Nordische Revue: Band 4 [Reprint 2020 ed.]
 9783112371923, 9783112371916

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Nordische Revue. ........... ♦-----------

Internationale Zeitschrift für

Literatur, Kunst und öffenttiches Leben. Herausgegeben

veii

Dr. Wilhelm Wolfsohn.

Vierter Sand

............ ................................

JeiMg, Verlag von Carl S. Lorck.

1865.

Anter Recht-verwahrung gegen Nachdruck und Aebcrsehung.

Inhalt. Seite

Diderots bisherige Schicksale in der Literatur.

Von Karl Rosenkranz

1

Der Welttelegraph.

Von KarlAndree.................................................................... 21

Nach der Schlacht.

(Aus der „Histoire d’un Conscrit de 1813".)

VolkSwirthschaftliche Briefe aus Rußland. Alt und Neu.

Von Ant. E. Horn .

...

41

51. 171. 301

Lieder und Sprüche von Wilh. W'olfsohn............................. 61

Die romanischen Sprachen.

Von Rudolf Rost................................................... 66

Rußland und China...........................................................................................................81

Zur Charakteristik Platens.

Von K. Elze.............................................................. 85

Sitzungen der geographischen C^esellschast in St. Petersburg................................. 102

Der Großfürst Thronfolger Nikolai Alexandrowitsch. Von B. Tsch itscherin Der Schnitzaltar in der deutschen Kunst.

Von Alfred Woltmann

III. Ein Gang durch das britische Museum

Londoner Skizzen. Niccolo Machiavelli.

136

....

155

Von Jul. v. Gosen.............................................

VolkSwirthschaftliche Briefe aus Deutschland.

129

.

.

182. 288

Von Wilh. Wackernagel

.

195

DaS russische Preßgesetz................................................................................................... 211 Meine Bekanntschaft mit Puschkin. Ausgrabungen in Südrußland. Jenseit der Leitha

Bis vor Leipzig.

Aus Lashetschnikow's Memoiren

.

.

.

219

Don Dr. Paul Becker...................................... 253

........................................................................................................ 272

(Aus der „Histoire d’un Conscrit de 1813".) ....

311

Die Mischehen in Rußland............................................................................................. 328

DaS Gesellenhaus „zur Palme" in St. Petersburg................................................. 334

Shakespeare in Deutschland.

Von Dr. David Asher.......................................344

Revue der bildenden Künste.........................................................................................105 Pfaus artistische Briefe. — Neue Aufgaben und Werke auf dem Gebiete der Ma­ lerei. — Nekrolog.

Literarische Revue: Vom deutschen Büchermarkt

..... ..................................................................... 115

Deutsche Romane und Gedichte............................................................................. 240

Französische Literatur .

........................................................................................ 355

Inhalt.

IV

Seite

Musikalische Revue: Die Charwoche. — Sebastian Bach und Graun. — Protestanti-mu- und Katholicis­ mus in der Kirchenmusik. — Riemann und die Oper. — Die Afrikanerin. — Liszt in der Mönchskutte. — Tristan und Isolde nnd ein Brief Richard Wagner's .... München und die letzten Consequenzen der Schule Wagner's. — Die günstigen Wir­ kungen derselben in negativem Sinne. — Mephistopheles nnd Baccalaureus auf mu­ sikalischem Felde................................................

233

350

Vermischte Mittheilungen: Fortschritte im russischen Schulwesen . Nothstand in Rußland............................................................................ 127 DaS Paradeisspiel in Oberfranken.......................................................... 249 Die französische Akademie................................................................... 362

Berichtigungen. Aprilheft S. 64. Ueberschrist des Schlußgedichtes l. FreundeSvorwurs f. Freundeszweck. — Ebenda S. 112. Z. 11 v. o. für General Jodakino l. Graf Jewdokimow. Maiheft S. 219. In der Ueberschrist sowie unten in der Anmerkung: statt Lasha.eschnikow lies Lashetschnikow.

Merot's bisherige Schicksale in der Literatur. Von Karl Rosenkranz.

Unter den hervorragenden Gestalten des achtzehnten Jahrhunderts, welches sich selbst mit Stolz das philosophische nannte, gebührt Diderot unstreitig eine ausgezeichnete Stelle. Die Geschichte hat dies auch anerkannt, indem sie ihn neben Voltaire und Rousseau, neben Montes­ quieu und d'Alembert zu stellen nicht vergessen hat. Diese allgemeine Würdigung also hat ihm nicht gefehlt. Sobald man aber eine genauere Bestimmung seiner Wirksamkeit sucht, erkennt man sehr bald den großen Unterschied, der zwischen der Abwägung seiner Verdienste und zwischm der seiner mitstrebenden Zeitgenossen existirt. Diese Männer nämlich sind in ihrer Stellung völlig klar. Das Bild eines jeden von ihnm, so vielseitig sie auch waren, concentrirt sich in eine einfache Charakteri­ stik. Ihr Leben, ihre Entwicklung, ihre Schriften, ihr Einfluß auf die Literatur, sind gleichsam durchsichtig gewordene Thatsachen. Ganz anders mit Diderot. Zwar die Hauptpunkte seines Lebens und Wirkens sind auch allbekannt. Wie Rousseau, wie d'Alembert, hat er sich durch eigene Kraft aus der gleichgültigen Menge von Unten nach Oben zu einer großen Berühmtheit emporgehoben. Mit d'Alembert hat er das kolossale Unternehmen der Französischen Encyklopädie begründet, hat es bis zum siebenten Bande mit ihm gemeinschaftlich durchgeführt, die letzten zehn Bände aber ganz allein rebigirt. Außer­ dem hat er das bürgerliche Schauspiel durch Probestücke und durch eine dramaturgische Theorie gefördert, einige Erzählungen geschriebm, in Nordische Neou«. IV. 1. Heft. 1865.

