu trinken gegeben oder will dein Sohn, den man von der Straße

aufhebt> mir Trunkenheit vorwerfen ? G, Brüder, so laßt uns doch zu einer Entscheidung kommen!

Wenn ihr den Dutlow verschonen wollt,

meinetwegen, so greift nicht blos unter die Zweier, auch unter die Einzlen und er mag uns auslachen.

— Dutlow muß dran, was ist da weiter zu sagen!

— Das ist eine bekannte Sache: zuerst muß das Dreierloos ge­

worfen werden, riefen einige Stimmen. — Es

kommt

noch

Jegor Michajlowitsch

darauf an, was die gnädige Frau befiehlt;

Einen vom Hausgesinde stellen

sagte, daß man

wollte, ließ sich Jemandes Stimme vernehmen.

Diese Bemerkung hielt eine Weile den Streit auf,

der jedoch bald

wieder entbrannte und auf's neue in Persönlichkeiten überging. Jgnat, von welchem Resun sagte, daß man ihn von der Straße aufhöbe, suchte dem Resun nachzuweisen, daß derselbe bei durchreisenden Zimmerleuten eine Feile gestohlen und in der Trunkenheit seine Frau

fast todtgeschlagen. Resun antwortete, betrunken oder nicht, schlage er seine Frau und

noch immer zu wenig, toomit er Alle zum Lachen brachte. der Feile aber beleidigte ihn plötzlich.

Das wegen

Er trat nahe an Jgnat heran

imb fragte ihn: Wer hat gestohlen?

— Du hast gestohlen, entgegnete ihm keck der kräftige Jgnat, in dem er noch näher auf ihn zutrat.

— Wer hat gestohlen? Doch wohl du! rief Resun. — Rein, du! versetzte Jgnat.

Von der Feile kam man auf ein

entwendetes Pferd, auf einen Sack mit Haber, auf ein Streifchen Ge­

müsegarten in den Ackerfeldern, mif

einen gewissen Leichnam und so

furchtbare Dinge sagten sich die beiden Bauern einander nach, daß wenn nur der hundertste Theil von dem, was sie sich vorhielten, Wahrheit

gewesen, Beide von Rechtswegen nach Sibirien hätten deportirt werden

müssen.

Der alte Dutlow tvählte inzwischen eine andere Vertheidigungsart. Das Zanken des Sohnes niißfiel ihm.

Er hielt

ihn zurück mit den

Worten: Schäme dich, laß ihn laufen! und wies nun nach,

daß das

Dreierloos nicht diejenigen allein träfe, die drei Söhne beisammen Hütten,

sondern auch diejenigen, deren Söhne gesonderte Wirthschaften führten.

Er deutete dabei sogar auf Starostin. Dieser lächelte leichthin, räusperte sich und mit dem Behaben eines reichen Bauern seinen Bart streichend, antwortete er: Das stände im

Willen der Herrschaft.

Sein Sohn

wenn man ihn hatte übergehen heißen.

müßte es doch wohl werth sein,

48

Paul. Wegen der abgesonderten Familien aber entkräftete Kopülow die Folge-

rungm Dntlow's, indem er bemerkte: dann sollte auch keine Sonderung gestattet werden, wie unter dem seligen Herrn.

Nun könne

man doch

keinen Einzlen abgeben.

— Haben sie sich denn aus Muthwillm gesondert? Warum sie jetzt ruiniren? ließen sich einige Sonderwirthschafter hörm und die Schwätzer stimmten ihnen bei.

— Ist dir's

nicht recht,

so kaufe

doch einen Rekruten.

Dann

kannst du's durchsetzen, sagte Resun zu Dutlow. Dutlow knöpfte sich verzweifelt den Kaftan zu und trat hinter die

andern Bauern. — Du scheinst mein Geld gezählt zu haben, versetzte er boshaft.

Was bringt uns da Jegor Michajlowitsch von der gnädigen Frau?

VI. Wirklich

trat

Jegor Michajlowitsch jetzt

aus dem Hause.

Die

Mützen wurden eine nach der andern gelüstet und in dem Maße, als

der Verwalter sich näherte, entblösten sich

nacheinander vorn oder in

der Mitte kahle, halbgraue, rothe, schwarze

und blonde Köpfe.

Stimmen verhallten nach und nach und verstummten endlich ganz.

Die Jegor

Michailowitsch trat auf die Treppe und machte Miene zu reden.

In

seinem langen Rock, in dessen Vvrdertaschen er unbequem seine Hände stecken hatte, mit der vorgeschobenen Fabrikmütze, fest auf der Erhöhung

stehend, welche diese emporgerichteten und zu ihm gewandten, größtentheils alten und größtentheils hübschen bärtigen Köpfe beherrschte, hatte Jegor Michailowitsch ein ganz anderes Ansehen, als

vor der Herrin.

Er sah majestätisch aus. — Vernehmt den Beschluß der gnädigen Frau! Vom Hausgesinde

belieben dieselben Keinen zu stellen und wen ihr eurerseits bestimmt, der kommt dran.

Wir haben diesmal drei zu stellen, eigentlich nur zwei

und einen halben.

Aber den' halben geben wir voraus.

Es bleibt sich

ja doch gleich, jetzt oder ein andermal. — Gewiß! das ist richtig, riefen Stimmen. — Nach meiner Ansicht, fuhr Jegor Michailowitsch fort, müssen

Charuschkin und Mituchin dran.

Das ist einmal göttliche Bestimmung.

— Freilich, allerdings! riefen Stimmen. — Der Dritte ist entweder Dutlow oder einer von den Zweiern. 2Bi< meint ihr? — Dutlow! riefen Stimmen, Dutlow's sind drei!

Und von Neuem erhob sich allmählich Geschrei und wieder kam die Rede auf die entwendete Feile, auf das Stückchen Feld, auf gewisse

Säcke, die aus denl Herrnhof gestohlen worden.

Jegor Michajlowitsch

verwaltete schon zwanzig Jahre das Gut und war ein gescheiter, er­

fahrener Mann.

Er stand eine Weile da, hörte ein Viertelstündchen dem

Lärmen zu und plötzlich befahl er Allen stillzuschweigen und zu loosen,

welcher von den drei Dutlotv's dran sollte.

Die Loose wurden in einem

Hut herumgeschüttelt und Chrapkoff zog das Loos Jljuschka's heraus. — Meines? zeig' doch mal her, sagte Jljuschka mit stockender Stimme.

Jegor Michajlowitsch befahl, auf morgen das

Alle waren lautlos.

Rekrutengeld einzubringen, sieben Kopeken vom

Gehöfte, erklärte, daß

Alles zu Ende sei und entließ die Versammlung.

Die Menge ging aus­

einander, setzte hinter

der Ecke des Hauses die Mützen

rauschten ihre Sieben und Schritte.

auf, und es

Der Verwalter stand auf der Treppe

und sah den sich Entfernenden nach.

Als die jungen Dutlow's um die

Ecke waren, rief er den Alten, der selbst stehen geblieben war, zu sich

heran und trat mit ihm in's Comptoir. — Du dauerst mich, Alter, sagte Jegor Michailvwitsch, sich in den

Sessel vor dem Tisch niederlaffend. Die Reihe hat dich getroffen. WUst

du den Reffen lvskaufen oder nicht? Der Greis warf, ohne zu antworten, einen bedeutsamen Blick auf Jegor Michailvwitsch. — Es ist nicht zu vermeiden, erwiederte dieser auf seinen Blick.

— Möchte ihn gern loskaufen, Jegor Michailvwitsch, hab' aber kein

Geld.

Zwei Pferde haben mich in diesem Sommer ausgebeutelt, habe

den Reffen verheirathet.

weil wir ehrlich leben.

Das muß

uns nun einmal beschieden sein,

Der Kerl hat gut reden.

(Er dachte an Resun.)

Jegor Mchailowitsch rieb sich mit der Hand das Gesicht und gähnte.

Er schien der Sache überdrüssig und es war Zeit zum Thee.

— Sündige nicht, Alter! sagte er und such' mal unterm Boden

Aujstiche Revue, n. i. Hefr. 18W.

4

60

Paul.

nach: findest vielleicht

vierhundert alte Silberrubelchen.

Ich wA dir

einen prächtigen Liebhaber kaufen; neulich meldete sich einer.

— Im Gubemium? fragte Dutlow.

Unter Gubernium verstand

er die (Stobt

— Nun, willst du kaufen?

— Möchte gern, aber bei Gott.... Jegor Michailywitsch unterbrach ihn streng:

— Jetzt höre mich, Alter! Daß Jljuschka sich kein Leid anthuel So wie ich schicke, heute oder morgen, bringst du ihn gleich, du selber, du

haftest für ihn und wenn, was Gott verhüte, ihm etwas zustößt, gebe

ich deinen, ältesten Sohn ab.

Hörst du?

— Aber, Jegor Michajlowitsch! könnte man nicht von den Zweiern? .... Das ist doch kränkend, sagte

er nach einigem Schweigen.

Mein

Bruder ist als Soldat gestorben und nun nimmt man noch den Sohn. Warum kommt nur dieses Elend über mich? sagte er fast weinend und

bereit, dem Verwalter zu Füßen zu stürzen. — Nun geh, geh! sagte Jegor Michajlowitsch. Da ist nichts zu Machen,

es ist einmal die Ordnung so. Gieb auf Jljuschka Acht, du hastest mir für ihn.

(Fortsetzung im nächsten Heft.)

Stimmen der westeuropäischen Preffe.*) Die russische Journalistik. Das Mac Mill Magazine enthält einen lehrreichen und offenbar von gut unterrichteter Seite stammenden Artikel über „die Presse in Rußland." Die Presse, in dem heute üblichen Sinne des Wortes, ist in ganz

Europa ein jüngeres Culturerzeügniß, und hängt mit dem Erwachen der Völker zum nationalen und humanen Selbstbewußtsein auf's engste, theils als Ursache, theils als Wirkung zusammen.

In Rußland war

die erste Presse unter Iwan IV. im Jahre 1564 aufgestellt worden und stand wie überall in Europa unter der Controls der geistlichen und weltlichen Regierung, die hier in dem Zaren sich vereinigte.

Das erste

Journal waren die „Moskauer Nachrichten", welche zuerst 1703 er­

schienen und bis 1711 in kyrillischem Alphabet gedruckt waren.

Als

das neue Alphabet eingeführt wurde, begründete man ein zweites Blatt,

die „St. Petersburger Nachrichten"**) die neben der Moskauer Zeitung

eigentlich nur als Flugblatt in unbestimmten Zwischenräumen zwanglos

herauskamen.

Von 1728 an erschien das Petersburger Blatt zwei Mal

in der Woche regelmäßig.

Allein es war wenig mehr als ein Amtsblatt,

das amtliche Nachrichten, Ukase, u. bergt enthielt. Diese beiden durch eine längere Geschichte bewährten Zeitungen sind die verbreitetsten Tagesblätter, und namentlich ist die Petersburger Zeitung

*) Künftig eine fortlaufende Rubrik unserer Zeitschrift.

D. Red.

**) Vergl. über die „Petersburger Nachrichten", die „Nordische Biene", den „Russischen Invaliden" und die „Nordische Post" unsre Notizen im ersten Bande der Russ. Revue (S. 13, 14, 15, 16.).

Die Fortsetzung des dort begonnenen Ver-

seichnisseS der russischen Zeitblätter bringen wir in den nächsten Heften.

D. Red.

52

Stimmen der westeuropäischm Preffe.

durch Begünstigungen aller Art in den Stand gesetzt, ihren politischen

Theil besser zu bestellen, als die übrigen Blätter.

Durch Verbindungen,

welche die Redaction neuerdings in allen Welttheilen angeknüpft,*) soll

ihr eine noch universellere Bedeutung gegeben werden.

Namentlich dürsten

die Originalcorrespondenzen aus Peking die Aufmerksamkeit des Abend­ landes besonders anziehen.

Sie ist eine muthvolle Verfechterin liberal-

volksthümlicher Principien und zwar in ausgeprägter Weise, während

ihre ältere Schwester in Moskau allen Parteien und Richtungen ihre Spalten öffnete.

Indeß steht auch ihr nun eine Umwandlung bevor, da

die gegenwärtige Redaction ihr eine bestimmtere politischere Färbung zu geben bemüht ist.**)

Die „Nordische Biene" war früher das Organ der conservativen Partei und wurde von Bulgarin redigirt.

dicalen Blättern.

Heute gehört sie zu den ra-

Der „Russische Invalide",

sonst ein halboffizielles

Blatt, ist zu einem Stapelplatz der mannigfachsten Richtungen und vieler „unhöflichen Persönlichkeiten"

heruntergekommen, und

gehört zu den

Blättern, auf welche die höhern Offiziere abonniren.***)

Während die

„Itordische Post" 7) dem Minister des Innern als Organ dient, ist das in französischer Sprache erscheinende „Journal de St. Petersbourg“

das officielle Blatt des Ministeriums des Aeußern.

Sodann hat Peters­

burg noch ein Localblatt, „Polizeinachrichten", aufzuweisen.

*) Mit Anfang dieses Jahres sind, nach dem Rücktritt von A. Otschkin und

A. Krajewsky, die „Petersburger Nachrichten" in die Hände von W. Korsch, dem bisherigen Redacteur der „Moskauer Nachrichten", übergegangen.

**) Seit 1863

D

Red.

ist das Blatt pachtweise von M. N. Kattkow und P. W.

Leontjew übernommen.

D. Red.

***) Wir geben dieses wenig motivirte, für uns nicht einmal recht verständliche Urtheil wieder, bemerken aber,

daß die empfehlende Meinung unseres Referenten,

der Art. des Mac Mill Magazine komme von gut unterrichteter Seite, sich'nicht gerade auf diese Aeußerung über den „Russ. Invaliden" beziehen dürfte.

Es ist

uns übrigens nicht klar, welche Epoche des „Russ. Invaliden" damit charakterisirt werden soll.

Seit dem Juni v. I. erfuhr das Blatt eine vollkommene Umgestaltung,

indem es einen rein officiellen Charakter annahm, und gegenwärttg erscheint eS

als Organ des Kriegsministeriums unter der Leitung des Obersten Romanowsky. D. Red.

t) Seit dem October v. I. redigirt von Iwan Gontscharow, einem der Koryphäen der neueren russischen Romanliteratur.

D. Red.

Der „Odessaer Bote" ist ohne jede Parteirichtung, besonders von dem Adel der Provinz patronisirt und bringt sehr genaue Nachrichten.

Von den politisch-literarischen Journalen sind bemerkenswerth: der

Bote",

„Russische

der „Zeitgenosse", „Unsere Zeit",

Der

Tag" und die „Vaterländischen Memoiren." An der Spitze der

Redaction des Russ. Boten steht Herr Katkow, ein Publicist ersten

Ranges, welcher freisinnige Ansichten mit aristokratischer Färbung ver­

tritt, im Sinne der Partei, die man gewöhnlich mit dem Namen der „Occidentalen" belegt.

Nammtlich waren die Artikel über die Emanci­

pation der Leibeigenen von hervorragender Bedeutung. „Unsere Zeit"*) ist ein

Centralisation.

Regierungsorgan mit dem Losungswort:

Darum ist ihr das imperialistische Frankreich das er-

strebungswürdige Ideal und sie steht darüber mit dem „ russischen Boten

in dauernder Fehde.

Dasselbe gilt von dem mehr literarischen als po­

litischen „Zeitgenossen",**) der jedoch nicht sowohl das centralisirte als das demokratische Kaiserthum auf den Schild erhebt.

Er gehört daher

den extremsten Richtungen an und streift besonders in den ökonomischen

Fragen an

communistische und sociale Theorien.

Seine Polemik ist

bitter und beißend.

Der berühmte Turgenew hat früher an dieser Zeit­

schrift mitgearbeitet.

Jetzt ist er zum „Russischen Boten" übergetreten.

Ein Sammelblatt, das Aufsätze über die verschiedenartigsten Gegenstände der Kunst und Wissenschaft und

natürlich auch der Politik bringt, ist

die Monatsschrift „Vaterländische Memoiren", die schon wegen ihrer

Vielseitigkeit keinen bestimmt gefärbten Charakter zuläßt. Dagegen ist „der Tag"***) das ausgesprochenste Organ des Pan-

slavismus.

Union der flavischen Völker und Suprematie Rußlands ist

seine Devise und zwar vereinigen sich auf seinem Boden sowohl die mo­

narchischen als die föderalen Panslavisten.

Denn wie fern auch noch

die Realisirung dieser kühnen Idee fliegt, so wird doch schon heftig über die Form polemisirt, welche man dem zukünftigen Gebilde geben wolle.

*) S. Ruff. Rev. Heft 2. S. 130. Nach einer uns so eben zugegangenen Nachricht hat diese Zeitung jetzt zu erscheinen aufgehört und dem Herausgeber ist dir Gründung eines andern Blattes übertragen worden. Die Red.

**) S. Russ. Rev. Hest 3. S. 248. ***) S. Ruff. Rev. Heft 2. S. 128.; Heft 4. S. 324.

54

Stimmen der westeuropäischen Presse.

Natürlicherweise gelangt in diesen Parteien der nationale Cultus zum

höchsten Ausdruck und die entschiedenste Abneigung gegen die „importirte Civilisation" der Gesellschaft.

Hängen sie aber auch hierdurch einiger­

maßen mit dem Radicalismus des Westens zusammen, so sind sie doch durch die eifrige Pflege und Verehrung der griechischen Kirche, als eines unmittelbaren

und

untrennbaren Products

der autochthonen Cultur

wesenttich von ihm getrennt, so daß bei ihnen dann zum Panslavismus

die Orthodoxie als eine conditio sine qua non hinzutritt. Interessant ist schließlich noch die Abonnentenzahl der verschiedenen

Blätter, denn nicht sowohl das Vorhandmsein der letzteren, als die Zahl ihrer Leser charakterisirt die Stärke oder Schwäche der darin vertretenen Parteien.

Wir stellen sie daher tabellarisch zusammen:

Die St. Petersburger Nachrichten: über 9000 Abonnenten. Die Moskauer Nachrichten: .

.

über 9000

n

Die Nordische Biene:............................

5000

Der Russische Invalide:......................

2000

H

Die Nordische Post:........................... an

4000

ft

ft

an

8000

H

über

9000

n

Der Zeitgenosse:.................................

7500

n

Das Joumal de St. Petersburg:

Der Russische Bote: ....

Die Vaterländischen Memoiren: Der Tag:

.

.

3000

w

.........

3000

M

Ein Tagebuch vom Hofe Pcter's des Großen.

Times und Saturday Review, nach ihnen die Mgemeiue Zeitung, besprechen ein neulich erschienenes Buch, das mehr wegen seiner eigen»

thümlichen Schicksale, als wegen seines Inhalts bemerkenswerth ist und gewiffermaßen Notizen ä la Varnhagen über den Hof Peters des Großen enthält.

Im Jahr 1698 begleitete nämlich Johann Georg Korb als

Secretär dm Herm v. Guarieut, dm Gesandten des deutschen Kaisers, an den Hof zu Moskau.

Die lateinisch geschriebenen Notizen über diese

Reise wurden 1700 gedruckt, das Buch aber auf die Bitte des Zaren

von den SBiener Behörden mit Beschlag belegt.

Nur wenige Exemplare

54

Stimmen der westeuropäischen Presse.

Natürlicherweise gelangt in diesen Parteien der nationale Cultus zum

höchsten Ausdruck und die entschiedenste Abneigung gegen die „importirte Civilisation" der Gesellschaft.

Hängen sie aber auch hierdurch einiger­

maßen mit dem Radicalismus des Westens zusammen, so sind sie doch durch die eifrige Pflege und Verehrung der griechischen Kirche, als eines unmittelbaren

und

untrennbaren Products

der autochthonen Cultur

wesenttich von ihm getrennt, so daß bei ihnen dann zum Panslavismus

die Orthodoxie als eine conditio sine qua non hinzutritt. Interessant ist schließlich noch die Abonnentenzahl der verschiedenen

Blätter, denn nicht sowohl das Vorhandmsein der letzteren, als die Zahl ihrer Leser charakterisirt die Stärke oder Schwäche der darin vertretenen Parteien.

Wir stellen sie daher tabellarisch zusammen:

Die St. Petersburger Nachrichten: über 9000 Abonnenten. Die Moskauer Nachrichten: .

.

über 9000

n

Die Nordische Biene:............................

5000

Der Russische Invalide:......................

2000

H

Die Nordische Post:........................... an

4000

ft

ft

an

8000

H

über

9000

n

Der Zeitgenosse:.................................

7500

n

Das Joumal de St. Petersburg:

Der Russische Bote: ....

Die Vaterländischen Memoiren: Der Tag:

.

.

3000

w

.........

3000

M

Ein Tagebuch vom Hofe Pcter's des Großen.

Times und Saturday Review, nach ihnen die Mgemeiue Zeitung, besprechen ein neulich erschienenes Buch, das mehr wegen seiner eigen»

thümlichen Schicksale, als wegen seines Inhalts bemerkenswerth ist und gewiffermaßen Notizen ä la Varnhagen über den Hof Peters des Großen enthält.

Im Jahr 1698 begleitete nämlich Johann Georg Korb als

Secretär dm Herm v. Guarieut, dm Gesandten des deutschen Kaisers, an den Hof zu Moskau.

Die lateinisch geschriebenen Notizen über diese

Reise wurden 1700 gedruckt, das Buch aber auf die Bitte des Zaren

von den SBiener Behörden mit Beschlag belegt.

Nur wenige Exemplare

55

Stimmen der westeuropäischen Preffe.

haben sich erhalten und finden sich in Men, in Wolfenbüttel, im brit-

tischen Museum und

anderwärts.

Graf Macdonell erzählt, wie

er

während einer Villegiatur zu Frascati im römischen Gebirge, in der dortigen Stuart'schen Bibliothek ein Exemplar des Korb'schen Tagebuches entdeckt hätte und (man darf wohl vermuthen aus Spleen) in dem

Werke so viel Vergnügen fand, daß er dasselbe mit seinen Landsleuten zu theilen

beschloß.

So erschien eine schwerfällige Uebersetzung eines

schwerfällig, und schwülstig geschriebenen Buches unter dem Titel:

Diary of an Austrian Secretary of Legation at the Court of Czar Peter the Great. Translated front the original Latin, and editet by the Count Macdonell. London 1863. Wenn der Uebersetzer nicht versicherte, daß ihm das Buch gerade darum so ausgezeichnetes Vergnügen gewährte, weil er „Tag für Tag

in demselben Armstuhl sitzend, wo vor fünfzig Jahren der kronenlose Erbe dreier Königreiche zu sitzen und zu lesen pflegte", also eine besondere Veranlassung zum Interesse für das Buch fand,

die außerhalb seines

Inhalts lag, so

sei zu agitatorischen

müßte man meinen, das Buch

Zwecken einem größeren

Publikum zugänglich gemacht worden.

Denn

außer einigen (von der Allgemeinen Zeitung sehr richtig als nicht mehr neu bez«chneten) Notizen über den Aufstand der Streletzen ist das ganze

Buch mit monströsen Grausamkeiten,

mit verächtlicher GleichgAttgkeit

gegen Menschenleben, mit verworfenem Knechtssinn und mit Zweizüngig-

keit und Intrigue angefüllt.

Wenn es von Kopfabschlagen, Lebendig­

rösten oder Lebendigbegraben erzählt, so liest man von groben und un­ anständigen Späßen, von Gelagen, in denen der Zar sich von seiner strengen Erfüllung der Herrscherpflichten zu erholen gesucht und in welche

Peter einen gewissen roh burlesken Paganismus eingemischt habe.

Trotz

alledem ist der österreichische Attache voll Bewunderung für den Zaren

Peter und hält ihn für einen wahrhaft großen Mann, der, obgleich er einer tollen Laune bisweilen den Zügel schießen lasse, doch unendlich besser sei, als seine Unterthanen, und Korb meinte, die Moskowiten hätten alle Ursache für den Besitz eines solchen Schatzes dem Himmel zu danken.

In Deutschland dürfte das Buch wenige Leser finden, denn wir haben an dem Weber'schen „Das veränderte Rußland" an den „Me­ moiren des Hern von Bassewitz" u. a. m. bereits genug, um den alten

Stimme» der westeuropäischen Preffe.

56

Zarenhof für starknervige Geschichtsfreunde in greller Beleuchtung dar­ stellen zu können.

Aber zur Würdigung Peters als eines gewaltigen

und gewaltsamen Reformators, der in seiner Regierungsart sich gleich­

sam als ein extremer und fanatischer Parteigänger der Civilisation seiner Zeit kundgiebt, die Materialien zu vermehren, das wäre verdienstlich.

Mehr oder weniger sind mindestens die in den westlichen Sprachen ab­ gefaßten Darstellungen so sehr von dem prickelnden „Paganismus" des kaiserlichen Hofes und der ihn nachahmenden Magnatenhöfe erfüllt, daß darüber das ganze Land, obgleich ihm doch durch Peters Regierung die

aufwühlendsten Gährungsstoffe beigesetzt wurden, als eine rudis indiges-

taque moles erscheint.

Erst in neuester Zeit ist durch die Leibeigenen-

frage und in Folge der Veröffentlichung der Correspoudenzen des Zaren-

kabinets mit dem Batican durch den päpstlichen

Protonotar Theiner

eine Füllung der Geschichte des Zeitalters, auf welches Peters Einfluß

wirkte, bemerkbar geworden.

Zur MustKliteratur. Die „Reue Zeitschrift für Musik", das Organ der Wagner'schen Richtung, enthält aus der Feder des Herrn Wladimir

Staffow eine

heftige Kritik über ein in französischer Sprache erschienenes Werk, dessen

Inhalt durch den Titel bezeichnet ist: Histoire de la musique sacree

en Russie par le prince N. Youssoupoff, membre de VAcademie philharmonique

de St. Cecile de Rome et maitre compositeur

honoraire de Pacademie philharmonique de Bologne.

Trotz dieses

langen Titels muß das Werk nach Herrn Stassow von geringem Werth als historischer Beitrag, von bedeutendem aber als literarisches Curiosum

sein.

Es sei hier vorweg die Anmerkung vorausgeschickt, daß Berlioz

im Journal des Debats und ein Recensent in den „Signalen" sich sehr günstig und anerkennend über das Buch aussprechen

Freilich aber ist

ein Unterschied zwischen dem künstlerisch-technischen und dem historischen

Gesichtspunkt, den man einem solchen Werke gegenüber einzunehmen hat. Jene beiden Kritiker gehen nur von dem erstem aus.

Allein wenn

man hört, welche geschichtlichen Schnitzer dem Fürsten zugestoßen sind,

Stimme» der westeuropäischen Preffe.

56

Zarenhof für starknervige Geschichtsfreunde in greller Beleuchtung dar­ stellen zu können.

Aber zur Würdigung Peters als eines gewaltigen

und gewaltsamen Reformators, der in seiner Regierungsart sich gleich­

sam als ein extremer und fanatischer Parteigänger der Civilisation seiner Zeit kundgiebt, die Materialien zu vermehren, das wäre verdienstlich.

Mehr oder weniger sind mindestens die in den westlichen Sprachen ab­ gefaßten Darstellungen so sehr von dem prickelnden „Paganismus" des kaiserlichen Hofes und der ihn nachahmenden Magnatenhöfe erfüllt, daß darüber das ganze Land, obgleich ihm doch durch Peters Regierung die

aufwühlendsten Gährungsstoffe beigesetzt wurden, als eine rudis indiges-

taque moles erscheint.

Erst in neuester Zeit ist durch die Leibeigenen-

frage und in Folge der Veröffentlichung der Correspoudenzen des Zaren-

kabinets mit dem Batican durch den päpstlichen

Protonotar Theiner

eine Füllung der Geschichte des Zeitalters, auf welches Peters Einfluß

wirkte, bemerkbar geworden.

Zur MustKliteratur. Die „Reue Zeitschrift für Musik", das Organ der Wagner'schen Richtung, enthält aus der Feder des Herrn Wladimir

Staffow eine

heftige Kritik über ein in französischer Sprache erschienenes Werk, dessen

Inhalt durch den Titel bezeichnet ist: Histoire de la musique sacree

en Russie par le prince N. Youssoupoff, membre de VAcademie philharmonique

de St. Cecile de Rome et maitre compositeur

honoraire de Pacademie philharmonique de Bologne.

Trotz dieses

langen Titels muß das Werk nach Herrn Stassow von geringem Werth als historischer Beitrag, von bedeutendem aber als literarisches Curiosum

sein.

Es sei hier vorweg die Anmerkung vorausgeschickt, daß Berlioz

im Journal des Debats und ein Recensent in den „Signalen" sich sehr günstig und anerkennend über das Buch aussprechen

Freilich aber ist

ein Unterschied zwischen dem künstlerisch-technischen und dem historischen

Gesichtspunkt, den man einem solchen Werke gegenüber einzunehmen hat. Jene beiden Kritiker gehen nur von dem erstem aus.

Allein wenn

man hört, welche geschichtlichen Schnitzer dem Fürsten zugestoßen sind,

57

Stimmen der westeuropäischen Presse.

auch zu seinem specifisch-musikalischen Unter­

so wird man allerdings

suchungen nur wenig Vertrauen fassen können.

So z. B. soll „der Pa­

triarch Photius sich von Rom getrennt und auf solche Art das griechische

Schisma

hervorgerufen

haben."

Herr Staffow weist noch eine ganze

Anzahl solcher Irrthümer nach und schließt: aus ähnlichen Confusionen und seltsamen Phantasien ist diese ganze Geschichte der russischen Kirchen­

musik zusammengewoben. Besonders interessant ist noch ein Blatt, das von dem Verfasser

unter dem Jedermann gewiß stutzig machenden Titel: Tire de FOctoeque, notation et ecriture du X. siede (!) mitgetheilt wird.

Der Verfasser

spricht schon in der Vorrede von seinen gewissenhaften Bemühungen, ein

gründliches Werk zu liefern, wie er in alten Büchern umher gestöbert, hand­

schriftliche Partituren studirt, Auszüge gemacht, Vergleichungen angestellt u. s.w. Aber daß er selbst der Entdecker einer russischen Handschrift aus dem

zehnten Jahrhundert sei, scheint werth zu halten.

er gar nicht für besonders kemerkens-

Nun denn, ein besonderer Paläograph muß der Autor

nicht sein, denn die ältesten überhaupt bekannten russischen Handschriften

gehen nur bis in's elfte Jahrhundert zurück und werden wie die kost­ Aber der Autor irrt sich nur um circa sieben

barsten Schätze gehütet. Jahrhunderte,

denn

einem Manuscript

diese

angeblich urältesten Noten sind aus irgend

des siebenzehnten Jahrhunderts entnommen

und die

Schrift — ist die heutige russische Druckschrift. Herr Stassow berichtet noch einige harte Verstöße gegen alle Wahr­

heit und Wissenschaft. buchhändlerischen

Von demselben fürstlichen Autor soll nach einer

Anzeige

demnächst

eine „Geschichte

des Volks-

gesangs und der Instrumentalmusik in Rußland" erscheinen.

Der Pentarchist.

In den letzten Monaten hat der Tod einen Mann abgerufen, der mehr als irgend Jemand an diesem Orte ein Denkmal verdient, da er

durch Geburt und Sprache Deutschland, durch seine Dienste und Thä­

tigkeit aber fast ausschließlich Rußland, durch seine scharffinnigen Schriften

endlich ganz Europa angehört.

Wir meinen den „Pentarchisten."

Wer

57

Stimmen der westeuropäischen Presse.

auch zu seinem specifisch-musikalischen Unter­

so wird man allerdings

suchungen nur wenig Vertrauen fassen können.

So z. B. soll „der Pa­

triarch Photius sich von Rom getrennt und auf solche Art das griechische

Schisma

hervorgerufen

haben."

Herr Staffow weist noch eine ganze

Anzahl solcher Irrthümer nach und schließt: aus ähnlichen Confusionen und seltsamen Phantasien ist diese ganze Geschichte der russischen Kirchen­

musik zusammengewoben. Besonders interessant ist noch ein Blatt, das von dem Verfasser

unter dem Jedermann gewiß stutzig machenden Titel: Tire de FOctoeque, notation et ecriture du X. siede (!) mitgetheilt wird.

Der Verfasser

spricht schon in der Vorrede von seinen gewissenhaften Bemühungen, ein

gründliches Werk zu liefern, wie er in alten Büchern umher gestöbert, hand­

schriftliche Partituren studirt, Auszüge gemacht, Vergleichungen angestellt u. s.w. Aber daß er selbst der Entdecker einer russischen Handschrift aus dem

zehnten Jahrhundert sei, scheint werth zu halten.

er gar nicht für besonders kemerkens-

Nun denn, ein besonderer Paläograph muß der Autor

nicht sein, denn die ältesten überhaupt bekannten russischen Handschriften

gehen nur bis in's elfte Jahrhundert zurück und werden wie die kost­ Aber der Autor irrt sich nur um circa sieben

barsten Schätze gehütet. Jahrhunderte,

denn

einem Manuscript

diese

angeblich urältesten Noten sind aus irgend

des siebenzehnten Jahrhunderts entnommen

und die

Schrift — ist die heutige russische Druckschrift. Herr Stassow berichtet noch einige harte Verstöße gegen alle Wahr­

heit und Wissenschaft. buchhändlerischen

Von demselben fürstlichen Autor soll nach einer

Anzeige

demnächst

eine „Geschichte

des Volks-

gesangs und der Instrumentalmusik in Rußland" erscheinen.

Der Pentarchist.

In den letzten Monaten hat der Tod einen Mann abgerufen, der mehr als irgend Jemand an diesem Orte ein Denkmal verdient, da er

durch Geburt und Sprache Deutschland, durch seine Dienste und Thä­

tigkeit aber fast ausschließlich Rußland, durch seine scharffinnigen Schriften

endlich ganz Europa angehört.

Wir meinen den „Pentarchisten."

Wer

58

Stimmen der westeuropäischen Presse.

ist der Pentarchist?

Diese Frage scholl seiner Zeit von tausend und

aber tausend Lippen ; keiner wußte es zu sagen.

Kein Gesellschaftskreis

war zu hoch, daß man nicht in ihm den Verfasser des so ungemeines Aufsehen erregenden Buches „Die Pentarchie" gesucht hätte; jaselbsterlauchten

und „allerdurchlauchtigsten" Federn schrieb man dieses geistvolle Apercu diplomatischer Einsicht und staatsmännischen Einblicks zu. Und neuerdings

flog von derselben Feder wiederum ein solcher Feuerfunken voll klarer Erwägung und sicherer Untersuchung in die europäische Presse, die Schrift:

„Europa's Kabinette und Allianzen."

Man wußte nicht, woher sie kam.

Viele ahnten wohl den Süllbescheidenen, Einige wußten und kannten ihn, und wer weiß, wie manche bedeutungsvolle Schrift noch sonst diesem

grundsätzlichen Anonymus angehören mag. Jetzt, da sein Auge sich für immer

geschlossen, ist es wohl angebracht, ihn zu nennen.

Ein Bekannter dieses

Sonderlings theilt in der Allg. Ztg. Einiges über seinen Lebenslauf mit.

Goldmann war ein Sachse (geboren 1798) und machte seine Studien um 1820 auf der Leipziger Universität, wo er sich eine gediegene classische

Bildung erwarb.

Durch die Verbindungen, welche er damals anknüpste,

gelang es ihm, nachdem er in Leipzig Doctor geworden war, in den

russischen Staatsdienst

ausgenommen zu werden.

Rasch stieg er auf.

Im Jahre 1830 war er Polizeidirector von Warschau. zählte,

daß er den Großfürsten-Statthalter

Er selbst er­

wiederholentlich auf den

Anzug einer allgemeinen Schilderhebung aufmerksam gemacht habe, der aber von seinen Vorsichtsmaßregeln nichts habe wissen wollen.

Als der

Aufstand losbrach — am 29. November 1830 — eilte Dr. Goldmann

nach dem Palast des Großfürsten, gerieth aber unterwegs unter einen Haufen Aufständischer.

In der Dunkelheit unerkannt, schloß er, um sein

Leben zu retten, sich ihnen an.

Die polnischen Häupter erkannten sehr

wohl, wie viel ihnen ein Mann von Goldmann's Begabung nützen könne.

Czartoryski bot ihm die Leitung der Finanzen unter einem Polen an, der dem Namen nach Finanzminister sein sollte.

„Was haben Sie für

einen Plan; wollen Sie die Bauern frei machen?" fragte ihn Gold­

mann. wird

Daran sei nicht zu denken, erwiederte der polnische Fürst.

die Erhebung mißglücken," meinte Goldmann.

Deutscher und

verstehen sich nicht auf polnische Zustände;

schwärmerische Ansichten," antwortete darauf der Pole.

„Dann

„Sie sind ein

das sind

Natürlich lehnte

59

Stimmen der westeuropäische» Presse.

nun Goldmann ab und unter einer Verkleidung flüchtete er nach Wien,

wo ihn Metternich sofort in sein Privatcabinet aufnahm und wo er eine

Zeit lang unmittelbar mit dem Fürsten arbeitete.

Die russische Re­

gierung nahm aber daran Anstoß und rief ihn nach Warschau zurück,

ohne ihn in sein Amt wieder einzusetzen.

In diese Zeit seines Warschauer Aufenthalts fällt die Abfassung der „Pentarchie."

Goldmann hatte

das Manuscript durch Professor

BAau's Vermittelung an Otto Wigand gelangen lassen und glaMe ver­

borgen bleiben zu können. Aber eines Tages wurde er zu Fürst Paskiewitsch

„Sie sind der Verfasser der Pentarchie.

gerufen, der ihm sagte:

Sie

legen Rußland eine Richtung bei, die es nicht hat; wir haben Eroberungen

in unserm eigenen Innern zu machen." Jetzt wurde er als Hoftath Dr. v. Goldmann nach Deutschland geschickt, um die einzelnen Staaten genau in's Auge zu fassen, und von ihren

Zuständen und bestimmenden Persönlichkeiten ein richttgrs Bild zu ge­

winnen.

Außer den Berichten, die er zu geben hatte, lieferte er poli-

üsche Denkschriften.

Er lebte bald in Nassau, bald in Gocha, Leipzig,

Dresden, Erfurt und zuletzt in Berlin.

der Schauplatz wichtig zu werden schien.

Er wendete sich stets dahin, wo

Ueberall trat er als schlichter

Privatmann auf, ohne öffentliche Beglaubigung.

In den letzten Jahren

war sein Aufenthaltsort Berlin, wo er nach langem Leiden an einer Blasenkrankheit

starb.

Auf seinem Krankenlager faßte er die Schrift

über: „Europa's Kabinette und Allianzen" ab, deren letzten Thell er wegen seines schmerzvollen Zustandes nicht so ausführte, wie es seine Absicht eigentlich

gewesen

war.

Der

russische Grundcharakter seiner

Schriften und die russischen Gesichtspunkte seiner politischen Anschauungs­ weise sind allgemein bekannt.

Zur Geschichte des russischen Papiergelde». Herr Dr. A. Brückner schreibt in den „Volkswirthschastlichen Jahr­

büchern von Hildebrand" über die „Geschichte des russischen Papiergeldes" und die Einlösung desselben auf Grund des Erlasses vom 25. April

1862.

Der Aufsatz ist

bereits 1862 geschrieben und später nur mit

59

Stimmen der westeuropäische» Presse.

nun Goldmann ab und unter einer Verkleidung flüchtete er nach Wien,

wo ihn Metternich sofort in sein Privatcabinet aufnahm und wo er eine

Zeit lang unmittelbar mit dem Fürsten arbeitete.

Die russische Re­

gierung nahm aber daran Anstoß und rief ihn nach Warschau zurück,

ohne ihn in sein Amt wieder einzusetzen.

In diese Zeit seines Warschauer Aufenthalts fällt die Abfassung der „Pentarchie."

Goldmann hatte

das Manuscript durch Professor

BAau's Vermittelung an Otto Wigand gelangen lassen und glaMe ver­

borgen bleiben zu können. Aber eines Tages wurde er zu Fürst Paskiewitsch

„Sie sind der Verfasser der Pentarchie.

gerufen, der ihm sagte:

Sie

legen Rußland eine Richtung bei, die es nicht hat; wir haben Eroberungen

in unserm eigenen Innern zu machen." Jetzt wurde er als Hoftath Dr. v. Goldmann nach Deutschland geschickt, um die einzelnen Staaten genau in's Auge zu fassen, und von ihren

Zuständen und bestimmenden Persönlichkeiten ein richttgrs Bild zu ge­

winnen.

Außer den Berichten, die er zu geben hatte, lieferte er poli-

üsche Denkschriften.

Er lebte bald in Nassau, bald in Gocha, Leipzig,

Dresden, Erfurt und zuletzt in Berlin.

der Schauplatz wichtig zu werden schien.

Er wendete sich stets dahin, wo

Ueberall trat er als schlichter

Privatmann auf, ohne öffentliche Beglaubigung.

In den letzten Jahren

war sein Aufenthaltsort Berlin, wo er nach langem Leiden an einer Blasenkrankheit

starb.

Auf seinem Krankenlager faßte er die Schrift

über: „Europa's Kabinette und Allianzen" ab, deren letzten Thell er wegen seines schmerzvollen Zustandes nicht so ausführte, wie es seine Absicht eigentlich

gewesen

war.

Der

russische Grundcharakter seiner

Schriften und die russischen Gesichtspunkte seiner politischen Anschauungs­ weise sind allgemein bekannt.

Zur Geschichte des russischen Papiergelde». Herr Dr. A. Brückner schreibt in den „Volkswirthschastlichen Jahr­

büchern von Hildebrand" über die „Geschichte des russischen Papiergeldes" und die Einlösung desselben auf Grund des Erlasses vom 25. April

1862.

Der Aufsatz ist

bereits 1862 geschrieben und später nur mit

60

Stimmen der Westeuropäischen Preffe.

einem Nachwort versehen worden.

Es ist daher Kar, daß Manches, was

Herr B. nur noch als Gedanken oder Vermuthung ansieht, bereits zur

Thatsache geworden ist.

Gleichwohl enthält der Auffatz den einsichts­

Für den ersten Theil desselben

vollsten Ueberblick über den Gegenstand.

ist eine in Petersburg erschienene Schrift von Iwan Gorlow „Grundzüge der politischm Oekonomie" benutzt worden. —

Das erste Papiergeld in

Rußland wurde unter Katharina II. 1768 unter dem Namen von „Affig­ nationen" ausgegeben.

Um dasselbe zu accreditiren, wurde sogar den

Steuerzahlern zur Pflicht gemacht, von je 500 Rubeln 25 in Papier zu

entrichten.

Die in Moskau

und.Petersburg

banken waren mit der Einwechselung beauftragt.

errichteten Assignations­ Der Erfolg war glänzend

und in mancher Woche wurden 100,000 Rubel ausgegeben, obgleich die

StaatScaflen sich j % Agio zahlen ließen. ein bestimmtes Maß

nicht überschritt,

Die Papieremission, welche

war eine Folge des türKschen

Auch in dem Manifeste von 1786 bei der Emission

Krieges gewesen.

des neuen Papiergeldes wird eine feste Grenze angesetzt und die Zu­ sicherung gegeben, daß die Assignationen die Summe von 100 Rubel nicht überschreiten werden.

Gleichwohl aber sank der Werth der Affig­

nationen, und als die Kriege mit Polen und der Türkei den Staat zu größeren Ausgaben

der Silberrubel

nöthigten

und weitere Emissionen

in enormen Progressionen.

erfolgten,

stieg

Während man 1783 für

den Silberrubel 103 Kopeken in Papier zahlte, gab man 1796 bereits 147 Kopeken dafür.

Die Vermehrung

der Assignationen

Preise zur Folge, sowie im Jahre 1794

mehrerer Steuern Die

Absicht

einerseits

der Kaiserin die

und

hatte

eine Steigerung

aller

eine entsprechende Erhöhung

der Armeetraktamente

andererseits.

Emission in einer bestimmten Schranke

zu halten, war zwei Mal vereitelt worden.

Bei ihrem Tode betrug die

Summe der Assignationen 157,703,000 Rubel.

Die nachfolgenden Kriege

erhoben im Jahre 1810 die Ziffer auf 577,000,000.

In diesem Jahre

machte Kaiser Alexander die Affignation zur Staatsschuld, die aber bis

1817 schon auf 836 Millionen angewachsen war.

Vermehrung

stieg

das Agio,

der Wechselcours

Nach Verhältniß der und die Preise aller

Gegenstände, denn 1814 hatte sich der Werth des Papiermbels bis auf

25 */6 Kopeken Silber vermindert.

Der Staat erlitt dabei enorme Ver-

lüfte, die in dem Steuererhöhungsmanifest vom 2. Februar 1810 mit

schätzenswerther Offenheit dargelegt wurden. Zur Herstellung des Gleichgewichts in den Finanzen wurde eine innere Anleihe und der Nerkaus der Reichsdomänen angekündigt, und die

Erfolge waren so günstig, daß 1821 von den 1817 noch vorhandenen

836 Millionen — nur noch 596,776,000 übrig waren.

Der Festigkeit

des Grasen Cancrin, der damals an der Spitze des Finanzministeriums war, ist es zuzuschreiben, daß dieser Stand sich von 1822—1839 er­ Allein es trat dabie die seltsame Erscheinung ei«, daß die Staats-

hielt.

cassen nach einem andem Cours rechneten, als es im Handel und Ver­ kehr geschah, und die Coursschwankungen brachten Jedermann beträcht­

lichen Schaden.

Da entschloß sich die Regierung zu einem sehr entschei­

denden Schritt.

In einem Rtanisest vom 1. Juli 1839 setzte sie fest,

daß der Silberrubel als gesetzliche und unveränderliche Dtünzeinheit gelten solle, daß den Reichsassignativnen (Bankrudel) ein stabiler Cours von

3 Rubel 50 Kopeken gegeben, alle Berechnung, Kauf und Verkauf nach

dieser Münzeinheit, und ein Ässignationencours auf den Börsen nicht mehr verzeichnet werden soll.

Bald darauf erfolgte die Einziehung der

Affignationen und an Stelle der 595,776,000 einzuziehenden ü 3 R.

50 Kp. — 1 Rubel sollten 170,221,714 Rubel Reichscreditbillets (das heutige Papiergeld) treten.

Im December 1844 wurde auch ein baarer

Belauf von 70,464,245 Rubel 99 Kop. in Silber und Goldmünze und in Barren, und am 12. Juli 1845 fernere 12,180,000 Rubel in Gold

und Silbermünze in dem Vorrathsgewölbe der Peter-Pauls-Festung deponirt.

Es blieb nur leider nicht bei den 170,221,714 Rubel in Pa­

piergeld, denn im Jahre 1849 betrug die Menge des Papiergeldes be­

reits die Summe von 300,317,000 Rubel Silber. floß ins Ausland.

darüber.

Die klingende Münze

Goto und Silber erhielt ein Agio von 10 % und

Der Wechselcours auf ausländische Plätze fiel, die Waaren-

preise stiegen.

Unter solchen Verhältnissen galt es vor Allem, die Stenge des cursirenden Papiergeldes zu verringern.

Am 14. April 1862 erschien ein

Erlaß an den Finanzminister, in welchem die neu abgeschlossene Anleihe

von 15 Millionen Pfund Sterling zu 5 % verkündet wurde.

Dadurch

sollten mit Hülfe des deponirten Einlösungsfonds die Reichscreditbillets in

62

Stimmen der westeuropäischen Preffe.

klingende Münze verwandelt werden unb demgemäß am 1. Mai 1862

die Einlösung beginnen; wobei der halbe Imperial mit 5,70 Kop. und der Süberrubel zu 110 */2 Kop. angenommen wird.

Von dem 1. August

1862 an erfolgt die Einlösung zu dem Satze von 5,60 Kop. Silber für dw halben Imperial und zu 108'/, Kop. für den Silberrubel.

So

soll die Preisherabsetzung fortgesetzt werden, bis der Cours al pari

gewonnen werden wird.

Darauf hin steigerte sich auch wirklich die Va­

luta bereits im Laufe des Juli und noch mehr im August, nach Eintritt

des ermäßigten Satzes, so daß man sich allerdings dem Zeitpunkt nähert, da das Agio ganz aufgehört haben wird.

„Man hofft ferner, daß

mittlerweile die segensreichen Folgen der Bauememancipation eine Stei­

gerung der Production, diese wiederum eine gesteigerte Ausfuhr, und diese endlich einen günstigeren Cours bewirken werden.

Es ist schwer zu

sagen, wie viel von diesen Erwartungen erfüllt wird; gewiß ist, daß

man jetzt mit mehr Vertrauen in die finanzielle Zukunft Rußlands

blickt, als noch vor wenig Momten." s-S.

Lanejeffs Sendung nnd ihre Ergedmffe. Bei Besprechung der neuen Reglementsentwürfe zur „Reform des

Unterrichtswesens" in Rußland wurde in diesen Blättem des Auftrags erwähnt, welchen das Mnisterium der Volksaustlärung in St. Peters­

burg dem K. R. Staatssecretär S. v. Tanejeff ertheilt hatte, jenes Reorganisattonsproject auswärtigen Gelehrten zur Begutachtung vorzu­

legen.

(Russ. Revue, Heft 1. S. 58. Anm.)

Von

dem Erfolg seiner

Sendung hat nun Herr v. Tanejeff in gedrängter, übersichtlicher Zusam­ menstellung einen so eben veröffentlichten Bericht erstattet,*) aus dem wir

uns beeilen, das Wesentlichste zur Kenntniß des deutschen Lesers zu bringen, da es sich hier um die Beurtheilung von Gegenständen handelt, welche nicht nur die Culturintereffen Rußlands, sondem mehr als eine Seite

des Unterrichtswesens überhaupt nahe berühren. Es ist vielfach und besonders von den Russen selbst, bezweifelt worden,

daß die Begutachtung des russischen Projects von Seiten des AMandes

irgend einen practischen Nutzen

haben könnte.

Jedes Land hat seine

Sitten und Bedürfnisse, deren Einfluß auf seine Culturentwickelung dem Ausländer nicht erschlossen ist.

Es darf aber wohl kaum unbedingt be­

hauptet werden, daß der Fremde nie ein gediegenes Wort mitsprechm

kann, wenn von den Interessen Rußlands die Rede ist.

Der Auftrag,

den das Mnisterium Herm Tanejeff gegeben, steht nicht als vereinzeltes

Factum da.

Italien und die nordamerikanischen Freistaaten sind dem

russischen Minister mit gutem Beispiel vorangegangen, indem sie in Deutsch­ land und Frankreich ihre Umgestaltungsprojekte prüfen ließen.

Die Wahl

der Recensenten war eine der schwierigsten Seiten des Auftrags; es mußten

verschiedene pädagogische Richtungen, verschiedene polittsche Parteien ver-

*) BäüÄcka Ciaic^-cekpeTapn Tantesa 2ro o sarpanirmoM ero 5ijrreJn>H0CTH B> leieiua 1862 rosa. Cn6. 1863.

64

Lanejeff's Sendung und ihre Ergebnisse.

treten fein, um der Beurtheilung einige Vollständigheit zu geben und endlich auch die Theilnahme einiger Literaten gewonnen werden, die in die Hauptsumme der auf unmittelbare Kenntniß der Sache begründeten Meinungsäußerungen das frische Element ganz unparteiischer Anschau­ ungen brachten. Die Liste der Erwählten, die der Berichterstatter den russischen Lesern giebt, enthält klangvolle Namen aus Deutschland, Frank­ reich und Belgien. Den wärmsten Antheil zeigten die deutschen Pädagogen, die, mit wenigen Ausnahmen, ihre Gutachten schriftlich ausarbeiteten. In Frank­ reich und Belgien erlangte Herr Tanejeffmur mündliche Meinungsäußerungen; Mele enthielten sich unter irgend einem Vorwande jedes Urtheils. Der wahre Grund ihres Schweigens ist aber, seiner Meinung nach, der, daß es in Frankreich keine eigentlichen, gründlich gelehrten Pädagogen giebt; und trifft man auch Leute mit einer aufgeklärten Anschauungsweise, so ist ihre Zahl ziemlich beschränkt, eben so sind es ihre Kenntnisse. Warum die belgischen Gelehrten so wortkarg waren, kann er sich nicht erklären. Die von ihm vorgelegten Entwürfe selbst wurden im Auslande sehr günstig ausgenommen und die wohlmeinenden Absichten der rus­ sischen Regierung anerkannt, welche auf breiter Grundlage das ganze System der VolksbUdung zu verbessern gedenkt. Wie sehr sie aber dem Ziele ihren Beifall schenkten, so hatten die ausländischen Pädagogen an den einzelnen Mitteln zur Erreichung desselben doch mancherlei auszu­ setzen. Im Allgemeinen fanden sie das Projekt zu idealistisch, d. h. dasselbe setze, von Seiten des Lehrstandes sowohl, wie von Seiten der Gesellschaft selbst, die Theilnahme und Mitwirkung so kenntnißreicher und aufgeklärter Leute voraus, wie man sie auch im Auslande nicht immer findet — wodurch die praktische Anwendbarkeit der vortrefflichen Vorsätze zweifelhaft bleibe. Schon die Definition der Volksschulen stieß auf Widerspruch. Der russische Entwurf bezeichnet als Zweck derselben „die moralische und geistige Bildung des Volks in dem Grade, daß ein Jeder seine Rechte erkennen und seine Pflichten verständig, wie es dem Menschen geziemt, erfüllen lerne." Die unterstrichenen Worte wurden „im Princip vortrefflich, in der Praxis, mit Hinweisung auf die Grundrechte vorn Jahre 1848, gefährlich" genannt (Bonnell, Rector des Werderschen

Gymnasiums in Berlin).

Dem

Worte

„moralische

Bildung"

sollte

„religiös" vorgesetzt werden (Director Carl Vogel in Leipzig), und einer der Beurtheiler bemerkte:

„die Hauptaufgabe der Schule ist und

bleibt, die Menschen in der Berufstreue zu bestärken und nicht dahin zu führen,

das Glück außerhalb derselben zu

suchen."

(Berthold

Auerbach).

Noch mehr ist die Absicht des russischen Ministeriums aufgefallen,

die Einrichtung der Volksschulen dem Gutdünken der Privatunternehmer und der respektiven Gemeinden zu überlassen, wobei, nach der Meinung

vieler Pädagogen, diese vor allen Dingen Auge haben könnten.

ihren eigenen Vortheil im

Auch in denjenigen Staaten, wo die Volksauf­

klärung allgemein verbreitet ist, wo es also den Unternehmern nicht an

Musteranstalten fehlt, wäre es positiv unmöglich, solche Schulen ohne Instruktionen und ohne Aufsicht zu lassen.

in Betreff ihrer Schulen —

„Autonomie der Gemeinden

sehr gut", sagt einer der deutschen Recen­

senten (Diesterweg), „aber auchUeberwachung und Beeinpflichtigung(?), besonders bei vorhandener Renitenz!"

was ein jeder der Be­

Nachdem der Berichterstatter angeführt,

urtheiler der Projekte in Betreff der wiffenschaftlichen Gegenstände bei

dem Unterricht besonders bevorzugt zu wissen wünscht, wobei sich die Vorliebe

der

Specialisten für ihren Zweig

vielfach

kommt er auf die Disciplin in den Schulen.

bemerkbar macht,

Ein großer Theil der

ausländischen Recensenten spricht sich gegen die völlige Abschaffung der

körperlichen Züchtigungen

in den

Volksschulen aus*);

sie findet die

*) Von 33 deutschen Gelehrten stimmen 14 dagegen. Also, Gott sei Dank, doch nicht die Majorität! Und auch nach dem Grundsatz, daß man die Stimmen wägen, nicht zählen soll, hätte die Theorie der Prügelstrafe damit noch keinen Sieg errungen. Wenn ihn die Praxis davonträgt, so kann das in uns den freu­ digen Glauben an die Gerechtigkeit unserer Opposition nicht erschüttern.. Victrix causa düs placuit, sed victa Catoni, sagte der Römer selbst gegen die Entscheidung seiner Götter. Unsere Pädagogen sind noch lange keine Götter, und darum braucht man nicht Cato zu sein, um ihrer Entscheidung gegenüber, wenn sie maßgebend bleibt, dasselbe sagen zu dürfen. — Zu unserm nicht geringen Erstaunen finden wir auch Berthold Auerbach unter denjenigen genannt, die theils unbedingt, theils bedingungsweise die Abschaffung der Prügelstrafe verwerfen. Statt alles öffentlichen Principkampfes mit unserm lieben Freunde, halten wir ihm folgende Stelle aus seinem „Schatzkästlein des Gevattersmannes" (Berthold Auerbach's ge­ sammelte Schriften, Bd. 17, S. 222) entgegen, die offenbar ein Heueret Ausdruck

«usstsche »ev«e. n. 1

Heft. 1863.

5

Tanejeff's Sendung und ihre Ergebniffe.

66

Absicht vortrefflich, zweifelt aber an der Möglichkeit, eine Regel festzu­

stellen, die in der Praxis nicht durchführbar erscheint, und etwas zum

Gesetz zu erheben, was Sache des Gewiffens ist. —

In Betreff der

Mädchenschulen wird bemerkt, daß in Deutschland diejenigen einen besseren Fortgang haben, die unter männlicher Aussicht stehen (Lüben, Director des Seminars in Bremen), was sich aus der vergleichsweise größeren

Autorität des Mannes erklärt.

Sehr beherzigenswerthe Rathschläge werden dem Ministerium von

den Pädagogen in Betreff der Wahl der Lehrer gegeben — Rathschläge, die jedoch bei der großen Zahl der neu zu errichtenden Schulen nur

seines eigenen Gefühls und seiner ethischen Anschauung ist, als jenes von ihm

abgegebene Votum,

das wir übrigens in seiner nähern Motivirung noch nicht

kennen:

„Eine fremde Hand schlägt dein eigen Kind.

Du kommst dazu

und erfährst, daß das Kind es Wohl verdient hat und du weißt, daß der Lehrer

oder wer es sonst eben gezüchtigt, im Allgemeinen ein

wohlwollender Mensch und

dem Kinde

zugethan ist; und dennoch,

wie du so dein eigen Kind gezüchtigt siehst, dreht es dir das Herz im Leibe um.

Warum denn?

Weil du doch Niemand die Liebe für

dein eigen Fleisch und Blut zutraust, wie dir selbst, und das läßt

sich nicht überwinden.— Gieb aber auch auf dich selberAcht, obnicht

oft deine eigene Hand, die das Kind züchtigt, eine fremde ist, ob du

nicht

oft in Mißmuth über ganz Anderes eine Unfolgsamkeit oder

Unart an deinem Kinde

mit einer Härte

gehen bei weitem nicht verdiente.

die das Ver­

bestrafest,

Hüte dich, daß deine eigene Hand

nicht die fremde sei." — Wie doch feinfühlende Herzenskenner sich von dem trügerischen Schein prak­

tischer Erfahrung so einschüchtern lassen! praktische Erfahrung herantreten,

Sie sollten muthiger an die sogenannte

und dann werden sie sich überzeugen, daß nicht

sie dem groben Realismus der Praxis Zugeständnisse zu machen haben, sondern daß der kluge Praktiker, der wirklich auf

der Höhe der Erfahrung steht, sich ge­

zwungen sieht, dem Idealismus Zugeständnisse zu machen.

Wer war ein strengerer

und unerbittlicherer Anwalt der praktischen Nothwendigkeit gegen alle Philanthropie, als Justus Möser? sagen, welchem die

Er aber sagt,

ja, noch mehr, er läßt einen Hauptmann

„Stockprügel" doch noch geläufiger waren, als unsern Pä­

dagogen:

„Der Mensch ist ein

wunderliches Thier;

unter unserer Fuchtel, aber seine Seele nicht."

sein

Körper

steht

^Patriotische Phantasien

II. 262.) Es stünde traurig um alle Pädagogik, wenn sie die Erziehung des Menschen nur auf die Beherrschung des Körpers und nicht der Seele stützte.

D. Red.

sehr schwer

befolgt werden können.

dieser Hinsicht gesagt: keiner."

„Lieber

In dem russischen Entwurf ist in

ein mangelhafter Unterricht

Bei diesem Satz verweilen zwei deutsche Gelehrte.

als gar

„Ein großer

und kühner Gedanke", sagt Roscher, „ein Gedanke, mit dem ich mich unter einer Bedingung vollkommen einverstanden erkläre:

wenn in dem

Volksleben im Allgemeinen die guten Grundsätze und Instinkte über die bösen die Oberhand haben."

heißt so viel als:

Dr. H. Keferstein bemerkt: „Dieser Satz

Lieber ein schlechter Unterricht als gar keiner; da

aber ein schlechter Unterricht mehr Schaden als Nutzen bringen kann,

so haben wir nicht das Recht, uns von dem Sinne des hier ausge­

drückten Gedankens hinreißen zu lassen."

In Betreff

der

mittleren

unter Anderm die Idee,

daß

Lehranstalten die Internate

entwickelt

der

Entwurf

zweck­

im Princip nicht

mäßig, fürs Erste aber noch nicht ganz abzuschaffen sind.

Hierin finden

einige ausländische Pädagogen eine jener idealen Seiten der vorgeschla­

genen Umgestaltungen wieder, die a priori eine nicht zu bezweifelnde Gesinnungsgleichheit zwischen der Familie und dem Lehrer voraussetzen.

Nicht nur für die Eltern, die

die fern von

wichtig — auch

Internate

eine Wohlthat.

in

den

mancher

Gymnasien leben,

sind

andern Hinsicht sind sie

Einzelne betrachten das System des Internats sogar

als eine der wichtigen Bedingungen für den gleichmäßigen Erfolg des

Unterrichts sowohl als der Erziehung, und berufen sich dabei auf das

Beispiel vieler derartiger Anstalten in Deutschland.

In Rußland, meint

Roscher, sollte die Regierung selbst einige Institute errichten, die fort­

während als

Pflanzschule

einer vollkommenen Mustererziehung

dienen

würden und nur besonders begabten Jünglingen, welche die Fähigkeit hätten, sich streng wiffenschaftlich auszubilden, geöffnet werden müßten.

Diesterweg dagegen äußert sich folgendermaßen: „Ein gutes Jntemat

ist besser als das beste Externst, ein schlechtes Internat schlechter als das schlechteste Externst." Die Theilung der

mittleren Lehranstalten in Progymnasien

und

Gymnastm, und dieser letzteren in Real- und philologische Gymnasien

wird im Allgemeinen ganz gut gefunden, aber die nähere Classificirung

der Cursi stößt auf Widerspruch und namentlich scheint der Erlernung der alten Sprachen nicht Zeit genug gewidmet.

In England, Deutsch-

68

Tanejefs's Sendung und ihre Ergebnisse.

land, Frankreich, Belgien und den Vereinigten Staaten, wo der Real­ bildung der zweite Platz angewiesen ist, während die klassische Bildung

in erster Reihe steht/wird das Studium der alten Sprachen als be­ wegende Kraft der Auftlärung angesehen.

Der Mann, der eine klassische

Bildung genossen, ist auf jedem später erwählten Lebenswege tüchtiger als der Zögling der Realschulen, wenn letzterer auch im Anfänge die Sache mit größerer praktischer Gewandtheit angreifen sollte. Ansicht der

Gelehrten hat

deutschen

seinem wahren Sinn nicht

der

Cursus

das vollständige,

Rach der

der Realschulen in

gründliche Erlernen der

Realgegenstände, sondern nur eine encyklopädische Vorbereitung für ge­

wisse Zweige der Technik zum Zweck; ein solcher Encyclopädismus führt

zur Oberflächlichkeit des Wissens und Beurtheilens; die Oberflächlichkeit in den

aber, welche den Schwerpunkt des Real-

Naturwissenschaften

cursus bilden,

leitet den Verstand von der Wahrheit ab und treibt zur

Immoralität im gesellschaftlichen und Familienleben, zum Skepticismus

in Glaubenssachen und endlich zum vollkommenen Unglauben.

Wenn

die Pädagogen diesen Gegenstand einer besonderen Aufmerksamkeit em­ pfehlen,

so

geschieht

es in der aus dem ganzen Entwurf gewonnenen

Ueberzeugung, daß Rußland eine allgemein bildende Erziehung begründen und dabei die bewährten Erfahmngen anderer europäischer Staaten be­

nutzen will.

Am zahlreichsten sind die Bemerkungen in Betreff des Statuts für

die Universitäten, waltung

und

dem man verschiedene Mängel hinsichtlich der Ver­

Verstöße

gegen das

ganze

akademische Wesen vorwirft.

War für die Schulen eine zu große Freiheit gerügt, so finden die aus­ ländischen

Gelehrten

Die Arbeiten

der

die Vorschriften für die Universitäten zu streng.

Mitglieder einer Universität der

Censur der ver­

einigten Facultäten zu unterwerfen, halten Einige für eine moralische Unmöglichkeit; ein Gegenstand specieller Forschung kann nicht von allen

Professoren beurtheilt werden.

Dazu kommt noch, daß eine gegenseitige

Censur Anlaß zu Reibungen geben könnte, die dem Fortschritt nur hin­ derlich sein würden.

(Mohl, Wächter, Olshausen, Bursian.)

— Die Wahl eines Rectors auf vier Jahre wird von den Recensenten fast einstimmig verworfen.

Der als Rector fungirende Professor opfert

seinen Pflichten die Wissenschaft, und das darf ihm nicht auf einen zu

langen Zeitraum zugemuthet werden, tüchtigen Arbeiter

wenn die Universität nicht einen

auf dem Felde gelehrter Forschungen verlieren will.

(Mohl, Wächter,

Rosenkranz, Bursian,

Roscher.) —

Der

Curator soll nicht Vorsitzender des akademischen Rathes sein; seine Rolle

ist die eines Vermittlers zwischen der Universität und dem Ministerium;

präsidirt er dem Rath, so ist die Autonomie der Universität verloren. (Wächter.)

Die Trennung der akademischen Lehrer in sieben verschiedene Klassen

wird für eine überflüssige, mit manchen Uebelständen verknüpfte Zer­ splitterung gehalten; ebenso unnütz erscheint die alle drei Jahre vor­

zunehmende

Neuwahl

der

ohnehin von ihrem Eifer,

deren

Privatdocenten,

ferneres

Schicksal

ihren Kenntniffen und Fähigkeiten abhängt.

Eng hiermit verbunden ist die Honorarfrage.

Wächter erklärt sich

gegen das System eines allgemeinen vorschriftsmäßigen Studiengeldes.

Das widerspreche den Grundbedingungen des Aufblühens

versität,

die nach

der Profefforen

seiner

und

Ateinung

in

der

einer Uni­

materiellen Sicherstellung

der Erweckung eines würdigen Wetteifers lägen.

Letztere setzt das Bestehen von Privatdocenten und die Hörfteiheit von

Seiten der Studirenden für ein gewiffes von dem Lehrer zu bestim­ mendes Honorar voraus.

Diese beiden Maßregeln gewähren in ihrem

Zusammenhänge den Vortheil, daß jeder Lehrer, indem er sich bemüht,

vorwärts zu kommen, für sich

schaft arbeitet.

selbst und gleichzeitig für die Wissen­

Ebenso wohlthätig

ist der Einfluß auf den Studenten.

Ist er gezwungen, jeden Gegenstand einzeln zu honoriren, während er

die Wahl hat zwischen verschiedenen Lehrem einer und derselben Wissen­ schaft, so geht er natürlich zu dem Professor oder Privatdocenten, dessen

Vorträge ihm den meisten Nutzen versprechen.

Der Student irre sich

selten in der Beurtheilung des Werthes eines Lehrers.

Und je höher

das Honorar ist, um so eifriger wohne er den Vorträgen bei.

sem Sinne äußern sich nächst Wächter

In die­

und Roscher, auch Mohl

und Döderlein.

In Betreff der an die Studirenden zu verabfolgenden Geldunter­ stützungen rathen einige Pädagogen zu großer Vorsicht.

Wer nicht selbst

die nöthigen Mittel dazu hat, kann sich selten den Wffenschaften mit vollständigem Erfolge widmen — noch größer aber ist seine Verlegenheit

70

Tanejeff'S Sendung und ihre Ergebnisse.

zwischen dem Austritt aus der Universität und dem Antritt eines er­

nährenden Postens.

Andrerseits ist es für den Staatsdienst sehr un-

vortheilhaft, wenn die Mehrzahl derer, die sich demselben widmen, zu

Das ist kein Borurtheil, be­

der Klasse der armen Bürger gehören.

hauptet

ein

deutscher

Gelehrter:*)

dem

Sprößling

mittellosen

des

Standes fehlt großentheils jener verhältnißmäßig höhere Blick auf das

Leben,

Gefühle und Gewohnheiten, die man

jenes Edle der Sitten,

häufiger in wohlhabenden Familien findet und

die durch die Wissen­

schaften allein nicht erlangt werden können.**) Die Absicht des Statutes, die Studenten für jedes außerhalb des

Universitätsgebäudes begangene Polizeigesetzen

zu

Vergehen den

unterwerfen,

stößt

allgemeinen

auf Widerspmch.

Civil- und

Das

Gefühl

der Gleichheit vor dem Gesetz wird durch die Einsetzung eines Corporationsgerichts für die Studenten nicht verletzt:

land beweisen das.

England und Deutsch­

Die allgemeine Jurisdiktion würde oft zu streng

♦) Kein Geringerer, alsRobert v. Mohl! — Wir sagten bei Erörterung diesePunktes (Ruff. Revue Heft 1 S. 56):

„Auch in Deutschland wäre es eine bar­

barische Thorheit, wollte man Unbemittelten die Studien erschweren.

Denn Geist

und Fähigkeit waren nie ein Vorrecht der Reichen, und weit mehr große'Männer

find aus der Dürftigkeit, als aus dem Schvoße des Wohlstandes hervorgegangen; daS lehrt Vie deutsche Geschichte, wie irgend eine." — Mohl ist eine Autorität,

wer weiß es nicht!

Wohlan, wir fordern den geschichtskundigen Mohl auf —

und Jeden sonst, der für ihn das Wort ergreifen will — uns aus der Geschichte

aller civilisirten Völker zu beweisen, daß jene unsere Behauptung ungegründet ist. Bleibt er uns diesen Beweis schuldig, so haben wir ein neues Beispiel für die

traurige Erfahrung, daß zu allen Zeiten selbst Männer von solcher Einsicht und Gelehrsamkeit, wie Mohl, sich Dinge einbilden, Ueberzeugungen aussprechen und zu Maßregeln rathen konnten,

denen in der That nichts Anderes zu Grunde lag,

als eine — barbarische Thorheit!

D. Red.

**) Herr v. Tanejeff selbst, der in seinem Berichte mit höchst lobenswerther Bescheidung das »Relata refero« durchführt und sich jeder Kritik der dargelegten

Ansichten enthält — Herr v. Tanejeff fällt hier einen Augenblick aus der „rein

passiven" Rolle des Berichterstatters, die er sich vorschreibt, paar

Ausrufungszeichen in Parenthese

seine

indem er durch ein

stumme Meinung

kundgiebt.

danken ihm für diese unwillkürlichen Zeichen seiner kritischen Regung.

Wir

Denn muß

man es begreiflich und sicher mehr als verzeihlich finden, daß an dieser Stelle der

Berichterstatter seine Neutralität, wenn auch nur durch einen typographischen Aus­ druck der Verwunderung unterbricht — wer sollte es uns verargen, die wir -neutral

zu sein, hier weder die Pflicht noch die Siift haben, daß wir dabei die Stimme der Indignation nicht unterdrücken!

D. Red.

mit jungen Leuten

verfahren,

die

noch nicht einmal alle Rechte der

Mtglieder der bürgerlichen Gesellschaft haben, und einzelne akademische

Sitten, einzelne den Studenten theuere Begriffe in Ansehung der Ehre

würden den Richtern imb der Polizei nicht zulässig erscheinen.

(Mohl

und Wächter.)

Der Berichterstatter schließt die Aufzählung der Gutachten mit der Beurtheilung, welche

das Grundprincip des Entwurfes,

das Princip

der Lehrfreiheit von Seiten der ausländischen Gelehrten erfahren.

In

Deutschland machte die Frage der Lehrfreiheit nicht den Eindruck wie

in Frankreich;

sie erntete von den deutschen Gelehrten mehr Mitgefühl

als Tadel, aber Beides in geringem Maße.

sten Grade geivissenhast.

Der Deutsche ist im höch­

Er scheut es, einen Gegenstand zu beurtheilen,

der nicht in dem Kreis seiner speciellen Forschungen liegt, ihm nicht in seiner ganzen theoretischen und praktischen Bedeutung bekannt ist, und

die große für das Staatsleben so wichtige Frage der Lehrfreiheit wurde daher von den deutschen Pädagogen

kaum

berührt.

Den positivsten

Ausdruck gab einer der deutschen Gelehrten seiner Meinung mit den

Worten: „Aufrichtig gesagt, geht man bei Ihnen mit der Freiheit der

Lehre und mit dem Materialismus etwas zu weit.

Sie muffen aber

auch einmal das durchmachen, was wir durchgemacht haben.

Wir haben

unser 1848 schon erlebt, und es kehrt bei uns — wenigstens in der­

selben Gestalt — nicht mehr wieder.

Jetzt kommt die Reihe an Sie."

In Frankreich aber war die Aufmerksamkeit hauptsächlich der poli­ tischen Seite des Entwurfs zugewendet, und die Lehrfreiheit war das

Hauptthema der mündlichen Meinungsäußerungen.

Die Pädagogik der

Franzosen befindet sich auf einer sehr untergeordneten Entwickelungs­ stufe, sowohl in wissenschaftlicher Beziehung als in Hinsicht der von der

Erfahrung geleiteten Benutzung theoretischer Grundsätze bei dem Unter­ richtswesen.

Fast Alles bewegt sich innerhalb eines Kreises von Regie­

rungsvorschriften und offiziellen Zusammenstellungen. pädagogischen Inhalts existiren fast

gar nicht.

Schriften eigentlich

All diese Reglementa-

tionen des französischen Ministeriums tragen den Stempel des Einseitigen

und Verschlossenen, da die lebensfrischen Resultate der Wissenschaft keinen Zutritt zu denselben haben.

Der beengende Einfluß der Regierung und

das Beschränken der Privatthätigkeit durch strenge bureaukrattsche Vor-

72

Tankjesf's Sendung und ihre Ergebniffe.

schristen hemmen also ohne Zweifel in Frankreich den Fortschritt.

das ist es

nicht allein;

der Berichterstatter ist überzeugt,

Aber

daß auch

wenn die Regierung sich jeder Aufficht enthalten wollte, die Pädagogik nicht viel weiter kommen würde.

Die Forschungen auf diesem Felde

und das Aufsuchen von Mitteln zur Beseitigung der vorhandenen Mängel setzt eine Analyse des eigenen Ich voraus, eine Erkenntniß der eigenen

Unvollkommenheit in geistiger oder moralischer Hinsicht. Diese Erkenntniß ist aber mit der Ueberzeugung der eigenen, persönlichen Vollkommenheit

nicht zu vereinigen, besonders da, wo diese Ueberzeugung sich auf vor­

zügliche natürliche Begabung gründet. Die pädagogische Bedeutung des Entwurfs interessirte also die fran­

zösischen Gelehrten sehr wenig und sie wandten sich, wie schon gesagt, vorzugsweise der politischen zu.

Die Erfahrungen des täglichen Lehens

zeigen ihnen, daß in ihrem Vaterlande das gesellschaftliche und Familien­ leben eines festen Bodens entbehrt, und sie haben daher keinen Grund,

der Wirksamkeit von Privatpersonen in Betreff der wissenschaftlichen Er­

ziehung viel Vertrauen zu schenken.

Von allen Franzosen, denen der

Entwurf vorgelegt wurde , sprach sich kein Einziger bedingungslos für

die Lehrfteiheit aus

— die Meisten

waren positiv

dagegen;

Cousin

nannte sie gradezu »un mot vide de sens« und Villemain — eine „Chimäre".

Das Gesetz, behaupten die Franzosen, welches die Volks­

aufklärung regelt, gehört ganz in den Bereich der Staatspolitik, und

ist solglich eng verbunden mit den Grundprincipien der Staatsregierung;

der Beurtheilung eines Projektes,

wie das vorgelegte russische,

müßte

also die Beantwortung der Frage vorausgehen, ob die Jugend für eine Republik, eine constitutionelle Monarchie oder einen autokratisch regierten

Staat erzogen werden soll?)

Als Motivirung der französischen Urtheile

führt H. v. Tanejeff zum Schluß noch die Worte eines unabhängigen, obgleich in Paris lebenden Gelehrten an:

„Die Strenge, mit welcher

bei uns das Unterrichtswesen beaufsichtigt wird, ist leider nothwendig.

*) Cousin: »Pour ma pari j’aurais assez aime — je l’avoue — que Ton me prevint dans ces cas d’avance, pour quel mode de gouvernement est destine tel projct ou tel autre — si c’est pour une republique, on bien pour une Mon­ archie constitutionelle, ou bien encore pour un pays gouverne par la volonte absolue du Souverain.«

Tanejefs's Sendung und ihre Ergebnisse.

73

Was anderswo gut ist, taugt bei uns nichts; und wenn man uns in Sachen der Aufklärung die Freiheiten einräumen wollte, die in andern Staaten bestehen, es mürbe kein Jahr vergehen, ohne uns eine neue Revolution zu bringen." In Belgien war natürlich die Stimmung der Gelehrten der Lehr­ freiheit geneigt, obgleich hin und wieder ein Ziveifel rege zu werden schien, ob die Bevölkerung Rußlands reif für eine solche Maßregel sei. „Die Lehrfreiheit", sagte Fürst de Signe, Präsident des Senats, „ist eine politische Vergünstigung, die zwei wesentliche Bedingungen voraussetzt: einen hohen Grad von allgemeiner Bildung im Staate und ein Hin­ reichendes, auf unziveifelhafte Beweise gegründetes Zutrauen der Re­ gierung zu der Gesellschaft. Diese beiden Bedingungen existiren in Bel­ gien — imt> doch ist die Freiheit, von der wir reden, in der Praxis mit so vielen Uebelständen verknüpft, daß es besser >vare, mir hätten sie nicht! II. cS.

Bon der K. russischen Geographischen Gesellschaft. Die Berichte über die Sitzungen, welche die Kaiser!, rusi. Geographische

Gesellschaft in Petersburg in den Monaten Januar bis April des lau­ fenden Jahres gehalten, liegen uns in französischem Texte vor.

Wir

entnehmen aus denselben, daß diese Gesellschaft sich in jeder Hinsicht mit den ähnlichen Vereinen

der bedeutendsten

europäischen Länder messen

kann, da sie ebensosehr den sämmtlichen Disciplinen der geographischen

Wissenschaft ihr eingehendes Interesse, wie den aus geographischen For­ schungen hervorgehenden praktischen Resultaten ihre warme Theilnahme zuwendet.

Die Berichte sind theils rein geschäftlicher Art, indem sie über den Stand der Finanzen der Gesellschaft, ihre Bibliothek, über etwa vorzu­

nehmende Reformen

in den Statuten Mittheilungen enthalten,

theils

bieten sie auch längere oder kürzere Auszüge aus Vorträgen, die bei den Zusammenkünften der Gesellschaft gehalten worden sind.

Einen höchst lehrreichen, von den umfassendsten naturwissenschaft­ lichen Forschungen zeugenden Vortrag gab unter andern das wirkliche

Mitglied Danilewsky über die sogenannte „Eisperiode"

(s. Januar­

bericht).

Ferner sprach A. T. Ulsky über die im Kaspischen Meere vor­

genommenen Sondirungen,

sowie

über

die

geographisch-physikalischen

Verhältnisse zwischen diesem Meere und den umliegenden Ländergebieten. Einleitungsweise verbreitete sich der Redner über die allgemeinen Grund­

lagen für die Sondirung der großen Tiefen des Meeres und suchte die Wichtigkeit derartiger Arbeiten wie für die Erforschung aller Meeres-

Beden überhaupt, so für die des Kaspischen insbesondere nachzuweisen. Indem Ulsky das Relief des Grundes vom Kaspischen Becken vor­ zeigte, verwies er auf die Beziehungen zwischen jenem und den vul­ kanischen Erscheinungen, die man theils in dem Kaspischen Meere und an beffen Ufern, theils auf Entfernungen von einigen 100 Wersten weit in's Land hinein beobachtet hat. Es ergab sich, daß das alle vulkanischen Erscheinungen im Kaukasus beherrschende Abich'sche Gesetz durch das Relief vom Grunde des Kaspischen Meeres seine volle Be­ stätigung findet. Auch betrachtete Ulsky dies Relief in seiner Be­ ziehung zu der Hypothese, nach der sich vor unbekannten Zeiten die Gewässer des Amu-Dorja tn den Kaspischen See ergossen. Es zeigte nämlich das Relief nicht imnber bie Spuren ber einstigen Einmündung »enes Flusses in den Kaspischen See, als die Kräfte, welche den AmuDarja von den Ufern des Kaspischen Sees nach denen des Aral hin­ gedrängt haben. Endlich ging Ulsky aus die Fragen über den Salz­ gehalt des Kaspischen Meeres und die Gesetze ein, nach welchen der­ selbe bestimmt werden könne (s. Märzbericht). Aus demselben Märzbericht erfahren wir, daß die Herren Schmidt und Glehn, zwei alte Mitglieder ber physikalischen Abtheilung von ber sibirischen Expebition sich nach Dorpat begeben haben, um hier in Ge­ meinschaft mit Schwartz — altem Mitgliebe ber mathematischen Ab­ theilung jener Expebition — an ber Vollendung ber Karten von einigen Theilen Sibiriens zu arbeiten. Aus bem Verzeichnisse ber Arbeiten ber verschiedenen Sectionen ber Gesellschaft (s. denselben Märzbericht) heben wir hervor, baß bie stati­ stische Sektion sich unter anderm mit ben Vorbereitungen zur Heraus­ gabe eines großen Werkes vom Erzpriester Giljarowsky „über bie Sterb­ lichkeit im Gouvernement Nowgorod", ferner mit der Frage über den Bau von Eisenbahnen — und über die Herstellung eines einheitlichen Systems von Münze, Maaß und Gewicht beschäftigte. Die mathema­ tische und physikalische Sektion untersuchte unter anderm die Verschleminung des Asow'schen Meeres unb des an bie Westmarken Chinas sich lehnenden Centralasiens; auch bie Erforschung ber zur Beobachtung der Schwingungen des Pendels geeigneten Mittel gehörte in den Kreis der Arbeiten letztgenannter Sectionen.

76

Don der K. ruff. Geographischen Gesellschaft. Der Februarbericht nennt unter den der Gesellschaftsbibliothek zu­

einverleibten

letzt

„Reich der Zaren" schungen

mit

Werken

besonderer

(Fempire des Tsars).

Schnitzler's

Auszeichnung

Die höchst exacten For­

des Verfassers über die russische Bevölkerung (in statistischer

und ethnographischer Beziehung) werden rühmlichst erwähnt.

Von Manuscripten,

Bericht

unser

die

der Gesellschaft eingesandt werden, hebt

M. Weniukoff's

strategische; Beschreibung

des

Landes

zwischen dem Kuban und der Belaia besonders trefflich hervor.

Auch

wird mitgetheilt, daß die Mitglieder der physikalischen Abtheilung von

der sibirischen Expedition

kürzlich

nach Petersburg zurückgekehrt seien

und die Ausarbeitung ihrer Beobachtungen begonnen haben.

Einem vorjährigen Beschlusse der Gesellschaft gemäß sollten in ihr öffentliche Vorlesungen über entsprechende Gegenstände gehalten werden.

Es kündigten bereits für dies Jahr Vorträge an N. I. Kostomarow „über

die Beziehungen der russischen Geschichte

Ethnographie",

I. W. Kalatschow

zur Geographie

und

„über die Bauern von Großruß­

land im 17. Jahrh.", W. P. Besobrasow „über dieselben im 19. Jahr­ hundert".

Der Secretair Bruchstück aus

der Gesellschaft,

W. P. Besobrasow,

seinen Reiseerinnerungen

vom Jahre

theilte ein

1862

mit und

zwar aus dem Beginne seiner Reise nach der Ukraine (z. B. flüchtige Beobachtungen aus seiner Tour von Moskau nach Orel).

Besobrasow's

Untersuchungen scheinen sich vornehmlich auch auf die Verkehrsverhält-

nisie in den von ihm bereisten Gegenden Rußlands gerichtet zu haben. Aus dem fast nur Geschäftliches bietenden Aprilberichte heben wir

hervor,

daß E. I. Lamansky der Gesellschaft seine volkswirthschaft-

lichen Studien vorlegte.

Er verbreitete sich besonders über die Mittel

zur Hebung des Wohlstandes im Volke; als solche führt er die Grün­

dung von Sparkassen, von Gesellschaften zu gegenseitiger Unterstützung,

von Creditgesellschaften, Pensions- und Versicherungskaffen an. Der uns gegönnte knappe Raum verbietet uns, auf Weiteres aus

dem sehr reichen Inhalte der vorliegenden Berichte einzugehen, und so wollen

wir schließlich nur noch auf die große Munificenz Hinweisen, welche die Kaiser!, mssische Geographische Gesellschaft z. B. in Betreff der Benutzung

Von der K. tujf. Geographischen Gesellschaft.

77

ihrer Bibliothekschätze, sowie der Theilnahme an ihren Vorlesungen an

den Tag legt.

Die uns zum ersten Male zu Gesicht gekommenen Mo­

natsberichte der Gesellschaft lasten uns ahnen, daß sie neben ihrer rein

wistenschaftlichen auch eine national-ökonomische Seite in's Auge faßt, und daß ihr Mittel und Kräfte zu Gebote stehen, die sie in den Stand

setzen, nicht nur reproductiv von den Entdeckungen im geographischen Gebiete Notiz zu nehmen,

sondern auch selbstthätig und bahnbrechend

in dieses Gebiet von Forschungen einzugreifen.

K. Keferstein.

Aus Odessa. Mai 1863. Aus unsern Fenstern streift der Blick weit über die unabsehbare

Meeresfläche.

Schiffe aller Nationen liegen in unserm Hafen — alle

Sprachen der civilisirten Welt ertönen aus der Mitte der geschäftigen

Menge, die durch die Straßen wogt.

Und doch ist es Illusion, wenn

wir dem Westen schon so nah gerückt zu sein meinen, wie mancher andere bevorzugte Theil Rußlands; die Zeit ist vorüber, wo

die Hafenstädte

herablaffend auf die Binnenländer blickten und stolz waren auf die leichtern Verbindungsmittel mit dem Auslande.

Während im Norden unsrer Hei-

math der fremde, unter dem Namen „Tourist" bekannte nnd beliebte Zugvogel schon hin und wieder zu treffen ist, kommt zu uns nur wer

kaufen und verkaufen will, oder sich angezogen fühlt durch

das weite

Feld, das unsere theilweise noch spärlich bebauten Flächen der Industrie darbieten.

Wir müssen also zu Ihnen kommen, mit der Feder in der

Hand uns Ihnen geistig nähern, um wenigstens den Wunsch in Ihnen rege zu machen, uns einen Besuch abzustatten, wenn einmal die Eisenbahn den Reisenden die Bekanntschaft mit Seekrankheit und Sturm und Wellen­

schlag auf dem schwarzen Meere ersparen wird.

Und das ist uns jetzt näher als je in Aussicht gestellt.

Sehnsüchtig

blicken wir auf Oesterreich, das uns von Lemberg aus die Eisenschienen

freuMich bis an die Grenze entgegenstrecken soll, und wird in dem Nach­ barlande bei der schwülen politischen Atmosphäre der Spaten auch nur mit Muße gehandhabt, so sind wir unsererseits um so rühriger und

danken Gott und der Regierung

dafür.

Den ganzen vorigen Wnter

hindurch war das Wort „Eisenbahn", das dritte in jedem Gespräch und

folgte unmittelbar nach dem „guten Morgen" oder „guten Abend"; jetzt sind die Arbeiten in Angriff genommen und die Gemüther beruhigen sich

in der freudigsten Zuversicht.

Unberechenbar sind die Folgen für unsern

Getreidehandel. Wenn Sie bedenken wollen, daß der einzelne, mit Weizen beladene zweispännige Ochsenkarren im höchsten Fall acht Scheffel trägt und von den entfernteren Punkten zwölf- bis vierzehn Tage unterwegs

ist, die Perioden ausgenommen, wo er bei starken Regengüssen in dem Koth der gesegneten Fluren Bessarabiens stecken bleibt; daß der Dniester durch seine Fälle lediglich für Fahrzeuge schiffbar ist, welche die Feldfrucht nur

ausnahmsweise trocken nach Odeffa bringen: so werden Sie sich vorstellen,

wie gering der Gewinn unserer Gutsbesitzer ist an der mühsam herbei­ geschleppten Waare, so vortrefflich sie sein mag.

Pfeift erst die Lokomo­

tive ihr Lied zu dem Transport, dann wird das Alles anders; wir werden mehr verdienen und wohlfeiler liefern und „so weit die Schifffahrt unsre Segel trägt",

wird man unser freundlicher gedenken

bei dem Genuß

schneeweißen Gebäckes, das in seiner ursprünglichen Gestalt auf unsern Feldern gereift ist.

Nach gesunden national-ökonomischen Grundsätzen

gewinnt freilich die Regierung am meisten bei dem Gewinn jedes Ein­

zelnen; aber daß sie die Wahrheit dieses Satzes richtig empfunden und

zu einer schwere» Zeit von ihrer Seite

nahmhafte Opfer bringt zur

Verwirklichung des heiß ersehnten Schienenweges, verdient unsere wärmste

Dankbarkeit.

So werden z. B. der Odeffa-Kiewschen Eisenbahn-Gesell­

schaft alle von ihrem Betriebe in Anspruch genommenen und der Krone

gehörigen Ländereien gratis zugewiesen ; ihr ganzes Inventar darf sie

zollfrei ins Land bringen; in Staatsdiensten befindliche Fachmänner ver­ lieren ihre Rechte als solche nicht, wenn sie in die Dienste der Gesellschaft treten; die Gerichtssporteln beim Ankauf von Privatländereien sind ihr

zum großen Theil erlassen u. s. w.

Mit einem Worte, die Statuten der

Compagnie sind im liberalsten Sinne abgefaßt und sichern derselben eine gesegnete Zukunft.

Und während wir auf diese Weise dem Glücke entgegen gehen, einen der Ausgangspunkte eines riesenhaften Eisenbahnnetzes zu bilden, regt sich im Innern der Stadt selbst ein gewaltiges Streben, sie zu einem

ebenbürtigen Kinde der Civilisation zu machen.

An eleganten Gebäuden,

an ganzen Straßen, in denen man sich vollkommen in Europa fühlt, ist

kein Mangel: Odessa ist

eine schöne Stadt.

Aber ein

sehr

sichtbarer

Uebelstand verleidet uns bis jetzt das Athmen und folglich auch das Leben:

80

AuS Odessa.

der gänzliche Mangel an Straßenpflaster gestattet jedem muthwilligen Windstoß, die Luft mit einem feinen weißen Staub zu füllen, der unauf­

haltsam in die Lungen dringt.

Kein noch so sorgfältig geschloffener Raum

ist davor geschützt und das Besprengen ist bei uns ein großer Luxus, da man das Wasser bezahlen muß. großartigsten Maßstabe.

Nun aber beginnt das Pflastern im

Auf allerhöchsten Befehl ist eine Summe von

1,200,000 R. zu diesem Zwecke ausgesetzt und wir werden in möglichst kurzer

Zeit auf Granit einherwandeln.

Und um diese Wohlthat doppelt genießen

zu können, tritt zugleich

die Gasbeleuchtung ins Leben, die seit

auch

Jahren auf dem Papier als Projekt existirte, uns aber desto rücksichts­ loser dem Leiden einer provisorischen Oelbeleuchtung überließ.

Sämmt­

liche Arbeiten sollen spätestens in drei Jahren beendigt sein.

Wie es

im Laufe

dieser Zeit mit

der Communication in den aufgegrabenen,

ausgerissenen, mit Pflastersteinen und Gasröhren

versperrten Straßen

bestellt sein wird, kann man sich ohne große Mühe ausmalen; aber wir

wollen geduldig stolpern und uns aus dem süßesten Morgmschlaf durch

Hämmern und Klopfen wecken lassen, in Erwartung der Dinge, die da kommen sollen.

Also bis jetzt weder Straßenplaster noch Gasbeleuchtung? Himmel, welch ein Nest! höre ich den deutschen Leser ausrufen, dem weder Kohl noch sonst ein Schilderer des russischen Südens bekannt ist.

Ansichten müssen wir aber mit Leib und Seele protestiren.

Gegen diese Wenn es

schwer ist, herzukommen, so fühlt man sich doch durchaus wohl, wenn

man erst in Odessa ist, besonders wenn der Beutel nicht in Widerspruch

geräth mit etwaigen Bedürfnissen und Wünschen, denn wohlfeil ist das Leben bei uns nicht.

Ja, man fühlt sich wohl; denn Jeder kann

einem gebildeten Kreise

von Landsleuten

in

seine Muttersprache sprechen

und unsere Garküchen liefern die Lieblingsspeisen eines Jeden, von Mak­

karoni bis zum Sauerkraut, von der Polenta bis zur gesalzenen Gurke. Auch für Bier ist gesorgt; in der nächsten Zukunft soll die in riesenhaften Dimensionen aufgeführte Brauerei des Herrn Amselin ihr segensreiches

Wirken beginnen

und täglich 1200

Eimer in drei verschiedenen,

Tragfähigkeit der Biertrinker angepaßten Sorten liefern.

der

Unser Theater

ist oft sehr gut und an Concerten ist kein Mangel; noch in der letzten

Zeit haben sich die Herren Wist und Steger bei uns hören lassen, von

denen Ersterer ein etwas nach Effect haschender, aber dabei vortrefflicher Biottnspieler, der zweite ein Pianist ist.

Dergleichen Freuden hat Man

überall und wir dürfen uns enthalten,

in's Einzelne zu gehen.

Was

man aber nicht überall hat, ist der Eindruck einer vollkommen kosmo­ politisch scheinenden Stadt, die jedoch von Grund aus rmssifch M sein ver­

ficht mit all ihrer bunt zusammengewürfelten Bevölkerung. Jeder einzelne Fremde kennt vielleicht

ein Fleckchen Erde,

wo

die Mckerinnerungen

am liebsten weilen; in Stunden der Gefahr wird et Mm Rüssen Und bietet

mit dem Ruffen die Brust dem Sturme, der seinem neuen Vaterlande

droht.

Daß die materiellen Interessen bei dem eingeimpsten Patriotismus

eine große, wenn auch nicht immer die Hauptrolle spielen, verftcht sich

von selbst und darf uns keine Regung unterschätzen lassen in einer Zeit, wo der Materialismus überall den Scepter führt.

Mischen Sie einzelne

Kinder des Orients mit markirten Zügen, dunkler Gesichtsfarbe und in ihrer Nationaltracht in die Menge, und denken Sie sich das weite schwarze

Meer dazu, das den in der Abendkühle Lustwandelnden eine erfrischende

Brise zusendet,

so haben Sie immerhin ein Bild, das sich nicht nur

durch sein Colorit, sondern auch durch finnige Zusammenstellung aüs-

zeichnet. Bei den obenerwähnten Kindern des Orients fällt uns ein, was

immer mehr zur Ueberzeugung wird, je länger man in Odeffa lebt — daß kein Punkt mehr dazu geschaffen scheint, civilisirend auf den Orient

im weitesten Sinne des Wortes zu wirken.

Der Morgenländer fühlt die

Wohlthat geregelter Zustände, und der Trieb keimt in ihm, dieselben auf den heimathlichen Boden zu verpflanzen.

Wir wollen uns hier nicht

in allgemeine Behauptungen einlassen, denen man einen poetischen Duft vorwerfen könnte, sondern unter manchen gleichartigen ein FäctüM her­

vorheben.

Seit etwa zwei Jahren existirt in Odeffa ein Verein von

Bulgaren, der sich das Ziel gesetzt hat, freüvillige Gaben zu samMelN,

die der Bulgarei zu Gute kommen sollen.

Vor allen Dingen will der

Verein armen Gemeinden behülflich fein, ihre verfallenen Kirchen wieder

aufzubauen,

daneben aber sollen Schulen errichtet, Geistliche gebildet,

junge lernbegierige Bulgaren in russischen Anstalten untergebracht, talent­ volle Literaten unterstützt werden.

Schon soll dieftr Verein Namhaftes

geleistet haben, was nicht zu bezweifeln ist, wenn man bedenkt, toie viele N»lsisch» Wtlwe. n. i.

1863.

6

wohlhabende Bulgaren in Rußland leben; einen ausführlichen Bericht über seine Wirksamkeit haben wir nicht vor Augen gehabt und müssen uns vorbehalten, den interessanten Gegenstand später einmal zn berühren. Von dem Wohlthätigkeitssinn der Stadt Odessa ließe sich überhaupt Rtanches sagen, wenn auch bis jetzt sich hierin noch kein geregelter Gang bemerkbar macht und Vieles, was der Einzelne im Drange seines Herzens hergiebt, nicht dem wahrhaft Hülfsbedürftigen zu Gute kommt. Wir geben gern, haben aber nicht immer Zeit, es mit Bedacht zu thun. In dieser Hinsicht sind unsere israelitischen Mitbürger uns vorausgeeilt — bei ihnen hat die Mildthätigkeit schon eine bestimmtere Form. Wenn ein verarmter Gewerbtreibender sich schämt, um ein Almosen zn bitten, so erhält er von der israelitischen Gemeinde eine Unterstützung in Form eines Darlehns; viele Familien vertheilen ihre Gaben an jedem Freitage und dem ersten Tag eines jeden Monats; jeden Sonnabend werden arme Glaubensgenossen den ganzen Tag beherbergt und an der gemeinschaft­ lichen Tafel beköstigt. Außerdem werden in besonderen Fällen von Haus zu Haus Colleeteu gemacht, die immer reichlich ausfallen. Und nicht nur der Reiche giebt von seinem Reichthum, auch der Aermere trägt sein Scherflein dazu bei. Und wohlthätig wie der Mensch, ist auch die Natur bei uns; aber hier tritt uns ein Umstand entgegen, der geeignet ist, das Bild des Kampfes der Civilisation mit althergebrachten Zuständen zu vervollstän­ digen, eines Kampfes, wo der Sieg des Zeitgeistes hin und wieder un­ entschieden bleibt. Die schöne Jahreszeit ist da; wer gelitten im Winter, der sehnt sich nach einer Heilquelle und einem Reisepaß ins Ausland. Vielen ist ein solcher freilich zu gönnen — viele aber könnten in der nächsten Nähe von ihren Leiden befreit werden, wenn unsre heimathlichen Heilkräfte nur mit einem Schatten deutschen Comforts zu gebrauchen wären. Eine Meile von Odesia liegt der Salzsee Kujalnik, schon seit dem Jahre 1833 als Badeort bekannt; aber bis auf den heutigen Tag sind die Anstalten zur Aufnahme der Badenden der Art, daß man lieber über den Rhein nach Kreuznach geht, um den Leiden des Gesundwerdens an jenem See zu entgehen. „Aus dem Kujalnik hätte man in Deutsch­ land ein kostbares Spielzeug gemacht und Patienten aus ganz Europa wären hingezogen", sagt der „Odessaer Bote", dem wir einige Notizen

über den Badeort entnehmen. liegt

ein

Ueber die Erfolge der letzten sieben Jahre

ärztlicher Bericht vor, der vierhundert Badegäste für diesen

ganzen Zeitraum angiebt; von diesen sind

195 ganz gesund entlassen,

156 haben eine Erleichterung empfunden, und trotz dieser äußerst viel

versprechenden Statistik haben erst in der letzten Zeit einige bescheidene

Bersuche stattgefunden, die Anstalt zu heben und mehr als einen defecten Eine Wohnung, die aus einem größeren

Regenschirm aus ihr zu machen. und zwei kleinen

Zimmern besteht und mit einem dreibeinigen Tisch,

einem hinfälligen Bett und zwei bis drei Stühlen ausgestattet ist, kostet durchschnittlich hundert Rubel für die Saison oder fünfzig Rubel mo­

natlich; für die Lebensmittel sorgt ein sogenannter Marketender, der aber

auch einmal ausbleiben kann, wenn ihm die tägliche Fahrt aus Odessa zu beschwerlich wird, und für die Communication mit der, wie gesagt

nur eine Meile oder sieben Werst entfernt liegenden Stadt ist gar nicht gesorgt.

Für diesen Sonimer ist ein regelmäßiger Eilwagen-Dienst in

Aussicht gestellt und der wirkliche Staatsrath Itowoselsky, der die sehr

wichtige Salzproduction auf dein Kujalnik betreibt, soll überhaupt weniger stiefväterlich mit der

Badeanstalt umgehen

wollen.

Der Himmel be­

stärke ihn in dieser Absicht. Trägt uns aber im Frühjahr das Dampfschiff über das schwarze

Meer und die Donau hinauf — zu Ihnen nach Deutschland, so kehren wir im Herbst gern wieder zurück in unsere schöne Stadt, über deren

rasche Entwickelung Ihnen noch wenn Sie es wünschen.

Ist

weitere Berichte

zu Diensten stehen,

unsere Eisenbahn fertig und haben wir

Straßenpflaster und Gasbeleuchtung, so kommt vielleicht einer oder der andere Ihrer deutschen Leser zu uns herüber:

kommen sein!

er soll uns herzlich will­

Vermischtes. Wkibtiche Iklavern. * *

Die Frauen der unteren Stände in Rußland hahxn sehr ost

einen von den Männern geübten patriarchalen Despotismus zu ertragen,

der alle europäischen Begriffe von sanctionirter Haustyrannei weit über steigt.

Eine überaus bcherzigenswerthe Poiiz in

den „Petersburger

Nachrichten" vom 27. Juni d. I. macht in eindringlicher Weise auf dze Lage dieser armen Frauen aus dem Bölke aufmerksam, die, trotzdem daß Mangel an Bildung und die Heiligkeit des Herkommens ihnen das Gefühl ihres Elends abschwächen, nicht selten zu äußerster Berzweisluug und zu grauenerregenden Verbrechen getrieben werden.

Von Ermordung,

Pergistung rc. der Männer durch ihre Weiber liest map jetzt immer häu­ figer in den rusfischen Zeitungen.

erwähnten Notiz,

haben

Diese Verbrechen, heißt es in der

durchaus keine zufällige Veranlassung.

Dir

wollen hier Beispiels halber einige Thatsachen anführen, die sich öfter wiederholen, wie wir uns aus eigener Erfahrung sowohl, als aus den

Mittheilungen Anderer überzeugt haben.

Jy dem Hause einef unserer

Bekannten besteht die weibliche Bedienung aus drei verheiratheteu Frauen:

zwei Soldatenweibern und einer Bürgersfrau.

Diese drei Frauen, hon

denen eine für die Erziehung ihres rechtmäßigen Kindes 2 Rub. 50 Kop. monatlich zahlt, haben ihren Ehemännern einen Tribut zu entrichten,

der fast die Höhe ihres Dienstlohns erreicht.

Sie behalten für sich nur

so viel, als sie zur äußersten Noth brauchen und entrichten gehorsam

ihre Abgabe, denn im Unterlassungsfall, sagen sie, würden die Männer ihnen keine Pässe verabfolgen, und dann würde ihre Lage noch drücken­

der werden.

Ja,

einer dieser drei Ehemänner,

nämlich

der Bürger,

geht so weit, sich das Geld von seiner Frau zwei Monate voraus zahlen

Vermischtes.

85

zu lassen, widrigenfalls, droht er, lasse er sie per Schub nach Hause

kommen (in's Gouvernement Smolensk).

Dergleichen findet man oft, so

daß von zehn Frauen fünf unbedingt für ihre Männer arbeiten, wäh­ rend letztere die Sorge für die Erziehung der Kinder vollständig von sich abivälzen.

Eine Bäuerin, deren Mann zwei

Hier noch ein Fall:

Jahre nach der Verheirathung unter's Militär kam, mußte dienen gehen und ihr ein Jahr altes Kind

in

fremde Hände

geben.

Von ihrem

spärlichen Lohn kleidete sie sich und bezahlte die Pflege ihres Töchterchens.

Ws das Mädchen herangewachsen war, erlernte es ein Handwerk.

vergingen 18 Jahre.

Die Tochter

So

bestritt nun selbst ihren Unterhalt

und die Mutter fing an, einen Nothpfeunig zu sparen — da erhalten

sie plötzlich einen Brief, daß der Vater der erstem und Ehemann der letztem (von welchem in dieser ganzen Zeit gar keine Nachricht gekommen war) in seine Heimath

(über tausend Werst von Petersburg) zurück­

gekehrt sei und Frau und Tochter zu sich fordere.

wollten sich dieser weiten Reise entziehen;

Die armen Frauen

aber es wurde ihnen Schub

angedroht, und da verkauften sie all ihre Habe und machten sich auf den Die Freude des Wiedersehens

Weg. haben.

scheint nicht lange

gedauert

zu

Das Oberhaupt der Familie nahm den Seinen das Letzte ab,

was sie besaßen; und entließ sie dank wieder nach Petersburg, ihr Brod zü verdienen, da er, wie er sagte, sie nicht erhalten könnte. Beispiele in der Residenz vorkommen, wo

Wenn solche

jeder sich mehr oder weniger

vor Willkür gesichert fühlt, was gEeht da erst in entlegenen Gouver­ nements ? Und welche Empfindungen müssen durch derartige Verhältnisse zü ihren Männern in den Frauen geweckt werden!

Ist ein solcher Zu­

stand nicht der früheren^ Leibeigenschaft gleich?

Die Juden in Kowno. — Aus

einer

Cvrrespondenz

in

der

„Nordlschen

Biene"

er-

sähren wir, daß unter der jüdischen Bevölkerung Kowno's der Einfluß

deutscher Sftte und Sprache sich außerordentlich geltend macht.

Unsere

Stadl, sagt der Correspoudent, liegt nahe an der politisch«preußischen

Vermischtes.

85

zu lassen, widrigenfalls, droht er, lasse er sie per Schub nach Hause

kommen (in's Gouvernement Smolensk).

Dergleichen findet man oft, so

daß von zehn Frauen fünf unbedingt für ihre Männer arbeiten, wäh­ rend letztere die Sorge für die Erziehung der Kinder vollständig von sich abivälzen.

Eine Bäuerin, deren Mann zwei

Hier noch ein Fall:

Jahre nach der Verheirathung unter's Militär kam, mußte dienen gehen und ihr ein Jahr altes Kind

in

fremde Hände

geben.

Von ihrem

spärlichen Lohn kleidete sie sich und bezahlte die Pflege ihres Töchterchens.

Ws das Mädchen herangewachsen war, erlernte es ein Handwerk.

vergingen 18 Jahre.

Die Tochter

So

bestritt nun selbst ihren Unterhalt

und die Mutter fing an, einen Nothpfeunig zu sparen — da erhalten

sie plötzlich einen Brief, daß der Vater der erstem und Ehemann der letztem (von welchem in dieser ganzen Zeit gar keine Nachricht gekommen war) in seine Heimath

(über tausend Werst von Petersburg) zurück­

gekehrt sei und Frau und Tochter zu sich fordere.

wollten sich dieser weiten Reise entziehen;

Die armen Frauen

aber es wurde ihnen Schub

angedroht, und da verkauften sie all ihre Habe und machten sich auf den Die Freude des Wiedersehens

Weg. haben.

scheint nicht lange

gedauert

zu

Das Oberhaupt der Familie nahm den Seinen das Letzte ab,

was sie besaßen; und entließ sie dank wieder nach Petersburg, ihr Brod zü verdienen, da er, wie er sagte, sie nicht erhalten könnte. Beispiele in der Residenz vorkommen, wo

Wenn solche

jeder sich mehr oder weniger

vor Willkür gesichert fühlt, was gEeht da erst in entlegenen Gouver­ nements ? Und welche Empfindungen müssen durch derartige Verhältnisse zü ihren Männern in den Frauen geweckt werden!

Ist ein solcher Zu­

stand nicht der früheren^ Leibeigenschaft gleich?

Die Juden in Kowno. — Aus

einer

Cvrrespondenz

in

der

„Nordlschen

Biene"

er-

sähren wir, daß unter der jüdischen Bevölkerung Kowno's der Einfluß

deutscher Sftte und Sprache sich außerordentlich geltend macht.

Unsere

Stadl, sagt der Correspoudent, liegt nahe an der politisch«preußischen

86-

Grenze.

Vermischtes.

Man sollte daher meinen, daß das polnische Element unsere

Inden gleichermaßen beeinflusse, wie das deutsche.

Allein der Einfluß

des deutschen Elements auf sie ist durchaus überwiegend.

Wir wissen

nicht, ob wir das an ihnen loben oder tadeln sollen; aber sicher ist, daß

dem nicht anders sein kann.

Um sich des „fremden Landes Sprach' und

Sitten anzueignen", muß man diese Sprache hören, diese Sitten sehen;

einheimischen Bevölkerung mit den

bei uns aber ist der Verkehr der

Juden ein viel zu geringer, als daß sich das jüdische Leben vom pol­ nischen Element

durchdringen ließe.

Mt den Deutschen dagegen sind

die Juden ununterbrochen in Handels- und sonstigen Beziehungen. ganzer Handel beruht auf

Credit,

auf den sogenannten

Unser

Banquier­

geschäften, die eine besondere Buchführung und mit derselben wohlver­ traute Leute erfordern, d. h. deutsche Buchhalter und Correspondenten,

die denn auch wirklich in unsern jüdischen Handlungshäusern in großer Zahl angestellt sind.

licher Wirkung.

Dieser einfache Umstand ist offenbar von wesent­

Der pünktliche Deutsche bringt Ordnung und Exaktheit

m die Geschäfte seines Principals, den er nicht selten von allzuwaghal­ sigen Speculationen abhält.

Dazu kommt, daß man mit den Deutschen

deutsch sprechen muß und auf diese Weise die deutsche Sprache in den Häusern der Juden Eingang findet.

Denselben Einfluß,

welchen

die

deutschen Buchhalter auf die Geschäfte haben, ja, fast einen noch größern,

haben die deutschen Dienstboten auf das häusliche Leben und die Wirth­ schaft der hiesigen Juden.

Noch

minder bestimmende Umstände

andere,

mehr zufällige,

tragen zur Verbreitung

Elementes unter den Juden Kowno's bei.

aber nicht

des deutschen

Letztere halten sich in Ge­

schäften ganze Monate in Preußen auf, lernen dabei das deutsche Leben kennen, und wenn sie dann nach Hause zurückkehren, führen sie gewiß

das Eine oder das Andere bei sich ein, das ihnen bei den Deutschen gefallen hat.

Schließlich üben in dieser Beziehung

auch die häufigen

Badereisen der jüdischen Damen einen großen Einfluß.

Mit einer ge­

wissen Begeisterung erzählen diese von der Lebensart, den Sitten und Gewohnheiten in Deutschland: wie man da für 5 Sgr. sich alle nur möglichen Genüsse verschaffen könnte, die bei uns um kein Geld zu er­

langen wären.

Ihnen gefallen namentlich die Gartenconcerte bei einer

Taffe Kaffee und dem unvermeidlichen Strickstrumpf rc.

Der Korrespondent betrachtet nun die Folgen des deutschen Einflusses

auf die jüdische Bevölkerung Kowno's und findet sie in einer größern Ordnung

und Sauberkeit, in

verständigerer Wirthschaftssührung

als

anderweit bei den polnischen Juden; und zwar machen sich diese Fort­ schritte nicht nur in den reichen Familien, sondern auch in dem häus­ lichen und Geschäftsleben der mittleren und niederen Stände bemerkbar. Daß die deutsche Sprache bei den Juden Kowno's die Landessprache

verdrängt, ist dem patriotischen Gefühle des Correspondenten nichts we­ niger als angenehm;

aber er sieht darin nur eine durch das ausschlie?

ßende Verhalten der einheimischen christlichen Gesellschaft herbeigeführte Einige jüdische Eltern, berichtet er, schicken ihre Töchter

Entft-emdung.

in die sogenannte Marienschule (jetzt ein weibliches Gymnasium) einzig und allein in der Absicht, daß die Mädchen durch das Beisammensein mit

polnischen

und

russischen

Kindern polnisch

und

russisch sprechen

lernen; denn daß dieselben vieles Andere dort nicht lernen können, ver­ hehlen sie sich Lehranstalt.

keineswegs,

bei dem wenig blühenden Zustande dieser

Aber sie erreichen nicht einmal jene Absicht;

die Claffen-

damen sind meist von so schöner Duldung und Humanität beseelt, daß es ihnen unstatthaft erscheint, Christen- und Judenkinder mit einander

spielen oder sich unterhalten zu lassen.

Selbst bei dem Unterricht heben

sie die Gemeinschaft unter ihnen auf und setzen die jüdischen Mädchen

auf gesonderte Bänke, wie es ihnen geziemt.

Friedrich Rückert an seine Verehrer in Petersburg.

O Mehrere Deutsche in St. Petersburg feierten den fünfundsieb­

den greisen Sänger

zigsten Geburtstag Rückerts,

indem sie an

Gratulationsadrcsse richteten.

Die „St. Petersburger Zeitung" bringt

eine

nun Rückerts Antwort in einem Briefe an den Akademiker v. Dorn,

einen der Unterzeichner der Adresse, den Einzigen, welchen der Dichter persönlich

kennt.

Auch

Rückert seinen Dank aus:

in

folgenden

beigelegten

„Berschen"

spricht

Der Korrespondent betrachtet nun die Folgen des deutschen Einflusses

auf die jüdische Bevölkerung Kowno's und findet sie in einer größern Ordnung

und Sauberkeit, in

verständigerer Wirthschaftssührung

als

anderweit bei den polnischen Juden; und zwar machen sich diese Fort­ schritte nicht nur in den reichen Familien, sondern auch in dem häus­ lichen und Geschäftsleben der mittleren und niederen Stände bemerkbar. Daß die deutsche Sprache bei den Juden Kowno's die Landessprache

verdrängt, ist dem patriotischen Gefühle des Correspondenten nichts we­ niger als angenehm;

aber er sieht darin nur eine durch das ausschlie?

ßende Verhalten der einheimischen christlichen Gesellschaft herbeigeführte Einige jüdische Eltern, berichtet er, schicken ihre Töchter

Entft-emdung.

in die sogenannte Marienschule (jetzt ein weibliches Gymnasium) einzig und allein in der Absicht, daß die Mädchen durch das Beisammensein mit

polnischen

und

russischen

Kindern polnisch

und

russisch sprechen

lernen; denn daß dieselben vieles Andere dort nicht lernen können, ver­ hehlen sie sich Lehranstalt.

keineswegs,

bei dem wenig blühenden Zustande dieser

Aber sie erreichen nicht einmal jene Absicht;

die Claffen-

damen sind meist von so schöner Duldung und Humanität beseelt, daß es ihnen unstatthaft erscheint, Christen- und Judenkinder mit einander

spielen oder sich unterhalten zu lassen.

Selbst bei dem Unterricht heben

sie die Gemeinschaft unter ihnen auf und setzen die jüdischen Mädchen

auf gesonderte Bänke, wie es ihnen geziemt.

Friedrich Rückert an seine Verehrer in Petersburg.

O Mehrere Deutsche in St. Petersburg feierten den fünfundsieb­

den greisen Sänger

zigsten Geburtstag Rückerts,

indem sie an

Gratulationsadrcsse richteten.

Die „St. Petersburger Zeitung" bringt

eine

nun Rückerts Antwort in einem Briefe an den Akademiker v. Dorn,

einen der Unterzeichner der Adresse, den Einzigen, welchen der Dichter persönlich

kennt.

Auch

Rückert seinen Dank aus:

in

folgenden

beigelegten

„Berschen"

spricht

88

Vermischtes. Festgruß, mir von den Ufern der eisigen Newa gesendet-.

Stärkenden Fruhlingsdust hat er ins Herz mir gebracht.

Dank-, daß Euch in der Fremde die Lust am deutschen Gesang blieb. Der Euch heimischen Sinn, heimische Sitte bewahrt. Ich bin einer der Bielen und dank' im Namen von Allen,

Denn mit dem Gruß an mich habt Ihr uns Alle begMßt.

Verwechselung der „Zeit" in deutschen Zeitungen. — Herr Wodowososs. Wie? das wäre möglich? Deutsche Zeitungen sollten sich in. der Zeit irren? Warum nicht-! Das passirt allen Zeitungen der Welt. Das Journal soll noch erfundm werden, welches die Zeit mit der Rich­ tigkeit eines genauen Chronometers angiebt. Und auch der gepriesenste Chronometer kann sich irren. Aber es ist hier nicht von Uhren noch von Anachronismen die Rede, und obgleich es sich um eine russische „Zeit" handelt, so fomnit auch keine Kaleuderdisfereuz hier in Frage. Die. Zeitverwechselung, von. der wir sprechen, ist eine Ramensverwe.chseluttg. Zwei russische. Blätter neunen sich „Zeit". Das eine „Die. Zeit" schlechtweg.; das andere: „Unsere Zeit". Jenes, heraus­ gegeben von Michael Dostojewsky, ist eine Rkonatsschrift und erschien in Petersburg (S. Russ. Revue. Heft II. S. 141); dieses ein politisches Tageblatt, heransgegeben voll stiikvlaus Palvlvw in Moskau. Das erstere Journal brachte in seinem Aprilheft einen Artikel „die verhäng­ nißvolle Frage", der gegen die jetzt herrschende patriotische Begeisterung in Rußland und die damit in Einklang stehenden Regiernngsakte gerichtet war; in Folge dessen wurde es unterdrückt. Auch die Pawlow'sche Zeitung soll nicht mehr erscheinen (s. oben), lvir iviffen noch nicht be­ stimmt, in, Folge welcher Umstände. Das haben nun deutsche Zeitungen mit . vielfacher Verwechselung gemeldet: von einem Moskauer Wochenblatt „Die.Zeit", einem Petersburger.Journal „Unsere Zeit", von dem Aufhören des Pgwlow'schen Blattes — ebenfalls wegen regierungsfeindlicher Richjustg rc. Und darauf.loeisen. denn, russische Zeitungen- hin, als auf «p&r Probe, vpw der, Zuverlässigkeit der, Nachrichten,. welche die deutschen Blätter über Rußland erhalten. Wir gehen„zu»-, daß--- die

88

Vermischtes. Festgruß, mir von den Ufern der eisigen Newa gesendet-.

Stärkenden Fruhlingsdust hat er ins Herz mir gebracht.

Dank-, daß Euch in der Fremde die Lust am deutschen Gesang blieb. Der Euch heimischen Sinn, heimische Sitte bewahrt. Ich bin einer der Bielen und dank' im Namen von Allen,

Denn mit dem Gruß an mich habt Ihr uns Alle begMßt.

Verwechselung der „Zeit" in deutschen Zeitungen. — Herr Wodowososs. Wie? das wäre möglich? Deutsche Zeitungen sollten sich in. der Zeit irren? Warum nicht-! Das passirt allen Zeitungen der Welt. Das Journal soll noch erfundm werden, welches die Zeit mit der Rich­ tigkeit eines genauen Chronometers angiebt. Und auch der gepriesenste Chronometer kann sich irren. Aber es ist hier nicht von Uhren noch von Anachronismen die Rede, und obgleich es sich um eine russische „Zeit" handelt, so fomnit auch keine Kaleuderdisfereuz hier in Frage. Die. Zeitverwechselung, von. der wir sprechen, ist eine Ramensverwe.chseluttg. Zwei russische. Blätter neunen sich „Zeit". Das eine „Die. Zeit" schlechtweg.; das andere: „Unsere Zeit". Jenes, heraus­ gegeben von Michael Dostojewsky, ist eine Rkonatsschrift und erschien in Petersburg (S. Russ. Revue. Heft II. S. 141); dieses ein politisches Tageblatt, heransgegeben voll stiikvlaus Palvlvw in Moskau. Das erstere Journal brachte in seinem Aprilheft einen Artikel „die verhäng­ nißvolle Frage", der gegen die jetzt herrschende patriotische Begeisterung in Rußland und die damit in Einklang stehenden Regiernngsakte gerichtet war; in Folge dessen wurde es unterdrückt. Auch die Pawlow'sche Zeitung soll nicht mehr erscheinen (s. oben), lvir iviffen noch nicht be­ stimmt, in, Folge welcher Umstände. Das haben nun deutsche Zeitungen mit . vielfacher Verwechselung gemeldet: von einem Moskauer Wochenblatt „Die.Zeit", einem Petersburger.Journal „Unsere Zeit", von dem Aufhören des Pgwlow'schen Blattes — ebenfalls wegen regierungsfeindlicher Richjustg rc. Und darauf.loeisen. denn, russische Zeitungen- hin, als auf «p&r Probe, vpw der, Zuverlässigkeit der, Nachrichten,. welche die deutschen Blätter über Rußland erhalten. Wir gehen„zu»-, daß--- die

deutsche Tagespresse nicht immer auf das beste von den Thatsachen und Aber sind denn unverbürgte

Verhältnissen in Rußland unterrichtet ist.

und unzuverlässige Journalnachrichten überhaupt etwas so Seltenes und

liegen sie nicht, namentlich bei Tagesblätterir, in der Natur der Sache? Was erzählen oft russische Blätter von Personen und Dingen in Deutsch­ land!

Welche Nachrichten, welche Meinungen verbreiten sie nicht allein

vom Hörensagen, sondern selbst aus gedruckten Quellen schöpfend, aus

welchen man ihnen sofort das Gegentheil nachweisen kann!

Wie geben

manchmal Referenten in ernsten russischen Journalen, in Monatsschriften,

die keine Eile haben, ihre Vorlagen wieder! Referenten obenein, die als prüfende Kritiker erscheinen und durch bewußte oder unbewußte Fäl­ schung das öffentliche Urtheil irre leiten.

im nichtofficiellen Theil

Ein solcher war z. B. neulich

des „Journals des Unterrichtsministeriums"

der Referent über die ersten zwei Hefte unserer „Russischen Revue" — Herr W. Wodowosoff.

Er ließ uns Dinge sagen, die uns weder in

den Sinn noch aus unserer Feder kamen, überließ dem „deutschen Witz", zu erklären, was auch seinem russischen Witz nicht unverständlich ge­ wesen wäre, wenn er überhaupt verstanden hätte, was er las; er gab

ein Jnhaltsresum« nach Art jener deutschen Recensenten, welche die von ihnen besprochenen Werke nur aus den ihnen von den Buchhandlungen

zur Ansicht mitgetheilten, nicht aufzuschneidenden Exemplaren kennen

lernen und also, wenn es hoch kommt, nur die offenen Seiten derselben gelesen haben.

Wir enthalten uns dagegen unsererseits nicht nur jeder Er­

wiederung,*) sondern selbst der Verwunderung.

Ist es doch sogar dem

officiellen Theil desselben „Journals des Unterricht-ininisteriums" begegnet;

daß

ein Herr Nowosseloiv

darin sich

über

Boeckh und

Haupt — si licet cum magnis componere parva — in einer Weise

aussprach............. in einer Weise, die sowohl dem deutschen Publikum wie dem russischen Unterrichtsministerium

selbst noch in zu verdrieß­

licher Erinnerung ist, als daß ich gern daran mahnte.

Nehmen wir

also Jvurnalschnitzer und Journalsünden überall mit Gelassenheit hin.

*) Wie wir hören, steht eine solche Herrn Wodowosoff von Seiten eines unserer russischen literarischen Freunde bevor, der ihm schließlich rathen soll, über deutsche Schriften in Zukunft wenigstens nicht ohne Hilfe eines Wörterbuchs zu referiren.

Vermischtes.

90 Wundern wir uns

einmal, wenn die Journalisten Frankreichs,

nicht

deren Gelehrsamkeit ja weltbekannt ist, mit aller Naivetät versichern, die

berühmtesten deutschen Lyriker wären meyer«, und in

Deutschland

»Messieurs Heine et Brink-

herrschte noch

so

viel mittelalterliche

Sitte, daß zu jeder Buchhändlermeffe in Leipzig der Fürst von NordHa usen

(»Le prince de Nordhouse«)

mit

seinen Rittern zum

Turnier erscheine.

W.

Baucrnwallsahrten.

I Aus Moskau schreibt man der „Nordischen Biene": Noch nie­ mals hat man so viel Landleute Hunderte von Wersten weit nach dem

berühmten Dreifaltigkeitskloster bei Moskau zur Anbetung des heiligen

Sergius

pilgern sehen,

wie in diesem Jahre.

Der Schnee war noch

nicht einmal von den Feldern recht weggethaut, als bereits Schaaren

von Pilgern sich auf wegung setzten.

der

alten,

dorthin

führenden Chaussee in Be­

Mit dem Ränzchen auf dem Rücken, einen kleinen Vor­

rath von schwarzem Zwieback und einigem Kupfergeld in der Tasche ihre

weite Reise antretend, konnten diese an schwerem Tagewerk sich abmü­ henden Männer und Weiber nicht daran denken, sich der Eisenbahn zu

bedienen und mußten den beschwerlichen Weg nach dem Kloster zu Fuße gehen.

Was ist der Grund einer so außerordentlichen Bewegung und

eines so tiefen Andachtsdranges bei diesen guten Leuten?

Die Antwort,

die wir von vielen dieser Wallfahrer erhielten, lautete: „Ja, siehst du, Lieber, sonst waren wir der Herrschaft zu eigen, und jetzt sind wir frei, und da haben wir dem Väterchen Sergius gelobt, zu ihm zu wall­ fahrten, hin und zurück zu Fuße, und zu Gott dem Herrn Dankgebete

zu verrichten für unsere Erlösung aus der Hörigkeit!"

ungewöhnliche Menge von Pilgern in diesem Jahre.

Daher also die

Vermischtes.

90 Wundern wir uns

einmal, wenn die Journalisten Frankreichs,

nicht

deren Gelehrsamkeit ja weltbekannt ist, mit aller Naivetät versichern, die

berühmtesten deutschen Lyriker wären meyer«, und in

Deutschland

»Messieurs Heine et Brink-

herrschte noch

so

viel mittelalterliche

Sitte, daß zu jeder Buchhändlermeffe in Leipzig der Fürst von NordHa usen

(»Le prince de Nordhouse«)

mit

seinen Rittern zum

Turnier erscheine.

W.

Baucrnwallsahrten.

I Aus Moskau schreibt man der „Nordischen Biene": Noch nie­ mals hat man so viel Landleute Hunderte von Wersten weit nach dem

berühmten Dreifaltigkeitskloster bei Moskau zur Anbetung des heiligen

Sergius

pilgern sehen,

wie in diesem Jahre.

Der Schnee war noch

nicht einmal von den Feldern recht weggethaut, als bereits Schaaren

von Pilgern sich auf wegung setzten.

der

alten,

dorthin

führenden Chaussee in Be­

Mit dem Ränzchen auf dem Rücken, einen kleinen Vor­

rath von schwarzem Zwieback und einigem Kupfergeld in der Tasche ihre

weite Reise antretend, konnten diese an schwerem Tagewerk sich abmü­ henden Männer und Weiber nicht daran denken, sich der Eisenbahn zu

bedienen und mußten den beschwerlichen Weg nach dem Kloster zu Fuße gehen.

Was ist der Grund einer so außerordentlichen Bewegung und

eines so tiefen Andachtsdranges bei diesen guten Leuten?

Die Antwort,

die wir von vielen dieser Wallfahrer erhielten, lautete: „Ja, siehst du, Lieber, sonst waren wir der Herrschaft zu eigen, und jetzt sind wir frei, und da haben wir dem Väterchen Sergius gelobt, zu ihm zu wall­ fahrten, hin und zurück zu Fuße, und zu Gott dem Herrn Dankgebete

zu verrichten für unsere Erlösung aus der Hörigkeit!"

ungewöhnliche Menge von Pilgern in diesem Jahre.

Daher also die

91

Vermischtes Der Verein jur Unterstützung hilfsbedürftiger Schriftsteller und

Gelehrten ju St. Petersburg. Das Comite dieses Vereins hielt vom 24. Febmar bis zum 24. Mai d. I. 13 Sitzungen; innerhalb dieser Zeit liefen 54 Unterstützungs­

gesuche ein, von denen 32 gewährt, die übrigen theils abgelehnt wurden, theils noch der Prüfung auf Grund von Erkundigungen außerhalb Pe­

tersburgs unterliegen.

Ertheilt wurden während dieser Zeit an ein­

maligen Unterstützungen: gesammt 3115 R. 45 K.

Majestät

dem

Kaiser,

2163 R. 45 K., an Pensionen 952 R., ins­

An Spenden erhielt der Verein:

Von Sr.

auf Vorstellung "des Unterrichtsministeriums,

1000 R.; von Privatpersonen 76 R. 66 K.; als Ertrag eines Concerts

und einer Theatervorstellung 483 R., als Beitrüge der Vereinsmitglieder 1561 R., als Bankzinsen des Vereinscapitals vom 13. November 1862

bis zum 13. Mai 1863 — 678 R. 50 K., insgesammt 3800 R. 61 K.

Literarische Notizen.

Vom russischm Büchermarkt.

— Die letzten Monate brachten auf theologischem Gebiete eine neue

Auflage der „Einleitung in die orthodoxe Theologie" von

Makarius, Erzbischof von Charkow rc. — Bereits im I. 1857 er­ schien in Paris eine französische Uebersetzung dieses Werkes.

Der un­

genannte Uebersetzer, „ein Russe", sagt im Borworte von deni Verfasser und dessen verdienstvoller Arbeit;

»Le saint Synode, appreciant le

merite du jeune professeur, Fappela bientot ä Saint - Petersbourg,

et lui confia l’enseignement de la theologie dogmatique dans PAcademie ecclesiastique de cette ville.

Son cours ne tarda pas

ä justifier les esperances que ses talents avaient feit naitre. — Resume succint des le^ons du professeur, cet ouvrage a retenu de sa destination une forme quelque peu scolastique.

sultat inevitable de

la methode qu’impose

C’est le re-

tout enseignement

serieux sur un sujet aussi important.«

— Die geistlichen Schriften des Pfarres Demetrius Sokolow,

zum Theil der pädagogischen Literatur angehörig, zeichnen sich durch

vorurtheilsfreie Auffassung des heidnischen Alterthums und pragmatische

Behandlung der biblischen Geschichte aus.

Der Standpunkt Sokolow's

ist nicht sehr entfernt von dem Lessing'schen „Testamente Johannis". Wenigstens gründet sich die Tendenz seiner Schriften darauf, daß für

ihn die christliche Moral der Inbegriff der vollsten Liebe ist.

93

Literarische Notizen.

Unter den geographischen Handbüchern kündigt sich das neue von A. Korsak, das in sieben Lieferungen erscheint, als selbständige Be» arbeitung größerer Quellenwerke an;

es ist aber,

wie der Berfasier

schon selbst bekennen muß, nichts weiter als ein Auszug aus Daniel,

von dessen „Lehrbuch der Geographie" er früher bereits eine Uebersetzmtg veröffentlicht hat.

Im „Bibliogr. Boten" (Nr. 6 von d. I.) wird deni

Verfasser nachgewiesen, daß er sich auch hier auf eine wörtliche Uebersetzuug beschränkt habe und seine Bearbeitung vorläufig sich auf Streichung

gerade höchst interessanter Kapitel reducire.

-- Dagegen sind in P. Be-

loch's „Geographie des russischen Reichs" Disposition und Behandlung

des Materials von großer Uebersichtlichkeit.

Nächst einer physischen und

territorialen Beschreibung enthält dieses Lehrbuch eine auf die lvichtigsten

Culturbeziehungen

Reiches.

eingehende

ethnographische Charakteristik des weiten

Bibliographie. In Ruhland erschienen: 3n russischer Sprache.

Belach, I.

Lehrbuch der Geographie deS russischen Reiches. Zweite Lieserung.

St. Petersb. 1863. 8. VIII. 323 S.

1 R. 25 K.

(yieÖHMK’b reorpaiii PocciHOKoS llMiiepin.

Coct. U.

Eiwioxt?)

Besobrasow, R. A. Arbeit,

Die alle und neue Ordnung und die organisirte in Anwendung auf unsere Gutsverhältnisse. St. Petersb.

1863. 8. 12 S. 5 K.

(O CTapOÄTS H HOBOM’E HOpH^Kli H o61> yCTpoeHHOMT» Tpy^i (travail organise) bt> npHMlneHiH kt> nauiHMTb cthlimt» OTHomeniHMT). H. A. Eesoöpazotia.')

Bogdanowitsch, M.,

General.

homI-

Geschichte des Krieges vom I. 1813 für Bd. II. St. Petersb.

Deutschlands Unabhängigkeit.

1836. 8. XIV.

805 S. Erster und zweiter Band: 7 R. 50 K.

(HiTOpifl BOMHM 1863 r. aa neaaBHCHMocTb FepMamH. Com. renepajia M. I'ozdanoeuua.')

Christbaum

für das neue Jahr.

Ein Geschenk für Kinder in Versen und

Prosa: Glückwünsche, Festgrüße, Akrosticha, Mährchen und Geschichten.

Von S. B. — St. Petersb. 1863. 16. I. 37 S. 30 K.

(EjKa Ha HOBLifi roßT».

üo^apoKT. bt> cTHxaxi» h npoat: noBApaBjreiria h iipHßtTCTBia, aKpocTHXH, cnaaKH m paacKaabi. Com. C. 27.)

Encyklopädisches Lexicon.

Bearbeitet von russ. Gelehrten und Schrift­

stellern. Sechster Band. Erste Hälfte. St. Petersb. 1863. 8. 240 S.

1 R. 65 K.

(BHi^MKJone^M'iecKiä CäOBapb, cocTaßjieHHMH pyccKHMn yneHtiMH m jiHTepaTopaMH.)

Fabeln

von Krylow, Ismailow, Dmitrijew und Chemnitzer. Mit 12 Kupfern

nach Grandville.

Moskau 1863. 16. II. 98 S.

(EacHH KpbijioBa, HsMafijioBa, ^MHTpieBa

m

XeMRHi^epa.)

95

Bibliographie.

Feoktastow, ®. Der Unabhängigkeitskampf Griechenlands. Episode aus der Geschichte der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. St. Petersb.

1863. 8. 230 S. 1 R. 50 K.

(Bopböa I'peipii 3a nesaßHCHMocTb. Siimsoat» nepBOH nojioBHHbi XIX.

b.

hbt

iicTopiii

E. QeoKmacmoea.

Filonow, A. Russische Chrestomatie, mit Anmerkungen, zum Gebrauche der höheren Klassen in den mittleren Lehranstalten. Erste Lieferung. Epische Poesie. St. Petersb. 1863. 8. III. 791 S. 1 R.

(PyccKaa xpiicTOMarifl

ct

npiiMtuamaMif.

Coct. A. yuia. KoMe^ia bi 4-xte> a- bi> CTiixaxi>. A. C. rpuöoTbdoaa. IIojiHoe Hji.iiocTp. Madame.) Jessipow, G. W. Zur Geschichte der Raskolniken im achtzehnten Jahr­ hundert.

Aus den Akten des Preobrashenski'schen Gerichtshofes und

der geheimen Untersuchungskanzlei.

Bd. II. St. Petersburg 1863. 2 R.

(PacKo^bHHMbU ^1>ja XMII. cTOJitTia.

('oct. 1?. B.

Ecunoez.) KochanowSkh, Frau.

Erzählungen,

2 Bde. Moskau 1863. 8. 2 R.

(lloBliCTH IxoxanoecKOÜ.) Kolzow, A. W. Gedichte. 4. Anfl. Mit Einl. von Belinsky. Moskau 1863. 8. IV. 236 S. 50 K.

(CrMxoTBopeiiiH A. B. KoJii^oaa.

Ct> cTaTbero B. Bn>-

JllCHCKaZO. Kostomarow, 91. I. Die nordrussischen Volksverfassungen in AUnowgorod, Pskow und Wjatka. 2 Bde. St. Petersb. 1863. 3 R. 50 K.

(C1>BepHopyccKiH Hapo^onpaBCTBa BtneBaro yicia^a.

bo

Bpewena yAÜLHo-

H. EL KocmoMcipoea.)

Lebedew, P. S. Die Grafen Nikita und Peter Panin. Versuch einer Be­ arbeitung der neueren russ. Geschichte nach ungedruckten Quellen. St.

Petersb. 1863. 1 R. 25 Kr.

(Fpa«i»bi IlMKHTa ii IleTp'bllaHiiHbi.

Coq.TZ. C.Äeöedeea.')

Leitfaden für Tabellen zum gegenseitigen Unterricht im Lesen und Schreiben, 5. Aufl. St. Petersb. 1863. 8. 15 S. nebst Tab. 1 R.

(PyKOBO^CTBO KT» TadjIHI^aMT» RJIH. B3a«MH0r0 OÖyMeHLH MTeiiiio m nncbMy.) Lichutin, M., Generalleutnant. den I. 1854 und 1855.

Die Russen in der asiatischen Türkei in

Aus Aufzeichnungen über die Operationen

96

Bibliographie. des Eriwan^schen Detachements. S. Petersb. 1863. 8. II. 446. Mit einer Karte. 2 R. 50 -K.

(PyccKie

bi

aaiHTCKon Typgiu

bt>

1854 n 1855 r.

Hai) 3aiIHCOi;rL O BOeHHMX'L ^täCTBiflXrb 3pHB. OTpHAa. ÄuxyviUHa.

M.

Lwsw, A. Hamlet und Don Quijote und Iwan Turgenews Meinung von beiden.

St. Petersb. 1863. 8. 170 S-

(I^stM^eTTb M ^om-KilxoTT» n Miitnie o nnxrb H. C. TypreHeBa.

A. Jlbeoea.')

MakariuS, Erzbischof von Charkow. Einleitung

in die orthodoxe Theologie.

3. Aufl. St. Petersb. 1863. 8. IX. 522 S.

(Bse^euie

bt»

iipaBoejaBuoe ctorocjoßte. X* &• Ma-

Kapifl, apxiciL XapbKOBCKaro m AxTLipcKai o.)

Mansurow,

Dr. N. Die Hautkrankheiten. Nach den neuesten Quellen be­ arbeitet. Erste Lieferung' Moskau 1863. 8. III. 160 S. 75 K.

(IlaKOHCHhlH 6oj1>3HM. PyKOBO^CTBo, cocTaBjieiiHoe no HOBtÜniHMT, HCTOMIlHKaMrb ^-pOMT 11. MaHCypOGblM?».

Möller, A.

Erzählungen und Geschichten für Kinder. Mit 9 coL Kupfern. St. Petersb. 1863. 233 S.

(noBtcTM M pa3CKa:ibi MH AtTefi. A. MejiAepa>} Petschorin. I. Physische Erdkunde. Bd. I. Lief. 1. St. Petersb. 1863. (®H3M’iecKoe leMJieBifttiiiie. ( oct. H. IleuopuKi.} Pokrowsky, I. Pfarrer. Einige Belehrungen. St. Petersb. 1863. 12. I. 46 S. 50 K.

(HliCKOJbKO noyneHiii. (’nainemuiKa /. HoKpoucKazo.') Polesskh, Pfarrer. Die Magdalenenasyle. St. Petersb. 1863. 8. 62 S. (Marfla.niHCKUi yöb?KMii|a. ('nninennnua llojiTbcchazo" Pugowin, K. Erinnerungen in Briefen von einer Reise durch Rußland und im Auslande. St. Petersb. 1863. 8. 85 S.

(BocnoMHHaHifl i^ero Bri> micbMax'B.

iiyTeuiecTBifl no Poccin h 3a rpannK. Hyzoeuna.)

h3T

RostowSkh, M.

Ein Ausflug nach den Schwefelquellen von Sergievsk. Erzählung für Kinder. St. Petersb. 1863. 8. 296 S. 2 R.

(IIoltf/jKa na CepricBciaH ctpiiLia AtTeil.

boabi.

Con. M. Poc/kobckoü.}

Druck von (i. Blochmann und Sohn in Dresden.

PaBCKaa'b

ziaä

Vie innere Stimme. Bon Jacob Polonsky.

deine Seel' in Leidenstagen Dem Drang der Liebe sich ergiebt,

Und doch nicht fassen kann und sagen.

Wen und warum sie glühend liebt —

Dann, wo der Puls von deinem Leben

Dir schlägt im tiefsten Herzensgrund, Wird meine Stimme sich erheben;

Merk' aus! ihr Rufen giebt dir kund:

Ich bin — mich kann kein Blick durchdringen — Doch nah dem Herzen, wie das Leid,

Und, wie ein Traum, auf mächt'gen Schwingen

Trag' ich dahin, so hoch, so weit!

Unnahbar müßigen Gedanken —

Ich, der vom Gnadenthron herab Dem Firmamente feine Schranken

Und deiner Seele Freiheit gab —

Ich bin geheimsten Denkens Quelle, Mein Licht durchleuchtet jede Brust;

Mich kümmern nicht die Wechselfälle

Bon deinem Gram und deiner Lust.

«ujfischr Revue. H. 2. Heft. 1863.

7

98

Die innere Stimme.

Doch endlos weh' ich durch das Ganze, Erfüllt soll alles Leben sein; Den Samen großer Fragen Pflanze Mein Odem dir in's Herz hinein. Ich sage dir: auf dürft'ger Scholle Laß reifen meine Goltessaat; Der Erntetag, der mühevolle, Bringt meinen Lohn für deine That.

Polemik gegen die Russen im Auslande. Obgleich der Gegenstand,

den

wir hier unsern Lesern vorführen

wollen, kaum zu weiteren Besprechungen in der russischen Tagespresse

Anlaß

geben

so

möchte,

gehört derselbe doch so sehr in den Bereich

des „geistigen Lebens in Rußland", von welchem Kunde zn verbreiten die Aufgabe dieser Blätter ist, daß es hier ganz besonders am Orte er­ scheint, die Aufmerksamkeit darauf hinzulenken.

Die Zahl der Rusien, die sich auf längere oder kürzere Zeit im Auslande niederlassen, ist bekanntlich sehr groß, und einzelne russische

Publtcisten

haben

es unternommen,

an Patriotismus

ihnen Mangel

Mit einer wahren Erbitterung bespricht Aksakow in seiner

vorzuwerfen.

Zeitschrift „Der Tag" die Emigration,

die im Jahre 1860 die Zahl

von 275,000 Köpfen, also wenigstens 70,000 Familien, vierten Theil

des

ganzen

russischen

oder fast den

erreicht haben soll,

Adels,

und

geißelt dann insbesondere diejenigen, die ihre Kinder im Auslände er­

ziehen.

„Das werden gute Ruffen", ruft er, „diese unglücklichen Wesen,

die von ihren Eltern so despotisch alles dessen beraubt werden, was nur

das Vaterland allein ihnen gewähren kann: des gemeinsamen Fortlebens mit dem russischen Volke,

der heimathlichen Art und Weise,

die mit

unsichtbaren Fäden das Kind mit dem Heimathlande verknüpft, die den Menschen besser und zuverlässiger, als jeder Unterricht, in dem Geiste

seiner Volksthümlichkeit erzieht

ohne Weiteres

selbst

dem Kinde seine Volksthümlichkeit,

und Andern,

wollen. ... sie dort

daß

Alles das

lieber

und befestigt. ...

sie

dessen

selbständige

ist Lüge! ...

Sie

leben

zu Hause,

wo

sie

leben als

Die Eltern stehlen und versichern sich

Thatkraft ausbilden

im

Auslande,

weil

in ihrer Seelenleerheit

nichts zu thutt finden, weil sie lieber müssig sind. ... Aus den Kindent werden Kosmopoliten, Physiognomie und

Seele bilden sich 7*

nach

der

allgemeinen europäischen Schablone; Nationalität, Vaterland und Kirche

sind verloren. ... Dresden ist fast eine russische Kolonie geworden. ... Unsere Landsleute

rufen öffentlich

zu Beiträgen für eine daselbst zu

erbauende russische Kirche auf, und sprechen dabei sehr naiv über die Vortheile der Erziehung in Dresden und die Annehmlichkeit des Lebens. ... Ihre Abtrünnigkeit von dem Wesen der Heimath soll mit größerem

Comfort von Statten gehen, das schüchterne Gewiffen soll beruhigt werden,

es sollen noch mehr Familien hinaus, die bis jetzt in Rußland bleiben!

.... Weder die Verachtung, die von Seiten der Ausländer unlängst im Schooße des französischen Senats und des englischen Parlaments laut

geworden, noch die Beleidigungen,

die von allen Organen der euro­

päischen Presse täglich und stündlich unserer staatlichen und nationalen Ehre zugefügt werden, noch die schwierige, gefahrdrohende Lage Ruß­

lands selbst — nichts berührt unsere Russen im Auslande, die fort­ fahren zum Besten der Fremde unser russisches Geld zu vergeuden!"

Noch energischer Redaction

derselben

spricht sich aus Paris, in einem Brief an die ein unseres Wissens

Zeitschrift,

bekannter Correspondent aus.

an seine in Frankreich lebenden Landsleute und Blattes mit seiner

hin und

bis

jetzt wenig

Dieser hält sich mit besonderer Vorliebe

wieder

in

füllt vier Spalten des

geschmacklosen

gehenden Strafpredigt über dasselbe Thema.

Humor

über­

Mit einem Wort, es ist

ein vollständiger Angriff auf die reisenden Russen — sie sollen zurück,

sie sollen ihr Geld zu Hause ausgeben und vor allen Dingen ihre Kinder zu Hause erziehen lassen.

Diese Artikel sind in Rußland viel gelesen worden und haben in ver­ schiedenen, mehr oder weniger verbreiteten Zeitschriften eine Patriotismus athmende Nachahmung gefunden.

Wehr setzten, war natürlich.

Daß nun auch die Reisenden sich zur

Alexander Lasarew veröffentlicht als

Beilage zum „Russischen Invaliden" einen unendlich langen Auffatz, dem wir jedoch bei dem besten Willen keinen glänzenden Erfolg versprechen können.

Der Verfasser handhabt ebenfalls den Humor mit zweifelhaftem

Glück und wird gelegentlich sehr grob. — Ernsthafter, aber auch bis an die äußerste Grenze der parlamentarisch erlaubten Ausdrücke strei­

fend, ist ein Artikel des in Dresden lebenden Fürsten Lwow, welcher behauptet,

in den im Auslande

erzogenen Kindern würde ein fester,

uttb fruchtbarer Boden vorbereitet zur verständigen Aufnahme der in

dem politischeil Leben Rußlands rasch sich folgenden Neuerungen.

In

dem Patriotismus Aksakow's sieht er „den ungastfreundlichen, gries­

grämigen Betvohner des Eismeeres — den weißen Bären. ist seine Tatze,

>vie

zerstörend

ist

sein Zahn,

Wie erdrückend

wie ungesellig

seine

Natur!" Unserer Ansicht nach hätten die Herren Lasarew und Lwow bes

ihren Zurückweisungen des Angriffs nicht nöthig gehabt, sich zu er­ Eine ruhige, objektive Betrachtung der Dinge, wie sie sind, eine

eifern.

vorurtheilsfreie Beobachtung des Thuns und Treibens der Russen im Auslande geivährt ohnehin die Ueberzellgung,

daß der,

übrigens sehr

achtungswerthe Patriotismus der Aksakow'schen Zeitschrift die Lanze

im Kampf mit Windmühlen einlegt.

Heut zu Tage, wo die Grenzen

aller Länder offen liegen und die ungeduldige Lokomotive dem bedäch­ tigen Paßbüreaubeamten den Schweiß der Verzweiflung auf die Stirne

treibt, muß der Patriotismus tiefer wurzeln, als in der unmittelbaren

Anschauung des vaterländischen Bodens; der Russe,

welchem nur der

Duft der Heimath — von dem Ton des Angriffs und der Zurück­ weisung angesteckt, hätten wir beinah gesagt: der Duft des heimathlichen Sauerkrauts — die Liebe zu seiner Geburtsstätte frisch erhält, ist des­

halb noch kein besserer Patriot als der, welcher der überwältigenden Nothwendigkeit nachgiebt, bis zu einein gelvissen Grade Kosmopolit zu werden.

Bon den Reisenden, die die Heilquellen des Auslandes aufsuchen, um ihrer zerrütteten Gesundheit auszuhelfen, kann hier nicht die Rede sein.

Eben so wenig von den harmlosen Touristen, die einige Monate

lang die Welt durchstreifen und ihren Jdeenkreis zu erweitern suchen. Aksakow selbst erlaubt dieses Vergnügen und räumt sogar dem Reisen

der Wißbegierigen einigen Nutzen ein.

Es sind also nur zwei Klaffen

der großen Emigration, die dem Tadel anheimfallen: die Familien, die sich des wohlfeilen Lebens wegen draußen niederlaffen, und diejenigen,

die ihre Kinder im Auslande erziehen. Hier steigt in dem Beobachter unwillkürlich die Frage auf: Folgen

die Familien dieser beiden Klassen einer Laune, der Mode, oder der Nothwendigkeit?

Die Gesetze der Natur erftreden sich bis auf die geringfügigsten Gegenstände; die Laune, die Mode hält auf die Länge nicht vor. Die Emigration aber steigt mit jedem Jahre: folglich muß die Reiselust einen tieferen Grund haben, wenn wir denselben auch nicht in der ab­ soluten Nothwendigkeit suchen wollen, und diesen tieferen Grund sollte die russische Tagespresse zum Gegenstand ihrer Angriffe machen, che sie in einem Reisepaß ein Zeugniß des Mangels an Patriotismus erblickt. Die Familien, die Hinausreisen um zu sparen, können — die große Mehrzahl wenigstens — zu Hause nicht mehr mit dem leben, >vas sie haben, weil der Luxus jährlich seine Forderungen steigert und noch weiter zu steigern droht. Der Mangel an Patriotismus liegt also bei denen, die in der Heimath bleiben und durch ihr tolles Treiben den Andern die Existenz verleiden. Warum nachahmen, wozu man nicht die Mttel hat? könnte man fragen. Die menschliche Natur, und vor­ zugsweise die weibliche, ist aber schivach. Wir gehören zu einem und demselben gesellschaftlichen Kreise: was A. thut, muß auch B. thun, sonst schadet er seiner Stellung. Viele von den Tonangebern sind jetzt selbst im Auslande, weil sie es nicht langer durchführen konnten: wollt ihr diese des Mangels an Patriotismus beschuldigen, so werden wir kräftig in den Ta-el mit einstimmen. Will also die Presse, was ja nur zu loben ist, die Ausfuhr ungeheurer Summen bekämpfen, so fange sie damit an, dem Luxus innerhalb der Grenzen des Reichs den Krieg zu erklären; sie nenne diejenige eine schlechte Russin, die mit einem schweren Seidenkleide den Staub der Straßen aufwirbelt — dieser Staub ist ein naher Verwandter und verantwortlicher Vorgänger desjenigen, den die Räder des über die Grenze rollendm Wagens in die Luft schicken. Mit dem Erziehen der Kinder in der Frenwe ist es nicht anders; die Herren Aksakow und Consorten mögen noch so sehr das Volksthümliche bei, der Heranbildung der Jugend in erster Reihe sehen wollen, dis Idee wird keinen Anklang finden, so lange neben dem Volkslhümlichen nicht auch das gründlich Wissenschaftliche in seinem vollen Lichte glänzt. Es geschieht in dieser Hinsicht im gegenwärtigen Augenblicke unendlich viel in Rußland, und die fortgesetzten, Anstrengungen des Ministeriums der Volksaufklärung werden gewiß in verhällnißmäßig kurzer Zeit zu, dem

Bis dahin aber muß der VerMch unzwei­

gewünschten Ziele führen.

felhaft zum Vortheil des Auslandes, das Jahrhnndsrte lang Erfah­

rungen gesammelt hat, ausfallen, und der Vater, der den Kenntnissm seines Sohnes

Wanderstabe.

eine tüchtige Grundlage geben will,

Die Presse in

greift nach dem

Rußland kann stolz sein auf das weite,

weite Feld, das ihr offen steht, und unendlich wohlthätig kann ihr Wirken sein, wohlthätiger als bei definitiv geregelten Zuständen, wo jeder Leser

sich mehr

oder iveniger selbst

Wirkt sie nun dahin,

daß

einen Zeitungsartikel schreiben könnte.

die Eltern zu Hause ihren Mitteln ent­

sprechend leben können und daß die Schulen im Lande so gut werden wie

die Schulen draußen,

so behält sie zrigleich ihr patriotisches Ziel im

Auge, der Auswanderungslust Einhalt zu thun.

Aber auch so wie die Dinge jetzt stehen, schwebt die russische Jugend

im Auslande durchaus nicht in der Gefahr, der Heimath entfremdet zu

werden,

und das gerade

zahlreich vertreten ist. Reisen

bekanntlich

mit

weil

sie in den ausländischen Schulen so

Noch vor fünf und zwanzig Jahren war das

ungleich

größeren

Kosten

verbunden.

Der

blasende Postillon kutschirte mit seinem Viergespann großentheils nur Fürsten und Grafen, und selten ertönten die Laute der russischen Sprache in dem gemüthlichen Raitm des zu Grabe getragenen Eilwagens.

Wurde

damals ein russischer Jüngling in eine ausländische Erziehungsanstalt gegeben, so riskirte sein Patriotismus unendlich mehr; er stand ver­

einzelt da, und es ist uns mehr als ein Beispiel bekannt, wo junge Ruffen wohl den Pariser Jargon mit allen seinen Schattirungen erlemt, die russische Sprache aber gründlich darüber vergessen hatten.

Das kann jetzt nicht mehr Vorkommen; eine Erziehungsanstalt, die ihren Vortheil versteht,

unterhalten sich in

hält einen tüchtigen

russischen Lehrer: die Knaben

ihrer Muttersprache,

ihnen in ihrer Rückerinnerung

die

ferne Heimath erscheint

int schönsten Lichte,

Rückkehr in dieselbe ist ihre süßeste Hoffnung.

die Hoffnung der

Das Gefühl der Na­

tionalität lebt in ihnen fort und wird sogar geiveckt, wo es vielleicht

schlummerte:

es kommen Angriffe vor, die zu Hause nie vorgekommen

wären, und die eine energische Abwehr erheischen. Patriotismus auf

bei solchen Gelegenheiten. —

Hoch lodert der

Der Verfasser dieser

Zellen erinnert sich unter anderm eines Krieges zwischen Rußland und

Polemik gegen die Muffen im Auslande.

104

Nordamerika innerhalb der Wände einer Erziehnngsanstalt. Die jungen

Ruffen und Nordamerikaner fochten einen Kampf der Nationalitäten

aus, trotz der friedlichen Beziehungen ihrer vaterländischen Regierungen zu einander.

Wem der Sieg blieb, ist gleichgültig; die Knaben beider

Nationen waren

seit Jahren

fern von

ihrer Heimath — und sie

brachten sich aus Patriotismus blaue Flecke bei.

Die Geschichte ist ge­

ringfügig, aber ganz ohne Nutzanwendung läßt sie der denkende Leser nicht.

iß o ul. Erzählung vom Grafen Leon Tolstoy.*)

VII. Am andern Tage in aller Frühe stand vor der Treppe des „Ge­

sindeflügels" der zu Geschäftsfahrten benutzte kleine Wagen (in welchem

auch der Verwalter zu fahren pflegte) mit einem breitknochigen, braunen Wallachen bespannt, der, ich tveiß nicht, aus welchem Grunde, Trommel

genannt wurde.

Aennchen, die älteste Tochter Paul's,

stand trotz des

Schlackerwetters und des kalten Windes barfuß in einiger Entfernung

vor dem Pferde, das sie in sichtlicher Angst mit der einen Hand am Zügel hielt,

während sie mit der andern über ihren Kopf die grün­

gelbe Kazawaika zusammenhielt, welche in der Familie den Dienst einer Decke, eines Pelzes,

einer Haube, eines Teppichs, eines Paletot für

Paul und noch viele andere Dienste versah. große Bewegung.

In Paul's Winkel herrschte

Es war noch dunkel, das Morgenlicht des regnerischen

Tages drang kaum durch das stellenweise mit Papier verklebte Fenster. Akulina ließ auf einige Zeit das Kochen der Speisen im Ofen und die

Kinder, von welchen die kleinern noch nicht aufgestanden waren und froren, da man ihnen behufs der Bekleidung die Decke genommen und

an deren Stelle ein Kopftuch der Mutter gegeben hatte. mit den Reiseanstalken des Mannes beschäftigt.

Hemd.

Die Stiefel, die,

wie man zu sagen pflegt,

sperrten, machten ihr besondere Sorge.

Akulina war

Er erhielt ein weißes die Mäuler auf­

Für's Erste zog sie ihre dicken

wollenen einzigen Strümpfe aus und gab sie dem Manne.

machte

brachten

Zweitens

sie geschickt aus einer vor ein paar Tagen von Paul heimge­

filzenen

Pferdedecke,

♦) S. Ruff. Revue. II. Heft 1.

die

im Stalle

„herumgelegen" hatte,

106

Paul

Brandsohle», mit denen sie die Löcher in den Stiefeln verstopfte, um so Paul's Füße gegen Feuchtigkeit zu schützen.

Paul selbst saß mit den

Füßen auf dem Bette und war damit beschäftigt, den Gurt so zu drehen,

daß derselbe nicht die Gestalt eines schmutzigen Stricks hatte.

Und das

mit der Zunge anstoßende Mädchen war im Pelz, der ihr um die Füße bammelte, trotzdem daß man ihr denselben sogar über den Kopf ge­ zogen, zu Nikita fortgeschickt worden, um eine Mütze von ihm zu borgen. Die Bewegung wurde durch die Leute vom Gesinde vermehrt, die zu

Paul kamen, ihn um Einkäufe in der Stadt zu bitten: der Eine um Nadeln, der Andere um Thee, ein Dritter um Oel, wieder ein Anderer

um Tabak, die Tischlersfrau um Zucker.

Letztere hatte schon ihren Thee

bereitet; wenigstens brachte sie Paul, um ihn zu bestechen, Kruge ein Getränk, das sie Thee nannte.

in einem

Obgleich nun Nikita die Mütze

nicht borgen wollte und Paul seine eigelw herzustellen gezwungen war, das heißt, die aus derselben Heraushängendell Flocken zurückschieben und

das Loch mit der roßärztlichen Nadel vernähen mußte; obgleich Paul's

Füße in die Stiefeln mit den Brandsohlen aus der Filzdecke erst gar nicht hineinkonnten; obgleich Aennchen ganz erfroren war und Trommel

einmal losließ, während Mariechen im Pelz an ihre Stelle trat, Vann aber Mariechen den Pelz wieder ablegm mußte und Akülina selbst das

Pferd hielt — so endete es doch damit, daß Paul fast die gesammte Kleidung seiner Familie anzog, und nur die Kazawaika und die Pan«

toffeln zurücklassend, in den Wagen stieg, die Rockschöße wiederholt und

immer fester übereinander schlug, wie das recht gesetzte Leute zu thun pflegen, darauf die Zügel in die Hand nahm und das Pferd antrieb.

Sein Junge Mischkä, wollte ein wenig mitfahren.

der auf die Treppe

yerausgelaufen kam,

Die mit der Zunge anstoßende Marie bat

ebenfalls, man möchte sie „patzireN" fahren, sie hätte es warnt, auch

ohne Pelz:

Dä hielt Paul das Pferd an, lächelte mit seinem schwach-

müthrgen Aüsdmck, und Akulina setzte die Kinder neben ihn, wobei sie sich zu ihm neigte und ihm zuflüsterte, er solle seines Schwurs einge­

denk' bleiben und unterwegs nicht trinken.

Paul fuhr die Kinder bis

zur Schmiede,

dort setzte er sie ab, hüllte sich wieder ein, zog seine

Mütze zurecht

und fuhr allein davon in langsamem, gesetzten Trabe.

Bei jedem Stoß zitterten seine Backen und seine Füße schlugen auf das

Wagenbrett auf. Mariechen und Mischka flogen barfuß über den schlüpfrigm Berg zurück, mit solcher Schnelligkeit und solchen» Gewinsel, daß der aus dem

Dorfe herbeigelaufene Hund

bei chrem Anblick plötzlich- den Schwanz

eiitzog und bellend nach Hause jagte, worüber Paul's Erben noch lauter

schrieen. Es war ein garstiges Wetter; der Wind schnitt- in'L Gesicht, und bald Schnee, bald Regen,

bald Schloßen

peitschten Paul's Angesicht

und: nackte Hände, mit denen er unter den- Aermeln seines Kittels die kalten Riemen hielt, und schlugen auf die Lederdecke des Kumnttes, auf

das alte Haupt des guten „Trommel", der die Ohren andrückte und

blinzelte. Dann legte sich der Wind mit einem Male, es hellte sich einen

Augenblick auf, deutlich traten die bläulichen Schneewolken hervor und es. schien, als ob die Sonne durchzublicken anfing, aber unschlüssig und nicht heiter, gleich dem Lächeln Paul's.

genehme Gedanken versunken.

Trotzdem war Letzterer in an­

Er, den man nach Sibirien hatte.schaffen

wollen, den man untor's Militair zu steckm gedroht hatte, den nur

Träge nicht- schimpften und schlugen,

den man immer dahin stieß-,

wo

es am schlechtesten war, er fährt jetzt nach einer Summe Geldes, und

nach einer großen Summe.

Die vertraut- ihm die Herrin an , er fährt

im Verwalterwagen mit. demselben „Trommel", mit welchem die gnädige

Frau aussahren.

Er fährt wie ein Hausmeister, sein Pferd ist mit

Riemenzeug geschirrt.

Und Paul gab sich eine aufrechte Haltung, zupfte

die> Flocken an seiner Mütze zurecht, und nahm seinen Rock noch fester

zusammen.

Wenn sich übrigens Paul einbildete, daß er ganz und gar

einem reichen Hausmeister ähnlich sah, so irrte er sehr.

Freilich, wie

Jedermann weiß, fahrm auch Händler, die 10,000 Rubel int Vermögen

haben, in. kleinen Wagen mit riemrngeschirrtem Pferd; aber das ist

denn doch was? Anderes.

Da fährt so ein bärtiger Kaufmann in blauem

oder schwarzem Kaftan, mit einem wohlgenährten Pferd, allein- in dem kleinen Kasten; auf den ersten Blick erkennt man je nach seinem ge­

sättigten- Aussehen und nach dem des Pferdes,

je nach der Art, wie

ex dasitzt, wie! das. Pferd angespannt ist; wie die Mder> beschlagen sind;

Paul.

108

wie er seinen Gnrt trägt, ob der Mann auf Tausende oder Hunderte Geschäfte macht.

Jeder Erfahrene, der Paul, dessen Hände, Gesicht, den

Bart, den er erst kürzlich hatte wachsen lassen, seinen Gürtel, die Art, wie das Heu in den Wagen gestreut war, den magern Trommel, die

abgetriebnen Radschienen in der Nähe betrachtete, mußte sogleich wahr­ nehmen, daß da ein unbedeutender Knecht fährt, kein Kaufmann, kein

Großhändler, kein Hausmeister, keiner von tausend, von hundert, oder Aber Paul dachte nicht so; er gab sich einer

auch nur von zehn Rubeln. angmehmen Täuschung hin.

Fünfzehnhundert Rubel wird er in seiner

Wenn er will, lenkt er den „Trommel" statt nach

Busentasche tragen.

Hause auf den Weg nach Odessa und fährt in Gottes Namen davon.

Allein das wird er nicht thun; er wird das Geld getreulich der gnä­ digen Frau überbringen und sagen, daß er schon mehr Geld bei sich

geführt habe.

Wie er an die Schenke kam,

zog Trommel den linken

Leittiemm an, blieb stehen und wandte sich; aber ungeachtet Paul das

Geld für die ihm aufgetragenen Einkäufe bei sich hatte, der Peitsche und fuhr weiter. und gegen Mttag Leute

der

stieg

gnädigen

in den Hof,

Dasselbe that er bei der andern Schenke

er am Hause

Frau

knallte er mit

einzukehren

des Kaufmanns ab, pflegten,

führte

wo alle

den Wagen

spannte aus, steckte dem Pferde Heu auf und speiste zu

Mttag mit den Dienern des Kaufmanns, wobei er nicht ermangelte, zu erzählen, um welches wichtige Geschäft er hergekommen.

mit dem Briefe in seiner Mütze zum Gärtner.

Dann ging er

Der Gärtner, der Paul

kannte, fragte ihn, nachdem er den Brief gelesen, mit sichtlichem Zweifel, ob wirklich er beanstragt sei, das Geld zu bringen.

Paul wollte sich

gekränkt zeigen, brachte das aber nicht zu Stande und lächelte nur mit dem ihm eigenen Ausdruck.

und gab ihm das Geld. seiner Wohnung. verlockten ihn.

Der Gärtner las den Brief noch einmal

Paul steckte es in den Busen und ging nach

Weder das Bierhaus

noch die Branntweinschenken

Er empfand eine angenehme Aufregung in seinem ganzen

Wesen und blieb mehr als einmal vor den Läden stehen, wo verfüh­ rerische Waaren, Stiefel, Kittel, Mützen, Kattun und Leckerbissen feil­

gehalten würden. Er stand eine Weile da und ging weiter mit dem an­

genehmen Gefühl:

„Ich kann das Alles kaufen, aber ich thu's nicht."

Ex begab sich auf den Markt, um die ihm aufgetragenen Einkäufe zu

machen, besorgte Alles und handelte um einen gegerbten Pelz, für den

25 Rubel

verlangt wurden.

Der Verkäufer,

der aus irgend einem

Grunde Paul mit den Blicken maß, glaubte nicht, daß Paul zu kaufen

im Stande sei.

Der aber zeigte auf seine Busentasche und sagte, er

könne, wenn er wolle, den ganzen Laden auskaufen, dann ließ er sich

den Pelz annreffen, drückte, pochte denselben, blies auf das Fell, nahm sogar schon dessen Geruch an und legte endlich seufzend den Pelz ab. „Der Preis steht mir nicht an.

wollt", sagte er.

Wenn Ihr ihn für 15 Rubel ablassen

Der Kaufmann >oarf erzürnt den Pelz über den Tisch

zurück, Paul aber trat in froher Stimmung hinaus und begab sich nach seinem Quartier.

Nachdem er zu Abend gegessen, Trommel zu trinken

gegeben und Haber vorgeworfen hatte, stieg er auf den Ofen, zog den

Geldbrief hervor,

betrachtete ihn lange und bat den Hausknecht, der

lesen konnte, ihm die Adresse, namentlich die Worte: „Inliegend 1500

Rubel Assignationcn" vorzulesen. Das Couvert von grobem Papier hatte

fünf Siegel von braunem Lack,

auf denen ein Anker ausgeprägt war,

vier an den Ecken und ein großes in der Mitte. ein Siegellacktropfen.

An der Seite war

Paul betrachtete das Alles, studirte es förmlich

und betastete sogar die

scharfen Enden der Assignationen.

Eine Art

kindisches Vergnügen empfand er bei dem Gedanken, so viel Geld in

seinen Händen zu haben.

Er schob den Brief in das Loch seiner Mütze,

legte diese sich unter's Haupt und schlief ein. er mehrere Male und befühlte das Couvert.

In der Nacht erwachte Und jedesmal, wenn er

dasselbe am Platze fand, erfreute ihn das angenehme Bewußtsein, daß

er, der beschimpfte, geschmähte Paul so viel Geld bei sich führe, welches er getreulich und sicherer als der Verwalter abgeben würde.

VIII. Um Mitternacht

wurden die Diener des Kaufmanns und

Paul

durch Klopfen an der Hausthüre und das Geschrei von Bauern geweckt. Es waren die Rekruten, die man aus Pokrowskoje einbrachte, zehn an der

Zahl: Choruschkin, Mituschkin, der Neffe Dutlow's, zwei Stellvertreter, der Starost, der alte Dutlow und die Geleitsmänner. brannte ein Nachtlicht.

In der Stube

Die Köchin schlief auf einer Bank unter den

Heiligenbildern ; sie sprang auf und zündete ein Licht an.

Auch Paul

110

Paul.

erwachte, bog sich vom Ösen vor mtb betrachtete die hereinkotnmenben Alle traten ein, bekreuzten sich und setzten sich aus die Bänke.

Bauern.

Alle waren vollkommen ruhig, so daß sich Nicht unterscheidm ließ, wer

die Rekniten, wer

scherzten und verlangten zu essen. traurig,

Sie begrüßten einander,

die Geleitenden warm.

Einige waren freilich schweigsam und

Andere dagegen von ungewöhnlicher, offenbar angetrunkener

Heiterkeit, darunter auch Jljuschka, der bis dahin nie getmnkm hatte. — Run Kinder, was wollt ihr: zu Abend essen oder schlafen gehen?

fragte der Starost. — Zu Abend essen, antwortete Jljuschka, indem et dm Pelz auf­

machte und sich aus die Bank fetzte.

Laß Branntwein kommen!

— Genug des Branntweins! warf der Starost hin und wandte

sich zu den Andern. — So esset etwas Brod.

Wozu die Leute wecken?

— Branntwein her! wiederholte Jljuschka, ohne Jemand anzublicken

und in einem Tone, daß man wohl sah, er würde nicht so bald ablaffen.

Die Bauern gehorchten dem Rathe des Starosten, holten Brod aus dm Wagen, aßm, baten um Kwaß und legten sich hin, der Eine auf die Diele, der Andere auf den Ofen. Jljuschka wiederholte noch immer: Branntwein her, sag' ich! Plötz­

lich erblickte er den Paul. — Jljitsch, ei Jljitsch!

Du hier, lieber Freund?

Und ich muß

unter die Soldaten, hab' auf immer Abschied genommen vom Mütter­ chen, von meinem Weibe.

man mich.

Wie sie heulte!

Unter die Soldaten steckt

Schaff Branntwein!

— Ich habe kein Geld, antwortete Paul.

Kommst, so Gott will,

vielleicht doch los, setzte er tröstend hinzu.

— Nein, Bruder, ich bin ohne Makel, wie eine junge Birke, hab'

nie eine Krankheit an mir gehabt; wie sollte ich loskommen!

Samt der

Zar denn bessere Soldatm habm? Paul fing an,

eine Geschichte zu erzählen,

wie ein Bauer dem

Doctor einen Fünfrubelschein zugesteckt und dadurch loskam. Jljuschka rückte näher an den Ofen nnd wurde gesprächig.

— Nein, Paul, nun ist Alles vorbei und ich will selber nicht mehr dableiben.

Der Onkel hat mich fortgeschafst.

Konnte man mich denn

Nein, schade um den Sohn unb schade um das Geld!

nicht loskmtfen?

Nun will ich selber nicht.

Ich-mußte dran.

lich unter dem Einfluß stillen Grams.)

Eins nur dauert mich: mein

Was die jammerte!

armes Mütterchen.

(Er sprach leise, zutrau­

Und auch mein Weib!

Um

nichts und wieder nichts haben sie das arme Weib zu Grunde gerichtet.

Jetzt ist sie eine Soldatenfrau, damit ist genug gesagt.

geben?

Da war's doch

Warum hat man mir denn eine Frau ge­

besser, gar nicht Heimchen.

Morgen kommen sie.

— Weshalb wurdet ihr so früh hergebracht? fragte Paul.

Erst

hörte man nichts, und plötzlich.......... — Siehst du, die fürchten, gegnete Jljuschka lächelnd.

daß ich mir ein Leid anthue, ent­

Seid außer Sorge, ich thue mir nichts an;

ich komme auch als Soldat nicht um. Mütterchen.

Mich dauert nur mein armes

Und warum haben sie mir eine Frau gegeben? sagte er

leise und traurig.

Die Thüre ging auf,

wurde stark

zugeworfen

und herein trat

Dutlow, die Mütze abschüttelnd, in seinen Bastschuhen,

die so groß

waren, als hätte er Kähne an den Füßen. — Afanassi! sagte er, sich bekreuzend, zu dem Hausknecht.

Kamst

du mir nicht eine Laterne geben, daß ich den Pferden Haber vorwerfe? Dutlow sah nicht nach Jljuschka hin und zündete ruhig ein Licht-

stümpfchen an.

Die Fausthandschuhe und die Peitsche staken in seinem

Gurt, der hübsch ordentlich am Kittel saß: als sei er mit einer Fracht­ fuhre hergekommen,

so ganz den Ausdruck der gewohnten Ruhe und

Geschäftssorge hatte sein arbeitgefurchtes Gesicht. Als Jljuschka den Onkel gewahrte, schwieg er still, smkte finster

seine Blicke auf eine Stelle der Bank und rief,

zu dem Starost ge­

wendet:

— Schaff Branntwein, Jermila, ich will trinken!

Seine Stimme klang boshaft und düster. — Was soll jetzt Branntwein? antwortete der Starost, aus einer

Schale schlürfend.

Du siehst, Alle haben gegessen und sich schlafen ge­

legt; was tobst du? Das Wort „toben" brachte Jljuschka offenbar auf dm Gedanken, es wirklich zu thun.

112

Paul. — Starost, ich richte Unheil an, wmn du mir keinen Branntwein

schaffst! — Bringe du ihn doch znr Vernunft, wandte sich der Starost zu

Dutlow,

der schon

die Laterne angezündet hatte,

aber stehen blieb,

offenbar, um zu hören, was weiter geschehen würde, und mit einem

mitleidigen Seitenblick den Neffen betrachtete, wie wenn er sich über dessen kindisches Benehmen wundere.

Jljuschka hatte den Kopf sinken

lassen und rief wieder:

— Wein her!

Ich richte Unheil an!

— Laß es sein, Jljuschka! sagte der Starost sanft.

Wahrhaftig

laß sein, es ist besser.......... Noch hatte er aber diese Worte nicht

zu Ende gesprochen, als

Jljuschka aufsprang, mit der Faust an die Fensterscheibe schlug und aus Leibeskräften rief:

— Wenn ihr nicht hören wollt, da habt ihr's!

Darauf stürzte er nach dem andern Fenster, um auch das zu zer­ schlagen.

Paul hatte sich im Nu zweimal umgewälzt und in die Ecke des Ofens versteckt, wo er eine Menge Käfer aufftörte.

seinen Löffel fallen und eilte zu Jljuschka.

Der Starost ließ

Dutlow stellte langsam die

Laterne hin, gürtete sich auf, schnalzte mit der Zunge, schüttelte den

Kopf und trat auf Jljuschka zu,

der sich schon mit dem Starost und

dem Hausknecht herumbalgte, die ihn nicht an's Fenster ließen.

Sie

packten ihn an den Händen und hielten ihn, wie es schien, recht fest.

Kaum aber erblickte Jljuschka seinen Onkel, mit dem Gürtel in Händen, als seine Kräfte sich verzehnfachten.

Er riß sich los und die Augen

rollend trat er mit geballter Faust Dutlow entgegen. — Ich schlage dich todt, komm nicht näher, Barbar!

Du hast

mich zu Grunde gerichtet, du und deine Söhne, die Räuber, haben mich zu Grunde gerichtet.

Warum habt ihr mich heirathen lassen?

Komm

nicht nahe, ich schlage dich todt!

Jljuschka sah schrecklich aus,

sein Gesicht war purpurroth, seine

Augen rollten unstät, sein ganzer kräftiger, junger Leib bebte wie im

Fieber.

Er schien den Willen und die Kraft zu haben, alle drei Bauern,

die an ihn herantraten, zu tobten:

— Deines Bruders Blut säufst du, Blutsauger! Da blitzte etwas in dem ewig ruhigen Gesichte Dutlow's.

Er that

einen Schritt vorwärts.

— Willst nicht im Guten, sagte er und plötzlich — wo er nur die Energie hernahm?

— ergriff er in rascher Bewegung seinen Neffen,

warf sich mit ihm zu Boden und sing an mit Hülfe des Starosten ihm die Hände zurückzudrehen.

Än fünf Ntinuten rangen sie, endlich erhob

sich Dutlow, von den Bauern unterstützt, indem er Jljuschka's Hände, die sich ail seinen Pelz gekrallt, losmachte; dann hob er Jljuschka selbst auf, dessen Hände auf dein Rücken gebunden waren, und setzte ihn auf

die Bank in der Ecke. — Hab' dlr's gesagt, es wird bös werden, sprach er, noch athemlos vom Kampfe und den Gurt seines Hemdes zurechtrückend.

sündigen?

Wir sind Alle sterblich.

Wamm

Leg' ihnr den Kittel unter den Kopf,

setzte er, zu ber.i Hausknecht gewendet hinzu, sonst wird ihm der Kopf auflaufen.

Und er nahm die Laterne, umgürtete sich mit einer Schnur und ging wieder hinaus zu den Pferden.

Bleich, mit zerzaustem Haar,

mit aufgerissenem Hemd, sah sich

Jljuschka im Zimmer um, als suchte er sich zu besinnen, wo er wäre' Der Hausknecht las die Glasscherben auf und steckte eine Pelzjacke in's Fenster, damit es nicht ziehe.

Der Starost setzte sich wieder an seine

Schale.

— Ei, Jljuschka, Jljuschka!

ist aber zu thun?

Du dauerst mich wahrhaftig.

Hier der Choruschkin ist auch verheirathet.

Was

Es sollte

nun einmal nicht anders sein. — Durch meinen Onkel, den Bösewicht, gehe ich zu Grunde, wie­

derholte Jljuschka mit trockner Erbitterung. — Ihn dauert das Seine. Meine Mutter sagte, der Verwalter habe ihn einen Rekruten kaufen

heißen.

„Er will nicht", sagte sie, „kann's nicht überwinden."

wir denn seinem Hause wenig zugebracht?

Haben

Der Bösewicht!

Dutlow trat in die Stube, betete vor den Heiligenbildern, legte

die Kleider ab und setzte sich zunl Starvsten. noch Kwaß und einen Löffel.

legte sich aus den Kittel. «»Istsch,

II. 2. Hk!,. 1663.

Die Magd brachte ihm

Jljuschka schwieg, schloß die Augen und

Der Starost zeigte

stumm auf ihn und 8

114

Paul.

schüttelte den Kopf.

Dutlow machte eine abwehrende Bewegung mit

der Hand. — Thut mir's denn nicht selber leid?

lichen Bruders!

Der Sohn meines leib­

Und nicht genug, daß es mir nahe geht, man hat

mich ihm noch als den bösesten Menschen dargrstellt. listiges Weib, so jung wie sie ist,

hat ihm in den Kopf gesetzt, wir

hätten so viel Geld, daß wir im Stande wären,

kaufen.

Drum ist er mir gram.

— Ach ja!

Seine Frau, ein

einen Rekruten zu

Ach, und wie dauert mich der Junge !

Ein guter Junge! sagte der Starost.

— Ich werde aber nicht mit ihm fertig.

Morgen schicke ich den

Jgnat her; auch seine Frau wollte Herkommen. — Schicke sie nur, das ist recht, sagte der Starost. und stieg auf den Ofen. — Was liegt am Gelde?

Er erhob sich

Geld ist Staub.

— Wenn man's nur hätte, wer würde sich was draus machen!

warf Einer von den Dienern des Wirthes hin, indem er den Kopf in

die Hohe hob. — Ach, das Geld, das Geld!

ließ sich Dutlow hören:

nichts

bringt so viel Sünde in die Welt, als dieses Geld, wie die Schrift schon sagt. — Ist Alles schon gesagt, wiederholte der HaMnecht. So erzählte

mir Jemand:

Es war ein Kaufmann, der hatte viel Geld zusammen­

gescharrt und wollte nichts zurücklassen. daß er es in's Grab mitnahm.

daß man ihm ein Kissen in den Sarg lege. suchten die Söhne

So sehr liebte er sein Geld,

Wie er im Sterben war, befahl er, Man merkte nichts; darauf

nach dem Geld und fanden nichts.

Nun errieth

Einer von den Söhnen, daß das Geld in dem Kissen sein müßte.

Sache kam an den Zaren. Was meint Ihr nun?

Die

Der erlaubte, daß es ausgegraben würde.

Es wurde geöffnet: im Kiffen war nichts.

Sarg aber voll von Schlangen.

Man grub ihn schnell wieder ein.

Der Da

sieht man, was das Geld macht. — Das ist gewiß, viel Sünde bringt's, sagte Dutlow, erhob sich

und verrichtete sein Gebet. Nachdem er gebetet, sah er nach dem Neffen hin. Der schlief. Dut­

low trat an ihn heran, löste ihm den Gürtel und legte sich hin. anderer Bauer ging hinaus, bei den Pferden zu schlafen.

Ein

IX. Wie Alles still wurde, schlich Paul sich sacht herunter, als wenn er etwas begangen hätte, und machte sich davon.

haglich,

hier

Mit

Es war ihm unbe­

riefen einander schon häufiger an.

Trommel hatte seinen ganzen Haber

verzehrt und streckte den Hals nach der Tränke.

an und

Die Hähne

den Rekruten die Nacht zuzubringen.

führte ihn

hinaus,

Paul spannte

an den Bauernwagen

vorbei.

ihn

Seine

Mütze mit dem Inhalt war unversehrt und die Räder seines Wagens

rasselten aufs neue

Paul fühlte

die leicht gefrorene Pokrowskische Straße.

über

sich erst

dann

erleichtert,

als er aus der Stadt war.

Bis dahin war es ihm immer, als hörte er hinter sich Verfolger, die ihn festhielten, ihm an Jljuschka's Stelle die Hände zurückbänden und

ihn morgen unter die Rekruten abliefern wollten.

Halb vor Kälte, halb

vor Angst überlief es ihn eisig und er trieb und trieb immer wieder Trommel an.

Der Erste, der ihm begegnete, war ein Pope, mit hoher

Wintermütze, in Begleitung eines einäugigen Knechtes. noch unbehaglicher zu Muthe.

diese Bangigkeit.

barer.

Es wurde Paul

Aber außerhalb der Stadt verlor sich

Trommel ging im Schritt.

Der Weg wurde sicht­

Paul nahm seine Mütze ab und betastete das Geld.

„Ob ich's

wohl in die Busentasche stecke", dachte er: „aber da muß ich mich los­ gürten.

Will warten, bis ich an den Berg komme.

und mache mich zurecht.

kann nichts aus dem Futter heraus. ich die Mütze nicht ab."

Dort steige ich aus

Die Mütze ist oben fest zugenäht und unten Bis ich nach Hause komme, nehme

Als er an den Berg kam, schoß Trommel

aus eignem Antrieb hinab und Paul, der eben so gut wie Trommel

schnell zu Hause sein wollte, wehrte ihm nicht.

Alles war in Ordnung,

wenigstens glaubte er's und er gab sich Träumereien hin:

wie ihm die

Herrin dankbar sein würde, wie er fünf Silberrubel von ihr zum Ge­ schenk erhalten und die ©einigen sich freuen würden.

Er nahm die

Mütze wieder ab, befühlte noch einmal den Brief, drückte sich die Mütze recht tief in's Gesicht und lächelte.

Der Plüsch der Mütze war morsch

und da Akulina Abends zuvor die zerrissene Stelle sorgfältig zusammen8*

116

Paul.

genäht hatte, so riß er an der andern Seite.

Gerade die Bewegung

nun, mit welcher Paul, als er die Mütze abgenommen, in der Dunkel­

heit den Brief mit dem Gelde fester einzustecken glaubte, gerade diese Bewegung machte, daß die Mütze platzte und das Couvert mit einem Ende unter dem Plüsch sich herausschob.

Es wurde bell und Paul, der die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, schlummerte ein.

Er hatte die Mütze vorgeschoben, wodurch der Brief

noch mehr heraustrat und stieß im Schlafe mit dem Kopfe an das Brett

Als er erwachte, war er schon in der Nähe des Hauses.

Bewegung war, nach der Mütze zu greifen

Seine erste

Sie saß fest auf dem Kopfe.

Er nahm sie nicht einmal ab, überzeugt, daß das Couvert darin war. Er trieb den Trommel an, rückte das Heu zurecht, gab sich von neuem

die Miene eines Hausmeisters, blickte ernsthaft um sich und rollte dem Hause zu.

Da ist die Küche, da ist der Gesindeflügel, da bringt die Tischlersfrau

Leinwand, da ist das Comptoir, da ist das Haus der gnädigen Frau, in welchem Paul bald zeigen wird, daß er ein zuverlässiger und redlicher

Mensch sei, daß man Jeden verleumden kann, und die gnädige Frau wird zu ihm sagen:

„Nun ich danke dir, Paul.

............. " vielleicht auch fünf,

Da hast du drei

vielleicht auch zehn Silberrubel.

Und sie

wird ihm Thee reichen lasten, vielleicht auch Branntwein; bei der Kälte

wär's nicht übel.

Für zehn Silberrubel wollen wir uns am Feiertag

ein Vergnügen machen und Stiefel kaufen und dem Nikita meinetwegen

vier und einen halben zurückzahlm, sonst läßt er keine Ruhe.... Kaum zehn Schritte vor dem Hause schlug Paul wieder die Rockschöße über­

einander, rückte Gürtel und Kragen zurecht, nahm die Mütze ab, strich sich die Haare und fuhr langsam mit der Hand unter das Futter. Bald bewegte sich die Hand in der Mütze schneller und schneller, andere Hand griff hinein.

auch die

Das Gesicht wurde blässer und blässer.

eine Hand fuhr mitten durch.

Die

Paul sprang auf, hielt das Pferd an,

untersuchte den Wagen, das Heu, die eingekauften Gegenstände, befühlte

die Busentasche, die Hosen — das Geld war nirgends. — Um des Himmels Willen, was ist das! was soll das werden!

schrie er laut auf und griff sich in die Haare.

Hier aber fiel ihm gleich ein, daß man ihn sehen könne.

Er lenkte

das Pferd um, setzte die Mütze auf und jagte den erstaunten und un-

zitfriedenen Tronnnel des Wegs zurück.



Kann's nicht ausstehen,

Tromniel denken.

mit dem

zu

Paul

fahren,

mochte

Einmal ini Leben hat er mich zur rechten Zeit ge­

füttert und getränkt, nur um niich so unangenehm zu täuschen.

Wie

rannte ich nach Hause, bin ganz ermüdet, und kaum, daß ich unser Heu

rieche, treibt er mich Ivieder zurück.

— Vorwärts, du Teufelsvieh! rief Paul unter Thränen, im Wagen

aufrechtsteheud und zerrte den Trommel am Gebiß und schlug ihn mit der Peitsche.

X. Jenen ganzen Tag bekam in Pokrowskoje Niemand den Paul zu

Die gnädige Fran fragte nach Tisch mehrere Atale nach ihm.

Gesichte.

Axiutka flog zu Akulina;

aber Akulina

Wahrscheinlich habe ihn der Pserde etwas zugestoßen.

sagte, er sei noch nicht zurück.

Kaufnlann aufgehalten

oder

es sei dem

„Vielleicht ist es lahm geworden", sagte sie.

„Letztes Mal blieb Alaxini volle vierundzioanzig Stunden und ging den

ganzen Weg zu Fuße."

Und Axiutka richtete die Pendelbewegung ihrer

Arme wieder nach denr Hause zu.

Akulina erdachte neue Gründe für das

Ausbleiben ihres Mannes und suchte sich zu beruhigen, aber das gelang ihr nicht.

Es ivar ihr schwer um's Herz und

morgenden Feiertag wollte ihr von Statten gehen.

keine Arbeit für

den

Sie quälte sich um

so mehr, da ihr die Tischlersfrau versichert hatte, sie habe einen Mann,

ganz wie Paul, sich den: Prospekt nähern und dann wieder fortfahren

sehen.

Auch die Kinder erivarteteu den Vater mit Unruhe und Ungeduld,

aber aus ganz andern Gründen.

Aennchen und Mariechen waren ohne

Pelz und Kittel, die ihnen die Möglichkeit verschafften, Eine um die Andere auf die Straße hinauszugehen, und ivaren deshalb genöthigt,

im bloßen Kleid mit gesteigerter Schnelligkeit einen Kreislauf um das Haus zu niachen, wodurch sie alle Beivohner des Flügels, die herein­ kamen und hinausgingen, nicht wenig belästigten.

Einmal flog Marie­

chen der Tischlersfrau, die eben Wasser trug, auf die Füße und obgleich

sie schon im Voraus aufschrie, als sie an deren Knie anstieß, wurde

sie doch noch am Schopfe gezaust und weinte noch heftiger. aber an Niemand anstieß, so

über das Faß auf den Ofen.

Wenn sie

flog sie zur Thür hinein und kletterte

Nur die gnädige Frau und Akulina be

unruhigten sich um Pauls Person; die Kinder nur um das, was er an

Der Verwalter aber antwortete auf die Frage der gnädigen

sich trug.

Frau, ob Paul nicht zurückgekommen und wo er bleiben möge, lächelnd; „Das kann ich nicht wissen", und war sichtlich zufrieden, daß seine Vor­

aussetzung sich bestätigte.

„Er sollte schon um Mittag zurück sein", sagte

er bedeutsam. An jenem Tage erfuhr in Pokrowskoje Niemand etwas über

Paul.

Erst später kam's heraus, daß ihn die benachbarten Bauem ge­

sehen hatten, wie

er ohne Mütze aus der Straße dahinlief

Allen fragte, ob sie nicht einen Brief gefunden.

und bet

Ein Allderer hatte ihn

am Rande des Weges neben seinem Wagen schlafend gesehen.

— Ich dachte mir noch, sagte dieser:

sein und

das Pferd muß zwei

der Mann muß betrunken

Tage nichts gefressen und getrunken

haben, so war es zusammengefallen. Akulina schlief die ganze Nacht nicht, sie lauschte immer fort; aber

auch in der Nacht kam Paul nicht zurück.

War sie allein und nicht

der Koch und ein Stubenmädchen bei ihr, sie hätte sich noch unglücklicher

gefühlt; aber so wie die Hähne zum dritten Male krähten, stand die Tischlersfrau auf.

machen.

Auch Akutina mußte aufstehen und sich an den Ofen

Es war Feiertag.

ausgenommen,

Vor Tagesanbruch mußte das Brod her­

der Kwaß bereitet, Plätzchen gebacken, die Kuh gemelkt,

die Kleider und die Wäsche geplättet, die Kinder gewaschen, Wasser ge­ bracht und die Nachbarin verhindert werden, daß sie den ganzen Ofen

einnehme.

Akulina horchte

Geschäfte ging.

in einem fort auf,

Schon wurde es hell,

während

sie

an

diese

schon läutete es zur Frühmesse,

schon standen die Kinder auf, und Paul war noch immer nicht da.

Am

Abend zuvor war der erste Schnee gefallen und hatte ungleich die Felder, die Straße

und die Dächer bedeckt.

war schönes, sonniges, sehen und hören konnte.

Heute, eigens wie zum Festtag,

frosthelles Wetter, so daß man weithin Alles

Akulina aber hatte,

am Ofen stehend, den

Kopf so tief in dessen Mündung hineingesteckt und war so eifrig mit dem Backen der Plätzchen beschäftigt, daß sie nicht hörte, wie Paul her­

eingefahren kam, und erst der Aufschrei der Kinder machte sie aufmerksam,

daß der Mann gekommen sei.

Aennchen, als die älteste, strich sich den

Kopf mit Talg und kleidete sich selbst an.

Sie trug ein neues, rosa-

sarbnes, aber zerknittertes Kattunkleid, ein Geschenk der gnädigen Frau, das wie Baumrinde von ihr abstand und den Nachbarn in die Augen

Ihr Haar glänzte, sie hatte ein halbes Lichtstümpfchen darauf

stach.

Ihre Schuhe waren zwar nicht neu, aber fein.

geschmiert.

Mariechen

stak noch in der Kazawaika und im Schmutz, Aennchen ließ sie nicht an sich heran, um sich nicht zu beschmutzen.-

der Vater hereinfuhr.

Mariechen war im Hofe, als

„Väterchen ist gekommen!" quiekte sie und stürzte

über Hals und Kopf durch die Thüre an Aennchen vorbei, die sie be­

schmutzte.

Aennchen, die nun weiter nichts zu fürchten hatte, gab ihr

einen Schlag

kommen.

und Akulina konnte

Sie schrie bloß

nicht von ihrer Beschäftigung ab­

die Kinder an: „Ich will euch alle

walken" und sah sich nach der Thüre um.

den Händen,

durch­

Paul, mit dem Reisesack in

trat in den Flur und schlich sogleich in seinen Winkel.

Akulina kam es vor, als ob er bleich sei und so aussähe, wie wenn er

bald lächelte,

bald weinte; aber sie hatte keine Zeit,

das zu unter­

suchen. — Run,

Paul,

Alles

glücklich

abgemacht?

ries

sie ihm vom

Ofen zu.

Paul murmelte etwas, was sie nicht verstand. — Wie? fragte sie. — Warst du bei der gnädigen Frau?

Paul blieb in seinem Winkel , auf dem Bett sitzend, sah scheu um sich her und lächelte mit dem ihm eigenthümlichen Ausdruck von Schuld­

bewußtsein und tiefem Unglück.

Lange antwortete er nichts.

— Run, Paul, was schweigst du? erscholl Akulina's Stimme. — Hab' das Geld der gnädigen Frau übergeben,

Akulina.

Hat

nur sehr gedankt, sagte er plötzlich und begann noch unruhvoller um­

zublicken

und zu

lächeln.

An zwei Gegenständen

besonders hafteten

seine unruhigen, fieberhaft geöffneten Augen: auf dem an die Wiege ge­

bundenen Strick und auf dem Kinde.

Er trat an die Wiege und knüpfte

mit seinen dünnen Fingern hastig den Knoten des Strickes auf.

heftete er seine Augen auf das Kind. Plätzchen auf einem Brette herein.

Dann

Aber jetzt trat Akulina mit den Paul barg

seinem Busen und setzte sich aufs Bett,

schnell den Strick in

120

Paul. — Was hast du, Jljitsch?

Du bist ja ganz verstört? sagte Mu­

lm«. — Hab' nicht geschlafen, antwortete er. Plötzlich schimmerte etwas am Fenster und nach einem Augenblick

flog wie ein Pfeil das Stubenmädchen Axiutka herein.

— Gnädige Frau befehlen,

daß Paul Jljitsch den Augenblick

komme, sagte sie: gleich den Augenblick, befehlen sie, den Augenblick! Paul sah Akulina und das Mädchen an.

— Gleich!

Was will sie denn noch? sagte er so einfach,

Akulina sich beruhigte. — Will mich vielleicht belohnen.

daß

Sag', daß ich

gleich komme.

Er erhob sich und trat hinaus.

Akulina aber nahm den Trog,

stellte ihn auf die Bank, goß aus den an der Thüre stehenden Eimern und aus dem Keffel am Ofen Wasser hinein, schürzte die Aermel auf

und prüfte das Wasser. — Komm, Mariechen, ich will dich waschen.

Das ärgerliche, mit der Zunge anstoßende Mädchen fing an zu

weinen. — Komm, du Räudige, ich will dir ein weißes Hemd anziehen. Run, so mach' schnell, ich muß noch deine Schwester waschen.

Paul war unterdessen nicht dem Stubenmädchen zur gnädigen Frau

gefolgt, sondern begab sich an einen ganz andern Ort. an der Wand führte eine steile Leiter nach dem Boden.

Im Flur, dicht Paul sah sich

im Flur um und da er Niemand gewahrte, eilte er, sich bückend und fast rennend, flink und gewandt diese Leiter hinauf.

XI. — Was bedeutet das, daß Paul nicht kommt? sagte die Herrin ungeduldig zu der sie frisirenden Dunjascha — Wo bleibt der Paul?

Wamm kommt er nicht?

Axiutka flog von neuem nach dem Gesindeflügel und verlangte von

neuem, daß Paul eilends zur gnädigen Frau komme. — Er ist ja längst hingegangen, antwortete Akulina, die, nach­

dem sie Mariechen gewaschen, eben ihren Säugling in den Trog gesetzt hatte und trotz seines Geschreies seine dünnen Härchen benetzte.

Das

Knäblein sträubte sich und schrie und suchte mit seinen hülflosen Händ­

chen nach etwas zu Haschen.

Akulina stützte mit der einen Hand seinen

kleinen, schwellenden, grübchenvollen Rücken und mit der andern wusch sie ihn.

— Sieh doch nach, ob er nicht irgendwo eingeschlafen ist, sagte sie, unruhig umblickend.

Die Tischlersfrau war unterdeß mit ungekämmten Haaren, offner Brust, ihren Unterrock zusammenhaltend, nach dem Boden hinaufgegangen, um ihr daselbst trocknendes Kleid zu holen.

Plötzlich erscholl ein Schrei

des Schreckens auf dem Boden und die Tischlersfrau stürzte mit ge­

schlossenen Augen,

rückwärts,

auf allen Vieren, mehr kriechend als

laufend, die Leiter herab.

- Jljitsch! .... schrie sie. Akulina ließ das Kind aus den Händen fallen. — Hat sich erhängt! brüllte die Tischlersfrau.

Akulina rannte hinaus in den Flur, ohne zu bemerken, daß das Kind sich wie ein Ball umrollte und mit den Füßen nach oben in's Wasser tauchte.

— Am Balken hängt er! rief die Tischlersfrau, hielt aber inne, als sie Akulina erblickte.

Akulina stürzte

nach der Leiter,

lief, ehe man sie zurückhalten

konnte, hinauf und mit einem- furchtbaren Schrei sank sie wie todt auf

die Leiter hin und würde sich unfehlbar todtgeschlagen haben, wenn nicht die aus allen Ecken herbeilaufenden Leute sie gehalten hätten.

Einige'Minuten war in dem allgemeinen Wirrwarr nichts zu unter­

scheiden.

Eine Masse Volk war zusammengelaufen,

Alle schrieen,

sprachen, die Kinder und die alten Weiber weinten. sinnungslos.

Alle

Akulina lag be­

Endlich gingen der Tischler und der herbeigekommene Ver­

walter hinauf; die Tischlersfrau erzählte zum zwanzigsten Male, wie sie, an nichts denkend, nach ihrer Pelerine gegangen:

hin, da steht ein Mann. neben, seine Füße baumeln.

„Mit eins sehe ich

Ich sehe, eine umgewendete Mütze liegt da­ Da überlief's mich eisig.

da hat sich Jemand erhängt und ich muß das sehen!

gekollert bin, weiß ich selbst nicht recht.

Eine Kleinigkeit! Wie ich herunter­

Es ist ein Wunder, wie mich

Paul.

122 Gott gerettet.

Kleinigkeit das! so steil, so

Eine wahre Gnade Gottes.

hoch, ich wäre sicher des Todes gewesen." Die Leute, die hinauf gegangen waren, erzählten dasselbe.

Paul

hing am Balken in bloßem Hemd und Unterhosen, an demselben Strick,

den er von der Wiege abgenommen hatte.

Seine umgewendete Mütze

lag daneben; den Kittel und den Pelz hatte er abgenommen und hübsch ordentlich neben sich hingelegt.

Die Füße reichten bis an den Boden,

doch war kein Leben-Reichen an ihm zu bemerken.

Akulina kam zu sich

und wollte wieder die Leiter hinauf, aber man ließ sie nicht. — Mamaschen! Mamaschen!

Semka hat sich verschluckt! quiekte

plötzlich hinter dem Verschlag das mit der Zunge anstoßende Mädchen. Akulina riß sich los und lief hin.

Das Kind lag, ohne sich zu

rühren, auf dem Gesicht im Troge und auch die Füßchen rührten sich

nicht.

Akulina griff es heraus, aber das Kind athmete nicht und be-

wegte sich nicht.

Akulina warf es auf das Bett, und ihre Hände auf­

stützend brach sie in ein so lautes, helles und furchtbares Gelächter aus,

daß Mariechen, die erst auch zu lachen anfing, sich die Ohren zuhielt und jammernd auf den Flur hinauslief.

heulend und weinend. war vergebens.

Die Leute drängten sich herbei,

Man trug das Kind hinaus, rieb es, aber Alles

Akulina wälzte sich auf dem Bett herum und lachte in

einer Weise, daß es Alle, die es hörten, mit Grauen erfüllte.

Jetzt

erst, wenn man diesen bunten Haufen von alten Männern und Kindern sah, die sich im Flur zusammendrängten, hatte man einen Begriff, wie

viel und was für Volk im Gesindeflügel beisammen wohnte.

Alles war

geschäftig, Alles sprach durcheinander, Viele weinten und Niemand that etwas.

Die Tischlersfrau fand immer noch Leute, die ihre Geschichte nicht

gehört hatten und erzählte von neuem, wie ihre zarten Sinne von dem unerwarteten Anblick getroffen und wie Gott sie vor dem Leitersturz ge­ rettet.

Der alte Mundschenk, mit der Kazawaika seiner Frau bekleidet,

erzählte, wie zu Lebzeiten des seligen Herrn eine Frau sich im Teiche er­ tränkt hatte.

Der Verwalter sendete Boten an den Bezirkspolizeicom-

miffar und den Geistlichen, und ließ eine Wache hinstellen.

Das Haus­

mädchen Axiutka blickte mit aufgerissenen Augen durch eine Ritze nach

dem Boden und obgleich sie dort nichts sah, konnte sie sich doch nicht

losmachen, um zur Herrin zu gchen.

Agafia, das ehemalige Stuben-

Mädchen der alten Herrin, bat um Thee zur Beruhigung ihrer Nerven

und lveinte.

Großmütterchen Anna legte mit ihren geübten, dicken und

ölgetränkten Händen die kleine Leiche auf den Tisch.

standen Aknlina und blickten schweigend auf sie.

Die Frauen um­

Die Kinder drückten

sich in eine Ecke, sahen auf die Mutter hin, fingen an zu heulen, ver­

stummten darauf, sahen wieder hin und drückten sich noch ängstlicher aneinander.

Die Jungen und die Männer drängten sich an der Treppe,

sahen mit erschrocknen Mienen nach den Thüren, nach den Fenstern und

da sie nichts sahen und nichts begriffen, fragten sie einander, was vor­ Der Eine sagte, der Tischler habe seiner Frau mit dem Beil

gefallen.

der Andere, die Waschfrau habe Drillinge ge­

den Fuß abgeschlagen,

boren, ein Dritter erzählte, die Katze des Kochs sei toll geworden und

habe die Leute gebissen.

Nach und nach aber verbreitete sich die Wahr­

heit und gelangte endlich zu den Ohren der Herrin.

Man hatte sie nicht

einmal vorbereiten können; der rohe Verwalter meldete es ihr schlechtweg

und erschütterte die Nerven der gnädigen Frau dermaßen, daß sie sich

Die Menge fing schon an, sich zu beruhigen.

lange nicht erholen konnte.

Die Tischlersfrau bereitete ihren Thee, wobei die Anwesenden, nicht einlud, es unangemessen fanden, länger zu bleiben.

hörte:

an auseinander zu gehen, als man plötzlich

„Die gnädige Frau!

Die gnädige Frau!" Und wieder drängten

sich Alle zusammen, um ihr Platz zu machen.

was sie thun würde.

den

Flur

Auch wollten Alle sehen,

Die gnädige Frau trat bleich, verweint, durch

in Akulina's

Verschlag.

drängten sich an der Thür.

Eine Menge zuschauender Köpfe

Eine schwangere Frau wurde so gedrückt,

daß sie auffchrie, denselben Umstand aber sich und einen Platz vorn gewann.

können,

Die Jungen

Alle wußten bereits, was vorgefallen, be­

balgten sich auf der Treppe. kreuzten sich und fingen

die sie

gleich zu Nutze machte

Wie hätte man sich aber auch versagen

die gnädige Frau bei Akulina zu sehen!

Das war für das

ganze Gesinde wie bengalisches Feuer am Schluffe eines Schauspiels. Es

muß hübsch sein, wenn erst das bengalische Feuer angebrannt wird und

es muß hübsch sein, wenn die gnädige Frau hi Seide und Spitzen zu Akulina kommt.

Die gnädige Frau trat zu Akulina hin und faßte sie

an der Hand; Akulina

aber riß die Hand los.

Gesinde schüttelten mißbilligend den Kopf.

Die alten Leute vom

121

Paul. — Akulina! sagte die Herrin: du hast Kinder, schone dich. Akulina lachte und erhob sich.

— Ich habe Kinder, lauter silberne, silberne Kinder, Papierchen mag ich nicht, rief sie hastig durcheinander. nimm

kein Papier.

Hab's dem Jljitsch gesagt:

Und da haben sie ihn angeschmiert mit Theer.

Mt Theer und mit Seife, gnädige Frau.

Das heilt Alles ....

Und von neuem lachte sie noch heftiger auf.

Die gnädige Frau wandte sich um und verlangte den Feldscheer mit einem Senfpflaster.

Gebt kaltes Wasser! sagte sie und wollte selbst das Wasser holen. Da erblickte sie das todte Kind, vor welchem Großmütterchen Anna

stand.

Sie wandte sich ab und Alle sahen, wie sie das Gesicht mit dem

Tuche zuhielt und in Thränen ausbrach.

Großmütterchen Anna aber

(schade, daß die gnädige Frau das nicht beinerkte, sie hätte das gewür­ digt, auch geschah dies Alles ja um ihretwillen) bedeckte das Kind mit einem Stück Leinwand, legte ihm das Händchen zurecht und schüttelte so sehr den Kopf, verzog so sehr die Lippen, blinzelte so sentimental mit

den Augen und seufzte so tief, daß Jeder ihr schönes Herz erkennen konnte; aber die gnädige Frau sah das nicht und konnte nichts sehen. Sie schluchzte, besam einen Nervenkrampf und wurde an den Armen hinaus in den Flur, an den Armen nach Hause geführt.

„Das war

Alles, was man von ihr hatte!" dachten Mehrere und gingen ausein ander.