1

Didernt'S bisherige Schicksale in der Literatur.

2

allen seinen Schriften aber, der Religion gegenüber, einem frivolen Skepticismus gehuldigt.

Diese Züge ungefähr sind es, die man von Diderot in allen all­ gemeinen Geschichten der Literatur, in allen besondern Geschichten der

Kirche und des Staats, der Philosophie und Poesie, wiederholt findet. In der That sind sie auch nicht unwahr, allein wenn wir uns nach

ihrer Rechtfertigung umsehen, so vermissen wir gewöhnlich nur zu bald eine genügende Motivirung und können unö nicht verbergen, daß die

Charakteristik Diderot's, wie sie uns geboten wird, ein stereotypes Bild mit unsicherer Zeichnung und mit zweideutigen Farben wiederholt. Wir vermissen den Halt einer ausreichenden sachlichen Basis.

Zuweilen

werden freilich, um das Urtheil zu belegen, einzelne Stellen aus seinen

Schriften citirt, aber gewöhnlich sind dieselben immer die nämlichen, ein Dutzend banale Phrasen, die zu einem vollkommenen Gemeingut

geworden sind.

So lange Diderot lebte, wurde er als eine große literarische Bkacht

respectirt.

Man verfolgte, man verleumdete ihn.

Mit der Verfolgung,

mit der Verleumdung, erkannte man seine Bedeutung an.

Durch die

Encyklopädie war Diderot mit der Mehrzahl der vorzüglichsten Fran­ zösischen Gelehrten in ein ebenbürtiges Verhältniß getreten.

Mit Vol­

taire theilte er das Schicksal, daß man ihm die Autorschaft der gefähr­

lichsten anonymen und pseudonymen Schriften unterschob.

Die Leich­

tigkeit, mit welcher er sich fremden Interessen in oft ganz unkritischem Wohlwollen widmete, gab solchen Anmuthungen eine große Scheinbarkeit.

Seine Hülfe wurde in tausend Fällen in Anspruch genommen

und in der Regel war er nur zu bereitwillig, sie zu gewähren.

Die

außerordentliche Gunst, mit welcher die Kaiserin Katharina ihn behan­ delte, gab seiner Person im Alter einen gewissen Glanz nach Außen

hin, der seine Bedeutung für die Pariser Gesellschaft als einer ihrer ersten Notabilitäten befestigte. Verhältniß.

Zum Hof hatte Diderot jedoch kein

Er hatte keinen Titel, er bezog keine Pension.

Zur Aka­

demie hatte er ebenfalls kein Verhältniß, und Voltaire hatte d'Alembert

vergeblich angetrieben, seine Aufnahme zu beantragen. Zu den eigent­

lichen Salons, den bureaux d’esprit, hatte er eben so wenig ein

Verhältniß.

Zwar verkehrte er mit Madame Oe off rin, mit Mademv i-

feile L'Espinasse; aber nur im Holbach'schen Kreise, wo er in der heitern Tafelrunde oder am traulichen Kaminfeuer sich rückhaltlos äußern durfte, war er wirtlich einheimisch und hing ihm unverrückt als vieljähriger Hausfreund an, sonst aber lebte er zurückgezogen und theilte sich zwischen dem Leben im Schooß seiner Familie und dem Leben im Hause seiner Freundin, Sophie Boland. So verflossen seine letzten zwanzig Jahre, mit Ausnahme der Petersburger Reise, in ziem­ licher Unbemerktheit. Er starb auch ganz in der Stille, ohne, wie Voltaire, Rousseau oder Montesquieu, mit seinem Tode irgend ein Aufsehen zu erregen. Obwohl als Atheist verschrieen, hatte man doch kein Bedenken, seine Gebeine in der Kirche St. Roche ganz ruhig beizusetzen. Gegen Ende seines Lebens hatte er einmal die Journalistik vor­ übergehend in Bewegung gesetzt, weil er in seiner Biographie Smeca'S Rousseau wegen seiner Confessions hart angegriffen hatte Dies war ihm sehr übel genommen. Marmontel vertheidigte ihn und Diderot fügte in einer zweiten Ausgabe jener Biographie der Apologie Marmontel's, die er darin abdrucken ließ, Anmerkungen hinzu, in denen er auch für sich selbst sprach. Die öffentliche Meinung jedoch, welche sich dem Ausbruch der Revolution näherte, wandte sich von ihm ab, weil sie immer mehr mit dem Bürger von Genf sympathisirte. Der erste Theil der Rousseau'schen Bekenntnisse war noch zu Diderot's Lebzeiten 1782 herausgekommen; der zweite, der 1789 nach seinem Tode erschien, vollendete diese Ungunst, weil er Diderot als einen treulosen, verrätherischcn Freund schilderte. Durch die große Verbreitung, welche Rousseau'- so oft gedruckte, so oft übersetzte, so oft excerpirte Confessions erhalten haben, ist jene Auffassung Diderot's eine fast allgemeine ge­ worden. Ein Schweizer Literat, Meister, den Grimm zur Mitarbeit an seiner Correspondenz herangezogen hatte, schrieb zwei Jahr nach Diderot'Tode, 1786, einen Nachruf: A la memoire de Diderot, der in der dritten Abtheilung der Grimm'schen Correspondenz, T. IV, November, 1786, p. 79—80, abgedruckt ist, 1788 aber auch als eine kleine Brochüre gedruckt worden zu sein scheint. Dieser Nachruf ist in seiner Kürze unbedingt das Wahrste und Beste, was über Diderot gesagt ist

4

Diderot'« bißheriqe Schicksale in der Literatur.

und von ihm gesagt werden kann. Die persönliche Zärtlichkeit, mit welcher der Verfasser Diderot anhängt, hat doch seinen Blick über seine Schwächm

und Mängel nicht befangen gemacht.