Akulina lachte in Einem fort und sprach Unsinn.

sie in ein andres Zimmer,

Man brachte

ließ ihr zur Ader, belegte sie mit Senf­

pflaster, mit Eisumschlägen am Kopfe; aber nichts brachte sie zu Ver­

stände.

Sie weinte nicht, sondern lachte und sprach und machte solche

Dinge, daß die guten Menschen, die sie pflegten, sich nicht enthalten konnten, gleichfalls zu lachen.

XII. Es war kein froher Feiertag im Gesindehofe von Pokrowskoje.

des schönen Wetters gingen die Leute nicht spazieren. schickten sich nicht an zu singen.

Trotz

Die Mädchen

Die Fabrikjungen, die aus der Stadt

gekommen waren, spielten weder Harmonika noch Balalaika, noch unter­ hielten sie sich mit den Dirnen.

Alle saßen hinter ihren Verschlügen

und wenn sie sprachen, so thaten sie es leise, als wäre irgend ein böser Geist zugegen, der sie hören könnte.

Den Tag über »var's noch nichts;

doch Abends, als es dunkel wurde, da fingen die Hunde an zu heulen

und

unglücklicher Weise erhob sich ein heftiger Wind,

der durch die

Essen pfiff: da befiel alle Bewohner des Gesindehofes eine solche Angst, daß,

wer Kerzen hatte, sie vor den Heiligenbildern anbrannte.

Wer

allein in seinem Winkel war, ging zu den Nachbarn und bat, in Ge­ sellschaft mit ihnen die Nacht zubringen zu dürfen.

Wer in den Vieh­

stall sollte, unterließ es und nahm sich nicht zu Herzen, daß das Vieh

in dieser Nacht ohne Futter blieb.

Das

Jeder in einer Blase aufbewahrte,

wurde in dieser Nacht verbraucht.

ganze geweihte Wasser, das

Viele wollten gehört haben, wie die ganze Nacht Jemand mit schweren Schritten auf dem Boden umherging und der Schmied sah eine Schlange

geradauS nach dem Boden fliegen.

In Paul's Winkel war Niemand.

Die Kinder und die Wahnsinnige hatte mail an andere Orte gebracht. Dort lag nur die kleine Leiche und zwei alte Weiber und eine Pilgerin

waren zugegen,

die in

ihrenl Eifer nicht sowohl über das Kind, als

wegen dieses ganzen Unglücks den Psalter las. Frau gelvünscht.

So hatte es die gnädige

Diese beiden Alteil uiib die Pilgerin hörten mit eignen

Ohren, wie beim Ansang eines jeden Psalms oben auf dem Boden der Balken zitterte und Jemand zu stöhnen anfing.

Gott erstehe" ivurde Alles ivieder still.

Bei deil Worten „Daß

Die Tischlersfrau bat ihre Ge­

vatterin zu sich und trank in jener Nacht, da sie nicht schlafen konnte

mit ihr den ganzen Thee aus, mit dein sie sich für eine Woche versehen

hatte.

Auch sie hörten die Balken obeil krachen und ein Geräusch, wie

wenn Säcke herabfielen.

Die Wache haltenden Bauern errnuthigten noch

einigermaßen das Gesinde, sonst wären Alle in jener Nacht vor Schrecken

gestorben.

Die Wächter lagen im Flur auf Heu und versicherten her­

nach, auch sie hätten Wunder auf dem Boden vorgehen hören, obgleich

sie sich die Nacht ruhig unterhielten, voll den Rekruten sprachen, Brod

aßen, sich kämmten Mld vor allen Dingen den Flur mit einem eigen­ thümlichen Geruch erfüllten,

so daß

die Tischlersfrau, die an ihnen

vvrbeiging, ausspuckte und sie „dumme Bauern" schalt.

Dem sei nun,

tote ihm wolle, Paul hing noch immer auf dem Boden und übte in jener

Nacht wie ein böser Geist seine Macht über den ganzen Gesindeflügel;

m

Paul.

wenigstens beschäftigte er die Leute mehr, als er es jemals im Leben Ich weiß nicht, ob sie Recht hatten, sich zu fürchten, ich glaube

gethan.

sogar, sie hatten durchaus keinen Grund dazu.

Ich glaube, wenn ein

Beherzt« in jener grausigen Nacht eine Kerze oder eine Laterne an­

brannte, und nachdem er sich bekreuzt oder auch nicht bekreuzt, auf den Boden gegangen wäre, mit dem Schein des Lichtes langsam die Schrecken der Nacht zerstreute,

die Balken, den Sand,

den mit Spinnewebe be­

deckten Schornstein und die von der Tischlersfrau zurückgelassene Pele­

rine beleuchtete, an Paul herantrat und ohne sich dem Gefühle

der

Angst hinzugeben, die Laterne an das Gesicht des Todten emporhob,

«

würde da

die bekannte

hagere

Gestalt

gesehen

haben,

die

Füße

auf dem Boden stehend (der Strick hatte sich gesenkt), leblos, seitwärts geneigt, mit aufgeknöpftem Hemd, unter welchem das Kreuz fehlte, den Kopf auf die Brust gesenkt und das gutmüthige Gesicht mit den offenen, lichtlosen Augen, die sanft und schuldvoll lächelnde Miene, die strenge

Ruhe

und

die allgemeine Stille.

die Ecke ihres Bettes gedrückt, mit nen Blicken

Wahrhaftig, die Tischlersftau, an zerzausten Haaren, mit erschrocke­

wie sie Säcke fallen höre,

erzählend,

war weit grauen­

hafter als Paul, obgleich dessen Kreuz abgenommen war und auf dem

Balken lag. „Oben", d. h. bei der gnädigen Frau herrschte gleicher Schrecken, wie im Gesindeflügel.

Das Zimmer der Gnädigen roch nach Eau de

Cologne und AM«.

Dunjascha machte gelbes Wachs warm und be­

reitete eine Salbe.

Wozu diese Salbe gebraucht wurde, weiß ich nicht;

aber sie wurde stets bereitet, wenn die gnädige Frau krank war und diesmal war letztere bis zum Kranksein erschüttert.

Zu Dunjascha hatte

sich , um chr Muth zu machen, auf die Nacht ihre Tante gesellt.

Mit

dieser, dem zweiten Stubenmädchen und Axiutka saß sie im Mädchen­ zimmer; sie unterhielten sich leise.

— Wer wird Oel holen? sagte Dunjascha.

— Ich

gehe

um

keinen Preis,

versetzte

entschieden

das

zweite

Mädchen. — Ei doch! geh zusammen mit Axiutka. — Ich laufe allein danach, ich fürchte nnch nicht, sagte Axiutka, bekam ab« gleich Angst.

127

Paul.

— So geh, du gescheites Mädel, erbitt' es dir von Großmütter­

chen Anna in einem Glase und bring's her, mußt aber nicht vergießen, sagte Dunjascha.

Axiutka nahm mit der einen Hand ihren Rock auf und obgleich sie in Folge

dessen nicht mehr beide Hände schwenken konnte,

machte

sie dafür mit der einen Hand eine desto lebhaftere Querbewegung und

eilte davon.

Es war ihr bange zu Muthe und sie fühlte, daß, wenn

sie etwas sehen oder hören sollte, und wäre es selbst ihre eigene lebendige Mutter , sie vor Angst umkommen würde.

Sie blinzelte die Augen zu

und flog über den bekannten Steg dahin.

XIII. — Schläft die gnädige Frau oder nicht? fragte plötzlich in der

'Rähe Axiutka's eine tiefe Bauernstimme.

Axiutka öffnete die Augen und erblickte eine Gestalt, die ihr das Haus zu überragen schien.

Sie stieß einen Schrei aus und jagte zurück,

so daß ihr Unterrock ihr nicht nachkonnte.

Mit einem Sprung war sie

auf der Treppe, mit dem andern im Mädchenzimmer und mit wildem Geheul warf sie sich auf's Bett.

Dunjascha, ihre Tante und das andere

Mädchen erstarrten vor Schrecken; aber noch ehe sie sich besannen, ließen sich schwere, langsame und ungewiffe Schritte im Flur an der Thüre

hören.

Dunjascha stürzte nach dem Zimmer der gnädigen Frau und

ließ die Salbe fallen.

Das zweite Stubenmädchen versteckte sich hinter

den an der Wand hängenden Unterröcken. war, wollte die Thür zuhalten, Bauer trat herein.

Die Tante, die entschlossener

aber die Thür öffnete sich, und ein

Es war der alte Dutlow in seinen Kähnen.

Ohne

die Angst der Mädchen zu beachten, suchte er mit den Augen nach einem Heiligenbild und da er das kleine Bildchm, das in der linken Ecke hing, nicht gewahrte, bekreuzte er sich vor dem Geschirrschrank, legte die Mütze

in's Fenster und

indem er die Hand tief in seinen kurzen Schafpelz

steckte, zog er einen Brief mit fünf braunen Siegeln hervor, die einen

Anker darstellten.

Dunjascha's Tante faßte sich ein Herz.

Mit Mühe

sprach sie: — Wie Ihr mich erschreckt habt, Dutlow, hervorbringen, glaubte richtig, ich sei des Todes.

ich kann kein Wort

128

Paul. — Wie kann man nur? sagte das zweite Mädchen, sich unter den

Röcken hervorbeugend.

— Anch die gnädige Frau hast du erschreckt, sagte Dunjascha, zur Thür hereintretend.— Was drängt er sich ungenlsen in's Mädchenzimmer?

Er Bauernflegel!

Dutlow wiederholte, ohne sich zu entschuldigen, daß er die gnädige Frau sprechen müsse.

— Sie ist unwohl, sagte Dunjascha. In diesem Augenblick platzte Axiutka mit einem so unanständigen,

lauten Gelächter heraus, daß sie den Kopf wieder in die Kissen werfen mußte, aus denen sie noch eine ganze Stunde trotz aller Drohungen

Dunjascha's und der Tante sich nicht wieder erheben konnte,

ohne von

neuem loszuplatzen, als wenn ihr die Rosabrnst und die rothen Backen sprängen.

Es kam ihr so lächerlich vor, daß Alle

erschrocken waren

und immer wieder barg sie den Kopf und wie in Zuckungen zappelte sie mit dem Schuh und hüpfte mit dem ganzen Leibe.

Dutlow hielt inne und betrachtete sie aufmerksam, als wollte er sich klar machen, was mit ihr vorgehe; da er aber nicht herausbekam,

um was es sich handelte, wendete er sich ab und sprach weiter. — Das heißt, ich habe eine sehr wichtige Sache, sagte er: meldet

nur, ein Bauer habe einen Brief mit Geld gefunden.

— Was für Geld? Dunjascha las, ehe sie meldete,

die Adresse und fragte Dutlow,

wo und wie er dieses Geld gefunden habe, welches Paul aus der Stadt

zu bringen hatte.

Nachdem sie Alles genau erfahren und die närrische

Axintka, die nicht aufhörte, herauszuplatzen, in den Flur hinausgejagt, begab sie sich zur Herrin.

Diese aber nahm gleichwohl Dutlow zu sei­

nem Erstaunen nicht an und sprach sich gegen Dunjascha in keiner Weise deutlich aus.



Ich weiß nichts, sagte die gnädige Frau, und will nicht wissen,

was das für ein Bauer ist und was das für Geld ist.

will Niemand sehen.

Ich kann und

Er soll mich in Ruhe lassen.

— Was mach' ich nun? sagte Dutlow, das Couvert umwendend: das ist keine kleine Summe.

Was ist denn darauf geschrieben? fragte

er -Dunjascha, die ihm wiederholt die Adresse vorlas.

Dem alten Dutlow schien die Sache noch immer nicht recht glaub­ Er dachte sich, das Geld gehöre vielleicht nicht der gnädigen Frau

haft.

und die Adresse habe man ihni falsch gelesen; aber Dunjascha bestätigte ihm die Richtigkeit.

Er seufzte, steckte das Couvert ein und war im

Begriff zu gehen. — Da muß ich es wohl dem Polizeicommiflar übergeben, sagte er.

Dunjascha hielt ihn zurück. — Warte, ich will es noch einmal versuchen, sagte sie, indem sie

aufmerksam dem im Pelze des Bauern verschwindenden Couvert nach­

blickte. — Gieb mir den Brief. Dutlow holte denselben wieder hervor,

übergab ihn jedoch nicht

gleich der ausgestreckten Hand Dunjascha's.

— Sagt nur, Semen Dutlow hab's auf dem Wege gefunden. — Gieb doch her! — Erst dachte ich, es wäre ein bloßer Brief; aber ein Soldat las

nnr's vor, daß Geld darin sei. — So gieb doch her! — Ich getraute mir nicht damit nach Hause zu gehen,

sprach

Dutlow weiter, ohne sich von dem kostbaren Couvert zu trennen: das meldet.

Dunjascha nahm ihm endlich den Brief aus der Hand und begab sich noch einmal zur gnädigen Frau.

— Ach, mein Gott, Dunjascha! sagte die gnädige Frau mit vorivurfsvollem Tone: sprich mir nicht von diesem Gelde!

Wenn ich nur

an das Kind denke..........

Der Bauer, gnädige Frau, weiß nicht, wem er das Geld über­ geben soll, sagte Dunjascha/ Die Herrin öffnete den Brief, erbebte, als sie das Geld sah und

wurde nachdenklich. — Schreckliches Geld!

Wie viel Unheil schafft es! sagte sie.

— Es ist der Dutlow, gnädige Frau.

Befehlen Sie, daß er gehe

oder wollen Sie ihn sprechen? Fehlt nichts am Gelde? fragte Dunjascha. — Ich will dieses Geld nicht, das ist schreckliches Geld; was hat

es angerichtet!

Sag' ihm, er soll es behalten, wenn er will, rief plötz­

lich die Herrin, nach Dunjascha's Hand langend. — Ja, ja, wiederholte HeflWe Kellie. 11. ». Heft. 1863.

9

PWl.

M

sie per erstaunten Duniascha: mqg er's ganz an sich nehinen und damit

machen, tvas er will. — Es sind 1500 Rubel, bemerkte Dunjascha mit leisem Lächeln,

Wie wenn sie zu einem Kinde redete. — Mag er Alles an sich nehmen! wiederholte Ungeduld^ die Herrin. — Wie, du pexstchst wich nicht? mals davon.

Das ist Unglücksgeld, rede mir nie­

Mag's der Bauer behalten, der es gesunden hat.

Geh.

Gp geh doch! Duyjascha ging zurück iu's Mädchenzimmer. — Nun, fehlt nichts? fragte Dutlow. — Magst selber nachzähleu, sagte Dunjascha, indem sie ihm den

Brief überreichte: ich soll es dir zurückgeben.

Dütsvw nahm dje Mütze unter den Arm Md sich vorbeugend fing er zu zählen an. — Zst kejn Rechnenbrett da?

Dutlow dachte, daß die Herrin nicht zählen köflM und daß er das

thun solle. — Zähl's zu Hause nach:

das Geld ist dein,

sagte Dunjascha

zornig. — Ich will's nicht scheu, hat die gnädige Frau gesagt, giebs dem, der es gchracht hat. Dutlow Mete, ohne sich aufznrichten, die Augen auf Dunjascha.

Die Tante Dunjascha's schlug die Hände zusammen. — Ach, du mein Herr und Heiland!

Ist das ein Glück!

Pas zweite Stubenmädchen wollte es nicht glauben. — Sie scherzen doch nicht?

— Was, scherzen!

geben.

Sie befahl, das Geld dem Bauer zurückzu­

So nimm's und geh! sagte Dunjascha,

ihren Verdruß nicht

bergend- — Der Muss hat Elend, der Andere hat Glück. — Eine Kleinigkeit, 1500 Rubel! bemerkte die Tante.

— Noch drüber, versetzte Dunjascha- — Nun kannst du dem heiligen Nikolas zu Ehren eine Zehnkopekenkerze anbrennen,

fort. — Kommst du noch nicht zur Besinnung?

Armer wäre!

fuhr sie höhnisch

Uyd wenn's noch ein

Aber der hat ohnehin Geld genug.

Dutlow begriff endlich, daß es kein Scherz war, nahm das Geld, welches er zu zählen angefangen, zusammen und legte es in das Couvert;

Paul.

1dl

aber seine Hände zitterten und er sah immer noch auf Vie Mädchen hin,

nm sich zu überzeugen, daß sie ihn nicht zum Besten hätten.

— Seht, er kommt vor Freuden nicht zur Besinnung, sagte Dunlascha, indenl sie zu verstehen gab, daß sie sowohl den Bauer als das

Geld verachte.

- Ich will dirs hineinlegen.

Sie wollte nach dem Gelde greifen, aber Dutlow gab's nicht.

Er

raffte das Geld zusammen, schob es noch tiefer hinein und nahm seine

Mütze.

— Freust du dich? — Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Er sprach nicht aus,

Das ist ja geradezu ...

machte nur eine Bewegung mit der Hand,

lächelte, obgleich ihm die Thränen nahe waren und trat hiNMs.

Im

Zimmer der gnädigen Frau klingelte es. — Hast du's ihm zurückgegeben? Ja wohl, gnädige Frau. — Nun, hat er sich gefreut?

— Er war ganz von Sinnen. — Ach, ruf' ihn doch her, ich will ihn fragen, wie er es gefunden.

Ruf' ihn her, ich kann nicht hinaus.

Dunjascha lief dem Bauer nach und traf ihn noch im Flur.

Er

hatte eben, ohne die Mütze aufzusetzen, seinen Beutel hervorgezogen und öffnete denselben, während er das Geld zwischen den Zähnen hielt.

Er

mochte vielleicht glauben, daß das Geld so lange nicht sein wäre, bis

er es im Beutel hätte.

Als ihn Dunjascha rief, erschrak er.

— Die gnädige Frau will es doch nicht zurückhaben? Legen Sie

doch ein Wort für mich ein.

Bei Gott, ich will Ihnen Honig zum Ge­

schenk bringen.

— Das könntet Ihr thun.

Wieder ging die Thür geführt.

auf und der Bauer wurde zur Herrin

Ihm war nicht froh zu Muthe.

O weh!

Sie holt's zurück!

dachte er und hob dabei in einem unwillkürlichen Gefühle seinen Fuß,

wie Jemand, der über hohes Gras dahin geht, während er sich Muhe gab, mit seinen Bastschuhen kein Geräusch zu machen, als er durch die Zimmer schritt.

Er begriff nichts und sah nichts, was um ihn vorging.

Er kam an dem Spiegel vorbei, sah gewisse Blumen, die Gestalt eines

9*

Paul.

132

Bauers in Bastschuhen , der die Füße in die Höhe hebt, das Portrait eines Herrn mit Augenglas, etwas wie ein grünes Fäßchen und etwas Weißes.

Siehe, plötzÜch spricht dieses Weiße.

Es ist die gnädige Frau.

Er konnte nichts unterscheiden und riß die Augen auf, er wußte nicht,

wo er war, und Alles lag vor ihm wie im Nebel.

— Bist du's, Dutlow? — Ich bin's, gnädige Frau.

Wie es war, so habe ich es unbe­

rührt gelassen, sagte er. — Ich schwöre Ihnen bei Gott, bin hergeeilt, daß ich das Pferd zu Schanden jagte.

— Nun,

du hast Glück,

sagte sie mit verächtlich gutmüthigem

Lächeln. — Da, nimm's an dich. Er riß die Augen immer weiter auf.

— Ich freue mich, daß er dir zufällt. Mag dir's zu gute kommen. Nun, bist du froh? T- Wie sollte ich nicht?

Ich bin so froh, Mütterchen, so froh,

werde immer zu Gott für Sie beten.

Ich bin so froh, daß, Gott Lob

und Dank, unsere gnädige Frau lebt........... — Wie hast du's aber gefunden? — Wir haben uns immer redlich Mühe gegeben für die gnädige

Frau, nicht etwa, daß.......... — Er ist schon ganz wirr, gnädige Frau, sagte Dunjascha.

— Hatte meinen Neffen zu den Rekruten gebracht, fuhr zurück und unterwegs fand ich es.

Paul muß es haben fallen laffen.

— So geh, geh, mein Bester.

Es ist mir lieb.

— Ach, wie bin ich froh, Mütterchen! sagte der Bauer.

Hernach fiel es ihm ein, daß er nicht gedantt und sich nicht so be­ nommen habe, wie es sich schickte.

Die Herrin und Dunjascha lächelten

und er schritt wieder hinaus, wie zuvor, als ob er über Gras ginge. Kaum , daß er sich halten konnte, nicht in Trab zu kommen.

Es war

ihm immer noch, als würde man ihn zurückrufen und ihm das Geld

wieder abnehmen.

XIV. Als Dutlow im Freien war, ging er vom Wege seitab an die

Linden und gürtete sich los,

um leichter den Beutel hervorzulangen.

Dann legte er das Geld hinein.

auseinander,

Er bewegte die Lippen und zog sie

ohne jedoch einen Laut von sich zu geben.

Nachdem er

das Geld hineingelegt und den Gurt wieder unlgebunden hatte, bekreuzte

er sich und ging wie ein Betrunkener in weiten Bogen über den Steg, so sehr war er mit den ihn bestürmenden Gedanken beschäftigt.

Plötzlich

sah er vor sich die Gestalt eines Bauers, der ihm entgegen kam.

Er

rief ihn an: es war Jefim, der am Gesindeflügel als Wache mit einem

Knittel in der Hand auf- und abging. — Ei, Onkel Dutlow! rief Jefim freudig, indem er näher trat. (Es war ihm unheimlich, allein zu sein.)

Habt Ihr die Rekruten fort­

gebracht, Onkel?

— Ja wohl.

Was machst du hier?

— Ich stehe hier Wache bei dem erhängten Paul.

— Wo ist er denn? — Auf dem Boden soll er härlgen, antwortete Jefim, indem er

mit dem Knittel in der Dunkelheit nach dem Dache des Nügels zeigte.

Dutlow sah nach der angedeuteten Richtung und obgleich er nichts wahrnahm, runzelte er doch die Stirn, blinzelte mit den Augen und

schüttelte den Kopf.

— Der Kutscher sagte, der Polizeicommiffar sei gekommen, versetzte Jefim. — Man wird den Erhängten gleich abnehmen.

Es graust Einen

doch in der Nacht, Onkel. Ich ginge um keinen Preis hinauf. Und wenn Jegor Mchailowitsch mich todtschlägt, ich gehe nicht hinauf. — Welche

Sünde!

Welch große

Sünde!

wiederholte

Dutlow,

offenbar Anstands halber, ohne an das, was er sprach, zu denken, und

wollte seines Weges gehen; aber die Stimme Jegor Mchailowitsch's hielt

ihn zurück.

— Heda, Wächter, komm her! rief der Verwalter von der Treppe. Jefim gab Antwort.

— Wer war der Bauer, der eben bei dir stand?

— Dutlow.

— Du, Semen, komm auch du her! Als Dutlow sich näherte, erkannte er beim Licht der Laterne, welche

der Kutscher trug,

den Verwalter

und einetl

kleinen in den. Mantel

134

Paul.

gchWen. Beamten, der eine Mütze mit einer Kokarde anfhatte.

Das

war der Bezirkspollzeicommiffar.

— Da, der Alte geht auch mit uns, sagte Jegor Michailowitsch, als er Duüvw erblickte.

Der We verzog das Gesicht; aber da war nichts zu machen. — Und du, junger Kerl, lauf mal nach dem Boden, wo er sich

erhängt hat und rücke die Leiter zurecht, daß der Herr Eommiffar hin­ auf kann, sagte der Verwalter zu Jefim.

Jefim, der noch eben becheuert hatte, um keinen Preis sich dem Flügel M nähern., lief hurtig dahin, mit seinen Bastschuhen wie mit Holzblöcken aufklopfend. eine Pfeife an.

Der Polizeicommissar schlug Feuer mtb rauchte

Er wohnte zwei Werst, vom Dorfe entfernt und hatte

nur erst vom Kreisrichter einen schweren Verweis wegen Trunkenheit erhalten.

Darum befand er sich jetzt in einem Anfall von Diensteifer.

Um zchtz Uhr Abends war er angekornrnm und wollte sofort den ErJegor Michailowitsch fragte den alten Dutlow, wes­

hängjen beschauen.

halb er hier sei.

Auf dem Wege erzählte dieser dem Verwalt« von

dem gefundenen Gelde und was die Herrin gethan.

Dutlow sagte, er

sei gekommen, Jegor Michailowitsch um Erlaubniß zu fragen

Der

Verwalter ließ sich zum Schrecken Dutlow's das Couvert gehen und be­

trachtete es.

Der Polizeicommiffar nahm das Couvert ebenfalls in die

Hand und fragte kurz und trocken nach den einzelnen Umständen. — Na, mein Geld ist verloren! dachte Dutlow und fing, an, sich

zu entschuldigen; aber der Polizeicommiffar gab ihm das Geld zurück mit den Worten: — Welches Glück der graulatschige Kerl hat! — Es kommt ihm zu Paffe, sagte Jegor Michailowitsch. — Er hat eben seinen Neffen unter die Rekruten gebracht.

Jetzt kann er ihn los­

kaufen.

— Äh, so! sagte der Polizeicommiffar und ging voran.

— Willst du Jljuschka loskaufen? sagte Jegor Michailowitsch. — Loskaufen?

Reicht auch das Geld?

Und vielleicht ist es schon

zu spät.

— Me du meinst,

Pdltzeieommiffür.

sagte der Verwalter und Beide folgten dem

Sie kämen nach deck Flügel, in bessert Flur die riechenden Wächter mit der Laterne harrten. Dutlow ging hinter ihnen her. Die Wichtet hatten eine schuldige Miene, die sich allenfalls nur auf den von ihnen verbreiteten Geruch beziehen konnte, da sie sonst nichts Usbles gethan hattm. Alle schwiegen. — Wo? fragte der Commissar. — Hier, sagte flüsternd Jegor Michajlowitsch. Jesim! setzte er hinzu: du junger Kerl, geh voran mit der Laterne. Jefim, der oben schon die Bohle befestigt hatte, schien alle Angst verloren zu haben. Zwei, drei Stufen überspringend, eilte er mit hei­ terem Gesicht voran, indem er sich nur umsah und mit der Laterne dem Polizeicommiffar leuchtete. Hinter diesem ging Jegor Michailowitsch. Als sie verschwunden waren, setzte Dutlow erst den einen Fuß auf die Stufe, seufzte auf und blieb stehen. Ein paar Minuten vergingen, man hörte keine Schritte mehr auf dem Boden; sie mußten an den Leichnam herangetreten sein. — Onkel! Du wirst gerufen! schrie Jefim durch die Oeffnung. Dutlow stieg hinauf. Der Commissar und Jegor Michailowitsch waren beim Licht der Laterne nur mit dem Obevtheil ihres Körpers jenseit des Balkens zu sehen. Hinter ihnen stand noch Jemand mit zu­ gewendetem Rücken. Das war Paul. Dutlow stieg über den Balken und blieb sich bekreuzend stehen. — Wendet ihn doch 'mal um! sagte der Commissar. Niemand rührte sich. — Jefim, du junger Kerl! sagte Jegor Michailowitsch. Der „junge Kerl" schritt über den Balken, Wandte Päul uck und stellte sich daneben, indem er mit dem heitersten Blick bald Paul, bald den Beamtert ansah,, wie ein Schaubüdler, bet einen Albino ober eine Julia Pastrana zeigt, balb auf bas Publikum, balb auf sein Schaustück hinblickt, bereit, alle Wünsche der Zuschauer zu erfüllen. — Wende ihn noch einmal um. Paul wurde noch einmal umgewendet. Seine Arme bewegten sich leise und sein Fuß schleppte über den Sand. Nehmt ihü ab-

— Soll man ihn abschneiden? fragte Jegor Michajlowitsch. — Gebt eine Axt her. Den Wächtern und dem alten Dutlow mußte zweimal befohlen werden, daß sie Hand anlegten; der „junge Kerl" aber ging mit Paul wie mit einem abgezogenen Hammel um. Endlich wurde der Strick durch­ hauen, die Leiche abgenommen und bedeckt. Der Polizeicommissar sagte, morgen würde der Arzt eintreffen, und entließ die Leute. XV.

Dutlow ging, die Lippen bewegend, nach Hause. Erst war ihm peinlich zu Muthe; je mehr er sich aber dem Dorfe näherte, verlor sich dieses Gefühl und das der Freude durchdrang immer lebhafter seine Seele. Im Dorfe hörte man Singen und Stimmen von Betrunkenen. Dutlow trank niemals und begab sich auch jetzt gerades Weges nach Hause. Es war schon spät, als er in sein Haus eintrat. Seine Alte schlief. Der ältere Sohn und die Enkel lagen auf dem Ofen, der zweite Sohn in der Kammer. Nur Jljuschka's Weib schlief nicht. Sie saß in schmutzigem, nicht sonntäglichem Hemd, mit aufgelöstem Haar auf der Bank und weinte. Sie erhob sich nicht, dem Onkel die Thür aufzu­ machen, sondern heulte noch lauter, als er eintrat und sprach Trauerreden, was sie nach der Meinung der Alten sehr gut und fließend zu Stande brachte, obgleich sie bei ihrer Jugend darin noch keine Uebung haben konnte. Die Alte stand auf und brachte dem Mann Abendessen. Dutlow wies Jljuschka's Weib vom Tische. — Genug! genug! sagte er. Axinia erhob sich und legte sich auf die Bank, hörte aber nicht aus zu weinen. Die Alte deckte den Tisch schweigend und trug dann ab. Der Alte sprach auch kein Wort. Nachdem er sein Gebet ver­ richtet, wusch er sich die Hände, langte vom Nagel das Rechnenbrett herab und ging in die Kammer. Dort flüsterte er erst mit der Alten, worauf diese hinausging. Er klapperte mit dem Rechnenbrett, schlug end­ lich den Deckel eines Kastens zu und begab sich in das untere Gewölbe. Lange machte er sich in der Kammer und in dem Gewölbe zu schaffen. Als er wieder eintrat, war im Hause schon Alles dunkel, der Kienspahn brannte nicht mehr. Die Alte, am Tage in der Regel so still, daß

man sie gar nicht hörte, schnarchte von ihrem Lager durch das ganze

Haus.

Das lärmende Weib Jljuschka's schlief auch und athmete kaum

Sie war unausgekleidet auf der Bank eingeschlafen, ohne etwas

hörbar.

unter den Kopf gebreitet zu haben.

Dutlow sprach wieder ein Gebet, dann sah er auf Jljuschka's Weib hin, schüttelte den Kopf, löschte den Leuchtspahn, stieg auf den Ofen und legte sich neben seinen jungen Enkel.

auf dem Rücken liegend,

oben seine Bastschuhe ab und blickte, dem über

seinem Haupte

Ofens, horchte auf die

In der Dunkelheit warf er

kaum sichtbaren Gebälk

summenden

der Wand,

Käfer an

nach

an der Decke des

auf das

Schnarchen und Seufzen der Schlafenden, auf das Geräusch des Wehes

Der Mond ging auf, es

Er konnte lange nicht einschlafen.

im Hofe.

Er sah in der Ecke Axinia und noch etwas,

wurde heller in der Stube.

das er nicht unterscheiden konnte. des Sohnes oder ein Zuber, Jemand da?

wieder hin.

War es der zurückgelafsene Flausrock

den die Weiber hingestellt,

oder stand

Schlummerte er oder wachte er — genug, er sah immer

Offenbar reichte derselbe finstere Geist, der Paul zu seiner

schrecklichen That getrieben und dessen Nähe in jener Nacht das Ge­ sinde spürte, offenbar reichte derselbe Geist mit seinem Fittich auch in's

Dorf, auch in das Haus Dutlow's, wo jenes Geld lag, dessen er sich zu Paul's Verderben bedient hatte.

Wenigstens machte sich seine An­

wesenheit dem alten Dutlow fühlbar, der darüber sehr mißmuthig wurde; er konnte weder schlafen noch aufstehen.

Wie er dieses gewisse, für ihn

unbestimmbare Etwas erblickt hatte, fiel ihm Jljuschka mit den gebun­

denen Händen ein, dachte er an die beredten Klagen und Thränen Axinia's, an dm baumelnden Paul. mand am Fenster vorbei.

suchen wollen?"

Plötzlich war es dem Alten, als ginge Je­ „Wer ist das?

dachte er.

Sollte mich der Starost be­

„Wer hat ihm denn aufgemacht?

hat etwa meine Alte den Flur nicht geschloffen?"

Oder

Auf dem Hinterhofe

heulte der Hund und „Er" schritt durch den Flur, wie der Alte hernach

erzählte, als suchte „Er" die Thür, kam vorbei, tastete an die Wand, stolperte über das Fäßchen,

daß es dröhnte, und wieder tastete „Er"

herum, als wenn „Er" den Riegel suchte, und jetzt griff „Er" an den

Riegel.

Der Alte schauerte am ganzen Leibe.

Jetzt wurde der Riegel

zurückgeschoben und eine menschliche Gestalt trat herein.

Dutlow, der

Paul.

138

Mn wußte, daß „Er" es war, wollte das Zeichen des Kreuzes machen,

„Er" trat an den Tisch, auf welchem ein Tuch lag,

konnte aber nicht.

zog es herunter, warf es auf den Boden und stieg auf den Ofen.

„Er" fletschte die Zähne

Alte bemerkte, daß „Er" Paul's Gestalt hatte. und seine Hände baumeltm.

Der

Wie „Er" auf dem Ofen war, warf „Er"

fich gleich über den Alten und würgte ihn. — Mein Geld! sagte Paul.

— Laß mich los, ich will's nicht mehr! wollte Dütlow sprechen und konnte nicht. Paul drückte ihm mit der ganzen Schwere eines Msenberges die

Brust.

Dutlow wußte, daß wenn er ein Gebet hersagte, „Er" ihn los-

laffen würde, er wußte auch, welches Gebet;

über die Lippen.

aber es kam ihm nicht

Neben ihm schlief sein Enkel.

Der Knabe stieß einen

durchdringenden Schrei aus und weinte, der Großvater hatte ihn an die

Wand gepreßt.

Der Schrei des Knaben löste die Zunge des Men.

— „Daß Gott erstehe!" sprach Dutlow. Da ließ „Er" ihn ein wenig los — „und die Feinde zerstieben",

„Er" dm Ofm.

Da verließ

Dutlow hörte, wie „Er" mit beiden Füßen auf dm Dutlow sagte noch immer alle Gebete her, die er

Boden auffchlug.

kannte.

murmelte Dutlow.

„Er" trat an die Thür, am Tisch vorbei und Köpfte so heftig

an die Thür, daß das ganze Haus zitterte; doch schliefm Alle außer

dem Großvater und dem Enkel.

Der Großvater betete, am ganzen

Leibe zitternd, der Enkel weinte und drückte sich, indem er einschlief,

an dm Großvater. sich zu rührm. der Hahn.

Alles wurde wieder still.

Der Großvater lag, ohne

Hinter der Wand, dicht am Ohre Dutlow's krähete

Er hörte, wie die Hühner lebendig wurden, wie ein junger

Hahn dem altm nachkrähm wollte, aber nicht könnte. Dutlow's bewegte sich etwas: es war die Katze.

Zu dm Füßen

Sie sprang vom Ofm

herab auf ihre weichen Pfoten und miaute an der Thür. vater stand auf und öffnete das Fenster.

schmutzig.

Der Groß­

Draußen war es dunkel,

Der Borderwagm stand unter dem Fenster.

Barfuß und

sich bekreuzend trat Dutlow hinaus in den Hof zu dm Pferden. hier war es sichtbar, daß „Er" dagewesen.

Auch

Die Stute, die unter dem

Wetterdach an einem Vorsprung der Mauer stand, hatte sich mit dem Fuß in den Zugel verwickelt, die Spreu verschüttet und erwartete mit

aufgehobenem Fuße und zurückgebeugtem Kopf die Ankunft des Herrn. Das Fullen war in den Dünger gestürzt. Der Alte richtete es in die Höhe, wickelte die Stute los, schüttete Futter auf und ging in^s Hans zurück. Die Alte stand auf und bramte den Leuchtspahn an. — Wecke die Jungen! sagte er: ich fahre nach der Stadt. Und nachdem er vor dem Heiligenbild eine Wachskerze angezündet, begab er sich mit seiner Frau in das Untergewölbe. Als er wieder herauskam, brannte nicht mehr bei Dutlow allein, sondern auch bei allen' Nachbam Licht. Die Jungen waren aufgestanden und versammelten sich. Die Weiber kamen und gingen mit Eimern und Milchkannen. Jgnat spannte einen Wagen an, der zweite Sohn schmierte einen andern. Jljuschka's Weib heuUe nicht mehr;, sie hatte sich sauber angezogen, ein Tuch nmgebunden und saß auf der Bank in Erwartung der Stunde, wo sie nach der Stadt fahren sollte, von ihrem Manne Abschied zu nehmen. Der Alte, schien ganz besonders streng. Zu Niemand sprach er ein Wort, zog. feinen neuen Kaftan an, lungürtete sich, steckte das Geld Paul!s in die Busentasche und ging zu dem Verwalter. — Spute dich! rief er dem Jgnat zu, welcher die Räder aufge­ hoben und an der eingeschmierten Axe drehte. — Ich komme gleich wieder. Daß Alles fertig sei! Der Verwalter war eben aufgestanden, trank Thee und schickte sich auch an, zur Stellung der Rekruten nach der Stadt zu fahren. Was giebt's? fragte er. — Jegor Michajlowitsch! Ich. will meinen Jungen loskaufen. Thut mir den Gefallen. Jht sagtet mir neulich, daß Ihr in der Stadt einen Freiwilligen wüßtet. Belehrt mich, unsereins weiß das nicht. — Hast du dich endlich besonnen? — Ich, habe mich besonnen, Jegor Michailowitsch. Mch dauert meines Bruders Sohn. Wie er auch sei, er thut mir doch leid. Von diesem verwünschten Geld kommt viel Sünde. Seid so gütig und be­ lehrt mich, sagte er, sich tief bückend. Der Verwalter schmatzte, wie immer in solchen Fällen, lange tief­ sinnig und schweigend mit den Lippen; nachdem er Alles wohl über­ legt, schrieb er zwei Briefe und setzte Dutlow auseinander, wie und was in der Stadt zu thun sei.

140

Paul. Als Dutlow nach Hause zurückkam, war die junge Frau mit Jgnat

schon fortgefahren und die dickbäuchige scheckige Stute stand bereits an­

gespannt vor der Hausthür.

Dutlow brach aus dem Zaun eine Ruthe,

setzte sich in den Wagen und trieb das Pferd an.

Er jagte die Stute

dermaßen, daß ihr Dickbauch mit einem Male verschwunden war und

der Alte sie nicht ohne Mitleid ansehen konnte.

Ihn ängstigte der Ge­

danke, daß er sich bei der Stellung der Rekruten verspäten könnte, daß

Jljuschka unter die Soldaten käme und das Teufelsgeld in seinen Händen bleiben würde.

Ich will mich in keine genaue Beschreibung aller Abenteuer Dutlow'S an jenem Morgen entlassennur so viel, daß er ganz besonderes

Glück hatte.

Bei dem Wirth, an welchen ihm der Verwalter einen Brief

mttgegeben,

befand sich ein Freiwilliger, der sofort zur Stellvertretung

bereit war, schon 23 Silberrubel verzehrt hatte und vom Amte schon apprvbirt war.

Der Wirth wollte 400 Rubel für ihn haben und ein

Käufer, der seit drei Wochen sich um ihn bemühte, bot noch immer 300.

Dutlow machte das Geschäft mit zwei Worten ab. — Willst du 325? sagte er, die Hand ausstreckend, aber mit einem

solchen Ausdruck, daß man gleich merkte, er sei bereit, noch etwas zu­ zugeben. Der Mrth zog die Hand zurück und blieb bei seiner Forderung

von 400 Rubeln. — Willst du 325? wiederholte Dutlow, indem er mit der linken

Hand die des Mrthes ergriff und Miene machte, mit der rechten ein­ zuschlagen:

willst du nicht?

Nun, in Gottes Namen, sagte er schnell,

in die Hand des Wirthes einschlagend, wobei er sich umschwang und mit

dem ganzen Leibe von ihm abwendete. — Sei es drum, so nimm 350, stelle mir eine Quittung aus und bring den Jungen her! Hier haft du

Drangeld: sind 20 Rubel genug?

Und Dutlow gürtete sich los und langte das Geld hervor. Der Wirth zog die Hand zwar nicht zurück, zeigte sich aber noch

immer nicht ganz einverstanden, nahm das Drangeld nicht und wollte sich noch ausbedingen,

Freiwilligen tractire.

daß Dutlow was zum Besten gebe

und den



— Sündige nicht!

versetzte Dutlow,

- Mr sind sterbliche Menschen,

ihm

das Geld zuschiebend.

wiederholte er in so sanftem,

beleh­

Nun meinetwegen!

rendem und sicherm Tone, daß der Wirth ausrief:

noch einnial einschlug und zu beten anfing. — Sei es zu guter Stunde!

sagte er.

Der Freiwillige, der noch seit dem gestrigen Gelage schlief, wurde geweckt, gemustert und Alle begaben sich auf's Amt.

Der Freiwillige

ivar lustig, verlangte Rum, sich zu ernüchtern, wozu ihm Dutlow Geld gab, und erst in dem Augenblicke, wo sie den Flur der Amtsstube be­ traten, wurde er ängstlich.

Lange standen der alte Wirth im blauen

Ueberrock und der Freiwillige in kurzem Pelz, die Brauen aufziehend und die Augen aufreißend, im Flur beisammen.

Lange flüsterten sie

va mit einander, wollten irgend wohin, suchten Jemand,

nahmen vor

jedem Schreiber die Mütze ab, verbeugten sich und hörten tiefsinnig die

von dem wohlbekannten Schreiber herausgebrachte Entscheidung.

Schon

die Sache heute zu beenden, aufgegeben und der

war jede Hoffnung,

Freiwillige wurde wieder heiterer und gesprächiger,

als Dutlow Jegor

Michajlowitsch erblickte, sich gleich an ihn klammerte und ihn zu bitten

Jegor Michajlowitsch leistete so vortreffliche

und zu beschwören anfing. Hülfe, daß man gegen

Mißvergnügen und zu

drei Uhr

den Freiwilligen zu seinem großen

seiner Verwunderung in die Amtsstube führte

und unter allgemeiner Heiterkeit,

die sich, ich weiß nicht warum, vom

Wächter bis auf den Vorsitzenden verbreitete, ihm die Kleider auszog,

den Kopf rasirte, daraus ihn wieder ankleidete und entließ.

Fünf M-

nuten später zahlte Dutlow das Geld aus, erhielt die Quittung, nahm von

dem Wirth

und dem Freiwilligen Abschied

und

ging nach dem

Absteigequartier im Hause des Kaufmanns, wo die Rekruten aus Po­ krowskoje sich aufhielten.

Jljnschka saß mit seinem jungen Weibe in einer

Ecke der Küche und kaum trat der Alte ein, so hörten sie auf zu sprechen

und betrachteten ihn

mit unterwürfigem und mißgünstigem

Ausdruck.

Wie immer verrichtete der Alte erst sein Gebet, dann gürtete er sich los,

langte ein Papier

hervor

und rief

seinen ältesten Sohn Jgnat wie

Jljuschka's Mutter, die auf dem Hofe waren, in die Stube. — Sündige nicht, Jljnschka! sagte er, sich seinem Neffen nähernd.

Gestern hast du mir ein so böses Wort gesagt.

Ist es mir denn nicht

142

Paul.

leid um dich?

Ich gedenke, wie mir der Bruder dich empfahl.

es in meinen Kräften stand, hätte ich dich denn hingegeben?

Gott Glück bescheert hat, scheue ich das Opfer nicht.

Wenn

NM mir

Sieh dies Papier!

sagte er, die Quittung auf den Tisch legend und faltete sie mit seinen

krummen, steifen Fingern auseinander. Aus dem Hofe traten die Pokrowskischen Bauern, die Diener des

Kaufmanns und sogar fremde Personen herein.

Alle erriethen,

was

vorging; aber Niemand unterbrach die feierliche Rede des Alten. — Sieh dies Papier!

Habe

400

Silberrubel

bezahlt.

Mache

demem Onkel keine Vorwürfe. Jljuschka stand auf, schwieg aber, da er nicht wußte, was er sagen

Seine Lippen bebten vor Aufregung.

sollte.

Seine alte Mutter trat

auf ihn $u, brach in Thränen aus und wollte ihm um den.Hals fallen;

aber Dntlow führte sie langsam und gebieterisch mit der Hand weg und

fuhr fort zu reden. — Du hast mir gestern ein böses Wort gesagt,

wiederholte er

noch einmal: du hast mir mit diesem Wort wie mit einem Messer in's

Herz gestoßen.

Dein Vater hat dich sterbend mir anvertraut, du warst

mir wie mein leiblicher Sohn; und wenn ich dich mit etwas gekränkt

habe, so sind wir Alle sündige

Menschen.

Nicht wahr, ihr Recht­

gläubigen? wendete er sich zu den umstehenden Bauern. — Da ist auch

deine leibliche Mutter,

Quittung.

da ist dein junges Weib.

Hier habt ihr die

In Gottes Namen fort mit dem Gelde; mir aber vergebt

um Christi willen!

Und den Schoß seines Kittels zurückschlagend,

ließ er sich lang­

sam auf's Knie nieder und beugte sich tief vor Jljuschka und dessen

Weib.

Vergebens hielt das junge Paar ihn zurück.

Nicht eher, als

bis er den Boden mit der Stirn berührt, erhob er sich, dann schüttelte

er sich ab und setzte sich aus die Bank. weinten vor Freude.

hören:

Jljuschka's Mutter und Weib

Unter der Menge ließen sich billigende Stimmen

„In Wahrheit, das ist gottgefällig!" sagte Einer. „Was liegt

qm Gelde? ein Anderer.

Für Geld kann man solchen Jungen nicht kaufen!" sagte „Welche Freude!" sagte ein Dritter. „Ein gerechter Mann,

mit Einem Worte."

Nur die zu Rekmten bestimmten Bauern sprachen

nichts und traten leise in den Hof.

Zwei Stunden später

hinaus.

fuhren die Wagen Dutlow's

zur Vorstadt

In denk ersten, an welchen die scheckige Stute mit dem zu­

sammengefallenen Dickbauch und schweißigem Halse gespannt war, saßen der Alte und Jgnat.

Hinten klapperten Bünde von kleinen Kesselchen

den Niemand

Im zweiten Wagen,

und Bretzeln.

lenfte,

saßen an-

standsvoll und glücklich das junge Weib mid die Schwiegermutter mit

Tüchern um bcii Kopf. einer Decke.

Das junge Weib hielt eine kleine Flasche unter

Jljuschka hockte

aß eine Bretzel

und

hörte

vorn, dem Pferde nicht

auf

den Rücken kehrend,

zu reden.

Die Stimmen, das

Raffeln der Wagen über das Pflaster, das Wiehern der Pferde, Alles

Die Pferde, mit den Schweifen

floß in einen freudigen Ton zusammen.

wedelnd, trabten immer schneller, als sie die Richtung nach Hause spürten.

Die Vorübergehenden und Vorüberfahrenden sahen sich unwillkürlich nach der heitern Familie um. Wie sie eben aus der Stadt fuhren, erreichten Dutlows den Zug

der Rekruten.

Die Gruppe stand im Kreise um eine Schenke herum.

Einer der Rekruten mit jenem unnatürlichen Ausdruck, den ein glatt-

rasirter Scheitel dem Menschen verleiht, hatte die graue Mütze in den Nacken geschoben und schlug keck die Balalaika an.

Ein Anderer ohne

Mütze, mit einer Branntweinflasche in der Hand, tanzte in der Mtte des Kreises. anzuziehen.

Jgnat hielt das Pferd an und stieg herab, den Strang Alle Dutlow's betrachteten mit Jntereffe, Beifall und Hei­

terkeit den Tanzenden.

Der Rekritt schien Nieniand zu sehen,

merkte

jedoch, daß das ihn bewundernde Publikum sich immer vergrößere, und

das verlieh

ihm Kraft und Gewandtheit.

hatte die Brauen zusammen gezogen,

Der Rekrut tanzte flott, er

sein geröthetes Gesicht war un­

beweglich, an seinem Munde hastete ein starres, längst ausdrucksloses

Lächeln.

Alle seine Seelenkräfte schienen einzig und allein darauf ge­

richtet, so schnell wie möglich einen Fuß nach dem andern bald auf die Ferse, bald auf die Spitze zu setzen.

Dann und wann hielt er plötzlich

inne, winkte dem Balalaikaspieler und der schlug noch kräftiger die Saiten an und klopfte sogar mit den knochigen Fingern auf den Boden des

Jnstnlmcnts.

Der Rekrut hielt inne,

blieb, schien er noch immer zu tanzen.

aber selbst

da er unbeweglich

Plötzlich fing er an, sich langsam

zu bewegen, zuckte mit den Achseln und im Fluge kauerte er nieder und

Paul.

144

Die Jungen lachten, die

schnellte mit wildem Aufschrei wieder empor.

Weiber schüttelten den Kopf, die Männer lächelten beifällig.

Ein alter

Unteroffizier stand ruhig neben dem Tanzenden mit einer Miene, die da sagte:

„Euch erscheint das wie ein Wunder, uns aber ist das Alles

schon genau bekannt."

Der Balalaikaspieler war offenbar müde, sah sich Accord, klopfte auf einmal

griff einen falschen

träge um,

mit

den

Fingern auf das Instrument und der Tanz war zu Ende.

— Ei, Alexej, sagte der Balalaikaspieler zu dem Tanzenden, indem

er auf Dutlow zeigte: da ist dein Pathe!

— Wo,

lieber Freund?

sagte Alexej,

derselbe Rekrut,

welchen

Dutlow gekauft hatte, und müden Schrittes vortaumelnd, die Brannt­ weinflasche über den Kopf hebend, bewegte er sich nach dem Wagen zu. — Mischka!

Ein Glas! rief er:

Herr! du, mein lieber Freund!

Das ist 'mal eine Freude! fuhr er fort, mit dem berauschten Kopfe in

den Wagen vorsinkend, und bot den Bauern und den Weibern Brannt­ wein an.

Die Bauern tranken, die Weiber lehnten ab.

— Ihr, meine Liebsten, womit soll ich euch beschenken?'rief Alexej,

die Alten umarmend. Eine Verkäuferin mit Backobst stand unter der Menge.

blickte sie,

entriß ihr

Alexej er­

die Mulde und schüttete dieselbe ganz in den

Wagen aus. — Getrost, ich bezahle Alles, Teufel! winselte er mit weinerlicher Stimme und zog gleich aus

dem Mischka zuwarf.

den Hosen einen Beutel mit Geld, den er

Er stand, an den Wagen gelehnt, und sah mit

feuchten Augen auf die darin Sitzenden: — Welche ist die Mutter?

fragte er:

Du etwa?

Auch die muß

ich beschenken. Er besann sich einen Augenblick, fuhr in

die Tasche, langte ein

neues, zusammengefaltetes Tuch hervor, nahm das Handtuch ab, mit welchem er unter dem Mantel umgürtet war, dann ein rothes Tuch

vom Halse, ballte Alles zusammen und schob es der Alten in den Schoß:

— Da hast du, ich schenke es dir,

sagte er,

mit immer leiser

werdender Stimme.

— Wozu? Ich danke, Bester! Seht, was für ein gutherziger Junge!

sagte die Alte zu Dutlow gewendet, der an ihren Wagen getreten war.

Paul.

145

Alsxej verstummte gänzlich und fünfte, wie einschlummernd,

den

Kopf immer tiefer und tiefer. — Für euch gehe ich fort,

für euch komme ich um, sagte er:

drum beschenke ich euch.

— Hat wohl auch noch

eine

Haufen. — Welch gutherziger Kerl!

Mutter,

sagte Jemand aus

dem

Es ist jammerschade!

Alexej hob den Kopf in die Höhe. — Wohl habe ich eine Mutter, sagte er: und habe auch noch einen

leiblichen Vater, haben sich Alle von mir losgemacht.

Höre, Alte! setzte

er hinzu, indem er Jljuschka's Mutter an der Hand ergriff. — Ich habe dich beschenkt, so höre mich um Christi willen!

Wvdnoje.

Frage da nach der alten Nikonow,

Geh in das Dorf

das ist meine leibliche

Mutter.......... Und sage du dieser alten Nikonow ... es ist am äußersten

Ende das dritte Häuschen, ihr..........

mit einem neuen Brunnen .... sage du

dein Sohn Alexej ............. das heißt...............

Spiel' auf,

Musikant! rief er plötzlich und wieder fing er an zu tanzen und fuhr fort zu reden und schleuderte die Flasche mit dem Rest von Brannt­

wein zu Boden. Jgnat stieg auf den Wagen und wollte das Pferd antreiben. — Leb wohl, Gott gebe dir!. rief die Alte, ihren Pelz zu­

sammen nehmend.

Alexej hielt plötzlich inne. — Fahrt zum Teufel! rief er mit geballten Fäusten drohend. —

Daß deiner Mutter............ — Herr, mein Gott! rief Jljuschka's Mutter, sich bekreuzend.

Jgnat trieb das Pferd an und von neuem raffelten die Wagen.

Der Rekrut Alexej stand in der Mitte der Straße und

die Fäuste

ballend, mit dem Ausdruck der Wuth im Gesicht, schimpfte er die Bauern aus Leibeskräften. — Warum habt ihr angehalten? Fort, ihr Teufel! ihr Menschen-

freffet! rief er. — Du entgehst meiner Hand nicht .... Ihr Teufel! ihr

Bauernlümmel! Bei diesen Worten stockte seine Stimme, und wie er dastand, stürzte

er der Länge nach zu Boden. «iljftsche Weliuc. 11. 2. veil 1863

10

146

Paul. Bald waren Dutlow's in's freie Feld und als sie sich umblickten,

sahen sie die Schaar der Rekruten nicht mehr.

Nachdem sie an fünf

Werst im Schritt gefahren, stieg Jgnat vom Wagen des Vaters, der eingeschlafen war

und

ging

neben

dem Wagen Jljuschka's

her.

Zu

Zweien leerten sie die ans der Stadt mitgenommene Flasche. Nach einer Weile begann

Jljilschka

zu singen,

trieb lustig im Takt das Pferd an. Postwagen daher.

Der Postillon

die Weiber stimmten ein.

Jgnat

Ihnen entgegen rollte ein lustiger

schrie die Pferde an, als er an die

beiden Wagen herankam, der Conducteur sah sich um Und winkte den

rothen Gesichtern der Bauern und Weiber zu, die mit fröhlichem Ge­ sang sich im Wagen schaukelten.

Zur Sache -es Protestantismus in den rusfischen Ostseeprovinzen. Es war in früheren Zeiten das Schicksal überwundener Völker,

daß sie den Glauben ihrer Besieger annehmen mußten.

Die Schwert

brüder, die Eroberer Lievland's, Kurland's, Esthland's, zwangen die

heidnischen Ureinwohner, die Letten, Lieven und Esthen, zum katholischen Christenthum.

Außer dem religiösen war hier ein politisches Motiv mit

im Spiel: man fühlt sich gesicherter unter der Einheit eines nicht durch

Parteien gespaltenen

Glaubensschildes,

Alle in

und indem

derselben

Weise Gott bekennen und demnach in der wichtigsten Angelegenheit über­

einstimmen, hofft man in bei weitem unwichtigeren Dingen auf keine Schwierigkeiten zu stoßen.

Dieser Schwertbrüderstaat stellte in der That

etwas einheitlich und machtvoll Ganzes dar.

An der Spitze befand sich

der Erzbischof von Riga, der die Schwertbrüder, welche er berufen, als

streitende Unterpriester einweihte und mit dem dritten Theile der von

ihnen zu erobernden Länder begabte und belehnte.

Das nach einem fast

hundertjährigen Kampfe niedergeworfene Volk hält still und nimmt an, was ihm

aufzuerlegen der Ueberwinder für

gut

befindet:

Heiden wird wenigstens äußerlich ein katholischer Christ. der Gott des Donners,

aus dem

Perkuhns,

verwandelt sich in den dreieinigen Gott, die

Erdmutter in die Mutter Gottes, und ihr Oberpriester, der Kriwe, der wie ein Mysterium unsichtbar in unzugänglichen Wäldem wohnte,

und seine Befehle von Perkuhns erhielt, thront glänzend sichtbar, in der Person des Erzbischofs, zu Riga. Aber

die

Oberherrlichkeit

Schwertbrüdern unbequem.

über

große Aecker und

abhängig, nicht

des

Erzbischofs

zu

Riga

siel

diesen

Warum sollten sie, die „Gebietiger", die Landflächen

selbstherrlich semi

zu

verfügen

hatten,

nicht un­

Sie protestiren gegen die Einheit io*

Zur Sache des Protestantismus in den russ. Ostseeprovinzen.

148

des Staates: den Erzbischof von Riga.

Die Geschichte der Schwert­

brüderschaft ist zugleich eine Geschichte dieses Kampfes. Er endete mit der Niederlage des Erzbischofs — zur Zeit der in Deutschland entsprungenen und auch nach diesen Gegenden sich fortpflanzenden Reformation, welche

den Rittern ein willkommner Anlaß war, ihre schon lange vorher genähr­ ten subjectiven Gelüste nach Selbstherrlichkeit durch Annahme der Re­

formation mit einer

sehen.

objectiven, oder historischen Berechtigung zu ver­

Das Motiv ihres ProteftanÜsmus war hauptsächlich Politik.

Demnach hat die Reformation dem Schwertbrüderstaate in der Person des Erzbischofs zu Riga die Spitze abgebrochen.

Sie schuf den eigent­

lichen Ritterstaat, d. h. hundert und aber hundert Ritter als einzelne

Selbstherren,

die

sich

gegen

die Welt da draußen privilegirten

und

absteiften und unter sich einen losen, mit Abgrenzungen und Einschnitten

versehenen Staats- oder vielmehr Ritterschaftskörper darstellten, in wel­ chen der auswärtige Feind,

der Däne, Schwede, Pole, Russe, seine

Keile schlug; sie wies das früher von einem Hirten geweidete und ge­

schützte Volk der Letten, das unter seiner Oberherrlichkeit milde Dienste that und von seiner Stelle nicht herabgedrängt werden konnte, an die

hundert einzelnen, nunmehr selbstherrlich gewordenen Ritter,

zersplit­

terte und verwandelte es demnach in kraft- und schutzlose Volkshaufen;

sie hat, obwohl die Bildung, die Erlösung und Befreiung ihr Princip ist,

für

das

Volk,

das

natürlich

so jetzt zum Protestantismus

wenig geleistet.

wie früher

herübergezwungen

zum ward,

Katholicismus,

wenig,

blut

Diese Ritter zertrümmerten vermittelst der Reformation,

aber sie verstanden es nicht, die ihr zu Grunde liegenden, einigenden Principien für den Aufbau zu benutzen.

Jeder der hundert Gebieti

ger war jetzt auf stimm Territorium der Patriarch, der summus episcopus, der oberste Glaubeusherr.

Es pstegt aber bei der Vereinigung

des Geistlichen und Weltlichen in einer Person zu geschehen,

daß ent­

weder das Weltliche von dem Geistlichen (Geistigen), oder das Geistliche

von dem Weltlichen absorbirt wird.

Es ist ohne Mühe nachzuweiseu,

daß, wenn der deutsche Kaiser den Pabst in sich

verschlungen hätte,

damit das Geistliche wäre vollständig verweltlicht worden, ebenso aber a»tch sicher endlich im Pabst durch Jnsichausnahme des Kaisers (Versuche dazu hat der Pabst genug gemacht); denn wenn der Geist so viel in-

terefsante Materie in den Klanen hat, möchte es für ihn doch etwas

schwer halten, dieselbe ohne Weiteres fallen zu lassen. — Dieser in dem

Gebietiger veriveltlichte summus episcopus hatte nun zwar einen wirk­ lichen episcopus, einen Pastor, zur Seite.

Aber was wollte ein solcher

auf dem Gebiete eines solchen Herrn bedeuten, von dem er ein Stück zu seinem Lebensunterhalt für seine Namens des Patronatsherrn und

summus episcopus geleisteten Vicariatsdienste erhielt! Es verstand sich

doch wohl ganz von selbst, daß er den Letten nichts sagen durfte, was über

absolute

hinauslag.

Unterthänigkeit und

entschiedenstes

Abhängigkeitsgefühl

Er konnte wohl die einzelnen Dogmen der protestantischen

Kirche dem Volke zeigen, oder von demselben auswendig lernen lassen, wenn es die Fähigkeit dazu besaß; aber ihre Idee und Bedeutung ent­ wickeln und in's Bewußtsein vermitteln zu wollen — das hätte ihm nicht

einfallen dürfen.

Was wäre wohl geschehen, wenn dieser Pastor über das

auch in der protestantischen Kirche gültige Dogma von der Dreieinigkeit etwa Folgendes gesagt hätte: Sehet, meine Lieben, da ist der Sohn, die zweite Person.

In dem Sohn ist die Herrlichkeit Gottes, des Vaters,

hier auf Erden erschienen: „ und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herr­ lichkeit

als

des

eingeborenen Sohnes

Wahrheit" (Joh. 1, 11).

vom Vater voller Gnade und

Christus will aber, daß die Menschen

dieser Herrlichkeit Theil nehmen:

an

„Ich habe ihnen gegeben die Herr­

lichkeit, die du mir gegeben hast, daß sie eins seien, gleichwie Wir eins

sind. Ich in ihnen, und Du in mir." (Joh. 17, 22. 23). — Was? Theil

nehmen an der Herrlichkeit? würde der verweltlichte summus episcopus gerufen haben — Herren wollen sie, frei wollen sie sein? O so soll doch

.... Ja, dieser Pastor, der im Auftrage des höchsten Herm den Men­ schen, also auch den Letten eine Predigt von der Herrlichkeit des Men­

schen gehalten, wäre auf Befehl des Gutsherm ohne Zweifel auf den

Schub gekommen. — Was thun! es ist doch besser zu bleiben auf diesem Pastorat, dieser Art kleinem Majorat, das ich sogar mit so und so

viel Bauem, die mir Behorch leisten, auf meinen Sohn vererben kann, falls

dieser nur etwas Theologie studirt und das Geschick

hat,

den

Begriff Herrlichkeit einzig und allein auf den Gutsherrn zu beschränken. —

Nun predigt er zwar nach wie vor, aber er hütet sich wohl, die Prin­

cipien des Protestantismus zu berühren, aus denen sich so viel Welt-

150

und

Zur Sache des Protestantismus in den rüss. Ostseeprovinzen.

Menschheiterlösendes herleiten läßt.

Seine Predigten sind ohne

reizvolle Entfaltung über einen dogmatischen Leisten geschlagen, er liest sie, die in deutscher Sprache geschrieben sind, ab, damit sich bei Leibe

nicht, wenn er sich einmal frei gehen ließe, etwas aus einer Art In­

spiration beimische, was das Mißfallen des Herrn erregen könnte. Ein

Mensch, gewöhnlich ein auf dem Gute ansässiger deutscher Handwerker, welcher der lettischen Sprache mächtig ist, steht unter der Kanzel und legt den Bauern die Predigt aus, an der nicht viel auszulegen war. Später kamen auch undeutsche Prediger auf, d. h. solche, welche zu­ gleich

der lettischen Sprache kundig waren.

Sie werden den Leuten

auch auf lettisch nicht gesagt haben, was sie auf deutsch nicht sagen

durften.

Wenn man selbst in neuerer Zeit Kandidaten der Theologie,

die aus jenen Gegenden zurückkamen, fragte: Warum blieben Sie nicht ?

die Pastorate sind dort kleine Güter, so antworteten sie wohl: Wohin denken Sie? es handelte sich darum, Protestanten entweder zu sein,

oder zu heißeu. — Nun, Gott schütz' uns! in unserm guten Deutsch­ land geschehen von wegen des Protestantismus auch höchst verwunderliche Dinge! — In Folge einer solchen im Ganzen sehr äußerlichkirchlicheu Hand­

habung, die mit Seele und Bewußtsein wenig zu thun hatte, blieben dem Letten, obwohl er früher katholischer und jetzt protestantischer Christ

war, seine aus den Jahrhunderten überlieferten heidnischen Anschau­ ungen sehr geläufig.

Naturdienst:

Siach wie vor bestand seine Religion wesentlich in

er brachte sich

die Kräfte der Natur unter Form und

Gestalt; er hatte eine Windmutter, oder Windgöttin, welche über Moor

und Haide dahinschreitet, eine Baumgöttin, welche aufseufzt, wenn die Axt ihre Wurzeln berührt rc.

Den früher katholischen und nunmehr

protestantischen Formalismus mußte er doch in seiner Weise mit irgend einem Gehalte füllen. —

Die Herrlichkeit des Herrn konnte nun freilich nicht verhindern, daß der Bauer doch eine Art Herr, d. h. emancipirt ward.

Aber dieser

im Jahre 1817 proklamirten Bauernfreiheit fehlte der Grund und Boden, auf welchem sie hätte Halt und Stamm gewinnen können.

Diese

Freiheit erhielt keinen Grundbesitz mit, ja, nicht einmal die Freiheit,

denselben erwerben zu dürfen.

Wurzelte früher der Bauer wenigstens

in der Persönlichkeit, d. h. in der etwaigen Theilnahme des Gutsherm, die den letztern in dem Wohle des erstem das eigene Wohl bedenken hieß, so ward jetzt der Bauer von dem Herrn in dessen Unmuthe über die ihm abgenöthigte Freiheit in die tveite Welt, d. h. in die weite rus­ sische Welt entlassen, oder noch mehr in die Enge getrieben. Denn mit dieser Freizügigkeit war es auch nicht weit her: der von vornherein sehr arme und dem Gutsherrn stets durch Schulden verhaftete Lette konnte nicht eher in die Weite entkommen, als bis er sich von seinen Schulden frei gemacht. Der Gutsherr sorgte auch schon dafür, daß diese Freizügig­ keit durch Darlehne, die der Bauer, weil er sich stets in Noth befand, bereitwillig annahm, aber äußerst schwer wiedererstatten konnte, einen Zügel erhielt. Die Emancipation ohne Grundbesitz, ja, ohne die Mög­ lichkeit, denselben ertoerben zu dürfen, bewirkte, daß der dem Namen nach freie, in der That aber noch mehr gebundene Bauer der Ostseeprovinzen übler daran war, als der russische Leibeigene, der, obwohl dem Namen nach unfrei, doch wenigstens aus einem Grund und Boden stand, welchen ihm ein mehr als hundertjähriger Brauch in den meisten Fällen nicht verschob und verkürzte. Ja, er, oder vielmehr die russische Gemeinde, konnte über denselben in Anbetracht eines verstärkten Menschenamvuchses verfügen, oder Anordtiungen treffen. Der russische Leib­ eigene sagte: ich gehöre dem Herrn, aber der Grund und Boden gehört mir, er ist wie eins meiner Glieder mit mir zusammengewachsen und von mir nicht zu trennen. Alexander v. Humboldt, der die bäuerlichen Berhälttlisse des innern Rußlands kennen lernte, stellte in Betreff des äußern Behagens zwischen den russischen Leibeigenen und den Tagelöhnern und Arbeitern der westeuropäischen Länder Vergleiche an, die zu Gunsten der erstem ausfielen. Wie mochte nun auf ein solches, zwischen Himmel und Erde schwebendes Wesen, wie der Bauer der Ostseeprovinzen war, der Pro­ testantismus eine fesselnde Wirkung ausüben, zunml sich dieser nicht als etwas Innerliches, nicht als schmackhafter, süßer Kern, sondern nur als Außenseite darbot! Man gebe ihm für diesen Formalismus, für diese Schale eine andere, die mehr in die Angen sticht, so wird der dem Grund und Boden in die Luft Entrückte, pendelhaft Bewegliche sofort nach ihr hiuschwanken. Vertauschte er das katholische Christenthum mit

152

Zur Sache des ProtestanttSmus in den ruff. Ostseeprovinzen.

dem Protestantismen, warum nicht letzteres mit dem orthodox-griechischen, das sich ja glänzender, machtvoller und unter Verheißungen von Grund­ besitz hinstellte, auf welchem die theoretisch-bewegliche Freiheit zur An­ sässigkeit gelangen sollte. Mochten diese Verheißungen in Erfüllung gehen, oder nicht, welch eine Lehre für den protestantischen Gutsherrn: daß die beste Schule für die Pflege des Protestantismus seiner Hinter­ sassen ein eigenes Haus und ein eigenes Stück Land mit wurzelfesten Begründungen ist! berufen sich die Bürger der größeren ostseeprovinzlichen Städte namentlich Riga's, auf die Kämpfe und Siege wegen ihres protestan­ tischen Glaubens, so haben diese Bürger gut reden in einer seit mehr als 500 Jahren begründeten, auf Land - und Seehandelswegen berei­ cherten, durch Wälle und Privilegien wohlverschanzten Stadt. Warum fand der Pi otestantismus in Deutschland so leicht Eingang? Weil seine Keime in dem seit Jahrhunderten ivohlbestellten, wohlhabenden deutschen Bürger, oder, sagen wir, in dem tüchtigen, der Natur und den Verhältnissen unter Arbeit und Anstrengung abgewonnenen Boden Wurzel schlugm, auf welchem der deutsche Bürger stand. Warum hat nicht der ostseeprovinzliche Bürger sein Bürgerthum in's Land hinein zu erweitern gesucht, warum nicht der Adel in seinem eigenen Interesse einen Stand mitschaffen helfen, durch den er selber geschützt wird, indem man doch erst gewaltige Mittelstufen übersteigen muß, wenn man zu der höheren gelangen will, um sie zu erobern! Aber beide Stände, statt sich als zwei sehr bedeutsame Factoren im Staatsleben zu würdigen und zu ehrm, gingen nur darauf aus, einander zu excludiren und wie zwei nach entgegengesetzten Seiten umrollende Mühlsteine zu reiben und zu schwächen. Nur der Bauer, der dazwischen gerieth, gab sein Mehl und ward dafür stets Hülse genannt. Nun, diese Hülse wehte dahin, wohin sie ein tüchtiger Mund blies. Zahlen beweisen. Trotz der mächtigen protestantischen deutschen Barone, trotz der mächtigen protestantischen deutschen Bürgerschaft Riga's rc., trotz der gelahrten protestantischen Pastoren und Oberpastoren wurden von den Popen, die man doch Übrigens in Ansehung ihrer Bildung und gesellschaftlichen Stellung so sehr gering schätzt, in den vierziger Jahren laut Bericht des Ministeriums der geistlichen Angelegenheiten gegen 16,000 protestan-

Zur Sache des Protestantisnms in den russ. Ostsecprovinzen.

tische Bauern zur orthodox-griechischen Kirche übergeführt.

die

Schuld?



Staatsgewalt, die

Die

Popen,

die

dahinter stand!

griechische

weit

Wer trägt die

russische

rufen die mächtigen Bürger, die

mächtigen Barone, die gelahrten Pastoren. liegt die Schuld

Kirche,

153

Aber unseres Bedünkens

mehr au ihnen selbst.

Hießen die

armen

Bauern ihre Glaubensgenossen, ihre Brüder, so war es ihre Schuldig­ keit, sich auch helfend, hebend, thatsächlich brüderlich gegen sie zu er­

weisen.

Ist das geschehen? Man suchte die Letten vom Deutschsprechen

oder Deutschlernen abzuhalten, damit sie nicht Theil nähmen an der Mldung, die ja nur das Vorrecht der herrschenden Klasse sein sollte.

Man wachte ängstlich darüber, daß nicht das dem Bauer für seine

Hofesarbeiten zeitweise geliehene Gesinde

oder Gütchen mit un­

verminderten Verpflichtungen auf seine Nachkommenschaft übergehe, weil die Gewohnheit des Besitzes in ihm das gefährliche Bewußtsein eines

rechtlichen Besitzes erwecken und dieser Bauer sich am Ende für einen Bürger halten könnte. — — Nur Unterthänigkeit, Unselbständigkeit,

Maffe, die sich wandeln und schieben läßt! Nun, sie hat sich geschoben, allein in den vierziger Jahren 16,000 protestantische Christen in die orthodox-griechische Kirche hinein. Nachdem dies geschehen, rief nlan: mau muß dem Protestantismus

der Bauern zu Hülfe kommen,

die nicht protestantisch genug waren.

Hatte man früher aus dem Unterrichte deutscher Hauslehrer, die man in die Ostseeprovinzen berief, den Religionsunterricht nicht selten auf

ausdrücklichen Wunsch des Gutsherrn ausgeschlossen, so warfen sich jetzt Fürsten und Majoratsherrn zu Lehrern und Predigern in Haus und

Familie, zu Directoren der innern Mission auf, nach Anweisungen,

die sie aus dem rauhen Hause zu Hamburg und andern Pflanzstätten des modernen Christenthums erhielten. Ich habe Briefe gelesen, welche be­

deutende Majoratsherrn schrieben, deren Einfluß auf die ihnen untergebene

Bauerschaft ohne Zweifel sehr groß sein wird.

Diese Briefe enthalten

eine förmliche Anhäufung von den dem Pietisnms geläufigen Ausdrücken,

wie Erbsünde, Verderbtheit der menschlichen Natur, gänzliches Unver­ mögen, Blut des Lammes, Ertödtung des Fleisches, Kreuz Christi rc.

Der arme Bauer, der zu seinen schweren Kreuzen noch so viele Wort­ kreuze hinzunehmen muß!

Ist denn so etwas auch Protestantismus?

154

Zur Sache des Protestantismus in den russ. Oststeprovinzen.

Wenn früher der gutsherrliche summus episcopus die in seinem Stell­

vertreter,

dem Pastor,

auftduchenden Principien

plastisch unumwunden mit einem Veto belegte,

mit

unverstandenen

Gefühlsphrasen

zu

sucht man sie jetzt und

umnebeln

Fort damit! Die Sterne müssen sich zeigen.

tismus? Wir fassen uns sehr kurz.

so

des Protestantismus

zu

verhüllen.

Was ist denn Protestan­

Weil man das unabweisbare Be­

dürfniß fühlte, das vom Katholicismus

über den Stirnen gehaltene

Unverstandene, Mysteriöse in die Stirn, in das Gehirn, in die Seele,

in das Herz zu verpflanzen und sonach immanent innerlich zu machen, was früher nur transcendent äußerlich vorhanden war, deshalb entstand

der Protestantismus.

Man leugne das! Für diese innerliche Begrün­

dung fand der Protestantismus in den betreffenden Worten der Bibel die

Bürgschaft seiner Ueberzeugung: „Ich will meinen Geist in euch geben (Hesek. 36, 27.).

Gott hat den Geist seines Sohnes in eure Herzen ge­ Werdet voll Geistes! (Eph. 5, 18.).

sandt (Gal. 4, 6.).

Wandelt im

Geist (Gal. 5,16.). Sie wurden alle voll des heiligen Geistes (Ap.-G. 2,4.). Den Geist dämpfet nicht! (1. Theff. 5, 19.).

es, der durch euch redet (Mtth. 10, 20.).

Eures Vaters Geist ijl

Der Herr ist der Geist, wo

aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit (2. Cor. 3, 17.).

Gott

gebe euch Kraft, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen

Ihr aber seid geistlich, so anders Gottes Geist

Menschen (Eph. 3, 16.).

in euch wohnet (Röm. 8, 9.).

Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel

seid und der Geist Gottes in euch wohnet? (1. Cor. 3, 16.).

Das Reich

Gottes ist inwendig in euch (Lc. 17, 21.). „ Solche und unzählige andere Stellen deuten doch sehr entschieden

auf das

Innerliche

hin.

wohneude Geist Gottes ist

„eine Kraft,

die

da

Dieser der individuellen

gut,

weise, schaffend,

Menschenseele inlebendig,

überschwenglich in uns ivirket"

energisch,

(Eph. 3, 20.).

Denn wie aus einem lebendigen Quell nothwendig Bäche, aus den Bächen Ströme entspringen, welche ftuchtbares Land ansetzen, Wiesen bewäs­ sern, Reichthümer befördern und häufen, so ist auch diesem innerlichen,

energischen, protestantischen Geiste seine Frucht vorbehalten.

Wo aber

sehen wir sie am protestantischen Lettenthum? Wo seine Häuser, Heerden, Baumgärten, Spargelder,

zierlichen Geräthschaften,

überlieferten und

neuvermehrteu Besitzthümer? Nirgends! Ueberall Armuth , reizlose Ein-

förmigkeit, Niedergeschlagenheit, ein dumpfes, argwöhnisches, scheublicken­ des, rückhaltiges Wesen!

Da hier nicht

strömen, so ist das Beweis,

die Bäche des Wohlstandes

daß der Quell verstopft ward, obwohl

man ihn seit Jahrhunderten einen protestantischen nannte.

Will man,

daß er sich ergieße, so ist es nöthig, daß man in dem Letten, der ein Protestant heißt, den protestantischen, innern, lebendigen, energischen, mannhaften Geist erwecke und ihm die Resultate zeige, die sich un­ fehlbar wie die gesunden Früchte an die Gesundheit des Baumes setzen.

„Sv wie der Baum durch die Frucht erkannt wird, so wird die Ge­

sundheit des Christen durch seine Werke bewiesen,"

den Herzog v. Savoyen.

schrieb Luther an

Gewiß würde er das auch heute an die Ba­

rone und Bürger der Ostseeprovinzen schreiben.

Drum gebet Raum

diesem Geiste im Lettenthum, erleichtert ihm seine Begründungen, indem ihr ihm hülfreich beispringt, ihm von euren Besitzthümeril, die ihr doch

auch durch seine Arbeit gewännet, von eurem Lande,

auf welchem er

eher stand, als ihr selber, etwas unterlegt als Stütz- und Haltpunkt,

oder, wenn das nicht, erleichtert ihin seinen Dienst, verkürzt ihm seinen Frohndetag, vermindert ihm die Gelder, die er euch schuldet, damit er sich selber diesen Stütz-

und Haltpunkt schaffe und so rüstig aufwärts

schreite zu dem Ziele, wo der Bürger steht, welches Wort von Burg

herkommt und ein in und um sich wohlbegründetes, maimhaftes und stattliches Wesen

bezeichnet.

Ein solcher protestantischer Bürger mag

noch so sehr sremdkirchlichen Einflüsse» ausgesetzt sein — wir wollen sehen, ob sie ihn in's Schwanken bringen können!

Will

man

also

dem

Protestantismus

des

Letten

helfen,

so

geschehe es in thatsächlicher Weise und nicht mit verhüllenden Gefühls­ phrasen.

Uns sind genug Edelherren der Ostseeprovinzen bekannt, die

zugleich edle Herren sind. volk

Sie werden das ihnen anvertraute Letten­

vor der unlängst und neuerdings versuchten Berpietiftelung und

Verhimmelung schützen, die nur auf das Höherhängen des Brodkorbes, auf Weltverzichtung,

d. h. Grundbodenverzichtung berechnet ist.

Der

Lette hat doch ivohl Jahrhunderte lang Proben- genug im Verzichtleisten abgelegt! Zum Vorbild werden sie ohne Zweifel den Kaiser selber haben, der, belehrt durch das in den Ostseeprovinzen versuchte Experiment einer

blos theoretischen Emancipation,

nunmehr der jungen,

großrussischen

156

Zur Sache des Protestantismus in den russ. Osiseeprovinzen.

Freiheit zugleich Grund und Boden, einen Stab, mitgiebt, an dem sie sich halten und in gedeihlicher Weise weiter schreiten kann. Sie werden zu jenen Deputirten gehören, welche z. B. auf dem Landtage zu Mitau im October 1862 beantragten, daß nur au lettische Bauern Güter oder Güterparcellen verkauft oder verpachtet werden dürsten, und nicht zu denjenigen, welche auf demselben Landtage den Verkauf von Bauerhöfen oder von allem Gut aller Güter mit Ausnahme der Majorate an alle Personen aller Stände gestatten wollten. Denn das heißt über die armen Ureinwohner hinweg nach wohlhabenden Fremdlingen greifen, welche theurer ankanfen können, wodurch die Letten in Proletarier ver­ wandelt und einer entwurzelten kleinen Existenz preisgegeben werden, die eben jenen so sehr gefürchteten fremden Einflüsien anheimfällt. Sie werden ihren augenblicklichen Vortheil der Rücksicht auf den Lettenstamm opfern, an dem man wieder gut zu machen und nachzuholen hat, was man so lange versäumte. Sie werden, falls sie sich im Allgemeinen dem Anträge des Verkaufs von allem Gut aller Güter rc. anschließen, dies unter der Bedingung thun, daß zuvor in Angemessenheit der bäuerlichen Bevölkerung für diese von allen Gütern ein Theil des Grundes und Bodens ausgeschieden werde, mit der für die Gutsbesitzer obligatorischen Verbindlichkeit, ihn zu einem vereinbarten billigen Satze nur an die Letten verkaufen zu dürfen. Sie werden nicht ruhen, bis diese Letten, die so lange Protestanten heißen, nun wirklich auch Protestanten werden in dem Sinne, wie wir es meinen. Oder sollten sie Scheu haben vor den oben angedeuteten Prin­ cipien des Protestantismus, Scheu vor dem russischen Gouvernement, welchem das Treibende, Energische, Mannhafte desselben bedenklich erscheinen könnte? Wir glauben, ihre Besorgniß ist grundlos. Es mußte doch endlich auch für Rußland die Zeit kommen, wo sich etwas aus der Innerlichkeit, aus der Tiefe, die zugleich die wahre Höhe ist, ent­ wickelt. Alles deutet gegenwärtig darauf hin: auf selbständige Begrün­ dungen, auf Bürgerthum, auf Gewissensfreiheit. Man suchte wohl früher, um die staatliche Einheit bis zur höchsten Potenz zil steigern, eine starr ausgeprägte kirchliche Decke mit Ein- und Umhämmerung der abweichen­ den Glaubenselemente über das Reich dahin zu ziehen. Aber man konnte nicht verhindern, daß das in der Tiefe springende Leben mit allen seinen

Zur Sache des Protestantismus in den ruff. Ostseeprobinzen. verkümmerten,

weil in der

durch das starke Gefüge

157

Verborgenheit ausgebrüteten Auswüchsen

zum Durchbruch gelangte.

Beweis find die

vielen Seelen innerhalb der griechisch-orthodoxen Kirche:

die

Staro-

werzen (Altgläubige), Jedinowerzen (Gleichgläubige), Sabatniki (Sab­ bathverehrer), Bespopowtschina (Priesterlose), Bosslowoßnije (die Stum-

mm), Chlestowtschini (die fich selbst Geißelnden), Skopzi

(Eunuchen),

Morelschiki (Selbstverbrenner), Malakanen (Milcheffer), Duchoborzen

(Geistkämpfer) rc.

Die Anschauungen und gottesdienstlichen Handlungen

steigern sich da aus tiefster Entartung bis zu einer gewissen Verfeinerung

empor.

Die Chlestowtschini halten die Hunde vom Teufel besessen, da­

gegen die schwarzen Tarakane (Insekten) für Schutzgeister, predigen Ge­

meinschaft der Weiber, weisen die Kinder der Gemeinde zu und feiern in der Osternacht zugleich mit den Skopzi die Mutter Gottes, indem sie

eine Jungfrau von 15 Jahren in einer Wanne auf den Altar heben, ihr die Brust abschneiden, diese verzehren und die Verstümmelte wild umtanzen, wobei sie die Worte singen: Auf zum Tanzen! Auf zum Springen ! Nach Sion's Bergen.

Bei den Starowerzen ist das Tabakrauchen verpönt, weil geschrieben stehe: „was zum Munde eingehet, das verunreinigt den Menschen nicht;

sondern was zum Munde ausgehet, das verunreinigt den Menschen."

Die Duchaborzen, zn welchen nur russische Bauern gehören, kehren die Ueberwindung

der Leidenschaften,

zwischen Herren und

Knechten

heben den ivesentlichen Unterschied

auf, nennen den Dienmden Bruder,

halten die innere Erleuchtung für die beste Auslegerin, erklären das­

jenige, was der Gläubige thue, für etwas, was Gott in ihm thue, und eines ihrer älteren Bekenntnisse enthält den Bers: Wer bin ich endlich denn? — ein Tempel, Gott zu weihn, Gebäud' und Priester, auch das.Opfer soll ich sein. Altar sei unser Herz, das Opfer sei der Wille,

Der Priester unser Geist, der dies Gebot erfülle.

Nun wohl;

aber die wesenhafte Antheilnahme des Menschen am

Geiste Gottes, die der Protestant behauptet, läuft bei ihnen auf eine

äußerste Spitze, auf eine Vergötterung des Menschen hinaus: sie stellen

158

Zur Sache des Protestantismus in den rüst. Ostseeprovinzen.

einen Menschen, einen schönen, weißgekleideten Jüngling, auf der Altar, fallen vor ihm nieder und beten ihn an. Anderer Auswüchse, namentlich

bei der rigvristischen Partei der Duchoborzen zu geschweigen.

Man sieht

aber: je schwerer die straff gezogene staatlich-kirchliche Decke hernieder­ lastete,

desto jäher, wechselnder, zufälliger,

willkürlicher schossen

Ideen und Combinationen aus der Verborgenheit hervor.

die

Mag man

die Verwandtschaft des Protestantismus mit Manchem, was die russischen

Secten lehren, immerhin einräumen; aber seine aus Gott und der In­ nerlichkeit des Glaubens entwickelten Sätze wurden von Luther und Män­

nern, die zu den erleuchtetsten aller Jahrhunderte gehören, in die Welt

gelegt, von zahlreichen Universitäten ausgenommen und gepflegt, von

wissenschaftlichen Männern in unzähligen Büchern, Predigten, Unter­ redungen vermittelst eines großartigen dialektischen Processes durch Jahr­

hunderte hindurch gesichtet,

klar gestellt,

organisirt.

Vor dieser pro­

testantischen Denkfreiheit und ihren weitgreifenden, segensreichen Folgen für Cultur und Gesittung braucht man keine Angst zu haben.

Wer

mag leugnen, daß der Katholicismus selber durch seine nahe Berührung mit dem Protestantismus in Deutschland an sittlichem Gehalt, an In­

nerlichkeit gewann, was er an Aeußerlichkeit verlor!

Auch in Rußland

werden erleuchtete Staatsmänner in einer lebendigen Entwickelung des Protestantismus keine Gefahr sehen für die Herrschaft der orthodoxen

Kirche, die mit dem russischen Volksgeist auf das innigste verwachsen ist,

und deren nationale Bedeutung daher nur ein Kurzsichtiger unterschätzen kann; sie werden die belebende und anregende Macht des Protestantis­

mus nicht verkennen — nur muß es auch jener energische und ftuchtansetzende sein, der seine treibenden Kräfte nicht in den Knollen und

Auswüchsen eines werk- und marklosen Pietismus und Muckerthums ver­ kümmern läßt.

An einem solchen thatkräftigen Protestantismus baue

der Bürger und Edelmann in den Ostseeprovinzen; nicht wehren.

der Kaiser wird es

Auf die Stärkung und Kräftigung des Geistes der Letten

kommt es an, und die materiellen Ziele, im Gut oder Gütchen, sind

demjenigen

nicht zu versagen, der

redlich darnach ausläuft.

Dann,

ja, dann werden diese Letten zu würdigen Staatsgenossen, zu stand­ haften Bürgern, zu mannhaften Protestanten herangedeihen,

und zu

welchen der Apostel Paulus sagt,

daß sie

denjenigen gehören, von

Zur Sache des Protestantismus in den rüst. Ostseeprovin-en.

159

nicht mehr Kinder seien und sich nicht wiegen und wägen lassen von

allerlei Wind der Lehre.

Wir alle aber, denke ich, von welcher Nation

wir auch sein mögen, sind höchlichst dabei interessirt, daß alle Gegenden mid Nationen an Bildung und äußerm Reichthum so viel wie möglich sich im Gleichgewichte befinden.

lechzt,

jede

heftige

Bewegung,

Jede Leerheit, welche nach der Fülle

Verschiebung,

gewaltsame Aeußerung

fällt dann hinweg, und mehr und mehr tritt dann der Friede in die

Welt, dessen schöne, nicht abzuwehrende Hand auch über entfernte Wüsten

Saaten und Harniouieen streut.

Wudolf Kutemann.

Stimmen der westeuropäischen Presse. Dir National-ritung über russische Zuftändr.

Die unmittelbare Gegenwart zum Gegenstand seines Urtheils und seiner Besprechung zu machen, wird häufig als ein mißliches Unterfangen

bezeichnet, und man rühmt mit vielem Recht den besonnenen Mann, der

das Toben und Drängen großer und kleiner, wichtiger und unwichtiger, kluger und thörichter Dinge zur Absetzung und Klärung kommen läßt,

und von der Höhe auf Vergangenes zurückblickend, dann erst seinen Spruch fällt.

Am meisten empfiehlt sich dies Verfahren in historisch­

politischen Dingen, denn nur in dem Falle hat man die Möglichkeit,

aus den einzelnen Erscheinungen auch den allgemeinen Gedanken erfassen zu können, und aus diesem heraus Gerechtigkeit zu üben. — Wenn Jemand in ein fremdes Land kommt, treten ihm naturgemäß zunächst alle Verschiedenheiten mit Lebhaftigkeit vor Augen, und es gehört

schon viel unbefangener Sinn dazu, solche Verschiedenheiten ruhig, nicht nach dem Maße eingelebter Gewohnheit und heimischen Schlendrians,

zu prüfen und zu erwägen.

Im Auslande hat Jeder viel zu kritteln

und zu bemängeln, was ihm daheim viel besser erscheint.

Kritteln und Bemängeln — ist so wohlfeil.

Soll dergleichen einen Werth

haben, so muß das Positive sich ihm sofort anschließen.

tiven erkennt man.den unbefangenen Sinn.

Und das

An dem Posi­

In der Regel aber pflegt

aus kleinen Unbequemlichkeiten auf der Post, aus Aergerlichkeiten mit dem Gastwirth, aus Plackereien mit der Paßcontrole, mit dem Geld­

wechsler u. s. w. übereilt und vorschnell ein Urtheil über den Staat ge-

161

Stimmen der westeuropäischen Prrffe.

zogen zu werden, und die grämliche Verstimmung des Augenblicks macht

ans der Klaue einen Löwen.

„Ja — der Staat ist verloren, denn der

Steuercontroleur hat den 25 Cigarren die Köpfe umgedreht, die

nicht versteuern wollte."

ich

„ Ja — das muß ein verkommener Staat sein,

denn der Postkutscher trägt einen schäbigen Rock."

Regierungen hätten

es häufig so leicht, populär zu sein. Zu solchen Gedanken wird man durch die zahlreichen Correspon-

denzm aus Rußland nur zu häufig angeregt.

So brachte die „National­

zeitung" in diesem Monate vier Artikel in ihrem Feuilleton, in welchem

man sonst Gescheiteres und Geistreicheres zu lesen gewohnt ist, unter

dem Titel „Russische Zustände".

Die Artikel sind mit W. B. gezeichnet.

Dürsten wir eine Vernmthung wagen, so möchten wir behaupten, es

sei ein Schulmeister gewesen, der diese „Russischen Zustände" beschrie­ Das ist Alles so pedantisch, so kleingeistig.

ben.

In einem Augenblick,

wo gewaltige und tiefeingreifende Staatsveränderungen vor sich gehen, welche

für

das Schicksal einer

73 Millionen starken Gesellschaft

ent­

scheiden, in einem Augenblick, wo 22 Millionen Seelen aus persönlicher

Hörigkeit zur individuellen Freiheit hervorgerufen worden, in dem Zeit­ punkt, da ein militairischer Mechanismus zertrümmert werden und ein

bürgerlicher Organismus an die Stelle deffelben treten soll, in dem Augen­ blick, wo der gesammte Nationalgeist sich zusammenrafft und erhebt, um den mütterlichen Stammbesitz, die Wiege und Urheimath gegen unberech­ tigte Prätensionen zu vertheidigen, in dem Augenblick, wo Liberalität und Humanität alle Schichten und Kreise zu erobern und zu erfüllen

beginnen, kurz in einem Augenblick, wo der ganze Staat fast unerhörten

Krisen gegenübersteht — da ist es wohl nicht an der Zeit, darüber zu klagen, daß man in Petersburg die nach dem Ausland bestimmten

Briefe schon um 3 Uhr Nachmittags auf die Post geben muß. Der Verfaffer bespricht zuerst die russischen Postinstitutionen und findet mancherlei zu tadeln, was in Deutschland beffer oder wenigstens

anders ist.

Seine Kenntniß von dem Postwesen Rußlands scheint jedoch

nicht umfangreicher zu sein,

Briefschalter gewinnen

kann.

als man sie etwa vor dem Petersburger Mit welchen Schwierigkeiten eine Post-

directton zu kämpfen hat, die regelmäßige Verbindungen über so aus­

gedehnte

und

dünn

bevölkerte Ländereien

Nukstsche Revue, n. 2. Heft. 1863.

zu

unterhalten hat,

11

das

162

Stimmen der westeuropäischen Presse.

übersieht

der

der Autor,

Riga nach Petersburg

seine Beobachtungen aus

gemacht

hat.

einer

Reise von

Freilich ist das russische Post­

wesen ein völlig anderes, als in dem übrigen Europa.

Bei uns ist das

Postwesen, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein Comnmnalinstitut, das sich durch sich selbst erhält und dem Staat für seine Direktion des Ganzen noch eine nicht unerhebliche Steuer abwirft.

Bei unserer dichten

und industriellen Bevölkerung setzt sich die Maschinerie des Postwesens ganz von selbst in den behäbigen Stand,

deutschen Post nachgerübmt wird. ailders in Rußland.

der

namentlich der nord­

Das verhält sich aber natürlich ganz

Die Tschumaks der großen Steppen am Pontus

können in der That weder eine Post unterhalten, noch ihr wesentlich zu schaffen geben;

aber die Bürger von Moskau haben mit

denen

von

Odessa zu correspondiren, haben Verkehr und Beziehungen zu einander, und die Verwaltung des Staates bedarf mehr als das Publikum der gehörigen Verbindung.

So ist das Postwesen in Rußland in Wirklich­

keit ein reines Staatsinstitut, d. h. eine zunächst nur dem Verwaltungsintereffe dienende Einrichtung, welche, so weit es möglich ist, sich dem Publikum zur Mitbenutzung darbietet.

Es sollen damit keineswegs die

kläglichen Pedantereien ungeschickter und schwerfälliger Subalternbeamten in Schutz genommen werden, und gewiß sind die vielen Querelen und

Ausstellungen, welche der Verfasser des Artikels macht, nicht ganz un­

begründet; aber daraus, daß die Kaufleute eine Steuer zahlen für die Vergünstigung, eine Stunde später als das sonstige Publikum ihre Cor-

respondenz einliefern zu

schließen,

können,

auf

einen

„traurigen Zustand" zu

das hält denn doch wohl mit der Pedanterei des postalischen

Geschäftsganges in Rußland, an Engherzigkeit den Vergleich aus. Sodann wird der mit den Postanstalten in Zusammenhang stehende

Zeitungsdebit besprochen.

Die alten Klagen über Präventivmaßregeln

und Hemmnisse werden wiederholt.

Es ist aber wohl nur eine captatio

benevolentiae, wenn der Vers, meint, daß andere Staaten dergleichen

nicht haben.

Es ist freilich eine auf dem ganzen Continent gleichmäßig

erhobene Klage, daß der Presse in unerhörter und civilisationswidriger Weise Gewalt angethan wird;

aber jeder Zeitungsabonnent wird

es

sicherlich noch lieber sehen, daß ihm gewisse Stellen schwarz angestrichen

werden, als daß die ganze Nummer wegen Confiscation gar nicht er-

scheint.

Man darf nur daran erinnern, wie oft die Nationalzeitung in

diesem Frühjahr ihren Lesern ausgeblieben ist.

Den Bemerkungen über die Posten schließen sich einige über die Eisen bahnen an.

Bekanntlich nahm die Regierung in dieser Richtung einen ge

wattigen Anlauf und bot zum Bau einer Schienenlänge von etwas über

4000 Werst die Kapitalisten von ganz Europa auf, setzte den Kosten­ betrag auf 280 Mllionen Rubel Silber fest und garantirte 5 Procent

auf 85 Jahre, stellte aber zugleich die Bedingung, daß die projectirten

Bahnlinien innerhalb 10 Jahren, also bis zum Jahre 1866, sammt

und sonders vollendet sein niüßten, und daß die erbauten Linien 85 Jahre nach ihrer Eröffnung unwiderruflich

sollten.

Begreiflicherweise machten

Eigenthum des Staates werden

solche

ungünstige Bedingungen die

Kapitalisten nicht gar zu unternehmungslustig, zumal wenn sie sich die übrige wirthschaftliche Lage

Dennoch fand sich eine

des großen Reiches vor Augen führten.

Gesellschaft (die sogenannre große französische

Compagnie), welche die Berpflichtimg übernahm, die projectirte Eisen bahnstrecke innerhalb eines Decenniums zu vollenden.

faßt die Linien:

1) Petersburg - Warschau;

zur preußischen Grenze (Eydtkuhnen);

Diese Strecke um

2) Petersburg Kowuo bis

3) Moskau - Nischnv Nowgorod;

4) Moskau über Tula, Kursk, Charkow nach Feodosia; 5) Archangelsk-

Libau.

Jene ersten drei Linien sind bereits vollendet und in Betrieb, für

die Vollendung der beiden letzten Linien, die für den Handel so große Wichtigkeit haben, ist verhältnißmäßig noch wenig geschehen (gegenwärtig

wird an der Bahnstrecke Moskau-Saratow gebaut) und man zweifelt, ob

die Gesellschaft den vertragsniäßigen Endtermin wird einhalten können.

Inzwischen ist seit zwei Jahren noch eine andere Bahnstrecke, die RigaDünaburger (im Anschluß an die Linie Ostrow-Pskow-Petersburg, wie an die Kowno - Eydtkuhner) von einer andern Gesellschaft vollendet und dadurch das baltische Land uns in

worden.

erfreulicher Weise näher gerückt

Möchte man nur bald die schon seit einem Jahr nivellirte Linie

Riga-Mitau (39 z Werst) u. s. w. durch Kurland ausführen, so daß nach Vollendung der Bahnen

am schwarzen Meere das Eisenbahnnetz

ein vollständiges wird.

Im weitern Verlauf seiner Schilderung der russischen Zustände hat

der Verfasser der Artikel einen ganz vortrefflichen Gedanken, den er 11*

Stimmen ber westeuropäischen Proste.

164

nur nicht ausführlich und einsichtig genug

darlegt.

In Europa näm­

lich hat man in der Regel keine richtige Anschauung, oder eigentlich fast gar keine Anschauung von dem Mechanismus der Staatsverwaltung

in Rußland.

Daß diestr mit den übrigen in Europa nicht in Vergleich

zu bringen ist, weiß man. gekannt

Die englische Verfassung ist im Wesentlichen

durch ihre historische Entstehung und

Entwickelung.

In den

Staaten des Festlandes ist fast überall mit mehr oder weniger Mrklichkeit der sogenannte Constitutionalismus eingeführt, eine Art Scha­

blone, deren Organe, ziemlich gleichartig in ihrem Inhalt und Umfang,

Jedermann verständlich sind.

Rnr Rußland thut man häufig mit einem

Worte ab: man hält es für einen absolut monarchischen

Staat und

verbindet damit die ungeheuerlichsten Vorstellungen, als ob nicht nur

die Verwaltung der Reichsangelegenheiten einzig und allein durch den Mllen des Kaisers bestimmt würde, sondern auch, als ob alles Gute und Böse, was geschieht, lediglich der Omnipotenz der Krone, ihrer un­

und

begrenzten

schreiben sei.

unterworfenen Macht zuzu­

keiner Verantwortlichkeit

Daß diese Vorstellungen der Wirklichkeit nicht entsprechen,

weiß Jeder, der einen tiefern Einblick in russische Verhältniffe gethan hat.

Aber von so irrigen

sich jetzt

vollziehenden

ihrem ganzen

Umfang gewürdigt

wendig, den Kreis

der

können natürlicherweise die

Ansichten aus

Veränderungen

nicht

werden.

Befugnisse und

klar begriffen

Es

erscheint

und

in

daher noth­

Mittel schärfer zu

skizziren,

welche den einzelmn Behörden und Beamten gegeben sind, und die For­

malitäten des Geschäftsganges näher in's Auge zu fassen. dem

Autor

keinen Vorwurf daraus machen, daß er

nicht in hinreichendem Maße erfüllt.

Wr wollen

diese Aufgabe

Ein paar Zeitungsartikel find in

der That nicht der Ort dazu, und der Rahmen zu beengt, um ein so großes Bild zu umfassen.

Dazu müßte ein Buch geschrieben werden,

äßenn die russische Publicistik ihre Thätigkeit weniger aus dem Gesichts­ punkt der Machtfrage und mehr aus dem der innern Culturentwickelung

ühte, so würde sie Europa schon längst einen solchen Einblick in das innere Räderwerk des Staates verschafft haben. nicht wundern, wenn von dorther und kleinliche Kritik erfolgt.

ewig

Ohne denselben kann man sich

nur Negatives, Nihilistisches

Der Verfasser giebt in kurzen Zügen ein

Bild von der Hierarchie der griechisch - katholischen Kirche.

Auf diesem

Gebiete, findet er, ist der Kaiser wirklich der mächtige Selbstherrscher,

der durch die Synode in gleichem Maße zur Toleranz wie zur größten Intoleranz in den Stand gesetzt ist.

Auf weltlichem Gebiete aber sieht

es in der Wirklichkeit etwas anders aus.

Nach der jetzigen Organisation stehen dem Kaiser, abgesehen von

der heiligen Synode, als oberste Reichskörper zur Seite: rath, der Senat und die Ministerien; Departements nanM

und

(für Gesetzgebung,

der Reichs­

der Reichsrath mit seinen fünf

Militair-,

Civilangelegönheiten,

Fi-

für die Angelegenheiten des Königreichs Polen), gebildet

aus den durch kaiserliches Vertrauen auf Grund ihrer Verdienste utit den Staat und ihrer Einsicht in Staatsgeschäfte berufenen MtgliederN,

zu denen allemal die Minister gehören;

der Senat, gleichfalls in De­

partements eingetheilt, deren mit Einschluß Polens 10 sind, und ge­

bildet aus den vom Kaiser berufenen Senatoren.

Der Reichsrath, der

für seine Angelegenheiten, wie jede Behörde in Rußland, seine eigene Kanzlei hat, und neben dem der Kaiser für besonders wichtige, rasch zu erledigende Zwecke — so z. B. für die Emancipation der Leibeigenen

und neuerdings

für

die Durchführung der in ihrer Basis veröffent­

lichten Justizreformen — besondere Commissionen zu ernennen pflegt, ist jetzt der oberste Reichskörper und hat dem Senat, in dessen Händen

seit Peter dem Großen früher die Leitung aller Reichsangelegenheilen

lag, sogleich bei seiner Einrichtung den Rang abgelaufen.