Meister fand seine Zeitgenossen

schon sehr lau gegen Diderot's Verdienste.

„O Diderot," ruft er aus,

„wie viel Tage sind verflossen, seit dein Geist erloschen ist, seit die

Dunkelheit des Grabes

deine entseelte Asche bedeckt!

Und von so

vielen Freunden, denen du deine Nachtwachen opfertest, denen du die Hülfsquellen deines Talents wie die Reichthümer deiner Phantasie ver­

schwendetest, hat sich noch keiner beschäftigt, dir ein Denkmal zu errich­ ten, würdig der Dankbarkeit, welche dir die Freundschaft, das Jahr­ hundert und die Zukunft schuldig sind." Während Diderot's Abwesenheit in Rußland hatten gewinnsüchtige Buchhändler, angeblich in London, wahrscheinlich in Amsterdam, in

5 Bänden eine Collection complete des Oeuvres philosophiques, litteraires et dramatiques de D. Diderot herausgegeben und durch Aufnahme vieler gar nicht von Diderot verfaßten Schriften den Grund

zu einer ganz schiefen Beurtheilung desselben gelegt.

Diderot hat diese

Ausgabe, wie wir durch Grimm wissen, nie gesehm. Ein fanatischer Anhänger Diderot's, Naigeon, erwarb sich das

Verdienst, im achten Jahr der Republik, 1801, eine Gesammtausgabe der Werke Diderot's in 15 Bänden

zu

veranstalten,

die

unächten

Schriften auszustoßen und die ächten mit Einleitungen und Anmer­

kungen zu versehen.

Dies war ein großer Fortschritt.

Der ganze

Reichthum des Diderot'schen Geistes, die unendliche Vielseitigkeit seiner Bildung, lag nun zum ersten Mal dem Publicum als ein Ganzes vor

Augen. lage.

Das Urtheil über ihn besaß von da ab eine wirkliche Grund­

Man konnte nun daran denken,

den Romandichter und den

Dramatiker, den Philosophen und den Technologen, den Historiker und

den Kritiker Diderot mit einander auszugleichen und die Entwicklung so verschiedener Richtungen in ihm zu verfolgen.

Gleichzeitig aber wurde dem

durch La Harpe versetzt.

Ansehen Diderot's ein Hauptstoß

Dieser Kritiker war ursprünglich ein An­

hänger Boltaire's, ein Gegner Rousseau's, aber noch mehr ein leiden­

schaftlicher Feind Diderot's, der seine Eitelkeit durch ein scharfes Urtheil

gereizt hatte.

Er schrieb zu seinem vielgelesenen Cours de litterature

ein Supplement, worin er die Geschichte der Französischen Philosophie

während des achtzehnten Jahrhunderts darstellen wollte. 1803 zu Antwerpen in zwei Bänden gedruckt.

Sie wurde

La Harpe hatte sich an­

fänglich der revolutionairen Strömung überlassen, als er aber einmal

in's Gefängniß geworfen wurde, schlug er in demselben um und be­

kämpfte nun, osfenbarungöglänbig geworden, die skeptische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts.

gehässigsten Polemik.

Gegen Diderot wüthete er mit der

Noch 1795 hatte er ihn im Mercure de France

gegen Rousseau's Verdächtigungen vertheidigt, nunmehr aber griff er

ihn als Materialisten, Atheisten und Sittcnvcrbcrber an.

Er benutzte

dazu theils den Roman der bijoux indiscrets, theils die Encyklopädie, vorzüglich aber zwei Schriften, welche Diderot gar nicht verfaßt hatte,

nämlich die Principes de la morale von Etienne Beaumont und

den Code de la Nature von Morclly, auf welchen der Communismus, als er in der Verschwörung Baboeuf's den Versuch zur Ver­

wirklichung machte, ftd) als auf eine Autorität berufen hatte. hatte schon in der Vorrede zum

Naigeon

ersten Bande seiner Ausgabe den

Kritiker Fontanes zurechtgewiesen, welcher Diderot seiner vermeinten communistischen Doctrin halber heftig angegriffen hatte, und gezeigt,

daß nicht Diderot, sondern Morelly es gewesen, der 1755 in seinem Codex der Natur als des wahren Geistes der Gesetze der Natur die

Aufhebung des Privateigcnthums gefordert habe, weil er darin durch

einen Trugschluß die erste Bedingung aller menschlichen Glückseligkeit fand.

Mit Recht bemängelte La Harpe die Eintheilung der Wissen­

schaften, welche Diderot und d'Alembert nach Baco's Vorgang der Encyklopädie zu Grunde gelegt hatten, weil sie eine nur fubjective,

eine nur psychologische nach den Seelenvermögen der Vernunft, der Phantasie und des Gedächtnisses war, woraus Baco die Philosophie,

die Poesie und die Historie ableitete, so daß er nun gezwungen war, die ganze Naturgeschichte und Technologie unter diese letztere Kategorie

zu subsumiren.

La Harpe übersah jedoch, daß dieser Ucbelstand einer

unvollkommenen Gcneraleinthcilung nicht gehindert hatte, die einzelnen Gegenstände ihren Wissenschaften richtig einzuordnen, und daß hierin

die Encyklopädie viel geleistet hatte. Die Mehrheit

der Literaturgeschichten

hat

aus

La Harpe ge-

6

Diderots bisherige Schicksale in der Literatur.

schöpft, und so ist sein Urtheil über Diderot verhängnißvoll und das

gleichzeitige eines enthusiastischen Verehrers, Eugone Salverte, wenig

bekannt geworden.