Der Senat

ist gegenwärtig oberste Justizbehörde und einziger Revisions - und Cas­

sationshof des Reichs, veröffentlicht und registrirt außerdem die Ukase rc. und übt diese gesetzlichen Befugnisse in den erwähnten Departements für

Civil- und Criminalsachen zu Petersburg, Moskau

und Warschau. —

Doch soll nach dem Verfasser der Kaiser weder in dem Reichsrath noch

im Senat eine Stütze haben, deren er zur Durchfühmng seiner wohl-

wollenden Absichten bedarf;

mindestens vermehren beide Staatskörper-

schasten seine Macht nicht, sondern schwächen sie häufig.

Von

den Ministerien

des

Angelegenheiten, des Kriegs

kaiserlichen Hauses,

und

der

auswärtigen

der Marine unterläßt es der Ver­

fasser überhaupt zu sprechen, dagegen werden über das Ministerium des

.jttnent,

des Unterrichts,

der Finanzen und der Justiz einige orien-

tirende Bemerkungen gemacht.

Der geplagteste von allen Ministern ist

166

Stimmen der westeuropäischen Presse.

wohl in Rußland der Minister des Innern;

denn er hat nicht nur

außer der Kanzlei für allgemeine Angelegenheiten das Polizei-Departe­ ment, das Departement für Städteangelegenheiten, sondenr auch das Medicinalwesen und das Departement für den fremden Cultus zu ver­ walten und eine eigene Abtheilung für die Statistik des Reichs und für

Solchen Anforderungen gewachsen zu

die Emancipation der Leibeigenen.

sein, heißt bei der ungeheuren Ausdehnung des Reichs von einem Men­

schen, selbst bei außergewöhnlicher Begabung, fast zu viel erwarten. Daher erklären sich auch bei solcher Geschäftsüberbürdung manche Verzögerungen

in dem Vollzug dieser oder jener nothwendigen Maßregel in der einen Namentlich in denjenigen Fällen, in denen der

oder andern Branche.

Minister des Innern mit dem Cultusminister concurrirt, kommen häufig widersprechende Entscheidungen vor, durch welche der Geschäftsgang ein

schleppender wird.

Man kann sich über Langsamkeit gar nicht beschwe­

ren, wenn man bedenkt, welch eine Menge der höchsten Verwaltungs­ stellen diesem Ministerium untergeordnet sind.

Da sind die General­

gouverneure von Petersburg, Moskau, Kiew, die des Kaukasus, der beiden

Sibirien, Neurußlands und Bessarabiens, die von Wilna, Grodno und Mnsk, die der Ostseeprovinzen, Orenburg's und Samara's, von Finnland

abgesehen; ferner die Civilgouverneure, deren Zahl sich auf einige 60

beläuft, und die Militairgouverneure einzelner Stadtgebiete (im Ganzen 9) — sämmtlich unter dem Minister dann auf die

des Innern.

Der

Verfasser

Thätigkeit der Gouverneure näher ein, und

hebt

geht

be­

sonders mit Ruhm die Verwaltung Suworow's in den Ostseeprovinzen hervor.

Als

einen

wesentlichen

Fortschritt in der Organisation der

Provinzialverwaltung bezeichnet er, daß der jetzt regierende Kaiser in

neuerer Zeit zu dem wichügen Posten der Civilgouverneure meist nur Männer beruft, die sich durch liberale politische Gesinnung und durch anerkannte Tüchtigkeit erprobt haben.

Geht die Regierung auf dem so

betretenen Wege weiter, so kann es nicht fehlen, daß auch die dem Mi­

nisterium des Innern untergeordnete Polizeiverwaltung allmählich

eine

bessere wird. Das Ministerium des Unterrichts oder „ der Volksaufklärung" hat, nachdem das Königreich

Polen auch nach dieser Seite hin seine selb­

ständigen Einrichtungen erhalten, zehn Lehrbezirke unter sich, an deren

Spitze die Curatoren mit ihren Adjunkten stehen.

Die Curatoren haben

die von den höheren wie niederen Unterrichtsanstalten einzufordernden

Berichte

dem Ministerium

zu communiciren,

für die Bedürfnisse der

Universitäten, der gelehrten, der Kreisschulen und andern öffentlichen

Bildungsanstalten Sorge zu

tragen und die Erlaubniß zu jedem die

Volksaufklärung betreffenden Unternehmen zu geben.

Die Regierung hat das dringende Bedürfniß der Reform des rus­

sischen Uuterrichtswesens längst anerkannt;

der Verfasser glaubt aber

sehr bezweifeln zu müssen,

ob auf dem eingeschlagenen Wege wirkliche

Reformen erzielt würden.

(Die Professoren

bezweifeln dies bekanntlich so wenig,

der Leipziger Universität

daß sie, und namentlich der be­

rühmte Staatsökonom und Statistiker Hofrath Roscher, ihre Mitwirkung und Hülfe nicht versagten.)

Es ist nämlich zu dem angegebenen Zwecke

eine besondere Commission eingesetzt, commissionen

Referenten

getheilt

und

von

die sich wieder in einzelne Fach­

denen jede

ihren

Vorsitzenden resp.

ernannt hat, welcher dem Unterrichtsministerium über die

in jedem einzelnen Fache zu empfehlenden Reformvorschläge einen ge­ druckten Bericht vorzulegen hat.

Die bisher in die Oeffentlichkeit ge­

drungenen Vorschläge aber, meint unser Autor, erwecken nicht eben großes

Vertrauen in die Einsicht dieser sogenannten Fachmänner, befestigen viel­

mehr das alte Vorurtheil allzu parteiischer Würdigung panslavistischer Tendenzen (?).

vorigen Jahres

Man höre den Beleg dafür.

So dringt ein im October

erschienener Bericht des betreffenden Fachmannes auf

die Einführung eines Lehrstuhls für — „ Universalliteratur" d. h. es

müsse auf den russischen Universitäten (die doch ihre verschiedenen Lectoren und Professoren für die einzelnen Literaturen, Sprachen rc. haben)

eine Stelle geschaffen werden, die den akademischen Lehrer verpflichte, alle Literaturen der Welt, der alten wie der neuen, den Studenten „in

einem gemeinsamen (?) großen Bilde" vorzuführen.

Dazu apostrophirt

der Verfasser: „Rach solchen unsinnigen (!) Ansichten sollen die Universi­ täten reformirt werden, von solchen Männern soll die bessere Stellung

der gelehrten Schulen ausgehen."

Nun denn, wir wollen den Verfasser

nicht erst auf Goethe zurückweisen, der über dem Verdacht, ein Panslavist zu sein, erhaben ist, und nicht nur eine Weltliteratur zusammenfaffen wollte, sondern sogar von einer allgemeinen Weltsprache für die-

selbe träumte; wir wollen auch nicht auf Thomas Carlysle Hinweisen,

der

dies wie

eine Messiaslehre

predigt,

well

das

nur theoretische

Wünsche sind; wohl aber zeigen wir, und nicht ohne Stolz, auf den praktisch ausgeführten Versuch des berühmten Profeffor Rosenkranz hin,

der doch auch nicht im Geruch des

Panslavismus

steht, und

dessen

Buch „Die Dichtung aller Völker", wenn wir nicht irren, aus Collegien-

heften hervorgegangen, von den Vedas

und Puranas an bis zu den

lyrischen und epigrammatischen Producten

der neuern Zeit ein großes

Gesammtbild entfaltet.

Von dem Finanzministerium als solchem giebt es der Verfaffer trotz seinem Vorsatz auf, Näheres mitzutheilen.

Dagegen hebt er aus diesem

Ressort zwei Specialitäten hervor, die er kurz behandelt: den Mangel

an kleiner Münze und den Schmuggel.

Was das Erstere betrifft, so

ist das bekanntlich jetzt ein überwundenes Uebel, und auch in den letz­ tem ist durch die Tarifherabsetzungen ein gewaltiger Riß gebracht.

In

dem Maße als die Zolltarife abnehmen, steigt die Ehrlichkeit im Grenz­ handel, und im Freihandel liegt ein so förderndes Princip der Sitt­

lichkeit, als sich unsere Schutzzöllner kaum träumen lassen.

Der Schmug­

gelhandel ist sicherlich eine der finstersten Seiten der menschliche Gesell­

schaft; das Schlimmste dabei ist, daß der Schmuggler nur gegen die Regierung, nicht gegen die Gesellschaft zu freveln wähnt, und fich durch

eine Art bellum omnium contra omnes für die Beschränkung des all­

gemeinen Verkehrs seitens

der Herrschenden rächen zu dürfen glaubt.

Freihandel ist die Vernichtung dieses Verbrechens, oder, wie ein engli­ scher Pnblicist meinte, die Pensionirung der Grenzfrevel.

Es giebt also

Mittel, den Schmuggel zu überwinden, und man begreift nicht, warum der Verfasser der in Rede stehenden Artikel Rußland die Möglichkeit

abspricht, diese Calamität zu beseitigen. Hinsichtlich der Kleinmünze bestand wirklich einige Zeit gar trübe Wirthschaft.

Um ein Surrogat für die fehlende Kleinmünze, die doch

der Verkehr nöthig macht, zu schaffen, verfiel man in einzelnen Gouver­

nements

auf Zahlungsanweisungen, welche von Privaten

eines Rubels ausgestellt und

erklärt wurden.

auf Theile

für jederzeit in Papierrubeln auslösbar

Ob aber der Aussteller solvent sei, oder nicht, ob er

für den auszugebenden Anweisungsbetrag irgend eine Garantie ad de-

169

Stimmen der westeuropäischen Prefie.

positum geleistet habe, oder nicht, danach fragte man im Anfang gar

nicht.

Natürlicherweise

stellten sich

bei

dieser unumschränkten Münz­

freiheit sehr bald arge Jnconvenienzen ein.

Man wurde nach einigen

üblen Erfahrungen vorsichtiger, und das Recht, Assignationen auszu­ stellen, die zum Ersatz der Kleinmünze coursiren sollten, wurde

denen

eingeräumt,

die

ihre Solvenz

bei der Obrigkeit

und den ganzen Betrag der Assignationssumme baar

Gleichwohl

erhielt

sich

das Mißtrauen.

lieber Frankomarken ä 10

Dieser Mangel an kleiner Münze ist

dem Abschluß

der

letzten Anleihe,

nachgewiesen

deponirt hatten.

Mancher Vorsichtige nahm,

wenn durchaus fein Kupfer zu haben war,

Kopeken.

nur

nun zum Glück seit

in Folge deren die Regierung auf

die Prägung einer großen Summe kleiner Silbermünzen Bedacht ge­ nommen hat, ziemlich überwunden;

nur die Landbevölkerung hält noch

das im Austausch erlangte Silbergeld zurück.

Auch seinen Vorsatz, über das Justizwesen zu sprechen, läßt der Autor vorläufig fallen und verspricht, in nächster Zeit auf die russische

Justizorganisation und die bisherige Handhabung derselben mit Rückficht

auf die vorbereiteten Reformen wieder zurückzukommen. — Zum Schluß werden noch die Adelscorporationen einer kurzen Kritik unterzogen.

Er

findet, daß die jetzige Zusammensetzung und die Behandlungsweise (?)

dieser Rotabeln-Versammlungen nicht den Bedürfinffen unserer Zeit ent­ sprächen, daß aber dennoch ein guter Keim zur Vertretung aller In­

teressen in ihnen liege, der bei passender Umgestaltung segensreich für das ganze Reich sich entwickeln könnte.

Russische Erwerbungen auf dem Amurgedietr. Eine der erfreulichsten Errungenschaften, welche Rußland int all­

gemeinen Culturinteresse

aus

den

letzten hundert Jahren aufzuweisen

hat, sind seine Eroberungeit und sein Vorrücken auf dem Amurgebiet. Das „Ausland" stellt (nach Expeditionen der russ.-sibir. geogr. Gesell­

schaft) die historischen Data dieser Erwerbungen zusammen.

Schon im

169

Stimmen der westeuropäischen Prefie.

positum geleistet habe, oder nicht, danach fragte man im Anfang gar

nicht.

Natürlicherweise

stellten sich

bei

dieser unumschränkten Münz­

freiheit sehr bald arge Jnconvenienzen ein.

Man wurde nach einigen

üblen Erfahrungen vorsichtiger, und das Recht, Assignationen auszu­ stellen, die zum Ersatz der Kleinmünze coursiren sollten, wurde

denen

eingeräumt,

die

ihre Solvenz

bei der Obrigkeit

und den ganzen Betrag der Assignationssumme baar

Gleichwohl

erhielt

sich

das Mißtrauen.

lieber Frankomarken ä 10

Dieser Mangel an kleiner Münze ist

dem Abschluß

der

letzten Anleihe,

nachgewiesen

deponirt hatten.

Mancher Vorsichtige nahm,

wenn durchaus fein Kupfer zu haben war,

Kopeken.

nur

nun zum Glück seit

in Folge deren die Regierung auf

die Prägung einer großen Summe kleiner Silbermünzen Bedacht ge­ nommen hat, ziemlich überwunden;

nur die Landbevölkerung hält noch

das im Austausch erlangte Silbergeld zurück.

Auch seinen Vorsatz, über das Justizwesen zu sprechen, läßt der Autor vorläufig fallen und verspricht, in nächster Zeit auf die russische

Justizorganisation und die bisherige Handhabung derselben mit Rückficht

auf die vorbereiteten Reformen wieder zurückzukommen. — Zum Schluß werden noch die Adelscorporationen einer kurzen Kritik unterzogen.

Er

findet, daß die jetzige Zusammensetzung und die Behandlungsweise (?)

dieser Rotabeln-Versammlungen nicht den Bedürfinffen unserer Zeit ent­ sprächen, daß aber dennoch ein guter Keim zur Vertretung aller In­

teressen in ihnen liege, der bei passender Umgestaltung segensreich für das ganze Reich sich entwickeln könnte.

Russische Erwerbungen auf dem Amurgedietr. Eine der erfreulichsten Errungenschaften, welche Rußland int all­

gemeinen Culturinteresse

aus

den

letzten hundert Jahren aufzuweisen

hat, sind seine Eroberungeit und sein Vorrücken auf dem Amurgebiet. Das „Ausland" stellt (nach Expeditionen der russ.-sibir. geogr. Gesell­

schaft) die historischen Data dieser Erwerbungen zusammen.

Schon im

170

Stimmen der westeuropäischen Press«.

Anfang des vorigen Jahrhunderts hatte Rußland von China das Recht

freier Schifffahrt aus dem Amur verlangt.

Gleichwohl gelang es nicht,

den Starrsinn der Chinesen zu besiegen und im Frieden von Kiachta (1727) mußte Rußland aus diese Ansprüche definitiv verzichten.

Im Jahre 1805

aber machte Krusenstern den Vorschlag, die Aniwa-Bay an der Süd­

was auch im darauf

spitze der Insel Sakhalin in Besitz zu nehmen, folgenden Jahre durch

den Lieutenant Chwostoff ausgeführt wurde.

Um dieselbe Zeit bemühte sich Golowkin vergeblich, in Peking die freie

Die Sinesen blieben

Beschiffung des Amur um jeden Preis zu erwirkend

Im Jahre 1847 wurde

unbeugsam und machten keinerlei Concession.

die Sache von dem Grasen Nikolai Murawieff, welcher Generalgouver­

von Ostsibirien war, von Neuem wieder

neur

Waganoff,

Unter

ausgenommen.

dem Gefährten Middendorfs wurde ein Häuflein Kosaken

von Ustj-Strelka abgesandt, das jedoch gänzlich verscholl und nie zurück­ kehrte.

Unbeirrt davon, ließ Murawieff die Küsten von Ochotsk und die

Mündung des Amur untersuchen und die aus mehreren Officieren der

russisch-amerikanischen Compagnie bestehende Expedition entdeckte unter Capitain Newilskei die Glücksbay und gründete dort die Winterstation Petrowskoi.

Im Jahre 1850 drang das erste russische Schiff unter Lieutenant Orloff in die Amurmündung ein.

Die

eingebildete Furcht der Ein­

wohner, daß ihm bedeutende Streitkräfte folgen, erleichterte die Expe­ dition.

untersuchte die

Orloff

während Newilskei die

beiden Ufer,

beiden Handelspunkte Nikolajewsk uud Marjinsk gründete, mit denen

Rußland am untern Amur Fuß gefaßt hatte.

der Insel Urup;

1852 folgte die Besetzung

1853 wurde Alexandrowsk und Konstantinowsk ge­

gründet, während Major Busse von der Aniwa-Bay der Westküste von Sakhalin,

aus einen Theil

wo man Kohlenlager entdeckt hatte, in

Besitz nahm. Der Krieg mit den Westmächten spornte die russische Regierung zu

erhöhten Anstrengungen an, und Murawieff

fuhr

mit

1000 Mann

Linientruppen

und einigen Gelehrten auf dem

Fluß hinauf.

Den Stationen am untern Amur erwuchs jedoch kein

Dampfer Argun

den

wesentlicher Gewinn, weil die Anzahl der Truppen zu gering war und

viele in Besitz genommene Punkte mußten wieder verlaffen

werden.

Nur Nikolajewsk und Marjinsk erhielten zu 500 Mann Besatzung.

Amurmündung blieb von den Alliirten unbehelligt.

Die

Im Jahre 1855

gingen drei bedeutende Expeditionen von Schilinsk

ab und

führten

3000 Soldaten, 500 Colonisten mit Rindvieh, Pferden, Proviant, Ackergeräthschaften und bergt den Strom hinab.

ging die erste Expedition.

Wiederum unter Murawieff

Die Chinesen geriethen in Aufregung und

Unterhandlungsversuche wies Murawieff stolz ab.

Die Colonie Mar­

jinsk kam bald in die Höhe und legte mehrere Dorfschaften an;

zählte sie 150 Häuser, darunter ein Clubhaus

bald

und zwei Schulen.

Auch in

In Castrycs-Bay ward ein Lager jür 500 Mann eingerichtet.

diesem Jahre blieben die Alliirten den Amurmündungen fern.

Allein

die Anwesenheit dieser Geschwader wirkte doch drückend: da kam im Juli 1856 die Nachricht von dem Friedensschluß.

Murawieff eilte nach

Petersburg, um sich die Geldmittel zur Erweiterung der Untemehmun-

gen zu erwirken.

Noch

in demselben Jahre zogen 697 große Boote

und Flösse mit Lebensmitteln, Geräthschaften und Colonisten den Fluß

hinab, und eine Anzahl Kosakenstationen und die Anlegung einer neuen Colonie (Nowomichailowsk) waren das Ergebniß

dieses Zuges.

Im

Frühling 1857 fuhr man mit flachgehenden Dampfern den Fluß hinauf,

und um mit den Chinesen die Grenzverhältnisse zu reguliren, ging Graf Putiatin nach Peking.

Jedoch erhob die chinesische Regierung Einwand

gegen die russische Colonisation und Putiatin hatte sein Ziel verfehlt. Jetzt begannen auch die chinesischen Unterbeamten den Unternehmungen

Hindernisse in den Weg zu legen.

Murawieff eilte zum zweiten Male

ilach Petersburg, um sich ausgiebige Verstärkungen zu erwirken»

Die

Regierung ging bereitwillig darauf ein, und es wurden Anstalten ge­

troffen,

bedeutende

Truppenabtheilungen

den

Amur

hinabzusenden.

Das Amurgebiet wurde durch Ukas vom 31. October 1857 als „See­

provinz von Ostsibirien" mit Kanttschatka und der ganzen Seeküste von Ochotsk vereinigt, und Nikolajewsk als Hauptstadt erklärt.

Die Eng­

länder und Franzosen hatten aber inzwischen den Hochmuth der Chinesen gedemüthigt und Blurawieff fand nicht nur keine Veranlassung zur Waffengewalt, sondern die Chinesen verstanden sich in dem am 28. Mai

1858 in Aigun abgeschlossenen Vertrage zur Abtretung des linken Ufer­ gebiets des Amur hinab bis an den Usuri, diesen mit dem Sunguri

172

Stimmen der tvesteuropäischen Presse.

mit eingeschlossen.

Vierzehn Tage

nach Ratification

desselben untere

zeichnete Putiatin den Vertrag von Tientsin, nach welchem fortan ein russischer Gesandter in Peking zugelaffen wurde, eine zweimal im Monat

von Kiachta nach Peking gehende Post eingerichtet und die Grenze nach einem besonderen Supplementsartikel

regulirt werden sollte.

In dem

nämlichen Jahre 1858 legte Murawieff den Grund zu der Stadt Bla­ goweschtschensk (Stadt der glücklichen Kunde), weil sich Marjinsk nicht für Vortheilhaft erwiesen hatte.

die Lage von

Mit Recht wurde Mu­

rawieff zum Lohn für seine unermüdlichen Bemühungen der Titel „Graf Amurski" beigelegt. Zu dem raschen Aufblühen der Colonieen trug die Regierung fort­

während durch die ungewöhnlichsten Opfer

bei.

Es waren bis

zum

Jahre 1858 bereits 20,000 Seelen beiderlei Geschlechts längs des Amur angesiedelt.

Das schwankende Verhallen der Chinesen gegen die Europäer

wirkte auch auf die Amurcolonieen beeinträchtigend zurück.

Als aber

die Westmächte durch jene berüchtigte Eroberung von Peking die Chinesen

mürbe gemacht hatte, wurde den russischen Colonieen,

die in immer

aufsteigender Blüthe sich befanden, kein Hinderniß in den Weg gelegt.

Die russische Regierung verzichtete sogar im Interesse

der Colonisten

auf die Erträgnisse der Mineralschätze,

an der

Dzeya Goldlager entdeckt hatte.

obgleich

man

obern

Aber es stellte sich bald heraus, daß

die Kosaken nicht die besten Colonisten sind, und man war deshalb sehr bald darauf bedacht, deutsche Auswanderer nach

dem Amurgebiet zu

locken, und Capitain Bries brachte am Ende des Jahres 1859 auf dem

Dampfer Kasakewitsch

40 deutsche Familien aus Kalifornien herüber,

die an der Mündung der Bureya sich ansiedelten.

Im Jahre 1860 ver­

ließen weitere hundert deutsche Familien, Mennoniten aus Taurien, ihre russische Heimath, um nach dem Amur zu ziehen und dort ihre frucht­ bringende Thätigkeit und ihren rastlosen Fleiß zu entfalten.

In einem am 14. November 1860 abgeschlossenen zweiten Vertrage mit China erlangte Rußland noch weitere Gebietstheile und es wurden

ihm sogar die Meeresküsten der Mandschurei bis hinab zu den Grenzen

von Korea einverleibt.

Der Werth dieser Küstenstrecke mit ihren vor­

trefflichen Buchten und Häfen ist für Rußland ein ganz außerordent­

licher.

Die Zahl der den Amur befahrenden Ftußdampfev beläuft sich

Stimmen der westeuropäischen Presse. gegenwärtig auf zwölf, von welchen nenn der Regierung gehören.

Jahre 1861

verordnete dieselbe die

Anlegung

173 Im

einer Telegraphenlinie

von Nikolajewsk den Amur aufwärts bis Kabarowka, von dort an dem Usuri aufwärts bis Nowgorod,

den

südlichsten Punkt des russischen

Territoriums an deni japanesischen Meere.

Eine Linie von Kiachta bis

Kabarowka soll nach Vollendung der erstern gleichfalls in Angriff ge­ nommen werden.

Die Eisenbahnfrage in Nichts

hat mehr zu

dem schnellen, fast wunderbaren Aufblühen

der nordamerikanischen Freistaaten in Handel nnd Industrie beigetragen, als

die energische und beispiellos rasche Ausbeutung der Dampfkraft,

zumal als Transportmittel.

Während in Europa tausendjährige Orte

noch vergeblich auf Wiedervereinigung mit Schwesterstädten durch einen Eisenweg warteten, flogen in Amerika bereits die Dampfrosse durch die alten Urwälder und die Dampfmaschine erprobte ihre Kraft unmittelbar Dadurch, daß Tausende von Einwan­

an dem jungfräulichen Boden.

derern mit der Schnelligkeit des Dampfes binnen wenigen Tagen an die

Grenzen der civilifirten Welt geführt, die Produkte der weitentlegensten Landschaften aber eben so schnell auf den Weltmarkt gebracht werden

konnten, gewann Nordamerika in ganz kurzer Zeit den Rang einer dominirenden Großmacht nach außen und in Bezug auf seine eigene staatliche Sicherheit eine Stellung, wie kein anderer Staat der Erde. seines ungeheuern Ländergebietes

und

In Ansehung

der verhältnißmäßig geringeren

Bevölkerung, in Ansehung der fast unerschöpflichen, zum größten Theile

noch unverwertheten natürlichen Hülfsquellen bietet Rußland gar viele Vergleichspunkte mit Nordamerika dar.

Wer seine Blicke betrachtend

auf diesen Länderkoloß richtet, der füllte meinen, die Eisenbahnen wären so recht für Rußland erftmden, damit dieses Land, welches einige Jahr­

hunderte später in das europäische Concert eingetreten ist, auf schnellerem Wege

den

westlichen

Nation

nacheilen könnte.

Dieser

Anschauung

haben sich denn auch weder die russische Regierung, noch die russischen Völker entschlagen;

man ist nach

und nach

allgemein zu der Ueber­

zeugung gekommen, daß Eisenbahnen gebaut werden müssen und zwar

viel

und schnell.

Während

man indessen

über

dieses Princip wohl

allenthalben einig ist, streitet man noch viel über die Mittel und Wege.

Während die Einen nämlich den Eisenbahnbau von der Regierung be­

trieben haben wollen, wünschen die Andern denselben durch Privatgesell­ schaften besorgt.

Beide Parteien können mit einem ganzen Heer von

Gründen in's Feld rücken.

Der Staat hat dieselben Veranlassungen, die

Eisenbahnen in die Hand zu nehmen, wie er andere ähnliche Einrich­

tungen und Unternehmungen, z. B. Post- und Telegraphenwesen besorgt, und abgesehen davon, daß sein Jnteresie mit dem seiner Angehörigen in engster Verbindung steht, bedarf er der Eisenbahnen zu seiner Ver­

theidigung toie zur schnelleren Verwirklichung aller seiner Intentionen.

Fügen wir nun noch den Unistand hinzu,

daß viele Strecken,

deren

einerseits der Staat bedarf, die vielleicht auch für die Adjacenten eine

Lebensfrage sind, zu wenig Aussicht auf Rentabilität bieten, als daß Privatgesellschaften besondere Lust enrpfinden sollten, ihre Kapitalien daran zu wenden,

so wären jedenfalls Ursachen genug vorhanden, um den

Bau von Eisenbahnen aus Staatsmitteln zu befürworten, wenn nicht eben so viel gewichtige und zum Theil noch gewichtigere Gründe dagegen

sprächen.

Zunächst ist unter'allen Umständen der Grundsatz festzuhalten,

daß der Staat überhaupt sich mit keinen gewerblichen Unternehmungen befassen soll, wenn seine Theilnahme nicht unbedingt erforderlich ist, und

die Gründe dafür sind so in die Augen springend, daß wir eine Auf­ zählung derselben hier füglich unterlassen dürfen.

Andererseits hat sich

die Thatsache in aller Herren Ländern herausgestellt,

schaften

schneller

und billiger bauen,

daß Privatgesell­

als der Staat,

und

da

diese

Thatsache eine allgemeine ist, brauchen wir nicht zu untersuchen, warum

es so ist.

Wenn nun trotzdem Viele dem Staatseisenbahnbau den Vor­

zug geben, so thun sie es vornehmlich aus dem Grunde, weil sie die Eisenbahnen aus eigenen Mitteln bestritten und durch eigene Kräfte her­

gestellt wissen wollen, und nicht wie es bei ausländischen Unternehmern hauptsächlich geschehen würde, durch Ausländer.

Dieser Grund, wenn

er überhaupt von national-ökonomischer Richtigkeit wäre, ist für Ruß­ land durchaus nicht stichhaltig; hat doch dieses Land in anderer Be­ ziehung

noch so viel zu thun,

daß es aller seiner Arbeitskräfte voll­

ständig bedarf. „Aber der Staat

baut solider, er nimmt mehr Rücksichten auf

Bequemlichkeit und einen angemessenen Luxus."

So sprechen Mele und

176

Die Eisenbahnftage in Rußland.

weisen dabei auf die großartige, beinahe musterhafte Eisenbahn zwischen Moskau md Petersburg hin, während sie über die Abwesenheit dieser

Vorzüge bei

dm

durch

die große Eisenbahngesellschaft ausgeführten

Streifen bittere Klagen führen.

Hätte der Staat diese Eisenbahnen ge­

baut, meinen sie, so würde man ebenso bequem darauf fahrm, wie auf

Allein die Herren haben eine wichtigeSeite dieser

dem »Chemin Nicolas«.

Unternehmungen übersehen, nämlich die finanzielle.

Ein Vergleich zwi­

schen dem Kostenaufwand zur Erbauung der Moskau-Petersburger Bahn

und dem, welcher bei den Bautm der großen Eisenbahngesellschast sich herausgesteüt hat, wird das nöthige Licht darüber verbreitm.

Man be­

rechnet durchschnittlich auf 60 Procent der Bruttoeinnahme die Aus­ gaben für den Betrieb, das Uebrige würde also als Verzinsung des

aufgewendetm Kapitals angesehen werden können.

strecke,

deren Bau 100,000 Thaler

gekostet

Bei einer Eismbahn-

hat,

würde eine jähr­

liche Einnahme von circa 12,000 Thalern erforderlich sein, sollte nach Abzug der 60 Procent Betriebskosten das Kapital mit 5 Procent ver zinst werdm, wobei wir die Zinsen noch gar nicht in Anschlag bringen,

die während der Dauer des Baues dem Unternehmer verloren gehen.

Die Petersburg-Moskauer Bahn hat nun nach Angabe der „Nordischen Biene" ungefähr 117,476,000 Rubel gekostet, was bei der Ausdehnung von 604 Wersten für die Werst 194,500 Rubel beträgt.

Die Erträge

dieser Bahn werden auf jährlich 8,500,000 Rubel geschätzt, was für die Werst 14,000 Rubel betragen würde.

60 Procent für Betriebskosten

abgezogen, bleibm 3,400,000 oder für die Werst 5630 Rubel zur Ver-

zmfung des angelegten Kapitals.

Das ist eine Verzinsung von 2 Pro-

eent ungefähr,

und mit dieser kann eine Privatgesellschaft unmöglich

zufrieden sein.

Hierbei muß man noch den Umstand in's Auge fassen,

daß die

Petersburg-Moskauer Linie eine der produktivsten in ganz

Europa ist. anders

Bei der großen russischm Eismbahngesellschast hat man

gerechnet.

Diese

hat

eine

Strecke

von

1616 Wersten

mit

150,138,354 Rubeln gebaut, was auf die Werst 92,907 Rubel beträgt, gegen 194,500 Rubel für eine gleiche Strecke auf der andern Bahn. Angenommen, daß die Rentabilität dieser Bahn dieselbe ist, wie die

Ler P.-M. Bahn, so ergiebt sich hier eine Verzinsung des Kapitals zu

mehr als 6 Procent.

Dazu kommt, daß die letztgenannte Bahn ihre

604 Werste in 7 Jahren gebaut hat, oder in 10 , wenn man die Zeit mit einrechnet, während welcher die Arbeiten theilweise eingestellt wurden.

Die andere Bahn hätte in demselben Verhältniß 18 Jahr und 8 Mo­

nate gebrauchen muffen, um ihre 1600 Werst zu vollenden, sie hat nur 6 Jahre gebraucht, und darum auch bei Weitem weniger Zinsen ver­

loren.

Um das Verhältniß ganz genau darzustellen muß man noch in

Betracht ziehen,

daß

die große Eisenbahngesellschaft enorme Verluste

durch zufällige Umstände erlitten hat, indem sie nach dem Auslande be­ deutende Zahlungen zu leisten hatte

in einer Zeit, wo der Cours des

Silberrubels sehr heruntergekommen war und der Verlust in Paris bis 330 Centimes, in London bis 32 Pence betrug.

Rußland muß

noch ungeheure Eisenbahnstrecken bauen, um nur

zunächst das Nöthigste zur Vervollständigung seines Netzes zu thun, es

muß schnell, es muß viel, es muß billig bauen.

Jedes Jahr, ivelches

verloren geht, hat es mit 50 Jahren Reue zu bezahlen.

Alle Strecken,

welche der Privatfpeculation sich günstig erweisen, müssen dieser überlaffen werden.

Erst wird das Haus gebaut und bedacht, ehe man daran

denkt, es auch zu schmücken. Transportmittel;

Die Industrie, der Handel wollen schnelle

der russische Fabrikant,

der russische Kaufmann will

ebenso schnell zum Markt kommen, wie seine ausländischen Concurrenten, der Staat >oill seine Vertheidiger eben so schnell an die Grenzen führen, wie

seine Feinde

ihre Truppen dahinführeu:

für die Vergnügungs­

reisenden ivirb später gesorgt werden.

L A-

Rnss schr Revue, ir. r. Heft. 1863.

12

Aus Muskau. Wenn der Ausländer das Wesen des Russen in seiner ursprüng­

lichen Gestalt sucht, so bleibt er nicht bei Petersburg stehen. Petersburg

hat ihm einen zu kosmopolitischen Charakter; er findet dort fast Alles, was er in der Heimath verlassen, vielleicht nur etwas theurer und unter

einem Himmelsgewölbe von etwas kühlerem Colorit.

Bloskau lockt ihn

an mit seiner althergebrachten Gastfreundschaft und den Hunderten von

Kirchen und Tausenden von Glocken,

welche

die Likft mit Geläut in

allen Tonarten erfüllen; hier glaubt er noch den traditionellen, halb

asiatischen Schlendrian beobachten zu können, wo die Zeit mit Schwatzen, Nichtsthun und Beten verbracht wird.

Aber dieser idyllische Zustand ge­

hört der Vergangenheit an: wir sitzen im Herzen Rußlands, und sind unmittelbar berührt von jedem seiner Schläge.

Was man in früheren

Zeiten im russischen Reich Liberalismus nannte, hatte übrigens hier von

je her seinen Sitz: gehörig gewürdigten

die Unzufriedenen,

die ihrer Meinung nach nicht

staatsmännnischen Capacitäten,

zogen immer ant

liebsten nach Moskau, wo sie sich unbehelligt manches freie Wort er­

laubten, und dabei in den Vormittagsstunden ihre Besuche im Frack und

mit dem Stern auf der Brust machten.

Diese Herren hätten vor zehn

Jahren sich nicht träumen lassen, daß ihre vermeinte Freisinnigkeit so

bald von der Regierung überflügelt werden würde! Bei alledem ist und bleibt die zweite Hauptstadt des Kaiserreichs noch immer der Ort, wo sich ethnographische Studien über Volk und

Sitten machen lassen.

Diese wollen wir jedoch Andern überlassen; unsere

Absicht war nur, darauf hinzudeuten, daß das Schwatzen und Beten dem

Sprechen und Handeln Platz gemacht hat.

Wie gewaltig es sich regt

auf dem Felde der Intelligenz, davon hat die Kunde schon den Weg über die Grenze gefunden; wir wollen heute nur ein weniger bekanntes Faktum zur Kenntniß Ihrer Leser bringen.

Moskau besitzt die einzige in Rußland existireude Privatanstalt für Taubstumnle. Die als Beilage der Bloskauer Zeitung erscheinende „Tageschronik" lenen Tafeln genügt, Jeden von dem Ungrund dessen, was Herr Twerdowa-

toff behauptet, zu überzeugen.

Der uits hier vergönnte Naum ist viel

zu karg bemessen, um das Wesen und die Vorzüge des Gabelsbergerschen Systems vor allen andern bisher an's Licht der Oeffentlichkeit ge­

tretenen einigermaßen augenscheinlich zu machen. nöthig.

Es ist auch gar nicht

Wer sich in dieser Hinsicht unterrichten will, dem sind in dem

vorgenannten Lehrbuche die Mittel ausreichend geboten sich ein selbst­

ständiges Urtheil zu bilden.

Nur bezüglich der ohne allen Beleg ge­

lassenen Behauptung Twerdowatoffs,

daß ein anderes System — das

Stolze'sche — die Herrschaft in Deutschland mit noch größerem Rechte beanspruche,

mindestens ebenso verbreitet sei in Deutschland als das

Gabelsberger'sche und für die deutsche Sprache allen gerechten Anfor­ derungen entspreche, um mit der Zeit ein Gemeingut aller Gebildeten zu werden, -erlauben wir uns noch einige Worte zum Schluffe.

Eine

auf Grund der Angaben des „Tascheitbuchs für Gabelsberger Steno­

graphen für 1863" und des Stolzeschen Almanachs für dasselbe Jahr

im „Correspondenzblatt des Kgl. stenographischen Instituts" f. 1863 Nr. 3 ff. veröffentlichte vergleichende Uebersicht über die Verbreitung

beider Systeme weist unter anderm nach, daß während sich im I. 1862 die Zahl der Gabelsbergerschen Vereine von 162 auf 193 also um 31,

d. h. 19| % vermehrt hat, den 93 Stolze'schen Vereinen nur 4 hinzu­

getreten sind.

Hinsichtlich der Praxis ist die Gabelsberger'sche Steno­

graphie ebenfalls weit mehr verbreitet und hat weit mehr geleistet, als

die Stolze'sche.**)

Und was endlich den innern Werth des Gabelsber­

ger'schen Systems gegenüber dem Stolze'schen anlangt, so bitten wir um *) Lehrbuch der deutschen Stenographie nach F X. Gabelsbergers System. Fünfte, vermehrte Auflage. Dresden 1863. Verlag von Gustav Dietze.

**) S. u. a. S. 54. f. der Schrift: „Die Stenographie als Unterrichtsgegen­ stand. Von Hugo Häpe." Dresden, Verlag von Carl Adler. 1663.

255

Eine Streitfrage.

Erlaubniß, hier kurz auf die, umstehend citirte, Häpe'sche Schrift, sowie auf das Werk des Dr. Eggers: „Die Stenographie in den Schulen. Materialien zur Vergleichung der Systeme Gabelsberger Berlin, Verlag von Schröder 1863" Hinweisen zu dürfen,

Nebst

und Stolze.

in welchen

beiden Publicationen die Vorzüge der Gabelsberger'schen Methode vor der Stolze'schen schlagend nachgewiesen sind. Wir haben uns in unseren Ergänzungen und Berichtigungen auf

das Allernothivendigste beschränkt, sind

aber in der Lage und

gern

bereit, falls es gewünscht würde, näher auf die Sache einzugehen. Dresden, im August 1863.

Dr. I. W. Jeivig.

Vom russischen Büchermarkt.

Zur Geschichte des Mittelalters. Einen Namen, welchem die Sache nicht genau entspricht, hat M.

Stassulewitsch seinem Versuche gegeben, ein Gesammtbild des Mittel­ alters aus den Aufzeichnungen und Mittheilungen der Zeitgenossen so­ wohl wie der spätern und neuesten Autoren zusammenzustellen.

Er nennt

sein in vieler Hinsicht gewiß verdienstliches, von Fleiß und Belesenheit zeugendes Sammelwerk eine „Geschichte des Mittelalters in den Schrift­ stellern jener Epoche und den Untersuchungen neuerer Gelehrten." *) Ab­

gesehen davon, daß Fragmente kein Ganzes bilden, und daß man von einzelnen Aussätzen und Auszügen aus historischen Werken nicht einmal sagen kann, damit wären die betreffenden Schriftsteller gegeben, so ist

eine solche Sammlung, selbst wenn sie alles enthielte, was jene Schrift­

steller über den Gegenstand geschrieben, noch lange keine Geschichte.

Ja,

man denke sich sogar eine ganze, große, reiche historische Literatur;

sie umfasse den ganzen Kreis geschichtlicher Vorgänge, Erscheinungen und Thatsachen einer Epoche: wenn sie aber nur aus Monographien besteht, dieselben mögen noch so erschöpfend sein, so giebt sie doch keine Gesammtgeschichte jener Epoche, sondern nur das Material dazu, während

allerdings ein einziges Werk von unendlich geringerer Ausführlichkeit und

einem Umfang, der selbstverständlich nicht im Entferntesten an den einer ganzen Literatur reicht, schon eine Gesammtgeschichte kann.

sein und heißen

Es braucht nicht bewiesen zu werden, daß eine äußerliche Zu­

sammenstellung der Thatsachen keine geschichtliche Darlegung ist; aber

*) So lautet der Titel, wörtlich übersetzt. Vergl. die Bibliographie im Augusthefte der Russ. Revue S. 183.

eben so klar ist, daß eine äußerliche Verbindung von Einzelcharakteristiken, mag jede für sich ein Muster historischer Darstellung sein, das organisch Ganze einer Gesammtgeschichte nie zu Stande bringt. Die Aneinander­ reihung vereinzelter, selbst vortrefflich ausgearbeiteter Scenen macht noch kein Drama. Und wie das dramatische, so will auch das historische Gesammtbild bei tiefinnerer Entwickelung der Thatsachen einheitliche Composition. Da war unser Grube doch bescheidener. Er nennt sein ähnliches Sammelwerk aus der geographischen und historischen Literatur nur „Charakterbilder". Und doch ist Grube kein bloßer Sammler. Er hat die gewählten Stücke redigirt, zum Theil selbständig bearbeitet und in jene populäre Fassung gebracht, durch die sie mit Recht eine vielgesuchte Seetüre für die lernende Jugend geworden sind. Herr Staffulewitsch dagegen beschränkt sich auf die Auswahl und Anordnung. Wie Grube hat er den propädeutischen Geschichtsunterricht (auf Schulen) im Auge; aber er nimmt, glauben wir, zu seinem Ziele einen viel zu weiten Weg, einen Umweg, der sogar leicht in die Irre führt. Auf den Grundsatz zurückgehend, daß auch der Anfänger eine lebendige Geschichtskenntniß nur aus den Quellen gewinnen könne, spricht sich Staffulewitsch folgen­ dermaßen aus: „Der gegenwärtig herrschende formale Unterricht ver­ fehlt den Hauptzweck der Bildung — die historische Gedankenentwicklung. Man muß auf den alten realen Weg zurückkehren, wo der Lernende auf der Schulbank nach seinen Kräften aus derselben Quelle schöpfte, zu welcher er später sich mehr als einmal wendet: nämlich dem histo­ rischen Denkmal. Nicht daß der Schüler die wichtigsten Ereigniffe der Geschichte seinem Gedächtniß einpräge, sondern vielmehr daß er mit den wichtigsten literarischen Denkmalen sich bekannt mache — das sollte die Aufgabe des Geschichtsunterrichtes sein." Gegen die Einwendung, daß man dem Anfänger keine höhere Kritik zumuthen könne, bemerkt der Herausgeber: wie weit er auch von einem solchen Irrthum entfernt sei, so glaube er doch, jedes Alter habe sein kritisches Vermögen, und so tief stehe die Auffaffungsgabe der Jugend hinter der des reiferen Alters nicht zurück, daß man die erstere auf ein rein mechanisches Auffaffm des Wissens zu beschränken hätte. — Zweck des vorliegenden Werkes ist also Förderung des realen Geschichtsunterrichtes durch Zuführung der

258

Vom russischen Büchermarkt.

hierbei unentbehrlichen Materialien.

Aber ein solcher Zweck, bedünkt

uns, ist nur durch ein speciell vorbereitendes historisches Lehrbuch zu des Herrn Stassulewitsch hingegen ist und kann

erreichen; das Werk

feiner Natur nach auch nichts Anderes sein, als ein historisches Lese­ buch.

Me hat er nur den großen Unterschied, der hier in die Augen

fällt, sich nicht deutlich gemacht! halten, auch belehren;

Ein Lesebuch wird anregen, unter­

aber wiffenschaftlich zu einem speciellen Zwecke,

— außer dem rein literarischen und linguistischen — vorbereiten wird es

niemals.

Ein Lesebuch ist allgemeinbildend und weckt die Geistesthätigkeit

überhaupt, beschäftigt die Phantasie der Jugend;

daß seine Arbeit die

Gedankenentwickelung der jugendlichen Leser fördern wird, daran

darf Herr Staffulewitsch nicht zweifeln;

aber historische Gedanken

nlöchten es gerade nicht sein, die dabei zur Entwickelung kämen.

aufrichtig gesagt: schlimm genug, wenn sie es wären.

Und

Wer wollte so

etwas auch erwarten oder nur wünschen, wenn er in der Geschichte des menschlichen Geistes ein wenig zu Hause ist!

Und Letzteres scheint uns

denn doch noch wichtiger, als in der Geschichte des Mittelalters bewan­ dert zu sein.

Eine Jugend, in der historische Studien nicht zuerst an­

dere Gedanken entwickeln, als eben „historische" — eine solche Ju­

gend (Herr Prof. Staffulewitsch nehme uns das nicht übel) mag vor­ trefflich für die Schule sein, für das Leben taugt sie ganz und

gar nicht. Trotzdem, wie gesagt, wollen wir der fleißigen Arbeit des Herm

Staffulewitsch ihr großes Verdienst nicht absprechen.

Sein Werk, das

drei Bände umfassen soll, verspricht eine reichhaltige historische Chresto­

mathie zu werden.

Als solche zeigt sie schon in dem bis jetzt erschiene­

nen ersten Bande eine ganz vortreffliche Anordnung, von der wir unsern Lesem einen Ueberblick verschaffen, indem wir die Artikel der Einleitung hier der Reihe nach aufzählen und von den andem Abschnitten nur die

Autoren namhaft machen, aus deren Werken die gewählten Stücke ent­

nommen sind. Einleitung.

Allgemeine Begriffe von der Wissenschaft

überhaupt und der Geschichtskunde insbesondere.

1. Nicht

für die Schule, für das Leben muß man lernen. (Aus Herder's Schul­

reden. 1800). — 2. Die Methode der Wiffenschaft im Allgemeinen und

der Charakter derselben im Alterthum mrd in der neuen Zeit. (Aus Baco's Novum organum. 1623). — 3. Ueber den Charakter der Wis­

senschaft in unserer Zeit. (Guizot 1829). — 4. Ueber die Aufgabe des Geschichtschreibers. (Wilh. v. Huniboldt. 1820). — 5. Ueber den Zweck der historischen Thätigkeit des Meuschen. (Baco, Nov. Org.). — 6. Was

ist die Geschichte als Erfahrungslvisseuschaft? (Bukle, History of the Civilisation in England. Lond. 1858). — 7. Die Civilisation als Gegen­ stand der Geschichte und ihr verschiedener Charakter nach den gegenwär­ tigen Nationalitäten. (Guizot). — 8. Von dem Ursprung der europäischen Geschichte und dem Zustande der historischen Literatur im Mittelalter

(Bukle). — 9. Die Epochen der Geschichte der Menschheit überhaupt und des Mittelalters insbesondere. (Gian Battista Vico, Principi di una nuova scicnza d’intorno alla natura delle nazioni. 1725). Die alte Welt in der Epoche des Zerfalles des dritten

römischen Reiches (Fünftes Jahrhundert). Aus Sidonius Apollinaris, Jules Michelet (Hist, de France), Salvianus (De gubernatione Dei), Ammianus Marcellinus. Die neue Welt in der Epoche des Zerfalles des dritten römischen Reiches: Die Barbaren und die Kirche (Fünftes Jahrhundert). Aus Tacitns (Germ.), Chateaubriand (fitudes his-

toriques), Tertullianus, Gibbon (The hist, of the decline and fall of

the ronian empire), Sidonius Apollinaris, Gregorius Turonensis, Anledee Thierry (Recits de l’hist. rom. au V. siede), Fauriel (Hist, de la Gaule merid.). Erste Periode.

Vom Fall des weströmischen Reiches

bis zu Karl beut Großen. Aus Tacitns, Paulus Diaconus, Amnnanus Marcellinus, Jordaues (De Goth. orig, et rebus gestis), Amedee Thierry, Wittekind in Pertz, Monumenta Germaniae), Othlon (in Pertz Monum. Germ.). Cassiodorus, Moutalambert (Les meines d’Occident),

Beda Venerabilis, Gregorius Magnus, Kudrjawzew (Russ. Historiker

aus der Schule Granoivsky's, Prof, der Geschichte in Moskau), TarikJbit-Nahib, d. Akhbar-Madjmona, Reittier Dozy (Hist, des Musulmans d’Espagne), Macaulay (Hist, of England), Ernest Renan (Essais

de morale ot de critique), d. Myvyrian, The Mabinogion, Augustin Thierry (Hist. d. 1. conqucte de l’Anglet.), Julius Cäsar, Strabo,

260

Vom russischen Büchermarkt.

Gregorius Turonensis, Flodoardus (Hist, ecles, Ramens.), S. Remigiu's, Eginhard

(Vita, Caroli Magni),

Chateaubriand, Bischof Ado

(in Pertz Monum. Germ.) Papst Gregor IH. Fauriel. Den einzelnen Stücken beigegeben sind belehrende biographische und

literarische Anmerkungen. Ob übrigens bei dieser Auswahl auf das Verständniß und die Be­ dürfnisse der Jugend' so weit Rücksicht genommen ist, daß das Buch sich

in der That zu einer diesem Alter entsprechenden Seetüre eignet, das ist eine andere Frage, die schon nach der bloßen Inhaltsangabe mit

uns Viele kaum zu bejahen geneigt sein werden.

W.

Verordnungen der Regierung. (St. Petersb. Zeitung.)

Ueber die Pmftone« der in den Goudern.- und Kreis-Jnsiitu-

tionm für Bauernangelegenheiten dienenden Personen.

S. M. der

Kaiser hat am 26. Juni das Gutachten des Hauptcomites zur Organi­ sation des Bauernstandes zu bestätigen geruht, in Folge dessen den Per­ sonen, welche in den Gouvernements- und Kreis-Institutionen für Bau­ ernangelegenheiten dienen, Pensionen und einmalige Unterstützungen wie

allen andern int Staatsdienste stehenden Personen bewilligt werden sollen. (Gesetzs. Nr. 74.)

Ueber die Erlaubniß zum Halten össentlicher Vorlesungen.

S.

M. der Kaiser hat am 2.3. Jimi auf einen Vorschlag des Finanzministers

zu befehlen geruht, daß die Ertheilung der Erlaubniß zum Halten öf­

fentlicher Vorlesungen den Curatoren der Lehrbezirke, die sich hierüber mit den Gouvernementschefs zu einigen haben, überlassen werden, in

St. Petersburg aber der bisher übliche Modus fortbestehen soll. (Gesetzs. Nr. 74.)

DiSronto der Reichsbank.

Am 2. August hat die Direktion der

Reichsbank das Disconto für Wechsel sowohl, als für Depositen von

Waaren und Werthpapieren für St. Petersburg,

Moskau und Riga

auf 6 pCt. jährlich festgesetzt. Ueber die Prüfung der Klagm in Bauernangelegenhetten bringt

die „Nord. Post." folgende am 11. Juli Allerhöchst bestätigtm Vor­ schriften des Hauptcomites zur Organisation des Bauernstandes:

1) Klagen gegen die Gouvernements-Commissionen in Sachen, die Verantwortlichkeit der Friedensrichter, die Repartition der Landsteuer,

262

Verordnungen der Regierung.

die persönlichen, Standes- und Genreinde- oder Wolost-Rechte der Bau­ ern und die Leistung der Krons- und Landes-Abgaben betreffend, werden

dem dirigirenden Senat eingereicht.

2) Klagen gegen die Gouv.-Com­

missionen in Sachen der Organisation der Bauern hinsichtlich ihres Land­

besitzes und ihrer ökonomischen Verhältniffe gehen an den Minister des Innern, welcher denselben folgenden Gang giebt: a. wenn keine Über­ schreitung der Amtsbefugnisse oder Gesetze von Seiten der Gouv.-Com-

missionen vorliegt,

so verhandelt der Minister direkt mit der Gouv.-

Commission; im entgegengesetzten Falle kassirt der Minister die erlassene

Verordnung, welche die Klage hervorgerufen hat, und giebt dieser den weitem Gang auf Grund des § 4 dieser Vorschriften; b. in den durch das Bauem-Reglement nicht vorgesehenen oder nicht genau bestimmten

Fällen geht der Minister nach Durchsicht der Verordnung, welche die Klage veranlaßt, und

mit den erforderlichen Erläuterungen

Hauptcomitö zur Organisation des Bauemstandes.

an

das

3) Die Klagen können

im Laufe von 30 Tagen nach Veröffentlichung der Entscheidung, über welche geklagt wird, derselben Gouvemements-Commission, gegen welche

sie gerichtet ist, eingereicht werden; die Commission befördert dieselben mit ihrer Verordnung entweder an

Minister.

den dirigir. Senat

oder

an

den

4) Der Minister des Jnnem entscheidet, wenn die Verord­

nung, über welche geklagt worden, kassirt wird, nicht über das eigent­

liche Klageobjekt, sondern verfährt nach dem Regl. vom 19. März 1861 und den Ergänzungen deffelben.

5) Die Person, welche nicht mit der

Entscheidung des Ministers zufrieden ist, hat das Recht zur Beschwerde; diese wird im Laufe von 30 Tagen nach der Publikation der neuen

Entscheidung der Gouv.-Commission dem Minister selbst eingereicht, wel­

cher sie mit seiner Begutachtung dem Hauptcomito zur Organisation des Bauemstandes überweist.

Verordnung des Justizministeriums bezüglich der Personen, welche in diesem Reffort weiter zu dienen wünschen, und daher demselben zu­ gezählt sind.

§ 1.

Um irgend ein Richteramt zu erlangen, das nur von dem

Ministerium der Justiz vergeben werden kann, können diesem Ministerium nur Personen zugezählt werden, welche

1) b eii vollen Cursus an einer Hähern Lehranstalt beendigt, und 2) s chon Richterämter, die mindestens in der VIII. Klasse stehen, bekleidet, oder als Sekretaire bei Civilgerichtshöfen gedient haben. Endlich können auch Personen zugelassen werden, die zwar nicht bei denr Ministerium der Justiz angestellt gewesen, die aber auf dem Felde ihrer amtlichen Thätigkeit Gelegenheit hatten, sich bedeutende Erfahrun­ gen in Dienstangelegenheiten zu erwerben, wie z. B. die Räthe bei den Gouvernements-lltegierungen. § 2. Ans höheren Lehranstalten neu entlassene Zöglinge können nach Aufweisung der gehörigen Attestate dem Ministerium der Justiz zugezählt werden, damit sie vorläufig den Dienst kennen lernen und spätestens nach den von den Gesetzen und § 1 dieser Verordnung fest­ gesetzten Regeln eine Anstellung erhalten.

§ 3. Personen, die zwar den Cursus in höheren Lehranstalten vollendet haben, aber nicht den Bedingungen genügen , wie sie in Punkt 2 des § 1 dargelegt worden, können keine Richterämter, deren Vergebung vom Ministerium der Justiz abhängt, erhalten und werden nicht anders dem Ministerium zugezählt, als wenn sie die Bedingungen (§ 2) für neu Anzustellende erfüllen, sie mögen früher auch noch so lange in an­ dern Ressorts gedient haben. § 4. Die Tragweite der angeführten Regeln erstreckt sich auf alle diejenigen Personen, die gegenwärtig schon dem Departement des Justiz­ ministeriums zugezählt sind. Ueber die Verbrecher von 17 bis 21 Jahre. In Folge eines Allerhöchst bestätigten Gutachtens, daß die Prozesse minderjähriger Criminalverbrecher niederen Standes von 17 bis 21 Jahren nicht mehr dem dirigirenden Senate vorzulegen sind, werden die §§ 438 und 449 des Regl. über Criminalgerichtsbarkeit (Allgem. Gesetzb. v. 1857 Bd. XV,, Th. 2) dahin abgeändert: § 438. Außer den Kriminalprozessen, welche in den 88 431 — 436 angegeben sind, werden dem dirigirenden Senat vorgelegt: die Prozesse der Criminalverbrecher, welche zur Zeit der Verübung des Verbrechens nicht jünger als 14 und nicht älter als 17 Jahre und zum Verlust der Bürgerrechte und zur Zwangsarbeit

264

Verordnungen der Regierung.

oder Verschickung zur Ansiedlung verurtheilt waren; dies geschieht selbst

in dem Falle, daß sie niedrigen Standes sind.

§ 400.

Alle Prozesse

über Verbrechen (darunter auch Kirchenraub) werden, wenn in ihnen

ungewöhnliche, wegen ihrer Außerordentlichkeit besondere Beachtung ver­ dienende Umstände vorkommen,

durch

den Oberprokurator

nebst

den

Bestimmungen des Senats der Begutachtung des Justizministers unter­ legt. (Gesetzs. Nr. 76.)

Bibliographie. In

Rußland

erschienen:

3n russischer Sprache. Dahl, W. Exegetisches Wörterbuch der großrussischen Sprache. Lief. 2. Moskau 1863. 1 N. (To.IKOBblii CjiOBaph TKHßaro Be.iHKopyccKai'o aßtixa. B. Jisi.) Dochturow, M. N. 284 S. 1 R.

Neise nach dem Orient.

(Holi3ftKa na Boctokt. Fäth, A. A.

Gedichte.

Bd. I.

St. Petersb. 1863. XI,

M* JL Jloxmypoaa^

Moskau 1863.

VII, 266 S.

(CriixoTBopeiiiB A. A. $ema.) Galachow, A. Geschichte der russischen Literatur, älterer und neuerer Zeit. Bd. I. St. Petersb. 1863. 4. X, 596 S. (Mcropin pyCCKOH C.TOBCCIIOCTII , ApeBIICH M IIOBOH. Coq. A. Fajtaxocui?) Kusnezow, I. Vorbereitender Cursus der allgemeinen Geographie. St. Petersb. 1863. (lIpiiroTOBHTC.ibHbiii KypcTb Bceoöinefi reorpaiM. Coct. H. Ky3HCtyO&blM7>.')

Markow r Winogradsky, A. W. Grundriß der griechischen Literatur. St. Petersb. 1863. (OvepKT) rpe'iccKoii .iHTcpaTypLi. Coct. A. B. MapKo&bB UHO.')

Mey, L. A. Werke. Bd. III. Lyrische Gedichte. 8. VIII, 642 S. 1 R. 50 K. (( o-iiiHCHiH A. A. Me/i.') Russische Revue. II. 3. Heft. 1863.

St. Petersb. 1863.

18

266

Bibliographie.

Pawlow, Karoline.

Gedichte.

Moskau

1863.

8.

IV, 174 S.

1 R. 25 K.

(CTMXOTBOpCHifl K. IlaeJlOQOÜ.') Petrow, K.

Cursus der russischen Literaturgeschichte.

St. Petersb. 1863.

(Kypci HCTopin pyccKofi jurrepaTypH. Com. K. üempoea.) Rostowsky, Marie.

Erzählungen.

St. Petersb. 1863.

(IlOBliCTfl M. PocmOGCKOfU.) Solotow, W.

Geschichte Rußlands in Bildern.

Lies. 2.

St. Peters­

burg 1863.

(McTOpiH PüCClM BT> KapTHHaXT,.

CoCT. B. 3ojionw67>.)

Druck von (i. Blechmuuu miO Sehn in Drc5dr'n.

311 a h n r ii s. Bon M l ch a e l

Lermontow.

Jüngling, glcnibe nicht dem schwärmerischen Muth, Laß deine Seele nicht erkranken

An der Begeistrung Gist!

Sie ist nur Fiebcrgluth,

Ein Krampf gefesselter Gedanken;

Es ist das heiße Blut, das siedend überwallt: £) suche hier kein Himmelsgkühen!

Gieß' aus den gift'gen Traut, erschöpfe bald, nur bald

Dein Leben in des Lebens Mühen.

Und findest bn vielleicht, dir selber unbewußt,

In heil'gen Augenblickes Drängen

Jungfräulich rein und frisch in längst verstummter Brust Noch einen Quell von süßen Klängen: O höre nicht auf sie und gieb dich keinem hin,

Bedecke gleich sie mit Bergesseu — Du bringst in's eisige Wort doch niemals ihren Sinn,

Und sie ermißt kein Sylbenmessen.

Wenn Gram sich zu dir schleicht, wenn sich mit Sturm uud Braus Die Leidenschaft dein Herz erschlossen, Tritt auf den lauten Markt der Menschen nicht hinaus

Mit deinem rasenden Genossen! Auisilch» Wteue. 11

4. Hm. 1663.

19

268

Mahnruf. Erniedrige dich nicht und bringe nicht zu Kauf Bald deinen Zorn, bald SchnlerzcnSlaune,

Und decke nicht die Schwär der Scclcnwunden auf, Daß dich das blöde Volk bestaune!

Was geht's uns an, ob du gelitten oder nicht? Was kttmmert's uns, wie du getrauert,

Welch thöricht Hoffen dir von deiner Kindheit spricht,

Vom spöttelnden Verstand bedauert? O blicke hin: da geht vorbei wie spielend nur

Die Menge auf gewohnten Wegen — Ihr festlich Antlitz trägt dir keiner Sorge Spur

Und keine Thräne dir entgegen.

Und doch ist Einer kaum, den Schmerz und Qualen nicht In schwerer Prüfung niederbogen,

Dem nicht Verlust und Schuld auf seinem Angesicht Die attzufrühen Furchen zogen!

O glaub mir, lächerlich ist dieser ganzen Welt

Dein eingelerntes Janunersingen — Wie uns erscheint ein hochgeschmiukter Bühnenheld Mit seinem Pappendegeuschwingcn.

M W-

Noch ein Wort über dos Petersburger Hospital­ wesen.*) Die Ziothwendigkeit einer Reform für die Hospitalverhältnisse un­ serer Residenz ist neulich in diesen Blättern besprochen nwrden. Jener Aufsatz schildert dieselben in großen Umrissen und dilrchaus wahrheits­ getreu von dem Standpunkte aus, welchen heutzutage eine große Zahl tüchtiger Hospitalürzte einnimmt. Da indessen der Gegenstand nicht *) Wir können nicht fürchten, die Theilnahme unserer Leser durch Wieder^ holung eines Thema's zu ermüden, das mit den tiefsten Interessen der Humanität zusannnenhängt. Giebt es doch keine Staatspflicht, die so zu sagen dem Gewissen der ganzen Gesellschaft dringender einzuschärfen ist, als eine wohlgeordnete Kran­ kenpflege. Und in der That, für das öffentliche Gewissen, nicht blos für das öffentliche Mitleid sind gutorganisirte Krankenhäuser ein lautredendes Zeugniß. Bei der russischen Fortschrittspartei (und wer wollte gegenwärtig in Rußland nicht auf seine Art zu dieser Partei gehören!) ist, wie unsere Leser sich oft genug über­ zeugen werden, Volkswohlfahrt und Volkswohlfahrt das dritte Wort. Es soll uns der Mißbrauch, den Mode und journalistische Reclame mit diesem Worte treiben, nicht an dein Ernst irre nrachen, mit welchem die ehrlichen Vorkämpfer der Reform in Rußland es wirklich auffassen und zu bewahrheiten streben; auch sehen wir mit den besten Hoffnungen die Regierung selbst in den ersten Reihen dieser Vorkänchfer. Aber gerade deshalb ist es um so wichtiger, auf eine der hauptsächlichsten Bedingungen der Volkswohlfahrt hinzuweisen, je weiter man noch davon entfernt ist, diese Bedingung zu erfüllen, ja, sich nur deutlich zu machen, wie sehr das herrschende System dieser Bedingung widerspricht. Andererseits thut es dem Auslande gegenüber Noth, den täuschenden Glanz großartiger Liberalität abzustreisen, der auf den russischen Krankenhäusern liegt. Denn wenn man in Betreff aller anderen Verhältnisse auf ein ebenso hartnäckiges als ungerechtes Vor­ urtheil gegen Rußland stößt, so.haben die russischen Hospitalpalläste, wie sie nach außen hin erscheinen, das westeuropäische Urtheil bis zu einer oft unglaub­ lichen Voreingenommenheit bestochen. Wir hörten neulich eine ärztliche Autorität Berlins die russischen Hospitäler als Musteranstalten preisen. Wohlan, wir geben nicht allein der Wahrheit die Ehre, sondern glauben auch der guten Sache einen Dienst zu erweisen, wenn wir von besser unterrichteten Männern diese „Musteranstalten" ein wenig näher beleuchten lassen. D. Red.

Noch ein Wort über das Petersburger Hospitalwesen.

270

bloß an sich, sondern auch als ein Beispiel hiesiger Verwaltungsmaximen

überhaupt Anspruch auf allgemeines Iirtcresse hat, so wird eine ein­ gehende Erörterung desselben gerechtfertigt erscheinen. Besondere Aufnlerksanrkeit verdient das Verhältniß der Curatoren zu ihren Hospitälern.

Wir »vollen es daher versuchen, die Bedeutung

der Curatoren und ihre Wirksamkeit zu schildern. Bekanntlich stehen die Civilhospitälcr St. Petersburgs unter dem Curatorenrath, welcher die höchste Instanz in Hospitalsachen ist.

Die

Mitglieder dieser obersten Vertvaltungsbehvrde verwalten die einzelnen

Hospitäler als deren specielle Curatoren. -

Nach dem Gesetz (Swod

Sakonow XIII. §. 1346—1383) sind die Curatoren die unmittelbaren

Chefs ihrer Hospitäler; „alle Beamten der Verwaltung und Oekonomie

sowie der medicinischen und pharmaceutischen Geschäfte stehen in voll­

kommener Abhängigkeit vom Curator."

Er stellt an und entläßt nach

eigenem Ermessen, er überwacht die Thätigkeit aller Angestellter», ertheilt Verweise oder straft durch Absetzung.

Endlich müssen alle Ausgaben

ohne Ausnahme von ihm angeordnet werden.

Halten wir nun diese Bestinnnungen des Gesetzes mit dem Zweck

der Hospitäler zusammen. Heilen.

Der einzige Zweck eines Hospitals ist: das

Es soll das Hospital ein Organismus sein, in welchem jedes

Glied, jedes Organ dem Heilztveck des Ganzen dient — es muß daher auch eine Seele haben, welche die Thätigkeit der einzelnen Glieder und

Organe zweckentsprechend regelt.

Klares Verständniß und Kenntniß der

Mttel und Wege zur Erreichung des Zroecks muß also von der Direk­

tion eines Hospitals — seiner Seele — verlangt werben.

schaft, welche diesen Zweck erreichen lehrt, ist die Medicin.

Die Wissen­ So ergiebt

sich aus dem Zweck und Wesen des Hospitals die Nothwendigkeit einer

medicinischen Direction.

Nach dem

Gesetz aber ist

der

Curator die

Direktion, und die Thätigkeit aller am Hospital Dienenden von ihm abhängig: im §. 1384 heißt es ausdrücklich, daß sie ihre Pflichten zu erfüllen haben nach den bestehenden oder den ihnen vom Curator in Zukunft zu gebenden Vorschriften.

Wer sind nun diese Männer, welche vom Gesetze mit so großer,

fast unumschränkter Machtvollkommenheit Curatoren sind Btänner,

ausgestattet werden?

Die

die sich in der oder jener Sphäre um das

Vaterland verdient gemacht haben, meist sind es Generale, jedenfalls Leute von hohem Rang. Es sind niemals Mediciner und wenn man nicht annimmt, daß ein hoher Rang ohne Weiteres Kenntnisse giebt, die man sich sonst durch jahrelanges Studium erwerben muß, so wird mau zugeben müssen, daß diese hohen Herren in Hospitälern nicht an ihren: Platze sind. 'Jv'av würde man zu einem Gesetze sagen, das einen verdienten Arzt zun: Commaudirenden eines Regiments oder zum Prä­ sidenten eines Gerichtshofes machte? Unter diesen Verhältnissen liegt es ans der Hand, daß der Hauptztveck: das Heilen, die zlveite Rolle in unsern Hospitälern spielen muß, und es sind dieselben daher eigentlich nur Verpflegnngsanstalten, deren vornehmer Vcrtvaltcr einige Hausärzte für seine Pflegebefohlenen anstellt. Die gegentvärtige Beziehung des Curators zu seinem Hospital ist also nicht im Einklänge mit den: Ztveck desselben. Wie sich seine Wirksamkeit in praxi gestaltet, acht aus einer Betrachtung der übrigen Hospitalverhältnisse hervor. Es existirt an jedem Hospital ein Oberarzt, welcher als Mediciner vollkommen dazu befähigt ist, die Seele desselben zu sein. Es existirt ferner für den rein administrativen Theil ein Aufseher (Smotritelj), welcher ebenfalls in seinem Fache ein tüchtiger und erfahrener Mann fein soll. Die eigentliche Arbeit der Hospitalsleitung liegt auf diesen beiden, doch haben sie säst gar keine entscheidende Competenz — die bleibt den: Eurator. Alle übrigen am Hospital fungirenden Personen sind dem Oberarzt und Aufseher untergeordnet. Man denke sich den Curator himveg, den Oberarzt mit dessen Competenz ausgestattet — und das Hospital ist ein in sich geschlossener, gesunder Organismus. Es entsteht durch die Entfernung des Curators nirgends eine Lücke; nur die ausgefertigten Papiere würde» um einen klangvollen Ramen ärmer, der Geschäftsgang um ein Bedeutendes kürzer. Wo immer ein fremdartiges Element einem Organismus aufge­ zwungen ivard, da wurde es die Quelle von Siechthun: und hemmte jede Entivickelung. Da indeß der Gesetzgeber bei Griindung des Instituts der Cnratoren unstreitig das allgemeine Beste im Auge gehabt hat, so muß er sich doch einigen Rutzen von demselben versprochen haben. Ein solcher

272

Noch ein Wort über das Petersburger Hospitalwesen.

wäre nur anzunehmen, iveim der Kurator in medicinischen oder admini­ strativen Geschäften tüchtiger sein sollte, als die speciell mit denselben betrauten Personen, Oberarzt und Aufseher. Ersteres wird kaum jemals, Letzteres doch nur selten vorkommen. Ferner — aber auch scheinbar — dann, wenn eine dieser beiden Personen oder beide ihre Stellung zu egoistischen Zwecken mißbrauchen und zivar namentlich in dem für fehrhäufig geltenden Falle daß der Aufseher sich selbst auf Kosten des Hospitals zu bereichern strebt. Mag Nun gegenwärtig weniger in dieser Richtung verschuldet werden, jedenfalls dürfte als Thatsache feststehen, daß im Laufe der letzten Jahrzehende eine beträchtliche Summe dem Staate und den Kranken durch die Aufseher der Hospitäler ent­ zogen worden ist. Wir wollen uns dabei nur auf die vox populi be­ rufen , welche hierin sehr laut und entschieden sich arrsspricht. Obgleich die Presse bis vor Kurzem über solche Dinge ganz schivieg, so waren sie doch öffentliches Geheimniß und die Regiemngsinstanz in Hospital­ sachen wird ohne Ziveifel davon Kenntniß gehabt haben. Nun, es scheint fast, daß man diesem Uebelstande dadurch zu begegnen gesucht, daß man einem hochgestellten Manne von fleckenlosem Ruf die Direetion des Hospitals anvertraute. Vielleicht mögen bei Errichtung der Curatorenposten auch noch andere Motive mitgewirkt haben, gewiß ist die Meinung, durch den Kurator eine Garantie gegen Unterschleif zu haben, der ivesentlichste Grund, weshalb dieselben sich bisher ziemlich unan­ gefochten erhalten haben. Sehen wir aber genauer hin, so findet sich, daß gerade in diesem Punkte oft mehr geschadet als genützt wird. Da das Amt des Kurators ein unbesoldetes ist, das er neben seinen sonstigen Geschäften versieht, der Sporn des materiellen Interesses also wegsällt; da ferner Oberarzt und Aufseher das Hospital und seine Verhältnisse immer besser kennen iverden, so kann die Leitung und Kontrole von Seiten des Kurators nur eine oberflächliche sein. Ein beson­ ders eifriger Kurator wird vielleicht manchen groben Unterschleif un­ möglich machen, das Meiste ivird ihm entgehen, ja, sehr oft ist er gezwungen sich auf den Aufseher ganz zu verlassen. Wenn aber ein Kurator, wie das ja vorkommt, Monate lang sein Hospital gar nicht besucht, dann ist jede Kontrole vollends unmöglich. Nicht genug, daß

Noch ein Wort über das Petersburger Hospitalwesen.

273

sich der erwartete Nutzen auf diese Weise als ein großentheils illusori­

scher eriveist — oft verkehrt er sich in sein gerades Gegentheil, nämlich Dadurch, daß der Curator auch

in eine Beförderung des UnterschleifS. die

und unterschreibt,

unredlichen Maßregeln decretirt

Schuldige gegen

deckt

sich der

Zeigt sich eine solche Maßregel

die Folgen derselben.

später in ihrem wahrm Lichte als eine Betrügerei, so fällt gesetzlich die

Hauptvcrantwortlmg auf den Curator, als den Bestimmenden, ivährend er doch

nur jene nicht als betrügerisch erkannte,

kennen konnte.

ja oft gar nicht er­

Setzen wir zur Erläuterung einen angenommenen Fall.

Es iocrden für ein großes Hospital 2000 Paar neue Bettlaken von Der Curator muß den rich­

bestimmter Länge und Breite angeschafft. tigen Empfang derselben bescheinigen.

Wenn sich nun nachher heraus­

stellt, daß jedes Laken um nur 2 Werschok (3 z Zoll) zu kurz, vielleicht

auch von

etivas gröberer Leinwand war,

so ist das ein bedeutender

Diebstahl von 500 Arschin oder z Werft Leimvand.

Kann man aber

von einem so hochstehenden Alaune wie der Curator, verlangen, daß er

jedes Laken oder auch nur eine größere Anzahl derselben persönlich aus­ messen oder die Fäden des Gewebes auf Feinheit und Weiße prüfen solle?

Thatsache wenigstens ist,

daß so etwas nicht geschieht.

Solch

ein Diebstahl aber kann nicht gerichtlich verfolgt tverden, ohne den Cu­ rator zu compromittiren und deshalb geht oft der Betrüger frei aus. Diese verkehrte Berantivortlichkeit, welche aus der Anwendung des Prä­

ventivsystems in der Verwaltung hervorgeht, vielen

andern Berlvaltungs,ziveigen wieder.

findet sich leider auch in

Sie hat nicht wenig zur

Demoralisation unserer socialen Verhältnisse beigetragen. drei-

und vierfache Unterschriften

die

Verantwortung

Wenn durch schließlich

auf

Personen fällt, denen sie der Natur der Sache nach nicht aufgebürdet

werden darf,

so ivird die Achtung vor Recht und Gesetz untergraben.

Entweder der unterzeichnende Chef wird mit zur Rechenschaft gezogen,

wenn er auch ganz unschuldig ist, und dadurch dem natürlichen Rechts­

gefühl Hohn gesprochen, vertuscht,

oder — ivas häufiger ist —

die Sache wird

beides, Gesetz und Recht, verhöhnt und der Schuldige bleibt

straflos, höchstens >vird er einfach entlassen. Durch deu Curator deckt sich der betrügerische Aufseher gegen die

etwaigen Folgen seiner Betrügerei.

Er weiß, daß was er auf diesem

274

Noch ein Wort über das Petersburger Hospitalwesen.

Wege sich erwirbt, sein sicheres und unantastbares Eigenthum bleibt, sobald es ihm gelungen ist, die Sanction des Curators zu erhalten. Und dazu braucht er nur eine geringe Portion Schlauheit, da ihm viel mehr Mittel zu Gebote stehen, zu täuschen, als dem Curator, die Täuschung zu erkennen. Die Gelegenheit bietet sich täglich, Straflosig­ keit ist garantirt: liegt da nicht in der Stellung des Curators eher eine Verlockung zum Unterschleif, als eine Verhinderung desselben? Gehen wir nun auf die weiteren Nachtheile ein, welche die jetzige Stellung des Curators mit sich bringt. Es sind dieselben, die sich überall da ergeben, wo das Präventivsystem in der Verwaltung ein­ geführt ist. Es mag seine Berechtigung haben in der Kindheit, sowohl des Menschen als eines Staates; Aufsicht ist geboten, so lange Unzu­ rechnungsfähigkeit besteht. Stehen Mensch oder Staat auf einer höheren Culturstufe, so kann eine gedeihliche Entwickelung nur von freier Ent­ faltung der Kräfte erwartet werden. Wo das Präventivsystem herrscht, wie beim Kinde im elterlichen Hause, da giebt es kein Recht, keine Pflicht, sondern der Wille des Vaters ist Recht und Pflicht. So ist es auch bei uns in vielen Zweigen des Staatsdienstes. Es giebt in vielen Beamten­ köpfen gar keinen Begriff davon, was Recht und Pflicht heißt: es ist Pflicht und Recht nur das, was, wenn es Unterlasten wurde, die Unzu­ friedenheit des Vorgesetzten nach sich zieht. Was sich von selbständigem Pflichtgefühl etwa regt, wird gewaltsam niedergehalten, und im Hospital ist es darin nicht bester als anderswo. Will sich ein Oberarzt dem Curator gegenüber auf seine Pflicht berufen, so kann er sicher sein, durch einen einfachen Befehl abgefertigt zu werden. Wem der Staat ein Amt anvertraut, der sollte es möglichst selbst­ ständig verwalten, aber auch für alle seine Handlungen die volle Ver­ antwortung selbst tragen. Wenn aber einerseits das freie Handeln ge­ lähmt ist, ivährend andrerseits die Verantwortlichkeit abgewälzt werden kann/ so ist die' nothwendige Folge die eben nachgeüüesene Ertödtung des Pflicht- und Rechtsbewußtseins und ferner ein Schivinden des Jntereffes und der Liebe zur Sache, für die sich bald Gleichgültigkeit und ihre Handlangerin, die Routine, einzustellen pflegen. Der schädliche Einfluß des Curators in seiner jetzigen Stellrmg be­ schränkt sich aber nicht auf Lähmung der naturgemäßen Hospital-Direction,

er wirkt auch mittelbar weiter auf die niederen Hospitalbeamten, nament­ lich auch auf die Aerzte. — Sowie der Curator ein Hinderniß für die freie Thätigkeit des Oberarztes ist und dabei die Verantwortung für dessen Handlungen trägt, verlangt er nun seinerseits vom Oberarzt die volle Verantwortung für die Handlungen der ordinirenden Aerzte. Es ist das etlvas ebenso Unbilliges und meist noch weniger Mögliches, wie das Erstere. So >vird aber der Oberarzt dazu gedrängt, einen lähmenden Einfluß aus die Thätigkeit der Abtheilungsärzte auszuüben; es ist ja klar: >vas er verantwortet, muß auch nach seinen Ansichten geschehen, alles Andere hat keine Berechtigung und wird verhindert. Da in jedem größeren Hospital eine eingehende Kenntniß aller Kranken positive Un­ möglichkeit ist, so wird das Gute, was der Oberarzt, als älterer und erfahrenerer Arzt, vielleicht wirkt, reichlich ausgewogen durch die Lahm­ legung der übrigen ärztlichen Kräfte. Es reißt nur gar zu leicht Jndifferentismus und Schablonenbehandlung ein. Glücklicherweise giebt es nun heutzutage einige aufgeklärte Ober­ ärzte, welche einer selbständigen Thätigkeit ihrer Ordinatoren nichts in den Weg legen, ja dieselbe sogar befördern; sie thun dieses aber trotz der bestehenden Verhältnisse und riskiren immer etlvaige Unannehnilichkeiten für sich selbst. Allein auch im besten Falle bleibt noch die drückende Form, welche für jede Kleinigkeit, bis zur Verabreichung einer Citrone hinunter, die Zustimmung des Oberarztes verlangt. Glicht bloß in dieser indirecten Weise lvirkt der Curator hemmend auf die niediciuische Thätigkeit am Hospital, nein, auch ganz direct schäd­ liche Anordnungen kann er kraft seiner Machtvollkommenheit treffen. Eigentlich gehört alles rein Aledieinische in die Competenz des medicini« scheu Inspektors aller Hospitäler, doch kann der Curator als Verwalter der Hospitalgelder, als Herr über Verlveise und Belohnungen, über An­ stellung und Entlassung, auch verkehrte Ataßregeln in hygienischer und medicinischer Hinsicht durchführen und heilsame verhindern. Die Speiseordnung hängt von ihm ab und er läßt bei Feststellung der Portionen immer mehr Rücksichten der Sparsamkeit als der Diätetik lvalten. Fassen wir die Resultate unserer Betrachtungen kurz zusammen, so ergiebt sich, daß die gegenwärtige Stellung des Curators als integrirendes und zugleich dirigirendes Glied der Hospitalverwaltung im Princip

276

Noch ein Wort über das Petersburger Hospitalwesen.

eine falsche, in der Wirklichkeit eine schädliche ist. Der Geschäftsgang wird verlangsamt, Betrügerei straflos gehalten, die selbständige Thätig­ keit durchweg gelähmt, das Pflichtbetvußtsein zu kritikloser Subordina­ tion sogar bei direct schädlichen Maßregeln herabgedrückt — kurz, der lebendige Organismus in einen Disciplin-Mechanismus verwandelt. Macht nun auch ein Curator hin und wieder eine unredliche Maß­ regel unmöglich, so ivird doch dieser Vortheil bei Weitenr von dem Nach­ theil überwogen, daß auch viel Heilsames unmöglich wird. Man tuende uns nicht ein, daß viele gute und heilsame Maßregeln von den Curatoren ausgegangen sind: gewiß ist manches Gute hier oder dort von dem einen oder andern Curator geschaffen worden. Es geschieht ja überhaupt nichts ohne ihn, und es soll durchaus nicht behauptet tverden, daß ein Curator das Richtige und 'Nothwendige absolut nicht zu erkennen vermag. Nur ist diese richtige Erkenntniß und heilsanre Thätigkeit als ein Zufall anzusehen, als eine Möglichkeit, für deren Verwirklichung gar keine Bürgschaft existirt, tvährend eine solche Garantie in einer niedicinischen Direktion wohl gegeben ist. Wir haben schon oben gezeigt, daß das Hospital ohne Curator einen vollständigen Organismus bildet. Wenu wir also zu dem Wunsche ge­ langen, der Curator möge abgeschafft und mit dessen Machtvollkommen­ heit der Oberarzt ausgestattet werden, so wird man uns nicht den Borwurf machen können, daß lvir niederreißen, ohne aufzubauen — ebenso­ wenig wie Demjenigen, der sich den Pfahl aus dem Fleische reißt.

Alles Gesagte bezieht sich nur auf den Curator als integrirendes Glied der Hospitalverwaltung. Dagegen erscheint es sehr wünschenswert!), daß jedes Hospital ein Mitglied des Curatorenraths zum speciellen Cu­ rator in einem anderen Sinne erhalte: einen Curator, welcher — selbst außerhalb des Hospitalorganismns stehend — seine Ehrenpflicht darin fände, sich mit den Zuständen und Berhältniffen des Hospitals bekannt zu machen und die Interessen desselben mit dem Gewicht seiner Stellung zu vertreten. Zugleich ivürde er als Mitglied der vorgesetzten Instanz, nicht als persönlicher Vorgesetzter, die Hospitaldircction von den Wünschen des Curatorenrathes in Kenntniß setzen, auf etlvaige Rlängel aufmerksam

Noch ein Wort über das Petersburger Hospitalwesen.

277

machen, auf ihre Abstellung dringen und nöthigenfalls darüber im Curatorenrath berichten. Auf diese Weise wäre die Verbindung zwischen Hospital und Regierungsinstanz festgestellt und die Thätigkeit des ersteren im Sinne der letzteren gesichert.

Rur nach Erledigung dieses Cardinalpunktes lassen sich weitere or­ ganische Reformen im Hospitallvescn ertvarten, deren R'othweudigkeit sich immer mehr und mehr fühlbar macht. So lange die Krankheitsursache fortbesteht, kann auf eine Heilung des Uebels nicht gerechnet lverden und alle Heilversuche können höchstens momentane Erleichterung schaffen. Dr. Z.

Die russischen Zeitbliitter.*) ii. Im Kreise der politischen Tageblätter Petersburgs sind seit un­ seren ersten Notizen über dieselben mehrere Veränderungen vorgegangen, die wir zum Theil bei Gelegenheit der Nlittheilungen aus dem Mac Mill Magazine über die russische Journalistik bereits angemerkt haben. An den Redactionswechsel der „St. Petersburger gtachrichten" (mit Anfang dieses Jahres) und des zu einem rein vfficiellen Organ umgestalteten „Russischen Invaliden" (seit Juni v. I.) knüpfte sich die Gründung von drei neuen politischen Zeitungen, die nämlich von den zurückgetretenen Redacteuren jener Blätter ausging. Von A. Otschkin, dem bisherigen Herausgeber der „Petersburger 'Nachrichten", ein scharf ausgeprägtes Parteiblatt: „Skizzen (Ouepkh — Otscherki); von A. Krajewsky, der in den letzten Jahren sich an der Herausgabe der „Petersb. Nachr." mitbetheiligt hatte, eine groß angelegte Zeitung: „Die Stimme" (Fojoc'l — Golos); von N. Pißarewskh, dem Nachfolger Lebedew's in der Leitung des „Russischen Invaliden", ein Organ im Sinne der socialen Reformbestrebungen: „Das Wort der Gegenwart" (Cobpemeiihoe C.loco — Sowremennoje Slowo), Otschkin gab seinem Blatte ziemlich den rechten 'Namen. Es erschien „skizzenhaft" innerlich wie äußerlich, obgleich es sogar ztveimal des Tages herauskam. Die „civilisatorische" Aufgabe, die es sich stellte, zur Befreiung der Individualität beizutragen, die „vom jahrtausendlangen Druck, von den ökonomischen Mißverhältnissen, von dem Familien­ despotismus 2c. zu emancipircn, das große Ziel aller Fortschrittsanstrengungcn der Gegenwart" sei — diese Aufgabe suchte es kurz und keck aus der radicalen Tagesstimmung heraus zu erledigen. Der alte ') S. Russ. Revue L, Heft 1 S. 8 ff. und II., Heft 1, S. 52 ff.

Publicist ivarf sich auf einmal aus der gewohnten Gemessenheit eines, wenn es hoch kam, sehr bedächtigen Liberalismus, in die Hast und Hitze eines beinahe sugeudlichen Älcinungseifers, dem man es ansah, daß ihm der Athem bald ausgeheu mußte. Das geschah denn auch nicht später, als im Anfang des ziveiteil Quartals. Der Herausgeber meldete den nicht eben zahlreichen Abonnenten, daß die Nerhältnisse ihn zwängen, seine Zeitschrift eingehen zu lassen und >vies ihnen zur Entschädigung für die „Skizzen" Pißarewsky's „Wvrt der Gegenwart" an. Letzteres (vgl. Nuss. Revue II. Iuliheft, S. 16) schien unter den Oppositivnsblättern einen gelvissen Aufschwung nehmen zu wollen; doch stand dessen Existcnzfähigkeit noch sehr in Frage, als diese Frage ihre plötzliche Lösung dadurch fand, daß im Juni das Blatt auf höchsten Befehl wegen seiner „schädlichen Richtung und Uebertretung der Censnrvorschriften" unterdrückt wurde. ^irajeivsky eröffnete seine Zeitung „Die Stimme" (s. Russ. Revue I. Heft l, S. 332) mit einem Leitartikel, welcher in Betreff der Tendenz des neuen Blattes sich folgendermaßen aussprach: „Rußland ist verhältnißmäßig noch so jung, der Proceß seiner späten Wiedergeburt so neu und eigenartig, daß ein bescheidenes Studium der Erscheinungen und eine leidenschaftslose Darlegung der Thatsachen niehr nützen können, als vorzeitige Folgerungen zu Gunsten eines Lieblingsgedankens oder zur Untergrabung einer verhaßten Theorie. Wir sind für thatkräftige Re­ form, tvttnschen aber iveder Sprünge noch unnützes Niederreißen. Wir sagen uns von den Grundsätzen der Wissenschaft nicht los, aber wir achten anch das historische Princip und meiden jede theoretische Extra­ vaganz. — Wir wollen der Regierung nicht schmeicheln, aber auch dem Bölke nicht; ebensowenig snchen wir die Gunst des „jungen Ruß­ lands"; Schmeichelei ist in öffentlichen Dingen ein Verbrechen. Das falsche Weihrauchstrenen wirst einen Schatten sowohl auf den Beräucherndeu als auf den Beräucherten; aber dem wahrhaften Verdienst, denk echten intellectuellen und möralischen Vorzug begegne die Journalistik mit keinem Spott, mit keinem kalten Wort der Verneinung, sondern mit dem Ausdruck der Anerkennung und ivarinen Mitgefühls." — Das ist denn freilich unreine journalistische prolession de foi, wie schon manche andere. Diese „Glaubensbekenntnisse" der Journalprogramme haben

Die russischen Zeitblätter.

280

mit den kirchlichen das gemein, daß fast alle voll schöner Lehren und Grundsätze sind.

Wieviel davon zur Ausführung kommt, ist eine andre

Indessen muß der Krajcwsky'schen Zeitung von Freund und

Frage.

Feind zugestanden werden, daß sie, jene Menschlichkeiten abgerechnet, für

welche in allen Diugen die laudanda voluntas entschädigen muß, sich

bis jetzt innerhalb der angedeuteten Richtung zu halten gesucht hat.

Möglichst objective Berichte über die Zustände und Vorgänge im Innern

des Landes und ein ruhiges, sogar kühles Zusammenfassen der Thatsachen zeugen durchgehends, daß sich das Blatt von „Enthusiasmus" frei hält.

Es wird freilich auch keinen erregen und die öffentliche Meinung zu er-^ obern, möchte ihm so schwer werden, als sie jemals zu beherrschen.

Das

schließt jedoch nicht aus, daß es einen gewissen Einfluß auf dieselbe ge­ winne, womit es sich Dauer und Bestand sichert, der Sache des Fort­ schritts und der vaterländischen Entivickelung aber gute Dienste zu leisten

Dem Herausgeber stehen ausreichende materielle Mittel zu Ge­

vermag.

bote und wie sehr er mit Erfahrung, mit geschäftlicher und literarischer Routine, mit redactionellem Takt, mit der seltenen Fähigkeit, geeignete

Mitarbeiter herauszufinden und zu fesseln, mit glücklicher und sicherer Combination ausgestattet ist, das hat er auf seiner langen journalistischen

Laufbahn als Redacteur der „Vaterländischen Atemviren" gezeigt.

Die

Einrichtung des »Golos« ist durchaus praktisch und macht den Eindruck

großer Uebersichtlichkeit und Atmmichfaltigkeit des Inhaltes.

Auf den

Leitartikel und den Ueberbltck der Regierungsakte folgen dre „russischen", dann

die „ausländischen dteuigkeiten",

zum Schluß

die

Telegramme.

Das Feuilleton verweilt oft sehr eingehend bei den Institutionen des Landes und den Erscheinungen des öffentlichen Lebens. — Jahrespreis,

wie bei den „Petersburger Nachrichten" und der „'Nordischen Biene":

16 Rubel.

Ferner haben wir in unser Verzeichniß der in Petersburg erschei­

nenden Tageblätter noch folgende aufzunehmen: Börsennachrichten

(Unr»EDbia Büaomocth — Birshewija Wä-

domosti). Zwei Handelsblätter, die schon 1803 gegründete „Commerz-Zeitung",

zuletzt redigirt von P. Newolssin, und die Wochenschrift „Journal für Actionäre", wurden seit 1861 vereinigt und in die täglich erscheinenden

Börsennachrichten"

umgewandelt.

Herausgeber

ist K. Trubnikow.

Aus dem Programm der „Bvrsennachrichten" heben wir als bedeutsam

die nachstehende Hiniveisung hervor: „Uns liegt schließlich die höchste Pflicht ob, die Pflicht, die Interessen

der Majorität, der Masse, die Jntereffen des Volkes zu vertheidigen. Daher haben die „Börsenuachrichtcn" gegen den Druck des großen Ka­

pitals ans das kleine und gegen Privilegien jeder Art entschieden pro-

Daher lagen uns die Aussichten auf ein neues Getränk-Accise-

testirt.

System so nahe am Herzen, daß >vir uns entschlossen, einen bedeutenden Theil unserer Zeitung den. Interessen dieser Reform zu widnien.

Von

deren Erfolg hängt die moralische und ntaterielle Kräftigung des Volkes, mithin eine größere älrvhlfahrt aller Klassen der Bevölkerung ab.

Ins­

besondere konlmt sie den Branntweinbrennern selbst als Producenten, so­ wie allen Consumcnten zu Gute, ivelche durch das neue Getränk-Accise-

system

auf

immer

von

dem

schweren

Joch

des

Monopols befreit

werden."

Die Rubriken der „Börsennachrichten" sind: Rußland.

peschen. Accise. Der

I. Tagesberichte aus

II. Politische Artikel, Correspoudenzen und telegraphische De­ III. Politisch ökonomische Artikel.

V. Feuilleton.

—-

Volksreichthum Bogatstwo).

IV. Zur Sache der Getränk-

Jahresprcis 12 R. (IIapoahoe

Boiatctbo



Narodnoje

Politisch - ökonomische und literarische Zeitung.

Erscheint seit dem l. November 1862, herausgegeben und redigirt

von I. Balabin.

Im Hinweis darauf,

daß

die anderen russischen

Tageblätter lvohl — Woskressnij Dossug) hervorgegangen, das in literarischer Beziehung sehr viel zu wünschen übrig läßt, aber auch in artistischer nicht gerade besriedigend zu nennen ist. Ueberhaupt eröffnen die gegenwärtig in Ruß­ land herauskommenden Bilderjournale gar keine Aussicht auf nur einigen Ersatz für das vortreffliche „Russische Kunstblatt" (Pycckiü Xyaovket'TBEHHMH jIhctoki. — liusskjj Chufloshestweniiij Listok), dessen Herausgabe, mehrere Jahre hindurch (1851. —1862) von W. Thimm mit der größten Sorgfalt fortgesetzt, durch Kränklichkeit des wackern Künstlers unterbrochen worden ist. Dieses Kunstblatt würde der lite­ rarisch-artistischen Production jedes Landes zur Zierde gereicht haben. Die Zeichnungen waren in Composition und Ausführung geschmackvoll, der Tondruck sauber und elegant, der Text unterschied sich von dem gewöhnlichen Jllustrationsbeiwerk durch Selbständigkeit des Inhaltes und literarische Würde. Als wöchentlich erscheinende Zeitschriften Petersburgs wären schließ­ lich noch einige Fachjournale zu erwähnen. Bon theologischen : Geistliche Unterhaltung (/l,yxoiniA;i HkcL.ia — Duchownaja Bessäda), herausgegeben vom geistlichen Seminar zu St. Peters­ burg (seit 1858). Jahrespreis: 4 R. Von medicinischen: Der Freund der Gesundheit (J.pyri. uapabi« — Drug sdrawija), medicinische Volkszeitung, gegründet 1833. Jahrespreis: 4 R. Der medicinische Bote BIcthhki — Medizinskij Wästnik), gegründet 1861 von Dr. I. Tschistowitsch und I. Nikitin. Die Mitarbeiterliste zählt gutklingende Namen aus der ärzt­ lichen Welt Rußlands. Jahrespreis: 7 R. Von nationalökonomischen, landlvirthschaftlichen und technischen: Der Bote friedensrichterlicher Institutionen (Bücthhk-l MHPOBbix'B y’ipejkaeiiih — Wästnik niirowich utschreshdenij). Organ der neuen Ordnung der Bauernverhältnisse; erschien als solches erst unter dem Titel „Der Friedensrichter." Der veränderte Name knüpft

sich »in die erweiterte Beziehung der Zeitschrift auf friedensrichterliche Institutionen auch außerhalb der Bauernangelegenheiten. Redacteur ist Eugen Karpowitsch. Iahrespreis: 7 R. Agronüunsche Zeitung (Bem-iex^liecka» Uabeta — Semledeltscheskaja Oaseta), gegründet 1834. Iahrespreis: 3 R. Die Wochenschriften: Journal für Kinder (nennt sich auf dem Titel „eine geistliche, moralische, historische, naturbeschreibende und lite­ rarische Lcctüre") — Blatt der Gegenwart („Zeitung für politische, gesellschaftliche und literarische Nachrichten") und Volkszeitung (heraus­ gegeben von Äuschnerew) kennen wir mir aus bibliographischen Ver­ zeichnissen. Zweimal des Vtonats erscheinen in Petersburg: Der Lehrer (YauaMi, — Utschitel). „Journal für Erzieher, Eltern und Alle, die sich der Erziehung und dem Unterricht der Jugend widmen." Herausgegebe» von I. Paulson und N. Wessel. Enthält in vier Abtheilungen folgende Rubriken. I. Physiologie. Empirische Psychologie. Populäre und praktische Logik. Pädagogik (Theorie der Erziehung rc.>. Erziehungsgeschichte < Biographien berühmter Pädagogen; Beschreibung bemerkenslverther Erziehungs- und Lehranstalten; Kinder­ gärten, Volksschulen, Lehrerseminare). Populärwissenschaftliche Abhand­ lungen. II. Didaktik (allgemeine Unterrichts regeln). Methodik. Praktische Anwendung verschiedener Älethoden. Erläuterungen aus dem Gebiete der Künste, Handlverke und Spiele. III. Pädagogische Uebersicht und Bibliographie. Pädagogische Eorrespvndenz und Vermischtes. IV. Päda­ gogisches Anzeigeblatt, wo Gesuche und Offerten wegen Lehranstalten und Lehrerstellen, Bücheranzeigen u. s. w. Platz finden. Iahrespreis: 4 R. Arbeiten der Kaiser!, freien ökonomischen Gesellschaft (Tpyxbl llMllEPATurCKAro BO.WnAl'O :iKOnU.MH'IECKAl"0 OF.UIECTBA — Trudi Imperatorskawo wolnawo ekonomitscheskawo obstschhestwa). Die Herausgabe dieser Zeitschrift beginnt im Jahre 1765, wird 1779 nach einer Unterbrechung von drei Jahren als „Neue Folge der Arbeiten rc." und von 1812 unter dem ursprünglichen Titel fortgesetzt, hört 1822 ganz auf; erst 1833 wieder erneuert. Der Inhalt ist fol­ gendermaßen classificirt: I. Landwirthschaft. II. Technologie. III. Agro­ nomische Mechanik. IV. Volkssanität. V. Ökonomische Revue. VI. Land-

286

Die russischen Zeitblätter

wirthschastliche Neuigkeiten des Auslandes und

schaft.

Thätigkeit der Gesell­

Jahrespreis: 3 R.

Der bibliographische Bote (Khidkhmh BIcthhkt. — Knisbnij

Wästnik), „Journal der' literarischen Thätigkeit und des Buchhandels in Rußland."

Herausgegeben von N. Senkowskij.

Enthält eine ziemlich

vollständige Bibliographie und nianuichfaltige, zum Theil kritische Notizen

über Bücher, Journale, Bibliotheken, Schulen, wissenschaftliche und künst­

lerische Unternehmungen u. s. w. Die

Industrie

Jahrespreis: 3 R.

(IIpoMLiuLiEnnocTb



Promüschlennostj),

redigirt von W. Strubinsky. Das diesjährige Programm dieses Blattes versprach ausführliche Btittheilungen über den Gang der Industrie in

Rußland, wie im Auslande, Börsen- und Actiennachrichten, technische Neuigkeiten aus dem Gebiete der Chemie

sowohl

als

der Mechanik,

eine vollständige Chronik der Regierungsverordnungen für Manufactur,

Handel und aller Art industrielle Unternehmungen, sodann eingehende Monographien über verschiedene Zweige der russischen Industrie und einzelne Aufsätze über Metallurgie, über den Ertrag der Goldbergwerke,

den Salzbetrieb.

Eine besondere Abtheilung ist der Entwickelung und

Vervollkomnlnung der Photographie gewidmet.

Zeichnungen, Grundrisse u. s. w.

Dazu mehrere Beilagen,

Jahrespreis, mit Einschluß sämmt­

licher Beilagen: 10 R. In vierzehntägigen Lieferungen erscheinen ferner noch einige Mode­ journale Petersburgs, die aber

für unsern

Ueberblick der russischen

Tagespresse von gar zu untergeordneter Bedeutung sind.

Der Gisth-f. Erzählung von Iwan Turgenew.*)

VII.

Um dieselbe Zeit, als im herrschaftlichen Hause das von uns eben beschriebene Abkomnien getroffen mürbe, saß Akim in seiner Wohnung auf der Bank unter bem Fenster und strich mit unzufriedner Miene seinen Bart. Wir sagteil oben, daß er die Neigung seiner Frau zu Nauin nicht ahnte, obgleich flute Leute ihm mehr als einmal an-deuteten, cs sei doch endlich Zeit, daß er zu Verstände komme. Frei­ lich koiuite er selbst bewerten, daß seit einiger Zeit seine Frau etwas eigensinnig geworben war; aber das iveibliche Geschlecht ist nun einmal bekaniltermaßen hvchfährig und launisch. Als es ihn» sogar wirklich vorkam, daß es in feinem Hause nicht mehr mit rechten Dingen zugehe, machte er bloß eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Er wollte das Aergerniß nicht heraufbeschivören. Seine Gutmüthigkeit irahm mit den Jahren nicht ab und auch die Trägheit that das ihrige. Aber an jenem Tage war er sehr verstimmt. Den Abend zuvor hatte er ganz zufällig ein Gespräch zwischen seiner Magd und einem andern Weib aus der 'Nachbarschaft mit angehört. Das Weib fragte die Magd, warum sie am Sonntag Abend nicht zu ihr gekommen. — Ich habe dich erwartet, sagte sie. — Ich wäre gern gekommen, entgegnete die Magd; aber ich stieß auf meine Herrin bei einer sündigen Sache. Daß sie der Henker hole! *) S. Russ. Revue. II. Heft 3.

— Stießest auf sie? wiederholte das Weib in gedehntem Ton und stützte das Gesicht auf.



Wo bist

du

denn,

meine Liebe, auf sie

gestoßen? — Hinter des Popen Hanffeld.

Meine Herrin hatte da mit ihrem

Naum eine Zusammenkunft und in der Dunkelheit bemerkte ich's nicht — oder hatte mich der Mond geblendet, Gott iveiß es; ich rannte gerad an sie an.

— Ranntest an sie an? wiederholte das Weib. — Nun, und sie stand wohl mit ihm da?

Wie sie mich sah, sagte sie:

— Freilich stand sie da und er auch. „Wo läufst du hin?

Und da mußte ich gehen.

Geh nach Hause."

— Und da mußtest du gehen? Die Frau schwieg. — Nun leb wohl, Fetinuschka, sagte sie und entfernte sich langsam.

Dieses Gespräch hatte Akim sehr unangenehm berührt.

Seine Liebe

zu Awdotja war allerdings schon erkaltet ; dennoch thaten ihm die Worte

der Wagd weh.

Und leider hatte sie die Wahrheit gesprochen.