Dieser las am 7. Thermidor des achten Jahrs

der Republik im Institut National ein Eloge philosophique de Di­ derot, das im folgenden Jahr zu Paris gedruckt ward.

schrift ist nicht ohne feine kritische Züge.

Diese Lob­

Sie macht zuweilen Ansätze

zu tieferer Einsicht, allein sie ist in der Wärme ihrer Begeisterung für

Diderot zu einseitig.

Sie ist nur der panegyrische Gegensatz zu den

Pasquillen auf Diderot.

Salverte hält z. B. Diderot's altersschwache

Schrift über Seneca für das genialste Product desselben und stellt sie an die Spitze der Musterung seiner Schriften, bei welcher er sich von

jeder sachlichen oder chronologischen Entwicklung entbindet und, wie er selbst sagt, sich dem Zufall des Gefühles überläßt.

Dennoch war

diese Schrift, als im Institut verlesen, die erste öffentliche Aeußerung

einer nationalen Anerkennung Diderot's,

welche auch die Liebens­

würdigkeit desselben als Menschen mit gerechtem Nachdruck feierte.

Die Deutschen hatten für Diderot immer eine gewisse Vorliebe

gehegt, die ihnen durch Lessing eingeimpft war, der sein Theater 1760 zu Berlin in zwei Bänden übersetzt und 1767 in seiner Hamburger

Dramaturgie ihn als Aesthetiker gepriesen hatte.

Die Romane Dide­

rot'« mürben in's Deutsche übersetzt; die bijoux indiscrets unter dem

Titel: die Verräther von Meyer, die Religieuse und Jacques et son maitre von Cramer, 1792, die kleinen Erzählungen von K. Spazier

1790.

Cramer wollte auch 1797 Diderot's

sämmtliche

Werke übersetzen; es erschien jedoch nur Ein Band, der den Bersuch über die Malerei und den Salon von 1765 nach der Ausgabe von Buisson enthielt.

Göthe übersetzte 1805 den Neffen Rameau's, em­

pfahl ihn mit aufrichtigem Beifall und zeigte sich

stets

als

einen

großen Verehrer Diderot's, auch wo er ihn, wie in seiner Kunsttheorie,

bekämpfte.

Friedrich Schlegel sah in seinen Vorlesungen über

die Geschichte der alten und neuen Literatur, 1812, am Schluß des

dreizehnten Capitels, in dem genialischen Diderot die letzte Stufe in dem Gang der Französischen Philosophie vor der Revolution, wenn er auch, wie er richtig bemerkt, weit mehr im Verborgenen, als öffent­

lich, wirkte.

Er stand nach ihm darin über Voltaire und Rousseau,

daß er freier von schriftstellerischer Eitelkeit und daß es ihm blos um die Sache zu thun war. In demselben Jahr, 1812, erschien ein wichtiger Beitrag zu r'idervt'S Charakteristik: Memoires, pour servir ä l’histoire de la vie et des Oeuvres de Mr. Diderot, par Ma­ dame de Vandeul, sa kille, in der von Schelling herausgege­ benen Allgemeinen Zeitschrift von Deutschen für Deutsche, Bd. I, Heft 2, S. 145—195. Diese Denkwürdigkeiten wurden Schelling von Jeniand zugesendct, der sich nicht genannt hat. Er berichtet in einem Brief an Schelling, daß die Handschrift zu einer geschriebenen Zeitung gehört habe, dergleichen damals, 1787, in verschiedenen Gestalten zu Paris umtiefen. Er motivirt die Veröffentlichung derselben durch die Pflicht der Geschichtschreibung, sich nicht weichherzig von dem Bilde jener Zeit der Auflösung der Sitten und der Denkart, welcher Diderot angehörte, abzumcnden, sondern cö vielmehr mit Selbstver­ leugnung treu und erschöpfend bis in die einzelnen Züge darzusteüen. Im Besondern hebt er hervor, daß wir Diderot durch diese Denk­ würdigkeiten weniger in seinen literarischen und öffentlichen, als in seinen häuslichen und persönlichen Verhältnissen und so gerade von der Seite kennen lernen, welche über den andern Theil seines Wesens manche mildernde Aufschlüsse zu geben im Stande ist. Der Einsender meint, daß Diderot'ö Persönlichkeit ihm in unserm Gefühl und Urtheil eine entschieden günstige Aufnahme zuwegebringen müsse. Diderot sei von der allgemeinen Fäulniß, in welcher er lebte, nicht rein ge­ blieben, habe fid) aber über sie erhoben und die Kraft gewonnen, die Verderbniß der Zeit bis in ihre ganze Tiefe zu erkennen und darzu­ stellen. Diese Kraft sei die von ihm nie verleugnete Liebe zur Wahr­ heit, wodurch er innerlich und geistig dem Deutschen Wesen näher komme, wie er äußerlich in Ansehung der Sprache durch Originalität, Kürze und Kraft sich den Deutschen verwandter zeige, als irgend ein anderer Schriftsteller seiner Nation. In Frankreich war das Napoleonische Empire natürlich dem Stu­ dium Diderot's nicht günstig. Doch erschien 1810 zu Paris eine Sammlung ber' Anekdoten und Schlagwörter Diderot's: Diderotiana üon Cousin d’Avalon; 1813 aber die Correspondance litteraire, philosophique et critique, adressee ä un Souverain d’Allemagne,

8

Didervt's bisherige Schicksale in der Literatur.

depuis 1755—1790, par le Baron de Grimm et par Diderot,

zu Paris in drei Abtheilungen, die erste zu sechs, die zweite und dritte zu je fünf Bänden, jede mit einem vortrefflichen Register.