Wirklich

begab sich an jenem Abend Awdotja zu Naum, der sie an der Straße im dichten Schatten des hohen mid bewegungslosen Hanffeldes erwartete. Der Thau hatte jeden einzelnen Stengel desselben von oben bis unten

benetzt; ein bis zur Betäubung starker Duft verbreitete sich ringsum.

Eben stieg der Mond auf,

groß und

purpurroth

in trübem Nebel.

Naum hörte schon von fern die eiligen Schritte Awdotja's und ging ihr entgegen.

Sie trat zu ihm, bleich und athemlos vom raschen Gange.

Der Mond schien ihr in's Gesicht.

— Nun, hast du's gebracht ? fragte er sie. •— Gebracht hab'

ich's wohl,

entgegnete

sie in unentschlossenem

Tone; aber wie, Naum Iwanowitsch ....

— So gieb's her, wenn du's hast, unterbrach er sie und streckte

die Hand aus. Sie langte unter ihrem Tuche eine Rolle hervor, die Naum gleich ergriff und in den Busen steckte.

— Naum Iwanowitsch! sprach Awdotja langsam, ohne die Augen

von ihm zu verwenden:.... Ach, Naum Iwanowitsch!

bringe ich meine Seele in's Berderben...........

Um deinetwillen

In diesen! Augenblicke ivar's, luo die Magd an sie herantrat. Also Akim saß ant der Bank und strich mißinuthig seinen Bart. Awdotja kam und ging in Einem fort. Er folgte ihr blos mit den Augen. Endlich, als sie ivieder eininal hereingekommen, im Kämmer­ chen ihre Jacke geholt und schon über die Schtvelle schritt, hielt er's nicht länger aus und sprach gleichsam vor sich hin: — Ich kann mich nur ivundern, ivas diese Weiber geschäftig sind. Daß sic einmal auf einem Flecke sitzen blieben, daran ist nicht zu denken, das ist ihnen nicht gegeben. Arn Morgen oder am Abend, immer haben sie irgend wohin zu laufen. Ja, Ja! Arvdotja hörte die Rede ihres Mannes bis zu Ende, ohne ihre Stellung zu ändern; mir bei dem Worte „Abend" bewegte sie unmerklich den Kopf und wurde nachdenklich. Das iveiß man ja, Akim, sagte sie zuletzt mit Verdruß: wenn du einmal zu reden anfängst, so geht's .... Sie »nachte eine Beivegnug mit der Hand und trat hinaus, die Thür hinter sich znschlagend. Aivdotja schätzte »virklich die Beredsamkeit Akim's nicht sehr hoch und oft hatte sie, »venn er Abends mit den Passagieren eine Unter­ haltung anknüpfte oder sich in Erzählungen einließ, im Stillen gegähnt ober sich entfernt. Akim sah auf die geschlossene Thür......... „ Wenn du einmal zu reden ansängst", wiederholte er halblaut: „das ist's ja eben, daß ich viel zu ivenig mit dir geredet habe........ Und )oer? Bon unsern Leuten .... und noch dazu" .... Er erhob sich, sann und sann, und schlug sich mit der Faust auf den "Racken. Einige Tage vergingen seitdem in recht wunderlicher Weise. Akim sah immer seine Fran an, als sei er im Begriff, ihr etwas zu sagen, und sie ihrerseits betrachtete ihn mit einem gewissen Argwohn. Dabei schiviegen sie beide gezwungen. Uebrigens ivurde dieses Schweigen ge wohnlich durch eine mürrische Bemerkung Akim's über irgend eine Nachlässigkeit in der Wirthschaft oder in Betreff der Frauen im Allge­ meinen unterbrochen. Awdotja antwortete ihm meist mit keiner Sylbe. Indeß ipärc es bei aller gutinüthigen Schtväche Akim's zwischen ihm und Awdotja doch sicher zu einer entscheidenden Erklärung gekommen,

Der Gasthof.

296

wenn sich nicht endlich eine Begebenheit ereignet hätte, nach der alle

Erklärungen unnütz waren. Nämlich als an einem Morgen Akim mit seiner Frau sich eben zum

Frühstück setzen wollte (wegen der Sommerarbeiten gab es im Gasthof

just keinen einzigen Paffagier), da ließ sich das Raffeln eines Wagens auf der Landstraße hören und plötzlich hielt derselbe vor der Treppe an. Akim sah zum Fenster hinaus, zog ein finsteres Gesicht und ließ den

Kopf sinken.

Aus dem Wagen stieg Naum, ohne sich zu beeilen. Awdotja

hatte ihn nicht bemerkt, aber als seine Stimme im Flur erscholl, zitterte

der Löffel leise in ihrer Hand. dem Hofe zu bringen.

Er befahl dem Diener, das Pferd nad)

Endlich ging die Thür auf

und er trat in's

Zimmer. — Guten Tag! sagte er und nahm seine Mütze ab. — Guten Tag! sprach Akim durch die Zähne. — Woher des Weges ?

— Ich war in der Nähe,

entgegnete Jener,

auf die Bank sich

setzend. — Komme von der gnädigen Frau.

— Von der gnädigen Frau? versetzte Akim, ohne sich von seinem Platze zu erheben.

Wohl in Geschäften?

— Allerdings in Geschäften.

Awdotja Arefjewna, Ihr ergebenster

Diener.

— Guten Tag, 9iaum Iwanowitsch, erwiederte sie.

Alle schwiegen. — Ihr habt da wohl eine Suppe? hub Naum an. — Ja, eine Suppe, entgegnete Akim, mit einem Male erbleichend:

aber nicht für dich. Naum warf einen verwunderten Blick auf Akim. — Wie so nicht für mich? — Nun ja, eben nicht für dich.

Akim's Augen funkelten und er schlug mit der Hand auf den Tisch. — In meinem Hause ist nichts für dich, hörst du!

— Was hast du, Akim? — Nichts hab' ich. Der

Was hast du?

Ich habe dich nur satt, Naum, das ist Alles.

Alte erhob sich und zitterte

am ganzen Leibe. — Du drängst

dich gar zu arg an mich heran, das hab' ich.

Auch Naum stand auf.

— Du bist wohl nicht bei Troste, sagte er spöttisch. Awdotja Arefjewna! Was hat er denn nur? — Ich sage dir, rief mit bebender Stimme Akim: mach', daß du hinaus kommst! Hörst du? Du hast hier keine Awdotja Arefjewna, hörst du .... Hinaus mit dir! sage ich. — Was sagst du mir da? fragte bedeutsam Naum. — Daß du hinausgehst, das sag' ich dir. Hier da ist das Gottes­ bild und hier die Schwelle, verstehst du? Sonst wird dir's übel gehen. Naum that einen Schritt vorivärts. — Ums Himmels Willen! meine Guten, Lieben! Schlagt euch nicht! stammelte Awdotja, die bis zu diesem Augenblicke unbeweglich am Tische gesessen. Naum warf ihr einen Blick zu. — Sein Sie außer Sorge, Awdotja Arefjewna! Wozu uns balgen? Ei, Freund, fuhr er zu Akim gewendet fort. - Wie du lospolterst! Wahr­ haftig, bist du rasch! Ist es ivohl erhört, Jemand aus einem fremden Hanse zu weisen? fügte Naum langsam und gedehnt hinzu: und das noch den Herrn selber! — Wie so, aus einem fremden Hause, brummte Akim. — Wel­ chen Herrn? — Nun, mich zum Beispiel. Naum blinzelte und ließ seine weißen Zähne sehen. — Wie so dich? Bin ich hier nicht Herr im Hause? — Dummer Kerl! Ich sage dir, ich bin der Herr. Akim riß die Augen auf. — Was faselst du da, als wärst du toll geworben? sagte er end­ lich. — Wie Teufel kommst du dazu, hier Herr zu sein? — Ei, was ist mit dir zu reden! rief Naum ungeduldig. Siehst du dieses Papier ? fuhr er fort, einen zusammengefalteten Stempelbogen aus der Tasche hervorlangend: siehst du, das ist der Kaufcoutract, verstehst du? Der Kaufcoutract auf Haus und Hof; hab's von der Gutsherrin, von Frau Elisabeth Prochorowna gekauft. Gestern haberr wir in der Stadt den Kauf vollzogen. Sonach bin ich hier der Herr und nicht du. Noch heute nimmst du deine Habseligkeiten zusammen,

rss

Der Gasthof.

fügte er hinzu, indem er das Blatt wieder rn die Tasche steckte: und

morgen soll hier keine Spur von dir sein. Akim stand da, wie vom Blitz getroffen.

— Räuber! stöhnte er endlich auf:

Packt ihn!

Greift ihn!

Räuber du!

Fedka! Mtka!

Haltet ihn!

Er war wie von Sinnen.

— Sieh dich vor! sprach Naum drohmd:

sieh dich vor, Alter!

Mach' kein dummes Zeug.

— So schlag' ihn doch, Weib! so schlag' ihn doch! wiederholte Akim

mit thräneuvoller Stimme und suchte machtlos vergebens sich vom Fleck zu

rühren.

sie.............

— Seelenmörder!

Räuber!

auch mein Haus willst

....

Nicht genug, daß du

du mir nehmen und Alles , Alles

.... Doch nein, halt .... das kann nicht sein, das wird nicht sein! Ich gehe selbst hin, ich sag's ihr.

Wie so .... warum verkcmfen

Halt! .... Halt! .... Und ohne die Mütze aufzusetzen, stürzte er auf die Straße. — Wo rennt Ihr denn hin,

Akim

Jivanoitsch?

rief

ihm dir

Magd Fetinja zu, mit der er an der Thür zusammentraf. — Zur gnädigen Frau!

Laß mich!

Zur gnädigen Frau! heulte

Akim und als er den Wagen Naum's erblickte, den man

noch nicht

nach dem Hofe gebracht hatte, sprang er in denselben hinein, ergriff die Zügel, schlug aus Leibeskräften auf das Pferd los uild jagte in vollem

Galopp nach dem herrschaftlichen Hause. — Mütterchen Eisabeth Prochorowna! wiederholte er für sich auf dem ganzen Wege:, warum diese Ungnade?

War ich Euch nicht in

Alleni zu Diensten? .... Und dabei hieb er fortwährend auf das Pferd los.

Die ihm Be­

gegnenden wichen aus und sahen ihm lange nach. Nach einer Viertelstunde hatte Akim das herrschaftliche Haus der Frau Elisabeth Prochorowna erreicht, sprengte an die Treppe heran,

sprang aus dem Wagen und stürzte geradesweges in den Vorsaal. — Was willst du? brummte der erschrockene Lakai, der auf der

Bank süß geschlummert hatte. — Zur Herrin will ich, die Herrin muß ich sprechen! rief Akim laut. Der Lakai erstaunte.

— Ist denn etwas geschehen? hub er an. — Nichts ist geschehen; aber ich muß die Herrin sprechen. — Was giebts denn? fragte der Lakai mit immer größerm Er­ staunen und richtete sich langsain auf. Akim besann sich, als hätte man ihn mit kaltem Wasser über­ gössen. — Peter, melden Sie der gnädigen Frau, sagte er, indem er sich tief verbeugte: melden Sie ihr, Akim wolle sie sprechen. — Gut, das will ich ; aber du scheinst mir berauscht zu sein: warte ein wenig, meinte der Lakai und entfernte sich. Akim ließ den Kops sinken und >var bestürzt. Seine Entschlossen­ heit verließ ihn schnell von dem Augenblicke, wo er in's Borzimmer eintrat. Elisabeth Prochorowna ward ebenfalls bestürzt, als ihr Akim's Ankunft gemeldet wurde. Sie ließ sogleich Kyrillotvna zu sich in's Kabinet rufen. — Ich kann ihn nicht annehnien, sprach sie hastig, als diese kaum erschienen war: ich kann durchaus nicht. Was soll ich ihni sagen? Hab' ich dir's nicht vorausgesagt, daß er ganz gewiß kommen und sich be­ schweren wird? setzte sie ärgerlich und aufgeregt hinzu. — Hab' ich's nicht gesagt? .... — Sie brauchen ihn ja auch nicht anzunehmen, entgegnete mhig Kyrillowna. — Weshalb wollen Sie sich beunruhigen? Ich bitte Sie! — Wie soll ich's aber machen? — Wenn Sie erlauben, ivill ich mit ihm reden. Elisabeth Prochorotvna hob den Kopf in die Höhe. — Thu mir die Liebe, Kyrillotvna, rede dir mit ihm! Sag' du ihm .... meinetwegen .... ich hätte es für nöthig befunden und übri­ gens, daß ich ihn entschädigen wolle, dtun, du weißt schon, ich bitte dich, Kyrillowna. — Wollen gnädige Frau sich nur nicht beunruhigm, versetzte Ky­ rillotvna und entfernte sich, mit ihren Schuhen knarrend. Keine Biertelstrmde vergiilg, als das Knarren dieser Schuhe sich tvieder hören ließ und Kyrillotvna mit demselben ruhigen Ausdruck im Gesicht, mit deinselben schlauen Blick in's Kabinet eintrat.

294

Der Gasthof. — Nun? fragte die Herrin: was hat Akim gesagt?

— Nichts, gnädige Frau.

Er sagte, Alles stünde in dem Mllen

von Euer Gnaden, wenn Sie nur gesund und glücklich sind,

er für

seine Person wird schon durchkommen. — Und hat er sich nicht beklagt?

— Durchaus nicht, gnädige Frau; worüber sollte er sich beklagen?

— Weshalb ist er denn gekommen? fragte Elisabeth Prochorowna, nicht ohne einen gewissen Zweifel.

— Er kam, Sie zu bitten, Sie möchten so lange, bis Sie ihn

mtschädigt hätten, die Gnade haben, ihm zu erlauben, daß er in seinem Es steht ohnehin leer, nur der Pe­

frühern Häuschen sich niederlaffe.

trowitsch wohnt darin. — Gewiß soll ihm das erlaubt werden, gewiß, fiel Elisabeth Pro­

chorowna mit Lebhaftigkeit ein: das versteht sich, mit Vergnügen. überhaupt sag ihm, daß ich ihn entschädigen werde. dir, Kyrillowna.

Und

Nun, ich danke

Ich sehe, es ist ein gutherziger Mensch.

Warte, fügte

sie hinzu: gieb ihm noch das von mir. Und sie langte aus ihrem Arbeitstisch einen Dreirubelschein hervor. — Da, nimm, gieb ihm das. — Zu Befehl! erwiderte Kyrillowna, ging aus ihr Zimmer und

schloß ruhig den Dreirubelschein in den eisenbeschlagenen Kasten, der zu Häupten ihres Bettes stand.

Darin bewahrte sie all ihr baares Geld

und dessen war nicht wenig. VIII.

Kyrillowna hatte mit ihrem Bericht die Herrin beruhigt; aber das Gespräch zwischen ihr und Akim fand in Wahrheit nicht in der Weise statt, wie sie es wiedergegeben, sondern folgendermaßen.

in's Mädchenzimmer zu sich rufen.

Sie ließ ihn

Er wollte erst nicht hingehen, indem

er erklärte, daß er nicht Kyrillowna, sondern Frau Elisabeth Prochorowna

selbst zu sprechen wünschte. Hintertreppe zu Kyrillowna.

Endlich gab er nach und ging über die

Er fand sie allein.

In's Zimmer ein­

tretend, blieb er gleich stehen, lehnte sich bei der Thür an die Wand, wollte sprechen und konnt' es nicht.

Kyrillowna betrachtete ihn unverwandt.

— Sie wünschen, Akim Jwanitsch, begann sie, die gnädige Frau

zu sprechen? Er nickte blos mit dem Kopf. — Das geht nicht, Akim Jwanitsch.

Und wozu auch?

Was ein­

mal geschehen, ist nicht zu ändern, und Sie werden die gnädige Frau

nur incommodiren.

Sie kann Sie jetzt nicht annehmen, Akim Jwanitsch.

— Kann nicht? wiederholte er und schwieg. — Aber wie denn, sprach er langsam: also ist mein Haus verloren? — Hören Sie, Akim Jwanitsch!

vernünftiger Mann.

Ich weiß, Sie waren stets ein

Ihr Haus tvird die gnädige Frau Ihnen bezahlen;

aber zu ändern ist das nun einmal nicht, durchaus nicht. uns da alle Erörterungen!

Was helfen

Das führt ja doch zu nichts, nicht wahr?

Akim legte die Hände auf den Rücken.

-

Denken Sie lieber daran, fuhr .Kyrillowna fort: ob Sie die

gnädige Frau nicht bitten sollen, daß man Ihnen z. B. Ihr früheres Häuschen einräume. -

Also mein Hans ist verloren? wiederholte Akim im frühern

Tone. — Akim Jwanitsch! Ich sage Ihnen ja, es geht nicht anders. Sie wissen das selbst besser als ich. — Ja wohl!

Wenigstens für wie viel ist's denn verkauft worden,

das Hans?

— Das weiß ich nicht, Akim Jwanitsch, das kann ich Ihnen nicht sagen.

Aber toarum bleiben Sie denn stehen? fügte sie hinzu: setzen

Sie sich doch. — Können stehen, unsereins ist nur ein Bauer. Danke gehorsamst. — Was sind Sie für ein Bauer, Akim Jwanitsch!

bleiben ein Kaufmann. gleiche Reihe zu stellen. nicht ohne Roth.

Sie sind und

Mit Ihnen ist nicht einmal das Hausgesinde in

Was fällt Ihnen ein?

Quälen Sie sich doch

Wollen Sie nicht Thee trinken?

— Rein, danke; brauche keinen.

Also das Haus, das behalten

Sie? setzte er hinzu, sich von der Wand trennend: danke auch dafür. Bitte vielmals um Vergebung. Damit tvandte er sich um und trat hinaus. Schürze ab und begab sich zur Herrin.

Kyrillowna band ihre

296

Der Tasthof.

— Also wirklich, ein Kaufmann bin ich geworden, sprach Akim zu sich selbst,

indem er nachdenklich vor der Hausthür stehen blieb. —

Schöner Kaufmann! Er machte eine lveglverfende Belvegung mit der Hand und lächelte

bitter.

Nun?

Will nach Hause! ....

Und Naum's Pferd, mit welchem er hingefahren, vollständig ver­

gessend, betrat er zu Fuße den Weg nach dem Gasthof.

Er war noch

keine Werst gegangen, als er neben sich einen Wagen rasseln hörte. — Akim! Atün Zwanitsch! rief ihn Jemand.

Er blickte auf und sah seinen Bekannten,

den entlassenen Küster

Iefrem mit dem Beinamen Knott, ein kleines, gebücktes Männlein mit

spitzer iliase und blöden Augen. Er saß in einem elenden Wägelchen auf einem Bund Stroh, mit der Brust an das Borderbret gelehnt.

— Gehst wohl nach Hause? fragte er Akim. Dieser blieb stehen.

— Nach Haus. — Willst du, so fahr' ich dich hin.

— Meinetwegen, fahr' mich hin. Iefrem rückte zur Seite und Akim stieg zu ihn: in .den Wagen.

Iefrem, der bei rechter Weinlaune zu sein schien, peitschte sein Pferd­ chen mit den Enden des Lenkseils.

Es setzte sich in müden Trab, wobei

es unaufhörlich mit dem ungezäumten Maick zuckte. ohne daß Einer zum Andern ein Wort

Eine Werst fuhren sie, sprach.

Akim saß gesenkten Hauptes mld Iefrem brummte etwas in

den Bart hinein, das Pferd bald antreibend, bald anhaltend. — Wo warst du denn ohne Mütze hjngegangen,. Akim? fragte er diesen plötzllch und ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er halblaut fort:

die hast du wohl in der Trinkanstalt zurückgelasscn.

Saufbold!

Das ist's, du

Ich keime dich, ich liebe dich dafür, daß du einer bist. Du

balgst nicht,

du krakeelst nicht, suchst keine Händel, du Hüuserbauer!

Aber trinken thust du urib so trinken, man hätte dich dafür längst ein­ sperren sollen, denn es ist ein häßlich Ding.

aus vollem Halse: hurrah! — Halt! haltet!

Halt!

Hurrah! schrie er plötzlich

Hurrah!

erscholl

in

der Nähe eine weibliche Stimme:

Akim sah sich um. Auf den Wagen zu lief über das Feld ein Weib, so bleich und zerzaust, daß er sie erst nicht erkannte. — Haltet! Haltet! stöhnte sie wieder athemlos und mit den Händen winkend. Akin: bebte zusammen. Es >var seine Frau. Er griff ans Lenkseil. — Warum anhalten! brummte Jefrem: um eines Weibes willen? Vorwärts! Akim zog jedoch das Pferd zurück. In diesem Augenblicke erreichte Awdotja die Straße und warf sich mit dem Gesicht in den Staub. — Väterchen! Akim Jwanitsch! heulte sie: er hat auch mich fort­ gejagt! Akim sah sie an und rührte sich nicht, sondern zog nur stärker das Lenkseil an. — Hurrah! rief Zefrem von neuem. — Also fortgejagt hat er dich? sagte Akim. — Fortgejagt, mein Lieber! Theurer! antwortete Awdotja schluch­ zend: fortgejagt! Jetzt, sagte er, ist das Haus mein, so geh fort, sagte er. — Hübsch das, ei, ei! Sehr hübsch! bemerkte Jefrem. — Du also warst im Begriff zu bleiben? warf Akim bitter hin, noch immer im Wagen sitzend. — Was bleiben! fiel Awdotja ein, die sich auf die Knie erhoben hatte und jetzt von neuem zu Boden warf: du weißt ja gar nicht, daß ich ........ Schlag' mich todt, Akim! Schlag' mich auf der Stelle todt.... — Weshalb sollte ich dich schlagen, Arefjewna? versetzte Akim traurig: du hast dir selber genug gethan. Was noch? — Ach, Akim Jwanitsch! Was denkst du wohl? Das Geld. dein Geld, das hast du ja nicht mehr........ dein Geld........ Ich Gottlose hab's ans dem Gewölbe herausgeholt, hab' Alles ihm hinge­ geben, dem Böseivicht, dem sJiaum! Ich Elende! Warum hast du mir gesagt, wo du dein Geld aufbewahrst? Mit deinem Geld hat er Haus und Hof bezahlt........ der Bösewicht! Schluchzen erstickte ihre Stimme. Akim faßte sich mit beiden Händen an den Kops.

298

Der Gasthof. — Wie? rief er endlich aus:

und Haus und Hof..........

Das Geld

auch das ganze Geld?

Und du hast das..........

du aus dem Ge­

wölbe ......... fortgetragen........... Du Schlange! Ich schlag' dich todt........... Er sprang aus dem Wagen.

— Akim!

Akim!

balg' dich nicht, lallte Jefrem,

Schlag' nicht,

dem in Folge dieses unerwarteten Ereignisses der Rausch zu vergehen anfing.

— Nein, Väterchen,

schlag' mich nur todt! schlag' nach Ruchlose

Achte nicht auf ihn, schlag' zu! rief Awdotja, sich krampfhaft zu

todt!

Akim's Füßen windend. Er blieb stehen, sah sie an, trat einige Schritte zurück und setzte

sich auf's Gras am Wege.

Es trat eine kurze Pause ein.

Awdotja

wandte den Kopf nach seiner Seite.

— Akim! Höre, Akim! sagte Jefrem, sich im Wagen aufrichtend: laß sein. helfen. sich fort:

Das ist iiitii einmal..........

Pfui Teufel!

dem Uebel ist nicht mehr abzu­

Was für ein Umstand! fuhr er gleichsani für

das verfluchte Weib! — Geh zu ihm hin! rief er, sich hin­

ausbeugend, Awdotja zu: siehst, er ist ganz von Sinnen. Awdotja stand auf, näherte sich

Akim und fiel ihm

wieder zu

Füßen.

— Väterchen! begann sie mit schwacher Stimme. Akim erhob sich und ging nach dem Wagen.

Sie ergriff den Zipfel

seines Kaftans.

— Fort voll mir! schrie er wüthend und stieß sie zurück. — Wo willst du denn hin? fragte ihn Jefrem, als er sah, daß

Akim sich wieder zu ihm setzte. — Du wolltest mich nach Hause bringen, sagte Akim: mich nun nach deiner Wohnung;

so bring

die meine, wie du siehst, habe ich

nicht mehr, man hat sie mir lveggekauft. — Na, meinetwegen, fahren wir zu mir. — Und sie?

Akim antwortete nichts. — Und ich?

du mich zurück?

Und ich? fiel Awdotja weinend ein:

wem lässest

Wo soll ich hin ?

— Geh zu ihm, versetzte

mein Geld hingegeben.

Akim, ohne sich umzuwenden: dem du

Vorwärts, Jefrem!

Jefrem trieb das Pferd a»,

der Wagen rollte davon, Awdotja

heulte laut..........

Jefrem wohnte

eine Werst

von Akims Hof entfernt, in einenr

kleinen Häuschen nahe an der einsamen fünfkuppeligen Kirche, welche

die Erben eines reichen Kaufmanns, dessen letztem Willen gemäß, kürz­ lich erbaut hatten.

Jefrem sprach

auf dem ganzen Wege nichts zu Akim, sondern

Worte in der Art, wie:

weglich,

brachte

nur bisweilen den Kopf und

schüttelte

von Jefrem

unzusammenhängende

„Ei du! Ach du!" hervor.

ein wenig abgewendet.

Jefrem sprang zuerst aus dem Wagen.

Akim saß unbe­

Endlich kamen sie an.

Ihm entgegen lief ein Mädchen

von sechs Jahren, in tiefgeschürztem Hemdchen, und rief: — Papa! Papa! — Wo ist die Mutter? fragte sie Jefrem. — Sie schläft in der Kammer.

— Laß sie schlafen.

Akim Jwanitsch! so kommen Sie doch in

die Stube. (Wir müssen bemerken, daß Jefrem ihn nur in der Trunkmheit

duzte.

Akim wurde auch noch von ganz andern Leuten mit „Sie" an­

geredet.) Akim trat in das Küsterhäuschen. — Nehmen Sie hier auf der Bank Platz, sagte Jefrem. — Marsch!

hinaus, ihr Schlingel! ries er drei Knaben zu, magern und

die zugleich mit zwei

mit Ruß beschmierten Katzen plötzlich

Winkeln des Zimmers zum Borschein kamen.

aus verschiedenen

Hinaus! Fort! — So,

hier, Akim Jwanitsch, hier, fuhr er fort, seinen Gast zum Sitzen ein­

ladend: kann ich nicht mit etwas aufwarten? — Was wär's nur gleich, Jefrem? sagte endlich Akim. — Könnt'

ich nicht Wein haben ? Jefrem wurde munter. — Wein? Augenblicklich!

laufe gleich zum Nachbar.

Zu Hause hab' ich keinen,

Augenblicklich ....

Und er griff nach seiner Klappmütze. Ni»1-iche «edue. u. 4. Heft. 1863.

21

aber ich

300

Der Gasthof. — Bring nur recht viel mit, ich will's bezahlen, rief ihm Akim

nach: so viel Geld hab' ich noch. — Augenblicklich! wiederholte Jefrem noch einmal, indem er hinter

der Thür verschwand. WiMch kam er sehr bald mit zwei Flaschen unterm Arm zurück, von denen eine schon aufgestöpselt war, stellte sie auf den Tisch, holte

zwei grüne Gläser, ein Eckchen Brod und Salz herbei. — So hab' ich's gern, versicherte er, indem er sich zu Akim setzte.

— Wozu sich grämen! Er schenkte ihm und sich ein und fing an zu schwatzen.

Die Hand-

lung Awdotja's hatte ihn verblüfft. — Eine merkwürdige Sache!

nur geschehen?

Wahrhaftig! sagte er: wie ist das

Er muß sie behext haben, nicht?

Da sieht man, wie

streng eine Frau bewacht werden muß. Die kann man nicht kurz genug

halten.

Allein Sie sollten doch nach Hause fahren.

Ist doch wohl ge^

hörig viel von Ihrem Hab' und Gut da zurückgeblieben!

Und noch Atehreres der Art sprach Jefrem, denn er schwieg nicht

gern, wenn er trank. Nach einer Sttlnde ging in Jefrem's Hanse Folgendes vor.

Akim,

der während der ganzen Zecherei eins die Fragen und Bemerkungen seines schwatzhaften Wirthes

kein Wort erwiedert und nur Glas auf

Glas geleert hatte, lag auf dem Ofen, ganz sroth, in schwerem, quä­

lendem Schlaf; die Kinder sahen ihn verwundert an. O weh!

Und Jefrem.........

Jefrem schlief auch, aber in einer sehr engen und kalten Rum­

pelkammer, wohin ihn seine

Frau,

ein Weib von ganz mannhafter,

starker Körperconstitution, eingesperrt hatte.

Er war nämlich zu ihr

gegangen und sprach etwas — man wußte nicht recht, ob er drohte

oder erzählte — genug,

er drückte sich

so unzusammenhängend und

unverständlich aus, daß sie gleich merkte, wie es mit ihm stand, ihn

am Kragen packte 'und an den gehörigen Ort brachte. gens in der Rumpelkammer sehr gut und sogar ruhig.

wohnheit nicht macht!

Er schlief übri­

Was die Ge­

IX.

Ityrillowna hatte ihr Gespräch mit Akim der Frau Elisabeth Prochvrmvna nicht ganz genau tviedergegeben. Gleiches läßt sich auch von Alodotja sagen. Raum hatte sie nicht fortgejagt, wie sie Akim sagte. Er hatte kein Recht, sie fvrtzujagen; er war verpflichtet, den alten Wirthslenten Zeit 511111 Wegzug zu lassen. Zwischen ihm und Awdotja halten Erklärungen ganz anderer Art stattgefunden. Als Akim mit dem Ruf, er fahre zur Herrin, auf die Straße hin­ aus rannte, ivcndete sich Awdotja zu Naum, sah ihn starr an und schlug die Hände zusammen. — Herr Gott! begann sie: Naum Iwanowitsch! Was ist das? Sie haben unsern Hof gekauft? — Nun ja, entgegnete er: ich habe ihn gekauft. Awdotja schwieg, dann fuhr sie plötzlich auf. — Also dazu haben Sie das Geld gebraucht? — Ganz recht, Sie sagen es. Ei, ei, Ihr Männchen scheint mit meinem Pferd fortgcfahrcn zu sein, setzte er hinzu, als er das Rasseln des Wagens hörte........ — Aber das ist ja Plünderung! wehklagte Awdotja: das ist ja unser Geld, meines Mannes Geld und der Hof ist unser........ — Nein, Awdotja Arefjewna, unterbrach sie Naum: der Hof hat nicht Ihnen gehört; warum sagen Sie das! Der Hof stand auf herrschaft­ lichem Boden, also gehörte er auch der Herrschaft. Das Geld freilich bekam ich von Ihnen; Sie hatten, so zu sagen, die Güte, es mir dar­ zubieten und ich bleibe Ihnen dankbar, will es Ihnen auch bei Gelegen­ heit wiedererstatten, wenn es sich einmal so macht. Aber ein armer Schlucker zu bleiben, convenirt mir nicht, bedenken Sie doch selbst. Naum sprach alles das sehr ruhig und sogar mit einem leisen Lächeln. — Himmlischer Pater! rief Awdotja: was ist denn das! Was soll das tverden! Ich kann ja meinem Manne nicht unter die Augen treten! Bösewicht du! fuhr sie fort, indem sie' mit Haß in Naums jugendlich frisches Gesicht blickte: meine Seele habe ich uni dich ins Verderben gebracht! Um dich bin ich zur Diebin geworden, und du schickst uns jetzt als Bettler fort, du Bösewicht! Jetzt bleibt mir ja 2t*

nichts übrig, als mir die Schlinge um den Hals zu legen.... Du Miffe-

thäter!

Betrüger du, mein Mörder! ....

Und sie brach in strömende Thränen aus. — Regen Sie sich doch nicht auf, Awdotja Arefjewna, versetzte Naum.

— Ich sage Ihnen nur Eins: das Hemd ist Einem näher als der Rock,

und dazu, Awdotja Arefjewna, ist der Hecht im Teich, daß der Karpfen nicht schlafe.

— Wo sollen wir nun hin, wohin! lallte Awdotja weinend. — Ja, das kann ich nicht sagen. — Ich ermorde dich, Bösewicht!

Ich ermorde dich ....

— Nein, das werden Sie nicht thun, Awdotja Arefjewna.

sagen Sie das!

Wozu

Allein ich sehe, es ist besser, daß ich mich jetzt ein

wenig von hier entferne, denn Sie sind gar zu sehr außer sich. um Entschuldigung.

Morgen komme ich bestimmt.

Bitte

Aber meine Diener

erlauben Sie mir schon heut zu Ihnen zu schicken, setzte er hinzu, wäh­ rend Awdotja fortfuhr, unter Thränen zu wiederholen, sie würde ihn

und sich selbst todten. — Da kommen sie auch schon, bemerkte er, zum Fenster hinaus­

blickend. — Könnte sonst, behüte Gott, leicht ein Unglück geschehen.

ist's sicherer. zunehmen.

So

Sie haben wohl die Güte, heute Ihre Sachen zusammen­

Die werden Ihnen dabei behülflich sein und Acht geben.

Bitte nochmals um Entschuldigung. Er verneigte sich, trat hinaus und rief die Diener heran.

Awdotja

fiel auf die Bank, dann warf sie sich mit der Brust auf den Tisch und rang die Hände, dann plötzlich sprang sie auf und lief ihrem Manne

nach..........Wir haben von dem Wiedersehen Beider erzählt. Als Akim mit Jefrem davon fuhr und sie allein im Felde zurück-tieß, weinte sie erst lange, ohne sich von der Stelle zu rühren. dem sie sich satt geweint, ging sie nach deiil herrschaftlichen Hause. einem bittern Gefühl trat , sie dort ein.

Nach­

Mit

Noch schwerer wurde es ihr,

im Mädchenzimmer sich zu zeigen. Die Mädchen stürzten ihr alle voll Theilnahme und Mitleid ent­ gegen.

Bei ihrem Anblick konnte Awdotja sich der Thränen nicht ent­

halten, die gewaltsam aus ihren rothen und geschwollenen Augen her­ vordrangen.

Ganz erschöpft setzte sie sich auf den ersten besten Stuhl.

Man lief nach Kyrillowna.

Die kam, benahm sich sehr freundlich gegen

sie, zur Herrin aber ließ sie sie nicht,

hatte. sehen.

wie sie Akim nicht vorgelaffen

Awdotja selber bestand nicht sehr darauf, die gnädige Frau zu nach dem herrschaftlichen Hause

Sie war

aus

dem

einzigen

Grunde gekommen, iveil sie entschieden nicht ivußte, >vo sie ihr Haupt hinlegen sollte.

Kyrillotvna befahl, Thee zu bringen; Awdotja weigerte sich lange, Thee zu trinken, gab jedoch endlich den Bitten und dem Zureden sämmt­

licher Mädchen nach und trank nach der ersten Tasse noch vier. Kyrillowna sah,

Als

daß ihr Gast sich ein wenig beruhigt hatte und nur

bisweilen zuckte und matt schluchzte, fragte sie Awdotja, wohin sie zu ziehen gedenke und was sie mit ihren Sachen anfangen wolle.

Awdotja

brach über diese Frage wieder in Thränen aus und fing an zu ver­

sichern, daß sie nichts weiter wolle als sterben.

Kyrillowna aber, als

eine Frau von Kopf, unterbrach sie gleich und rieth ihr, keine Zeit zu verlieren, sondern gleich hellte ihre Sachen nach dem Dorf, in das frühere Häuschen Akim's schaffen zu lassen, wo dessen Onkel wohirte, derselbe

Greis,

der ihnl einmal vom Heirathen abgeredet hatte.

Sie erklärte,

daß mit Betvilligung der gnädigen Frau ihnen Leute und Pferde zum

Umzug gegeben werden sollten. — „Und was Sie betrifft, meine Liebste",

setzte Kyrillowna hinzu,

indem sie ihre Katzenlippen zu einem sauern

Lächeln verzog: „für Sie wird sich immer ein Plätzchen bei uns finden

und es wird uns sehr angenehnl sein, wenil Sie so lange bei uns zu Gaste bleiben, bis Sie sich erholt und ein neues Häuschen haben.

Die Hauptsache ist,

man muß sich nicht grämen.

angeschafft

Der Herr

hat's gegeben, der Herr hat's genommen und wird wieder geben, wenn

es sein Wille ist.

Elisabeth Prochorowna mußte einmal nach ihren Er­

wägungen Ihren Hof verkaufen; aber sie wird Sie nicht vergessen und

dafür entschädigen.

Das hat sie auch Akim Jwanitsch sagen lassen.

Wo ist er jetzt?" .... Awdotja erwiederte, daß, als sie mit ihm zusammengetroffen, er

sie sehr beleidigt habe und zu dem Küster Jefrem gefahren sei.

— Zu dem?.... versetzte Kyrillowna bedeutsam.

- Nun, ich begreife,

daß ihnl jetzt schwer um's Herz ist.

Heute bekommt man ihn wohl nicht

Was nun nlachen?

Man wird Anstalten treffen müssen.

mehr zu sehen.

Malaschka! wandte sie sich an eines der Stubenmädchen: bitte doch Nikanor Jljitsch hierher, ich habe mit ihm zu reden. Nikanor Jljitsch, ein Mensch von höchst armseligem Aeußern, eine Art von Verwalter, erschien sogleich, hörte in aller Unterwürfigkeit, was ihm Kyrillowna eröffnete, sagte, „es soll geschehen", trat hinaus und traf seine Anstalten. Awdotja erhielt drei Wagen mit drei Bauern zur Verfügung. Ihnen gesellte sich freiwillig ein vierter hinzu, der von sich selbst versicherte, daß er die Sache besser verstehe als die andern, und sie begab sich mit allen nach dem Gasthof, wo sie ihre frühern Diener und die Magd Fetinja in großer Bestürzung und Angst antraf. Die neuen Leute Raum's, drei stämmige Bursche, waren, seit sie des Morgens ankamen, nicht wieder fortgegangen und bewachten, dem Versprechen Naum's gemäß, deit Hof sehr eifrig, so eifrig, daß an einem neuen Wagen plötzlich keine Radschienen mehr vorhanden waren..... Bitter schmerzlich wurde der arnieu Awdotja der Umzug. Trotz der Beihülfe des Freiwilligen, der Alles besser verstehen wollte, aber weiter nichts verstand, als mit einem Stöckchen in der Hand herum­ zugehen, den Andern zuzusehen und dabei auszuspucken, konnte sie den Umzug nicht an demselben Tag beenden und blieb die Nacht im GastHof, nachdem sie Fetinja gebeten hatte, nicht aus ihrem Zinimer zu gehen. Uebrigens konnte sie erst gegen Dkorgen einschlafen und selbst in ihrem fieberhaften Schlummer flossen ihr die Thränen über die Wangen. X.

Unterdessen war Jefrem früher als gewöhnlich in seiner Rumpel­ kammer erwacht und fing an zu klopfen und zu rufen, daß man ihn herauslasse. Seine Frau wollte ihm erst nicht öffnen und erklärte ihnt durch die Thür, er habe noch nicht ausgeschlafen; aber er stachelte ihre Neugierde durch das Versprechen, ihr das ungewöhnliche Ereigniß mit Akim zu erzählen. Sie schob den Riegel zurück — Jefrem theilte ihr mit, was er wußte und schloß mit der Frage: „Ist er wach oder nicht?" — Das weiß Gott, antwortete sie. — Geh hin, sieh selber nach. Vorn Ofen ist er noch nicht herunter. Siehst du, wie ihr euch Beide gestern

vollgetrunken habt.

Du solltest dich nur einmal ansehen: hast gar kein

menschliches Gesicht — und was da für Heu in den Haaren steckt .... — Thut nichts, laß es stecken, entgegnete Jefrem, indem er sich mit der Hand über den Kopf fuhr, und ging in die Stube. Akim schlief nicht mehr; dem Ofen.

er saß mit herabhängenden Füßen auf

Auch er sah sonderbar unb struppig aus.

Auf seinem Ge­

sichte hatte der gestrige Abend noch tiefere Spuren zurückgelassen, da Akim das Trinken nicht gewohnt war. — Nun,

Akim

Jwanitsch,

haben

Sie

ausgeschlafen?

begann

Jefrem.

Akim betrachtete ihn mit mattem Blick.

— Wie wär's, Jefrem, sprach er heiser — könnten wir nicht wieder

.... das da ........... Jefrem warf ihm einen durchdringenden Blick zu. diesem Moment ein inneres Beben.

Er empfand in

Ein ähnliches Gefühl mag der am

Waldessauni stehende Jäger haben, wenn plötzlich die Hetzhunde in dem Walde anschlagen, den schon alles Wild verlassen zu haben schien.

— Wie so — noch einmal .... fragte er endlich. — Nun ja, noch einmal .... „Wenn mich meine Frau sieht, so läßt sie mich nicht", dachte Jefrem. — Warum nicht! das geht, sagte er laut: gedulden Sie sich.

Er trat hinaus, und Dank seinen geschickt ergriffenen Maßregeln, gelang es ihm, unmerklich unter dem Nock eine große Flasche herbei­

zuschaffen. Akim griff nach dieser Flasche, aber Jefrem trank nicht mehr mit

ihm zusammen, wie gestern.

Er fürchtete sich vor seiner Frau und er­

klärte Akim, er wolle nach dessen Hof, um nachzusehen, was dort ge­

schehe, wie man die Sachen auflade und ob nicht gestohlen würde. begab

Er

sich denn auch gleich nach dem Gasthof auf seinem Pferdchen,

das noch kein Futter bekonmen hatte;

sich selbst vergaß er indessen

nicht, nach seinem auseinanderstehenden Busen zu schließen.

Bald nach

Jefrems Entfernung lag Akim wieder auf dem Ofen in einem Todtenschlaf.

Er erwachte nicht einmal, gab

wenigstens kein Zeichen des Er­

wachens von sich, als der nach vier Stunden zurückgekehrte Jefrem ihn weckte und stieß, und gewisse außerordentlich wirre Worte in ihn hinein-

lallte: Alles sei fort und weggebracht, auch die HelligeMlder schon abge­

nommen und Alles vorbei, und ihn suchten Alle, aber er, Jefrem, habe

seine Anstalten getroffen

und verboten u. s. w.

Uebrigens lallte er

nicht lange; seine Frau führte ihn wieder in die Rumpelkammer ab, und sie selbst legte sich mit großem Unwillm gegen ihren Mann und den

Gast, auf deffen Veranlassung ihr Mann gezecht, in der Stube auf die Bank schlafen.

Als sie ihrer Gewohnheit gemäß

sehr

früh

erwachte

und einen Blick nach dem Ofen warf, war Akim nicht mehr da.

Noch

hatten die Hähne nicht zum zweiten Male gekräht und die Nacht war noch so dunkel,

daß man über sich den Himmel kaum grauen sah,

während ringsum vollkommene Finsterniß herrschte, als

Akim

schon

aus der Thüre des Küsterhäuschens heraustrat.

Gesicht

war

Sein

bleich, aber er blickte scharf um sich und sein Gang verrieth keinen Be­

trunkenen.

Gasthof,

Er schlug den Weg nach seiner früheren Wohnung, dem ein, der nun vollständig in den Besitz des neuen Wirthes,

Naums, übergegangen war. Auch Naum schlief nicht um die Zeit, als Akim heimlich das Haus

Jefrems verließ.

Auf seinem untergebreiteten Pelz lag er angekleidet

und wach auf der Bank.

Nicht sein Gelviffen quälte ihn; nein, er war

mit bewundernswürdiger Kaltblütigkeit vom Morgen an bei dem Ein­

packen und Transport von Akim's gesammtem

Hausrath

zugegen ge­

wesen und sprach mehr als einmal zu Awdotja, welche dermaßen allen

Muth verloren hatte, daß sie ihm nicht einmal mehr Vorwürfe machte.

Sein Gewissen war ruhig.

Aber ihn beschäftigten verschiedene Vorsätze

Er wußte nicht, ob es ihm in seiner neuen Lauf­

und Erwägungen. bahn glücken würde.

Bis jetzt hatte er noch keinen Gasthof, überhaupt

noch keinen eigenen Herd gehabt.

Er konnte nicht schlafen.

„Gut an­

gefangen ist die Sache", dachte er: „aber wie wird es weiter?"

Als

er gegen Abend den letzten Wagen mit Akim's Habseligkeiten, welchem

Awdotja weinend folgte, abgefertigt hatte, besah er den ganzen Hof, alle Vorrathskammern, Keller, Scheunen, stieg auf den Boden, befahl seinen Dienern mehr als einmal, recht aufzupassen, und als er nach dem Abendessen allein blieb, konnte er sich noch immer nicht beruhigen und nicht einschlafen.

Es traf sich gerade, daß an jenem Tage keiner von

den eingekehrten Gästen zu Nacht blieb. Das freute ihn sehr. „Morgen

muß ich unbedingt einen Hund kaufen, einen recht bösen, von dem Müller; sie haben den ihrigen mitgenommen", sagte er zu sich selbst, während er sich von einer Seite auf die andere wandte, und plötzlich hob er rasch den Kopf in die Höhe. Es schien ihm, als sei Jemand am Fenster vorübergegangen. Er lauschte. Es war nichts. Nur die Grille zirpte von Zeit zu Zeit vorsichtig hinter dem Ofen, oder eine Maus scharrte irgendwo, und seine eigenen, langen Athemzüge waren hörbar. Sonst war alles still in der leeren Stube, die der gelbe Schein einer kleinen Glasampel erhellte, welche Naum schon vor dem Heiligenknlde in der Ecke hingehängt und angebrannt hatte. Er ließ den Kopf sinken. Wieder kam es ihm vor, als hätte die Hausthür geknarrt — dann krachte es leise am Zaun. Er hielt es nicht länger aus, sprang auf, öffnete die Thür ins andere Zimmer und rief halblaut: Fedor! Fedor! Niemand antwortete. Er trat in den Flur hinaus und stolperte über den am Boden liegenden Fedor. Der Diener rührte sich, im Schlafe brummend. Naum weckte ihn. — Was giebt's? Was soll ich? rief Fedor. — Schweig! was brüllst du! sprach Naum leise. — Verfluchte Schläfer! Hast du nichts gehört? Nichts, antwortete Jener. — Was giebt's denn? — Und wo schlafen die Anderen? — Wo Sie geheißen haben. Ist denn etwas .... — Schweig und folge mir. Naum öffnete sacht die Thür, die aus dem Flur nach dem Hofe führte. Auf dem Hofe war es sehr dunkel. Die Wetterdächer mit ihren Pfählen konnte man nur darum unterscheiden, weil sie noch schwärzer erschienen im Schwarz der Nacht. — Soll ich nicht eine Laterne anzünden? fragte Fedor halblaut. Naum machte eine ablehnende Bewegung und hielt den Athem an. Erst hörte er nichts, außer jenen nächtlichen Lauten, die man fast immer an einem bewohnten Orte vernimmt. Ein Pferd kaute den Hafer, ein Schwein grunzte leise im Schlaf; irgendwo schnarchte ein Mensch. Plötzlich aber drang an sein Ohr ein verdächtiges Geräusch, das am äußersten Ende des Hofes entstand.

308

Der Gasthof. Es schien ihm, als ob dort Jemand sich bewegte und laut athmete

oder blies.

Naum sah über die Schulter Fedors hin und vorsichtig die

Treppe hinuntersteigend, näherte er sich dem Geräusch. blieb er stehen, horchte und schlich dann weiter.

Ein paarmal

Plötzlich erbebte er.

Zehn Schritte weit von ihm, im tiefen Dunkel, erglänzte ein feuriger Es war eine glühende Kohle, imd daneben zeigte sich auf einen

Punkt.

Augenblick der untere Theil eines Gesichtes mit gespitzten Lippen.

Rasch

und leise, wie eine Katze auf die Maus, sprang Nauin auf das Feuer zu.

Eilends sich vom Boden erhebend, stürzte ihm eine lange Gestalt

entgegen, die ihn fast umwarf, ihm fast unter den Händen entschlüpfte; aber er klammerte sich an sie mit aller Gewalt.

— Fedor! Andrej! Peter! schrie er aus Leibeskräften. — Schnell her!

Hierher!

Ich habe einen Dieb, einen Brandstifter ertappt.

Der Mann, den er festhielt, suchte sich mit aller Anstrengung los­ zuringen, aber Naum ließ ihn nicht los.

Fedor sprang ihm gleich

zu Hilfe. — Eine Laterne!

Schnell eine Laterne her!

Weckt die Anderen!

rief ihm Naum zu. — Ich werde inzwischen mit ihm schon fertig.

sitze fest auf ihm.

Ich

Schnell! und bring' einen Gürtel her, ihn zu binden. Der Mann, welchen Naum hielt,

Fedor eilte nach dem Hause.

hörte plötzlich auf, sich loszuringen. — Hast also nicht genug an meinem Weib, an meinem Geld, an

meinem Haus und Hof— willst mir noch ans Leben! sprach er dumpf.

Naum erkannte Akims Stimme. — Du also bist es, Liebster! sagte er. — Schön, schön! Warte nur. — Laß mich los! rief Akim.

Hast du noch nicht genug?

— Ich will dir morgen vor Gericht zeigen, ob ich genug habe.

Und Naum hielt Akim noch fester umschlungen.

Die Diener rannten herbei mit zwei Laternen und Stricken. — Bindet ihn! befahl Naum laut.

Die Diener packten Akim, Hände zurück.

hoben ihn auf und drehten ihm die

Einer von ihnen begann ihn zu schimpfen, als er aber

den alten Wirth des Gasthofes erkannte, schwieg er und wechselte nur

Blicke mit den Anderen.

— Siehst du, siehst du, sprach unterdeffen Naum, der mit der Laterne eint Boden herumsuchte. — Da ist ja auch die Kohle in einem

Topfe.

Seht ihr?

mitgebracht.

Ein ganzes brennendes Scheit hat er im Topfe

Akan muß erfahren, wo er den Topf hergeholt; da hat er

auch Reisig abgebrochen...........

Naum trat sorgfältig das Feuer mit

dem Fuße aus. — Durchsuche ihn mal, Fedor!

setzte er hinzu:

ob

er nicht noch etwas bei sich hat. Fedor durchsuchte und betastete Akim, der unbeweglich dastand und

wie ein Todter den Kopf auf die Brust hängen ließ. — Da ist etwas .... ein Messer! sagte Fedor, indem er aus

Akim's Busentasche ein altes Küchenmesser hervorlangte. — Aha!

Liebster!

das also war deine Absicht!

Jungen! ihr seid Zeugen. stecken wollen.

rief Naum. —

Er hat mich erstechen und den

Hof an­

Sperrt ihn bis zum Morgen in den Keller ein; von da

entspringt er nicht; Wache halten will ich selbst die ganze Nacht.

morgen mit Tagesgraueu bringen wir ihn zum Kreisrichter.

Und

Ihr seid

Zeugen, hört ihr? Akim wurde in den Keller gestoßen und die Thüre hinter ihm zn-

geworfeu.

Naunl stellte zwei Diener als Wache hin und legte sich nicht

wieder schlafen. (Schluß im nächsten Heft.)

Stimmen der westeuropäischen Presse. Drr Pontuvhandrt.

So lange nicht von den Lesern dieser Blätter Protest dagegen er­ hoben wird, so lange werde ich nicht aufhören, mit Vorliebe Alles das­

jenige zu registriren, was den Handel Rußlands anbetrifft

Alle Ideen

über die Weltstellung eines Landes sind Abstractionen, die nur mittelbare

Wirkungen Hervorrufen ; der Handel ist das Concrete und unmittelbar in tausendfältiger Weise Wirksame und Schöpferische.

Handelsstaaten

sind Cultur- und Machtstaaten, und von dem Augenblick an, da eine Nation zur reinen Passivität

in Handelsverhältniflen verurtheilt ist,

hat sie ihre Rolle im Getriebe des Weltverkehrs ausgespielt.

Handel civilisirt."

„ Der

Dieser Satz ist schon so unbedingtes Axiom geworden,

daß ihn zu wiederholen trivial erscheint; aber ich denke mir etwas An­

deres dabei, als man ihm gewöhnlich unterlegt. lisiren", obgleich der Begriff

Wir haben für „civi-

bei uns zur höchsten Spitze ausgebildet

worden ist, keinen eigenen Ausdruck und entnehmen ihn erst einer fremden

Sprache.

Wollten wir den gewählten Ausdruck unmittelbar übertragen,

so müßten wir in Rücksicht auf den Stamm des Wortes wohl sagen:

„verbürgerlichen", eine in Bezug auf die civilisatorische Mrkung des

Handels ganz passende Bezeichnung.

Der Handel „verbürgerlicht"; er

zerstört die politischen und socialen Verirrungen der menschlichen Ge­ sellschaft, und zwischen der Ueberhebung und Eitelkeit inhaltsloser Geburts- und Geschlechtstheorien und der beklagenswerthen Geringschätzung

der materiellen Arbeit, baut der Handel das nivellirende Bürgerelement aus, das in allen Staaten Cultur ist.

der Träger und Wahrer der nationalen

Wehe dem Staat, der dessen entbehrt!

Er zehrt sich als

ein Luxusstaat in fieberhafter Schnelligkeit auf, gleich einem Dandy, der

31t

Stimmen der westeuropäischen Presse.

sein Vermögen in hohlem Schein vernichtet und sich die Schwindsucht dafür eintauscht.

Daher die Oede

und

Verkümmerung

aller reinen

Militärstaaten, wie glanzvoll auch ihr Dasein auf Augenblicke auftaucht.

In unseren Tagen ist der Glaube freilich zuweilen noch Vorwand der Kriege, aber in Wirklichkeit ist es der Handel mit seinen Interessen,

der die Nationen an einander prallen läßt.

Die ersten Jahrzehende un­

seres Süculums sahen einen titanenhaften Kampf um das mittelländische Meerbecken,

und

in

der langen

Reihe diplomatischer Kriege,

welche

darauf folgten, spielte unter dem Namen der „orientalischen Frage" die Herrschaft über den Pontus eine große Rolle, und so wie in der Mitte

des Jahrhunderts dieser Gegenstand schließlich einen blutigen und er­ schütternden Krieg herbeiführte, so wird sein Hineinspielen in alle euro­

päischen Conflicte und Verträge von

Stunde verspürt.

dem kundigen Politiker bis zur

Auch ohne eine große politische Divinationsgabe zu be­

sitzen, darf man wohl

mit aller Bestimmtheit Vorhersagen, daß noch

dereinst die Augen der ganzen gebildeten Welt auf jene ewig „offene

Frage" gerichtet sein werden.

Von diesem Gesichtspunkte aus sind denn

alle Nachrichten über die Entwickelung des Pontushandels von höchster

Wichtigkeit.

Vor uns liegt der Jahresbericht (1862) des preußischen

Consulats zu Trapezunt (Trebisonde, bei den Türken Tarabasan genannt),

der mit folgenden, weitblickenden Bemerkungen eingeleitet wird.

Trapezunt verdankt den Aufschwung, den es seit 25 Jahren ge­ nommen hat, wesentlich dem Umstande, daß es der Durchgangspunkt

für den Handel der rückwärtsliegenden asiatischen Länder mit Europa

wurde.

Es kann seine Größe und Bedeutung nur dann behaupten und

nur unter der Bedingung wachsen sehen, daß es diesen Transithandel

behält und erweitert.

Um demselben aber seine Größe und Bedeutung

für alle Zukunft zu sichern, giebt es kein anderes Mttel, als daß dieser Handel die von der Natur vorgezeichneten Wege verfolge und den künst­ lichen Umwegen,

in welche ihn die Seemächte des neunzehnten Jahr­

hunderts gezwängt haben, entsage.

Das Becken des schwarzen Meeres,

dessen Lage ihm die Stelle eines natürlichen Piittelfeldes zwischen den

Ländern

nördlich von

demselben bis

an

die Ostsee und südlich

bis

an den indischen Ocean anzuweisen scheint, ist zwar auch jetzt noch der

Durchgangspunkt für einen großen Theil des europäischen Handels mit

312

Stimmen der westeuropäischen Presse.

Asien, und alle Versuche, auf andern Wegen als auf den Straßen des

schwarzen Meeres in das Herz Asiens zu dringen, sind bis jetzt von nur zweifelhaftem Erfolge; der englische Plan,

durch eine Euphrat-

Eisenbahn die alte Khalifenstadt Bagdad dein Rande des Mittelmeeres

zu nähern, ist von seiner Vollendung noch fern.

Eben so wenig haben

die russischen Anstrengungen, die alten Zarenstädte Moskau und Now­ gorod zu Hauptstapelplätzen

des mittelasiatischen Handels zu machen,

dem westeuropäischen Handel eine neue Richtung geben können; England bringt noch heute seine großen Waarenmassen durch die Bteerenge von

Gibraltar auf die asiatischen Binnenmärkte.

Jahrhundert

Gunsten

des

die

großartigen

Landtransports

Erfiildungen

dem

Allein wenn je in unserm

und

Seewege

Unternehmungen

gefährlich

wurden,

zu

so

droht jenen Seelinien, die vom Nordwesten Europa's nach dem Becken des

schwarzen

Meeres

laufen,

eine vernichtende Concurrenz,

sobald

Länder, wie Preußen und Deutschland die Glanzperiode des Handels wieder erreichen, welche vor tausend Jahren die Schätze Bagdads nach

den Gestaden der Ostsee führte. Wir können dem interessanten Bericht nicht überall hinfolgen und

heben nur einiges in Bezug auf die Entfaltung der Dainpfschifffahrt heraus, der es besonders auf dem schwarzen Meere vorbehalten gewesen, eine radikale Umgestaltung der Verkehrsverhältnisse hervorzurufen. Wäh­

rend seit 25 Jahren die Dampfer des österreichischen Lloyd die hervor­

ragendste Rolle in der anatolischen Küstenlinie spielten, hat diese Gesell­ schaft seit dem Mai 1862 ihre Thätigkeit sehr eingeschränkt, und das Feld, welches sie so lange ruhurreich behauptet hatte, vor der Cvncur-

renz ihrer russischen und französischen Nebenbuhlerillnen räumen müssen.

Die letztem aber, die Messageries imperiales, erfreuten sich auch keines besondem Rufes an den Küsten des schwarzen Meeres, seit sie im Jahre 1861 in einer Woche zwei Dampfer verloren.

Dennoch haben dieselben

im Jahre 1862 durch die Hartnäckigkeit und Regelnräßigkeit, mit wel­

cher sie ihre wöchentlichen Fahrten zwischen Konstantinopel und Trapezunt festhielten, sowie durch einen geschickten Fahrplan, in welchem die

Marseiller Linie in unmittelbarem Anschluß an die Anatolische stand, ihren Platz unter den concurrirenden Flaggen zu behaupten gewußt.

313

Stimmen der westeuropäischen Presse.

Dagegen reussirte verhältnißmäßig am meisten die russische Dampf­

schifffahrt.

Die großen Pläne der Odeffaer Handels- und Dampfschiff-

fahrtsgesellschaft, ein Netz von Linien über das ganze Mittelmeer zu

ziehen und selbst die Häfen des atlantischen Meeres in directe Verbin­ dung mit Südrußland zu setzen, sind an dem Mangel an Schiffen, mit

welchem die Compagnie noch zu kämpfen hat, vorläufig gescheitert, und es scheint sich diese Gesellschaft jetzt vorzugsweise die Aufgabe gestellt zu

haben,

ziehen.

die Schifffahrt im schwarzen Meere immer mehr an sich zu 'Nach wiederholten,

dreijährigen Versuchen wurde endlich im

Jahre 1862 eine russische Dampfschifffahrtslinie längs der anatolischen Küste eingerichtet, welche Batum, nicht fern von der russischen Grenze, als den einen, Konstantinopel als den andern Endpunkt mit den Zwi­ schenstationen Trapezuut und Sanisunr nahm und sich über Konstan­

tinopel nach Odessa weiter fortsetzte, von wo eine andere Linie über Sebastopol und Kertsch

längs

der tscherkessischen Küste wiederum

in

Batunl anslief, so daß auf diese Art die russischeir Dampfer das ganze schwarze

Nleer in

vierzehntägigen Rundfahrten umkreisten,

zu denen

neuerdings noch moiratliche außerordentliche Fahrten hinzugetreten sind.

Die Vortheile, tvelche die russische Dampfschifffahrt dem Handel an der anatolischen Küste darbietet, bestehen einestheils darin, daß die Wahl

Batunis als

Schlußpunkt einen vortrefflichen, sonst aber von keiner

Dampferlinie berührten Hafen, welcher für die Durchfuhr von und nach Tiflis von hoher Wichtigkeit ist,

anderntheils darin,

dein großen Verkehr erschließt, und

daß eine schnellere Verbindung

von nur 2—2f

Tagfahrten zwischen Trapezuut und der türkischen Hauptstadt dadurch erzielt ivird, daß die Danipfer in der Regel keine andere Station an der

Küste außer Samsuni berühren, drittens endlich auch darin, daß die

russische Compagnie die Vergünstigung erhalten hat,

in französischen

Häfen für Einfuhrartikel russischen Ursprunges auf ihren Dampfern nur

dieselben Zolle zu entrichten, Ivie die unter französischen Flaggen inrpor-

lirten Waaren.

Einem andern Consulatsbericht aus Odessa wir noch folgende Notizen.

für 1862 entnehmen

Der Gesammtbelauf des Odeffaer Geschäfts­

verkehrs mit dem Auslande hat im Jahre 1862 nach den amtlichen Angaben, die Zu- und Abflüsse von Geld und Creditbillels. nicht mit

314

Stimmen der westeuropäischen Preffe.

eingerechnet, 42| Millionen Silberrubel betragen, wovon 10f Millionen auf die Einfuhr und 311 MMonen Umsatz bleibt mit zurück.

auf die Ausfuhr fallen.

Dieser

11 Millionen Rubel hinter dem des Jahres 1861

Der Werth der Einfuhr ist von 13s Millionen im I. 1861 auf

IO| Millionen im I. 1862 gesunken.

Diese Abnahme vertheilt sich in

ziemlich gleichen Theilen auf Manufactur und Colonialwaaren und hat

ihren Grund sowohl in der mißlichen Lage, in welcher sich Odessa in Folge des gesunkenen Handels überhaupt befindet, wie auch in den noch nicht ganz geregelten Verhältnissen der Grundbesitzer zu ihren ehemaligen

Leibeigenen, wodurch erstere zu Einschränkungen gezwungen sind.

Was die Schifffahrt betrifft, so sind während des Jahres 1862

aus dem Hafen von Odessa 1069 Fahrzeuge ausgelaufen.

Die Ausfuhr

von Getteide, Leinsaat, Talg, Wolle, Fellen, Roheisen, Tauwerk, Segel­ tuch, Holz und andern Produkten wurde durch 951 Schiffe, darunter

786 Segelschiffe und 165 Dampfer unter verschiedenen Flaggen bewerk­ stelligt, nämlich:

Segelschiffe. Italienische

Dampfschiffe.

....

228

Russische........................... 100

...

138

Oesterreichische

Oesterreichische

Britische........................... 109

41

...

68

Belgische......................

8

.....

58

Schwedische

1

Skandinavische

Finnische

...

Britische............................. 15

Russische............................. 40 Preußische............................. 36

Griechische............................. 34

Mecklenburgische...

28

Französische

19

....

Türkische................................ 11

Hanseatische

....

5

Belgische......................

4

Amerikanische

...

3

Hannöversche....

4

Niederländische

1

...

Zusammen 786

....

Zusammen 165

Der Raskoi. Ach, wie viel Religion gäbe cs auf Erden — wenn nur die Reli­ gionen nicht wären!

Wie viele widrige Lebenserscheinungen, >vie viel

Selbstsucht und Eitelkeit, ivie viel Starrsinn und Beschränkung, tote viel Hochmuth und Gewaltherrschaft hat

sich

dieses subtilsten Bandes der

und constituirte sich unter pomphaften

Menschengesellschaft bemächtigt,

Worten, unter lvild schweifender Phantasie, unter Mißbrauch kindlicher

Strebungen des Alenschenherzens zu einer Religion oder — was viel

häufiger ist — zu einer Hierarchie, zu einer Kirche!

Roch schlimmer

die unerschütterliche Abgeschlossenheit,

welche die­

selben für sich in Anspruch nehmen — und wegen ihrer

behaupteten

ist die

Stabilität,

Göttlichkeit nehmen müssen.

Das macht sie zu den gelvaltigen Geg­

aller vorschreitenden Entlvickelung und

nern

bringt sie in jenen un­

auslöschlichen Kampf mit der Vernunft, der die gesanunte Menschheits­ geschichte

begleitet.

vom Prometheus bis zu Lessing und bis auf unsere Tage

im Angesicht

Rur ist dies wenigstens ein offener Kampf,

der gairzen Welt.

'Richt ntinber als die Vernunft wird die Freiheit

durch die systematischen Religionen negiri, mit offenem Antlitz gegenüber getreten.

und doch wird dieser nicht

Wie viel Witz und Scharfsinn

ist wohl auf jene unermeßlich zahlreichen Sophismen aufgewendet lvorden, welche die Systemschranke der Religionen mit denr Begriffe der Freiheit

in Einklang bringen sollten! — Hier aber tritt uns gar eine Sekte ent­ gegen , sich

welche sich selbst mit der Freiheit identifieirt, oder mindestens

„als die breiteste Basis" derselben kundgiebt, und

„der Raskol".

das ist —

Wenigstens sagt es Herr Kielsiew in einem dreibän­

digen Werke, das durch einen unter der Presse befindlichen vierten Band

seiner Vollendung entgegen sieht.

Das „Magazin für die Literatur des

Auslandes" stellt Einiges daraus zusanunen, was eine ganz eigenthüm­

liche Illustration zu den bombastischen und hohlen Redensarten der russischen Oppositionsschriftsteller in London giebt, mit denen Kielsiew

Hand in Hand zu gehen scheint.

Die „breiteste Basis der Freiheit" in

einer Religionssekte — der Gedanke ist so überraschend, daß man mit Erstaunen

und Eifer sich nach dem Dasein dieser großen Erscheinung

erkundigt.

Man höre!

W»iPi4lC

„Der Raskol

II 1. Hisl. 1863.

wurde im Jahre 1667 durch

22

31k

Stimmen bet westeuropäischen Presse.

einige Veränderungen in

den kirchlichen Ceremonien veranlaßt, welche

der Patriarch Nikon vornahni.

Die Raskolniken hatten zum Theil schon

Vorgänger im vierten Jahrhunderts?),

aber die Opposition gegen die

Reuerungen Nikon's gab ihnen erst einen Charakter und brachte jenen

Sainen

zu Wachsthuni und Reife.

Kaum von

der Kirche getrennt,

schieden sie sich in zivei Hauptsekten, die Popowci und die Bespopowci, deren jede wieder mehrere Nuancen zählt. ...

geographisch getheilt.

Die beiden Sekten sind

Die erste zieht sich von Moskau südlich bis nach

Asien hin; die zweite nördlich nach Litthauen."

Nun fragt man natür­

lich begierig nach der äußern Ausprägung dieser „breitesten Freiheitsbafis".

Dem einsichtigen Leser wird die Anführung folgender Thatsache

als Antwort wohl genügen.

„In Saratow kam eine neue Ansicht unter den Bespopowci auf, und zwar in der Untersekte der Teodozjewci, die den Glaubensgenossen

zum Vorwurf machte, daß sie beim Segnen in einen Glaubensirrthum

verfallen sind, indem sie bei den Worten: Gottes, erbarme dich unser"

„Herr Jesu Christ, Sohn

die Hand, während sie „Sohn Gottes"

aussprechen, auf den linken Arni legen, wo beim Menschen der Teufel seinen Sitz hat,

und daß sie hierdurch den Namen Christi schänden.

Die Sektirer geriethen hierdurch in große Aufregung. Kirchenversanimlung) wurde zusamnienberufen,

Der Sobor (die

doch der Keil steckte so

tief, daß ihn selbst der Sobor nicht herausziehen konnte. zu thun, um den Zweifel über die große Sünde zu lösen?

Was nun

In Moskau

ist eine Gemeinde der Bespopotvci, welche großes Ansehen genießt, eine

Art Dtetropole.

Dahin begiebt sich eine Deputation.

glied der Gemeinde, löst die schwere Frage so:

stus" muß man die Hand

Gusia, ein Mit­

Bei dem Worte „Chri­

um den Bauch führen, aber nicht bis zum

Arme; bevor mau sie dahin erhoben hat, müssen die Worte „Sohn

Gottes,

erbarme dich unser" gesagt sein.

Jede Verantwortung

und

Sünde nimmt Gusia auf seine Schultern."

Culturgeschichtlich am bedeutsamsten ist noch das über die türkischen Raskolniken Gesagte.

Diese müssen in zwei Theile geschieden werden,

die gewöhnlichen Schismatiker, welche aus Rußlaud entflohen und die Kosaken, welche nach ihren alten Gewohnheiten niilitärisch geordnet sind,

und besondere Pflichten und Rechte haben.

Es sind die oft erwähnten

317

Htimmkn der westeuropäischen Presse.

Nekrasowci, die unter ihreiil Ataman (Hetman) Nekrasa hierher kamen, nachdem Rußland die Kosaken unterworfen hatte. nordöstliche Theil der Dobrudscha, dex bis

land grenzte.

Ihr Hauptsitz ist der

1856 unmittelbar an Ruß­

Dort haben sie drei große Niederlassungen, zu 560 und

600 Häusern, in der Nähe von Tultscha inne.

milien und au 8000 Seelen.

Sie zählen 1700 Fa­

In dem letzten russisch-türkischen Kriege

gelang es den Russen, einen Theil dieser Jgnat-Kosaken (wie sie auch genannt werden) hinüber zu ziehen, aber der Ausfall wurde bald durch

neue Zuzügler aus Rußland gedeckt.

Sie sind waffengeübte, ungezügelte

Leute, und flößen weit und breit den Nachbarn ^Respekt ein.

Um die

türkischen Ortsbehörden kümmern sie sich nicht, denn verschiedene groß­ herrliche Privilegien garavtiren ihre eigene Verwaltung unter dem Ata-

nran.

Ein zweiter Sitz derselben Kosaken befindet sich auf der gegen­

überliegenden Spitze der europäischen Türkei, nicht weit von dem Flusse Marica.

Sie waren vor dem vorletzten Kriege Rußlands mit der Pforte

aus der Dobrudscha hierhergezogen und wollten dann nicht mehr zurück,

da die russische Grenze bis an ihre früheren Sitze in der Dobrudscha

vorgeschoben wurde.

Während der griechischen Revolution wurden sie

gegen die Russen benutzt und gingen großentheils zu Grunde.

In dem

Kriege Sultan Mahmud's mit Mehrned - Ali wurden 3000 Kosaken von hier nach Syrien gesendet und keiner fatn zurück, umgekommen sein,

doch sollen nicht alle

sondern ein Theil sich in Syrien angesiedelt haben.

Die Raskolniken in Kleinasien sind ebenfalls Kosaken; ihr Hauptsitz ist

etwa 100 Kilometer von Brussa entfernt und zählt über 1000 Familien. Natürlich sucht man in allen diesen nähern Kriterien des Raskol vergebens nach der „breitesten Basis der Freiheit".

Diese soll nun in

der Opposition gegen die herrschende Kirche und somit gegen die Staats­ gewalt liegen, als ob sich die goldene Freiheit jemals aus der bloßen

Negation und Opposition erzeugen ließe!

318

Stimmen der westeuropäischen Presse.

Aus Petermann's „ Mittheilungen Herr P. v. Tschichatschew hat sich im Juni dieses Jahres im Interesse seines Werkes über Kleinasien abermals nach dem Orient be­ geben. „Ich habe die Absicht, schreibt er, die geologischen Verhältnisse des Bosporus etwas näher zu studiren, indem hier der Schlüssel der wichtigen Fragen über den Durchbruch des schwarzen Meeres liegt, einer Frage, zu deren Lösung die bis jetzt vorhandenen Materialien nicht genügen, wie ich mich bei der Redaction des geologischen Theils meiner »Asie mineure« überzeugt habe. Dem zufolge habe ich mich ent­ schlossen, diese Frage erst gründlich zu erörtern, ehe ich meine Geologien herausgebe, was wahrscheinlich im künftigen Winter stattfinden wird." Profesior H. Ab ich, der unermüdliche Erforscher des kaukasischen Bodens, hat kürzlich wieder ein schönes Werk „Ueber eine int kaspischen Meere erschienene Insel, nebst Beiträgen zur Keimtuiß der Schlamm­ vulkane der Kaspischen Regioit" herausgegeben, welches die im Mai 1861 südöstlich von der Insel Svinoi aufgetauchte mtd seitdem wieder ver­ schwundene kleine Jitsel Kumani zum Gegenstand hat ; die enge Be­ ziehung, in welcher das Wesen und Wirken der kaukasischen Schlamm­ vulkane zu der gestimmten Geologie des Gebirges sich befiildet, bedingt die Wichtigkeit jenes ^iaturereignisses und verleiht zugleich den gründ­ lichen Untersuchungen über die Schltimmvulkane der kaspischen Region des Kaukasus einen erhöhten Werth. Herr Prof. Ab ich theilt nun mit, daß seiner Arbeit eine Ergänzung bevvrfteht, indem er die Beiträge zur Kenntniß der Schlammvulkane in Bezug auf die poutische Region ver­ mehren und dabei die physikalisch - geogitostischen Verhältnisse der Halbitlseln Kertsch und Taman überhaupt erörtern wird. Diese der Akademie zu St. Petersburg bereits übergebene Arbeit soll zum Druck gelangen, sobald Professor Abich's nahe bevorstehender Wiederbesuch der genannten Halbinseln die Lücken ausgefüllt haben >vird, welche das Brandunglück im Herbst 1859 zu St. Petersburg auch dem Theil seiner bereits durch­ gearbeiteten Sammluilgeit zugefügt hat, der die nordwestlichen Ausläufer des Kaukasus betraf. Für alle übrigen Theile des umfangreichen Ge­ biets seiner kaukasischen geognostischett Waitderungeit ist es ihnt seit 1860 gelungen, die erlittenen Verluste beinahe vollständig wieder zu ersetzen.

Stimmen der westeuropäischen Presse.

319

Der Geolog Professor Schmidt, der nach vierjährigen „Reisen in Ost - Sibirien" nach Dorpat zurückgekehrt ist, wird zunächst einen histo­ rischen Reisebericht heransgeben nnd später die wiffenschaftlichen Resultate besonders bearbeite». Da Professor Schmidt auf seinen allsgedehnten Wanderungen durch das Amur - Gebiet, auf der Insel Sakhalin, an den Küsten der Mandschurei, im Ussuri, und Bureja-Thal von Topo­ graphen begleitet war, tvelche geodätische Aufnahmen aussührten, so darf man ailf namhafte Ergänzungen der Schwarz'schen Karte hoffen.

rätude sur Alexandre II. par E. Fourmestraux, ancien payeur-adjoint ä l’armde d’Afrique.

Paris (Franck) 1862.

Dieses Merkchen ist der vierte Theil einer umfangreicheren Arbeit, welche unter dem Titel „die vier Kaiser" über Frankreich, Oesterreich,

die Türkei und Rußland politische, ökonomische und sociale Studien ent­ halten wird.

In Betracht der Aufmerksamkeit,

welche die Leibeigenen­

emancipation in Rußland und der polnische Aufruhr in Europa erregt

haben, wird die Studie über Alexander II. vorangeschickt.

Den dabei

„interessirten und parteiischen russischen Schriftstellern gegenüber", welche

über denselben Gegenstand gehandelt haben, versichert uns der Verfasser und Leidenschaftslosigkeit.

wiederholentlich seiner Unparteilichkeit

Was

das Letztere anbetrifft, die Leidenschaftslosigkeit, wird man nicht umhin können, dem Verfasser zuzugestehen, daß sich in der That der ganze

Strom seiner Erzählung wie ein süßer Honigstrom hinzieht, dem alle

Aufregung und jeder Sturm fernbleibt. diese französischen „fitudes“.

Literatur nicht.



Es ist etwas Eignes um

Wir haben bekanntlich dieses Genre der

Erst seitdem die Vorträge vor „gemischtem Publikum"

bürgert sich auch diese Gattung

bei uns häufiger geworden sind,

in

Deutschland ein; und so wie solche Vorträge im Wesentlichen den Zweck

haben, das utile cum dulci, die Unterhaltung und Belehrung mit ein­ ander zu verknüpfen, so gehen auch diese „Studien" darauf aus, in munterem,

hübschem Geplauder

einige Belehrung

an den Mann

zu

bringen — viel Zuckerwasser und ein wenig Liqueur.

Ich muß aber gestehen,

Vertikaldurchschnitt

der

in

daß der ernsten Aufgabe gegenüber, einen einem

bestimmten Zeitpunkt

in

einem be­

stimmten Staate bestehenden Civilisation zu geben, diese Art der Behand­ lung mir nicht angemessen erscheint.

Sie verführt zu jenem Fehler, der

das Buch des Herrn Fourmestraux besonders kennzeichnet, daß der Autor fortwährend an dem Individuellen hängt und diesem in der Entwickelung der Gesellschaft, des Staats eine allzu hohe Stellung einräumt. Der französische Schriftsteller kann sich aus der Vorstellung von dem Staat als einem Mechanismus nicht losmachen; immer wieder findet er die Funktionen des Einzelnen als ein an sich nicht nur Berechtigtes, sondern auch Geniigendes. Aus den socialen Anschauungen heraus, die sich unter dem die organische Bewegung und Freiheit aller Einzelfaktoren ver­ zehrenden und ertvdtenden Cäsansmus in Frankreich gebildet haben, mag es richtig sem, daß der Staat in allen seinen Beziehungen aus­ schließlich von den Eigenschaften und Stimmungen des Imperators ablKngig ist. Ealigula hat gut geschlafen — freue dich, Rom! Doch unser Zeitalter ist so spitzfindig geworden, daß der Bauer dem Hofmann auf die Fersen tritt; daran wird man sich gewöhilen muffen. Gewiß „müssen die Reformen von oben kommen, wenn man nicht will, daß sie von unten kommen", aber warum soll inan nicht wollen, daß sie von unten kommen? Ist denn unten allein nur die Anarchie, die Zuchtund Zügellosigkeit, die Selbstsucht, die Verirrung ? Das ist die Theorie der Kreuzzeitungsweisen, der imperialistischen Staatsretter, der Doctrinäre ans der Schule des Herrn Stahl. Die Wahrheit ist, daß der Staat keine Maschine ist, nichts mit einem Mechanismus zu schaffen hat, son­ dern ein Organismus, in welchem es ein Oben und ein Unten, ja sogar ein Klein und Groß genau betrachtet gar nicht giebt: aus dem segens­ reichen Zusammenwirken aller seiner Theile erfüllt sich allein sein End­ zweck. Wer daher m der Einzelkraft, an dem einen Organ allein die gestimmte physiologische Beschaffenheit eines Staats zergliedern will, der wird diesem Orga» immer wieder die Lehre in den Mund legen müssen, die übrigens nicht einntal eine Wahrheit war, als sie zuerst ausge­ sprochen wurde: L’etat c’est moi. — Am allerwenigsten. aber trifft dies bei dem jetzt regierenden Kaiser von Rußland zu, ivelcher mit edelster Selbstverleugnung die Initiative juiii Kampf gegen diese Theorie ergriffen hat. Wollte der Verfasser uns nur eine Studie, eine Biographie der Person jenes Monarchen geben, so hat er zu weit ausgeholt (er beginnt mit der Gründung Olbia's durch die Grieche»), zu viel von der poli­ tischen Entwickelung des russischen Staates gesprochen; wollte er eine

322

JStude sur Alexandre II.

Analyse

der politischen Zustände Rußlands

unter der Regierung des

dann hat er viel zu viel Gewicht auf unter­

Kaisers Alexander geben,

geordnete Erscheinungen/' auf die schönen Feste bei der Krönungsfeierlich­

keit, auf die charmanten Vergnügungen in de» Salons des Herrn v. Ma­

lewski, und auf den reizenden Diebstahl der weitdecolletirten Frauen

gelegt, welche aus dem Saale des Pariser Friedenscongresses alle Schreib Materialien als Souvenirs wegnahmen. Das Schlimmste aber ist, daß der Verfasser unter allen Umständen,

mit einer nur äußerlichen, um nicht zu sagen oberflächlichen Betrachtung sich begnügt.

In dem Kampf mit den Völkern des Kaukasus z. B. liegt

eine große welthistorische Begebenheit.

Von dort ging die Trennung der

abendländischen und morgenländischen Völkerschaften aus, die sich Jahr­

tausende hindurch in ihrer Eigenart

entwickelten.

Je mehr aber das

Völkerleben wieder zusammenschießt, und die Wechselwirkung der ent­ ferntesten Gegenden der Erde sich geltend macht, dssto mehr werden die Trennungspunkte wiederum zu Anknüpfungspunkten.

Ueber den Kau­

kasus führt der Weg zu den Rosen von Schiras und zu den Gewürzen Indiens.

Auch dort befindet sich eine von den durch die Natur vor-

gezeichneten Bahnen, welche die Passivität des Orients mit der Unter­ nehmungslust Europa's verbindet. um mit

einer

Das Alles scheint mir viel zu groß,

dramatischen Schilderung

der Belagerung

von Gunib

und dem hübschen Witz Schamyl's abgethan zu werden, der bei einem Ball erstaunt über die lockeren Damentoiletten ausrief: nicht in's Paradies!"

„„Warum nicht'?""

„Ihr kommt

„Ihr habt das Paradies

auf Erden, das uns Mahomed für den Himmel zugesagt hat."

In dem Eingang des Buches, der wie gesagt sehr weit ausholt, wird das sogenannte „Testament Peter's des Großen" behandelt, und im Allgemeinen nachgewiesen, daß dasselbe eher der Anschauung a poste­

riori entspreche.

Neulich erschien darüber eine gute Abhandlung von

Berkholz aus Riga, in welcher die Authenticität dieses vielbesprochenen Schriftstücks vollständig erschüttert und dasselbe als ein Machwerk Napoleon's bezeichnet wird.

Der Beweis für das Erstere ist besser gelungen,

als der für das Letztere.

Dann werden in kurzen Zügen die letzten

Ereignisse aus der Regierung des Kaisers Nikolaus durchgegangen und naturgemäß

dem

mssisch - türkischen Kriege

die meiste Aufmerksamkeit

gewidmet.

Schon hier jedoch haben wir zu bemerken, daß der Verf.

allzusehr an seinen Quellen haftend, nämlich an den Zeitungen, sich von der ephemeren Natur derselben in der Auffassung beirren läßt.

Was

für ein Anlaß genügt nicht schon den Tagesblättern, um zwei Völker

aneinanderprallen zu lassen! Das ist des Geschichtsschreibers nicht würdig, der vielmehr die äußern Anlässe in ihrer Aeußerlichkeit darzulegen, und die innern Motive des Kampfes zu entwickeln hat, welcher gewiffermaßeu gleich den Störungen im dlaturproceß auf dem Conflicte ähnlicher In­

teressen und unähnlicher Eigenschaften ruht.

Der Kampf Rußlands mit

der Türkei ist etwas ganz Anderes, als der Zwist um die heiligen Orte und bergt: so wie er einerseits auf einer Art Naturnothwendigkeit be­

ruht, so liegt in ihm eine der wesentlichsten Bedingungen und Fragen für die Ckbilisation unseres Jahrhunderts.

Im zweiten Kapitel wird die Geschichte der Krönung Alexanders II.

meist mit den Worten der Zeitschrift: L’illustration (!) in ausführlicher

Breite geschildet, und Herr Fourmestreaux ist nicht wenig geneigt, aus der feenhaften Soiree des Herrn v. Morny, bei welcher alle Welt und selbst der Kaiser und seine hohe Gemahlin sich so gut amusirten, Poli

tisches Capital zu machen.

Hierauf werden die Vorbereitungen zuni

Pariser Frieden, der meist nach Eduard Gourdon's Histoire du con-

gres de Paris erzählt wird, eines Breitern mitgetheilt, und endlich bis zum Abschluß des Pariser Friedens mit großer Umständlichkeit und mit

Hervorhebung der Soiree des Herrn v. Walewski verfolgt.

Auch bei

der Zusammenkunft der beiden Kaiser von Frankreich und Rußland in Stuttgart sind es durchaus die Soireen und Festivitäten, welche den

Verfasser besonders fesseln.

Der gleich darauf abgeschlossene Handels­

vertrag giebt dem Autor Anlaß einige Abrisse des russischen Handels

vorzulegen, die zwar hübsch zusammengestellt, aber für nichts weniger als erschöpfend anzusehen sind.

Dasselbe gilt von der Darstellung der

öffentlichen Verwaltung, der militärischen und maritimen Kräfte Ruß­

lands und endlich von seiner Civilisation.

Der Abschnitt, der in diesem

Kapitel der Literatur gewidmet ist, gehört zu den schwächsten Partieen des Buches. Am werthvollsten sind die ersten drei Abschnitte des fünften Kapi­

tels, welche die Emancipation der Leibeigenen behandeln.

Freilich ist

324

Etüde sur Alexandre II'.

auch hier drr Verfasser weit entfernt, die eigentlichm Folgen der socialen

Umwälzung,

mit diesem großen Akt hervorgerwfen ist, zu er­

welche

kennen; ebenso wenig unterzieht er die ökonomischen Wandlungen, denen

der Staat durch dieselbe entgegengeht, seiner Betrachtung; aber er liefert

eine treue actenmäßige Darstellung der Geschichte dieser kaiserlichen That (besonders dankenswerth ist der Abdruck der Aktenstücke selbst),

die er

ausschließlich ans dem Gesichtspunkt der sentimentalen Philanthropie be­

trachtet, welche im ersten Augenblick die Stimmung der gesammten euro­ päischen Presse gewesen war.

Im Ganzen macht das Büchlein durch fesselnde und geschmackvolle Schreibart und

durch anziehende Gruppirnng

einen angenehmen Ein­

was in den Zeitungen

druck; man körmte sagen, daß darin Dasjenige,

über dem Strich unter

zu stehen pflegt,

so -«bereitet ist, daß es nunmehr

Und

denselben kommen kann.

Feuilleton Niemand verletzen darf,

so

wie

nach Jules Janm ein

so ist auch hier mit Sorgfalt jede

Schärfe, ja, jede Schneide herausgeschliffen worden, und die Erzählung

bewegt sich mit seltener Harmlosigkeit. auch

wohl

zugeschrieben werden,

Seiten abgethan

und

daß

Diesem Gesichtspunkt darf es die polnische

Frage mit

zwei

nur den Polen der Rath ertheilt wird, was sie

hätten thun und lassen sollen.

Dem gegenüber fällt uns ein Vers aus

einem Buche der Weisheit ein, das die thörichten Menschen eine Komödie

nennen: Ei, der Gesunde hüpft und lacht,

Dem Wunden ist's vergällt, Der ein« schläft, der andere wacht.

DaS ist der Lauf der Welt.

s>.

Bom russischen Büchermarkt.

Z»r Sprach- und Landr*K«ndr. Zwei Werke treten gegenwärtig in den Vordergrund der totffeiischaftlichen Literatur Rußlands.

Beides lexikographische Werke, die aus

verschiedenen Gebieten die umfassendste Kenntniß des rnssischen Volkes

und Landes eröffnen.

Das eine ist W. Dahl's „Wörterbuch der leben

digen großrussischen Sprache", das andere P. Semenow's „Geographische

statistisches Lexicon des russischen Reiches." In der Gelehrtenrepublik hat am öftersten die deutsche Ausdauer

und Gründlichkeit jenen Respekt vor dem Fleiße, der Arbeitskraft und

dem Wissen Einzelner errungen, der das Zageständniß abnöthigt, daß

von denselben Werke zu Tage gefördert worden, die sonst nur ganze

Genossenschaften

zu Stande bringen.

Es giebt aber auch nicht leicht

ein anderes Culturvolk, das gleich dem deutschen sagen kann:

Was

anderwärts Akademieen machen, das führt bei uns ein einzelner Gelehrter aus.

Mr besitzen z. B. kein Wörterbuch der Akademie;

Grimm's haben uns einen Sprachschatz gehoben,

doch unsere

der eine akademische

Riesenarbeit aufwiegt. Weniger als irgendwo, möchte man vollends bei den Russen einen solchen Anlaß zum wtssenschastlichm Selbstgefühl erwarten.

Wie über

Haupt in der Cultur, so wird ganz besonders im Reiche der Wissenschaft

der russische Geist noch als unmündig betrachtet.

Man darf daher sagen,

daß ein Zeugniß so hohen wissenschaftlichen Werthes, wie es den Werken

Dahl's und Seinenow's wird zuerkannt werden müssen, eine nationale Eroberung ist. Dahl's Wörterbuch ist ein Werk, das nicht nur anderwärts Akade­ mieen schaffen, sondern daheim eine Akademie nicht zu schaffen vermocht

326 hat.

Dom russischen Büchermarkt.

Das von der Petersburger Akademie ausgegangene große Lexikon

der russischen Sprache würde selbst als Arbeit eines Einzelnen so unvoll­ ständig und in exegetischer wie in grammatischer Beziehung so mangel­

haft erscheinen, daß es vor einer noch so nachsichtigen Kritik nicht bestehen könnte.

Die wenigsten Artikel darin genügen dem praktischen Bedürfniß,

fast gar keiner den Anforderungen der Wissenschaft.

Dahl's Werk hin­

gegen ist ein gründlicher und gewissenhafter Dolmetscher der gesammten Anschauungs- und Gedankenwelt des russischen Volkes, wie sie in dessen

„lebendiger"

unmittelbarer

Gegensatz

zur

bloßen

Sprache

sich

Schriftsprache ein

aufthut.

Auf

besonderer

diese

Nachdruck

ist

im

gelegt.

„Die der Literatur gehörenden Worte und Ausdrücke", bemerkt in Bezug

darauf ein mssischer Beurtheiler, „haben freilich auch in diesem Wörter­

buche Platz gefunden, aber nicht, weil sie von der Literatur recipirtsondern weil sie vom Volke gebraucht werden."

Dabei sind von Dahl

alle provinciellen Eigenthümlichkeiten so eingehend berücksichtigt, daß sein Werk eine eben so große ethnographische wie linguistische Bedeutung für

Rußland gewinnt.

Weit ergiebigere Vorarbeiten fand Semenow für sein umfassendes Unternehmen.

Die geographische und statistische Literatur Rußlands ist

reich an ausführlichen Monographien.

Aber die Verbindung und Ver­

arbeitung des maffenhaften Materials zu einem Werke, wie das vor­

liegende „geographisch-statistischeLexikon" ist unter allen Umständen eine

wissenschaftliche Großthat,

deren Ruhm Semenow mit seinen drei Mü-

arbeitern W. Swärinsky, I. Filippow und R. Maak theilt.

Das

Werk umfaßt das ganze russische Reich sammt allen russischen Besitzungen

in Asien und Amerika, jedoch mit Ausschluß des Königreichs Polen und des Großfürstenthums Finnland.

Bon Dahl's Wörterbuch Lexikon der

sind ein paar Bände,

erste Band erschienen.

von Semenow's

Möchte ein günstiges Geschick die

Vollendung dieser beiden großartigen Arbeiten beschleunigen, deren Ur­

heber sich ein seltenes Verdienst um ihre Nation wie um die Wissenschaft erwerben.

Vom deutschen Büchermarkt.

Schilderungen au« Kurland. Herr Ludwig Brünier hat sich in den Kopf gesetzt, daß Kurland, Lievland und Esthland, obgleich sie „nach Geist und Herz durchaus deutsch geblieben", von „ihren vierzig Millionen Brüdern" nicht „zärtlich" genug

in's Auge gefaßt werden,

ünd

darum wünscht er für „seine Reise­

erfahrungen in den Ostseeprovinzen das Ohr seiner deutschen Landsleute".

Er hat deshalb ein Büchlein drucken lassen unter dem Titel: land.

„Kur­

Reiseeindrücke von Land und Stadt" (Leipzig, H.Matthes

1862) — und in der Borrede, wie wir eben gesehen haben, verschiedene menschliche Organe und Sinne mit etwas rhetorischer Hast zusammen-

stylisirt.

Dabei ist er — ob durch diese Hast oder durch den Kampf

zwischen Bescheidenheit und Patriotismus — auch in eine logische Ueber« stürzung verfallen, die „unzärtliche" Beurtheiler vielleicht noch anders bezeichnen möchten.

Wahrend er sich nämlich zu „nichts weiter anheischig

macht, als nach seinen Kräften und wahrheitsgemäß das zu berichten, was ihm als erzählungsn'erth aufgestoßen", vergißt er, daß er kurz zuvor

gestanden, was er in den Osiseeprovinzen erlebte, verdiene gerade mcht, von Vielen gelesen zu werden.

Was also hätte er sonst zu berichten,

das gelesen zu werden verdient und — das ist ja seine Absicht — die

zärtliche Theilnahme von vierzig Millionen Deutschen'für die russischen Ostseeprovinzen wecken soll?

„Die Wahrheit, daß der deutsche Geistes­

strom ein so mächtiger und gewaltiger ist, daß er das geleistet hat, was sonst nur die über unendliche Hilfsquellen gebietende Centralisatton eines

Großstaats vermag."

Wenn Herr Brünier diese Wahrheit

Reiseerfahrungen in den Ostseeproviuzen zählen darf,

so

zu

seinen

hat er dort

328

Vom deutschen Büchermarkt.

genug erlebt,

>vas lesenswerth ist, und seine Bescheidenheitsphrase wäre

dann noch schlimmer als unlogisch, sie wäre beleidigend.

Oder hat er

jene Erfahrung in Betreff der Ostseeprovinzen nur aus Büchern, wie er

uns denn seines hierauf bezüglichen enormen Lesefleißes versichert,

so

begreifen wir nicht, >ms seine persönlichen Reiseeindrücke dabei sollen.

Seine Schilderungen aus Kurland sind

dann

mindestens

überflüssig.

Daraus, daß man Lesmswerthes gelesen, folgt noch nicht, daß man Lesenswerthes schreibt, geschweige denn alles drucken läßt,

was man

selbst als wenig lesenswerth erkennt. Aber so ist es mit jeder erkünstelten Bescheidenheit: sie zerfällt bei

der leisesten Berührung und zeigt sich sofort als das Gegentheil von dem, was sie scheinen wollte.

Herr Brünier bildet sich etwas auf die

Bescheidenheit des für sein Buch gewählten Titels ein.

Ei, warum das?

„Reiseeindrücke!" — ja, es kommt darauf an, was es für Eindrücke Auf Reisen kann man Eindrücke empfangen, so groß, so bedeutend,

sind.

und kann sie so belehrend, so vortrefflich, so schön mittheilen, daß der Titel „Reiseeindrücke" an sich keine gar so geringen Voraussetzungen, keine gar so bescheidenen Ansprüche bedingt.

Reiseeindrücke können aber

sreilich auch so klein, so alltäglich, so unnütz sein, wie die des Herrn Brünier, der uns z. B. in einem Kapitel „Ich bekomme zu effen" Fol­

gendes erzählt:

„Als ich wieder auf meinem Zimmer angelangt war, polsterte ich mein unbequemes Sopha mit Kopfkissen aus, legte mich der Länge nach

auf dies jetzt etwas bequemer gewordene Stück Möbel aus den Zeiten

der lettischen Unabhängigkeit, die bekanntlich weit früher unterging, als das griechische Äaiserthum, und ließ dann die Blondine zu mir herauf­ bitten.

Sie erschien heiter lächelnd, und ich bemerkte ihr, daß sie bei

ihrem gutmüthigen Aeußern gewiß nicht die Absicht habe,

mich ver­

hungern .zu lassen, und daß sie deshalb in höchster Eile meinem Magen, der anfange, jegliche Geduld zu verlieren, etwas zu essen schaffen müsse.

Nachdem sie wieder etwas gelacht hatte, was ich gar nicht übelnahm,

da es sie gut kleidete, erklärte sie mir, wie sie durchaus kein warmes Abendeffen zu schaffen im Stande sei, wohl aber Thee, Butter und Brod, Schinken, Eier, Wurst u. s. w.

Ich hemmte ihren Redefluß, da mein

armer Magen bei den vielen schönen Dingen, von denen er reden hörte,

329

Born deutschen Büchermarkt.

sofort alte diese Herrlichkeiten zu verfchlinges verlangte, und rief -ihr

Doch nein,

wir

können uns nicht zumuthen, diese Probe noch

weiter abzuschreiben. Bon solchen Erfahrungen und Eindrücken ist das Buch des Herrn Brünier voll.

Dergleichen Vorgänge und Gespräche als „Roiseeindrücke"

zu behalten, mag vielleicht ein Beweis von dem „freundlichen Herzen" sein, dessen sich der Verfasser rühmt; sie auszuschreiben, ist ein Gebrauch seiner

Muße, welchen der Verfasser allein zu verantworten hat; sie aber drucken zu lassen, und zwar in der ausgesprochenen Absicht, damit zur Kenntniß

eines wenig gekannten Landes beizutragep und die „zärtliche" Theilnahme von vierzig Millionen Deutschen zu gewinnen — das ist denn doch ein

Zeugniß von mehr als zweifelhafter Bescheidenheit.

Stschedrin in Deutschland.

Von den im „Zeitgenossen" (Sowremennik) erschienenen „Harm­

losen Erzählungen," dieses russischen Satyrikers war in unserer Revue (1. Bd.

Heft 3.

S. 249.) ausführlich die Rede, und wir erinnerten

dabei unsere Leser an Stschedrin's Hauptwerk, die „Gouvernementsskizzen",

aus welchen das Feuilletm der Nationalzeitung einige Bruchstücke mit­

getheilt hatte.

Es steht dieses Werk int Vordergründe der gesammten

neuern Sittencharakteristik Rußlands, die mit der poetischen Literatur nur Seit ein

noch äußerlich zusammenhängt.

Frühlingshauch

durch das

Land weht, herrscht ein wahres Thauwetter auf diesent Gebiete , das geradezu überfließt von der ganzen aufgegangenen Corruption der ver­

schiedensten Gesellschaftsklassen.

Da ist aller Schonung wie allen Kunst-

erfordemissen abgesagt — um das Verdienst einer Beichte, von der wir allerdings ein ähnliches Beispiel kaum bei einer anderen Nation der Ge­ genwart finden.

Die ,,Gouvernementsskizzen"

erschienen

als

„Aufzeichnungen des

Hofraths Stschedrin, gesammelt und herausgegeben von M. E. Salti-

kow."

Der Verfaffer (natürlich Herr Saltikow selbst, der seitdem den

329

Born deutschen Büchermarkt.

sofort alte diese Herrlichkeiten zu verfchlinges verlangte, und rief -ihr

Doch nein,

wir

können uns nicht zumuthen, diese Probe noch

weiter abzuschreiben. Bon solchen Erfahrungen und Eindrücken ist das Buch des Herrn Brünier voll.

Dergleichen Vorgänge und Gespräche als „Roiseeindrücke"

zu behalten, mag vielleicht ein Beweis von dem „freundlichen Herzen" sein, dessen sich der Verfasser rühmt; sie auszuschreiben, ist ein Gebrauch seiner

Muße, welchen der Verfasser allein zu verantworten hat; sie aber drucken zu lassen, und zwar in der ausgesprochenen Absicht, damit zur Kenntniß

eines wenig gekannten Landes beizutragep und die „zärtliche" Theilnahme von vierzig Millionen Deutschen zu gewinnen — das ist denn doch ein

Zeugniß von mehr als zweifelhafter Bescheidenheit.

Stschedrin in Deutschland.

Von den im „Zeitgenossen" (Sowremennik) erschienenen „Harm­

losen Erzählungen," dieses russischen Satyrikers war in unserer Revue (1. Bd.

Heft 3.

S. 249.) ausführlich die Rede, und wir erinnerten

dabei unsere Leser an Stschedrin's Hauptwerk, die „Gouvernementsskizzen",

aus welchen das Feuilletm der Nationalzeitung einige Bruchstücke mit­

getheilt hatte.

Es steht dieses Werk int Vordergründe der gesammten

neuern Sittencharakteristik Rußlands, die mit der poetischen Literatur nur Seit ein

noch äußerlich zusammenhängt.

Frühlingshauch

durch das

Land weht, herrscht ein wahres Thauwetter auf diesent Gebiete , das geradezu überfließt von der ganzen aufgegangenen Corruption der ver­

schiedensten Gesellschaftsklassen.

Da ist aller Schonung wie allen Kunst-

erfordemissen abgesagt — um das Verdienst einer Beichte, von der wir allerdings ein ähnliches Beispiel kaum bei einer anderen Nation der Ge­ genwart finden.

Die ,,Gouvernementsskizzen"

erschienen

als

„Aufzeichnungen des

Hofraths Stschedrin, gesammelt und herausgegeben von M. E. Salti-

kow."

Der Verfaffer (natürlich Herr Saltikow selbst, der seitdem den

330

Bom deutschen Büchermarkt.

Schriststellemamen Stschedrin beibehalten) macht

auf

sprüche

Poesie und

kann sie

durchaus

nicht machen:

keine An­

er liefert Photo­

graphien der russischen Kleinstädter — so frappant, wie sie vor ihnl Unter Kleinstädtern denke

man sich je­

doch nicht blos solche, die wir in Deutschland so nennen.

Kleinstädter

noch Keiner zuwege gebracht.

waren — bis jetzt wenigstens — in Rußland auch die Bewohner sehr

großer Städte, weil ihnen große

öffentliche Jiltereffen fehlten.

Außer

den Residenzen, wo Kunst und Wiffeuschaft deni Leben einen höheren Inhalt verliehen, mochten die Städte räumlich noch so weit und noch so volksreich sein, es war die engste Lebenssphäre, in der dort Alles

vegetirte.

In den Gouvernenlentsstädten (gleichviel in welchen) waren denn auch warnie Rester für alle kleinlichen Bosheiten und Albernheiten, alle alle Laster,

Mißbräuche, alle Intriguen,

kurz,

Anfang der Müßiggang ist.

Stschedrin hat eine

Restern

aus

„Krutogorsk" (seinem

deren sprichwörtlicher

Kuhschnappel)

Menge von solchen

in

seinen!

Buche

ausgestellt.

Wir hätten es längst für wünscheuswerth gehalten, daß die deutsche Lesewelt dieses bedeutungsvolle Buch durch eine gute Uebersetzung kennen

lernte.

Allein eine gute Uebersetzung ist so selten als sie schwierig ist,

und leider wirft sich die literarische Tagelöhnerei nun auch auf Ueber«

tragungen aus dem Russischen, toomit sie gerade die originellsten Er­

zeugnisse dieser dem größeren Publikum in Deutschland noch sehr frem­

den Literatur gar zu leicht in Rtißcredit bringt.

Ani meisten-kommen

in solche Gefahr Schriften von so eigenthümlich nationaler Darstellungs­ weise, wie die Stschedrin's.