Die Aus­

gabe hat nicht Alles ausgenommen, und gegen religiös oder politisch extreme Aeußerungen restringirende Anmerkungen hinzugesügt.

Diese

ganz unschätzbare Correspondenz brachte eine Menge der kleinen genia­

len Arbeiten Didervt's, mit denen Grimm seinen hohen Gönnern ein

Vergnügen machen wollte. noch

Es ist von dieser Correspondenz späterhin

eine zweite vollständigere Ausgabe,

auch in 16 Bänden, von

Tascherau, erschimen; jedoch kann ich über sie nicht urtheilen; ich

habe ihretwegen vier, fünfmal nach Paris mich gewendet, allein sie aller Bemühungen unerachtet nicht erhalten können. . Der Ladenpreis der älteren, die ich besitze, war 45 Thaler.

ich habe sie nur antiquarisch erlangt.

Sie ist vergriffen und

Aus dieser Correspondenz wurde

ein Auszug in Deutscher Sprache in zwei Bänden 1820 und 1823 zu Brandenburg mit einem Register gemacht.

Die Auszüge sind gut

gewählt und die Uebersetzung ist geschmackvoll.

Sie wurde aber, wie

es scheint, wenig gelesen, weil sie in eine Zeit fiel, in welcher die

burschenschaftliche Bewegung und die Begeisterung für Walter Scott

die Gemüther der Deutschen von der Französischen Literatur ablenkten. In Frankreich wuchs das Interesse für Diderot.

Der Buch­

händler Belin zu Paris veranstaltete 1818 eine neue Gesammtausgabe in sechs starken Bänden, die ein Deutscher, Depping, redigirte. Sie unterscheidet sich von der Ausgabe Naigeon's durch bessere Anord­

nung und durch Aufnahme aller philosophischen Artikel Diderot'« aus der Encyklopädie.

Da die Encyklopädie selten zu werden anfängt, so

war dieS ein glücklicher Einfall.

1819 erschien noch ein Supplement­

band, der von Depping einen Aufsatz über das Leben und die Werke

Didervt's, außerdem bis dahin ungedruckte Sachen, die Reife durch Holland, den Salon von 1761 und 1769, den Studienplan für Ruß­

lands Lehranstalten, die Uebersetzung von Moore's Trauerspiel: the

Gamester, und ein Register brachte. Schon ein paar Jahre darauf,

1821,

erschien zu Paris in

22 Bänden wiederum eine Gesammtausgabe von dem Buchhändler Brie re, die musterhaft genannt zu werden verdient.

Außer zweck-

mäßigen Einleitungen

und Anmerkungen für das bessere Verständ­

niß brachte sie im 21. Bande die Memoiren Naigeon's über Dide-

rot's Leben und Schriften, die schon 1795 vollendet waren und so lange ungedrnckt gelegen hatten.

Von Diderot's Leben erfahren wir

jedoch nicht so viel, als durch seine Tochter; aus den Schriften Dide­

rot's macht Naigeon Auszüge, die er mit Reflexionen begleitet, deren monotone Tendenz darauf abzielt, den Philosophen als Atheisten be­

wundern zu lassen, denn nur der Atheist galt Naigeon als Philosoph.

Nur für die skeptische Richtung in seinem Aieister hat er Sinn, alles Uebrige streift er kaum oder versteht es nicht.

Im 22. Bande wurde

le Neveu de Rameau zum ersten Mal aus dem Original abgedruckt. Ein ausführliches Register schloß die Ausgabe.

Man

hätte glauben können,

daß

die Literatur

nunmehr mit

Diderot aufs Reine gekommen war, als 1830 zu Paris bei Paulin

eine ganz unerwartete Mittheilung die Aufmerksamkeit für Diderot in einem weit höheren Grade fesselte, als es bis dahin der Fall gewesen.

DieS waren die Memoires, Correspondance et ouvrages inedits

de Diderot, publies d’apres les manuscrits, confies, en mourant,

par l’auteur ä Grimm, 4 Bände, die mit größter Sorgfalt redigirt

und mit einem sehr ausführlichen Register ausgestattet waren.

Diese

Schriften waren nach Grimm'S Tode 1807 an Diderot's Tochter über­

liefert worden, welche Grund genug hatte, den Druck derselben erst nach ihrem Tode

zu verstatten.

Außer einigen

pikanten Dialogen

brachten sie Diderot's Briefwechsel mit Fräulein Sophie Voland und mit Falconet und warfen damit ein ganz neues Licht aus Diderot.

So Vieles, was an ihm dunkel gewesen war, erhellte sich, denn diese mit dem Herzblut geschriebenen Briefe strömten einen sonnigen Glanz über Diderot's Person aus, welcher sie poetisch verklärte.

Wie unge­

nügend, wie blaß und matt erschien doch Alles, was man bis dahin über ihn geurtheilt hatte.

Nun erst drang man bis in die geheimste

Werkstatt seines Seelenlebens, seines Lebens überhaupt.

Hätten wir

von Diderot nie eine gedruckte Zeile besessen und hätten sich nur diese Briefe von ihm erhalten, so würde man immer urtheilen müssen, daß

ihr Verfasser ein ganz außerordentlicher, höchst eigenthümlicher, tiefer Mensch, ein bewundernswerthes Talent der Darstellung, eine wahrhaft

10

Didcrot's bisherige Schicksale in der Literatur.

schöne Seele gewesen sei.

Da in den Briefen an Sophie Voland die

ganze damalige Pariser Welt dramatisch conterfcict und durch die an­ ziehendsten Anekdoten illustrirt ist, so konnten sie nicht verfehlen, das

allgemeinste Interesse hervorzurufen.