Desto angenehmer hat es uns überrascht, in

einem kürzlich erschienenen Buche: „Aus dem Volksleben Rußlands"

(Berlin, Heinrich Müller, 1863) Stschedrin's „Gouvernementsskizzen" in paffender

finden.

Auswahl

und

ganz

sauber

und fließend lviedergegeben zu

Für den Uebersetzer (einen in Rußland

gewinnt schon der redliche

Antheil,

lebenden

Deutschen)

den er an der Entwickelung des

Landes nimmt, die Blühe, die er daran gewendet, sich mit den Verhält­

nissen, dem Charakter, der Sprache des Volkes vertraut zu machen, was

ihm denn auch in einem Grade gelungen ist, wie wenigen feiner Lands­ leute, die ihm darin nur einigermaßen nachzustreben brauchten, um den

Bom deutschen Büchermarkt.

331

höchst bedauerlichen nationalen Antagonismus auf beiden Seiten abzu­

schwächen.

Der Uebersetzcr verhehlt sich die Bedenken nicht, die sich gegen den Eindruck solcher Schilderungen auf die Stimmung des Auslandes er­

heben; aber er berichtigt sie mit eben so wohlmeinender als kenntnißvoller Auffassung. „Man sagt uns, daß wir durch diese Uebersetzung den Mderwillen

gegen Rußland vermehren werden.

Im Gegentheil, wir denken Ruß­

land in der Achtung des deutschen Volkes zu heben, indem wir ihm

zeigen, daß das Böse unter den Russen vertilgt werden soll.

Das Böse

ist nicht nur russisch, es ist wie das Gute ein Eigenthum, ein Schaden

aller Menschen; und deshalb ist es überall gleich verdienstlich, den Haß gegen das Böse zu vermehren, die Verachtung des Schlechten zu ver­ größern, die Hand zu erheben zur Ausrottung des Lasters.

Für die

allgemeine Sittlichkeit giebt es so wenig Grenzen wie für die Wissen­ schaft, sie ist und soll sein: Gemeingut.

Einem großen Theil der russischen

Beamtenwelt

ist

gegenwärtig

das Rechtlichkeitsgefühl abhanden gekonimen; kaum ein schwacher, äußerer Schein von Ehrlichkeit ist übrig geblieben, und läßt man diesen Zustand

noch längere Zeit fortdauern, so droht allen übrigen Ständen des großen

Reiches die Gefahr, in ihrer Sittlichkeit völlig untergraben zu werden. Ohne Zweifel wird daher Alexander II., der mit der Initiative zu allem Guten seinem Volke vorangeht, nicht lange zögern, durch kräftige Maß­ regeln

dem an dem Marke seines Volkes fressenden Krebsschaden Ein­

halt zu thun. — Eine der nothwendigsten und dringendsten Maßregeln dürste eine Erhöhung der Besoldung für die Beamten sein, da die Un­

zulänglichkeit derselben in mancherr Sphären als eine Hauptquelle des mora­ lischen Uebels betrachtet werden muß.

Die großen Hülfsmittel des russi­

schen Reiches werden es möglich machen, daß dies unbeschadet anderer

wahrer Bedürfnisse des Landes und ohne die Unterthanen mit neuen Abgaben zu belasten, ausgeführt werde.

Denn so lange ein großer Theil

der Beamten mit Gmnd behaupten kann,

daß ihr Gehalt für ihren

nothwendigen Unterhalt durchaus unzulänglich sei, so lange wird den

Behörden der feste Anhalt und das sittliche Recht dauernswerthen Unwesen mit Strenge zu steuern.

Wulfifite »icvuk. n.

4. Heft. 1868.

mangeln,

dem be-

Manche wollen zwar

23

332

Vom deutschen Büchermarkt.

nicht zugeben, daß durch eine den Bedürfnissen der Beamten entsprechende Gehaltserhöhung dem Uebel

gründlich abgeholfen werden könne, und

behaupten, daß, selbst toeiui dem Vergehen dann die Strafe auf dem Fuße folge, vielleicht mehr als ein Jahrhundert vergehen müsse, ehe man der Ausrottung des Uebels sicher sein dürfe.

Wir haben eine zu gute

Meinung von den Russen, um etwas zuzugeben, was man vielleicht von Armeniern

andern

oder

gaunerischen Völkern

anzunehmen

berechtigt

wäre, Völkern, die nur ein käufliches Gewissen haben und denen Ehre, Mlligkeit, Rechtlichkeit und Großmuth unbekannte Begriffe sind.

Im

Gegentheil sind wir überzeugt, daß der Kaiser zur Ausführung seines ernsten Willens auch gute Diener finden

Mittel des Landes hinreichen,

zu

Ende

Beamten

machen,

nicht

und

wird,

daß

die

finanziellen

um dem Dinge mit einem Schlage ein russische Volk oder vielinehr seine

das

daß

der Abwesenheit

alles Rechtlichkeitsgefühles

und aller

Die Russen sind ein Volk, das nur

Redlichkeit bezichtigt werden können.

eines guten Herrschers, einer guten Leitung bedarf, um selbst gut zu sein."

Auch über die Schwierigkeiten seiner Aufgabe ist sich der Uebersetzer klar, und das Urtheil, das er selbst über seine Leistung ausspricht,

dürfen wir im Ganzen bestätigen.

„Was die Uebersetzung als solche betrifft, so bot sie der Schwierig

keilen

manche

und derartige,

daß sie nach unserer Ansicht einem in

Deutschland wohnenden Deutschen

hätte

unmöglich

sein müssen.

Jrn

Centrum Rußlands war eher Hülfe in zlveifelhaften Fällen zu finden;

doch war die Auskunft nicht immer eine solche, die alle Ungewißheit be­ seitigt hätte.

Der russische Verfasser hat nämlich sehr häufig die Bauern

und die niederen Klassen des Volkes redend eingesührt und sich dabei der populären Ausdrucksweise, ja selbst des provinzialen Idioms bedient,

welches von Jenen gesprochen wird ; reicht selten hat er auch zur Ver­

mehrung des Effects die im Munde der Ungebildeten veränderte Aus­ sprache russischer und fremder Wörter rrachgeahmt. chen

diese Erzählungsweise hervorbringt,

Der Eiirdruck, wel­

geht natürlich dem deutschen

Leser verloren, denn sie ließ sich nur ausnahmsweise wiedergeben,

schwerte aber die Uebersetzung ungemein.

faffer —

ob mit Absicht oder nicht,

er­

Außerdem hat sich der Ver

lasse ich dahingestellt — zuweilen

einer dunkeln und unbestimmten Redeweise befleißigt, die den geborneu

Russen wohl das süchtige ahne» läßt, dem Fremden aber unverständlich bleiben mnß. — Der populäre Ton ist nachgeahmt; echt russische Wen­ dungen, die charakteristisch und volksthümlich sind, tvurden so treu als möglich wiedcrgegeben, weil sich der Geist des Bölkes am wahrsten in ihnen spiegelt; wo sich eine richtige Uebersetznng nicht geben ließ, ist ivenigstens die der russischen Bedeutung eirtsprechende deutsche gegeben worden. Rllr bei ivenigen Stellen fand sich die gänzliche Unmöglichkeit des Uebersetzens; diese haben aber ohne Beeinträchtigirng des Verständ­ nisses übergangen tverdeu können; die russische Volkssprache ist im All­ gemeinen so reich an Jnterjectionen, die fast ohne jede Bedeutung sind, daß sie sehr oft, ohne dem Sinne zu schaden, wegbleiben mögen. — Daß sich der Geist der slavischen Laute nicht übersetzen, der Wohllaut des eigenthümlichen Rhythmus, der Reiz des Charakters der Sprache nicht wiedergeben, der Uebersetznng nicht anfdrücken läßt, versteht sich von selbst. Nichtsdestoweniger glaubt der Uebersetzer im Ganzen und Großen ein getreues und lebendiges Bild dessen geliefert zu haben, Ivas die Originalschriften enthalten." Wir können das Original Ivie die Uebersetzung unsern Lesern nicht besser empfehlen, als indem wir aus letzterer nachstehend ein sehr charakte­ ristisches Kapitel als Probe mittheiien. Es findet sich in dem zweiten Bande des Originalwerkes S. GO („Ha^opimnuMe).

Die Diensteifrigen.

Wenn Sie die Einwohner von Krutogorsk fragen, was ich für ein Mensch bin, so werben sie Ihnen ohne Zweifel antworten: „O, das ist ein Hund!" und ich iverde mich nicht nur demüthig für diesen Bei­ namen bedanken, sondern mir sogar darauf etwas zu Gute thun. Dieser Ruf ist in solchem Grade mein Eigenthum geworden, daß, wenn meinem Vorgesetzten die Physiognomie irgend eines Sterblichen nicht gefällt, er sich au Niemand als an mich zur Vernichtung desselben wendet. „Lieber Philowjeritoff," sagt er zu mir, „dieser Herr N. R. hat eine sehr lange Nase; das stört die Symmetrie der Administration; kann man daher nicht carissime ..." und ich eile den Befehl meines Vorgesetzten zu erfüllen, ich schlage meine Krallen und Zähne tief in 23*

das ihm verhaßte Subjekt, und lasse es nicht eher los, bis das Opfer

zerfleischt und entseelt zu meinen Füßen liegt. Weichheit des Herzens ist keine meiner charakteristischen Eigenschaften.

Ich muß sogar sagen, Hetzjagd begebe,

daß in denr Augenblick, wo

Herr N. N.,

ich mich auf die

der vorher eine durchaus gleichgültige

Person für mich war, mein entschiedenster Feiild wird, und zwar ein Feind, den ich um so mehr hasse, je mehr Mittel er anwendet sich zu

vertheidigen.

Ich gehe plötzlich auf alle Ansichten meines Vorgesetzten

ein, seine Ansicht über die Nase des Herrn N. N. wird die meinige;

mein Auge wird unruhig, mein Mund füllt sich mit Schaum, und ich beiße, beiße so lange, bis ich selbst vor Erschöpfung und Wuth hinsinke.

Sie werden einräumen, daß diese beständige, unnatürliche Anspannung

aller Kräfte der Seele

auch ihre poetische Seite hat,

welche indessen

leider dem Blicke des betheiligten Zuschauers entschlüpft. Und nicht etwa, daß ich schon so erbittert und erbost wäre, daß mir das Unglück des Nächsten unaussprechliches Vergnügen gewährte —

durchaus nicht!

Ich

scheide streng meine alltägliche, gewöhnliche Be­

In der erstgenannten Sphäre

schäftigung von der offiziellen im Dienst.

bin ich ein Sklav des Herzens, ein Sklav meines Fleisches,

ich lasse

mich hinreißen, ich lasse mich erkveichen, ich werde ein Mensch; in der

andern Sphäre ziehe ich deil Menschen aus, ich trenne mich von der

sichtbaren Welt und erhebe mich zur Hellseherei. die Galle mein Herz nicht hinreichend

Wenn die Bosheit und

zusammenziehen,

so strenge ich

alle meine Kräfte an, um durch künstliche Mittel mir Leberweh zu er­ zeugen.

Meistentheils

gelingt mir das auch.

Ich erfahre täglich so viele

Kränkungen, daß der Zustand der Erbitterung nur mein normaler sein

kann.

Außerdem ist mein Gehalt so klein,

daß mir jede Möglichkeit

abgeschnitten ist, mich durch materielle Genüsse zu zerstreuen.

Da ich

fortwährend halb hungrig bin und meinen Magen nie mit ausgesuchten

Speisen überladen habe, so kann ich mit Stolz behaupten, daß mein Gewissen ganz frei ist von allen fremden Einflüssen und nicht bestochen

von dem Bauch, wie bei jenen „Unverschämten," die auf die Welt von der Höhe ihrer gastronomischen Größe herabsehen.

Mein Patentante ist Philowjentoff. Er bezeichnet hinreichend, daß ich in keiner goldenen Wiege gelegen habe. Als mein jetziger Vorgesetzter einen solchen Hund für seine häuslichen Bedürfnisse suchte, der es sich zum Verdienst anrechuen iuürbe, andere gemeinschädliche Hunde zu Tode zu hetzen, und als er sah, daß die Blüthe meinet Persönlichkeit vor­ wiegend Galle sei, und daß mein Magen immer halbleer, da richtete er seine Aufmerksamkeit mir zu. Er berechnete nach diesen unscheinbaren Anzeichen, daß ich gerade so ein Mensch sein werde, wie er ihn brauchte, und täuschte sich nicht. „Fühlst du in dir Kraft genug", sagte er zu mir, „immer erbittert, immer bereit zu fein, kühn und vermessen dem Winke meines Fingers zu folgen?" Ich befragte mein Gewissen und erhielt zur Antwort, daß ich im Stande sei, die in mich gesetzte Hoffnung zu rechtfertigen. Vermittelst einer ganzen Reihe klarer und strenger Folgerungen kam ich zu der Ueberzeugting, daß der vfficielle Mensch in einer so untergeordneten Sphäre, toie die, welche mir das Schicksal zuwies, kein Recht hat, sich auch nur eines einzigen der fünf Sinne zu bedienen, die das unabän­ derliche Besitzthum jedes gewöhnlichen Menschen ausmachen. Was bin ich, was bedeute ich denn in diesem Verwaltungskolosse, der die Augen erschreckt und den Verstand niederdrückt durch die Zusammengesetztheit und das Kettenförmige aller Theile seines Mechanismus? Ich bin nicht mehr als ein nichtiges Atom, vom Verhängniß diesem oder jenem Theile der Verwaltung zugetheilt, das keinen Zollbreit aus dem bezauberten Kreise weichen darf, der ihm von unsichtbarer Hand gezeichnet ist! Welches Recht darf ich in Anspruch nehmen, eine Ueberzeugung zu haben? Und wem wäre sie nöthig, diese meine Ueberzeugung? Nur einmal wagte ich vor meinem Vorgesetzten auszusprechen, daß nach meiner Meinung .... Er warf mir einen Blick zu und seit der Zeit habe ich mich nie mehr geäußert. Er hatte Recht, tausendmal Recht: denn ich bin ja nicht im Stande zu begreifen, welche höhere Vorstellungen in seinem Kopfe verborgen sein können. Und voit der Zeit an ging Alles schön und glatt bei uns. Nur Eins konnte ich mir noch nicht zu eigen machen, das ist: die Geläufig­ keit in der Unterhaltung mit den Gewerbtreibenden, mit den Unter­ nehmern 2c. 2c. in Betreff der überschüssigen Kopeken. Nicht daß ich etwa

336

Vom deutschen Büchermarkt.

diese Kopeken tadeln wollte -

wer weiß, vielleicht herrschen darüber

auch höhere Anschauungen! — sondern, ich habe nicht die Dreistigkeit,

die praktische Ungezwungenheit, welche unumgäuglich bei solcher Art von Verhandlungen ist.

Ich will Ihnen nicht verschweigen, daß diese unaufhörlich bestellte

Erbitterung mich manchmal ermüdet.

Es giebt Zeiten, wo Einem der

Rückgrat wie zerschlagen ist, und wo man ganz krumm geht ; aber das ist nur theilweise: die Bitterkeit scheint in der Luft zu liegen; erhalte

ich einen neuen Befehl,

der zur Thätigkeit wachruft, so recke ich die

Beine wie ein Postpferd wieder gerade, und springe über Stock und

Stein, über Höhen und Tiefen, durch Dick und Dünn.

Die Füße sind

blutig, der Athem schnell und unterbrochen, wie bei einer gefangenen Ratte, und dennoch stehe ich nur still, um von Neuem zu springen, ohne

daß ich mir Ruhe gönne.

Dieses Springen ist sehr nützlich; es erhält das Leben in mir so, wie ein Gläschen Branntwein das Leben im verhärteten Trinker erhält. Sich ihn an: er zittert an Händen und Füßen und ist wie mit Queckstlber angefüllt; er trinkt ein oder zwei Gläschen und — er sängt an

zu gehen, als ob ihm nichts geweserr wäre.

Gerade so geht es mir: ich

weiß, daß mich eine Schuld drückt, und bei einem einzigen Worte fühle

ich mich immer fertig und kampfbereit. wegen,

Nicht des kleinlichen Nutzens

aus gemeiner Gesinnung bandle ich so,

sondern aus reinem

Pflichtgefühl als Mensch und Bürger.

Meine Thätigkeit war eine sehr verschiedenartige; ich war Richter für Criminal- und für Civilsachen; ich hatte so zu sagen mit leben

feigem Material und mit dem todten Buchstaben zu thun, aber in einem wie im andern Falle blieb ich stets mir selbst treu, oder bester gesagt: treu der Idee der Schuld, die ich durch Sklavendienste zu tilgen mich

entschlossen hatte. Die Abtheilung für Untersuchungssachen

darin so viele Versuchung, über sich zu behaupten.

kennen Sie.

Es giebt

daß es zuweilen schwer ist, die Herrschaft

Ich liebe im Allgemeinen nicht das lebendige

Material, nicht die Seufzer und Wehklagen; sie beengen mir die Frei­

heit des Denkens.

Etwas Andres ist es mit der Civilrechtspflege!

Da

hat man nur mit dem Papier zu chW ; man sitzt im Zimmer, Niemand

stört, Niemand setzt uns in Verwirrung; man sitzt und arbeitet, geleitet von einer gesunden Logik und dem strengen Buchstaben des Gesetzes. Wenn die Folgerungen richtig aufgebaut, die nöthigen Prämissen vor­ ausgeschickt sind, so muß auch die Arbeit richtig sein, und Niemand in der Welt ist dann im Stande, mir etwas anzuhaben, mich zu kassiren. Ich befrage nicht mein Gewissen, ich gehe nicht zu Rathe mit meinen persönlichen Ueberzeugungen : ich achte nur darauf, ob alle Formen ge­ wahrt sind, und in diesem Punkte bin ich streng bis zur Pedanterie. Wenn ich zivei Zeugenaussagen, in der gehörigen Weise formulirt, in Händen habe, so bin ich befriedigt, und schreibe: es ist; wenn ich sie nicht habe, so bin ich auch zufrieden, und schreibe: es ist nicht. Was geht es mich an, ob ein Verbrechen wirklich begangen ist, oder nicht? Ich will nur wissen, ist es bewiesen oder ist es nicht bewiesen — weiter nichts. In diese syllogistische Kabinetsthätigkeit kann man so hineingezogen werden, wie man sich etwa den Trunk oder das Opiumrauchen angewöhnt. Ich erinnere mich einer Nacht. Der Angeklagte wollte schon meinen Händen entschlüpfen, aber irgend ein dunkles Gefühl sagte mir, daß es in dieser Sache noch einen Sumpf geben müsse, und daß jenes Subjekt nothwendig darin untersinken werde. Und so war es auch. Obgleich ich mich lange abmühte, entdeckte ich doch endlich diesen Sumpf, und Sie können sich nicht vorstellen, welche Wonne sich nun plötzlich durch alle meine Adern ergoß. „Was wirst du nun sagen? Wie wirst du dich nun herausschivindeln?" wiederholte ich bei mir während der ganzen Nacht. Ein krampfhaftes Lachen ergriff mein ganzes Wesen; eigentlich nicht Lachen, sondern eine Art Hysterie. Sie können heut zu Tage vielen Leuten begegnen, die von meiner Richtung sind, aber schwerlich wird Ihnen einer aufstoßen, der mir gleich wäre. Es giebt viele Leute, die, wie ich, überzeugt sind, daß außerhalb der Administration in der Welt alles Chaos und Anarchie ist; aber das sind größteutheils arme Schlucker, ober Epikuräer oder solche junge Leute, die nichts anzugreifen verstehen. Nicht Einer von ihnen hat sich zu dem Begriff der Schuld erhoben, als etwas Ernsthaftem, als einem Etwas, das keine Frivolität duldet; nicht Einer vermag sein Ich zu vernichten, und sich selbst seiner Amtspflicht zum Opfer zu bringen.

338

Vom deutschen Büchermarkt.

Ich wiederhole Ihnen, wenn mich in diesem Allgenblicke Se. Excellenz zu sich riefe, und mir sagte, daß Sie ein übelgesinnter Mensch seien, daß man Sie verfolgen muffe, so würde ich jenes Programm zur That machen, und ich würde arbeiten nicht wie eine Maschine, sondern mit voller Kraft der Ueberzeugung. — Also, wenn ich Ihnen auch gesagt habe, daß ich im Dienste nicht überlege, so wollte ich doch damit ganz und gar nicht sagen, daß ich der Denkfähigkeit beraubt wäre; sie ist in mir da, aber sie ist allein darauf gerichtet, die Mittel zur Erreichung der Absichten aufzufinden, zu deren Vollstrecker man mich gewählt hat. Man macht mir zum Vorwurf, daß meine Mattieren etwas rauh seien, daß ich wie aus einem Stück gehauen, daß mein Anblick fein Vertrauen einflöße rc. Sonderbar! Vom Tschinownik Grazie verlangen! Me kann man von mir Berücksichtigung kleinlicher Dinge erwarten, wenn ich verpflichtet bin, höhere Ziele zu verfolgen! Hat es für irgend Jemand Nutzen, wenn ich angenehm, liebenswürdig, zuvorkornntend bin? Ist es nicht im Gegentheil besser, wenn ich in etlvas größerer Entfer nung bleibe, damit Jeder, wenn nicht mit Schrecken, so doch mit dem Gefühl der Unsicherheit auf mich blicke? In den Gouvernements hat es das Beanitenthum zu einer eigen­ thümlichen Familiarität gebracht. Um ein Glas Branntlvein mehr zit trinken, um von einer wohlschmeckenden Speise einen Teller mehr zu essen, um ihre Nase an den Ausdünstungen der Schmeichelei und Krie­ cherei zu ergötzen, sind sie bereit bis zum Verbrechen vvrzugehen. „Das ist keine Wsjatka!"*) sagen sie. Ja, das ist keine Wsjatka, aber schlimmer als die Wsjatka. Wsjatki muß der Beamte mit Vorsicht nehmen, und ost mit unwillkürlichen Gewissensbissen, aber der, welcher zttm Mittageffeu fährt, empfindet nichts als Vergnügen. Bedenken Sie, können Sie wohl einem Menschen etwas abschlagen, der Ihnen tausend Gefällig­ keiten erwiesen hat, tausend kleine Dienste, die sich nicht mit Geld, son­ dern nur mit dem Herzen bezahlen lassen? Nein und tausendmal nein! Geld kann man zurückgeben, ivenn sich die Sache allzu zweifelhaft er weist, aber unwägbare moralische Wsjatki lasten ewig auf dem Gewiffeu des Tschinowniks, und kommen früher oder später als Niederträchtig*) Wsjatka (Baarica) — Geschenk zur Bestechung.

feit oder als lange Singer nach der Staatskasse aus ihm wieder zum Vorschein. Blicken Sie auf die Autoritäten unserer Gouvernements, unserer Kreise! Wie sie sich anfblahen und brüsten an dem Tische des Kauf­ manns, der sie nur darunt füttert, damit die Krone auf zartere Weise bestohleil werde! Pfui, Ivas für ein Bild! Er sitzt wie ein Truthahn, der den Schweif auseinander schtägt; man wagt sich gar nicht an ihn heran. Aber während er den Schweif entfaltet, reift in seinem Kopfe schon der nichtsivürdige Gedanke, ob und wie man dem lieben freund­ lichen Kaufmann auf irgend eine Art ein Kopekchen zulegen könne; und seinem ßledächtniß ist es ganz entschwunden, wie er in Petersburg vier Treppen hoch logirt und für 15 Kopeken zu Mittag gegessen hat, bis er sich ein hübsches Plätzchen in der Provinz erdienerte und erbettelte! Sagen Sie, wie ist es möglich, nicht leberkrank zu werden, wenn man sich von solchen Mißbräuchen umgeben sieht — von solch frecher Selbstzufriedenheit, daß sich einem das Herz im Leibe dabei umwen­ det — muß mau da nicht wider Willen in das entgegengesetzte Extrem verfallen? Und außerdem, luiffen Sie, fängt meine eigene Erbitterung mich schon an zu ermüden; ich fühle, daß sich in meiner Brust Etwas bildet, was nicht gut ist. Bald ergreift mich eine Art Beklemmung, bald fängt mich Etwas an zu drücken und zu schmerzen, gerade als ob man mit dem Bohrer in mich hineinbohrte! — Was denken Sie: werde ich noch den Sommer erleben? oder — setzt sich zu gleicher Zeit mit den winter­ lichen Fesseln des Flusses von Krutogorsk meine Seele, angeweht von dem Hauche des Frühlings, in Bewegung?

Vermischtes.

Ludwig Mrrckiin. Aus Dorpat schreibt die D. Z.:

stunde ist

hierselbst nach

Am 15. Sept, um die Mittags­

langen und schweren Leiden der ordentliche

Professor der Beredsamkeit, altklassischen Philologie,

Aesthetik und Ge­

schichte der Kunst, Dr. Ludwig Mercklin, im 48. Jahre seines Lebens verschieden.

Geboren den 11. Juli 1816, bezog er im Jahre 1835 die

hiesige Universität, ging von hier, nach Bollendung seiner Studien, im

Jahre 1838 als Lehrer nach Moskau, und kehrte bald darauf, nachdem er vorher noch eine Reise ins Ausland ausgeführt, wieder hierher zurück, wo er längere Zeit als Privatdocent hiesigen Gymnasium fungirte.

nnd

gleichzeitig als Lehrer am

Im Jahre 1851 zum Professor extraord.

ernannt, wurde er tut December des Jahres 1852 ordentlicher Professor,

bis ein inzwischen immer schwerer gewordenes Leiden ihn gegen Ende

Februar dieses Jahres zwang, seine Vorlesungen einzustellen.

Ein be­

jahrter Vater (der in Riga lebende Dr. Eugen Mercklin) sowie eine

Wittwe und drei unmündige Kinder betrauern seinen Tod.



Es ist

hier nicht der Ort, der Verdienste des Verstorbenen um die Wissenschaft

eingehend zu gedenken; nur so viel sei in Kürze angeführt, daß das bei der hiesigen Universität befindliche Kunstmuseum in seinem gegenivärtigen Uinfange recht eigentlich eine Schöpfung Mercklin's ist, für die er na­ mentlich auch bei Gelegenheit seiner Reisen nach Deutschland, Italien

und Frankreich die bedmtendsten Acquisitionen ausgeführt und stets ein

hervorragendes Interesse bewiesen hat. Schon zu Lebzeiten ist er als Verfaffer einer großen Anzahl Werke, sowie Herausgeber einer Anzahl Inedita auch im Auslande als Philologe Vortheilhaft bekannt gewor­ den: aber auch sein literarischer Nachlaß ist ein sehr bedeutender und umfaßt namentlich umfangreiche Porarbeiten zu größeren Werken. Wir vernehmen, daß ein dem Verstorbenen sehr befreundet gewesener Mann, der zur Zeit hier lebende Prof. Dr. Struve, mit der Herausgabe dieses Nachlasses betraut worden und daß von demselben auch eine aus­ führlichere Lebensskizze des Verstorbenen zu erwarten ist.

Wissenschaftliche Sammlungen in Bdessa. In der deutschen „Odessaer Zeitung" lesen wir: Unsere Stadt Odessa, welche sich auch durch ihren wissenschaftlichen Fortschritt in die Reihe der europäischen Städte stellt, >vo Wissenschaft und Künste blühen, sieht der Gründung einer Universität entgegen, in welcher die Haupt­ fächer der Wissenschaft vertreten sind. Schon das Lyceum besitzt außer einer ansehnlichen Bibliothek bedeutende Sammlungen physikalischer und technischer Apparate und Modelle. Wohlbesetzt ist im Bereich der Natur­ wissenschaften das chemische Laboratorium, die Ntineraliensammlung, welche durch das Geschenk des Professors Haßhagen bedeutend vermehrt worden, sowie die Abtheilung der Botanik durch die Ueberlassung eines Herba­ riums des verewigten roirfl. Staatsraths v. Steven. Der zoologische Theil ist noch wmig vertreten. Die Entomologie entbehrt noch einer Sammlung, wie sie schon längst in Moskau durch die kaiserliche natur­ forschende Gesellschaft erlveitert ist. Wenn auch nicht in öffentlichen Räumen, so besitzen loir doch in unserer Nähe eine schätzbare, sehr zweck mäßig geordnete, leicht versendbare Sammlung von Käfern und Schmetter­ lingen aus allen Welttheilen, welche ein Mitglied gedachter Gesellschaft feit 40 Jahren unter Mitwirkung des Hrn. v. Steven in der Krim und

hervorragendes Interesse bewiesen hat. Schon zu Lebzeiten ist er als Verfaffer einer großen Anzahl Werke, sowie Herausgeber einer Anzahl Inedita auch im Auslande als Philologe Vortheilhaft bekannt gewor­ den: aber auch sein literarischer Nachlaß ist ein sehr bedeutender und umfaßt namentlich umfangreiche Porarbeiten zu größeren Werken. Wir vernehmen, daß ein dem Verstorbenen sehr befreundet gewesener Mann, der zur Zeit hier lebende Prof. Dr. Struve, mit der Herausgabe dieses Nachlasses betraut worden und daß von demselben auch eine aus­ führlichere Lebensskizze des Verstorbenen zu erwarten ist.

Wissenschaftliche Sammlungen in Bdessa. In der deutschen „Odessaer Zeitung" lesen wir: Unsere Stadt Odessa, welche sich auch durch ihren wissenschaftlichen Fortschritt in die Reihe der europäischen Städte stellt, >vo Wissenschaft und Künste blühen, sieht der Gründung einer Universität entgegen, in welcher die Haupt­ fächer der Wissenschaft vertreten sind. Schon das Lyceum besitzt außer einer ansehnlichen Bibliothek bedeutende Sammlungen physikalischer und technischer Apparate und Modelle. Wohlbesetzt ist im Bereich der Natur­ wissenschaften das chemische Laboratorium, die Ntineraliensammlung, welche durch das Geschenk des Professors Haßhagen bedeutend vermehrt worden, sowie die Abtheilung der Botanik durch die Ueberlassung eines Herba­ riums des verewigten roirfl. Staatsraths v. Steven. Der zoologische Theil ist noch wmig vertreten. Die Entomologie entbehrt noch einer Sammlung, wie sie schon längst in Moskau durch die kaiserliche natur­ forschende Gesellschaft erlveitert ist. Wenn auch nicht in öffentlichen Räumen, so besitzen loir doch in unserer Nähe eine schätzbare, sehr zweck mäßig geordnete, leicht versendbare Sammlung von Käfern und Schmetter­ lingen aus allen Welttheilen, welche ein Mitglied gedachter Gesellschaft feit 40 Jahren unter Mitwirkung des Hrn. v. Steven in der Krim und

Vermischtes.

342

im

Briefwechsel

mit

weiland Vicepräsident Fischer

v.

Waldheim in

Moskau,

Director Besser

Dresden,

Graf Mnischek in Berditschew und mit Sammlern in Wien,

Krzeminetz,

in

Hofrath

Reichenbach

Paris, Genf, Tiflis u. a. m. gut erhalten zusammengebracht, tend 3570 Coleoptera und

800 Lepidoptera.

ein wohlgeordnetes Herbarium

von Hrn. v. Steven geordnet.

der

in

enthal­

Derselbe besitzt zugleich

Flora Taurica atque Odessana

Der Besitzer, Hr. I. F. Bertoldy, wohn­

haft auf dem Landsitze des Hrn. Gogel (Torejia xyropi) bei der Moldavanka ist sehr bereitwillig, Freunden der Entomologie und Botanik in

den Nachmittagstunden seine Sammlungen zu zeigen, ist auch nicht ab­

geneigt dieselben zu verkaufen, sollte sich ein Liebhaber dazu finden.

Körner'» „Iriny" in Petersburg.

— An der Körnerfeier in Deutschland hat sich das deutsche Theater

in Petersburg gewissermaßen dadurch betheiligt, daß es das Trauerspiel „Zriny" zur Ausführung brachte.

Bei der deutschen Kritik hat es dort

nicht etwa sehr sympathischen Anklang damit gefunden.

Die Peters­

burger Zeitung schlägt sogar einen kritischen Ton an, der wie ein Mißton

in die Feststimmung fällt.

Sie weist dem dichterischen Heldenjüngling,

dem sie die nationalen Ehren gönnt, eine ganz untergeordnete literarische Stellung an.

Was sie über seine Dramen sagt, ist freilich, so hart es

klingt, nicht leicht zu entkräften, wenn man nicht auf die Jugend des Dichters größern Nachdruck legen und an Lessing's Ausspruch erinnern will, daß was im Gebiete der Tragödie selbst der begabteste Kopf unter

dreißig Jahren leistet, nur Versuche sind.

Entschieden unterschätzt aber

wird von dem Petersburger Referenten das lyrische Talent Körner's,

Vermischtes.

343

unter dessen Gedichten sich manche finden, die ihre Popularität nicht allein der «Stimmung jener bedeutungsvollen Periode zu danken haben.

Wenigstens gehören sie durch Innigkeit des Gefühlsausdruckes, rhythmi­ schen Fluß Lyrik.

und

volkSthümlichen Geist zu den

besten Gaben deutscher

Bibliographie. In russischer Sprache erschienen: Originalmerke. Adamantow, B.

Dissonanzen.

(/|nccoHancbl.

Gedichte.

Moskau, 1863.

C-TiixoTBopeni« 77. AdawaHmoea.')

Afanafsjew, A. Russische Volksmährchen.

Moskau, 1863.

(llapoßHbiH pyccKifl dhiBinaro ero jinuencKaro TOBapnu^a h ceKyHAaHHiia K. K. /Taw3(ica?)

Aufzeichnungen der Odessaer Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer. Fünfter Band.

Mit

sechs lithogr. Blättern.

1863.

Odessa,

II,

1010 S.

(3amicKll ÜAeccKaro oömecTBa HCTopin n ApesnocTen.) Dolgorukh, Fürst D. I. Klänge. Dichtungen. St. Petersb., 1863. (SflyKll. CTHXOTBopenia Kn. II. ^o^opyKazo.}

©riflorjcto, W.

Handbuch der Botanik.

Moskau, 1863.

(PyKOBOßCTBO KT> OOTaHHKh. Gurland, I.

VI, 555 S.

CocT. 1L FpuzopueebiMb.')

Der Einfluß der Philosophie des Mohammedanismus auf

die Religionsphilosophie des großen jüdischen Rabbinen Moses Mai­ monides.

St. Petersb., 1863.

(O B.liflHill 4»MJOCO4>ill Mycy’iBMaHCKoii pejinrin na njiocoiio pe.inriM BejHKaro eßpeficKaro paBBiina. Mohcch ManMOHHAa. Pascy^AOiiie lonu rypjimiöo^ Jessipow, G.

Die Zarin Eudoxia Feodorowna.

Mit Portr.

Moskau,

1863.

(Ifapmja EB^OKifl Oeo^opoBua.

Cou. P. Ecunoea.)

Kokscharow, N. Vorlesungen über Mineralogie. St. Petersb., 1863. .leKLfiii MMHepaJorili, 'ihtühhldi H. KomuapomiMZ.') Lamansky, W. Michael Lomonossow. Biographische Skizze. St. Petersb-, 1863.

(Mnxaii.il» BaciMbCBH'i'b JoMOiiocoB'b. EiorpaH^iecKin O’iepKT.

Co'i. Bji. JEuMaitCKazo.')

Michailow, M. M., Dr jur.

Die Kriegsgesetze.

St. Petersb., 1863.

2 R. 50 K.

(BoeHHbie 3aKOHbi. Kypci> AOKTopa lopHAH^ecKuxi, nayKi» M. M. MuxauMiea.)

Minajew, D. D.

Meditationen, wieder und satyrische Gedichte.

St. Pe­

tersburg, 1863. (^yubf n nticiiii /I. 4- Mujiaeea.)

Ramasanow, R.

Viaterialiea zur Geschichte der Künste in Rußland. Moskau, 1863. 2 R. (Marepia^bi a.ih ncTopin xy^oacecTBi» bt> Poccin. TL Pa-

Erstes Buch.

AiajuHo&a.')

Rantschewskh, Dr. A. Oeffenlliche Borträge über den Bau und die Functioiien deo menschlichen Körpers.

Tiflis 1863.

(OöinecTBeHHbJH .lebniii o CTpoenin

h

1 R. OTnpaBjreniM nejio-

Btqeckaro T'hJia, 4-pu A. PanveecKCteo.) Allgemeine klinische Belehrung über daS Fieber und den sogenannten fieberhaften Zustand. St. Petersb., 1863. VII, 277 S. 1 R. 50 K. (Oöiifee KJHiiiriecKoe y^eiiie o ropasKi h ropaueaHOMT, HJiM TaKrb iiaaußaeMOMi» jHxopaAoaHOMi. cocToairiH. Hsjiar. 4,-pT> C. 3aMbC('h'iu.)

Saläfsky, F.

Smirnow, I

Bemerkungen zu Sallust's zwei Büchern de conjuratione Catilinae und de bello Jugurthino. Moskau, 1863. 239 S. (slpiiMl»viaHia na Aßt khiifh CajaiocTia de conj. Cat. m de bello Jug. Coct. Ji. CMUpHoe^.')

Solowjew, S.

Lehrbuch der russischen Geschichte. 4. Aufl. Moskau, 565 S. 1 R. 25 K. (yqeÖHaa KHiira pyccKon ncTopin. Con. C. Cojioewea.')

1863.

Suworin, A. Serums, der Eroberer Sibiriens. Moskau, 1*863. EpMaKTb TMMoeeeBiiHi, noKopHTeab Cu6upu. PaacKaai» A. CyuopuHa.')

Tschurin, P. Beschreibung des russischen Reiches. (OmicaHie pocciilcKaro rocy^apcTBa.

Irkutsk, 1863. Coct. II. LypuHi.)

346

Bibliographie.

Aekersetzungen. Bukle, Geschichte der Civilisation in England. und Th. Nenarokomow.

Uebers. von A. Buinitzky

St. Petersburg, 1863.

Daniel, Lehrbuch der Geographie.

Uebers. von A. Korsak.

Moskau,

1863.

Fischer, Kuno. Strachow.

Geschichte

der

neueren Philosophie.

Uebers.

Gervinus, Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Red. von M. Antonowitsch.

N.

St. Petersb.,

Uebers. unter der

1863.

Nach der dritten Ausgabe übers, von Konstantin

---------- Shakespeare.

St. Petersb., 1863.

Timofejew.

Kettner, K., Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. A. Püpin.

von

St. Petersb., 1863.

Uebers. von

St. Petersb., 1863.

Humboldt, Alexander V., Kosmos.

Uebers. von Mathias Gussew.

Moskau, 1863.

Kühner, R.

Lateinische Grammatik.

Uebers. von Kossowitsch.

St.

Petersb., 1863.

Maeaulah, sämmtliche Werke. Uebers. von Dunschan. St. Petersb., 1863. Mignet,

Leben Franklins.

Uebers.

von

Iwan Perewoschtschikow.

St. Petersb., 1863.

Schmidt, Julian, Geschichte der franz. Literatur.

Uebers. von I. Dol-

gomostjew.

Druck von E. Blochmaun und Sohn in Dresden.

Der Tod Omans des Schrecklichen. Trauerspiel in fünf Auszügen

von

Alexin G r:r js t n Uo ljt o y. Deutsch von Karoline Pawlow.

Erster und zweiter Auszug.*)

Pi k r s ii n f n. Jwan (Wassiljewitsch) IV., Zar von Rußland. Sacharin Jurjew (Nikita Romanowitsch), Bruder der ersten Gemahlin Jwan's.

Fürst Mstislawsky Fürst Jchujstu).

Belsky.

Fürst Galizin.

Fürst Stscherbatow. Fürst Trubezkoy.

Mitglieder des Bojaren-

rathes.

Saltikom.

Jcheremetew.

TaUschtschew. Fürst Sizky.

Nagoy (Michael), Bruder der Zarin Maria,

letzten

Gemahlin Jwan's. Godunow (Boris Fedorowitsch).

Nagoy (Grigorij), zweiter Bruder der Zarin Maria, Kümmerer des Zaren. Ein Bote aus Pskow.

Ein Kämmerling.

Ort der Handlung: Moskau im Jahre 1584.

*) Durch eine besondere Gunst des Zufalls sind wir in den Stand gesetzt, einen Theil dieser eben erst vollendeten Tragödie noch vor deren Erscheinen in

«usflsche Revue, n.

5. Heft. 1863.

24

348

Der Tod Jwan's des Schrecklichen.

Erster Aufzug. Bojarenrath. Beim Aufgehen des Vorhangs Lärm und streitende Stimmen. Auf den Bänken, die sich längs der Wände hinziehen, sitzen die Bojaren. Auf der Mittelbank Fürst Mstislawsky, Sacharin Jurjew und andere ältere Rathsmitglieder; die jüngere» nehmen die Seitenbänke ein. An dem Ende der rechten Seitenbank, hart am Proscenium, sitzt Boris Godunow. Links steht Michael Nagoy vor Saltik ow, hat ihn beim Arm gefaßt und sucht ihn wegzudrängen.

Nagoy.

Ich bin des Zaren Schwager! Nicht gebührt sich^s, Daß ich geringer als ein Saltikow Hier sei............

Saltikow. Hinweg, Unsinniger! Zurück!

Dein Ahn stand bei dem meinigen im Dienst Als Haus- und Tischgenoß.

Nagoy. Das ist nicht wahr; Ein solcher Dienst ist nie versehen worden

Im Saltikow'schen Haus.

Jst's lange her,

Daß du Bojar geworden? Sitzest du Deshalb in unserer Reih', weil mit Galizin Dein Ohm dem König Polozk ausgeliefert? russischer Sprache dem deutschen Publikuur vorzulegen.

Nachdem Graf Alexis

Tolstoy mit so außerordentlichem Glück eine poetische Darstellung der Epoche Jwan's des Schrecklichen in seinem jüngst erschienenen Roman „Fürst Serebränny" ver­ sucht hatte, entwarf er von der barbarischen Größe derselben Epoche ein drama­ tisches Gemälde, das er während seines kürzlichen Aufenthaltes in Dresden zur Ausführung brachte. Hier, wo der liebenswürdige Dichter warme Freunde und Verehrer zurückläßt, wurde das neue Werk von der in diesen Blättern schon rühmend genannten Uebersetzerin seines „Don Juan", Frau Karoline Pawlow, unter den Augen des Verfassers in's Deutsche übertragen, und so tritt es denn, wie es auf deutschem Boden entstanden ist, auch zuerst in deutschem Gewände vor die Oeffentlichkeit. Ob es in der Heimath des Dichters gleiche Theilnahme finden wird, wie der vorausgegangene in volksthümlichem Geiste gehaltene Roman, der sich die Popularität trotz aller kritischen Angriffe eroberte, ist schwer zu entscheiden; daß eS aber an kunstvoller Concentration, historischem Styl und scharfer Charak­ teristik jenen Roman wohl übertrifft, sei immerhin gesagt, — wenn auch nur als Ausdruck einer Meinung, welche der Kritik nicht vorgreifen will. D. Red.

Der Tod Jwan's des Schrecklichen. Galizin. Das lügst du; ich vertheidigte das Vorwerk;

Wer in der Stadt sich hielt, das war Stscherbatow. Stscherbato w.

Nein, Fürst, du sprichst, was nicht gebührlich ist;

Ich lasse mich nicht schelten.

Damals schlugen

Dreimaligen Sturnl zurück wir in vier Tagen,

Und hättest du dich länger nur gehalten,

Wär^ Hülfe uns gekommen, und im Rücken Gefaßt, hätt' uns der Feind die Stadt gelassen. Galizin. Ist mein die Schuld, wenn dazumal die Führer Die uns Verstärkung brachten, statt sofort Die Feinde hinterrücks zu überfallen,

Wie Noth es that, sich um den Vorcailg stritten

Drei Tage lang?

Nagoy (frer von Saltikow nicht abläßt).

Ich bin deS Zaren Schwager!

Bei seiner Hochzeit ging ich allen Andern

Boran im Zug und trug das Fürstenbrod.

Saltikow.

Und ich die Schussel mit der goldnen Schale. Mein Vater war im Zarenhaus betraut Mit Würd' und' Amt.

Welch Amt versah der deine? —

Das ist was Rechts, daß durch das siebente Ehweib des Zaren du sein Schwager bist. Nagoy. Die Schwester schmähe du mir nicht! Saltikow. Ich schmähe

Sie nicht; trotz allem ist sie aber doch

Des Zaren siebente Gemahlin nur. Sein Schwager!

Sieh einmal! Er hat der Schwäger

Gar viel gehabt; Fürst Michael Tscherkasky

349

350

Der Tod Jwan's des Schrecklichen.

War's auch und war dabei auch Heereshauptmann Und wohl ein größerer Herr als du — und wurde

Doch auf den Pfahl gespießt. Nagoy.

Der Saltikow's Hat man wohl wen'ge hingerichtet?

Wahrlich,

Mich nimmt es Wunder, daß sich das Geschlecht

Erhalten hat.

Sacharin Jurjew. Bojaren!

Was beginnt ihr?

Besinnt euch; denkt des Orts, an dem ihr seid.

Ist solches Thun geziemend? Nagoy (zu Saltikow).

Ich verklage Beim Zaren dich!

Saltikow. Nun so verklag' mich denn

Beim Zaren, daß er dich mir liefern möge

Mit Gut und Blut. Sacharin Jurjew. Bojaren, laßt das Streiten;

Wie weit soll's geh'n? Du, Fürst Mstislawsky, bist Der erste hier im Rath, red' ihnen zu!

Mstislawsky.

Ich hab's versucht, Bojar; sie hören nicht,

Wie ganz von Sinnen schreien sie.

Sacharin Jurjew (tritt vor).

Bojaren!

Habt ihr vergessen, was uns hier vereint? Wie?

Ist es möglich?

Jetzt, nachdem der Zar

Die Schuld des Sohnesmords auf sich geladen,

Und nun, von tiefer Reu' erfaßt, der Welt Entsagen will, und seinen zweiten Erben, Den Fürsten Fedor, dessen Siechthums wegen,

Der Tod Jwan's des Schrecklichen. Nicht für befähigt hält des Herrscheramts, Und uns gebot, den Würdigsten zu wählen, Den er betran'n will mit der Zarenmacht —

Jetzt, da zugleich der Feind uns rings bedrängt, Und Hungersnoth und Pest das Reich verwüsten,

Jetzt streitet ihr im Rath euch um den Vorrang, Und um den Platz, auf dem ihr sitzen sollt? —

Bojaren! Hört aus mich!

Besinnt euch! UnS

Thut gutes Einverständuiß Noth; wir müssen Jetzt einig sein und fest zusammenhalten, Daß Rußland nicht zu Grunde geh'. Laßt sämmtlich Für heute denn auf's Vorrecht uns verzichten

Und zu der schweren Wahl nun schreiten, ohne Rangordnung. Scheremetew.

Sei's; ich bin's zufrieden. Alle. Ohne

Rangordnung! Ja! So sei es! Sacharin Jurjew. Fürst Mstislawsky!

An dir ist's, die Berathung zu eröffnen. Mstislawsky. Bojaren! Ihr vernahmt, was jetzt Nikita

Romanowitsch gesagt.

Wie schwer es uns

Auch fallen mag, wir müssen uns dem Willen Des Zaren unterwerfen.

Lasset uns

Die Stimmen sammeln. Schujsky. Mit Verlaub, Bojar:

Ist dies Geheiß des Zaren letztes Wort?

Sind alle Bitten, es zurückzunehmen, Denn auch erschöpft? Mstislawsky. Sie sind's; ich und Nikita

351

352

Der Tod Jwan's des Schrecklichen.

Romanowitsch und Godunow und Belsky Beschworen ihn. Belsky. Zu seinen Füßen knieten

Vergebens wir; noch heut' die Wahl zu treffen

Gebot er, und zu ihm uns zu begeben Mit dem von uns bestimmten Zar. Trubezkoy.

Mir graut's! Galizin.

Ich glaub's noch nicht. Mstislawsky.

Ich wollt' es auch nicht glauben, Bis, stampfend mit dem Fuß, er uns befahl,

Gleich zu berufen den Bojarenrath.

Saltikow. Hätt' er mir anbefohlen, ohne Panzer Auf hundert Feindesspeere loszugehen,

Mir wäre wohler als auf dieser Bank.

Stscherbatow. Weiß Gott, mir war es vor drei Jahren besser

Zu Muth, da wir, vom Feind umzingelt, uns In Narwa hielten, und vor Hunger Riemen

Und Sattelleder aßen. Schujsky (zu Mstislawsky). Und du sagst, Daß er im Zorne mit dem Fuß gestampft?

Mstislawsky. Ja wohl.

Schujsky. So wird er, wenn wir uns nicht fügen, Uns zürnen?

Mstislawsky. Mich durchbebt es, dran zu denken.

353

Der Tod Jwan's des Schrecklichen.

Trubezkoy.

Nun — wenn^s sein Will' ist — Stscherbatow.

Ja, dann dürfen wir Uns ihm nicht widersetzen. Scheremetew.

Freilich nicht.

Tatischtschew (ein Greis). Um Ostern wird's nun zwanzig Jahre sein,

Da war der große Zar gewillt wie heute, Der Herrschermacht sich zu entäußern; nahm

Sein Gut und Hausgeräth, und mit der Zarin, Dem Kinde Fedor und mit dem Zarewitsch Iwan (Gott hab' ihn selig!) zog er aus

Dem Kreml hinaus auf seinen Landsitz.

Was nun

Beginnen, wie des Volks Erregung stillen? Wir sannen lange, und beschlossen endlich

In dem Bojarenrath, zum Zar zu gehen

Und unser Leid itnb Drangsal ihm zu klagen. Also geschah's.

Mit finsterm Blick empfing

Der Zar uns, wollt' uns anfangs gar nicht hören. Des Trotzes der Bojaren sei er müde,

Und habe, sagt' er, abgelegt auf immer Der Krone Last; dann ward er gnäd'ger, Und endlich gab er unsern Bitten nach,

Zog wieder ein in Moskau und bestieg Aus's Neu' den Zarenthron —

Sizky.

Und gründete Die Ausnahmsschaar — wir haben sie bis jetzt Im Angedenken. Tatischtschew.

Eine Zeit der Schrecken,

Der blut'gen Gräuel war's, daß Gott erbarm'! Doch ohne Zar wär's schlimmer noch gewesen,

354

Der Tod Jwan's des Schrecklichen. Das Volk hätt^ uns gesteinigt; in Empörung

Gerathen wär' ganz Rußland und erlegen Den Polen, den Tataren und den Deutschen,

Denn uns gebracht an Eintracht ganz und gar. Sizky. Beneidenswerth ist unsre Eintracht jetzt!

Schujsky (zu Tatischtschew). Was sollen wir aus dem von dir Gesagten

Denn schließen?

Tatischtschew. Daß der Zar vielleicht auch jetzt Nachgeben wird, wie damals, wenn wir Alle

Ihn anflehn.

Mstislawsky. Nein, Bojar, jetzt ist es anders;

Der Zar ist nicht mehr, wie er sonst gewesen; Er ist geschwächt an Körper und an Geist. Den Schlaf nicht kennend. Speis' und Trank verschmähend,

Mattblickend, abgezehrt, weilt unter uns

Er scheinbar nur; sein Denken und sein Sinnen Ist abgewendet von dem Thun der Welt. Nicht Unwill' ist's und Zorn, wie dazumal,

Es ist die Reu', die ihn vom Throne treibt. Sacharin Jurjew.

Ja wohl.

Er gleicht sich nicht mehr.

Kurz bevor

Sich jenes Unglück zugetragen, schrieb

Er einen Brief an Kurbsky, den Verräther, Schalt ihn mit harten Worten, und verlas Sein Schreiben uns, und Antwort aus Litthauen

Erwartet' er, und zitterte vor Grimm Bei dem Gedanken.

Jetzt hat er auch Kurbsky

Vergessen, will nichts wissen mehr vom Krieg,

Und mild ist seine Red' und sein Gemüth.

Der Tod Jwan's des Schrecklichen.

Schujsky.

Nicht vorzuschreiben haben wir dem Zaren,

Sein Zorn und seine Gnade kommt von Gott. So wollen wir das Kreuz denn auf uns nehmen,

Das uns der Himmel auflegt.

Laffet uns

Nach unsrer Einsicht wählen.

Alle. Laßt uns wählen.

plllgemeinetz Schweigen.) Mstislawsky.

Wen denn, Bojaren?

Stscherbatow. Der Gewählte muß

Von hoher Herkunft sein, vom Stamme Rurigs, Und über Allen stehn, nach Fug und Recht, Auf daß sich Alle willig vor ihm beugen.

S i z k y (vortretend). Nein, nicht die Herkunft, das Verdienst entscheide, Das große Herz bestimme unsre Wahl.

Bojaren, laßt den Würdigsten uns nehmen;

Nicht weit zu suchen habt ihr ihn, Nikita Romanowitsch Sacharin steht vor euch. (Gemurmel. Sizky fährt fort.)

Am blut'gen Throne weilt er dreißig Jahre

Und bleibet rein; von den Geächteten Das drohende Verderben abzuwenden Müht' er sich stets; oft hat sein kühnes Wort

Unschuldige zu Tausenden gerettet,

Wenn über ihrem Haupt das Beil schon blinkte.

Sich selber schont er nie, dem Tode sah er Jn's Auge, und zum allgemeinen Staunen

Berührte nicht der Tod dies edle Haupt;

Und vor uns liegt sein ganzes Leben leuchtend Und fleckenlos, gleich einem Schneegefild.

395

356

Der Tod Jwan's des Schrecklichen.

Biele Stimmen. Sacharin! ja, Sacharin laßt uns wählen!

Wir wollen es! Sacharin werde Zar! Trubezkoy.

Vom Tadel rein ist der Bojar Sacharin,

Wer sagt das Gegentheil?

Es geben Alle

Ihm Ehre nach Verdienst; jedoch er ist

Nicht fürstlichen Geschlechts, und uns geziemt nicht, Den Enkeln Gedemins, ihm zu gehorchen.

Schujsky. Noch weniger uns geziemt's, den Enkeln Rurik's. Galizin.

So ist's, er ist nicht Fürst, er darf als Herr

Nicht stehen über unS. Sizky.

Er ist nicht Fürst, Doch anverwandt dem Zaren.

Nagoy.

Anverwandt

Dem Zaren bin ich auch. Saltik ow. Er ist der ersten

Gemahlin Bruder, du der siebenten. Sacharin Jurjew.

Um mich, Bojaren, streitet nicht!

Ich danke

Dir für die Ehre, die du mir erwiesen, Fürst Sizky; auch den Andern dank' ich — (Er verbeugt sich vor einigen Bojaren)

aber Ich hätt's nicht angenommen, wenn ihr alle Mich auch gewollt, ich hätt's nicht angenommen. Ich bin zu schlicht, Bojaren; Gott hat mir

Die Herrscherkunst nicht zugetheilt; es sind

Der bessern Männer viele unter euch. Wenn's mir gelang, dem Vaterland zu nützen,

Der Tod Jwan's des Schrecklichen.

357

Die Gnade Gottes war^s, nicht mein Verdienst. Doch wollt ihr meinen guten Rath, so weiß Ich Einen, der an Herkunft Keinem weicht.

Und Alle überragt an Kriegesruhm Und Willenskraft: es ist der Heereshauptmann, Der edle Fürst Iwan Petrowitsch Schujsky, Der jetzt, belagert von Bathory's Schaaren, In Pskow sich hält.

Erwählet ihn!

Vor diesem

Sich beugen ist für Keinen eine Schmach.

Scheremetew. Ihn können wir nicht wählen; Pskow belagert

Vier Monat^ schon der König nicht umsonst;

Und bis zum Tod will Fürst Iwan Petrowitsch Sich halten in der Stadt, und hat's gelobt Sammt seiner Mannschaft auf das Kreuz des Herrn!

Gott weiß, wie lang noch die Belagerung währt: Ein jeder Weg nach Pskow ist abgeschnitten; Und warten läßt sich, nicht, es kann das Land

Nicht herrenlos auch eine Stunde bleiben.

Schujsky. Was thun wir denn? Mstislawsky.

Ich weiß es nicht, Bojaren. Sacharin Jurjew.

Boris Feodorowitsch Godunow, Warum sprachst du kein Wort? — In schwierigen Fällen

Hast oft du Rath gewußt.

Sag^ deine Meinung.

Boris Godunow

(aufstehend).

Steht es mir zu, mein väterlicher Freund, Jetzt, da die Weisesten von euch den Ausweg

Vergebens suchen, meine schwachen Worte

Hier einzumischen?

Zwar es kann sich treffen,

Daß Einer mit einfältigem Sinne das sieht, Was der Verstand der Klügsten nicht bemerkte;

358

Der Tod Jwan's des Schrecklichen. Und wenn ihr mich nun sprechen heißt, Bojaren, So will ich euch denn sagen...............

Stimmen. Lauter! Lauter! Man hört nicht! Boris Godunow.

Mir, Bojaren, will es scheinen Stimmen. Man hört nicht! Lauter!

Sacharin Jurjew.

Warum hast du denn, Bojar, den fernsten und den letzten Sitz

Hier eingenommen?

Weißt du nicht den Platz,

Der dir gebührt? Man hört nicht, was du sprichst.

(Er nimmt ihn bei der Hand und führt ihn zur Dank in der Mitte.) Tritt näher! Hierher tritt; hier mußt du sitzen. Boris Godunow

(sich nach allen Seiten hin verneigend). Bojaren! Ihr, die Enkel großer Ahnen! Ihr Fürsten, vom Geblüt der heldenmüth'gen Warägerfürsten, unserer Beherrscher!

Denkt nicht von mir, ich könnte je vergessen, Daß ich der letzte bin, der schlechteste Bon Allen hier; daß mir den Sitz int Rath

Des Zaren Gunst nur gab, nicht eigner Werth. So oft ich sprechen muß vor euch, erfaßt mich

Furcht und Verwirrung; euch würd' ich auch jetzt

Richt hören lassen meine schlechte Rede,

Wenn ihr's nicht selbst verlangt und mir befohlen. Saltikow. Wo will er nur hinaus?

Sizky.

Er kriecht und schmeichelt, Der Fuchs!

Saltikow. Und kam doch obenan zu sitzen.

Der Tod Jwan's des Schrecklichen.

359

Nagoy. Hal wohl umsonst sich unten hingesetzt! Biele Stimmen. St! — Still da! — Still! — Laß hören, waS er spricht — Boris Godunow.

Ihr wißt, Bojaren, welche schwere Zeiten Gekommen sind für's Land; Bathory nimmt

Uns Stadt nach Stadt; Uswjat ist sein geworden,

Und Polozk und Welisch, und jetzt umlagert Mit zahllosen Geschwadern er der Russen

Bolksthümlichen Besitz, das alte Pskow. In Lievland fiel der Schwed' indessen ein,

Und setzt auf unsere Grenze seinen Fuß;

Und dort von Osten und von Süden her

Kommt der Tatarenchan mit seiner Horde, Und dringt in'ö Innere des Landes; Seuche Und Hungersnoth vermehren überall Des Volkes Elend — und das Maß zu füllen,

Droht uns der Tscheremissen Meuterei.

Bojaren!

Ist in solcher Zeit der Drangsal

Und der Erschütterung des ganzen Reichs An eine neue Zarenwahl zu denken? Gesetzt, ihr fändet Einen euch nach Wunsch,

Seid ihr gewiß, daß er dem ganzen Lande Willkommen sein wird? Und wenn nicht? — Und wenn es

Zum Aufstand käm' im Volk?

Wie dann, Bojaren?

Sind stark und einig wir. genug, den Feinden,

Die uns von außen drohen und von innen, Mit festem Widerstande zu begegnen?

Es liegt in der Gewohnheit große Kraft; Ein halb Jahrhundert schon herrscht über uns

Iwan Wassiljewitsch — und wir erfuhren

Abwechselnd seinen Zorn und seine Gnade In dem Verlaufe dieser langen Frist;

360

Der Tod Jwan's des Schrecklichen.

In den Gemüthern aber eingewurzelt Hat tief sich des Gehorsams Angewöhnung

Und seines Namens schreckende Gewalt. Bojaren! Unser Halt ist dieser Name Und unsre einz'ge Schutzwehr.

Selbst zu denken

Und selbst zu handeln, sind wir längst entwöhnt; Wir sind kein Ganzes mehr, kein fester Körper; Die Macht, die uns zerstückelt hat, sie ist Die Macht auch jetzt, die uns zusammenhält, Das Band, das die gelösten Theile bindet:

Es sei hinweggethan — und sie zerfallen! Uns bleibt ein Rettungsmittel nur, Bojaren:

Sofort uns zu dem Zaren zu begeben.

Und nochmals insgesanlmt, auf unsern Knieen

Ihn anzuflehn, er woll' aufs Neu besteigen Den Herrscherthron und Rußlands Stütze sein. Viele Stimmen.

So ist's! Wir sind verloren, wenn der Zar Iwan nicht Herr bleibt. — Ja, wir sind verloren!

Mißhelligkeit wird's geben, wer ihn auch

Ersetzen mag.

Das Volk wird sich empören.

Belsky. Das ist gewiß; kein Andrer als Iwan Wassiljewitsch kann unser Zar jetzt sein.

St im men. Und wer auch sonst? — Sacharin? — Ja, das fehlte! Selbst Schnjsky wollen wir zum Herrn nicht haben. —

Nein, lieber lasset uns zum Zaren gehen;

Er ist rechtmäß'ger Herrscher, ihm gehorchen, Erniedrigt nicht. — Ja, laßt uns gehn zum Zaren —

Laßt insgesammt ihm unsre Bitte bringen! — Sizky (vortretend).

Bojaren! Wollt ihr euch an Gott versünd'gen! Besinnet euch! Vergaßt ihr, wie Iwan

Der Tod Jwan's des Schrecklichen.

Wassiljewitsch regiert? — Was sind die Schweden, Was sind die Polen und Tataren alle.

Mit ihm verglichen? — Was hat Hungersnath

Und Pest zu sagen, wenn der Herrscher selber Im Lande wüthet, wie ein reißend Thier! — Schujsky. Was faselt er?

Er schmäht den Zar! Mstislawsky.

Fürst Sizky! Du bist von Sinnen!

Sizky.

Nein, du bisse, ihr Alle

Seid hier von Sinnens Ist von euch ein Einziger, Deß Vater oder Bruder oder Freund 'Nicht dieser Zar getödtet? — Herzempörend Ist, was ihr thut. — Ich hätte still geschwiegen,

Wenn er nicht selbst der Macht entsagen wollte. Ich kenne das Gebot so gut als ihr;

Ich ruf' euch nicht zum Ausruhr; er, er selbst Will nicht mehr wüthen jetzt und nicht mehr morden,

Mönch will er werden, Rußland will er endlich.

Aufathmen lassen. — Und ihr nehmt euch vor, Ihn anzuflehn, daß er noch länger morde!

Boris Godunow. Fürst, uns geziemt nicht, solches anzuhören; Du sprachst im Zorn; Angeber sind hier nicht

Zu fürchten, denk' ich.

Uns bleibt kein Ausweg.

Dir erwiedr' ich nun: Wo zwei Uebel drohen,

Wer wird Bedenken tragen, das geringere Der beiden zu erwählen.

Was ist besser:

Rußland in Feindeshand zu sehen?

Geknechtet vom Tatarenchan?

Moskau.

Die Schändung

Der Kirchen Gottes — oder mit Ergebung

36t

362

Der Tod Jwan's des Schrecklichen. Den vom Allmächtigen uns gesandten Zar

Ertragen, wie bisher?

Ist unser Kopf

Denn mehr uns werth als unser Vaterland? — Noch sag ich eins: Wahr ist^s, der große Zar Hat streng regiert und schonungslos gestraft, Doch nun ist diese Zeit vorbei: du hörst,

Sein Herz hat sich erweicht, sein Sinn geändert.

Und wenn die Herrschermacht von Neuem jetzt Er in Empfang nimmt, wird er nicht dem Lande,

Nur desien Feinden wird er schrecklich sein. Viele Stimmen. Ja, ja! So ist es! Godunow hat Recht! —

Sijky (zu Bvris).

Bojar, ich weiß, einschmeichelnd kannst du sprechen, Vergolden kannst du, mit geschmeidiger Zunge, Da-, was dir frommt; doch mich betrügst du nicht.

Ich, ich durchschaue dich.

Was dich bekümmert,

Ist Rußlands Zukunft nicht, die gilt dir gleich; Du fürchtest deinen Einfluß zu Verlierer!, Wenn sich Iwan der Macht begiebt, und Fedor,

Sein Sohn, nicht zur Negierung kommt. — Bojaren! Wahrt euch vor diesem!

Euch betrügt er Alle.

Weich bettet er zum Schein, doch liegt fidj'S hart.

Er ist der Tochtermann des Wütherichs Maljuta, Menschenblut sah er vergießen

Gleichgültigen Blicks, und gern wird er von Neuem

Es fließen lassen, wennGewinn ihm bringt. Boris Godunow.

Bojaren! Euch zu Zeugen nehm' ich alle, Den Vorwurf habi ich nicht verdient;

ihr wißtiK,

Ob ich'- nicht war, der bittre Thränen weinte Um das vergoss'ne Blut, der mit Sacharin

Um Gnade bat für die Geächteten?

363

Der Tod Jwan's deS Schrecklichen.

Ihr wißt's, ich strebe nicht nach Macht; auf euer

Begehren sagt' ich heute, was mein schwacher Verstand mir eingiebt; doch ich kann mich irren,

Bojaren, älter ist als ich und klüger Fürst Sizky.

Wenn ihr seiner Meinung seid,

Werd' ich mit euch jetzt den Bojar Sacharin Zum Zaren wählen — oder wen ihr wollt. Biele Stimmen.

Nein! Nein! Sacharin wollen wir nicht haben! Boris Godunow. Vielleicht, Bojaren, stimmt ihr für Mstislawsky?

Viele Stimmen. Nein! Nein! Wir steh'n ihm nicht an Herkunft nach! Nein, nicht Mstislawsky!

Boris Godunow. Oder ist es Schujsky,

Bojaren, den ihr wollt? Viele Stimmen. Auch Schujsky nicht!

Wir wollen keinen Andern als Iwan Wassiljewitsch! Er herrscht nach Fug und Recht — Nur er soll unser Zar sein!

Sizky. Geht denn, geht

Zur Schlachtbank hin, wie eine Heerde Schafe!

Ich habe hier bei euch nichts mehr zu thun.

(W )

(Stimmen laut durch einander.)

Geschrei.

Er ist ein Meuterer! — Den ganzen Rath Hat er beleidigt! — Er will klüger sein Als Alle! — Will sich Allen widersetzen! Russische Revue, n. 5. Heft. 1863.

25

364

Der Tod Jwan's des Schrecklichen. Boris Godunow. Erzürnt euch nicht, Bojaren, und verzeiht ihm;

Er sagte, was er meint.

Habt ihr^s beschlossen

Jedoch in eurer Weisheit, zu dem Zaren Zu gehn, so thut es jetzt.

Uns frommt kein S-umen.

Sacharin.

Wär' nicht das Vaterland bedroht, ich würde

Mich nicht dazu verstehn; mir ist's nicht lieb; Allein in solcher Zeit ist das Erschüttern

Des Throns gefährlich.

Du sprachst wahr, Boris,

Zum Zaren müssen wir; uns bleibt nichts Andres.

Mstislawsky.

Wer wird das Wort dann führen? Sacha rin.

Du, Bojar, Wer sonst?

Dir steht es zu.

Mstislawsky.

Ich kann es nicht;

Der Zar hat ohnhin mir heut gezürnt.

Stimmen. Laßt Schujsky sprechen!

Schujsky.

Ich kann's auch nicht thun. Ausdrücklich anbefohlen hat er mir,

Nicht anders als mit einem neuen Zar Bor ihn zu treten.

Sacharin. Jst's euch recht, Bojaren, So werd ich sprechen; mich schreckt nicht sein Zorn, Mich schreckt des Vaterlands Verderben.

Der Tod Jwan's des Schrecklichen. Boris Godunow. Nein,

Mein väterlicher Freund, du sollst dich nicht Der Acht aussetzen; überlaß es mir,

Das Wort zu führen.

Ich bin der Geringste

Von euch; an mir liegt nichts.

Laß mich denn sprechen,

Und es gescheht mit mir, was Gott bestimmt.

Mstislawsky.

Kommt denn, Bojaren, Godunow soll sprechen; Er wird^s geschickter thun, als jeder Andre. (Die Bojaren gehen mit Mstislawsky ab.)

Saltikow (im Abgchen ju Galizin).

Und Sizky sprach doch wahr: der Godunow

Sucht jede Möglichkeit, emporzukommen. Galizin.

Der Letzte war er anfangs, und am Ende Ward er der Erste. Scher emctew.

Und wir sollten ohne Rangordnung, hieß es, heut im Rathe sein.

Trubezkoy. Gieb Acht! bald wird er höher stehn als Alle. (Borhang fällt.)

365

366

Der Tod Jtvan's des Schrecklichen.

Zweiter Auszug. Das Gemach des Zaren. Iwan, blaß und abgezehrt, in schwarzer Mönchskleidung, den Rosenkranz in der Hand, sitzt in einem Lehnstuhl. Auf einem Tische neben ihm liegt die Krone Monomach's und daneben das Krönungskleid der Zaren. — Grigorij Nagoy steht ihm zur Seite und bietet ihm einen Becher.

Nagoy.

Herr!

Wolle dich nicht weigern, eing'e Tropfen

Des Weines zu genießen.

So viel Tage

Erschöpfst du dich mit Fasten; keinen Bissen

Hast du zu dir genommen. Iwan.

Nicht vonnöthen

Dem Leib ist Nahrung, wenn die Seele voll

Betrübniß ist.

Mich nähret meine Reue. Nagoy.

Mein hoher Herr!

Und bist du denn gewillt,

Dich in der That uns zu entziehen?

Wie wird's

Der Zarin, wie wird's dem Zarewitsch Dmitri

Alsdann ergehn?

a n.

Gott wird sie nicht verlassen. Nagoy. Und wer ist, der das Reich regieren könnte? Wer außer dir? Iwan.

Verharscht*) ist mein Verstand; Schwer ist mein Herz; nicht mehr die Zügel halten

♦) Dieser seltsame Ausdruck, zuläßt, da auch das russische Wort buchstäblich im Testamente Jwan's besonderen Werth darauf legte, das

der auch im Original keine andere Bedeutung nur von Wunden gebraucht wird, findet sich des Schrecklichen, w.eshalb der Dichter einen Wort unverändert beizubehalten.

Kann meine Hand.

Zur Strafe meiner Sünden

Hat Gott den Heiden schon die Kraft gegeben Uns zu bewältigen, und mir gebeut Er,

Den Thron, der mir geworden, einem Andern Zu überlassen.

Meine Frevel sind

Zahlloser denn der Sand am Meer; ein Bluthund, Ein Wüstling, ein verruchter Kirchenschänder,

Hab' ich die unermessne Langmuth Gottes Durch meine letzte Missethat erschöpft!

Nagoy. Du suchst dein unfreiwilliges Vergehen

2m Geiste zu vergrößern, Herr.

Du wolltest

Nicht den Zarewitsch tödten; Zufall war's, Daß ihn dein Arm so schwer verletzte.

Iwan. Nein,

Das ist nicht wahr: mit Wissen und mit Willen

Erschlug ich ihn; mein Vorsatz war es, ihn

Jn's Herz zu treffen. Die Hand nichr mehr?

Meinst du, mir gehorche Wie?

Oder bin ich etwa

Blödsinnig schon geworden, daß ich selbst

Nicht wußte, was ich that, als ich ihn schlug? Ich wollt' ihn tödten.

Blutend sank er hin

Und küßte mir die Hände und vergab

Mir sterbend meine schwere Schuld.

Ich aber,

Ich selbst kann diese Schuld mir nicht vergeben. — (Leiser.)

Ich hab' ihn heute Nacht geseh'n.

Er trat

Zu mir und winkte mit der blut'gen Hand Und hieß mich mit ihm geh'n in's heil'ge Kloster

Am weißen See, wo die Gebeine ruhn Des wunderthät'gen Märtyrers Kyrillus.

Dort liebt ich's früher auch, dem Wellgetöse

Mich zu entziehn; den eitlen Sorgen fern,

Liebt ich's, zu träumen dort von künft'ger Rast,

368

Der Tod Jwan's des Schrecklichen. In stiller Einsamkeit der Menschen Undank,

Und meiner Feinde Ränke zu vergessen.

Erquickend war es mir, in enger Klause Nach einem langen Hochamt auszuruh^n,

Am Fenster sitzend, in der Abendstunde

Der Wolken Zug zu sehn, das Rauschen nur Des Winds zu hören und den Schrei der Möven

Und den eintönigen Wellenschlag deS Sees..

Dort ist der Frieden, dort ist das Verstummen Der Leidenschaften, dort, der Welt entsagend, Will ich der Ordensbrüder Kleid empfangen,

Und durch Gebet und lebenslanges Fasten Und strenge Buß' und brünstige Zerknirschung Werd' ich vielleicht Verzeihung mir verdienen.

Und sühnen können mein verruchtes Thun. (Nnch einigem Stillschweigen.)

Dein Bruder nimmt jetzt Theil an der Berathung;

Geh hin, erfahr', ob sie noch immer nicht Beendet ist. — Wann werden ihren Ausspruch

Sie endlich thun und mit dem neuen Zaren Vor mir erscheinen, daß ich ihn sofort

Bekleide mit der Herrscherwürde Zeichen? (Nagoy ab.) Iwan (allein).

So ist's denn aus! — Zu diesem Ziele führte Die lange Bahn der Erdengröße mich!

Was fand ich auf dem Pfad? Nur Leid und Qualen. Von früher Jugend auf die Ruh nicht kennend, Im Felde bald, umsaust von Feindesspeeren,

Der Heiden Schaar besiegend, bald daheim Bekämpfend Meutereien und Verrath,

Seh' ich, rückblickend, eine lange Reihe Schlafloser Nächte nur und stürm'scher Tage! — Kein milder Herrscher war ich meinem Volk:

Ich hab' mich nie bezähmt.

Ich bin ein Würger!

Der Tod Jtvan'S des Schrecklichen.

Ich habe viel, viel Blut auf dem Gewissen . . .

Mein Sohn, den ich erschlug!

üffiät’ deinem Bruder

Ein Theil nur deiner Geisteskraft geworden!

Mein Erstgeborener! Vergieb dem Vater, Ich habe Kain

Dem schuldbelasteten!

An höllischer Verruchtheit übertroffen; Ich bin ein Wütherich, ein grimmer Wolf! Der Sünden Aussatz frißt an meiner Seele,

Voll giftiger Schwären ist mein Herz; doch endlos

Ist Gottes Gnade und Barmherzigkeit. (Er fällt auf Die Änie.)

Erhöre mich, mein Gott und mein Erlöser!

Gieb Heilung mir, erbarm' dich meiner Reu'! Verstoße nicht den Knieenden im Staube!

Vergieb mir, wie dem Schächer du am Kreuz Vergeben hast.

Wasch' ab von mit den Wust

Der Sünden ohne Zahl, die mich bestecken, Und laß mich eingehn in dein Himmelreich! Nagoy (schnell eintretend). Hochmächt'ger Zar! So eben ist aus Pskow

Ein Eilbot' angelangt.

Iwan. Ich bin nicht Zar mehr.

Nicht mehr an mich geht seine Botschaft jetzt; Er bringe sie dem neuerwählten Herrscher. Nagoy. Er sagt, daß ihn mit einer frohen Kunde

Fürst Schujsky hergesandt. Iwan. Er trete ein. (Setzt sich.

Der Bote tritt ein.)

Der Bote. Hochmächt'ger Zar!

Dein treuer Heereshauptmann,

Der Fürst Iwan Petrowitsch Schujsky grüßt

369

370

Der Tod Jwan's des Schrecklichen. Fußfällig dich, und dieß thut auch die ganze Besatzung Pskows. — Mit Hülfe deines brünstigen Gebets und der barmherzigen Verwendung

Der Heiligen und durch die Segenskraft Des gnadenreichen Kreuzes haben wir

Der Polen letzten Sturm zurückgeschlagen.

Es fielen ihrer Tausende; der König Entwich nach Warschau, Kriegsvolk sich zu holen,

Und ließ im Lager seine Wojewoden. Iwan. Gelobt sei Gott!

Wie war der Kampf?

Erzähle.

Der Bote.

Schon seit fünf Wochen gruben Tag und Nacht

Sie unterirdsche Gänge und beschosien

Die Mauern ohne Unterlaß.

Fürst Schujsiy

Ließ Gänge unsrerseits den ihrigen

Entgegengraben.

Die Belagerer trafen

Auf die Belagerten im tiefen Schacht.

Heiß und verzweifelt war der Kampf, da warfen Die Unsern Feuer in die Pulvertonnen

Und flogen auf mit sammt den Polen.

Unser

Verlust ist groß, doch, dem Allmächtigen Dank,

Der Gegner Werke sind vernichtet.

Iwan.

Weiter! Der Bote.

Abstehend vom mißlungenen Beginnen Beeilten sie sich dann, all ihr Geschütz

Auf einem nahen Hügel aufzufahren;

Und ihre unabläß gen Schüsse trafen Die eine unserer Mauern, bis es endlich Gelang, sie zu durchbrechen.

Wir besetzten

Sofort die Stelle; und als angestürmt

Sie kamen, schon des Sieg's gewärtig, trieb

Der Kugelregen zweier Feuerschlünde

Sie bald zurück von unsern Wällen.

Iwan. Weiter! Der Bote.

Am nächsten Morgen gab der Polenkönig Befehl zum Hauptsturm.

Mauerbrecher wurden

Zur Stadt gerollt, zahllos Geschwader rückte Heran. — Wir unterdeß, all insgesammt Im feierlichen Zug, mit wehenden Fahnen

Bei dem Geläute der Belagerungsglocke, Vor uns die wunderthät'gen Ueberreste

Des Fürsten Wsewolod, vom Chor der Priester

Getragen — wir umschritten alle betend Der Mauern Rund, und harrten kampfbereit

Alsdann der Feinde.

Ein Getös erhob sich

Im Feld, als käm' ein Wetter hergebraust. Die Erd' erdröhnte unter ihren Masten; Und Leitern bringend, und mit Mauerhammern

Bewehrt und wucht'gem Sturmgeräthe, warfen Beim Donnern des Geschützes auf die Stadt

Die Polen sich.

Dem wilden Andrang hielten

Wir männlich Stand.

Von allen unsern Schanzen,

Bon allen unsern Thürmen, Mauern, Warten, Von jeder Böschung und von jeder Zinne

Floß auf die Feinde nieder glüh'ndes Pech,

Entflammter Theer und Flachs; es regneten Auf ihre Häupter Steine und Gebälk.

Die Weiber halfen mit, die Kinder griffen Zur Waffe.

Laßt uns sterben! riefen Alle,

Eh' wir das heil'ge Pskow dem Feinde liefern! Und alle traten muthig in die Rechen,

An der gefall'nen Brüder Stelle. — Schwächer Ward unsrer Gegner Angrist schon, da trat

Der König unter sie und führte selbst

372

Der Tod Jwan's des Schrecklichen.

Die Schaaren in den Kampf, und sie ergossen Wie brausendes Gewässer auf die Mauern

Sich mit erneuter Macht. Die Gegenwehr.

Vergeblich war

Auf Stangen und auf Leitern,

Ameisen gleich sich aneinander hängend, Erllommen sie der Thürme einen.

Droben

Begann da- Handgemenge, Feindeshaufen

Auf FeindeShaufen stiegen nach.

Wir wehrten

Uns lange, doch zuletzt...............

Iwan. Nun?

Der Bote. Mußten wir, Zurückgedrängt, den Thurm dem Feinde lassen.

Iwan. So hieltet ihr, was ihr auf's Kreuz gelobt? Meineidige!

Verschach^rer Eures Gottes! —

Und waS that Schujsty? Der Bote.

Als der Fürst den Thurm

Voll Polen sah', ergriff mit eigenen Händen Er einen Feuerbrand und schleuderte Ihn in den unter’« Raum............... und donnernd flog

Der Thurm auf, mit zertrümmerndem Gestein Ihr Lager weithin überschüttend.

Iwan.

Endlich! Nun weiter. Der Bote.

Dieser Angriff war der letzte. Der König eilte fort; an seiner Statt Befiehlt Zamoysky jetzt. — Fürst Schujsky aber Läßt dir vermelden, großer Zar, er würde

373

Der Tod Jwan's des Schrecklichen.

Wie er bisher sich hielt, auch fürderhin Sich halten; und die sämmtliche Besatzung Hat abermals das Kreuz darauf geküßt,

Daß treulich sie die Pflicht erfüllen wird, Und eher fallen bis zum letzten Mann,

Als mit dem Feinde in Verhandlung treten. Iwan.

Gepriesen sei der Herr!

Es offenbart.

An mir sich huldreich seiner Allmacht Schuh. Nun, stolzer König! Zu siegen?

Meintest du nicht schon

Mich, den Zar von Gottes Gnaden

Hast du bezwingen wollen, der du König Durch deines Polenadels Gnade bist! Einrennen wirst du dir die trotzige Stirn

Wohl an den Mauern Pskows .. .

(zum Boten)

Wie hoch schätzt Ihr

Des Feinds Verlust?

Der Bote. Nah" an fünftausend Mann. Weit mehr noch sind verwundet.

Iwan. Nun, Bathory?

Ist meine Schuld an dich jetzt abgetragen? Hab' ich gezahlt für Polotzk und Welisch? (Zum Boten.)

Wie viel der Krieger haben sie in allem Wohl eingebnßt, seit die Belagerung währt?

Der Bote. Es mögen in fünf Stürmen zwanzigtausend

Der Ihrigen gefallen sein.

Wir haben

An siebentausend Mann verloren.

Iwan.

Ihr

Seid zahlreich noch genug. Auf ein'ge Zeit.

Ihr langt noch aus

Wo ist das Schreiben Schujskyes?

374

Der Tod Jwan's deS Schrecklichen.

Der Bote. Vom Feinde konnt' ich aufgefangen werden.

Und deßhalb ward ich von dem Fürsten nur

Mit mündlichem Berichte hergesandt.

(6in Kämmerling tritt ein.) Iwan (zu ihm). Nun?

Haben die Bojaren ihre Sitzung

Beendet?

Der Kämmerling.

Herr!

Ein Kriegsmann, der Gefangner

Der Polen war und aus der Haft von ihnen

Entlassen worden, bringet diesen Brief. Iwan.

(nimmt den Brief und blickt auf die Ueberschrift). Ein Brief an mich? (zu Ragoy) Da, nimm, Grigorij, lies

Ihn mir.

(Der Kämmerling ab.)

Nagoy (lesend). „Dem Zaren aller Russenlande, Iwan, der Fürst Andrej .... Fürst Michaelas Sohn." ....

Iwan.

WaS?

Was?

Wie war's?

Nagoy (lesend). „Fürst Michael'- Sohn, Kurb............ Iwan.

Von Kurbsky! — Mich geruhen seine Gnaden Mit einer Antwort zu beehren! —

(Zum Boten.) Geh!

(Der Bote ab.) Iwan (,u R-goy). Lies jetzt!

375

Der Tod Jwan's deS Schrecklichen. Nagoy.

Herr!........... Iwan. Lies! Laß hören, was er schreibt. Nagoy (liest). — „Des ehemals dir untergebnen Kurbsky,

Anjetzt der Krone Polens Lehensfürsten

Und Herrn in Kovel, Gruß zuvor. — Beachte Du meine Worte.......... " Iwan.

Nun — ließ weiter!

Nagoy. Herr! Ich wag' es nicht.

Iwan.

Lies! Nagoy (liest).

„Deinen ungereimten, Weitschweifig schwülst'gen Brief hab' ich durchlesen. Längst hätt' ich auch ein Antwortschreiben dir

Zukommen lassen, hieltest nicht dein Reich Gesperrt du und verschlossen, wie die Hölle. —

Dich höher als die Sterne überhebend

In deiner Hoffart, und mit Heuchelworten Dich pharisäisch selbst erniedrigend,

Schiltst du mich einen Meut'rer und Berräther. Dein Schmähen........... " Iwan.

Nun? „Dein Schmähen?".... Fahre fort. Nagoy (lieft).

„Dein Schmäh'n ist das Geschwätz betrunkner Weiber.

Dich schämen solltest Du, so stümperhafte, So schlechte Zuschrift in das fremde Land

376

Der Tod Jwan'S des Schrecklichen. Zu senden, wo nicht klein die Zahl der Männer,

Die in Rhetorica bewandert sind. Der unbegehrten Beichte, die du ablegst Bor mir, geziemt's mir nicht, auch nur ein Theilchen

Von meinem Ohr zu leih'n.

Ich bin kein Priester;

Als Krieger dien' ich meinem Herrn, dem mächt'gen,

Glorreichen Stephan, Fürsten von Ätthauen Und Könige der Edelmänner Polens. —

Mit Gottes Hülfe haben wir bereits Welisch, Uswjat und Polozk dir genommen,

Und nehmen werden wir auch bald dir Pskow. Wo sind, Zar Rußlands, deine sonst'gen Siege? Wo sind die weisen und hochherz'gen Männer, Die Städte dir erobert und Kasan

Und Astrachan dir unterworfen haben?

Gemordet hast du sie und Lodtgefoltert. Beraubt der guten Führer flieht dein Kriegsvolk

Bor uns, gleich einer hirtenlosen Heerde. Begreifst du jetzt, daß derne Possenreißer Dich für die Feldherrn, die du hingerichtet, Nicht schadlos halten können? Merkst du jetzt,

Daß Mummenschanz und wüste Schwelgereien

Nicht KriegeSthaten gleichzustellen sind? Doch, wie es scheint, sinnst du auf Krieg nicht mehr. Dein Heer hast du verlassen............ "

Iwan.

Fahre fort! Nagoy (Heft). „Dein Heer hast du verlassen, wie ein Flüchtling,

Und dich düheim verkrochen, wie ein Hase.

Dich martert wohl dein bös' Gewissen, Zar? Und das Gedenken deines schnöden Thuns? — So gehe denn in dich. — DaH deine............"

377

Der Tod Jwan's deS Schrecklichen.

Iwan.

Werter! Lies Alles! — Weiler! — Lies! — Nagoy (liest).

„Daß deine Narcheit Du einseh^n mögest, sende zwei Episteln Ich dir, des römischen Redners Cicero, An seine Freunde Claudius und MarcuS.

Beherzige sie.

Und dieß mein Schreiben werde............ " Iwan.

Lies nur!

Nagoy. O Herr! Iwan.

„Und dieß mein Schreiben werd^e" ....

Nagoy

(liest).

„Zur züchtigenden Ruthe dir! — Fahr' wohl." (Iwan

reißt

beim

letzten Wort dem Ragvy das Blatt ans der Hand, zerknittert es. Sein Gesicht zuckt krampfhaft.)

überblickt e-

Iwan. In Sicherheit jenseit der Grenze sitzend,

Bellst du mich an, von dorther, wie ein Hund Aus schützender Umzäunung. — Du warst nicht

Gewillt, hochedler Fürst, die Himmelskrone

Der Märtyrer aus meiner Hand zu nehmen, Die ew'ge Seligkeit dir zu erkaufen Mit kurzer Erdenpein. — Beliebt's dir nicht

Hierher zu kommen, mündlich mir zu sagen,

Was du von fern zu schreiben mir geruhst? (Wild um sich blickend.)

Und feinen hab' ich seiner Angehör'gm! Kein einz'ger ist, den ich verschont..........Kein Bruder,

Kein Schwager, sein Verwandter, nicht ein Knecht!

Was ihm nur nah' stand, hat's gebüßt, ist todt!

und

378

Der Tod Jwan's des Schrecklichen.

Und schmähen lasten muß ich mich! ...

Nicht Einen

Hab' ich mir aufgespart! .. . Nicht einen Einzigen! . ..

Ein Kämmerling

Herr!

(eintretend).

Die Bojaren alle insgesammt

Begeben sich zu deiner Hoheit. Iwan. Ah! — Sie sind willkommen.

Meinen Abschied bringen

Sie mir und sind wohl dessen hocherfreut. Fort mit dem abgelebten Herrscher! Zeit iffS, Ihn wegzuwerfen wie verbrauchten Plunder. Wohl mit Ergötzen sehen schon im Geiste

Sie mich des Zarenschlosies Ehrentreppe Heruntersteigen mit dem Beitelsack!

AuS Gnade und Erbarmen werden sie Vielleicht mir einen allen Kittel lasten

Und einiges armselige Hausgeräth, Laß seh'n, wer's ist, den sie ernannt, dem Platz Ich machen soll? — Man führe sie herein. (Der Kämmerling ab.)

Iwa u. Sie haben Recht! Bin ich ein Zar, wie sie Ihn nöthig haben? Bin ich zu erkennen

In diesem Kleid? — Ich habe sie entwöhnt, Zu zittern vor dem Herrscher.

Wie sagt Kurbsky?

Ich bin beklagenswerth; und stümperhaft

Sind meine Briefe, und ich hab' mein Heer Verlassen wie ein Flüchtling, und aus Furcht

Und aus Gewissensangst schwatz' ich bereits

Wie ein betrunknes Weib und bin untauglich Geworden, und erbärmlich; .... Jst's nicht so?

Nun denn, laß sehn, wen ihre Wahl getroffen? Wer ist ihr nimmerirrender, allweiser,

379

Der Tod Jtvan's des Schrecklichen.

Untadelhaster Zar, der Willens ist,

Bei meiner Lebenszeit mich zu beerben? (Die Bojaren treten ein.)

^lha! Sic sind's. — Seid mir gegrüßt, Bojaren! Ihr nahmt euch Zeit genug zu der Berathung;

Doch endlich habt ihr den erwählt, der mich

Ersetzen soll.

Und sicher ist er Einer,

Dem sich mit Ehren übergeben laßt

Das Herrscheramt?

An Hertunst steht gewiß

Er uns nicht nach, und ist an Willenskraft

Und Frömmigkeit und Tugend und Verstand

Uns auch wohl überlegen. — Nun, Bojaren! Sagt cm: Wer ist's, vor dem ich knieen soll,

Die Stirn am Boden?

Sprecht.

Bist du cc, Schujsky?

Bist du's, Mstislawsky? Oder du, ^Nikita Nomauowüsch, der Gönner meiner Feinde? —

Ich harr' auf Antwort.

Boris 6) 0 b 11 ll O w (vortretent).

Vielgewalt'ger Zar! Uns deinem heil'gen Willen fügend, haben

Wir uns berathen.

Unser Ausspruch wurde

Einstimmig, unabänderlich gethan Und zum Beschluß erhoben.

Hör' ihn:

Keiner

Als du soll unser Zar sein und Gebieter. Beherrscht hast du bisher unS, und du sollst Auch fürder uns beherrschen. — Hiermit bringen

Wir unsre Köpfe dir.

Wie's dir gefällt,

Magst du uns nun begnad'gen oder richten.

(Er kniet nieder, alle Bnjnren thun dasselbe.)

I w a n. So seid ihr Willens, Zwang mir anzuthun?

Ich soll, wie ein Gefangener, gebunden, Verbleiben auf dem Throne mit Gewalt?

«usfische Revue n.

5. Heft. 1863.

26

3§0

Der Tod Jwan's des Schrecklichen.

Die Bojaren. Hochmächt'ger Zar! Du bist der uns von Gott

Gegebene Herr. Wir wollen keinen Andern. Begnadige oder richt^ uns....

Iwan. So! — Wie's scheint

Ist euch mein Zarenschmuck zu schwer? Ihr wollt Die Last aufs Neu" mir auf die Schultern laden?

'S ist so bequemer, meint ihr? .... Schujsky.

Großer Zar!

Verlass' uns nicht!

dich deines Volkes!

Erbarm'

Iwan.

Gott ist mein Zeuge: nicht gesonnen war ich, Die lästig mir geword'ne Krone wieder Auf's müde Haupt zu drücken.

Ueberlassen

Hätt' ich die Bürde der Regierungssorgen Mit Freuden dem, der sic mir abverlangt. —

Ein and'res Trachten hegt' ich in der Seele,

Rach andern Gütern sehnte sich mein Herz! Doch ihr gestattet's nicht; dem auf den Wellen Hintreibenden, vom Sturm gepeitschten Schisse

Verschließet ihr den Hafen.

Wohl, es sei!

Ich füge mich dem Ausspruch der Bojaren;

Gezwungen nehme diese gold'ne Krone Ich wiederum und kröne mich auf's Neue

Zum Zaren Rußlands und zu Eurem Herrn .... (vvhl ein nothwendiges Erforderniß, daß sie dem Bauern „besonderes Vertrauen einflößen", um ihm zugleich zum Schul­ meister geeignet zu erscheiuen. Ter Bauer hält aber eine Schule für etwas sehr Wichtiges und Ernstes, und da muß er seine Kinder mit vollem Vertrauen hingeben dürfen, wie er es eben zu Solchen unter Seinesgleichen hat, die zugleich achtungswerthe und ehrbare Leute sind. Daß der Bauer dabei unter einen lähmenden Einfluß der Geistlichkeit gerathe, ist keineswegs zu befürchten, denn der Pope lebt zu sehr mit ih>n, wie seine Stellung es ihm auch nicht anders erlaubt. Er muß kopekenweise seine geringen Einnahmen von dem Bauer erheben, ist also völlig abhängig von ihm, obgleich andrerseits dadurch ein gewiffer Schutz gegen ein thatsächliches Uebergewicht des Bauern gewährt wird, daß dieser die Bildung des Pfaffen respectirt und Person und Amt sehr wohl bei ihm zu unterscheiden versteht. Wir sehen also, daß ein achtungswerther russischer Geistlicher an der Spitze einer Volksschule durchaus nicht gefährlich ist und bei aller Bigotterie der russischen Bauern ganz nützlich sein kann. Doch wie schon angedeutet, inan braucht sich auf Pfaffen und Seminaristen dabei nicht zu beschränken, und das ist auch nicht geschehen; der Bauer hat andre Bauern und beurlaubte oder ver­ abschiedete Soldaten als Lehrer benutzt. Was die Letztem anlangt, so gehen die Soldaten zum allergrößten Theil aus dem Bauernstande her­ vor, sie behalten die Erinnerungen an diesen Stand unerschütterlich und kehren immer gern zu ihren alten Gewohnheiten zurück. Man hat

viel für ihre geistige Ausbildung gethan, inbem bei den Regimentern eine Art Schulen unter Leitung von Officieren besteht. Man hat auch seit 1861 für die Garde festgestellt, daß kein Soldat zum Urlterofftcier befördert werden soll, der nicht einigerniaßen richtig schreiben und außer­ dem eine Prüfung in der Religion iinb Arithmetik;U. s. w. bestehen kann. Endlich hat mau seit einigen Jahren eine Zeitschrift „Lectürc für Soldaten" herausgegeben, die sich sogar bis zu sliaturbeschreibung, russischer, biblischer Geschichte von ihrem einfachen Standpunkte aus ver­ steigt und nicht blos eifrig gelesen lvird, sondern auch Beiträge von Soldaten enthält, lvas, ivcmt nichts Anderes, doch den Anklang beweist, den die Aufklärung auch in diesem Stande gefunden. Der Bauer hat also Leute genug auf feinem Dorfe, die ihn in allem dem unterrichten können, was ihnr zu lvissen wünschenswerth sein wird. Mit seinem praktischen Sinn hat er allch davon den rechten Gebrauch zu machen gewußt, und es finden sich unzählige blühende An­ stalten in Rußland, welche die Bauern selbst gegründet. So ist unter andern im Gouverneinent Jaroslalv ein alter Bauer Jacob Migatschew, der schon seit 30 Jahren auf seinem Dorfe mit dem besten Erfolge schulmeistert, und in zivei Wiiltern den Bauern alles für sie Wissenswerthe beibringt. Im ersten Winter niacht er mit seinen Schülern für 3| Rubel Silber den ganzen Lehrcursus durch, im zweiten lviederholt er nur denselben und zwar gratis. In demselben Dorf hat sliikolaus Schtscherbina einmal mehreren Migatschew'schen Schülern einige Bücher verschiedenen Inhalts ansgetheilt, um ihre Urtheilsfähigkeit und ihren wissenschaftlichen Eifer zu prüfen, und da fand es sich, daß sie einem kleinen Lehrbuch, das von „Sonne, Rlond und Planeten" handelte, den Vorzug gegeben vor allen andern Büchern, die Erzählungen und Anekdoten enthielten. In einem andern Dorfe dagegen haben die Bauern am meisten Geschmack für ein Buch über „Liturgie" entwickelt, Schtscherbina hat auch verabschiedete Soldaten, verabschiedete Diener in einigen Dörfern als Lehrer getroffen, auch sonst noch verschiedene Leute, die sich gerade dazu qualificirten, und zwar mit solchem Erfolge, daß in manchen Gegenden Jedermann zu lesen und zu schreiben verstand, was man nicht einmal von so aufgeklärten Ländern >vic Frankreich sagen kann- In einem Dorfe des Gouvernements Jaroslaw habeil die Bauern

sich eine freiwillige Abgabe auferlegt, um eine Schule zu unterhalten, in welcher ein Seminarist, der seinen Cursus vollendet hatte, mit dem besten Erfolge unterrichtet. Eben so ein Diaconus im Gouverne­ ment Wladinlir — kurz, es lasse» sich noch unzählige Beispiele von Dorfschulen anführen, die von Bauern begründet, unter Dorfgeist­ lichen, Seminaristen und andern Individuen stehen, welche das Ver­ trauen der Dorfbclvohner genießen und eine ungemein erfolgreiche Wirksamkeit entfalten. Zulveilcir hat auch die Geistlichkeit Schulen ge­ gründet, die von auswärtigen Autoritäten frei, zu hoher Blüthe ge­ langen. So besteht z. B. int Gouvernement Moskau eine solche Schule seit 22 Jahren unter der Leitung des Dorspopen, desseil Gehülfe ein Seminarist in der obern, ein Küster in der untern Abtheilung („für die ABC-Schützen"). Dort wird alle Monate ein feierlicher Actus ge­ halten, wo die fleißigen und faulen Schüler deni Publikum namhaft gemacht werden; es soll sogar die Prügelstrafe nicht in der Schule vorkomnten itiii) der Lehrer die Zöglinge durch das Erwecken von Ehrliebe und Wetteifer regieren. Dabei herrscht in allen diesen Schulen ein patriarchales und gastfreuudschaftliches Verhältniß. Die Schüler zahlen dem Lehrer nicht bloß das kleine Honorar, sondern sie helfen ihnl auch gern in seiner Haushaltung mit Wassertragen, Holzspalten u. s. w.; andrerseits behält er die Kinder bei sich, die zu weit wohnen, wofür ihir die Aeltern auch hin und wieder durch freiwillige ^iaturallieserungen entschädigen; mit einem Worte, sie Helsen und nützen sich gegenseitig. Zugleich läßt sich damit auch die Errichtung von Sonntags­ schulen verbinden, iitbeni es z. B. bei der erwähnten Schule im Gou­ vernement Moskau sich ganz von selbst gemacht hat, daß Kinder und Erwachsene, die an Werkeltagen nicht abkommen konnten, den Unterricht an den Sonntagen dort genossen 'und auf diese Art sich nach Möglichkeit fortbildeteu. Wir haben demnach soivohl a priori wie auch durch Bei­ spiele aus der Erfahrung gesehen, daß die von den Bauern selbst in Folge eines tief empfundenen Bedürfnisses gegründeten Schulen vorzüg­ lich gedeihen. Dazu fomnit, daß alle von uns erwähnten Anstalten, die in solcher Blüthe stehen, Privatuitternehrnungen sind, von denen die Administration kaum irgeird welche Kunde hat und die ihr auch nicht

388

Ueber das Volksschulwesen in Rußland.

die geringsten Ausgaben verursachen.

Die russischen Bauern wollen eben

am liebsten selbst für sich sorgen, sie sind zu mißtrauisch, um sich ein

noch so wohlwollendes Eingreifen von andrer Hand außerhalb ihrer Sphäre gefallen zu lasten

— und das muß wohl beachtet werden.

So hat

z. B. ein Edelmann im Gouv. Wladimir in der besten Absicht Alles für

die Bildung seiner Bauern gethan, er hat aus eigener Tasche den Geist­ lichen für den Unterricht besoldet, Bücher angeschafft,

kurz die Schule

unterhalten, und die schlimmsten Erfolge davongetragen.

Es kanien sehr

wenige Kinder und auch die nur zwangÄveise zur Schule, und argwöhnisch sahen die Bauern auf das ganze Unternehmen.

Denn einerseits konnten

sie nicht begreifen, wie Jemand in eine Schule für sie so viel Geld zu ihrem Vortheil hineinstecken wollte, ohne irgendwelche geheime, eigen­

nützige Absichten damit zu verbinden, und aildererseitS hielten sie nichts

von einem Unterricht, den ihre Kinder gratis genossen.

So ging denn

auch bald das Institut an dem Argwohn der Bauern und an dem Vor­

urtheil zu Grunde, daß nur dasjenige einigen Werth haben könne, wo­

für man Geld bezahlt.

Auf einem andern Gute hat die Edelfrau selbst

unterrichtet und einige Schüler

sehr weit gebracht,

so daß man an­

nehmen muß, daß sie ihre Leute gekannt und gehörig zu behandeln ver­ standen habe.

Dennoch stieß sie mit den Vorurtheilen der Bauern zu­

sammen : sie ließ nämlich die Kinder vor allen Dingen waschen, kämmen und säubern, und das paßte den Leuten nicht.