Von den Franzosen war es St.

Beuve, der sofort nach dem Eindruck, den diese Briefe auf ihn ge­

macht hatten, in seinen Portraits et critiques litteraires eine Cha­ rakteristik Diderot's entwarf, die ich in's Deutsche übersetzte.

im zweiten Bande meiner Studien 1844 abgedruckt.

Sie ist

St. Beuve hat

nicht aufgehört, Diderot eine fortwährende Aufmerksamkeit und Hoch­

achtung zu widmen, wie seine Artikel über ihn, über Grimm, über

Frau v. Epinah, Rousseau u. a. in seinen Causeries du Lundi dar­ thun.

Bon den Deutschen war es Varn Hagen v. Ense, der jene

posthumen Schriften in den damals so tonangebenden Jahrbüchern für

wissenschaftliche Kritik zur Anzeige brachte und diese Anzeige in seiner

Sanimelschrift: Zur Geschichtschreibung und Literatur, bis 433 wieder abdrucken ließ.

1833, S. 423

Sie ist ein Meisterstück des feinen

kritischen Scharfsinns, der vielseitigen Literaturkenntniß und der großen

Kunst Varnhagcn's, Individualitäten treffend zu schilderu.

Es gibt

Namen, meint er, die man in Kreisen geselliger Bekanntschaft nur zu nennen braucht und sogleich eröffnen sich heitere Erinnerungen und Erwartungen, weil Jedermann schon weiß, daß an jene Namen sich

Bedeutendes, Ungewöhnliches, Aufrüttelndes unfehlbar anknüpfen müsse. Ein solcher Name in der Französischen Literatur sei Diderot, der zu

den seltensten Schriftstellern gehöre, die man flüchtig und theilweise zu kennen nie befriedigt sei.

Man wolle durch ihn nicht sowohl neue

Gegenstände und Einsichten gewinnen, sondern vor Allein seine Art

und Weise, sich über die Gegenstände ergießen und an ihnen zu den

glänzendsten Umhüllungen werden zu sehen. jede erhaltene Aeußerung von solchen

Jedes übrige Blättchen,

eigenthümlichen Geistern und

reichen Autoren, wie Voltaire, Rousseau und Diderot, sei dem Kundigen werth und anziehend.

Von den Engländern war es Carlyle, der auf Veranlassung dieser Schriften 1833 in einem Review einen ausführlichen Artikel über

Diderot fchrieb, welchen Kretzschmar in Thomas Carlyle'S Ausge-

wählten Schriften, 1855, Thl. II, S. 78—153, in's Deutsche über-

setzt hat.

Es ist ein sehr bedeutender Artikel, der den Menschen, wie

den Schriftsteller Diderot mit Eindringlichkeit nach allen Seiten hin zu zeichnen versucht.

Die Engländer haßten Diderot seit jeher und

insofern ist die bedingte Anerkennung, welche Carlyle den Talenten und

sogar einigen Tugenden Diderot's widerfahren läßt, ein großer Fort­

schritt gewesen, allein wir müssen deshalb nicht glauben, daß Carlyle schon durchaus gerecht gegen Diderot gewesen sei.

Er behandelt ihn

mit einem Ucbermuth, der auf Diderot mit verächtlichem Mitleid her­ unterblickt und die Bewunderung, die sich bei uns schon für ihn zu regen beginnt, sofort durch Witzeleien wieder erstickt.

Carlyle will mit

jedem Gegenstände, der ihn beschäftigt, zugleich geistreich spielen.

Die

wirklichen Schattenseiten Diderot's hat Carlyle treffend, jedoch über­ trieben, seine guten Eigenschaften als zweideutige Tugenden dargestellt.

Er wagt cs, ihm abzusprechen, auch nur ein braver Mensch gewesen

zu sein.

Er katechesirt ihn, als ob er auf einer einsamen Insel, nicht

im Strudel des verderbten Paris gelebt hätte.

In seiner Vielseitig­

keit erblickt er nur charakterlose Unbestimmtheit und an Allem herum­ tändelnde Seichtigkeit.

Vor Allem

den Apostel des Atheismus.

natürlich verdammt

er ihn als

Manche Aeußerungen Carlylc'S scheinen

aus einer launischen Verstimmtheit entsprungen, welche selbst unschul­

dige Nebendinge mit Ungerechtigkeit behandelt. daß die Edition Briere

So behauptet er z. B.,

der Werke Diderot's ohne Ordnung und

Zusammenhang, ein ganz erbärmliches Machwerk sei, so schlecht, daß man diese Ausgabe als gar nicht erschienen betrachten müsse.

Unwahrheit!

Welche

Wollte Gott, alle Gesammtausgaben classischer Autoren

wären mit solcher Liebe, Sorgfalt, Verständigkeit gemacht!

Nur aus

dem tiefgewurzelten Englischen Vorurtheil ist es zu erklären, daß Car­

lyle in Diderot nicht einen Geist erkannt hat, der ihm in der humo­ ristischen Neigung verwandt war.

baren müssen.

Die Salons hätten ihm dies offen­

Er geht mit einem flüchtigen Lobe

über sie

hin.

Wahrscheinlich hat er sie nur angeblättert.

Von Diderot's posthumen Schriften wurde 1834 eine neue, noch vernichrte Ausgabe veranstaltet.

Unter demselben Titel wurden 1841

zu Paris bei Garnier in zwei Bänden die Briefe an Fräulein Vo-

12

Diderots bisherige Schicksale in der Literatur.

land, le Neveu de Rameau und das Paradoxon sur le Comedien

abgedruckt; alles Uebrige fehlte. Seit der Iulirevolution ist Diderot der unausgesetzte Gegenstand immer erneuten Studiums, immer tiefer eindringcnder Kritik, immer

größeren Interesses geworden.

Die neue Encyklopädie, welche

Pierre Leroux und I. Reynaud Herausgaben, widmete 1838 durch Joguet Diderot sogar einen hypercnthusiastischcn Artikel, in welchem

er als der erste Hierophant der neuen Religion, des Pantheismus

nämlich, gefeiert ward.

„Wenn irgend ein Name, sagt Iogilet, für das

Anathema und die Verachtung seelenloser Professoren, die unsere Lite­ raturgeschichte verstümmelt und entstellt haben, gerächt werden müßte,

so wäre es gewiß der dieses außerordentlichen Mannes.

Von allen

Rehabilitationen, die in der letzten Zeit vollbracht sind, ist keine so

Keine ist mit so allgemeinem Beifall aus­

gewichtig und so legitim. genommen.

Sie war nicht nur, wie so inanche andere, das Werk des

wiedergeborenen tieferen und zarteren Kunstgefühls, sie war zugleiä» das Lebenszeichen der Französischen Philosophie, die inmitten fremder

Systeme, welche sich um ihre Herrschaft streiten, wieder erschien und deren Vater mit Pietät und Liebe wieder begrüßt wurde.

Das ist,

nach unserer Meinung, der Sinn des leidenschaftlichen Beifalls, der

sich vor einigen Jahren fast von allen Seiten her zu Ehren Diderot'erhob, als sein Briefwechsel mit Fräulein Voland und mit Falconet

erschien. — Diderot, eingeweiht in alle Wissenschaften und in allen Gewerben seiner Zeit bewandert;

als Mathematiker von d'Alembcrt

geschätzt; nach Voltaire damals der einzige Mensch, der die Geschichte der Philosophie schreiben konnte; gleich geschickt, wie Spinoza, sich in

die letzten Fragen über Substanz und Causalität einzulassen, als mit Rouelle die Eigenschaften

der

Körper und ihrer Verbindungen zu

suchen, oder mit den Naturforschern die Erscheinungsformen des thie­ rischen Lebens zu studiren; wie Rousseau die Bedingungen der politischen

Gesellschaft anfzustellcn oder so, wie Locke, die Mysterien des Gedan­ kens zu durchdringen;

die Untersuchungen Bordeu's zu verfolgen;

Toussaint bei seinem Wörterbuch der Medicin zu helfen; die Leiden­ schaften zu analysiren, Probleme der Moral und Gewissensfälle zu discutiren; die metaphysischen Tiefen der Sprache zu ergründen;

als

Philologe die subtilsten und verborgensten Feinheiten der Idiome aus­ zulegen; Diderot, wie er aus einer Fabrik kommt, wo er mit den Arbeitern gearbeitet, ihr Handwerk Stück für Stück durchgenommen hat, um das technische Berfahren beschreiben zu können; und derselbe Diderot, der von hier zu Grötry, Garrik, Grenze, Bouchardon, Cochin, Sedaine u. s. w. geht, ihnen die allgemeine Theorie ihrer Kunst zu erklären, ihnen Rath über besondere Puncte und Andeutungen zu geben, welche sie entzücken. Diderot endlich, der mit dieser comprehensiven Fähigkeit eine wunderbare Fähigkeit des Wortes und des Sthls, einen unerschöpflichen Jdccnschatz, eine Fruchtbarkeit, Leichtigkeit und fast bei­ spiellose Mannigfaltigkeit in den verschiedensten Productioncn verband, ist uns immer als einer der Geister erschienen, welche dem mensch­ lichen Geschlecht die größte Ehre machen. Und wenn wir ihn nun inmitten der intcllectuellcn Reichthümer, die so oft das Herz verhärten, eine unglaubliche Gefühligkcit, eine reizende Hingebung bewahren sehen, wie er dem damals überall verlassenen Cultus der Familie treu bleibt, leidenschaftlich für feinen Later, seine Freunde, seine Tochter, seine Ge­ liebte entflammt; mit seiner Feder oder mit seiner Börse alle Unglück­ lichen, die sich ihm darbieten, tröstend und unterstützend; weinend beim Anblick ober bei der Erzählung einer schönen Handlung, bei der Lesung einer schönen Stelle, bei der Erinnerung an seine Batcrstadt; begeistert für die Poesie, Malerei, Musik, Skulptur, für das Antike und Mo­ derne, für das Erhabene und das Gefällige, für das Ernste und Ko­ mische und vor Allem für das Naive: dann werden mir mit Staunen vor dieser Natur stehen, einer von denen, worin Gott sich gefallen zu haben scheint, das Ideal zu verwirklichen, das alle großen Moralisten von uns fordern, um uns zu zeigen, daß eS nicht unmöglich fei, es zu erreichen." DaS ist wohl das höchste uneingeschränkte Lob, welches Diderot jemals zu Theil geworden. Als ein panegyrisches Extrem konnte es nicht maßgebend werdm. Bon Seiten der Philosophie im engeren Sinn erfuhr Diderot auch bald eine eingehendere und strengere Kritik durch den unterrichtetsten und besonnensten Geschichtschreiber der Fran­ zösischen Philosophie, durch Damiron, welcher in der Akademie eine Reihe von Abhandlungen über die Philosophen las, die dem Kreise der

14

Diderot'- bisherige Schicksale in der Literatur.

Encyklopädisten angehören.

Er vereinigte sie zu Paris 1858 zu einem

Ganzen in zwei Bänden unter dem Titel:

Memoires, pour servir

ä l’histoire de la philosophie du XVIII. siede. Tom. I, p.227—353

ist Diderot gewidmet.