Die Mütter beklagten

und beweinten ihre Kinder als wenn sie zum Tode gingen, und als

das Schulhaus später abbrannte, weigerten sie sich, Waffer zunl Löschen herbeizutragen nnd meinten, es geschehe der Edelfrau schon recht, warum

habe sie die Kinder gemartert! Diese zahllosen Borurtheile im Bauernstande setzen überhaupt auch dem wohlmeinendsten thätigen Eingreifen

von außen unüberwindliche

Hindernisse entgegen, während sie bei den Privatanstalten der Bauern

keinen bedeutenden Nachtheil hervorbringen. Letztere gehen nämlich mit aller Vorsicht zu Werke, wenn sie sich Lehrer wählen, und finden Individuen

gemg, die sich dazu qualificiren. entscheiden sein,

Daher würde kaum mit Gewißheit zu

ob es, wie die Zustände gegenwärtig beschaffen sind,

noch besonderer Lehrerinstitute bedarf oder nicht, da aus den geistlichen

Seminarien schon Zöglinge gemig hervorgehen, die nicht so bald Aussicht

auf eine Pfarre gemimten, und mitunter um Anstellungen bei Behörden pctitioniren, die mit Beamten zur Genüge angefüllt sind. Diese Leute sind von Dörfern gekommen und zu Dorfgeistlichen ausgebildet, also vollkomineit auf das bäuerische Leben angewiesen, und würden sich jedenfalls gut zu Volksschullehreru eignen. Andrerseits muß man aber hervor­ heben, daß das Attestat über einen int Lehrerinstitut oder int geistlichen Seminar absolvirteu Cnrsus allein nicht ausreicht, um Jemand den Bauern als Schullehrer zu empfehlen; es muß seine Persönlichkeit auch danach seht, daß die Bauern zu ihm Bertraueu gewinnen. Er muß sich auch die zahlreichen Entbehrungen auferlegen können, die ein Leben im Dorfe und unter Bauern mit sich bringt — wie es z. B. nur sehr wenige Dörfer giebt, wo der Bauer und seine Schulmeister mehr als einige Male int Jahre Fleisch zu essen bekommen — und wenn der Schulmeister sich dann nicht heimisch fühlt und ungern seine Pflichten erfüllt, so wird der Erfolg anch nicht befriedigend ansfallen. Ferner muß er mit den Ge­ bräuchen der Bauern Harnioniren; er würde unwiederbringlich seine Stellung verderben, wenn er ihr religiöses Gefühl nicht respeetirte und z. B. an Fasttagen etwas Berbotenes äße, womit man es möglicher­ weise in der Stadt, in welcher er sich ansgebildet hat, nicht so genau genommen. Ja, in einer von Bauern selbst begründeten und in hoher Blüthe stehenden Schule hat es anfangs Anstoß erregt, daß der Lehrer, der sonst ihr volles Bertranen genießt, die Buchstaben des russischen Alphabets nicht in alterthümlicher, sondern in moderner Weise benannte, bis sich die Leute allmählich daran gewöhnten. Demzufolge wird man gar nicht im voraus sagen können, in wiefern von den Lehrerinstituten, wie sie die Administration beabsichtigt, eine erfolgreiche Wirkung zu er­ warten sei. Jedenfalls sind sie aber für den Augenblick gar nicht so nothwendig, und wenn, wie es heißt, innerhalb zweier Jahre an 20,000 solcher Anstalten auf höhere Veranlassung in Rußland begründet worden sind, so möchte man allerdings lieber wünschen, daß das Geld dafür zu dringenderen Zwecken anfgespart bliebe. Doch deutet Schtscherbina selbst darauf hin, daß von dieser ungeheuern Anzahl nur die Hälfte als that­ sächlich angenommen werden müßte (was übrigens auch schon genug), während, wie gewöhnlich in Rußland, die andere Hälfte voraussichtlich nur auf dem Papier sich befinden wird. So lange die von uns geschil-

390

Ueber das Volksschulwesen in Rußland.

decken Zustände und Vorurtheile noch vorhanden sind, wären dergleichen

Bestrebungen doch nur als denn diese Versuche

Versuche zu

gleich in so

betrachten:

riesigem Maßstabe

weshalb

müssen

gemacht werden?

Nimmt man aber auch an, daß nur 10,000 solcher Lehrerinstitute nicht

blos auf dem Papier, sondern in Wirklichkeit realisirt wären, und erfreuen sie sich alle einer segensreichen Wirksamkeit, so ist die nächste Folge da­ von,

daß Rußland

mit

einer Unzahl

Schulmeister überfluthet wird.

Sollen denn die vielen Seminaristen, Popen und Praktiker,

an lvelche

sich die Bauern schon gewöhnt haben, alißer Thätigkeit gesetzt werden?

Eine

solche Maßregel würde gleich das Mißtrauen der Bauern rege

machen; auch lveiß man noch nicht, >vie weit die neuen Lehrer ihrem Be

rufe zu genügen verstehen, und außerdem kann der Zweck der neuen

Einrichtung nicht

sorgen, den

wird.

darauf Hinzielen, so und so viel neue Lehrer zu ver­

sondern nur darauf,

daß die Bauern

etwas lernen,

was bei

schon vorhandenen Anstalten und Einrichtungen vollkommen erreicht

Rechnet man die Unzahl Lehrer, die in einigen Jahren aus den

10,000 Instituten, wenn sie Erfolg haben, herauskoinmen werden, dazu die Popen, Seminaristen und so und so viele Praktiker — woher sollte

man in deyl Falle wohl im ganzen menschenarmen Rußland die Schüler zusammensuchen,

um diese Legionen von Lehrern nur einigermaßen zu

beschäftigen?

Folgendes wäre noch zu beachten, um sich von einem octroyirten

Schulwesen, und sei es noch so wohlgemeint, für den Bauer keinen be sondern Erfolg zu versprechen.

Der gemeine Russe ist den Beamten,

den Tschinowniks, mehr als abgeneigt.

Wir wollen seine Berechtigung

dazu nicht untersuchen, da dies ailßer dem Bereich unseres Gegenstandes

liegen würde, genug, daß sich die Sache so verhält.

In den Schulen,

die von den Bauern selbst abhängen und keinerlei Ausgaben den Edel­ leuten oder der Administration verursachen,

ist der Schulmonarch im

Stande, selbst nach Bedürfniß alle Veränderungen und Reparaturen zu veranstalten; er läßt selbst die Fenster, Tische, den Fußboden ausbessern, er braucht darüber weder die nächste Behörde um Erlaubniß zu fragen noch ihr Bericht zu erstatten und streckt sich in seinen Ausgaben dafür nach der Decke.

Von einer Behörde aber, die ihn beanfsichtigt, erwartet

der Bauer nur Chitone, wenn er sie nicht abfüttert oder sonst irgendwie

391

Ueber das Volksschulwesen in Rußland. ihr Wohlwollen zu erwerben versteht —

was allerdings den Bauern,

wie sie selbst glauben, größere Ausgaben verursachen würde.

Bei solchen

Ansichten kann man sich nicht wundern, wenn trotz aller Lernbegierde das

Schulwesen den Bauern verdächtig und gründlich zuwider wird, sobald

es nur den geringsten officiellen Anstrich gewinnt oder sobald man das Tschinownikthum auch

darauf

ausdehnt.

Wir

sahen schon,

wie

der

Bauer sogar seinem Gutsherrn nicht soviel Uneigennützigkeit zutraut, aus reinem Wohlwollen etwas für ihn zu thun — mit welchem Vertrauen

wird er nun den Bestrebungen der Administration entgegen kommen? Das russische Volk befindet sich noch in der Kindheit und hat unzählige

Vorurtheile, die man nicht auf einmal entwurzeln

kann;

es hat aus

seiner Geschichte so viel Argwohn gesogen, daß es leicht die besten Absichten

mißversteht

und

das

schone Ziel seiner Aufklärung bei unvorsichtigem

Anfassen nur weiter zurückgeschoben wird, lvährend das Volk sich schon theilweise selbst geholfen hat.

Statt dieses zu berücksichtigen, hat man eine

Älenge Projecte au's Licht treten lassen,

entsprechen.

die keineswegs ihrem Zwecke

Es liegt ihnen der Geist der Centralisation zu Grunde, die

localen Verschiedenheiten werden im Verhältniß zur Ausführbarkeit ent­

weder gar nicht oder sehr wenig beachtet, und Alles über einen Kamm geschoren.

Wir sehen nun ganz ab von utopischen Grundsätzen, für die

vielleicht eine Nation erst geschaffen werden müßte,

die für eine Nation gut wären, wenn sie

oder von solchen,

dem Bilde entspräche, wel­

ches sich der Verfasser irgend eines Projekts gerade von dem russischen Volke gemacht

— wir verweisen nur auf die eigenthümliche Beschaffen­

heit des Russen, und damit ist schon das Urtheil über die meisten bis­

herigen Projecte gesprochen. lande entlehnt;

Jnr besten Falle waren dieselben dem Aus­

was hilft aber z. B. ein deutsches Volksschulsystem in

Rußland, wenn es für Deutschland noch so vorzüglich sein mag?

Doch

haben schon viele Schriften dergleichen Systeme beleuchtet, und wir be­ gnügen uns

nur ihren Refrain

zu

wiederholen,

daß Rußland nicht

Deutschland ist, um die unausfüllbare Kluft zwischen beiden Völkern zu

zeigen.

Am wenigsten

kann

mau unter so bewandten Umständen auf

büreaukratischem Wege etwas Ersprießliches auszurichten hoffen, da ein

Reglement weder tiefgewurzelte Vorurtheile auszurotten, noch die natio­

nalen Grundlagen zu verändern im Stande ist.

392

Ueber das Volksschulwesen in Rußland. Etwas Anderes ist es. wenn die Administration, das formell Büreau-

kratische vermeidend,

und Wissensdranges

auch schon so

sich Mühe giebt, die Regungen

so

Bildungs­

Wenn sich das Volk

zu unterstüHen.

im Volke

weit selbst geholfen hat,

des

lverden

doch

ohne Zweifel

Fragen für dasselbe erstehen, deren Beantwortung naturgemäß über seinen

Horizont geht

und

für welche ein vernünftig angebrachter wohlmei­

nender Rath sehr heilsam sein muß.

Bei allem Bildungsdrauge ivird

z. B. ein Bauer nicht lvissen, wo er für seine fortschreitenden Bedürf­

nisse die nöthigen Bücher und

anderes Material bekommt,

solche Angelegenheit,

wäre eine

und das

einen

guten Rath nur außer

seinem Stande zu suchen und zu nehmen hat.

Ferner kann die Schule

wo er

in der That besondere Wünsche haben, zu deren Aeußerung aber Ver­ trauen gehört. sich

der

Vor einem Regierungbeamten, einem Tschinownik wird

gemeine Mann,

die Sachen nun

wie

stehen,

wohl hüten,

feine gerechtesten Wünsche mit vollem Vertrauen laut lverden zu laffeil; also wäre auf büreaukratischem Wege der Administration nicht einmal eine unterstützende Wirksamkeit ernröglicht.

In dieser Beziehilng lvürde

jedoch der Schtscherbina'sche Vorschlag einen guten Auslveg eröffnen.

Er

meint nämlich, daß die Edelleute einen neuen Wahlposten ereiren möchten,

zu welchem sie nur Solche unter ihren Standesgenossen berufen, die auf ihren Gütern leben, das Volk kennen und auch von deinselben gekannt

werden.

Es sollte ein Ehrenamt

bekommen.

sein,

dessen Inhaber keinen Gehalt

Sie sollten die Dorfschulen beaufsichtigen, jährliche Berichte

der Schulmeister entgegennehmen und dem Land- oder Kreisadelsmar­

schall verantwortlich sein.

Einmal im Jahr etwa müssten sie mit ihren

College» zusammenkommen,

angelegenheiten

berathen

ein Comitv bilden,

und

dem Ministerium

Bericht über den Zustand der Schulen abstatten.

die ihrer Aufsicht unterliegenden

Schulen

sich über die Schul­

der

Volksaufklärung

Dabei sollten sie auch

vor aller unnöthigen

lästigung und Störung schützen und deren besondere Wünsche liegm zur Kenntniß des Ministeriums bringen und bergt

Be­

und An-

Wir können

diese Vorschläge nur billigen, denn die nationalen Grundlagen werden

dabei fest gewahrt,

Aufklärung wollenden

das Volk

kann seinem Wunsche nach Bildung und

ungestört nachgehen

Administration

und

theilhaftig

doch

der Fürsorge einer wohl­

werden.

Dieselbe

würde

Alles

wissen, was in dieser Branche vorgeht, und dennoch hätte das, da der Inhaber eines Ehrenpostens kein Tschinownik ist, einen patriarchalen, aber keinen büreankratischen Anstrich, so daß ihr die Sympathie des Bölkes erhalten bleibt. Wir haben nun das russische Volk in seinem lebhaften Streben nach Belehrung und Aufklärung betrachtet. Wir haben gesehen, wie sich der gemeine Mann, ohne daß die Administration davon besondere Kenntniß genommen, selbständig fortgeholsen hat, und welche Hülfsmittel ihm dabei an Lehrkräften geboten lvaren. Wir faßten aber auch die vielen unüberwindlichen Borurtheile in's Auge, die ihn erfüllen, und die eine thätige Eimvirkung auf ihn von außen, besonders auf büreaukratischem Wege, unmöglich machen. 2ßir kommen endlich mit Schtscherbina darauf zurück, daß das Bolksschnlweseu in Rußland sich auf nationaler Basis, aus dem nationalen Bedürfniß entwickelii müsse und daß die Admini­ stration sich dabei nur auf eine unterstützende Mitwirkung zu beschränken habe, um etwas Ersprießliches zu leiste«. Hiermit halten wir unsern Gegenstand soweit für erschöpft, rlnd lvünschen den Bestrebungen der Administration ans vernünftiger Basis den segensreichsten Erfolg. Dr. A v. Hervel.

Ein russischer Schauspieler. Am 22. September dieses Jahres wurde in Moskau der Schau­

spieler Stschepkin begraben.

Die russischen Tagesblätter rufen dem

großen dramatischen Künstler, dem größten, den Rußland besessen, tief­

gefühlte Worte der Anerkennung und Trauer nach, und die Zeitschrift

„ Der Tag" druckt noch einmal eine Charakteristik des Verstorbenen ab, die Sergej Aksakow*) im Jahre 1855 zu dessen 50jährigem Künstler­

Dieses Charakterbild zeigt uns in so über­

jubiläum entworfen hatte.

raschend wahren Zügen das Streben des denkenden Schauspielers, daß wir es unsern deutschen Lesern nicht vorenthalten wollen; zugleich aber

glauben wir durch folgenden Auszug eine Pflicht der Journalistik zu erfüllen — die Pflicht, einen genialen Mann, der nur iu den Grenzen seines Vaterlandes zur vollen Geltung kommen konnte, verdientermaßen auch in weiteren Kreisen bekannt zil machen.

Das Stadttheater in Kursk wollte im November 1805 einer seiner

Künstlerinnen riger

eine Benefizvorstellung geben.

Jüngling

mit einer

lebhaften,

Ein

geistreichen

etwa

siebzehnjäh­

Physiognomie

lief

vom frühen Btorgen hin und her zwischen dem Hause seines Herrn, des Grafen Wolkenstein,

und deni Theatergcbüude.

Züge drückten Freude, Aufregung und Furcht aus.

Seine bewegten

Es war der unter

dem Namen Mischa bekannte Hausburschc des Grafen: man hatte ihm

die

Vertretung

eines

erkrankten

kleinen Rolle anvertraut.

unbedeutenden Künstlers

in

einer

Von früher Kindheit an war Mischa ein

leidenschaftlicher Freund theatralischer Vorstellungen gewesen; öffentlich *) Der geistvolle Verfasser der auch in Deutschland durch Raczinsky's Uebertragung bekannt gewordenen „Familienchronik", Vater der in der neuern Literatur Rußlands hervorragenden und vielgenannten Moskauer Slawophilen Konstantin und Iwan Aksakow. D. Red.

auf der Bühne uiitziüvirken, hatte zu seinen Lieblingsträumen, zu seinen beständigen und heißesten Wünschen gehört. Der Trauin wurde zur Wirklichkeit, und Mischa betrat die Bretter als Postbote Andreas in dem Drama „Zoä". Aus diesem Jüngling wurde der Stolz und die Zierde der russischen dramatischen Kunst — Michael Stschepkin. Selbstverständlich ahnte an jenem Tage der Bencfizvorstellung noch Niemand in dem Jüngling den einstigen berühmten Künstler, und mau lächelte luti' über sein besorgtes Gesicht und die Wichtigkeit, die er einem anscheinend so geringfügigen Ereignis; beilegte; Stschepkin aber fühlte, wenn auch ohne sich Nechenschaft darüber abzulegen, daß die Nolle des Postboten Andreas sein Schicksal entschieden und den Lebensweg ihm vorgeschrieben hatte. Das Debüt war befriedigend ausgefallen, man begann ihn mit vielen kleinen, natürlich sehr verschiedenartigen Rollen zu beehren. War eilt Schauspieler krank oder durch übermäßig genossene Lebensfreuden am Auftreten verhindert, so lernte Stschepkin in wenigen Stunden dessen Partie und spielte gctviß jedesmal besser als der, dessen Stelle er vertrat. Mit einem Wort: crj wurde Lückenbüßer der wenig zahl­ reichen Truppe. Da-s Publikum fing an, Stschepkin seine Gunst zuznwenden. Jede Anfführnng Ivar ein Schritt vorlvarts für den jungen Schauspieler, und bald erkannte er sowie seine Umgebung, daß er für das Theater geboren sei. Ohne genügende Bildung, ohne je einen Künstler gesehen zu haben, der auch nur den geringsten Begriff von der scenischen Kunst, ja nur die Gabe hatte, Ivie ein Mensch auf der Bühne zu sprechen und einherzuschreiten, konnte Stschepkin sich damals natürlich kein Ideal von der darzustellenden Persönlichkeit schaffen; er mußte den schädlichen Traditionen verfallen, die man später so schwer überwindet, mußte die Formen nachahmen, die ihn umgaben; allein auch der unnatürlichsten Form kann eine Seele eingehaucht werden, und Stschepkin belebte mit dem Feuer seines Gefühls jedes Wort, das er aussprach — am rechten Ort oder nicht, das ging ihn weiter nichts an; Niemand verstand das zu beurtheilen, nud Alles Ivar hingerissen von dem neuen, frischen Talent. Interessant und lehrreich lväre es gelvesen, stufemveise der Erwei­ terung des Gedankenkreises, dem Aufleuchten der Wahrheit, dem Erlvachen Rujsijche Revue 11. 5. Hest I8ß3

27

der Idee „Kunst und Künstler" bei ihm folgen zu können.

Stschepkin

allein hätte es vermocht, uns darüber aufzuklären und nicht nur der

dramatischen Kunst, auch jedem denkenden Menschen einen Dienst dadurch Aber es existiren keine von ihm ausgezeichneten Notizen; das

erwiesen.

Einzige, was er aufbewahrte, war ein Blatt Papier, auf welches Puschkin

mit

eigener

Stschepkin.

Hand

geschrieben:

des

„Denkwürdigkeiten

Schauspielers

Ich bin geboren in dem Gouvernement Kursk,

janer Kreise, in dem Dorfe Krasnoje am Flüßchen Penka."

im OboIn dieser

Anregung drückt sich überzeugend die Wichtigkeit aus, die Puschkin dem

Entstehen der Stschepkin'schen Memoiren beilegte. Siebzehn Jahre lang spielte Stschepkin auf den Provinzialbühnen,

ging von einer Truppe zur andern über, besuchte mit seinen Collegen die

Jahrmärkte und schritt unaufhaltsam vorwärts.

Er

hatte kein beson­

deres Fach, wählte seine Rollen nie, sondern spielte jede, auf die es an­

kam, um eine Vorstellung zu Stande zu bringen.

So ist er z. B. in

der „eisernen Maske" von der Schildwache bis zum Marquis Louvois gelangt;

in der „Rekruten-Aushebung" hat er,

jungen Barbara, und im Jahre

mit Ausnahme

der

Sein Ruf verbreitete sich,

alle Rollen durchgespielt. 1823 betrat er endlich das

kaiserliche Hoftheater

in

Moskau.

Das Moskauer Publikum freute sich des schönen Talents und nahm

Stschepkin mit dem lebhaftesten Enthusiasmus auf; allein der Künstler beruhigte sich nicht bei den schnell erworbenen Lorbeeren, wie so Viele es

gethan haben und noch thun.

Von dem ersten Tage seines Erscheinens

verdoppelte er in Moskau seine Studien und den Eifer für seine Auf­ gaben.

Größeren Ruhm oder materielle Vortheile hatte er dabei nicht

im Auge — er that es, um den Anforderungen der eigenen Künstler­ seele zu genügen.

Das Theater war für ihn eine Nothwendigkeit, eine

Lebensbedingung geworden. Eins in ihm.

Die Begriffe „leben" und „spielen" waren

Sogar zum Heilmittel bei

Ungemach war ihm die Scene

geworden.

geistigen!

und körperlichen«

Fühlte er sich bei den viel­

fachen Hindernissen, die ihm in den Weg traten,

bei

den

vielfachen

Kämpfen mit dem Leben trübe gestimmt, so versöhnte ihn die Kunst mit

der Wirklichkeit;

war er körperlich krank,

Nerven und richtete ihn wunderbar aus.

so belebte die Kunst seine Gar Mancher ist Zeuge ge-

wesen, wie Stschepkin die Bühne leidend betrat und sie vollkommen ge­ sund wieder verließ.

In

materieller Hinsicht

Stschepkin

sicher gestellt,

sich ganz der Kunst

der

gab

Hofschanspieler

Sein ausgebreitetes

hin.

Repertoire

wurde alljährlich mit neuen bedeutenden Rollen bereichert, die Nach­ denken und Arbeit verlangten.

Die

Reihe

der

Moliöre'schen

Alten

allein gewährte schon einen lehrreichen Mrkungskreis für seine scenische

Thätigkeit, und Stschepkin benutzte diese Schule. mehr oder

weniger

gebildete

Collegen,

strengere und sachkundigere Richter

ein

Er hatte in Moskau

aufgeklärteres

gefunden.

Dazu

Publikum,

gesellte sich ein

Kreis von Literaten, die ihn mit Freuden aufnahmen und sein Talent, seinen natürlichen Verstand und sein Streben vollkommen zu würdigen wußten;

unter

ihnen

der

begabte

Schriftsteller Fürst Schachowskoy,

großer Kenner und leidenschaftlicher Verehrer der dramatischen Kunst.

Nur solche Anregungen hatten Stschepkin noch gefehlt; jetzt beschwingten

sie seine rastlose Arbeit. Die einigermaßen bemerkenstverthen Schauspieler zerfallen im Allge­ meinen in zwei Kategorien. Die eine ist diejenige der oft in hohem Grade begabten, die aber das Stndillm der Kunst vernachlässigen, die Noth­ wendigkeit der Arbeit nicht anerkennen, ja, oft sogar die Bedeutung des

Künstlers nicht verstehen.

Zu der zweiten Kategorie gehören solche, die

von der Natur mit einem mäßigen Talent versehen,

desselben nur in sehr

die Ausbildung

engen Grenzen verfolgen können.

sind Dulder, die unsre ganze Achtung verdienen.

Diese letzteren

In moralischer Hin­

sicht stehen sie ohne Zweifel höher als die arbeitsscheuen Begabten —

aber ach! jeder von uns zieht gewiß einen talentvollen Schauspieler, durch dessen unsicheres und oft sogar falsches Spiel manches hinreißende und

herzerschüttemde Wort hervorbricht, dem armen Dulder vor, der einen verständig und sicher ausgefaßten Charakter farblos abspielt. einigung des Talents mit

einem klaren Verstände

Die Ver­

und einem heißen

Trieb für die Kunst ist selten, und diese seltene, glückliche Vereinigung

finden wir in Stschepkin.

Was ihn auszeichnete, war gerade das Ge­

fühl einer heiligen Pflicht gegen die Kunst, einer Pflicht, der bei aller Größe des Talentes kaum Jemand genügen dürfte.

Mit dem Sinken

der physischen Kräfte, die im Laufe von 50 Jahren nicht immer dieselben 27*

bleiben konnten, steigerte Stschepkin die geistigen Mittel, und ersetzte, soiveit es irgend möglich war, >va§ ihm die Jahre genommen. Bei der großen Akenge der von Stschepkin gespielten Rollen, bei der unendlichen, seltsamen Verschiedenartigkeit derselben, vernachlässigte er keine, war sie auch noch so unbedeutend. Als Hexe auf deni Besen­ stiel und als Jeremeicwna in denr „Minderjährigen" war er ganz, was er eben darstellen sollte. Von der Posse und Carikatur stieg Stschepkin bis hinauf zu den" rein dramatischen Charakteren; während Talnia in Paris die Rolle des Danville in Delavigne's „Schule der Alten" spielte, gab Stschepkin sie in Moskau, und war, trotz der schwerfälligen, dunklen russischen Uebersetzung, so vortrefflich, daß die strengsten Kunstrichter sich zufrieden erklärten. Die Gewohnheit, über den Komiker zu lachen, lind) im Kreise der Zuschauer dem Ernst und der Rührung. — Während seiner ganzen theatralischen Laufbahn hat Stschepkin nicht nur niemals eine Probe versäumt, sondern er kam auch kein einziges Btal zu spät. Nie, und war es auch zum hundertsten Mal, hat er eine Rolle gespielt, ohne sie am Vorabend beim Schlafengehen durchgelesen zu haben, ohne sie bei der Generalprobe auf das genauste herzusagen. Alles das ist keine kleinliche Pünktlichkeit, keine Pedanterie, sondern eine sehr wichtige Be­ dingung der Kunst, die immer ihre mechanische, materielle Seite hat; ohne Beherrschung der physischen Mittel ist kein Erfolg zu erreichen. Aber auch das ganze Leben Stschepkin's außerhalb des Theaters war für ihn eine fortlaufende Schule der .Kunst; überall sand er etwas zu beobachten, zu erlernen. Oft versank er mitten in der lebhaftesten Ge­ sellschaft in tiefes 'Nachdenken und schien etwas zu suchen in feinem Gedächtniß; dann war es irgend eine schwierige Stelle in einer seiner Rollen, die ihm burd) ein zufällig hingeworfenes, treffendes Wort eines Anwesenden plötzlich in neuem Lichte erschien. Oft zeigte ihm eine im Fluge aufgefangene Bemerkung eine ganz neue Seite eines Charakters, mit dem er bis dahin nicht zurecht gekommen. Auf diese Weise blieben Stschepkin's Rollen nie liegen; er studirte sie fort und fort. Dem Effect und den Beifallsbezeigungen opferte er nie die Wahrheit — nie trug er, den Mitspielenden und dem Gesammteindruck des Stücks zum Nachtheil, seine Rolle zur Schau. Mau muß gestehen, daß eine solche Selbstverleugnung bei Schauspielern höchst selten ist.

Und in bet' glniizendstcn Periode seines Wirkens, ivährend das Theater bei jeder Borstellimg in seinen Grundfesten erzitterte von dem donnernden Applaus der entzückten Zuschauer, gab es in der Menge nur einen Mann, der stete unzitfriedeil mit Stschepkiu war: Stschepkiu selbst! Er konnte cs sich selbst nie ganz recht machen und beurtheilte seine Leistttiigen mit unerbittlicher Strenge. Die Wirkung, welche der dramatische Künstler hervorbringt, ist ohne Zweifel die stärkste und lebendigste, aber zugleich auch die am wenigsten daueriide. Es giebt keinen höheren Genuß, als Tausende von Menschen mit einem Wort, mit einem Blick zu bewegen. Aber der Eindruck ver­ fliegt schnell, und schwindet er auch nicht in dem tDiomcnt, wo der Zu­ schauer in die 'Jbelt der Wirklichkeit zurückkehrt, so überlebt er wenig­ stens den Zuschauer selbst gewiß nicht. Der Schauspieler läßt kein Zeugniß seines Talentes zurück, obgleich er das Schassen mit dem dra­ matischen Schriftsteller theilt; kein Bild, kein Marmor, kein durch den Truck verewigtes Wort bleibt ein Denkmal seiner künstlerischen Thätig­ keit, und es müßte daher Über einen dramatischen Künstler mehr ge­ schrieben werden als über jeden andern, der durch' seine Schöpfungen selbst von sich spricht, sogar zit der fernen ckiachwelt. So werde denn der Karne Stschepkin's ein Eigenthum der Geschichte, der Kunst und Literatur — so lebe die Rückerinnerung fort an die Achtung, die ihm seine Zeitgenossen gezollt. *) Stschepkiu starb in einem Aller von 74 Jahren. ............ ........

W- cS.

*) Gern lassen nur die nwhlverdiente Ghrengabe ungeschmälert, die mit dieser Charakteristik ans das Grab des tvackern Stschepkiu niedergelegt wird. Allein die allgemeinen Benierkungen, mit denen dieselbe schließt, grenzen sv sehr an eine Ueberschätzung der schallspielerischen Thätigkeit, daß es gegen unser ästhetisches Ge­ wissen wäre, sie stillschweigeild hingehen zu lassen. Die Ansicht, welche den Schau­ spieler in dramatischelll Schaffen deni Poeten gleichstellt, ist eine Uebertreibung falscher Schöngeisterei, die sich der sillnlichen Wirkung gefangen giebt und diese Hillgebung mit Kunslenthllsiasmils beschönigt. AllS eiilem solchen Zusammen­ werfen productiver und reproductiver Kunst ist in Deutschland schließlich jene Be­ schäftigung der Tagespresse mit dem Histrionenthum hervorgegangen, der gegen­ über Aksakow's Hinweisung, daß über den Schauspieler noch urehr geschrieben werden müßte, fast wie eine Stimme arkadischer Theaterunschuld klingt.

D. Red.

Der Gasthof. Erzählung von Iwan Tnrgenrw.*)

XL

Unterdessen machte sich JefremS Weib, nachdem sie sich überzeugte, daß ihr ungebetener Gast sich entfernt hatte, gleich an's Kochen, wiewohl es draußen noch kaum dämmerte.

Sie trat an

Es war ein Feiertag.

den Ofen, um Feuer zu bekommen, und sah, daß schon vor ihr Jemand Kohlen herausgerührt, dann wollte sie das Messer holen und fand es

nicht; endlich vermißte sie einen von ihren vier Töpfen.

Jefrems Frau

galt für kein dummes Weib, und das nicht ohne Grund.

einen Augenblick nachdenklich stehen ihrem Mann.

und

ging nach

Sie blieb

der Kammer

zu

Es war nicht leicht, ihn zu wecken, und noch schwerer,

ihm deutlich zu machen, weshalb er geweckt wurde.

Auf Alles, was

seine Frau ihm sagte, antwortete Jefrem immer wieder dasselbe: — Ist er fort, nun in Gottes Namen! Was geht das mich an? Hat das Messer und einen Topf fortgetragen, nun in Gottes Namen!

Was soll ich dabei? Endlich aber stand er auf und nachdem er aufmerksam seine Frau angehört hatte, entschied er, die Sache sei nicht gut und so dürfe man es nicht lassen.

— Ja wohl, wiederholte die Küstersfrau, das ist nicht gut.

Er

kann aus Verzweiflung Unhell anrichten ; ich hab's schon gestern

ge­

merkt, daß er nicht schlief, nur so auf dem Ofen lag.

Es wäre nicht

übel, Jefrem Alexandritsch, wenn du zu erfahren suchtest, nicht wahr.......

*) S. Russ. Rev. II. Heft 3 und 4.

401

Der Gasthof.

— Wissen Sie was, Uljana Fedorowna, ich will jetzt selbst nach

dem Gasthof, und Sie, meine Liebste, sind so gut und geben mir wenig­

stens ein Gläschen Wein zur Stärkung. Uljana wurde nachdenklich.

— Na, meinetwegen, entschied sie endlich, du sollst Wein haben, Jefrem Alexandritsch; aber daß du mir keine Streiche machst.... - Sein Sie außer Sorge, Uljana Fedorowna.

Und nachdenl er sich mit einem Gläschen gestärkt, begab Jefrem

sich nach dem Gasthof.

Es wurde eben erst Tag, als er sich dem Hofe näherte, und schon

stand ein angespannter Wagen vor der Thür und einer von den Dienern Naum's saß auf dem Bock, die Zügel in der Hand haltend.

-

Wohin das? fragte ihn Jefrem.

— Nach der Stadt, antwortete der Diener zögernd.

— Warum das?

Der Diener zuckte bloß die Ächseln und antwortete nicht. sprang von feinem Pferd und trat ins Hmls.

Jefrem

Im Flur begegnete ihm

Naum, ganz angekleidet, mit der Mütze auf dem Kops. — Gratulire dem neuen Wirth zum Einzug, sagte Jefrem, der

ihn persönlich kannte. — Wohin so früh? — Hat sich

ivas zu gratuliren,

antwortete Naum finster. —

Gleich am ersten Tage wäre ich beinah abgebrannt. Jefrem bebte zusammen.

— Wie so? — Nun ja, es fand sich ein guter Mensch, der mir das Haus an­ stecken wollte.

Gut, daß ich ihn auf der That ertappte.

Jetzt führe

ich ihn nach der Stadt. — Doch nicht Akim? fragte Jefrem langsam.

— Woher weißt du?

Freilich Akim.

Er kam des Nachts, mit

brennenden Kohlen in einem Topf, hatte sich bereits in den Hof ge­ schlichen und das Feuer angelegt.

Willst du ihn sehen?

Alle meine Burschen sind Zeugen.

Es ist gerade Zeit, daß wir ihn fortführen.

— Lieber Naum Jwanitsch!

sagte Jefrem.

Lassen Sie ihn los.

Richten Sie den alten Mann nicht ganz zu Grunde.

Laden Sie diese

Sünde nicht auf ihre Seele, Rauin Jwanirsch! Bedenken Sie doch, tvas ein Mensch in der Berzweiflung........ Hat sich ganz vergessen......... — Sprich kein dnnunes Zeug, unterbrach ihn Banin. — Das wäre mir........ Loslasscn soll ich ihn? Blvrgen brennt er mir wieder das Haus an. — Das wird er nicht, dictum Zwanitsch, glauben Sie mir. Sie schassen sich selbst dadurch Ruhe. So geht ein Untersuchen und Per hören an und das Gericht .... Sie tvisseu ja selbst....... — Run, das Gericht? Ich hab's nicht zu fürchten. — Lieber Naum Jwanitsch! LLer hätte das Gericht iticht zu fürchteil! — Geimg! genug! Du bist, Ivie ich sehe, schon nm frühen Morgen betrunken, und heut ist itoch dazu Feiertag. Jefrem fing plötzlich ganz unertvartet zu tveinen an. — Ich bin betrunken, aber ich rede die Wahrheit, ries er. — Um des Feiertags willen vergeben Sie ihm! — Laß uns gehen, du Plärrhaus. Und Naum ging nach der Treppe zu. — Um Awdotja's willen, vergeben Sie ihiil! sagte Jefrem, der ihm folgte. Naum trat an dcil Beller und öffnete weit die Thür. Jefrem bog mit ängstlicher Ncngierde hinter diaum's Rücken bett Hals vor, und in einem Winkel des nicht tiefen Bellers entdeckte er mit Mühe die Gestalt Akint's. Der frühere reiche Gasthofsbcsitzer, der in der ganzen Umgegend geachtete Mann, saß mit gebunditen Händen auf Stroh wie ein Ver­ brecher. Als er Geräusch hörte, hob er den Kopf in die Höhe. Er schien furchtbar abgenvmnteit zu haben in den zwei letzten Tagen, be­ sonders in dieser Nacht. Die eingefallnen Singen sah mein kaum unter der hohen ivachsgelben Stirn. Die trocknen Lippen umreit dunkel, sein ganzes Gesicht hatte sieh verändert und einen seltsatnen, harten und scheuen Ausdruck angenommen. — Steh auf und komm heraus! sagte 'Raum. Akim erhob sich und schritt über die Schwelle. — Akim Jwanitsch! heulte Jefrem. Hast dich in's Verderben ge­ bracht, Liebster!

Akim warf ihm schiveigend einen Blick zu. — Hätte ich gewußt, tveshalb bit Wein verlangtest, ich würde dir keinen gegebeir haben, wahrhaftig nicht, hätt' ihn lieber selbst ausgetrunken. Ach, Naum Jwanitsch! setzte Iesrem hinzu, indem er Naum an der Hand ergriff. Verzeihen Sie ihm! Lassen Sie ihn los! — Das wäre noch schöner, versetzte Nannr höhnisch. Nun so komm! ries er, abermals zit Akim gelvendet. Worauf wartest du? — Naum Jwanitsch!........ hub Akim an. — Was? — Naum Jwanitsch! wiederholte Akim. — Höre mich an. Ich habe gefehlt. Ich wollte mir selber Recht an dir verschaffen, und das soll Gott allein- Du hast mir Alles genommen, du lveißt eS, Alles, bis aufs Letzte. Du kannst mich jetzt ganz vernichten; aber ich will dir nur sagen, 11’6)111 du mich jetzt loslässest, nun, so sei's drum, behalte Alles, ich will es zufrieden sein und dir alles Glück wünschen. Und ich sage dir, wie vor Gott, wenn du mich loslässest, es soll dein Schaden nicht sein. Akim schloß die Augen und schwieg. — Ei ivohl! entgegnete ’N'anm: dir kann man ja glauben. — Bei Gott! Das kann man, siel Jefrem ein. Ich hafte mit meinem Kopf für Akim Jwanitsch. — Dummes Zeug! rief 'Naum. Fahren loir. Akim betrachtete ihn. — Wie du denkst, 'Naum Jwauitsch! Es steht bei dir. Nur lädst du gar zu viel auf deine Seele. Wohlan, ivenn du einmal nicht anders kannst, fahren wir. Naum faßte nun seinerseits Akim scharf in's Auge. „In der That," dachte er für sich, „besser, ich laß ihn zum Teufel....... sonst zerreißt mich die Welt und vor Awdotja iverde ich keine Ruhe haben........ " Während Naum mit sich selbst zu Rathe ging, sprach Niemand ein Wort. Der auf dem Wagen sitzende Diener, der Alles durch die Thür sehen konnte, schüttelte nur den Kopf und schlug mit dem Lenkriemen auf's Pferd. Zivei andere Diener standen auf der Treppe und schwiegen ebenfalls.

404

Der Gasthof.

— So höre, Alter, begann Naum. — Wenn ich dich jetzt loslaffe

und diesen Burschen (er deutete mit dem Kopf auf die Diener) Still­ schweigen gebiete, werden wir dann quitt mit einander sein, verstehst du

mich? quitt? — Ich sage dir, behalte Alles. — Ich werde dann nicht mehr in deiner Schuld sein?

— Weder ich in deiner, noch du in meiner. Naum schwieg wieder.

— So schwöre!

— So wahr Gott heilig ist! versetzte Akim. — Ich weiß zwar im voraus, ich werde es bereuen, sagte Naum:

aber meinetwegen, es sei.

Gieb die Hände her.

Akim wandte sich mit dem Rücken zu ihm.

Naum begann ihn

loszubinden.

— Also denke daran, Alter, sagte er, während er den Strick von Akim's Händen abnahm: denke daran, daß ich dich geschont habe. — Liebster Naum

Iwanowitsch!

lallte

Jefrem

gerührt:

dasür

wird Gott mit Ihnen Erbarmen haben.

Akim streckte die geschwollenen und erstarrten Hände, und schritt nach der Hausthüre zu.

Naum durchfuhr es plötzlich; es mochte ihm leid thun, Akim fort-

gelassen zu haben. — Du hast geschworen, sieh zu! rief er ihm nach. Akim wandte sich um, ließ seine Blicke über den ganzen Hof schweifen

und sprach traurig:

— Behalte Alles auf immer unantastbar.

Leb' wohl!

Und langsam trat er auf die Straße hinaus, von Jefrem begleitet.

Naum hieß den Wagen ausspannen und kehrte nach dem Hause zurück. — Wo willst du nun hin, Akim Jwanitsch?

Bielleicht zu mir?

rief Jefrem, als er sah, daß Akim von der Landstraße rechts abbog.

— Nein Jefrem, ich danke dir, antwortete Akim: ich will sehen, was meine Frau macht.

— Das thu' später. Jetzt sollten wir in der Freude, lveißt du......... — Nein, ich danke, Jefrem, es ist genug so.

Und Akim ging, ohne sich umzusehen, weiter.

Leb' tvohl.

— Ei, ei! Es ist genug so! wiederholte der verblüffte Küster.— Und ich habe noch für ihn geschworen. Das hätte ich nicht erwartet, setzte er ärgerlich hinzu — nachdem ich für ihn geschworen — Pfui! Er besann sich, daß er sein Messer und den Topf mitzunehmen vergessen und kehrte nach dem Gasthofe um. Naum ließ ihm Beides herausgeben, dachte aber nicht daran, ihn zu traktiren. Darüber vollends ärgerlich und ganz nüchtern kam Jefrem nach Haus. — Nun? fragte ihn die Frau: Fandest du........ — Was? entgegnete Jefrem. — Freilich fand ich. Hier ist dein Geschirr. — Akim? fragte mit besonderem Nachdruck die Frau. Jefrem nickte mit dem Kopfe. — Ja wohl, Akim. Ein sauberer Vogel! Ich hab' für ihn ge­ schworen. Ohne mich saß er int Zuchthaus. Und nicht einmal ein Schälchen hat er mir vorgesetzt. Uljana Federowna! Nehmen Sie doch wemgstens Rückstcht auf mich und geben Sie mir ein Gläschen. Aber Uljana nahm keine Rücksicht auf ihn und jagte ihn fort. XII.

Akim ging inzwischen langsamen Schrtttes nach dem Dorf der Frau Eltsabeth Prochorowna. Er konnte noch nicht recht zur Besinnung kommen. Sein Innerstes bebte, wie bei einem Menschen, der eben erst dem offenbaren Tode entronnen. Er glaubte noch nicht an seine Freiheit. Mit stumpfem Erstaunen blickte er auf die Felder, auf den Himmel, auf die Lerchen, die in der wannen Luft schwirrten. Tags zuvor hatte er bei Jefrem von Mittag an nicht geschlafen, obgleich er unbeweglich auf dem Ofen lag. Erst hatte er durch Wein das unerträgliche Weh der Kränkung, das beklemmende Gefühl des rasendeit und ohnmächtigen Verdrusses in sich ersticken wollen, aber der Wein konnte es nicht besiegen. Sein Herz schwoll, und er begann nachzusinnen, wie er sich an dem Bösewicht räche. Er dachte "an Naum allein. Elisabeth Prochorowna kam ihm nicht in den Sinn, ttiib von Awdotja wandte er sich im Geiste ab. Gegen Abend entbrannte der Rachedurst in ihm bis zur Raserei und er, der gutmüthige, schwache Nkann, erwartete mit fieberhafter Un­ geduld die Nacht, und wie der Wolf auf seine Beute, eilte er, mit dem

Feuerbrand in Händen, sein früheres Haus zu vernichten. Da wurde er ergriffen und eingesperrt. Was durchdachte er nicht in jener schreck lichen Nacht! Es ist schwer, mit Worten wiederzugeben, >oas Alles in solchen Momenten in einem Menschen vorgeht und tvelche Qualen er empfindet — um so schwerer, da diese Qualen in den: Menschen selbst stumm und wortlos sind. Gegen Aiorgen, bevor Naum mit Jesrem kam, wurde es Akim ein wenig leichter ums Herz. „Alles verloren", dachte er, „Alles hin und verloren!" und wurde gleichgültig gegen Alles. Hatte er kein gutmüthiges Naturell, so hätte er in diesem Augenblicke zunl Bösewicht werden können. Allein Böses >var ihm nicht eigen. Unter dem Schlage eines unertvarteten und unverdienten Unglücks hatte er sich in einer Stunde der Berztvciflnng zu einer verbrecherischen That entschloffen; sie erschütterte die Grundfesten seines Wesens, und als sie miß­ lang, ließ sie nur tiefe Ermattung in ihm zurück. Seine Schuld empfin­ dend, riß er sich mit dem Herzen von allem Zeitlichen los und begann schmerzlich, aber inbrünstig zu beten. Erst betete er leise, dann rief er, vielleicht unwillkürlich, laut aus: „Herr, mein Gott!" und die Thränen stürzten ihm ans den Augen. Lange weinte er, bis er endlich still ward. Seine Gedanken würden sich wahrscheinlich geändert haben, tvenn er für seinen gestrigen Bersuch hätte büßen müssen; aber plötzlich erhielt er die Freiheit — und so ging er dem Wiedersehen seiner Frau halb todt, ganz zerschlagen, doch ruhig entgegen. Das Haus der Frau Elisabeth Prochorotvna tvar anderthalb Werst von ihrem Dorf entfernt, links von dem Feldlvege, auf welchem Akim hinging. An der Biegung des Weges, der zum herrschaftlichen Hause führte, blieb er stehen und ging dann vorbei. Er entschloß sich, erst sein früheres Häuschen und den alten Onkel aufzusncheu. Das kleine und schon recht baufällige Häuschen Akim's befand sich fast am äußersten Ende des Dorfes. Akim ging die ganze Straße hinab, ohne Jemandem zu begegnen. Alles tvar in der.llirche; nur eine kranke Alte schob das Fensterchcn hinauf, um ihm uachzusehen, und eine Dirne, die mit einem leeren Eimer nach dem Brunnen ging, gaffte ihn an und blickte ihm ebenfalls nach. Der Erste, der ihm begegnete, tvar eben der Onkel, toelchen er suchte. Der Alte hatte vom frühen Morgen unter dem Fenster gesessen, Tabak geschnupft und sich in der Sonne gewärmt,

Er war nicht ganz tool;l', weshalb er nicht zur Kirche ging. Eben schickte er sich an, einen andern, ebenfalls kranken greisen Nachbar zu besuchen, als er plötzlich Akiin erblickte. Er blieb stehen, ließ ihn an sich herankoniinen und rief, ihm ins Gesicht blickend: — Guten Tag, Akimchen! — Guten Tag! antwortete Akim und ging an dem Greise vorbei, znr Thür seines Häuschens hinein. Auf dem Hofe stand sein Pferd, seine Kuh, sein Wagen, da gingen auch seine Hühner herum. Er trat schiveigend in die Ctnbe. Der Greis folgte ihm. Akim setzte sich ans die Bank nnd stützte sich auf dieselbe mit den Fäusten auf. Der Greis be­ trachtete ihn mitleidig, an der Thür stehend. — Wo ist die Frau? fragte Akim. — Im herrschaftlichen Hanse versetzte rasch der Alte: dort ist sie. Hier hat sie dein Bieh zurückgelassen und die Kasten, die sie hatte. Sie selbst ist dort. Soll ich nach ihr gehen? Akim schwieg. — Geh hin, sagte er endlich. — Ach Onkel! Onkel! rief er seuf­ zend, wahrend Heuer seine Mütze vom Haken herunterhvlte: erinnerst du dich, was du mir am Bombend meiner Hochzeit gesagt hast? — Alles hängt von Gottes Willen ab, Akimchen. — Erinnerst du dich? Dn sagtest mir, ich gehörte nicht mehr zu euch Bauern, nnd sieh, was ich jetzt für Zeiten erlebt habe, bin nun selber arm toie eilte Kirchenmaus. — Bon bösen Leuten wird Niemand satt, antwortete der Alte. — Wer mir ihm, dem Gewissenlosen, eine gehörige Lection geben könnte, so ein großer Herr zum Beispiel oder eine andere Macht — denn was soll ihn sonst anfechten? Was ein Wolf ist, kennt auch die Wolfsgriffe. Der Alte setzte die Blütze auf und entfernte sich. Aü'dotja Ivar eben aus der Kirche zurück, als ihr gesagt wurde, daß der Onkel ihres Maunes nach ihr frage. Sonst hatte sie ihn selten gesehen. Nach ihrem Gasthof pflegte er nicht zu kommen nnd iiberhaupt galt er für einen Sonderling. Er liebte leidenschaftlich Tabak und schwieg meistens. Sie trat zu ihm hinaus. — Was willst du, Petrowitsch? Ist etwas vvrgefalleu?

408

Der Gasthof.

— Nichts ist vorgefallen, Awdotja Arefjewna: dein Mann verlangt nach dir.

— Ist er zurück? — Ja wohl. — Wo ist er denn?

— Im Dorf, in seinem Häuschen. Awdotja wurde ängstlich. — Sag' mir, Petrowitsch, fragte sie, ihn fest ansehend: ist er böse? — Man merkt ihm nicht an, daß er böse wär'.

Awdotja schlug die Augen nieder. — So laß uns gehen, sagte sie, band ein großes Tuch um den

Kopf, und Beide machten sich auf den Weg.

Schweigend gingen sie nebeneinander

bis an's Dorf.

Als sie sich

aber dem Häuschen näherten, überkam Awdotja eine solche Angst, daß

ihre Kniee zitterten. — Bester Petrowitsch! sagte sie: geh du zuerst hinein. Sag ihm, daß ich da bin.

Petrowitsch trat ins Häuschen und fand Akim im tiefen Nachdenken

an derselben Stelle, wo er ihn zurückgelassen. — Nun? fragte Akim, den Kopf in die Höhe richtend. — Sie

kam nicht mit? — Sie ist da, entgegnete der Alte: steht vor der Thür. — So schicke sie hierher.

Der Alte trat ihr: „Geh hinein",

hinaus,

winkte Awdotja mit der

und blieb selbst draußen sitzen.

Hand,

sagte

Awdotja öffnete

bebend die Thür, schritt über die Schwelle und blieb stehen. Akim betrachtete sie. — Nun, Awdotja, begann er: was werde ich jetzt mit dir machen?

— Ich habe gefehlt, flüsterte sie. — Ach, Awdotja,

wir sind Alle sündige Menschen, was ist da

zu sagen! — Er, der Bösewicht hat uns Beide zu Grunde gerichtet, sprach

Awdotja mit schallender Stimme und die Thränen rannen ihr über's

Gesicht. — Du darfst das, Akim Jwanitsch, nicht so hingehen lassen, mußt das Geld von ihm zurückerhalten. Schone du mich nicht, ich will eidlich

aussagen, daß ich ihm das Geld geborgt habe.

Elisabeth Prochorowna

stand es frei, unser Haus zu verkaufen, aber wie kommt er dazu, uns zu plündern? Laß dir das Geld zurückzahlen.

— Ich habe kein Geld mehr von ihnt zu bekommen, entgegnete Akim finster: wir sind quitt. Awdotja stutzte.

— Wie so?

— Nun ja.

Weißt du, fuhr Akin« fort und seine Augen flammten

auf — weißt du, wo ich die Nacht zugebracht habe? Du weißt nicht? Bei Naum im Keller, an Händen und Füßen gebunden wie ein Hammel;

da habe ich die Nacht zugebracht.

Ich wollte ihm den Hof anstecken,

aber er ertappte mich, der Naum; ist gar zu flink.

Und heute wollte

er mich nach der Stadt bringen, hat mich aber doch freigelassen.

Also

kann ich kein Geld niehr von ihm fordern. Und wie wollt' ich auch!... „Wanu habe ich Geld von dir geborgt?" würde er sagen.

Da soll ich

rvohl antworten: Meine Frau bat's aus dem Gewölbe hervorgeholt und

dir gebracht.

Willst wohl noch

Deine Frau lügt, würde er sagen.

mehr ins Gerede kommen, Alvdotja? Schweig jetzt lieber still. Schweig, sag' ich dir.

— Ich

Iwanitsch!

habe gefehlt,

Ich habe gefehlt!

flüsterte die

von Neueni erschrockene Awdotja. — Darum handelt es sich

nicht, entgegnete Akim nach kurzem

Schweigen: aber was soll ich jetzt mit dir machen?

Ein Haus haben

wir nicht mehr, Geld auch nicht ....

- Werden uns durchschlagen, Wollen Elisabeth Prochorowna bitten.

so gut es geht, Akim Iwanitsch.

Sie wird uns helfen, Kyrillowna

hat's mir versprochen. — Nein, Awdotja!

Magst sie selber bitten, du mit deiner Kyril­

lowna — ihr seid ja auf einem Felde gewachsen. bleibe du hier in Gottes Namen, ich bleibe nicht.

Kinder haben.

Ich allein iverde nicht umkommen.

Ich aber sage dir, Gut, daß wir keine

Für den Einzelnen

wird noch immer Rath.

— Was hast du denn vor, Iwanitsch? mann werden?

Akim lachte bitter aus.

Willst du wieder Fuhr­

410

Der Gasthof.

— Wär' ein hübscher Fuhrmann jetzt, das muß man sagen. Nein,

Awdotja, das ist keine solche Sache, wie zum Exempel heirathen, dazu

taugt ein Greis nicht.

Ich bleibe nur darum nicht hier, tveil ich nicht

will, daß man mit Fingern auf mich deute, verstehst du?

Ich will hin­

gehen, wo ich meine

ich hingehen,

Sünden abbeten

kann,

da will

Awdotja. — Was hast du denn für Sünden? sprach Awdotja ängstlich.

— Um die weiß ich selbst, Weib. — Wem aber willst du mich

zurücklassen, Jwanitsch?

Wie soll

ich ohne Mann leben? Ei, Awdotja, wie kannst du nur so

— Wem ich dich zurücklasse?

sprechen!

Sehr nothwendig ist dir ein solcher Blann, wie ich, noch dazu

alt und ruinirt!

Hast dich früher beholfen, so tonst dn's auch künftig.

Und was uns an Hab und Gut geblieben ist, nimm es hin............ — Wie du denkst, Jwanitsch,

erwiederte

Awdotja

traurig: du

weißt das bester. — Das ist's.

Awdotja.

Nur glaube du nicht, daß ich auf dich böse bin,

Nein, warum sollte ich das,

mich früher besinnen sollen,

(Akim seufzte auf.)

bin selbst schuld und

Hätte

hab' meine Strafe.

Ich bin nun hoch in Jahren, und es ist Zeit, daß

ich an mein Seelenheil denke.

gebracht.

nachdem einmal.........

Der Herr selbst hat mich zur Einsicht

Ich alter Narr hab' mit einem jungen Weibe ein vergnüglich

Leben führen wollen.

Nein, alter Kerl, du mußt beten, dich zu Boden

iverfen, dulden und fasten............

Und jetzt geh, meine Liebe, ich bin

sehr müde, will ein wenig schlafen. Akim streckte sich ächzend auf die Bank hin. Awdotja wollte etwas sagen, blieb stehen,

wandte sie sich ab und ging..............

betrachtete ihn, dann

Sie hatte nicht erwartet, daß sie

so leichten Kaufs davon kommen würde. — Nun, hat er dich nicht geschlagen? fragte sie Petrowitsch, der ganz zusammengekrümmt vor der Thür saß, als Awdotja an ihm vor­ beikam.

Sie ging schweigend weiter. — Siehst du, er hat dich nicht geschlagen, sagte der Alte vor sich

hin, lächelte, strich seinen Bart und nahm eine Prise.

Akim führte fernen Vorsatz aus. Er ordnete schnell seine Angelegen­ heiten, und einige Tage nach dem von uns mitgetheilten Gespräch kam er, in Reisekleidern, von feiner Frau Abschied zu nehmen, die auf eine Zeit lang im Flügel des herrschaftlichen Hauses Platz gefunden hatte. Ihr Abschied war kurz. Kyrillowna, die dabei war, riech Akim, sich der gnädigen Frau zu zeigen. Er that es. Elisabeth Prochorowna empfing ihn mit einiger Verlegenheit, ließ ihn aber huldvoll zum Hand­ kuß und fragte ihn, wohin er gehen wollte. Er antwortete: Zuerst nach Kiew und von da, wohin Gott ihn führen würde. Sie äußerte ihren Beifall und entließ ihn. Seit der Zeit erschien er selten im Hause, vergaß jedoch nie, der gnädigen Frau geweihtes Brod mitzubringen. Dagegen sah man ihn überall, wo die frommen russischen Pilger zu­ sammenströmen: sei es im Kloster des helligen Sergius, sei es in der Aptin'schen Clause ober in dem entfernten Walaam, überall zeigte sich das hagere, gealterte, aber noch immer wohlgestaltete Gesicht Akims. Dieses Jahr ging er an euch vorüber unter den zahllosen Schaaren, die zum heiligen Mutter Gottesbild nach Korennaja wallfahrten ; das nächste Jahr findet ihr ihn mit dem Ztänzchen auf dem Rücken neben andern Pilgern auf der Schwelle der St. Nikolauskirche in Mzensk. Nach Moskau kam er fast jeden Frühling. Von Ort zu Ort wanderte er mit seinem leisen, langsamen, aber ununterbrochenen Schritt. Sogar in Jerusalem soll er gewesen sein. Er schien vollständig ruhig und glücklich, und viel wurde seine Frömmig­ keit und Demuch von Denjenigen gerühmt, die mit ihm zu sprechen Gelegenheit hatten. Naum's Wirthschaft rwhm underdessen den allerbesten Fortgang. Er machte sich frisch und thätig an's Werk rmb gelangte, wie man zu sagen pflegt rasch bergauf. In ber Umgegend wußte Jedermann, mft welchen Mitteln er den Gasthof erlangt, man wußte auch, daß Awdotja ihm das Geld ihres Mannes gegeben. Niemand liebte Naum wegen seines kalten, schroffen Wesens. Tadelnd erzählte man von ihm, er habe einmal sogar dem Akim, als der vor seinem Fenster um Almosen gebeten, geantwortet: „Gott mag dir geben", und ihm nichts verabreicht. Darin aber waren Alle einig, daß kein Mensch mehr Glück hatte, als er. Sein Korn gedieh besser als das des Nachbars, seine Bienen, sogar «usfischk «rvuk. II 5. Hist. 1863. 28

Sein Vieh wurde nie krank, seine

seine Hühner mehrten sich zahlreicher. Pferde nie lahm...........

Awdotja

konnte

hatte den Antrag

lange

seinen Namen nicht

trat bei ihr als Näherin in Dienst.)

Widerwille gegen ihn.

Endlich

Man sagt, die Noth

Zuflucht zu ihm zu nehmen

haben..........

nennen hören.

(Sie

der Frau Elisabeth Prochorowna angenommen und

und

aber milderte sich ihr

habe sie gezwungen, ihre

er soll ihr hundert Rubel gegeben

Wir wollen nicht zu streng über sie urtheilen.

macht Jeden mürbe und Awdotja

ihres Lebens sehr alt und stumpf geworden. wie schnell sie häßlich wurde

und

Armuth

war durch die plötzliche Wandlung

wie

Es ist kaum zu glauben,

sehr

sie herabkam und

allen

Muth sinken ließ.

Aber wie endete nun Alles? wird der Leser fragen. Es endete so. Naum schlug, nachdem er fünfzehn Jahre glücklich getvirthschaftet,

seinen Gasthof Vortheilhaft an einen andern Kleinbürger los. sich von dem Gasthof nie getrennt

haben,

wenn nicht folgender, dem

Anschein nach unbedeutender Umstand sich ereignet hätte.

nacheinander heulte sein Hund sehr klüglich

Er würde

An zwei Morgen

vor den Fenstern.

Beim

zweiten Btal trat er hinaus auf die Straße, betrachtete aufmerksam den

heulenden Hund,

schüttelte den Kopf, begab sich nach der Stadt und

wurde am selben Tage Handels einig mit dem Kleinbürger, der ihm

längst wegen des Gasthofes Anerbietungen gemacht.

Eine Woche später

reifte er ab — nach irgend einem entfernten Orte in einem andern Gou­ vernement.

Der neue Wirth zog ein — und was geschah?

Noch am

selben Abend brannte der Gasthof bis auf den Grund nieder; nicht eine Kammer blieb übrig, und Naums Itachfolger wurde zum Bettler.

Der

Leser wird sich leicht vorstellen, welches Gerede auf Anlaß dieser Feuers­

brunst in der Nachbarschaft entstand. men zu haben!" wiederholten Alle.

„Er scheint sein Glück mitgenomEs geht das Gerücht, daß er sich

mit Getreidehandel befaßt und gewaltig bereichert habe.

lange?

Doch auf wie

Noch stärkere Säulen sind eingestürzt, und böses Thun kommt

früher oder später zu bösem Ende. Von Elisabeth Prochorowna ist nicht viel zu sagen.

Sie lebt

bis

heutigen Tag und hat sich, wie das oft bei Leuten solcher Art zu sein

Der Gasthof.

413

pflegt, in nichts verändert, ist nicht einmal sehr gealtert, höchstens noch trockener geworden; auch hat sich ihr Geiz außerordentlich gesteigert, ob­ gleich schwer ,;it begreifen ist, für wen sie spart, da sie weder Kinder hat noch an irgend Jemand hängt. In der Unterhaltung erwähnt sie öfters Akim und versichert, seitdem sie alle seine Eigenschaften erkannt, habe sie den l ussischen Bauer sehr zu achten angefangen. Kyrillmvna hat sich von ihr um eine gehörige Summe losgekauft und aus Liebe einen jungen blonden Beamten geheirathet, von dem sie bittere Pein erleidet. Awdotja ist, wie zuvor int Hause von Elisabeth Prochorowna unter dem weiblichen Gesinde, nur daß sie noch um einige Stufen herabge­ kommen; sie kleidet sich ärmlich, fast schmutzig, und von den residenzlichen Manieren des Stttbenmädchens ttach der Mode, wie von den Gewohn­ heiten der wohlhabenden Gasthofsbesitzerin ist keine Spur mehr an' ihr geblieben. Niemand beachtet sie, und sie ist froh, daß man sie unbe­ achtet läßt. Der alte Petrowitsch ist todt, Akim aber wallfahrtet noch immer, und Gott allein weiß, tvie lange derselbe noch herumpilgern wird.

W- W-

Vermischtes. Bulletin de la Societe Imperiale des naturalistes de Moscon. Publie sous la redaction du docteur Renard. ÄJinde 1863.

No. 1.

Moscou 1863.

Die vorliegende Nummer des Bulletins der kaiserlichen Gesellschaft

der Naturforscher in Moskau enthält sechs größere Aufsätze, von denen vier in deutscher, einer in französischer und einer in italienischer Sprache

geschrieben ist.

Der wissenschaftliche Werth derselben ist ein sehr un­

gleicher, und eine Arbeit von größerer Bedeutung finden wir darin nicht. Als am gründlichsten möchten wir die Abhandlung Dr. A. B. Massa-

longo's über drei Baumflechten aus Neuseeland bezeichnen. Sehr merkwürdig und noch wenig beobachtet ist das Vorkommen von Fischembryonen in den Kiemen der Flußmuscheln.

Maslowsky

beschreibt solche aus den Kiemen der Anodonta celensis, die wahr­

scheinlich einem karpfenartigen Fische angehörten, was sich aber nicht

mit Sicherheit bestimmen ließ, da die Embryonen nicht zu vollkommener

Entwickelung gelangten und bald starben.

Das ganze ist als Beitmg

zur Entwickelungsgeschichte der Fische nicht neu, jedoch dankenswerth an­

zunehmen, da manches früher nur unvollkommen Gekannte durch diesen

Aufsatz ergänzt wird.

Herr de Chaudoir giebt eine Aufzählung der

Cicindelen und

Laustäfer, welche die Herren Alexander und Arthur von Nordmann im

südlichen Rußland, nördlichen Finnland und östlichen Sibirien gesammelt

haben.

Das Verzeichniß der so schwierig zu bestimmenden Arten der

genannten beiden Familien ist von kritischen Noten begleitet, wodurch

415

Vermischt«-.

die Abhandlung auch für die weiteren Kreise der Entomologen Werth erhält. Die Nachrichten über das Herbarium des Herrn v. Lindemann

sind von sehr localer Bedeutung und untergeordnetem Interesse. F. v. Herder's Mittheilungen

über die periodisthe Entwickelung

der Pflanzen des kaiserl. botanischen Gartens zu St. Petersburg sind der zweite Versuch dieser Art, da bereits 1853 Dr. C. E. Märklin ein

ähnliches Verzeichniß geliefert hatte.

Jnteresiant ist es Vergleiche anzu­

stellen, wie sich die Entwickelung unserer deutschen Pflanzen gegenüber

den russischen verhält.

Durch das Klima bedingt, gelangen die Peters­

burger Pflanzen später zur Blüthe, ebenso hört ihre Vegetatton auch wieder früher auf.

So gelangt z. B. Anemone nemorosa, eine unserer

ersten Frühlingsblumen, in St. Petersburg erst am 4. Mai zur Blüthe.

Von nationalökonomischem Werthe ist die Abhandlung über Fisch­

cultur in Finnland von H. I. Holmberg.*)

Auftrag«

der kaiserlichen Regierung

Der Verfasser mußte im

in den Seen Tottalanjärvi und

Puulavesi Versuche in der künstlichen Fischzucht anstelle».

Sein Bericht

ist bei der Wichtigkeit des vorliegenden Gegenstandes insofern von großem

Interesse,

da

unmittelbar praktische Nutzanwendungen aus demselben

hervorgehen.

Unter den an die Gesellschaft gelangten Briefen ist namentlich einer

des deutschen Naturforschers Trautschhold über die Flora und die jurassischen Schichten an den Ufern der Wolga hervorzuheben.

In den

Sitzungsberichten und im Briefwechsel stoßen wir meistens auf deutsche, dagegen sehr wenig auf russische Namen.

♦) Vgl. Russ. Revue Bd. I. S. 134.

B

416

DermischteS.

Moskau.

Aus

G. Der Buchhandel in Moskau läßt im Allgemeinen wenig Neues erscheinen, doch hat er vor Kurzem Einiges zu Tage gefördert, was eine eingehendere Besprechung

Handbuch des berühmten Vertheidigung in

Besonders bemerkenstverth ist das

verdient.

Juristen Mittermaier „von der gerichtlichen

Criminalsachen",

gegeben von A. M. Unkowsky.

russischer Uebersetzuug

in

heraus­

Dieses Handbuch eröffnet eine lange Reihe

in's Russische übersetzter juristischer Schriften: ein Unternehmen, das bei

totalen Umwandlung des gerichtlichen

der erwarteten

Rußland eine große Tragweite haben dürfte.

Verfahrens

in

Diese Uebersetzungen von

denen schon mehrere drilckfertig sind, sollen die Verbreitung von juristischen

Kenntnissen in unserer Gesellschaft vermitteln und unterstützen,

da

die

Advocatur wohl bald eine tief eingreifende Bedeutung in Rußland ge­ winnen wird.

In tvelcher Art sich das nun auch in der Zukunft gestaltet,

so ist immerhin die Unkowsky'sche Uebertragung ein in dieser Beziehung

wichtiges Ereigniß, und das Verdienst des auch sonst schon bekannten Herausgebers

keinesfalls

zu

unterschätzen.

Das

rühmlich Erscheinen

solcher Uebersetzungen ist überhaupt nicht als gewöhnliche kaufmännische

Speculation anzusehen, die Sache ist zu ernst und wird besonders durch die Erwartungen gehoben, die sich an die Wirksamkeit dieser Bücher und

an die möglichst allgemeine Verbreitung

der Rechtslvissenschaft knüpft.

In diesem Sinne spricht sich auch der Herausgeber in der Einleitung dahin aus,

daß

die

russische Literatur über den Gegenstand des vor­

liegenden Werkes nichts als wissenschaftliche Fragmente enthalte, daß man deshalb seine Zuflucht

zu

den

und

auslvärtigen Schriftstellern,

unter denen Mittermaier eine so bedeutende Autorität sei, genommen, um dem russischen Publikum die großen Leistungen des Auslandes mög­ lichst zugänglich zu machen.

Das Buch selbst handelt von den allge­

meinen Grundlagen der gerichtlichen Vertheidigung, von der Vorbereitung

zur Defension, von den Pflichten des Defensors gegen den Angeklagten, den er vertheidigen soll, von dem Abfassen der Vertheidigungsschrift, von dem Verfahren dabei u. s. w.

und

Es ist ein gedrängtes, aber umfassendes

durch Beispiele erläutertes Handbuch für Advocaten.

Das Werk

ist für Jedermann verständlich und wichtig bei der vielleicht bald bevor­ stehenden gerichtlichen Reform. Die Uebersetzungen auswärtiger Hand­ bücher pflegen sonst leider selten so gut, wie diese, zu gelingen, ein be­ dauerlicher Uebelstand, da die Originale nicht Jedermann erschlossen sind. Dilettanten findet man wohl genug, die sich an solche Aufgaben machen, aber in der Regel taugen ihre Versuche entweder gar nichts, oder sie erfordern weiügstens gründliche Verbesserungen. Allgeniein klagt man über diesen fühlbaren Alangel an guten Uebersetzern. In Aloskau ist es ziemlich still. Alle Gespräche kommen gewöhnlich auf die Frage, ob der Krieg im Frühling losbrechen wird oder nicht. Atan ist überzeugt, daß Rußland auf alle Eventualitäten vorbereitet sei, doch giebt dieser Gegenstand ein unerschöpfliches Thema für die Unter­ haltung und Raum zti unendlich vielen Erwartungen. Auf die Er­ haltung des Friedens hofft nian aber mit Bestimmtheit, wenigstens für die Dauer des Winters. Aus der Journalistenivelt melden !vir, daß die Zeitschrift „Der Ac tionär" aufgehört hat. Dagegen beginnt nian aufs Reue von der Gründung eines Organs für den hiesigen Stadtrath zu reden. Pawlows Zeitschrift („Russische Nachrichten") soll ihre Bestimmung für die Bauer behörden erhalten, die Bauern finden aber schwerlich etivas darin für sich. Den Mitarbeitern an dieser Zeitung hat sich bald nach Pogodin auch Stschebalsky angeschlossen. In Aloskau fängt es an, Winter ztl werden: seit einiger Zeit schon bedetltender Schneefall. (LI. Petersburger Nachrichten.)

Bibliographie.

In russtfcher Sprache erschienen:

Lriginalwerke. Afanassjew - Tschushbinsky, A. Dniestrskizzen.

Band 1L

Ein Ausflug nach Südrußland.

Dnieprskizzen.

St.

Petersburg,

Bd. I.

1863.

3 R. 50 K.

(Hoi>3JKa

bt> toikhvki

Pocciw.

A. Acßanacieea- 'Jyjtciu.H-

CKdiO.) Geographische und statistische Skizzen des Königreichs Polen. Mit einer col. Karte.

St. PeterSb., 1863.

1 R. 60 K.

(reorpa«i»n*iecKie u cTaTHcTüsecKie onepHii uapciea IIojibCKaro.) Glabov, R. Psychologie. Rjasan, 1863. 1 R. (ücMXOJorifl H. I'jm6oea.) Arhlow, I new.

Fabeln.

Mit des Dichters Lebensbeschreibung von P. Plet«

Prachtausgabe.

St. PeterSb., 1863.

3 R. 50 K.

(Kacim H. KpbiJtoea. Ci 6ioipa*ieio Kan. II. A. ILnemHeevtMi. HaauiHoe Ma^anie.) Potächin, A. 1863.

Arme Edelleute.

Ronian in 4 Theilen.

St. PeterSb.,

3 R.

(EtflHbie ABopflue. mrb.rUHsi.}

Pojiam bt>

4-xb

»lacTaxi

A. Ho-

Aeöersetzungen. Gerstäiker, Fr. Resener.

Munk, Dr. Ed. Sokolow.

Reisen um die Welt.

Uebers.

unter der Red. von F.

St. PeterSb., 1863. Geschichte

der griechischen Literatur.

Moskau, 1863.

£rurf von vir gar nicht reden, um

uns nun vorzustellen, wie ein von Hause aus ordentlicher Bauer nach und nach zum Vagabunden ivird.

Wir wissen übrigens aus alten Zeiten,

daß der russische Bauer gern wandert, und kommen damit auch auf

die Entstehung

den Einfluß

und

der Leibeigenschaft.

Während

der

Theilung und Zersplitterung Rußlands waren die Bauern bekanntlich

befugt,

ohne Umstände

von einem Herrn zum andern überzugehen.

Sie bearbeiteten das Land gegen eine Abgabe, die sie ihren geistlichen

oder weltlichen Herren entrichteten.

Um so viel Concurrenz als mög­

lich für ihre Grundstücke zu bekommen, boten die Herren den Bauern Vortheile dafür, daß sie sich gerade

bei ihnen niederließen, und

die

Bauern zogen immer dorthin, wo ihnen am Meisten Vortheile in Aus­ sicht standen, und ließen ihren bisherigen Herrn ganz einfach im Stich.

Dieses Nomadisiren und Herumziehen war schon damals aller Wirth­ schaft nachcheilig,

als

es

nicht über die Grenzen der kleinen Fürsten­

thümer ausgedehnt werden konnte, verderblich wurde es aber, als nach

deren Vereinigung die Bauern allmählig durch das ganze weite Reich ihrem Wandertriebe nachgehen konnten. dadurch zu steuern,

daß

Man suchte dein Unlvesen erst

man bestimmte Zeiten im Jahr

für solche

Wanderungen festsetzte — im Herbst und im Frühling — später aber, im

Jahre 1597 durch einen Ukas das Herumwandern einfach verbot und

die Bauern da zu bleiben zwang, wo sie sich gerade in dem Augenblick, als der Ukas herauskam, befanden — womit die Leibeigenschaft in's Leben

trat.

Anfangs gab es aber einige Ausnahmen von der Regel: der Bauer

durfte von einem kleinen Herrn zum größern gehen, es waren Termine angesetzt, nach deren Ablauf keine Reclamation gegen den entlaufenen Bauer möglich war



zwang jedoch später auch

die Vagabundennatur der russischen Bauern zur Aufhebung der genannten Milderungen.

Man hatte dabei aber leider ein Uebel durch ein anderes zu curiren gesucht, das Vagabundiren durch die Leibeigenschaft; es folgte nun daraus,

daß der Druck der letzteren und

ihre praktische Umwandlung in die

elendeste Sklaverei später eine der häufigsten und erklärlichsten Ursachen zum Davonlaufen ward. Das Desertiren der Soldaten erklärt sich aus der Art und Weise ihrer Behandlung. Darüber ist jedoch anderweitig schon genug ge­ schrieben worden. Man weiß ja auch, daß Soldat werden zu müssen, unter den Russen für das entsetzlichste Elend gilt. Sein Davonlaufen wird natürlich furchtbar gestraft; er fühlt sich aber so unglücklich in dem ihm aufgezwungenen Berufe, daß er trotzdeni Alles riskirt, um eine Aenderung seines Zustandes herbeizuführen, und wir sehen aus deu Berichten, daß vor 1853 immer auf eine Million Soldaten über 6000 Deserteure kamen, während seit 1853, seitdem einige Erleichterungen für das Militär eingetreten sind, die Deserteure sich um die Hälfte ver­ minderten. Im Bauernstande haben auch die in den letztm Jahren ein­ tretenden Erleichterungen viel Gutes geivirkt ufid dem Bagabundiren merklichen Einhalt gethan. Alan sieht daraus, wohin die früheren Be­ drückungen geführt haben. — Auch des Glaubens wegen sind Manche Hermntreiber geworden, als man die Sekten der griechisch-russischen Kirche verfolgte, wir meinen nicht blos die verbrecherischen, sondern auch die harnrlosen. So finden mir unter Andern: in den vorliegenden „Notizen" eine Geschichte, wie eine Anzahl alter Jungfern mit einigen armen Witt wett im Gouvernement Nishni ^Nowgorod in die Wildniß gegangen sind, und dort eine große Einsiedelei begründet haben, die sich bis auf 30 Häuschen erstreckte. Sie standen unter einer von ihnen selbst gewählten Aebtissin, cultivirten den Ritus der sogenannten Altgläubigen und lebten theils von ihren eigenen Mitteln, theils von freiwilligen Beiträgen, die ihnen in sehr reichlichem Maße zuflossen. Männer und verheirathete Frauen durften sich nicht bei ihnen niederlassen, mit Ausnahme von sechs älteren Dienstleuten, die ihrer Sekte angehvrten, in der Einsiedelei wohnten und alle groben Arbeiten verrichteten. Sie lebten alle sehr gut, aber streng, denn es wurde „jegliches unnütze Wort" geahndet, d. h. man ließ den Sprecher desselben auf Erbseu knieen, und hatte eigens dazu präparirte Muldeu. In dieser Weise hatte die kleine Gemeinde viele Jahre bestanden, sich ein schönes Bethaus, gebaut, selbstver­ ständlich auch Jahr aus Jahr ein den Behörden die üblichen Geschenke gemacht, um im Uebrigeu niigeschvreu zu bleibe», bis im Jahr 1853

Russische Vagabunden.

434

plötzlich die Verfolgung über sie hereinbrach. versteigert, das Bethaus geschlosseir,

Kloster,

andere

in's Zuchthaus

Die 30 Häuschen wurden

einige der ältern Jungfern in's

gesperrt,

die sechs Arbeitsleute

in

die weite Welt und in das Vagabundenthum hinausgestoßen — und

weshalb?

Unter den Sträflingen sind die

zur Zivangsarbeit und

die zur

Ansiedelung in Sibirien Verurtheilten und Verbannten hervorzuheben.

Das russische Recht kennt außer der Todesstrafe für Hochverrath und den militärischen Strafen folgende Kategorieen für seine criminelle Gerichts­

barkeit: Verurtheilung zur Zwangsarbeit in den Bergwerken auf Lebens­ zeit, auf 20 und auf 15 Jahre, in den' Festungen auf 12 und 10 Jahre,

in den Fabriken auf 8 und 6 Jahre mit darauf folgender Ansiedelung in

Sibirien.

Es hat für die zu diesen härtesten Strafen Verurtheilten den

besondern Kunstausdruck: „Katorshnik" (entsprechend etwa dem Galeeren­ sklaven in andern Ländern).

Die zweite Kategorie von Strafen ist die

Verbannung, zur Zwangsansiedelung in Sibirien, dann folgt die einfache Verbannung nach Sibirien, Corrections- und Zuchthaus u. s. w., bis das

Criminalrecht stufenweise zu den mildesten Bestrafungen, also Arrest oder

Geldstrafen hinabsteigt. Zu diesen Kategorieen treten aber für Diejenigen,

die nicht ihres Standes oder ihrer Bildrmg wegen von der Leibesstrafe eximirt sind, eine Menge accessorischer Bestimmungen hinzu: das Anlegen

von Fesseln, das Rasiren des halben Kopfes, das Prügeln mit allen möglichen Instrumenten (aber nicht mit der Knute) und endlich das

Brandmarken oder die Stempelung, die aber im Geiste einer aufge­

klärten Zeit

seit

diesem

Jahre

aufgehoben

sind.

Bestanden

hatte

die Brandmarkung mit verschiedenen Variationen ungefähr 200 Jahre.

Im Anfang

sollte

unterscheiden,

der

sie

kein

blos einen

Verbrecher

von einem Menschen

gemeines Verbrechen begangen;

später wurde

sie zur Bezeichnung von Ausreißern gebraucht, um bei einem wieder­

holten Versuch zu wissen, zu welcher Art von Leuten der Unglückliche

gehörte, weil wie wir schon sahen, die Vagabunden bei ihrer Ergreifung ihre Vergangenheit zu vergessen pflegen, und die Regierung oft ander­ weitig keine Kenntniß über sie erlangen kann.

In solchen Füllen kenn­

zeichnete ein besonderes Ataal den einfachen criminalistischen Ausreißer, ein anderes einen unfreiwilligen Ansiedler, der sich aus dem Staube

gemacht und ergriffen worden, eine dritte Sorte endlich einen entlaufenen

Zwangsarbeiter

halten,

um lins

oder,

an den specisischen

einen flüchtigen „Katorshnik."

Kunstausdruck zu

Diese Zeichen wurden dort, wo

man die Flüchtigen ergriffen und erkannt, sofort denselben dicht unter

den Elbogen des rechten Arms und auf das Schulterblatt aufgeprägt, und bei jedeni neuen Fluchtversuch das betreffende Zeichen wiederholt

und immer tiefer angebracht.

Hier ist das Brandmal demnach mehr

als Vorsichtsniaßregel anzusehen, um das fernere Ausreißen zu verhüten. Als accessorische (5riniinalstrafe Ivar dagegen in älterer Zeit das Ab­

schneiden der Ohren in Gebrauch, später unter der Kaiserin Elisabeth,

nach Abschaffung der Todesstrafe

für gemeine Verbrechen,

das Aus­

schneiden der Nasenlöcher und das Brandmarken auf Stirn und Wangen Das Ausschneiden der Nasenlöcher wurde 1817

für die Katorshniks.

abgeschafft, aber das Brandmarken für Katorshniks der nicht eximirten

Stände beibehalten. d.

h.

statt

Jni Jahre 1845 wurde statt dieses Brandmals,

der auf

Stirn

und

Wangen

eingebrannten Buchstaben

B. 0. P. (russisch vor— Dieb), eine Stempelung eingeführt, indem die Buchstaben K. A. T. (Katorshnik) auf Stiru und Wangen eingeschnitten und die Wunden mit Schießpulver eingerieben,

der Unglückliche also

gleichsam tätowirt tvurde, was heutzutage endlich ganz

abgeschafft ist.

Der praktische Russe hat sich übrigens auch früher zu helfen gewußt und durch spanische Fliegen, aufgelösten Kalk, ja auch durch siedendes Wasser und andere Biittel die Spuren ausgetilgt, denn den Ursprung

der hiernach zurückgebliebenen Narben konnte Niemand errathen.

Unser

Berichterstatter erzählt, daß er in einem Zeitraum von 5f Jahren nur

einen einzigen Zwangsarbeiter gesehen,

bei dem das Zeichen auf der

Stirn noch deutlich war; dieser war noch dazu unschuldig, und vom Senat,

nachdem

er

eine

zwölfjährige

Leidenszeit

gesprochen und zur Heilung von der Krankheit,

überstanden,

ftei-

die er sich während

derselben zugezogen, und zugleich zur Vertilgung der Spuren von der

Stempelung dem Hospital in Tobolsk übergeben, wo er nach drei Monaten starb.

Dieses zufällige Beispiel belehrt uns vollkommen über das durch­

aus Zweckwidrige der betreffenden

barbarischen

und dabei doch nur

„accessorischen" Strafe. «»Isiiche Sttiuc. II. 6. Heft. 1863.

30

436

Russische Vagabunden.

Ueberhaupt stiften die russischen Strafmethoden nichts Gutes, und befördern das Bagabundenthum. Als kleiner Bandit kommt Jemand in das Zuchthaus, und als großer, ausgebildeter verläßt er dasselbe. Ebenso verderben sich die Leute auf den Transporten nach Sibirien gegen­ seitig dermaßen, daß der unfreiwillige Ansiedler dort ohne Rücksicht auf sein wirkliches Verbrechen als ein non plus ultra von Schlechtigkeit gilt, und man trotz alles Mitleids nichts mit ihm zu thun haben will. Er hat gewöhnlich, wenn er dahin kommt, alle Arbeitslust bereits verloren und überläßt die ihm zugetheilte Parcelle den dortigen Bauern, die dafür alle Abgaben für ihn bezahlen; er selbst geht fort und gilt nun, wenn er nach einer unbefugten Abwesenheit von sieben Tagen er­ griffen wird, oder selbst sich erst wieder nach vierzehn Tagen freiwillig einstellt, als Ausreißer. Uebrigens kann er auch mit den besten Vorsätzen das Land seiner Verbannung betreten, er gelangt doch nicht dazu, sie auszuführen. Die Regierung zwingt ihn zu einer bestimmten Beschäf­ tigung, zum Ackerbau, wozu er sich möglicherweise, gar nicht qualificirt. Dann sind die besten Landstücke gewöhnlich schon im Besitz der Einge­ borenen, und der Verbannte bekommt eine Parcelle, auf der nichts wächst, die ihn daher gar nicht ernähren kann, und wenn er seine Sache noch so gut versteht. Ferner ertheilt ihm die Regierung oft Parcellen, die aus mehreren getrennten und ungünstig zu einander gelegenen Stücken bestehen, oder verpflanzt ihn in eine Bevölkerung, die bei der Mannichfaltigkeit der Bewohner Sibiriens ihm ganz und gar fremd ist. Endlich giebt es da oft Beamte, „Tschinowniks", Schreiber u. s. w., die alle Gelegenheit, ihn auszubeuten, benutzen — kurz, er kommt trotz aller Bemühungen zu nichts. Die Folge davon ist der Bettelstab oder das Ausreißen, ja die Verbrecher gehen oft auch nur deshalb durch, um an einem Orte, wo man sie nicht kennt, als Herumtreiber, die sich an nichts erinnern können, aufgegriffen und an einen erträglicheren Ort verwiesen zu werden, wo sie vielleicht eine bessere Parcelle erhalten. Was will da eigentlich das russische Strafrecht? Die „Katorshniks" genügen ebenso wenig den Ansprüchen an eine rationelle Gesetzgebung, sie werden wohl gequält, aber weder gebessert, noch an weiteren Uebelthaten verhindert. Erträglich sind die Arbeiten auf drei Branutweinbrenuereieu, von denen zwei, die Uspenskische und

die Katharinenfabrik,

im Gouvernement Tobolsk, und die Alexander­

fabrik in Ostsibirien sich befindet

Auf den beiden erstgenannten Hecken

die Verbrecher auch einige Stunden, um für sich zu arbeiten und damit selbstständig Etwas erwerben zu können. Berichterstatter gesehen, nement Jeniffei,

Auf den übrigen, die unser

auf der Troizkischen Salzsiederei im Gouver­

in den Nertschinskischen

Gold- und Silberbergwerken

Kora, Akatujew und Schechtaman und einigen Erz- und Eisengruben z. B. Petrow und Nikolajew im Gebiete des Jenissei,

Sache freilich etwas anders.

verhält

sich die

Die Verbrecher müssen von Sonnenauf­

gang bis Sonnenuntergang in einer abscheulichen Atmosphäre arbeiten, und man verlangt nichts Geringes von ihnen. Jeder Einzelne muß z.B. täglich gegen 1600 Pfund (genau 40 Pud) Erz ausgraben und zu Tage fördern, oder 8000 Pfund (nämlich 200 Pud) Goldsand verarbeiten, und dabei

mit allen Extrahindernissen kämpfen, wie in der Grube Schechtaman, wo der Boden lehmig und schlüpfrig ist.

Kommt der Feierabend , so

attestirt der Aufseher, was der Unglückliche geleistet, und war es nicht genug, so wird er natürlich wieder gestraft, je nach der Persönlichkeit

der Aufseher, mit Ruthen, Stockschlägen oder mit dem Kantschuh,

den andern Tag fängt die Geschichte wieder von vorn an,

und

d. h. er

muß wieder dasselbe Pensum leisten, und wird, wenn er es nicht zu

Stande bringt, wieder gestraft.

Es ist auch vorgekommen, daß man dem

Unglücklichen für den andern Tag ein Quantum von

seiner täglichen

Ration abgezogen, bis er vollständig seiner Aufgabe genügt hätte, was allerdings noch weniger praktisch war, denn mit einem leeren oder nicht

ganz

gesättigten Magen kam

seinem Pensum zurecht.

er am folgenden Tag noch weniger mit

In das Lazareth nahm man ihn nur, wenn er

erkrankt war, und oft auch nicht eher, als bis das Uebel bedeutend

geworden, worauf man jedoch in der Regel ihn möglichst bald wieder zur Arbeit schickte.

Besser geht es ihm freilich, wenn er Geld hat, d. h.

wenn die ©einigen ihn mit dem Vermögen, das sie durch seinen bürger­ lichen Tod geerbt, unterstützen und es zu seinem Besten verwenden, welcher

lobenswerthe und schöne Gebrauch in Rußland so

allgemein verbreitet

ist, daß dem Katorshnik bei etwaiger Begnadigung sein Vermögen von den ©einigen

theilte Geld,

fast

immer zurückgegeben

wird.

Hat also der Verur-

so besticht er den Aufseher und die Hospitalbeamten, und 30*

Russische Vagabunden.

438

bleibt ihm dann vielleicht noch so viel, daß er sich selbst kleiden und be­ köstigen kann,

so ist sein Loos allerdings erträglich.

Wem aber die

Mittel nicht zu Gebote stehen, seine Zwangsarbeit auf diese Art ganz oder theilweise illusorisch zu machen, der kann zusehen, wie er die Sache

aushält.

Hinsichtlich der Nahrung erlauben wir uns kein Urtheil: wenn

auch der Berichterstatter die Rationeu recht genau angegeben — wer will daraus

schließen, ob das relativ viel oder wenig sei.

Uspenskischen und Katharinenfabrik bekommen mit

Auf der

die Leute eine Suppe

Pfund Fleisch, 3| bis 4 Pfund Brot täglich, und 85f Kopeken

(28 Silbergroschen) monatlich für Kleider und Schuhwerk; sie sind, .wie wir schon sahen, dort überbaupt besser gestellt.

An andern Orten bekommen

sie kein Brot, statt deffen aber Geld, wovon jedoch für Grütze Abzüge

gemacht werdm, uud zwar in folgendem Maße: Troizk — 90 Kopeken monatlich, Abzug davon 60 Kvp. für dieselbe Zeit; Alexanderfabrik —

88^ Kopeken, Abzug 30; Kora — 1 Rubel 25 Kop., Abzug 15 Kopeken; Petrow — 85 Kop., Abzug 30; Nikolajew — 88| Kop., Abzug 30 Ko­

peken.,

Nach

allen Abzügen bleibt so für die monatliche Nahrung im

Durchschnitt nicht viel, imd was sie zur Kleidung extra bekommen, soll der Rede nicht werth sein.

Jil Akatujew erhalten die Arbeiter 3 Pfund

Brot täglich uud -s Pfund Fleisch, das letztere aber nur auf dem Papier, statt dessen einen erbärmlichen Abguß von Grütze. Außerdem bekommen

sie auch nie die 2 Rubel, die sie nionatlich erhalten sollen, indem dir

Verwaltung ihnen dafür jährlich zwei Hemden, ein Paar Beinkleider, eine Jacke und zwei Paar Stiefeln verabreicht.

In Schechtaman bekommen

sie 4 Pfund Brot täglich und 2 Rubel 11 Kopeken monatlich für die

übrige Nahrung,

Wie lange die Nah­

für Kleidung und Schuhwerk.

rung und die Kleidung bei der angestrengten Arbeit vorhalten werden, wagen

wir nicht

zu

entscheiden,

doch

darf nicht unerwähnt bleiben,

daß sie von dem für sie bestimmten Gelde nicht immer Alles behal­ ten.

Zu den vielen Strafen,

die

über

die

Unglücklichen verhängt

werden, treten, wo es nur thunlich ist, auch Geldstrafen hinzu.

Jedes

Versehen wird unbarmherzig geahndet; kann es dann der Unglückliche

nicht mehr ertragen, und läuft er davon, so wird er nach seiner Er­

greifung toieder gestraft,

so und so

viel Jahre,

die er schon über­

standen hatte, werden ihm gestrichen, und seine ihm noch übrige Straf-

zeit somit verlängert.

Unser Berichterstatter hat einige Tabellen zusam­

mengestellt, aus denen die Resultate dieses Systems ziemlich klar hervor­ Für die Uspenskische Fabrik ergiebt sich aus der Berechnung

leuchten.

von 1856 bis 1861, daß in jedem Jahr durchschnittlich 211 männliche,

3 weibliche Katorshniks hinzukommen, aber 80 fortlaufen; und für die Katharinenfabrik aus der Berechnung von 1843 bis 1862, daß durch­

schnittlich

im Jahr 92 männliche,

hinzukommen, 37 fortlaufen.

2 weibliche

Zwangsarbeiter

dort

Darunter kommen aber auf die Katha­

rinenfabrik allein von 1856 bis 1862 im Durchschnitt 192 männliche,

7 weibliche neu aufgenommene Zwangsarbeiter und 74 Ausreißer jähr­ lich, wonach also in der letzten Zeit auf einer der erträglichsten Anstalten die Zahl der Vagabunden sich bedeutend vermehrt hat.

wird bei

einem Katorshnik als

constatirt betrachtet,

Das Ausreißen

wenn er nach

dreitägiger eigenmächtiger Abwesenheit ergriffen wird oder wenn er selbst erst nach sieben Tagen freiwillig zurückkehrt.

Auf den Privatbergwerken

soll übrigens das Loos der Sträflinge auch kein besseres sein, da man die zu ihren Gunsten bestehenden Gesetze dirrch Bestechung der Beamten

umgeht. Endlich

haben

wir eine eigene

Gattung

Bettler zu betrachten,

die ganz Rußland durchstreifen, um Almosen zu sammeln. Diese treiben und halten sich besonders in der

sich auf allen Jahrmärkten herum,

Nähe von kirchlichen Prozessionen.

Es sind Beter von Profession unter

ihnen, die ihr ganzes Leben lang von einem Wallfahrtsorte zum andern pilgern, und ihre Zahl ist ungeheuer.

Man rechnet, daß im Jahre 1859

das Dreifaltigkeitskloster unweit Aioskau nach und nach von 230,000, das Höhlenkloster bei Kielv von circa 136,000, Woronesh von 20,000, und das Solowetzkikloster auf einer Insel im weißen Meer von 11,000

solchen offiziellen Betern heimgesucht worden. nicht blos auf die Mildthätigkeit allein,

Ihre Speculation geht

sondern auch aus die Gast­

freundschaft und freie Zehrung, die sie als „fromme Wallfahrer" sich unterwegs verschaffen.

Neulinge im Betteln schließen sich an erfahrene

Altmeister ihres Geiverbes und müssen oft für diejenigen arbeiten, deren

Protection sie genießen, während diese im gemüthlichsten dolce far niente auf ihren Lorbeeren ruhen.

Betteln

Im 17. und 18. Jahrhundert war das

übrigens streng verboten und zog in

der Regel

körperliche

Züchtigung

hervor.

nach sich,

seit 1809

aber trat eine

mildere Beurtheilung

Jetzt sind die Gesetze auch recht mild, nur sehr unbestimmt.

Bettelei wird nämlich durch Arrest bestraft, wenn Jemand nicht in Folge

von Unglücksfällen, sondern aus Faulheit und Müßiggang sich darauf gelegt, zugleich aber nicht paßlos umherläuft, falsche Angaben über sich macht und auch sonst nichts Anderes gethan, was ihn zum Verbrecher

oder zum Vagabunden stempelt. Außer den von uns hier betrachteten

allgemeinen Motiven zum

Vagabundiren giebt es für diese Flüchtlinge selbstverständlich auch noch

zahllose persönliche, verschuldete oder unverschuldete

Anlässe zum Ent­

weichen^ die wir indeß nicht weiter berücksichtigen wollen.

Es gehören

eben Leute der allerverschiedenstm Gattung zu den Herumtreibern und

Ausreißern, und sie suchen sich, so gut sie können, und mit den verschie­

denartigsten Mitteln und Absichten durchzuschlagen.

Sie gehen natürlich

so viel als möglich der Polizei aus dem Wege, vermeiden aber auch tatarische Dörfer,

ausliefert.

wo man sie unnachsichtig ergreift und der Behörde

Sie speculiren manchmal auf das Mtleid der Leute, manch­

mal auf deren Unwiffenheit, sie beschwindeln oder bestehlen sie, machen ihnen Kunststücke vor, wie es nun gerade geht, oder sie verstecken sich

in den Höhlen im Walde und treiben irgend ein Handwerk, womit sie

sich ernährm, oder sie leben einfach von gewerbsmäßigem Raub und Diebstahl.

In vielen Gegenden werden die Vagabunden, wenn sie nicht

gerade durch besondere Verbrechen sich berüchtigt und gefährlich gemacht,

auf alle Weise unterstützt.

Man verwendet sie, namentlich im südlichen

(europäischen) Rußland, besonders gern zu ländlichen Arbeiten, indem

man ihnen einen geringeren Tagelohn bezahlt, als den mit guten Püffen versehenen Arbeitern.

Wenn das die Beamten merken, so überfallen sie

begreiflicherweise sofort den schuldigen Kolonisten oder Gutsbesitzer, da

man keinen Paßlosen aufnehmen darf;

dann verschwinden die Vaga­

bunden, der Gutsherr oder Kolonist sieht zu, wie er mit den Beamten fertig wird, und sobald diese den Rücken gekehrt, kommen die billigen

Tagelöhner wieder zurück.

In Südrußland machen jüdische Gastwirthe

sich oft sogar einen besonderen Erwerbszweig aus der Beherbergung von

Vagabunden, selbst der schlimmeren Gattung.

Dieselben haben nur ihre

Zehrung theuerer zu bezahlen, und dann bekommt der Schenkwirth noch

441

Russische Vagabunden.

Procente von dem gestohlenen Gut, das in seinem Hause verwahrt wird.

Andrerseits trifft es sich auch, daß die Vagabunden Mittel in Händen haben, irgend welche Beamte zu bestechen, und von diesen gegen ein ansehn­

liches Geld Documente 31t erlangen, mittelst deren sie an die Stelle von

spurlos verschwundenen Kolonisten oder Ansiedlern in Südrußland,. am Kaukasus oder in Sibirien substituirt werden und deren Namen, Wohn­ ort u. s. w. erhalten.

Man

hat oft erlebt,

später die musterhaftesten Leute werden.

daß solche Substituirte

Das läßt sich übrigens sehr

gut denken, denn schon das Streben nach einer festen Ansiedelung deutet

bei solchen Vagabunden offenbar auf einen Vorsatz der Besserung, der unter günstigen Verhältnissen,

wenn sie z. B.

ein brauchbares Stück

Land erhalten und wirklich ein neues Leben beginnen können, auch ohne Prügel und Brandmarkung die besten Resultate herbeiführt.

Verschieden wie diese Wünsche und Speculationen Richtungen, welche die Vagabunden einschlagen.

in Rußland, der Andere in Sibirien.

sind

auch die

Der Eine sucht sein Glück

Durch Sibirien haben sie freilich

einen besonders schweren Weg, sie haben dort Wald- und Sumpfstrecken von 300 Wersten (7 Werst — 1 Bleile) zu passiven, wo sie nur von Pilzen; Wurzeln und Kräutern sich nähren können. Die sibirischen Bauern

sind aber meistens mildthätig gegen sie, theils aus Mitleid, theils aus

Furcht.

Sie beherbergen die Flüchtigen oft 24 Stunden lang (länger

riskiren sie es nicht wegen der Beamten), und geben ihnen zu essen und zu trinken, sie legen oft Speise und Trank zu dem Zweck hinaus, daß

der Flüchtling selbst im Vorübergehen sich erquicken kann.

Freilich giebt

es auch Ortschaften, wo man nicht so gutmüthig gegen sie ist.

Ihre

ärgsten Feinde sind die Burjaten, die sie unaufhörlich verfolgen, nicht eben aus Ehrfurcht vor denr russischen Gesetz, sondern um sich ihren Raub oder was sie sonst besitzen, anzueignen, und wenn sie den armen

Schelm ausgeplündert, so überliefern sie ihn den Behörden oder taffen

ihn laufen.

Da die Flüchtlinge weite und gefährliche Strecken meist in

großen Trupps zurücklegen, so kommt es oft zwischen ihnen und den

Burjaten zu förmlichen Scharmützeln, an denen sich sogar die burjatischen

Weiber betheiligen.

Am meisten werden

die

entlaufenen

Sträflinge

wegen der Goldkörner verfolgt, die sie in -ben Bergwerken auf die Seite

gebracht, und mit denen sie auf der Flucht ihre Bedürfnisse bestreiten.

442

Russische Vagabunden.

Sie machen gewöhnlich den Weg durch die Barabasteppe zwischen dem Ob und dem Irtysch in Gesellschaften, bis sie nach dem Gouvernement Tobolsk gelangen.

Von dort vertheilen sie sich, Einige wenden sich nach

dem Orenburgschen, die Meisten gehen aber nach Perm, von wo die große mssische Schifffahrt beginnt. Der Fluß Tschussowaja mündet näm­ lich unweit Perm in die Kama, die Kama in die Wolga, also stehen ihnen, wenn sie bis dahin gelangt sind, alle bedeutenden Verkehrsstraßen

offen, und damit ist das Schlinimste überwunden.

Sie haben außerdem

auch einige bestimmte Stationen im Gouvernement Tobolsk, sie erbauen

sich auch Erdhütten in den dortigen Wäldern, um sich dort für alle

Fälle zurückziehen und verbergen zu können. Die russische Gesetzgebung hat durch verschiedenartige Bestimmungen

dem Vagabundenwesen zu steuern gesucht, ohne daß jedoch der Erfolg der

Strenge, die man anwenden zu müssen geglaubt, entsprochen hätte.

Der

Deserteur wurde von der Militärgerichtsbarkeit zu so und so viel Spieß-

mthen verurtheilt, wenn er bei seiner Ergreifung seinen Stand nicht verhehlte, zu noch mehr,

wenn er ihn verheimlichte und doch erkannt

ward — und dennoch war die Zahl der Deserteure so hoch.

Jetzt wo

man Erleichterungen eintreten ließ, steht die Sache schon ungleich besser:

es laufen weniger Leute davon, und nun soll auch ihre Strafe abgeändert werden.

Aus allen diesen neuen Maßregeln spricht ein Geist, von dem

man auch hierin gewiß das Beste erwarten kann.

Beziehungen auch noch Manches zu verbessern.

Aber es ist in andern

Wir haben schon auf

die Masse der Vagabunden, die sich in Rußland herumtreiben, hinge­ wiesen; von diesen hatten die Polizeibehörden im Jahre 1857 allein 30,478 Personen blos wegen ungültiger Legitimation Jahre 1858 standen,

verhaftet.

Im

ohne daß man alle Provinzen dabei mitrechnete,

3,975 Individuen wegen Landstreicherei und 21,367 wegen Mangels an

Legitimation vor Gericht.

Das Alles sind eben Leute,

Regierung Kenntniß genommen,

von denen die

wie viel mehr mögen ihr unbekannt

geblieben oder ihrem Arm unerreichbar gewesen sein!

Die Gesetze sind

recht mild, wenn ein Landstreicher, der aber sonst nichts verbrochen hat, ergriffen wird und aufrichtige Angaben über sich macht.

Er wird dann

für den Mangel einer gehörigen Legitinration und für sein Herumtreiben eingesteckt oder mit einer Geldstrafe belegt und dorthin expedirt, wo er

zu Hause ist. Dieses Gesetz ist praktisch, wenn ihn Faulheit oder irgend ein geringfügiger Anlaß hinausgetrieben hat, aber nicht, wenn ihn die Bevornlundung seiner 6!emeinde oder sonst ein unerträglicher Druck ge­ peinigt, dem er sich durch die gezwungene Rückkehr in seine Heimath von Neuem ausgesetzt sieht. Jft nun der Schrecken vor dem bevor­ stehenden und vielleicht schon hinreichend bekannten und erprobten Uebel größer als die Furcht vor dem Zuchthaus und Sibirien, so wird der Vagabund lieber nicht sagen, wo er her ist, auch wenn er sonst kein Verbrechen begangen. Wie viel ängstlicher vollends sucht er es zu ver­ schweigen, wenn er aus der Leibeigenschaft entlaufen war, oder wenn er sich gar eines Verbrechens schuldig gemacht, für das ihm eine arge Criminalstrafe bevorstand'? In einem solchen Falle, d. h. wenn man weder Namen, noch Stand, noch Wohnort des Jnquisiten ausfindig machen konnte, bestimntten friiher die Gesetze: für Männer Ablieferung in das Correctionshaus, für Frauen Einsperrung in das Arbeits­ haus — und dann wurden beide nach überstandener Strafzeit zur An­ siedelung nach Ostsibirien deportirt. Außerdem bekamen sie für die etwa beim Verhör vorgebrachten falschen Angaben oder lügnerischen Ausweise Prügel, was allerdings die Ilusgaben nicht ersetzte, welche die Regierung an sie gewendet. So war in der Regel das Verfahren gegen sie, nur daß das Strafmaß häufig schwankte und von sehr verschiedenen Inter­ pretationen ausging. Während nämlich das Gesetz einen Katorshnik und einen entlaufenen Ansiedler strenger bestraft, wenn man ihn auf seiner Flucht im europäischen Rußland ergreift, so beobachtete es lange Zeit ein entgegengesetztes Verfahren mit den Vagabunden, über deren Person nichts zu ermitteln war. In: europäischen Rußland kamen sie nur auf ein Jahr in's Correctionshaus und dann nach Sibirien, wäh­ rend der in Sibirien Ergriffene 10 —12 Jahre im Correctionshause blieb, ehe man ihn ebenfalls zur Ansiedelung fortschaffte. Seit 1859 wurde dieser bedeutende Unterschied dadurch etwas ausgeglichen, daß der in Europa Ergriffene, nach seiner einjährigen Correctionshausstrafe erst auf vier Jahre in die» Katharinen- oder in die Uspenskische Fabrik kam, ehe er an den Ort seiner Ansiedelung gelangte. Dieses Gesetz wurde später aber für die Sibirier noch nachtheiliger, indem man dieselben trotz 10- bis 12jähriger Eorrection, wir wissen nicht, mit welcher Logik,

444

Russische Vagabunden.

ebenso wie die andern auf vier Jahre vor der Ansiedelung in die Fabriken

brachte.

Seit diesem Jahr endlich scheint die Sache regulirt, es werden

solche geheimnißvolle oder Jncognito-Vagabunden, ohne Unterschied, ob

man sie in Asien oder in Europa ergriffen, für ihre lügnerischen Angaben körperlich gezüchtigt, dann zu vier Jahren Correctionshaus verurtheilt und hierauf zur Ansiedelung nach Ostsibirien (Ostsibirien ist bekanntlich ein

verstärktes Sibirien) expedirt.

In den uns vorliegenden „Notizen" wird

dabei getadelt, daß dieses Gesetz gar nichts über diejenigen äußert, die

nach dem früheren System ihre Strafe schon angetreten,

so daß diese

möglicherweise nicht blos ihre zwölfjährige Correction, sondern auch noch

die vierjährige Zwangsarbeit bis zum Ende durchzumachen haben könnten.

Unser Berichterstatter kennt gewiß seine Leute, und da ist es schlimm, wenn er ihnen eine derartige Auslegung zutraut; Rechtsprincip ist sie aber unmöglich.

nach

dem russischen

Denn so wenig sonst ein Ukas

der wiffenschaftlichen Interpretation Raum giebt, so hat ein russisches

Gesetz ausdrücklich soweit rückwirkende Kraft, als eine mildere Straf­ rechtsbestimmung darin enthalten ist. Da Rußland sich

weder bis zum Preffen

friedlicher Bürger zu

Matrosm, noch zur neunschwänzigen Katze und andern crvilisirten Maß­

regeln Englands je verstiegen,

so könnten die gegen das Vagabunden­

thum ergriffenen Maßregeln Manchem vielleicht noch zu gelinde erscheinen.

Mr unsrerseits bekennen uns allerdings entschieden zu der Ansicht, daß die Regierung die Pflicht und das Recht habe, nicht blos wirkliche Ver­

brechen, wie es sich gehört, und ihrer Natur angemeffen, zu bestrafen, sondern auch energische Vorkehrungen gegen das Vagabundiren und die daraus entspringenden Uebel zu treffen.

Wenn aber große Uebel strenge

Maßregeln verlangen, und jede Mlde, am unrechten Orte angebracht,

etwas Unverzeihliches ist,

so dürste es andrerseits durchaus nicht ge­

nügen, wenn der Delinquent blos gestraft und wieder gestraft, aber doch

nicht unschädlich gemacht wird.

Nun fanden wir aber, daß bei den furcht­

bar strengen Maßregeln, die wir geschlldert, der Vagabund oder Sträf­

ling weder wirklich gebessert wird, noch überhaupt Gelegenheit erhält, die lobenswerthesten Vorsätze, die er vielleicht gefaßt, auszuführen und voll­

ständig mit der Vergangenheit zu brechen; endlich, daß er auch noch später Böses genug zu thun im Stande ist.

In welcher Beziehung ist er nun

dabei

unschädlich

geworden?

Die einzigen Vagabunden,

welche

der

menschlichen Gesellschaft nachträglich Nutzen gebracht, sind nur diejenigen,

die von bestechlichen Beamten der gesetzlichen Verfolgung entzogen und

in vacante Ländereien hineingeschmuggelt worden.

Danach scheinen die

betreffenden Gesetze nur

dann etwas zu taugen,

wenn sie umgangen

werden:

der Staat bei solchen Verhältnissen gedeihen?

wie soll

aber

Die Regierung hat das auch zum Theil eingesehen und in vielen Stücken

ihr Verfahren gemildert.

Sie hat z. B. verordnet,

daß in gewiffen

Fällen aus der Leibeigenschaft entlaufene Bauern sich bei einer beliebigen Gemeinde einschreiben lassen dürfen, wenn diese damit zufrieden ist.

Sie

läßt ferner die nach Sibirien Deportirten, denen es an Mitteln fehlt, sich die Reise erträglicher einzurichten, nicht mehr in langer Reihe paar­

weise an eine eiserne Stange geschmiedet, den Weg zu Fuß machen, son­ dern expedirt sie von Petersburg bis Rishni - Nowgorod per Eisenbahn,

von dort bis Perm per Dampfschiff, dann weiter bis Tjumen, der ersten sibirischen Stadt, zu Wagen,

und dann bis Tobolsk oder Tomsk auf

der Tura, dem Tobol, Irtysch,

Ob u. s. w.

wieder per Dampfschiff.

Außerdem bemüht sie sich viel um die Verbesserung der Strafanstalten. Alle diese

höchst anerkennensiverthen Fortschritte sind

aber

noch

nicht hinreichend, es muß das ganze Strafsystem reformirt werden, um

die Ursache so vieler Uebelstände gründlich zu beseitigen.

Es muß ferner

in den Gemeinde- und Bauernverhältniffen, Paßreglements u. s. w. noch viel geschehen, um auch von dieser Seite, so viel als irgend thunlich, ab­

zuhelfen, wie die Regierung ja schon für die Wohlfahrt der Soldaten

und für die Aufhebung der Leibeigenschaft alles Mögliche gethan. Damit wollen wir keineswegs sagen, daß Vagabundenthum, Bettelei, Proletariat ganz ausgerottet werden könnte: solchen Illusionen

haben wir uns nie

hingegeben, wir meinen nur, daß die Gesetzgebung auf die von ihr selbst dazu gegebenen Anlässe ihre Aufmerksamkeit zu richten und auf deren, wenn auch nicht plötzliche, doch allmähliche Beseitigung hinzuwirken hat. Dann dürfen wir auch das Ersprießlichste erwarten,

ohne in unseren

Hoffnungen zu weit zu gehen; denn bei den wenigen Erleichterungen hat das Desertiren der Soldaten und das Davonlaufen der Bauern gleich

so fühlbar abgenommen,

daß die Regierung den besten Beweis dafür

446

Russisch« Vagabunden.

gewinnt, was sie durch ihre Maßnahmen zu bewerkstelligen vermag. Gelingt es ihr nun allmählich durch neue Civil-, Criminal- und Admi­

nistrativmaßregeln auch in allen andern von uns geschilderten Fällen ein ähnliches Resultat zu gewinnen,

so hat sie schon

für das ausge­

dehnte Reich etwas Großes und Außerordentliches geleistet.

v. L.

Kleinrusfische Landedelleute. Idylle von Nikolaus Gogol.

Ich liebe sehr das bescheidene Leben jener einsamen Besitzer entlegner Dörfer, welche man in Kleinrußland als die „vom alten Schlage" be­

zeichnet;

sie gleichen baufälligen malerischen Häuschen, die durch ihre

Einfachheit schön sind, durch

ihren vollständigen Gegensatz zu neuen,

glatten Gebäuden, deren Wände noch nicht der Regen abgespült, deren Dächer noch nicht grünes Moos bedeckt, an deren Eingang noch nicht der Bewurf abgsfprungen und die rothen Ziegel hervorblicken. Ich ver­

setze mich gern bisweilen auf einen Augenblick in die Sphäre dieses un­

gewöhnlich einsamen Lebens, wo kein einziger Wunsch über das Gitter des

kleinen Hofes hinausgeht,

Pflaumenbäumen

über den Zaun des mit Aepfel- und

angefüllten Gartens

und über

die ihn umgebenden

Dorfhütten, die sich auf die Seite gesenkt, von Weiden, Flieder und Birnbäumen beschattet.

Das Leben ihrer bescheidenen Bewohner ist so

still, daß man sich für einen Augenblick vergessen und glauben könnte, es gäbe hier keine Leidenschaften, keine Wünsche, nichts von jenen Aus­

flüssen des bösen Geistes, welche die Welt erregen, man habe das alles nur in einem hellen, funkelnden Traumbild gesehen.

Noch steht es mir

vor Augen, das niedrige Häuschen, mit der Gallerie von kleinen schwarz­ hölzernen Säulen, die um das ganze Haus führt, damit man während

eines Gewitters die Fensterläden schließen kann, ohne vom Regen naß zu werden: dahinter duftige Eschen, ganze Reihen niedriger Obstbäume, überströmt

vom

Purpur der Kirschen und

von

den

blaßbläulich angehauchter Pflaumen — ein weitastiger

dunklen Wellen Ahom,

dessen Schatten zum Ausruhen ein Teppich ausgebreitet ist:

unter

vor dem

Aleinrussische Landedelleute.

448

Hause ein geräumiger Hof mit kurzem, frischem Rasen uud einem aus­ getretenen Fußsteg von der Scheune zur Küche, von der Küche zu den herrschaftlichen Zimmern: und dort die langhalsige Gans, die mit ihren flaumweichen Jungen Wasser trinkt — das Gitter, mit Bündeln ge­

trockneter Aepfel und Birnen und mit auszulüftenden Teppichen über­ hängt — die Fuhre Melonen an der Scheune, der. abgespannte Ochs,

der sich träge daneben hingelegt .... alles dies hat für mich einen

unaussprechlichen Reiz, vielleicht weil ich es nicht mehr sehe und weil

uns ja alles lieb ist, wovon wir getrennt sind.

Dem sei nun wie ihm

wolle, aber wenn mein Wagen sich diesem Häuschen nur näherte, fühlte

sich meine Seele schon in einem Zustande wundersam behaglicher Ruhe.

Munter trampelten die Pferde vor die Thüre, der Kutscher stieg ge­ mächlich vom Bock und stopfte sich seine Pfeife, als wär' er zu Hause,

selbst das Gebell der phlegmatischen Köter und Zottler klang meinen Aber mehr als alles gefielen mir die Besitzer dieser

Ohren angenehm.

Men Winkel selbst, die alten Väterchen und Mütterchen, die sorglich mir entgegenkamen.

Ihre Gesichter schweben mir noch jetzt vor, bis-

wellen mitten im Geräusch und im Gedränge modischer Fracks, und dann ist's mir plötzlich wie im Traum, und mir dämmert die Ver­

gangenheit auf.

Auf ihren Gesichtern lag stets eine solche Güte, eine

solche Herzlichkeit und Offenmüthigkeit, daß man unwillkürlich wenigstens

auf eine Weile sich aller kühnen Ideen entschlug und unmerklich mit allen seinen Empfindungen sich in das harmlose idyllische Leben versenkte. Ich kann bis heutigen Tag ein Paar alte Leutchen aus jener Zeit

nicht vergessen: ach, sie sind beide nicht mehr, aber noch Mt Wehmuth

meine Seele, und es preßt mir seltsam das Herz zusammen, wenn ich mir denke, daß ich wieder einmal an ihren frühern, nunmehr verödeten Wohnort komme, und an der Stelle, wo ihr niedriges Häuschen stand,

einen eingefallenen Zaun, einen versumpften Teich, einen überwachsenen

Graben erblicke — und weiter nichts.

Ja, dann wird mir traurig zu

Muthe, schon im voraus recht traurig!

Doch wenden wir uns zur

Erzählung.

Afanassi Iwanowitsch Tostohub und seine Frau Pulcheria Iwa­ nowna Tostohuhin, wie sie die benachbarten Bauem nannten, waren

jenes alte Paar, von dem ich zu sprechen angefangen.

Wenn ich ein

Maler wäre und Philemon und Baucis auf der Leinwand darstelletl

wollte, ich würde mir nie ein anderes Modell wählen als sie.

Afanassi

Iwanowitsch

fünfzig Jahr alt.

ständig

»var ein Sechziger,

Pulcheria Iwanowna

Afanassi Iwanowitsch war hochgewachsen, trug be­

einen mit Camelot überzogenen Schafspelz,

ächelte fast immer, er mochte erzählen oder nur hören.

saß gebückt

und

Pulcheria Iwa­

nowna dagegen war etwas ernst, lachte fast niemals; aber aus ihren Zügen, aus ihren Augen sprach so viel Güte, so viel Bereitwilligkeit, Einen mit dem

Besten, was sie hatten, zu bewirthen, daß gewiß Jedem ein Lächeln auf diesem guthmüthigen Gesichte schon gar zu süß vorgekommen wäre. seingezogenen Runzeln

auf Beider Gesicht hatten

so

Die

etwas Angeneh­

mes, daß ein Künstler sie ihnen sicherlich abgestohlen hätte.

Es schien,

als könnte man darin ihr ganzes Leben lesen, jenes klare, ruhige Leben, wie es die altnationaleu, schlichten und dabei wohlhabenden Familien

geführt, die immer einen solchen Gegensatz bilden zu jenen niedrigen Kleinrussen, welche vom Theerhändler und Schacherer sich heraufdrängen, wie die Heuschrecken alle Gerichtssäle und Expeditionen füllen und ihren

eignen Landsleuten den letzten Heller abnehmen, Petersburg mit Rabu­ listen überschwemmen, zuletzt sich ein Capitälchen zurücklegen und feierlich ihren auf o ausgehenden Namen ein großrussisches w anhängen.

Nein,

sie glichen jenen armseligen, Verachtungswerthen Geschöpfen so wenig wie alle echten alten Familien Kleinrußlands.

man nicht ohne Antheil betrachten.

Ihre gegenseitige Liebe konnte

Nie sagten sie zu einander „du,"

sondern nur „Sie". — Sie, Afanassi Iwanowitsch, Sie, Pulcheria Iwa­

nowna.

„Den Stuhl haben Sie eingedrückt, Afanassi Iwanowitsch?"

— „Sein Sie nicht böse, Pulcheria Iwanowna, das war ich."

Kinder

hatten sie nie gehabt, und darum wandten sie ihre Neigung einander ausschließlich zu.

Einst in seiner Jugend hatte Afanassi Iwanowitsch

bei der „Compagnie" gedient und wurde hernach Secondmajor.

das war schon sehr lange her, das war vorbei; selbst erwähnte es fast niemals.

Aber

Afanassi Iwanowitsch

In seinem dreißigsten Lebensjahre hei-

rathete er: da war er ein flotter Bursch und trug ein gesticktes Camisol;

er entführte sogar recht geschickt Pulcheria Iwanowna, die ihre Ver­ wandten ihm nicht zur Frau geben wollten; aber auch dessen schien er

sich kaun« mehr zu erinnern, wenigstens sprach er nie darüber.

Allen

450

Kleinrussische Landedelleute.

diesen ftühren ungewöhnlichen Ereignissen war längst ein ruhiges, ein­ sames Leben gefolgt, jenes schlummernde und zugleich htrrmonische Hin­ träumen, das wir empfinden, wenn wir auf dem Balkon eines Dorf­ häuschens sitzen, der nach dem Garten geht, und ein schöner Regen schwellend herabrauscht, das Laub peitscht, in plätschernden Bächlein zusammenströmt und alle unsere Glieder in Schlummer tönt, lvährend hinter den Bäumen in Gestalt einer halbzertrmnmerten Wölbung der Regenbogen hervorblickt und mit seinen sieben Farben blaß am Himmel leuchtet; oder wenn uns ein Wagen wiegt, der zwischen grünen Ge­ sträuchen taucht, wenn die Steppenwachtel schlägt, und das duftige Gras sammt den Aehren und Kornblumen zuni Schlag hereindringt und uns angenehm Gesicht und Hände streift. Mit heiterm Lächeln ließ er sich immer von seinen Gästen erzählen, sprach wohl auch selbst bisweilen, ant meisten aber hatte er zu fragen. Er gehörte nicht zu jenen Greisen, die mit ihrem ewigen Lob der alten Zeit und Tadel der neuen lästig werden; im Gegentheil, es äußerte sich in seinen Fragen große Neugier und Antheil an den Lebensverhältniffen, am Wohl und Weh des Andern, was gute alte Leute immer interessirt, obschon diese Neugier einigermaßen der eines Kindes gleicht, das, wäh rend es mit euch spricht, das Siegel an eurer Uhrkette betrachtet. Dann, ich darf es wohl sagen, athmete sein Gesicht Güte. Die Zimmer, die unser Paar beivohnte, waren klein, niedrig, wie man sie gewöhnlich bei Leuten alten Schlages trifft. In jedem stand ein ungeheurer Ofen, der fast deit dritten Thetl des Zimmers eimtahm. Alle waren furchtbar warm, weil Afaitassi Iwanowitsch und Pulcheria Iwanowna die Wärme gar sehr liebten. Geheizt »vurden sie von der Flur aus, wo denn auch fast immer Stroh bis hoch an die Decke lag. Dies ist nämlich in Kleinrußland das geivöhnliche Brennmaterial statt des Holzes; das Knistern und Leuchten des brennnendcn Strohes macht die Flur sehr angenehm in Winterabendcit, wenn die muntere Jugend, nachdem sie draußen bei Verfolgung irgend einer Brünette ganz erfroren, in die Hände klatschend hereingelaufeit kommt. Die Wände des Zim­ mers waren mit vielen Bildern und Bilderchen in schmalen, alterthümlichen Rahmen verziert. Ich bin überzeugt, der Hausherr selbst und seine Frau hatten längst vergessen, was diese Bilder darstellten, und

hätte man ihnen einige weggetragen, sie würden es sicherlich nicht ge­ merkt haben. Zwei Portraits waren groß, in Del gemalt, das eine irgend eines Geistlichen, das andere Peters III. Aus einem schmalen Rähmchen blickte die Herzogin Lavalliöre, von Fliegen beschmutzt. Um das Fenster und über der Thiir hingen eine Menge kleiner Bilderchen jener Art, die man sich fast gewöhnt für Flecken an der Wand zu nehmen, und die man daher gar incht ansieht. Der Boden war in allen Zimniern ungedielt, aber so sauber mit Lehm gestrichen, so reinlich, wie gewiß in keinem reichen Hause das Parquet, das der verschlafene Herr in Livree träge abgekehrt. Das Zimmer Pulcheria Jwanowna's stand voll Kasteit und Kisten, Kistchen und Kästchen. Eine Menge Säcke und Körbe mit Samen, und zwar von Blumen, Küchenpflanzen, Wasser­ melonen, hingen an den Wänden. Alehrere Knäuel buntfarbiger Wolle, Läppchen alter Kleider, die vor einem halben Jahrhundert gemacht waren, lagen in den Ecken umher, in und zwischen den Kistchen. Pul­ cheria Jivanowna war sehr haushälterisch und hob Alles auf, wiewohl sie oft selbst nicht wußte, ivozu es eiumal gebraucht werden sollte. Das Bemerkenswertheste aber im Hause waren die singenden Thüren. Ich kann es nicht sagen, woher es kam, daß sie sangen. Waren die ver­ rosteten Angeln die Ursache, oder hatte ibr Meister selbst einen geheimen Mechanismus in ihnen angebracht — aber merkwürdig ist, daß jede Thür eine andere Stimme hatte. Die ins Schlafzimmer führende, sang den allerfeinsten Discant, die ins Eßzimmer schnurrte Baß, dagegen die in der Flur gab einen seltsam zitternden und zugleich stöhnenden Ton von sich, so daß, toemi man genau hinhörte, es Einem zuletzt ganz deutlich klang: „Meine Lieben, ich friere!" Ich weiß, daß Bielen dieser Ton durchaus nicht gefällt; ich aber habe ihn sehr gern, und wenn es mir hier einmal begegnet, daß ich Thüren knarren höre, so weht es mich plötzlich toie Landluft an und mir ist, als käme ich ins niedrige Zimntercheu, von einem Licht in alterthüinlichem Leuchter erhellt, als sei das Abendessen schon aufgetragen, und die dunkle Mainacht blickt aus dem Garten durch das offene Fenster auf den gedeckten Tisch, als trillerte die Nachtigall durch den Garten, das Haus und über den entfernten Fluß hin, als flüsterten schaurig die Zweige, und . . . mein Gott! lvelch eine Reihe von Erinnerungen zieht da an mir vorüber! Russische Revue n. 6. Heft. 1863.

31

452

Kleinrussische Landedelleute. Die Stühle waren massiv hölzerne, wie man sie vor Alters hatte:

alle mit hoher gedrechselter Rückenlehne, weder angestrichen noch lackirt,

ja nicht einmal mit irgend einem Stoff überzogen; sie glichen einiger­ maßen den Stühlen, auf die noch heutzutage die hohen Geistlichen sich

setzen.

Dreieckige Tischchen in den Winkeln, viereckige vor dem Divan

und dem Spiegel in dünnem Goldrahmen

mit geschnitzten Blättern,

welche die Fliegen mit schwarzen Punkten übersäet — vor dem Divan ein

Teppich mit Vögeln, die wie Blumen aussahen, und Blumen, die wie

Vögel aussahen:

das war fast der ganze Schmuck des anspruchslosen

Häuschens, in welchem meine guten Alten wohnten. Das Mägdezimmer stak

voll von jungen und nicht jungen Mädchen in streifigen Röcken; denen gab Pulcheria Iwanowna dann und wann eine Kleinigkeit zu nähen, oder sie ließ sie Beeren lesen, meist aber liefen sie nach der Küche und schliefen.

Pulcheria Iwanowna fand es unumgänglich, sie im Hause zu behalten,

und überwachte streng deren Sittlichkeit.

Aber zu ihrem größten Er­

staunen vergingen nie einige Monate, ohne daß bei irgend einem ihrer Mädchen der Leib ungewöhnlich zunahm; es war dies um so mehr zu

verwundern, da im Hause sich fast gar kein Junggeselle befand, mit

Ausnahme

des Stubenjungen, der, wenn er nicht aß, gewiß schlief.

Pulcheria Iwanowna schalt gewöhnlich die Schuldige aus und verbot dergleichen in Zukunft auf's

allerstrengste.

An

den

Fensterscheiben

summte eine erschreckliche Menge Fliegen, die alle der dumpfe Baß der Hummel überstimmte, zuweilen von dem durchdringenden Schrillen der Wespen begleitet.

Sobald jedoch Licht gebracht wurde, begab sich der

ganze Schivarm zur Ruhe und lagerte sich wie eine schwarze Wolke über die Decke.

Afanassi Iwanowitsch bekümmerte sich sehr wenig um die Wirth­ schaft, wiernohl er manchmal zu den Schnittern hinausfuhr und ihrer

Arbeit aufmerksam zusah. Pulcheria Iwanowna.

Die ganze Last

der Verwaltung lag auf

Ihre wirthschaftliche Thätigkeit bestand in unauf­

hörlichem Auf- und Zumachen der Speisekammer, int Einlegen, Trocknen, Einkochen einer zahllosen

Menge Früchte und Pflanzen.

Ihr Haus

glich vollständig einem chemischen Laboratorium. Unter einem Apfelbaum

war immerwährend Feuer angemacht, und vom eisernen Dreifuß kam

fast niemals ein Kessel oder eine kupferne Schüssel mit Eingemachtem,

@elee, Honigküchelchen, Znckerplätzchen und ich weiß nicht was sonst noch. Unter einem andern Baume zog der Kutscher in einem fort Liqueur ab von Pfirsichblättern, Ramseiblüthen, Kirschkernen; am Schluffe dieses Prozesses war er nie im Stande die Zunge zu rühren, lallte solchen Unsinn, daß Pnlcheria Zivauolvna ilichts verstehen konnte, und ging in die Küche schlafen. Bou all dem Zeug lvurde eine solche Menge einge­ kocht, eingelegt, eingetrvcknet, daß es sicherlich den ganzen Hof über­ schwemmt haben lvürde (denn Pulcheria Jivanowna bereitete gern noch über den angenommenen Bedarf hinaus viel zunr Vorrath), hätten nicht die Mägde die größte Hälfte davon vertilgt, die üt der Speisekammer sich so furchtbar vollfraßeil, daß sie den ganzen Tag über Leibschneiden klagten und ächzten. Auf den Ackerbau und die übrigen wirthschaftlichen Punkte außerhalb des Halises konute Pulcheria lvenig eingehen. Der Berlvalter in Gemeinschaft mit dem Bogt stahl unbarmherzig. Beide hantierten in den herrschaftlichen -tl-äideru, wie toemi sie ihre eignen wären, fertigten eine Menge Schlitten, die sie ans deiil nahen Jahr­ märkte los lvurdcn, uild vei'tmiftcn alle dicken Eichenstümme den be­ nachbarten Kosaken ziuu Äkühleiigcbälk. Nur einmal hatte Pulcheria Jlvanowna t>en Wunsch, ihre Wälder zu revidiren. Zll dem Ende wurde eine Droschke mit großmächtiger Lederdecke angespannt: sobald der Kutscher an den Strängen zog und die Pferde, die noch bei der Miliz gedient, sich von der Stelle rührten, erfüllte die Luft ein sonderbares Getön, wie luemi auf einmal Flöte, Schellen und Trommelschlag durcheülanderschallten; jeder Nagel, jeder eiserne Haken klirrte, so daß man selbst an den Bkühlen hören konnte, luie die gnädige Frau ausgefahren, obgleich es eine Entfernung von nicht weniger als zwei Wersten war. Die schreckliche Waldverwüstung, der Verlust jener Eichen, die sie noch in ihrer Kindheit als hundertjährige gekannt hatte, konnte von Pulcheria Iwanowna nicht unbemerkt bleiben. „Wie kommt das," sagte sie zu dem anwesenden Vertvalter: „daß sich die Eichen so gelichtet'? Sieh, zu daß sich nicht Deine Haare lichten!" — „Wie das kommt'?" entgegnete der Vertvalter gelassen: „sind eingegangeu, gnädige Fratt, wahrhafttg eingegangen! Der Blitz hat sie getroffen, Würmer haben sie zernagt — sind wahrhaftig eiugegangen." Pulcheria Jtvanotvna befriedigte diese Antwort vollständig, und zu Hause gab sie den Befehl, nur im Garten 31*

454

Kleinrussische Landedelleute.

über die spanischen Kirschen und Winterbirnen die Hut zu verdoppeln.

Diese würdigen Männer, der Verwalter und der Vogt, fanden es auch

überflüssig, das ganze Mehl in die herrschaftlichen Scheunen zu bringen; nach ihrer Meinung hatte die Herrschaft auch an der Hälfte genug:

und diese Hälfte brachten sie nachgerade verschimmelt oder durchnäßt,

was sie just auf dem Jahrmarkt als Ausschuß zurückbehalten hatten.

Aber so viel auch der Verwalter und der Vogt stahlen, so fürchterlich

alles im Hause ftaß, von der Wirthschafterin bis zu den Schweinen, die

eine schwere Menge Pflaumen und Aepfel vertilgten und oft sogar eigens mit ihren Rüsseln an den Baum stießen, damit er Obst herabregne, so

viel auch die Sperlinge und Raben wegpickten, so viel das ganze Ge­ sinde an seine Gevatterschaft in fremden Dörfern verschenkte (es schleppte

sogar alte Leinwand und Geschirr aus den Scheunen, und alles dies floß der Universalquelle zu, d. h. der Schenke), so viel die Gäste entwen­

deten, die phlegmatischen Kutscher und Lakaien — das gesegnete Land

erzeugte doch alles in solcher Menge, und die beiden Alten brauchten so wenig, daß all diese schreckliche Plünderung in ihrer Wirthschaft sich kaum bemerkbar machte.

Afanassi Jwanolvitsch und Pulcheria Iwanowna waren nach der Weise aller Gutsbesitzer von altem Schlag große Freunde von Essen und Trinken.

So wie es Tag wurde (sie standen immer früh auf) und das

vielstimmige Thürenconcert anging, saßeil sie schon beim Kaffee.

Rach

dem Kaffee trat Afanassi Iwanowitsch in die Flur und scheuchte die

Gänse mit dem Tuche, Kisch! Kisch! rufend, fort von der Thür.

Im

Hofe traf er gelvöhnlich den Verwalter; er ließ sich immer in ein Ge­

spräch mit ihm ein, erkundigte sich genau nach den Arbeiten und theilte

ihm Bemerkungen und Weisungen mit, in denen eine ungetvöhnliche Kenntniß der Landwirthschaft gewiß Jeden verwundern mußte, so daß ein Neuling sich nicht einmal zu denken getraut hätte, daß bei einem so umsichtigen Wirthe Stehlen möglich sei.

Aber der Verwalter war ein

durchtriebener Fuchs; er verstand zu antworten und noch besser

wirthschaften.

zu

Darauf ging Afanassi Iwanowitsch ins Zimmer zurück

und sagte, sich seiner Frau nähernd: „Nun, Pulcheria Iwanowna, wär's nicht

vielleicht Zeit, einen Imbiß zu nehmen'?" — „Aber was svll's

denn nur gleich

sein,

Afanassi Jwarlowitsch?

Vielleicht Plätzchen mit

Fett

oder eingelegte Pilze?"

oder Mohnpastetchen,



„Meinetwegen

Pilze oder Pastetchen," antwortete Afanassi Jwanoivitsch,

und schnell

war der Tisch gedeckt und Pastetchen nebst Pilzen aufgetragen.

Eine

Stunde vor dein MittagSesseu nahm Afanassi Iwanowitsch wieder einen

Imbiß, trank ans einem alterthümlichen silbernen Pokal Branntwein,

aß Pilze dazu nebst

Zu Mittag gegessen

gebacknen Fischen u. s. >v.

wurde itni zwölf Uhr.

Außer Schüsseln und Saucenkännchen standen

auf dem Tische eine Menge Töpfchen mit verklebten Deckeln, damit nicht ein appetitliches Erzeugniß

irgend

Ueber Tische lvurde meist von Gegenständen gesprochen, die

dampfe.

das Essen zunächst angiugen.

vor,"

der alten schmackhaften Küche aus­

pflegte

„Mir kommt dieser Brei etwas angebrannt

Afanassi Iwanowitsch

zu

sagen:

auch, Pulcheria Iwanowna?" — „Nein,

scheint's

Ihnen

nicht

Afanassi Iwanowitsch, thun

Sie nur mehr Bickter hinein, so ivird er Ihnen nicht mehr angebrannt vorkommen, oder gießen Sie doch diese Pilzsance darüber."

wegen,"

sagte

Afanassi

Jlvanotvitsch und

„wollen den Versuch nrachcn."

reichte seinen

„Meinet­

Teller hin:

Nach dem Mittagsessen ruhete Afanassi

Iwanowitsch ein Stündchen, worauf ihm Pulcheria Iwanowna eine aus-

einandergeschnittcne Wassermelone brachte mit den Worten: „Kosten Sie doch, Afanassi Iwanowitsch, >oas das für eine gute Wassermelone ist."

— „Geben Sie nichts darauf, Pulcheria Ztvanotvna,

daß sie roth in

der Mitte ist; es giebt auch rothe, die nicht gut sind." Aber die Wasser­ melone verschwand gleich.

Hierauf aß der Alte noch einige Birnen und

machte mit seiner Frau einen Spaziergang im Garten. Wenn sie zurück­

kamen, ging Pulcheria Iwanowna an ihre Beschäftigung, er aber setzte sich unter's Wetterdach nach den« Hofe zu und sah,

wie die Speise­

kammer fortwährend ihr Inneres öffnete und schloß,

Ivie die Mägde

einander stoßend

einen Hansen

allerlei Zeugs

in

hölzernen

Kistchen,

Sieben, Schwingen und andern Fruchtbehältern bald hinein-, bald hin­ austrugen.

Nach einem Weilchen schickte er nach Pulcheria Iwanowna

oder begab sich selbst zu ihr, und sagte: „Was könnt' ich denn nur essen, Pulcheria Iwanowna?" — „Was denn?" versetzte sie.

„Ich gehe viel­

leicht und sage, daß man Ihnen die Klöße mit Erdbeeren bringt, die

ich eigens für Sie habe aufheben Afanassi Iwanowitsch.

lassen?" — „Auch das," erwiederte

„Oder wollen Sie nicht vielleicht Kaltschale?" —

456

Kleinrussische Landedelleute.

„Auch das/' war die Antwort, worauf denn alles dies gleich gebracht und natürlich gegessen wurde. Vor dem Nachtmahl nahm Afanassi Iwanowitsch noch etwas zu sich. Um halb zehn Uhr setzten sie sich zum Nachtmahl, dann gingen sie schlafen, und allgemeine Stille trat mif diesem geschäftsvollen und doch ruhigen Plätzchen ein. Das Zimmer, in welchem Afanassi Iwanowitsch und Pulcheria Iwanowna schliefen, war so warm, daß Wenige im Stande gelvesen wären, ein paar Stun­ den darin zu bleiben. Afanassi Iwanowitsch aber legte sich, um es noch wärmer zu haben, auf den Ofen, »viewohl ihn die große Hitze trieb, oft mitten in der Nacht aufzustehen und im Zimmer hin- und her zu schreiten. Bisweilen ächzte Afanassi Jwanoivitsch, ivährend er so im Zimmer herumging. Dann fragte ihn Pulcheria Iwanowna! „Warum ächzen Sie denn, Afanassi Iwanowitsch?" — „Gott weiß, Pulcheria Iwanowna, mir ist, als tocmt ich etwa? Leibschmerzen hätte." — „Vielleicht essen Sie was, Afanassi Jlvanolvitsch." — „Ich weiß nicht, ob das gut sein wird, Pulcheria Iwanowna — übrigens, was könnt' ich denn nur essen?" — „Saure Milch oder etwas dünnes Mus mit getrockneten Birnen." — „Aieinetlvegen, ich tvill es nur kosten," sagte Afanassi Jwanoivitsch. Das verschlafene Mädchen ging und wühlte in den Schränken — und Afanassi Jwanoivitsch aß einen Teller voll. Dann sagte er geivöhnlich: „Jetzt fühle ich mich etivas erleichtert." Bisweilen, wenn draußen schönes Wetter, das Zimmer recht geheizt und Afanassi Jwanoivitsch in guter Laune ivar, spaßte er gern mit Pulcheria Iwanowna und sprach von etwas ganz Fernliegendem. „Nun, Pulcheria Iwanowna," sagte er: „ivcim auf einmal unser Haus ab­ brennt, wo kämen wir hin?" — „Da fei Gott vor!" rief Pulcheria Iwanowna, sich bekreuzend. — „Aber gesetzt, unser Haus brennte ab, wo zögen wir dann hin?" — „Weiß Gott, was Sie da reden, Afa­ nassi Iwanowitsch! Wie sollte unser Haus abbrennen: das wird Gott verhüten." — „Nun, wie aber, wenn's abbrennte?" — „Nun, dann zögen wir in die Küche. Sie würden sich eine Zeitlang mit dem Zimmerchen begnügen, das jetzt die Wirthschafterin beivohnt." — „Aber wie, wenn die Küche auch abbrennte?" — „Der Herr bewahre uns vor solchem Unglück, daß auf einmal das Haus und die Küche ab­ brennte! Nun, dann müßten ivir in die Speisekammer, bis ein neues

Haus fertig würde." „Aber wenn die Speisekammer auch abbrennte?" — „Weiß Gott, was Sie da reden! Ich will Sie gar nicht mehr hören! Es ist Sünde, so zu sprechen, Gott straft für solche Reden." — Afanassi Iwanowitsch aber, zufrieden, daß er mit Pulcheria Iwanowna ge­ spaßt, blieb lächelnd sitzen. Doch am allerinteressantesten schienen nur die alten Leutchen, wenn sie Besuch hatten. Dann nahm in ihrem Hause alles eine andere Ge­ stalt au. Diese guten Menschen, man kann es sagen, lebten ganz und gar ihrcni Gast. Das Beste, was sie besaßen, wurde hervorgeholt. Sie wetteiferten miteinander, Einein alles vorzusetzen, was ihre Wirth­ schaft bot. Aber am angenehmsten Ivar mir, daß all ihre Gefälligkeit nichts Süßliches hatte. Dieses herzliche Wohlwollen sprach sich so mild in ihren Zügen aus und stand ihnen so gut, daß man unwillkürlich ihren! Nöthigen nachgab. Es ging aus der reinsten Einfalt ihrer guten, offenen Seelen hervor. Es war eine andere Herzlichkeit, als die, mit welcher ein Regierungsbeamter Jemand bewirthet, durch dessen Ver­ wendung er emporgekvmmen, den er seinen Wohlthäter nennt, vor dem er kriecht. — Kein Gast wurde am selben Tage fortgelassen, er mußte durchaus die Nacht bleibe». „Wie können Sie so spät noch einen so weiten Weg machen!" pflegte Pulcheria Iwanowna zu sagen (der Gast wohnte nämlich in der Regel drei oder vier Werste von ihnen). — „Freilich," sagte Afanassi Iwanowitsch: „man weiß nicht, was be­ gegnen kann — wenn Einen Räuber überfallen, oder Spitzbuben!" — „Bewahre der Himmel!" rief Pulcheria Iwanowna: „wer wird denn auf die Nacht von so etwas sprechen! Räuber hat mau nicht zu fürchten — aber es ist draußen so finster, Sie können durchaus nicht fahren. Und Ihr Kutscher, ich kenne ja Ihren Kutscher, der ist so schwach und klein, daß ihn jede Mähre todtschlägt; jetzt hat er sich gewiß schon satt gegessen und schläft irgendlvo." Kurz und gut, der Gast mußte durchaus bleiben. Doch belohnte ihn auch der Abend in dem warmen, niedern Zimmerchen, wo ein herz­ liches, wvhlthuendes und einschläferndes Gespräch geführt wurde, und das nahrhafte, meisterlich zubereitete Essen gar traulich dampfte. Ich sehe noch wie heute Afanassi Iwanowitsch gebückt auf dem Stuhle sitzen und dekn Gast ansmerksam, ja sogar mit Vergnügen zuhören.

458

Kleinrussische Landedelleute. Der Gast, der auch sehr selten

Bisweilen kam die Rede auf Politik.

sein Dorf verließ,

zog mit bedeutsamen Mienen und geheimnißvollem

Ausdrucke des Gesichts seine Schlüsse und erzählte, der Franzose habe sich heimlich mit dem Engländer beredet, Bonaparte wieder gegen Ruß­

land ziehen zu lassen, oder er sprach im Allgemeinen von bevorstehendem

Krieg, und dann sagte Afanassi Iwanowitsch oft, wie wenn er seine Frau gar nicht sähe:

„Ich will auch in den Krieg:

warum könnte ich

denn nicht?" — „Er ist gleich dabei!" fiel Pulcheria Jivanowna ein.

„Glauben Sie ihm nur nicht," sagte sie, sich zum Gaste wendend: „wie

soll er auf seine alten Tage in den Krieg?

Der erste beste Soldat er­

schießt ihn, bei Gott, er erschießt ihn, legt ohne Weiteres auf ihn an und schießt ihn todt." — „Ei was,"

erschieße ihn auch . . ."

Iwanowna,

„hören Sie nur,

was er spricht!

sind

längst

verrostet

sollten sie nur

sehen,

noch vor

Pistolen

Seine

Sie

sagte Afanassi Iwanowitsch, „ich

„Hören Sie nur," unterbrach ihn Pulcheria

Pulver.

und

dem

Er will in den Krieg!

liegen

in

der

Kammer:

Schusse sprengt

sie

das

Und die Hände wird er sich zerschlagen und das Gesicht ver­

stümmeln, und wird für ewige Zeiten unglücklich." — „Ei was!" ver­ setzte Afanassi Iwanowitsch:

„ich kaufe mir neue Waffen, einen Säbel

oder eine Kosakenpike. — „Das will er Einem nur weismachen!" fiel Pulcheria Iwanowna ärgerlich ein.

„Was ihm nur auf einmal in den

Sinn kommt! Ich weiß zwar, daß er scherzt, aber es ist doch unange­

nehm zu hören;

solches Zeug

Einem ordentlich Angst."

spricht er immer — manchmal wird's

Aber Afanassi Iwanowitsch, zufrieden, daß

er seine Frau ein wenig erschreckt, bückte sich auf seinen Stuhl und lachte.

Pulcheria Iwanowna zum Imbiß führte.

gefiel mir am meisten, wenn sie den Gast

„Dieser Branntwein," sagte sie, den Pfropfen aus

einer Flasche ziehend: „ist ein Salbeiaufguß;

schmerzen hilft er sehr;

bei Achsel- oder Kreuz­

hier das Tausendgüldenkraut: recht gut gegen

Ohrensausen und Flechten.

Der da ist

von Pfirsichkernen

nehmen Sie doch ein Gläschen — welch ein schöner Duft! etwa beim Aufftehen aus

abgezogen,

Wenn man

dem Bette sich an eine Schrankecke oder an

einen Tisch stößt und eine Beule au

der Stirn aufläuft, so braucht

man nur vor dem Mittagessen ein Gläschen davon zu trinken — und

weg ist alles, wie wenn's gar nicht da gewesen wäre."

Hierauf folgte

ein ähnlicher Bericht über die andern Flaschen, die sämmtlich eine ge­ wisse Heilkraft hatten. Nachdem der Gast dieser ganzen Apotheke hatte zusprechen müssen, führte sie ihn zu einer Menge daneben stehender Teller. „Hier haben Sie Pilze mit Quendel, hier mit Gewürznelken und Haselnüssen. Die hat mich eine Türkin einlegen gelehrt, als noch die Türken bei nns in Gefangenschaft waren. Das war eine recht gut­ müthige Türkin, und man konnte gar nicht merken, daß sie den türki­ schen Glauben hatte; sie ging fast ganz wie wir, nur Schweinefleisch aß sie nicht, das soll ihnen verboten sein. Hier haben Sie Pilze mit Jo­ hannisbeerblättern und Muskatnuß. Und sehen Sie die großen Kräuter da die hab' ich zum ersten Mal eingelegt und weiß noch nicht, wie sie schmecken; das Reeept verrieth mir der Pfarrer Iwan: man muß in einem kleinen Fäßchen zuallervvrderst Eichenblätter ansbreiten, darüber Pfeffer und Salz streuen, nnd dann kommen die Blüthen da hinein, mit den Stielen nach oben. Tas dort sind Pastetchen mit Käse: und die hier mit Sauerkraut und Buchweizen liebt Afanassi Iwanowitsch ganz besonders. — „Ja," setzte Afanassi JumnMvitsch hinzu: „ich esse sie sehr gern, sie sind tveich und etivas säuerlich." Ueberhaupt war Pulcheria Jwauonma in der allerbesten Stimmung, wenn sie Besuch hatte. Die gute Alte! sie war ganz ihren Gästen hin­ gegeben. Ich fühlte mich ungemein wohl bei ihnen, und obgleich ich wie alle, die sie besuchten, fürchterlich viel essen mußte, obgleich mir dies sehr schädlich war, so besuchte ich sie doch stets mit Vergnügen. Uebrigens meine ich, die Luft selbst müsse in Kleinrußland eine besondere Eigenschaft haben, welche die Verdauung befördert; denn wollte hier zu Lande sich Jemand in solchem Maße vollessen, so würde er ohne Zweifel statt ins Bett in den Sarg kommen. Ihr lieben Alten! Aber meine Erzählung nähert sich einem sehr traurigen Ereigniß, welches auf immer das Leben dieses friedlichen Oertchens veränderte. Dieses Ereigniß erscheint um so auffallender, da es aus einem höchst unbedeutenden Umstande hervorging. Doch das ist nun einmal der eigenthümliche Lauf der Dinge, daß oft die geringfügigsten Ursachen große Ereignisse Hervorrufen, und umgekehrt große Unternehmungen von

Kleinrussische Landedelleutc.

460

Mancher Eroberer sammelt alle Kräfte

den geringfügigsten Folgen sind.

seines Reiches, kriegt mehrere Jahre hindurch, seine Heerführer werden

berühmt, und alles das endet mit der Erkämpfung einer Handvoll Erde, wo man nicht einmal Platz genug hat, Kartoffeln zu bauen: dagegen zanken sich einmal zwei Wurstmacher aus zwei Städten um eine Klei­

nigkeit, und der Zank verbreitet sich bald über die Städte und dann über Dörfer und Flecken und zuletzt über das ganze Reich. Aber taffen

wir diese Reflexionen, sie gehören nicht hierher, auch liebe ich überhaupt

keine Reflexionen, wenn sie eben nur solche bleiben. Pulcheria Iwanowna hatte ein graues Kätzchen, welches fast immer in einen Knäuel zusammengeballt zu ihren Füßen lag.

Sie streichelte

es bisweilen und kitzelte es am Halse, den das verhätschelte Kätzchen dabei so lang als möglich reckte.

Man kann just nicht sagen, daß Pul­

cheria Iwanowna das Thier außerordentlich geliebt hätte, aber da sie einmal an dasselbe gewöhnt war, hatte sie es gern.

Doch spöttelte bis­

weilen Afanassi Iwanowitsch über diese Zuneigung.

„Ich weiß nicht, Pulcheria Iwanowna, was Sie nur an der Katze finden? Was soll sie? Ja, wenn Sie noch einen Hund hätten, das

wär' was Anderes: einen Hund kann man zur Jagd brauchen, aber eine Katze wozu?" — „Sein Sie doch stille, Afanassi Iwanowitsch:

nur hinein und weiter nichts.

Sie reden immer

Ein Hund ist unreinlich, ein Hund macht

alles schmutzig, beißt alles, aber eine Katze ist ein stilles Geschöpf, das

Niemand Leides thut." Uebrigens

war's

Afanassi Iwanowitsch völlig

oder Katze: er sagte das nur,

gleich,

ob Hund

um Pulcheria Iwanowna ein wenig

zu necken.

Hinter dem Garten befand sich ein großer Wald, welchen der unter­

nehmende Verwalter ganz verschont hatte, vielleicht weil hier die Axt­ schläge von Pulcheria Iwanowna selbst gehört werden konnten. Es war eine finstere Wildniß, die alten Baumstämme, mit überwuchernden Hasel­ stauden bedeckt, sahen wie befiederte Taubenfüße aus. In diesem Walde hausten

wilde Katzen.

Die wilden

Katzen

des Waldes

muß man

nicht mit . jenen Waghälsen vermengen, die auf den Dächern der Häuser herumspringen.

Die in den Städten sind ungeachtet ihrer schroffen

Art doch weit civilisirter als die Waldbewohner; diese dagegen sind größtentheils ein finsteres, wildes Volk; sie sehen immer dürr und elend aus, miauen mit rauher ungebildeter Stimme, graben sich zu­ weilen einen unterirdischen Gang bis unter die Scheune, wo sie Fett stehlen, lind wagen sich sogar in die Küche mit einem raschen Sprung durch's offne Fenster, sobald sie bemerken, daß der Koch sich ent­ fernt. Ueberhaupt kennen sie gar kein edles Gefühl, sie leben vom Raub und lviirgen die jungen Sperlinge selbst in den Nestern. Diese Katzen unterhielten sich mehrmals durch ein Loch unter der Scheune mit dem sanften Kätzchen der Pulcheria Iwanowna und lockten es zuletzt an sich, wie ein Trupp Soldaten eine einfältige Bäuerin an­ lockt. Pulcheria Iwanowna bemerkte das Verschwinden der Katze, ließ sie suchen, aber die Katze fand sich nicht. Drei Tage vergingen; es that Pulcheria Iwanowna recht leid, endlich aber vergaß sie's ganz. Eines Tages, als sie ans ihrem Küchengarten mit frischen, grünen Gurken, die sie selbst für Afanassi Jtvanoüntsch abgepflückt, zurückging, hörte sie ein klägliches Miauen. Jnstinctmäßig rief sie: „Miez, Miez!" und auf einmal kam ihr graues Kätzchen aus dem Gebüsch hervor, elend, dürr; man sah, daß es mehrere Tage nichts gefressen hatte. Pulcheria Iwanowna fuhr fort sic zu rufen; aber die Katze blieb vor ihr stehen, miaute und wagte nicht näher zu treten. Man merkte, daß sie seit der Zeit sehr verwildert >var. Pulcheria Iwanowna ging voraus und rief die Katze immer wieder, die ihr furchtsam bis an den Zaun nach­ schlich. Endlich, als sie die frühern bekannten Plätze sah, kam sie auch ins Zimmer. Pulcheria Iwanowna hieß ihr sogleich Milch und Fleisch geben und weidete sich an der Gier, mit der ihr armer Liebling Stück auf Stück verschlang und die Biilch schlürfte. Die graue Flüchtlingin nahm zusehends zu und fraß nicht mehr so gierig. Pulcheria Iwanowna streckte die Hand aus, sie zu streicheln: aber die Undankbare mochte sich wohl schon zu sehr an die wilden Katzen gewöhnt haben, oder hatte sich von deni romanhaften Grundsatz anstecken lassen, daß Armuth bei Liebe besser sei als ein Leben in Palästen ldenn die Katzen waren arm wie Kirchenmäuse), wie dem auch sei, genug, sie sprang zum Fenster hinaus und Keiner vom Gesinde konnte sie fangen. Die Alte wurde nachdenklich: „Das war der Tod, der sich mir

angemeldet!" sagte sie zu sich selbst, und nichts vermochte sie zerstreuen. Den

ganzen

Tag war sie

verstimmt.

Vergebens

scherzte

Afanassi

Iwanowitsch und fragte, weshalb sie auf einmal so traurig geworden

sei.

Pulcheria Iwanowna schwieg oder antwortete durchaus unbefrie­

digend.

Den andern Tag war sie merklich abgefallen.

„Was ist Ihnen, Pulcheria Iwanowna? Sie sind doch nicht krank?" — „Nein, ich bin nicht krank, Afanassi Iwanowitsch.

Ihnen etwas Besonderes mittheilen. sterbe.

Ich muß

Ich weiß, daß ich diesen Sommer

Mein Tod hat sich mir schon angemeldet.

Dem Alten zuckte es krampfhaft um den Mund; aber er suchte seinen Schmerz zu bewältigen und sagte lächelnd: Sie da reden, Pulcheria Iwanowna!

„Weiß Gott, was

Sie mögen lvohl statt des De-

coctes, was Sie oft einnehmen, Pfirsichliqueur getrunken haben."

— „Nein, Afanassi Iwanowitsch, ich habe keinen Pfirsichliqueur

getrunken," antwortete sie. Afanassi Iwanowitsch

gegen seine Frau erlaubt;

that es leid, daß er

sich

solchen Scherz

er sah sie an, und eine Thräne hing an

seiner Wimper.

— „Ich bitte Sie, Afanassi Iwanowitsch, meinen Wunsch zu er­

füllen," sagte Pulcheria Iwanowna.

„Wenn ich gestorben bin, lassen

Sie mich an der Kirchmauer begraben .... in meinem grauen Kleid ....

dem mit den kleinen Blümchen .... ja nicht etwa das Atlaskleid mit

den rothen Streifen.... eine Todte braucht kein solches Kleid, was soll es ihr?

Ihnen aber kann es nützen, Sie können sich daraus einen

Paradeschlafrock machen taffen, um, wenn Sie Besuch erhalten, anständig

vor den Gästen zu erscheinen."

„Weiß der Himmel,

was Sie da reden, Pulcheria Iwanowna!

Der Tod ist noch so weit, und Sie ängstigen mich schon mit solchen Worten!" — „Nein, Afanassi Iwanowitsch, ich weiß wohl, wann ich sterbe;

doch müssen Sie um mich nicht trauern: ich bin schon alt und habe genug gelebt; Sie sind auch alt, wir werden uns bald in jener Welt

sehen." Aber Afanassi Iwanowitsch schluchzte wie ein Kind. — „Wie dürfen Sie nur weinen, Afanassi Iwanowitsch! Sündigen

Sie nicht und erzürnen Sie Gott nicht durch Ihren Schmerz.

Mir

thut es nicht leid, daß ich sterben muß, nur das Eine thut mir leid (ein schioerer Seufzer unterbrach einen Augenblick ihre Worte), daß ich

nicht lveiß, wem ich Sie zurücklasse, Iver Sie warten wird, wenn ich todt bin.

Sie sind ja nüe ein kleines Kind;

liebenden Hand gepflegt werden."

Sie müssen von einer

Dabei sprach sich auf ihrem Gesichte

eine so tiefe, so auslösende Wehmuth aus, daß in diesem Momente sie schwerlich Jemand mit Gleichgültigkeit hätte ansehen können. — „Höre, Jewdocha," sagte sie, sich zu ihrer Wirthschafterin wen­ dend, die sie eigens hatte rufen lassen:

„wenn ich todt bin, daß du ja

für deinen Herrn sorgst, daß du ihn wahrst wie deinen Augapfel, dein leiblich Kind.

wie

Sieh, daß immer in der Küche das bereitet wird,

was er gern ißt, daß du ihm immer reine Wäsche und Kleider gibst; und wenn Besuch da ist, putz' ihn ordentlich an, sonst ist er im Stande

und geht im alten Schlafrock,

denn er vergißt schon jetzt oft, wann

Feiertag und wann Werkeitag ist.

Berwende kein Auge von ihm, Jew •

docha; ich werde in jener Welt für dich beten, und Gott wird dich be­ lohnen.

Bergiß nicht, Feivdvcha, du bist schon alt, du hast nicht lange

mehr zu leben, darum lade keine Sünde auf deine Seele: wenn du ihn

aber nicht wartest, so wird dich alles Glück fliehen;

ich selber werde

Gott bitten, daß er dir kein seliges Ende giebt, und du selbst wirst un­ glücklich sein, und deine Kinder werden unglücklich sein, und dein ganzes Geschlecht wird nimmermehr den Segen Gottes haben."

Arme Alte! Sie dachte jetzt nicht an den großen Augenblick, der ihr bevorstand, nicht an ihr Seelenheil, nicht an ihr zukünftiges Leben; sie dachte nur an den armen Geführten ihres irdischen Lebens, den sie Mit ungewöhnlicher Hast traf

allein und hülflvs

znrücklassen sollte.

sie alle Anstalten,

daß nach ihrem Tode Afanassi Iwanowitsch ihre

Abwesenheit nicht fühlbar sei.

Sie war

von

ihrem nahen Ende

so

fest überzeugt und ihre ganze Seele so tief davon eingenommen, daß

sie wirklich einige Tage darauf sich ins Bett legte und nichts mehr ge­ nießen konnte.

Afanassi Iwanowitsch wurde ganz Auftnerksamkeit und

wich nicht von ihrem Bette.

nowna?"

„Vielleicht essen Sie was, Pulcheria Iwa­

sagte er, ihr unruhig ins Gesicht sehend.

Aber Pulcheria

Iwanowna sprach nichts. Endlich nach langen! Schweigen bewegte sie die Lippen, wie wenn sie etwas sagen wollte — und athmete aus. Afanassi Iwanowitsch war ganz vernichtet; das kau: ihm so un­ geheuer vor, daß er nicht einmal weinte; mit trüben Blicken starrte er sie an — als wüßte er nicht, was die Leiche zu bedeuten hatte. Die Verstorbene wurde aus einen Tisch gelegt, mit dem von ihr selbst bezeichneten Kleide angethan, die Hände über einander gekreuzt, in der einen Hand .eine Wachskerze. Er blickte auf alles starr hin. Eine Menge Volkes drängte sich nach dem Hofe, viele Gäste waren zur Bestattung gekommen: im Hofe standen lange Tische, darauf Reis, Liqumr, Pasteten in Haufen; die Gäste sprachen, weinten, sahen die Todte an, rühmten ihre Vorzüge, blickten auf ihn; er aber betrachtete dies alles seltsam. Endlich trug man die Leiche auf den Gottesacker, das Volk strömte nach, auch er ging mit. Die Geistlichen waren in vollem Ornat, die Sonne schien, Säuglinge meinten auf den Armen der Mütter, die Lerchen sangen, Kinder in bloßem Hemde tummelten sich auf dem Wege. Jetzt stellte man den Sarg über das Grab — hieß den Mann der Verstorbenen herantreten und ihr den letzten Kuß geben. Er trat herbei, in seinen Augen zeigten sich Thränen, aber eigenthümliche starre Thränen. Man senkte den Sarg hinunter; der Geistliche nahm die Schaufel und ivarf zuerst eine Handvoll Erde hinab, der Vorsänger und zwei Kirchendiener stimmten den dumpfen Grabeschor an unter dem klaren, wolkenlosen Himmel, die Knechte griffen zu den Schaufeln, und schon füllte und deckte Erde das Grab — da drängte er sich vor: Alle wichen zur Seite und machten ihm Platz, begierig zu wissen, was er vorhabe. Er erhob die Augen, sah trübe hin und sagte: „So habt ihr sie denn schon begraben, warum? warum?..." Er stockte und konnte ilicht weiter reden. Als er aber nach Hanse kam und sein Zimmer öde sand und selbst den Stuhl, auf welchem Pulcheria Iwanowna gesessen, nicht mehr sah, da schluchzte er, schluchzte heftig, untröstlich und die Thränen rannen ihm stromweise aus den matten Augen. Fünf Jahre waren seitdem vergangen. Welchen Kummer heilt nicht die Zeit! Welche Leidenschaft besteht im ungleichen Kampf mit ihr! Ich kannte einen Mann in der Blüthe seiner Jugendkraft, von wahrhaft

edlem, gefühlvollem Herzen; ich sah ihn lieben — zärtlich, leidenschaftlich, rasend, kühn, innig — und in meiner Nähe, fast vor meinen Augm wurde der Gegenstand seiner Liebe, schöil, hold wie ein Engel, von dem unersättlichen Tode hingerafft. Ich habe nie so schreckliche Ausbrüche des Seclenleidens gesehen, nie einen so rasenden, brennenden Schmerz, ine so verzehrende Verzweiflung, >vie sie in dem unglücklichen Liebenden tobten. Ich hatte mir nie gedacht, daß der Mensch sich eine solche Hölle schaffen könne, in der kein einzig Bild, kein Schatten von Hoffnung, ja nichts, was dieser nur im Entferntesten ähnlich ist .... Man ließ ihn nicht aus den Augen, man versteckte vor ihm jede tödliche Waffe. Zwei Wochen später überwand er sich auf einmal, fing wieder an zu lachen und zu scherzen; da ließ man ihm Freiheit. Das Erste, wozu er sie benutzte, war eine Pistole zu kaufen.... Eines Tages erschreckte die ©einigen ein plötzlicher Schuß: sie stürzten in sein Zimmer und sahen ihn ans dem Boden liegen mit blutigem Schädel. Der hinzugekommene Arzt, deffen Kunst damals die allgemeine Stimme laut pries, fand die Wunde nicht tödtlich — und in der That wurde er zum Erstaunen Aller geheilt. Nun überwachte man ihn noch mehr. Sogar bei Tische wurde kein Messer vor ihm hingelegt, und überhaupt suchte man alles zu entfernen, womit er sich verwunden konnte. Aber , sehr bald fand er eine neue Gelegenheit und warf sich unter die Räder eines vorüber­ rollenden Wagens. Arm und Bein wurden ihm zerschmettert, aber er ward auch diesmal geheilt. Ein Jahr darauf sah ich ihn in einer zahlreichen Gesellschaft; :er saß am Spieltische und sagte heiter, die eine Karte zudeckend: „petite —ouverte“ — hinter ihm stand, über seinen Stuhl gelehnt sein junges Weib und zählte seine Marken ab. Wie ich schon sagte, fünf Jahre waren seit dem Tode der Pulcheria Iwanowna verflossen; da machte ich bei einem Aufenthalte in jener Gegend einen Ausflug nach dem Gute Afanassi Jwanowitsch's, meines alten Nachbars, bei dem ich so manchen Tag angenehm zugebracht und mich immer an den besten Küchenerzeugnissen der gastfreundlichen Haus­ frau satt gegessen. Als ich mich dem Hause näherte, kam mir das Haus noch einmal so alt vor, die Bauerhütten lagen ganz auf der Seite, wie ohne Zweifel auch ihre Besitzer: das Hofgitter, der Zaun waren ganz zertrümmert, ich sah selbst, wie die Köchin zum Einheizen

466

Kleinrussische Landedelleute.

Stücke aus demselben zog, während sie zu dem gleich daneben aufgehäuften Reisig nur zwei Schritte weiter zu gehen hatte.

Traurig fuhr

Dieselben Hunde, nun blind oder mit zerschla­

ich an der Thür vor.

genen Beinen, bellten mich an und hoben ihren zottigen, klettendehüngten Schweif in die Höhe.

Ein Greis kam mir entgegen.

Ja, das >var er!

ich erkannte ihn gleich: aber er war jetzt weit tiefer gebückt als sonst. Er erkannte

Lächeln.

auch

mich und grüßte mich mit dem ihm stets

eigenen

Ich folgte ihni in die Zimmer; sie sahen wie sonst aus, aber

ich bemerkte in allen eine seltsame Unordnung, überall fehlte etwas — mit einem Worte, ich empfand jenes sonderbare Gefühl, das sich unser

bemächtigt, wenn wir zum ersten Mal in die Wohnung eines Wittwers

treten, den wir früher unzertrennlich wußten von der Gefährtin seines

ganzen Lebens.

Es ist dies ein Gefühl, wie wenn wir einen Menschen

ohne Beine vor uns sehen, den wir immer gesund kannten.

zeigte sich die Abwesenheit Pulcheria Jwanowna's.

In allem

Auf den Tisch kam

ein Messer ohne Stiel, die Gerichte waren nicht mehr mit solcher Kunst zubereitet; nach der Wirthschaft wollte ich gar nicht fragen und ivagte

es nicht, nur einen Blick in die Oekonomie zu werfen. Als wir uns zu Tische setzten, band die Magd Afanassi Jwartound sie that sehr >vohl daran,

denn sonst

würde er seinen Schlafrock ganz mit Sauce bespritzt haben.

Ich suchte

witsch eine Serviette um,

ihn mit etwas zu unterhalten und erzählte ihm mancherlei Neuigkeiten.

Er hörte mich mit demselben Lächeln, aber von Zeit zu Zeit war sein

Blick ganz stier,

und seine Gedanken schweiften nicht etwa umher, sie

verloren sich durchaus.

Oft hob er einen Löffel Grütze statt an den

Mund an die Nase; die Gabel steckte er statt ins Huhn in die Flasche, worauf das Mädchen seine Hand ergriff und nach bem Teller führte. Wir mußten oft mehrere Minuten auf das kommende Gericht warten;

Afanassi Iwanowitsch selbst bemerkte bleibt denn das Effen so lange?"

das

endlich und

fragte:

„Wo

Aber der Junge, der die Speisen

aufzutragen hatte, schien gar nicht daran zu denken; ich sah ihn durch

die Thürspalte mit nickendem Kopfe auf der Bank sitzen und schlafen.

„Dieses Gericht..." sagte Afanassi Iwanowitsch, als Käsefladen mit Sahne aufgetragen wurde — „dieses Gericht..." fuhr er fort und

ich merkte, daß seine Stimme zu zittem anfing, daß eine Thräne sich

aus seinen Augen hervordrängen wollte, aber noch bot er all seine Kraft auf, sie zurückzuhalten: „dieses Gericht hat meine fei.... sei... selige.. ." und plötzlich brach er in Thränen aus, seine Hand fiel auf den Teller, der Teller flog herab, sprang in Stücke, und die Sauce übergoß ihn ganz; aber er saß regungslos da, starr hielt er den Löffel in der Hand, und wie ein Strom, wie ein unaufhaltsam sprudelnder Quell rannen, flossen seine Thränen auf die ihn bedeckende Serviette. Mein Gott! dachte ich, ihn ansehend. Fünf Jahre der alles zer­ malmenden Zeit — ein Greis, ein stumpfer Greis, der, sollte man meinen, keiner einzigen heftigen Gemüthsbewegung mehr fähig sein konnte, dessen ganzes Leben, schien es, im Sitzen auf einem hohen Stuhl, im Essen gebackener Fische und Birnen und in guthmüthigem Geplauder bestand — und ein so anhaltender, so heißer Schmerz! Was hat denn größere Macht über uns — Leidenschaft oder Gewohnheit? Oder gehen alle heftigen Ausbrüche, alle Wirbel unserer Wünsche und brausenden Leidenschaften einzig und allein aus unsern! feurigen Alter hervor und scheinen sie nur darum so tief und so bewältigend? Wie dem auch sei, aber mir kamen in jenem Augenblicke alle unsere Leidenschaften kindisch vor gegen diese dauernde, langsame, fast stumpfe Gewohnheit. Einige­ mal wollte er den Namen seiner Seligen aussprechen, aber kaum begann er, so zuckte sein ruhiges und gewöhnliches Gesicht krampf­ haft, und dieses Kindesweinen schnitt mit in's innerste Herz. Nein, das waren keine Thränen, mit welchen alte Leute so verschwenderisch sind, wenn sie uns ihre traurige Lage und ihr Unglück darstellen, das waren auch keine Thränen, wie man sie bei einem Glase Punsch ver­ gießt, das waren Thränen, die von selbst, die unwillkürlich überflossen von dein herben Weh eines schon erkalteten Herzens. Er hat darauf nicht lange mehr gelebt. Ich erfuhr erst kürzlich sein Hinscheiden. Seltsam aber, daß die Umstünde seines Todes etwas Aehnliches hatten mit den: Tode der Pulcheria Iwanowna. Eines Tages nämlich entschloß sich Afanassi Iwanowitsch, ein wenig im Garten herumzugehen. Wie er so langsam mit der ihm eigenen Acht­ losigkeit hinging und an gar nichts dachte, begegnete ihm etwas Merktvürdiges. Er hörte auf einmal hinter sich mit ganz vernehmlicher Stimme rufen: „Afanassi Iwanowitsch!" Er wandte sich um, aber «usstsche Revue.

II. 6. Heft. 1863.

32

468

Kleinrussische Landedelleute.

Niemand war da; er sah nach allen Seiten, blickte ins Gesträuch —

kein Mensch.

Es war ein stiller Tag und die Sonne schien. Da wurde

er einen Augenblick nachdenklich, sein Gesicht belebte sich, und endlich sagte er: „Das ist Pulcheria Iwanowna, die mich ruft"

Gewiß hat

Jeder einmal eine solche Stimme gehört, die ihn beim Namen rief, und

die der gemeine Mann so erklärt, daß die Seele eines Verstorbenen sich nach einem Menschen sehne und ihn rufe, worauf unbedingt der Tod folge.

Ich gestehe es, für mich hat dieser geheimnißvolle Ruf immer

etwas Schreckliches.

Ich

erinnere mich,

ihn in meiner Kindheit oft

vernommen zu haben.

Bisweilen wurde hinter mir auf einmal deutlich

mein Name genannt.

Es geschah meist an einem sehr heitern, sonnigen

Tage: kein Blatt bewegte sich an den Bäumen, es war eine Todtensülle,

selbst die Heimchen hatten zu zirpen aufgehört, im Garten war keine Seele; aber ich gestehe, wenn mich die wildeste, stürmischste Nacht mit

der ganzen Hölle der Elemente allein in einem undurchdringlichen Wald überrascht hätte, ich wäre nicht so erschrocken, wie vor dieser fürchter­

lichen Stille, an wolkenreinem Tage.

Ich lief dann gewöhnlich außer

Athem in der größten Angst aus dem Garten und beruhigte mich erst,

wenn mir irgend ein Mensch begegnete, dessen Anblick mich aus dieser

schrecklichen Herzensöde zog. Afanassi Iwanowitsch gab sich ganz seiner innigen Ueberzeugung

hin, daß ihn seine Frau rufe; er gab sich ihr hin, wie ein folgsames Kind, fiel zusammen, hustete, schmolz hin wie ein Licht und erlosch wie dieses, als nichts mehr blieb,

was die arme Flanime erhalten konnte.

„Segt mich neben Pulcheria Iwanowna —" das war alles, was er vor seinem Ende sprach.

Man erfüllte seinen Wunsch und begrub ihn an der Kirche neben

dem Grabe Pulcheria Jwanowna's. Freunde,

Zu seiner Beerdigung kamen wenige

aber gemeines Volk und Bettelleute fanden sich in gleicher

Menge ein.

Das

herrschaftliche Häuschen verödete nun ganz.

unternehmende Verwalter sammt dem Vogt schafften alle

Der

zurückgeblie­

benen alten Sachen und alles Geräth, das die Wirthschafterin nicht hatte

fortbringen können, in ihre Wohnung.

Bald kam, ich weiß nicht woher,

als Erbe des Gutes, ein entfernter Verwandter an, der früher, ich er­ innere mich nicht in welchenr Regiment, als Leutnant gedient — ein

469

Kleinrussische Landedelleute.

schrecklicher Reformator. Sofort erkannte er die außerordentliche Zer­ rüttung und Vernachlässigung der Wirthschaft und beschloß das alles von Grund aus zu ändern, zu verbessern und in Ordnung zu bringen. Er kaufte sechs prächtige englische Sicheln, ließ an jedes Häuschen eine Nummer anschlageu, nlid kurz und gut, er richtete alles so trefflich ein, daß nach einem halben Jahre das Gilt unter Curatel gestellt wurde. Die iveisc Curatel (sie bestand aus einem ehemaligen Referendar und einem geivissen Stabscapitän in verschossener Uniform) vernichtete in kurzer Zeit sämmtliche Hühner und Eier. Die Häuschen, die fast schon am Boden lagen, fielen ganz ein ; die Bauern ergaben sich deni Trünke und begaimen meist flüchtig zu werden. Der eigentliche Besitzer aber, der übrigeils mit seinen Curatoren in recht gutem Einvernehmen stand und mit ihnen zusammen Punsch trank, kam sehr selten in sein Dorf und blieb nicht lange. "Roch heritigeii Tages besucht er alle Jahrmärkte Kleinrußlands, erkundigt sich genau nach den Preisen größerer Products, die en gros verkauft werden, wie Mehl, Hanf, Honig und bergt., han­ delt viel, kauft aber nur die unbedeuteildsten Kleinigkeiten, nämlich Feuersteine, Pfeifenbvhrer uni) überhaupt alles das, was selbst im Engros­ verkauf den Betrag eines Rubels nicht übersteigt.

W. W.

Der Weinbau in Bessarabien. In dem „Odessaer Boten" finden wir unter anderen Mittheilungen über Bessarabien auch einige Nachrichten über die dortige Weincultur, die nicht allein zur Kunde der Landesverhältnisse einen schätzenswerthen Beitrag liefern, sondern auch für das Interesse der auswärtigen Han­ delswelt anregende Hinweise bieten. Der Weinbau wird in Bessarabien in größtem Maßstabe betrieben. Es ist sehr schwer, den Ertrag der Weincultur auch nur annäherungs­ weise in Zahlen anzugeben, weil inan nicht die geringsten sichern Data hat, und sich auf die Angabeil der Gemeinde- und Dorfbehörden in der-That nie verlassen kann: berücksichtigt man aber die Masse der Rebenpflanzungen in Mittel- und Süd-Bessarabien, so darf man die durchschnittliche Weinernte wohl bis auf 3 Millionen Wedros (Eimer) veranschlagen. Diese Annahme ist nicht zu hoch, und wenn der dies­ jährige Ertrag ihr nicht entspricht, so ist das ein sehr seltener Fall; sie differirt auch wenig von dem Resultat, das Herr Saschtschuk in seiner Statistik Bessarabiens aus den Jahren 1851—1857 gewonnen. In den letzten sechs Jahren hat aber die Traubencultur so sehr zuge­ nommen, sind so viele neue Pflanzungen angebaut worden, daß unsere Angabe sich noch als ein Rtinimum der bessarabischen Weinproduction herausstellen dürfte, d. h. daß in Bessarabien viel mehr Wein producirt wird, als in der Krim, an dem Kaukasus und am Don zusammen­ genommen. Daraus wäre man fast berechtigt zu schließen, daß außer dem Ackerbau und der Viehzucht, welche Reichthum und Ausdehnung des Terrains begünstigen, der Weinbau allein hinreichen könnte, das Land emporzubringen. Fragt man nun bei dieser erstaunlichen Blüthe der Weincultur nach ihrer Qualität, nach ihren commerciellen Bortheilen und nach ihrem

Werth für das materielle und sittliche Wohl des Landes, so fällt die Antivort nicht gerade sehr befriedigend aus. Mit Ausnahme des Akkermann'schen Kreises, wo man die Art der Cultur vom Rhein und von der Mosel sich ;um Muster genomnien, befinden sich die Weinberge bei aller Ausdehnung und Reichhaltigkeit fast überall in recht erbärm­ lichem Zustande. Der Weinbau hat daher auch nur ein locales Interesse und genügt allen dortigen Anforderungen ohne »veiteren Aufwand von Mühe oder Kunstfertigkeit. Dieser Wein findet dabei seinen vortreff­ lichen Markt in Bessarabien selbst und wird zum größten Theil an Ort und Stelle, wo man ihn producirt, auch cvnsumirt. In der Hauptstadt Kischinelv und deren Umgebung wird so an eine Million Wedros ge­ wonnen und davon über 700,000 in Kischinew allein verbraucht. Der Wein ist dort ein allgemeines Bedürfniß aller Stünde geworden, die Bettler selbst nicht einmal ausgenommen, er ist wohlfeil, weil er in so unermeßlicher Quantität vorhanden, und seine Beschaffenheit auch danach ist. Deshalb kann ihn Jeder haben, und die Zahl der Liebhaber und Consumenten ist so groß, mie an keinem andern Orte der Welt. Wer nur ein Fleckchen Erde besitzt, der hat auch seinen Weinberg, denn das ist der Stolz eines jeden Bessarabiers, Wein von seinem eignen Fabricat trinken zu können. Wenn das Getränk nur so aussieht wie Wein, was kümmert ihn die höhere Cultur der Rebe, sie gedeiht ja auch so ganz vorzüglich. Bon Anfang erscheint die Säure freilich etwas schärfer, als es ein Kenner billigen würde; aber wenn man zufällig daran gewöhnt ist und mehrere Maß (man rechnet wohl nach türkischen Okka's) im Leibe hat, so thut er seine Wirkung wie das classischste Fabrikat, und eine Okka kostet nie mehr als 10 Kopeken (— 3 Neu­ groschen). Da kann man sich auch nicht wundern, wenn der Weinhandel in der Provinz selbst den besten Erfolg hat; man trinkt den Saft der Reben alle Tage, an Werkeltagen wie an den höchsten Festtagen, und der neugierige Fremde braucht keine großen Strecken zu machen, um sich von der sichtbaren und hörbaren Kraft seiner Wirkung zu über­ zeugen. Doch darf man nicht daraus schließe», daß der Wein blos für die Bulgaren, Zigeuner, Kosaken und andere Autochthonen gut sei; es giebt dort auch bessere Sorten, die man vielen auswärtigen vorziehen könnte, aber sie werden ebenso schwer gewonnen und eben so unpraktisch

472

Der Weinbau in Bessarabien.

behandelt, wie alle andern Produkte Bessarabiens, welche das überaus

fruchtbare Land in reichstem Maße hervorbringt.

die Weincultur

Tabaksbau und

So gehen z. B. der

hierin vollkommen Hand in Hand.

Beide gedeihen prächtig bei dem ausgezeichneten Boden und dem war­ men Klima,

die

dennoch wird die Cultur nicht auf die Stufe gebracht,

und darum glückt es auch nicht

sie erreichen könnte,

der Ausfuhr.

Es

Ort und Stelle ist,

ist

wahr,

so groß

recht mit

die Weinconsumtion an

auch

so geht dennoch ein bedeutender Theil vom Ertrage

in die andern russischen Gouvernements.

Kiew, Shitomir, Charkow und

Moskau beziehen viel Wein von Bessarabien, aber als ausländische, und nicht als bessarabische Waare.

Der Weinhandel von Bessarabien theilt

sich demnach in einen inneren und in einen auswärtigen, und wenn sich

der innere Verbrauch wenigstens annäherungsweise bestimmen ließ, so wäre man mit dem answärtigen auch das

Man

der

aus

sreht nur

wegen

alljährlich

aus

der Unzahl

den

auswärtige Vertrieb

einmal im Stande.

nicht

die

Reisenden,

der

ein

gewaltiger

des

Weines

hinkonimen, daß

andern Gouvernements

sein müsse.

Leute,

welche

die Sache genau kennen, berichten Folgendes über das Schicksal bessara­ bischer

Weine

außer

der

Heimath.

Wein

Der

kommt

zuerst

nt

die Hände der Chemiker, die ihn gründlich in die Kur nehmen, und

nachdem er diesen Proceß durchgemacht, erhält er den Namen Medoc,

Madeira, Chateau Lafitte u. s. w. andern

berühmten

verkauft.

Bennennungen,

Zugesetzt ivird

dabei

und wird noch

nichts,

dann unter diesen und

dazu

als

beste

Qualität,

da der Wein alle wünschens

werthen Eigenschaften bei guter chemischer Behandlung schon von Natur

in sich enthält, um die ihm später zugetheilten Namen und Etiketten zu rechtfertigen.

Berühmte

Firmen

lassen

ihn

allenthalben

versenden

und als echten Ausländer verkaufen, und der Gewinn fällt natürlich in

die Tasche der auswärtigen Verkäufer.

Der Auswärtige kauft nämlich

von guten besiarabischen Weingärtnern den inländischen Wein um höch­ stens

100

Rubel Silber

für

100 Wedros.

Hat er diesen Wein

den chemischen Proceß durchmachen lassen, so füllt er ihn in Flaschen, versieht dieselben mit prächtigen Etiketten, und verkauft ihn dann für

wenigstens

1 Rubel

Silber die Flasche.

Sein Gewinn dabei liegt

auf der Hand, was hat aber der gute Bessarabier davon? Dazu kommt

noch, daß man für 100 Wedros wie gesagt, höchstens 100 Rubel zahlt. Atan bekommt aber zuweilen hundert Wedros recht guten Weines auch für 5 bis 10 Rubel, freilich selten;

der gewöhnliche Preis ist in der

Regel 30 bis 35 Rubel Silber für 100 Wedros, und 8—20 Kopeken

Silber für eine Okka.

Wer wollte da wohl den Geivinu des auswärtigen

Weinhändlers auch ganz ohne das Experiment der Taufe zu berechnen versuchen?

Man sieht aus Allem, daß die bcssarabischen Weine die besten euro­

päischen wohl ersetzen können, und daß ihre Säure nur von der mangel­ haften Behandlung komnit.

Daher wäre es wohl zu wünschen, daß die

Cultur nach dieser Seite hin gute Fortschritte machen möchte, denn der Bessarabier kann eben so wohl wie der Allstvärtige die rechte Behandlung erlernen und ausüben.

Er hätte davon nicht blos den Vortheil, bessern

Wein selbst zu trinken,

was er bei seinen langjährigen Gewohnheiten

vielleicht nicht so hoch anschlagen würde, sondern auch noch die schöne Aussicht, eine günstigere Handelsbilanz hcrbeizuführen, was allerdings

eine höhere Bedeutung hat, sowohl für ihn, als auch für das materielle Gedeihen des Landes.

Theater in Moskau. Wir haben schon früher Gelegenheit gehabt zu bemerken, daß die

politischen Tageblätter Rußlands auch der Kunst große Aufmerksamkeit schenken und

und den Geschmack ihrer Leser in allen Richtungen zu leiten

aufzuklären

Theater

in

suchen.

Natürlich

kommt

dabei

finden

wir in

den

So

Betracht.

vorzugsweise

„Moskauer

das Nach­

richten" von Zeit zu Zeit vortreffliche Artikel über die Leistungen der dortigen Kunstinstitute, hinaus das Interesse

Artikel,

des

die auch über die Grenzen Rußlands

gebildeten Publikums in Anspruch nehmen

dürften.

Die Klage über die Vorliebe der Theaterdirectionen für Uebersetzungen aus dem Französischen ertönen in Rußland so uns in Deutschland.

„In unsern Tagen",

laut wie bei

sagt das genannte Blatt,

„klingt durch das ganze Land ein vernehmbarer Protest gegen die russi­ sche Bearbeitung französischer Baudeville's, aber es hilft nichts.

Nach­

dem man die Couplets und somit das Salz der armseligen Produktionen

über Bord geworfen, wird die prosaische Intrigue dem Zuschauer vor­

geführt.

Diese Stücke paffen nicht für uns, wir haben kein Gefühl für

die Poesie französcher Couplets und die bei den Haaren herbeigezogenen französischen Verwickelungen."

Es ist

als hörten wir einen deutschen

Feuilletonisten sprechen!

Aber nicht gegen Uebersetzungen im Allgemeinen eifert der Ver­

fasser des Artikels der „Moskauer Nachrichten"; bei der verhältnißmäßig geringen Anzahl dramatischer Dichter in Rußland empfiehlt er

den Uebersetzern, die dem Publikum etwas Erheiterndes bringen wollen,

die Ausbeutung des deutschen „Lustspiels mit Gesang", dem heimathlichen Boden

leicher anzupassen wäre.

das jedenfalls

Wir erfahren bei

dieser Gelegenheit ein interessantes Faktum.

kamen zuerst in Uebertragungen nach

die russische Bühne; bare Bearbeitung Uebersetzungen

später

verlangte ein reinerer Geschmack unmittel­

des Originals

aus

Shakespeare und Schiller

französischen Bearbeitungen auf

— in neuerer Zeit aber wurden die

dem Französischen wieder ausgenommen.

im Jahre 1804 spielte die Worobiew

„Schon

die Jungfrau von Orleans nach

Schiller's eigenem Text, und darauf mußten wir uns mit einer Be­

arbeitung

nach Lebrun begnügen.

Auch Dramen von Goethe wurden

im Anfänge unsers Jahrhunderts gegeben.

Wäre es nicht Zeit,

von

der französischen Bühne wieder zu der deutschen überzugehen?" —

Auch die Oper wird von der Tagespresse im nationalen Sinne be­

sprochen.

Das im Herzen Rußlands liegende Moskau dürfte nicht ohne

eine russische Oper bleiben — aber es existirt eine solche, und bei einer

neulich von derselben gegebenen Vorstellung des sehr beliebten „Freischütz" waren, nüt Inbegriff der wilden Jagd und sonstigen Teufelsspuks, auf

der Scene mehr lebende Wesen als in den Zuschauerräumen. sache

Die Ur­

der Vernachlässigung der russischen Oper von Seiten des Publi-

kunis ist eine zwiefache: eine italienische Oper,

neben dem nationalen Institut besitzt Moskau die als etwas Neues in der Mode ist und in

künstlerischer Hinsicht mehr leistet.

Was der Theaterbesucher in seinem

Jahresbudget für sein Vergnügen bestimmt,

davon erhalten die Ita­

den Russen zum Nachtheil, sehr viel.

Aber die nationale Oper

liener,

könnte ohne Ziveifel

man

auf einen grünen Zweig gebracht werden, wenn

alle die musikalischen Kräfte,

die vereinzelt und zersplittert dem

Auslande zu Gute kommen, zu einem schönen Ganzen vereinigen wollte. Frau Filatow, eine Sängerin mit großen Mitteln, ist auf Kosten der

Großfürstin Alexandra Josephalvna in Italien ausgebildet worden und

dort geblieben.

Der Tenor Andrejew,

ein Schüler Ronconi's, hat in

Mailand in dem „Piraten", den „Puritanern" und der „Sonnambula" mit vielem Erfolg gesungen.

Der Tenor Komissarshewsty und der Ba­

riton Boshewitsch haben sich in Italien einen Ruf erworben und werden jetzt in St. Petersburg erwartet. vorigen Winter hindurch

Der Bariton Kontratjew war den

in Mailand engagirt.

Frau Koch, eine in

Moskau schon bekannte Sängerin, hat sich im Auslande vervollkommnet

und sich dann nach Amerika begeben.

Das Theater in Moskau.

476

„ Warum

uns?" wir

finden diese Herren

ruft die Zeitschrift,

und Damen kein Engagement bei

der wir diese Notizen entlehnen.

„Wenn

uns das Aufblühen der vaterländischen Kunst, die Unterstützung

russtscher Künstler mehr zu Herzen nehmen wollten; wenn die Direktion sich bewogen fühlte, den russischen Sängern und Sängerinnen wenigstens

annähemd das zu zahlen, was sie den Italienern giebt — es würden

sich Viele finden, die jetzt zu Hause bleiben, weil die Bühne ihnen durch­

aus

keine

Kinder

verführerischen

vorbereiten

Aussichten

bietet;

die Eltern würden ihre

zu der künstlerischen Laufbahn,

und uns eigene,

russische Künstler zur Genüge liefern!" M. og.

Russische Städte. Cherson. Auf den Reisenden, der vorn Dniepr aus Cherson erblickt, macht die Stadt

einen

angenehmen Eindruck,

der

jedoch

allmählich wieder

schwindet, je mehr man sich derselben nähert, und endlich ganz aufhört, sobald nlan den Fuß auf diesen Boden gesetzt hat, an den sich so manche

historische Erinnerungen knüpfen.

Die engen, ungepflasterten Straßen,

in tvelchen der Staub eine nicht minder tvesentliche Rolle spielt, wie in Odessa; die niedrigen, unansehnlichen Häuser, deren Reihe nur hin und

tvieder durch ein stattliches Gebäude unterbrochen tvird, das sich durch ein Aushängeschild als Sitz irgend einer Behörde zu erkennen giebt — Alles das erinnert nur zu sehr an die Btonotonie der meisten russischen

Provinzialstädte, von denen man mit vollem Recht behaupten kann, daß

der, welcher eine von ihnen gesehen hat, alle andern kennt. wollen nicht ungerecht sein; würdigkeiten,

dürfte.

wie

es auf

Doch wir

Cherson ist keineswegs so arm an Sehens­

den ersten Blick wohl den Anschein haben

Auf der nordöstlichen Seite der Stadt liegen die Trümmer der

alten Festung, über deren strategische Bedeutung wir uns vergebens den Kopf zerbrochen haben, da sie zu weit vom Ufer angelegt ist, als daß ihre Geschütze einem vom Flusse aus angreifenden Feinde auch nur den

geringsten Schaden zufügen könnten.

Der schönste Punkt in der Stadt

ist aber wohl unstreitig der sogenannte Boulevard, oder vielmehr Stadt­ garten, mit der kolossalen Bildsäule Potemkins, der Versammlungsort

der aristokratischen Welt

Chersons.

Das

rechts

vom Eingangsthore

liegende, im Schweizerstyl erbaute Haus dient als Restauration, die jetzt unter der Leitung

eines

ausgezeichneten

französischen Garkoches steht;

der Saal im oberen mit einer Gallerte umgebenen Stockwerk wird zu

478

Russische Städte.

Concerten und Festessen benutzt.

So gab neulich hier die kleine italie­

nische Truppe, die seit einiger Zeit in Cherson gastirt hatte, ihr Abschieds­

concert, das jedoch wenig besucht gewesen sein soll.

Ueberhaupt scheinen

die Bewohner Cherson's, mit wenigen Ausnahmen, keine großen Enthu­ siasten für Musik zu sein, und durchreisende Virtuosen, die hier Concerte gegeben,

haben gewiß

nur wehmüthige Erinnerungen von hier mitge­

nommen , mit Ausnahme des Violinvirtuosen Rancheray, der hier voriges Jahr im Verlaufe von zwei Wochen fünf Concerte gab

eines zahlreichen Besuches zu erfreuen hatte.

und sich stets

Wie wir hören, beabsich­

tigt Herr Volange, dessen ausgezeichnete Leistungen auf dem Pianoforte

wir neulich in Odessa zu bewundern Gelegenheit hatten, ein Concert in

Cherson zu geben,

ehe er sich nach der Krim und

Auslande begiebt. —

von da nach dem

Was dem, der aus Odessa nach Cherson kommt,

ganz besonders auffällt, ist die große Oede, die auf den Straßen herrscht;

man glaubt es kaum, sich in einer Stadt zu befinden, die 33,000 Ein­ wohner zählt und der Sitz

Clubb,

eines Gouvernements ist.

dessen Lokal nur aus einem mäßig

kleinen Buffetzimmer besteht,

Auch der adlige

großen Saale und einem

wird nur von einigen wenigen Stamm­

gästen besucht, die hier ein bescheidenes Partiechen Preforance zu einer

halben Kopeke spielen.

Eingeführte Gäste müssen einen halben Rubel

Eintrittsgeld zahlen, wie dies auch noch der Gebrauch in einigen andern

kleinstädtischen Clubbs ist.

Das Theater in Cherson ist ein Gebäude,

das sich einerseits durch sein ehrwürdiges Alter, andrerseits durch seine

sonderbare Bauart auszeichnet, da es in die Erde hineingebaut, ursprüng­

lich zu einem ungeheuren Keller bestimmt gewesen zu sein scheint, den man überwölbt und so zu einem Tempel der Thalia gemacht hat.

Eine

stehende Schauspielertruppe besitzt Cherson nicht; sie würde sich hier auch

nicht halten können, weil von dem Besuch des Theaters dasselbe gilt, was wir oben

über den Besuch der Concerte gesagt haben.

Nur in

einem Punkte zeichnet sich Cherson Vortheilhaft vor Odessa aus, die große Sicherheit,

welche Nachts

in den Straßen herrscht,

durch obwohl

die Dunkelheit in denselben, des gänzlichen Mangels an Laternen wegen,

nur wenig der ägyptischen Finsteriß nachstehen dürfte. /Odessaer Zeitung.)

Vermischtes. Der Stand der Bauernangetegenheit. Die „Nordische Post" stellt die im October eingelaufenen Nachrichten folgendermaßen zusammen: Nicht in Wirksamkeit getretene Urbarialurkunden finden sich nur noch in den Gouvernements Kostroma, Nowgorod, Pskow und Smolensk in der Zahl von 639. Die Zahl der bereits in Wirksamkeit getretenen Urbarialurkunden beträgt 111,023, welche sich auf 9,960,659 Seelen (99,47 pCt. der ganzen Bauernbevölkerung von 10,013,478 Seelen) beziehen. Genauere Nachrichten sind über 108,378 Urbarial­ urkunden, auf 9,658,327 Bauern bezüglich eingegangen. Von diesen stellen 80,440, auf 5/782,275 Bauern bezüglich, das Pflichtverhältniß der Bauern fest, während 27,928, auf 3,876,052 Bauern bezüglich, jedes Pflichtverhältniß aufheben. Von den Bauern, welche jedes Pflichtverhältnisses enthoben sind, beträgt die Zahl derjenigen, welche ihre Landquote unter Mittvirkung der Regierung in Folge bestätigter Aus­ kaufsconventionen an sich gebracht haben, 800,123. Die für die bestä­ tigten Auskaufsconventionen angewiesenen Auskaufsdarlehen betragen 83,029,729 Rubel, ivährend diese für die bereits in Wirksamkeit ge­ tretenen Auskaufsconventionen 76,497,589 Rubel ausmachen. Die in Wirksamkeit getretenen Inventarien der kleinen (von weniger als 20 Bauern bewohnten) Güter bezogen sich auf 178,840. Seelen, was 98,83 pCt. der allgemeinen Zahl der auf kleinen Gütern wohnenden Bauern (im Ganzen gegen 180,947) beträgt. Von diesen Gütern sind 3647 mit 25,009 Seelen an die Krone übergegangen, wofür diese eine Entschädigung von 3,564,216 Rubel gezahlt hat.

Vermischtes.

480

Auf Grund des am 26. Juli d. I.

Allerhöchst bestätigten Gut­

achtens des Hauptcomitö's zur Organisation des Bauernstandes sind in Folge der Vorstellungen der Gouvernementscommissionen vom Minister des Innern im Laufe des October bereits Friedensdistrikte in fol­

genden Gouvernements aufgehoben worden:

in Pensa 5, in Smolensk

20, in Twer 1, in Wilna 18, in Grodno 17, in Minsk 25, in Witebsk

13 und in Wologda 1.

Ueber die Folgen des Ukases vom 1. März d. I.

nordwestlichen Gouvernements ist zu merken,

für die

daß die Revisionscommis­

sionen (iioBlpo'iHMH KOMnccin) in allen Kreisen ihre Wirksamkeit be­ gonnen haben.

Ueber den Gang der Arbeiten sind aus den Gouverne­

ments Witebsk, Grodno und Kowno bereits Berichte eingegangen. Nach denselben sind in 3 Kreisen des Gouvernements Witebsk, in 6 Kreisen des Gouvernements Grodno und in 6 Kreisen des Gouv. Kowno Aus­

kaufsacte auf 145 Güter mit 19,019 Seelen abgefaßt. In Ausführung

des am 26. Juni d. I. Allerhöchst

bestätigten

Reglements über die auf den Kaiserlichen, Palais- und Apa­

nagenbesitzungen befindlichen Bauern sind im Laufe des October

vom Minister des Innern und dem Apanagen-Ressort mehrere einge­

reichte Projekte zur Vertheilung der Apanagendörfer an die Friedensdistnkte bestätigt und folgende Friedensdistrikte neu gebildet worden: im

Gouvernement Ssimbirsk 5, im Gouvern. Kasan 1 und im Gouvern. Ar­ changel 2. Ueber die Zahl der eröffneten Dorfschulen sind Nachrichten aus 41 Gouvernements vorhanden.

In denselben gab es bis zur Veröffent­

lichung des Bauern-Reglements 3456 Schulen.

Seitdem sind 6126

Schulen eröffnet worden, so daß es deren jetzt 9582 giebt; in denselben

werden 158,754 Knaben und

20,686 Mädchen, im Ganzen 179,440

Kinder unterrichtet. Unordnungen

Sakrewski (Kreis

sind vorgekommen:

Mokschan,

auf dem Gute des Grafen

Gouv. Pensa),

wo die Bauern sich der

Ausführung der durch die Urbarialurkuude festgesetzten Arbeitsleistung

entzogen; auf dem Gute Cherodinow's (Kreis und Gouv. Tula), wo die Bauern sich weigerten, sich auf das ihnen neu angewiesene Land über­ führen zu lassen;

auf dem Gute Preshenzew's und Tschebyscheiv's im

481

Vermischtes.

Kreise Kamyschin und auf bem Gute des Fürsten Bjelosselski im Kreise Kusnezk des Gouv. Ssaratow, und

wo die Bauern nicht den Obrok zahlen

ihre Landportionen annehmen wollten.

mußten

Militärcommandos herbeigezogen

In allen diesen Fällen

werden,

und

die Ordnung

wurde hergestellt, nachdem die Schuldigen bestraft und die Aufwiegler verhaftet worden waren.

Aus

verschiedenen

Gouvernements

sind Nachrichten eingegangen,

daß die Bauern fortfahren, auf verschiedene Weise ihre Dankbarkeit für ihre Befreiung auszudrücken.

Maloje-Skuratowo

So haben die Bauem des Dorfes

(Kreis Tschern, Gouv. Tula)

den Wunsch ausge­

sprochen, in ihrem Dorfe auf ihre Kosten eine dem Heiligen AlexanderNewsky geweihte steinerne Kirche zu erbauen, und gebeten, die bei dieser Kirche zu errichtende Schule

„Alexander-Asyl der Bauernkinder des D.

Maloje-Skllratowo" nennen zu dürfen,

was ihnen auch Allerhöchst ge­

stattet worden ist.

Der Hilssvrrrin der Handlungscommis in Moskau. Schon seit einem

halben Jahre hat dieser Verein seine Thätig­

keit begonnen, berichtet „ein Kaufmann" in den Moskauer Nachrichten,

und ich kann mir das Vergnügen nicht versagen, denselben in Rücksicht auf seinen humanen Zweck mit wenigen Worten zu besprechen.

Die

Bildung des Vereins scheint mir für die Kaufleute und Gewerbtreibenden sehr wichtig.

Ein ehrlicher Commis und ein erfahrener Buchhalter sind

für jedes Handelshaus

unumgänglich nothwendig;

von Beiden hängt

oft das Gelingen eines industriellen Unternehmens ab. Schon das erste Gerücht von dem Zusammentritt einer Gesellschaft

zu einem solchen Vereine erweckte in der Handelswelt die Sympathie

aller Derer, die ihren wahren Vortheil kennen und die Dinge richtig genug beurtheilen, um nicht von dem Geist des Vorurtheils gegen alles

Neue angesteckt zu werden.

481

Vermischtes.

Kreise Kamyschin und auf bem Gute des Fürsten Bjelosselski im Kreise Kusnezk des Gouv. Ssaratow, und

wo die Bauern nicht den Obrok zahlen

ihre Landportionen annehmen wollten.

mußten

Militärcommandos herbeigezogen

In allen diesen Fällen

werden,

und

die Ordnung

wurde hergestellt, nachdem die Schuldigen bestraft und die Aufwiegler verhaftet worden waren.

Aus

verschiedenen

Gouvernements

sind Nachrichten eingegangen,

daß die Bauern fortfahren, auf verschiedene Weise ihre Dankbarkeit für ihre Befreiung auszudrücken.

Maloje-Skuratowo

So haben die Bauem des Dorfes

(Kreis Tschern, Gouv. Tula)

den Wunsch ausge­

sprochen, in ihrem Dorfe auf ihre Kosten eine dem Heiligen AlexanderNewsky geweihte steinerne Kirche zu erbauen, und gebeten, die bei dieser Kirche zu errichtende Schule

„Alexander-Asyl der Bauernkinder des D.

Maloje-Skllratowo" nennen zu dürfen,

was ihnen auch Allerhöchst ge­

stattet worden ist.

Der Hilssvrrrin der Handlungscommis in Moskau. Schon seit einem

halben Jahre hat dieser Verein seine Thätig­

keit begonnen, berichtet „ein Kaufmann" in den Moskauer Nachrichten,

und ich kann mir das Vergnügen nicht versagen, denselben in Rücksicht auf seinen humanen Zweck mit wenigen Worten zu besprechen.

Die

Bildung des Vereins scheint mir für die Kaufleute und Gewerbtreibenden sehr wichtig.

Ein ehrlicher Commis und ein erfahrener Buchhalter sind

für jedes Handelshaus

unumgänglich nothwendig;

von Beiden hängt

oft das Gelingen eines industriellen Unternehmens ab. Schon das erste Gerücht von dem Zusammentritt einer Gesellschaft

zu einem solchen Vereine erweckte in der Handelswelt die Sympathie

aller Derer, die ihren wahren Vortheil kennen und die Dinge richtig genug beurtheilen, um nicht von dem Geist des Vorurtheils gegen alles

Neue angesteckt zu werden.

482

Vermischtes. Der Verein ist aus dem Stande der Handlungscommis' selbst hervor-

gegangm und hat sich zur Aufgabe gestellt, die moralische und materielle Lage seiner Mitglieder durch Verabfolgung monatlicher Unterstützungen,

Vermittelung von Anstellungen, und Gründung 'einer Bibliothek, einer Schule, einer besonderen Wittwenkasse und eines Asyls für Altersschwache

und Kranke zu heben.

Die Handwerker und

Arbeiter ausgenommen,

kann ein Jeder Mitglied des Vereins werden, der bei einem Prinzipal der Sache der Industrie und des Handels dient.

Die exekutiven und ökonomischen Maßregeln liegen in den Händen einer aus sieben Mitgliedern

bestehenden Verwaltung,

die an jedem

Sonnabend in dem Lokale des Vereins eine Sitzung hält.

Die Auf­

nahme neuer Theilnehmer geschieht durch Ballotiren in besonderen, ein­ mal monatlich stattfindenden

Versamnilungen.

Zur Berathung

über

wichtigere Fragen bestimmt das Statut jährlich vier Generalversamm­

lungen, wo unter anderm auch die Berichte über den Stand der Casse vorgelegt

werden.

Die Bibliothek ist bereits

im Entstehen.

Gegen­

wärtig zählt der Verein 157 wirkliche und 5 neu angemeldete Mitglieder. Der Bericht des Casienbestandes erweist:

Gründungs-Kapital.......... 4981

Rub. 10 Kop.

Im Umlauf........................ 2114



In der Wittwenkasse...... 1587



Zur Errichtung der Schule

. . 1122

Zur Einrichtung der Bibliothek

239

„ „

Summa 10,043 Rub. 10 Kop. Ansehnlich genug für ein erstes Semester, wären die Geldmittel des

Vereins noch bedeutender, wenn nicht 38 Mitglieder noch gar nichts

eingezahlt hätten. Unterstützungen sind noch nicht verabreicht worden, weil nur ein dienstloses Mitglied, das seit länger als einem Jahr dem Verein ange­

hört, ein Recht darauf hat.

Dafür werden aber, auf Anweisungen von

Mitgliedern, dienstlose Handlungscommis, die sich in der äußersten Noth befinden, unterstützt.

Für

diesen Zweck existirt eine durch freiwillige

Beiträge gestiftete Casse, die mit der Vereinscasse nichts gemein hat.

483

Vermischtes. Diese kurze Uebersicht beweist, daß der Verein festen

Schrittes sein

Ziel verfolgt, und wir sind überzeugt, daß die in ganz Rußland durch

ihre Freigiebigkeit

zur Förderung wahrhaft nützlicher Dinge

bekannte

Moskauer Kaufmannschaft in ihrem eigenen Interesse dem Verein der Handlungscommis ihre Aufmerksamkeit zuwenden wird.

Nikolaus Swertschkow. Dieser russische Maler hat sich, wie das „Journ. de St. Petersb."

meldet,

im

Auslande

eine hervorragende

Stellung

unter den

besten

Künstlern errungen. Die sieben Gemälde aus dem russischen Leben, welche er in London ausgestellt hatte, wurden von den Engländern mit Be­

gierde gekauft. Auf der letzten Pariser Ausstellung befanden sich drei Ge­ mälde von Herrn Swertschkow, und auch hier hat er den vollständigsten Erfolg gehabt.

Eines dieser Gemälde „Rückkehr von der Jagd" hat der

Kaiser der Franzosen gekauft,

dtach dem Schluß der Ausstellung er­

kannte die Kunstrichtercommission ihm den höchsten' Preis zu, der einem Künstler in Frankreich zu Theil werden kann:

den Orden der Ehren­

legion, und der Kaiser hat die desfallsige Vorstellung auch bestätigt. Der Kunstverein in Marseille hat an Herrn. Swertschkow noch

ein

besonderes Beglückwünschungs- und Anerkennungsschreiben gerichtet.

Tabaksbau in den deutschen Kolonien an der Wolga. Die Zeitung „Wolga" schreibt:

Mit dem Tabaksbau beschäftigen

sich vorzugsweise die Kolonien, welche im Gouvernement Samara auf

dem linken Ufer der Wolga liegen.

In den Kolonien auf dem rechten

Ufer (Bergufer) der Wolga im Gouvernement Saratow sind keine Ta­ bakspflanzungen.

Im Allgemeinen werden folgende Tabakssorten gebaut:

1) russischer Tabak (Machorka); 2) deutscher Tabak, und zwar: a. Mary­

land,

b. Virginischer Cigarrentabak,

d. gewöhnlicher schwarzer Tabak

c. Havannahtabak zu Cigarren,

und e. türkischer Tabak in einigen

Sorten. «asfilAe «evue II. 6. H