Damiron betrachtet sein Leben und seine Lehre

in der natürlichen Theologie, in der Psychologie, Physik, Moral und

Aesthetik.

Er beurtheilt ihn durchaus wohlwollend, wie sehr er auch

der Gegner seines Materialismus und Atheismus ist und ihm gegen­ über sich zuweilen in einer etwas pedantischen Darlegung des Spiri­ tualismus und Theismus gefällt.

Er hat die Bedingungen, unter denen

Diderot lebte und wirkte, mit Billigkeit in Anschlag gebracht, aber die

Schwächen und Widersprüche seiner Philosophie mit logischer Gründ­ lichkeit aufgedeckt und hat nachgewiesen, daß, wenn Diderot von seinen Freunden als der Philosoph schlechthin betrachtet ward, dieser Name

doch nicht in dem Sinne genommen werden könne, als ob Diderot in der Philosophie mit schöpferischer Originalität, wie ein Deöcartes oder

Leibnitz, gewirkt habe.

Damiron wollte eben nur den Philosophen Diderot darstellen und beurtheilen; seine anderweite Polymathie und Polypragmasyne wurde

von ihm nur insoweit gestreift, als sie ihm diente, Diderot's Philosophie zu beleuchten.

Sein Bild sollte kein vollständiges sein.

Den umständ­

licheren Versuch eines solchen, das St. Beuve schon einmal so bezau­

bernd skizzirt hatte, machte der Professor Ernest Bersot in Versailles, der 1855 zu Paris in zwei Bänden 6 tu des sur le XVIII. siede herausgab.

Diese Schrift ist eine der lehrreichsten und interessantesten, welche die Franzosen über die Geschichte

des

denkwürdigen Processe«

besitzen,

welchen der Geist ihrer Nation während des achtzehnten Jahrhunderts vollzog, scheint jedoch nicht so bekannt geworden zu sein, als sie es ver­

diente.

Der erste Band enthält die Geschichte der socialen Bewegung,

des Geschmacks, der Meinungen;

der zweite eine Charakteristik von

Voltaire, Rousseau, Diderot und Montesquieu.

Diderot ist mit be­

sonderer Liebe und Ausführlichkeit nach allen Seiten hin p. 147—296 geschildert.

Namentlich

hat Bersot dem Aesthetiker Diderot

eine so

umfassende und treffende Analyse zugewendet, wie sie außerdem von Niemand gemacht ist.

Er hat sich nicht mit der gewöhnlichen Manier

begnügt, einzelne Definitionen herauszuheben und dieselben mit eini-

gen zustimmenden oder abwehrenden Bemerkungen zu begleiten, sondern er hat zugleich die in den Salons so reichlich ausgestreuten Aeußerungen Diderot's mit benutzt, ihn in seiner ästhetischen Totalität darzustellen. In metaphysischer Beziehung zeigt er, daß Diderot keineswegs nur ein trockner Atheist gewesen, sondern daß in seinem Atheismus ein Element der Leibnitz'schen Monadologie existirt, welches denselben dem Pantheis­ mus nähert. Ein anderer Professor, M. F. Genin in Straßburg, veranstal­ tete 1856 zu Paris in zwei Bänden eine Auswahl aus Diderot'Werken unter dem Titel: Oeuvres choisies de Diderot, precedces de sa vie. Die Auswahl hat nicht sowohl den Zweck ernster Beleh­ rung, als heiterer Unterhaltung, ist aber mit Einsicht und Geschmack gemacht. Die vorausgeschickte Biographie Diderot's, welche später die neue Ausgabe der biographie universelle ausgenommen hat, enthält manche glückliche Züge, allein auch manche Irrthümer, die man jetzt nicht mehr erwarten sollte. Obwohl nun, wie St. Beuve, Ioguet, Damiron, Bersot, Genin beweisen, eine gerechtere Würdigung Diderot's, die zuweilen in Ueber« schwänglichkeit ausartete, bei den Franzosen große Fortschritte machte, so muß man doch nicht glauben, als ob die Berstimmung gegen ihn nicht auch noch fortdauertc. Man ist nur etwas vorsichtiger in seiner Verwerfung geworden. Gewöhnlich fängt man mit der Bewunderung seiner Talente an, um hinterher den unverantwortlichen Mißbrauch, den er damit getrieben, desto empörter zu beklagen. So urtheilt z. B. im Wesentlichen Binet: Histoire de la litterature franyaise au dix-huitieme siede, Paris 1853, T. II, p. 129—150. Wenn Binet, ein Geistlicher, Diderot so auffaßt, wie er thut, so wird man ihm für seinen Standpunct die Berechtigung dazu nicht absprechen können, und man wird es um so eher thun, als er seine Polemik mit vielen feinen, oft gegründeten, Bemerkungen schmückt. Hingegen muß man das Ur­ theil Nisard's in seiner Histoire de la litterature frangaise, T. IV, Paris 1861, p. 513 ff., als ein überaus einseitiges und nicht sowohl strenges, das es sein soll, als vielmehr nur verdrießliches zu­ rückweisen. Nisard setzt Diderot namentlich durch seine Vergleichung mit d'Alembert herunter, den er übertrieben lobt und von dem er

p. 503 behauptet, daß er der besonnene Leiter der Encyklopädie ge­

wesen sei und daß, als er zurückgetreten, diese ein confiises und tu-

multuarisches Ende genommen habe, indem ihre letzten Bände nach

Zufall mit Verwegenheiten und Leichtfertigkeiten angefüllt worden, zu denen der unermüdliche Diderot das Meiste beigetragen habe.

Diderot

gilt Nisard als ein Declamator, der sich in moralischen Gemeinplätzen

erhitzt.

Ein bestes unter seinen Büchern lasse sich gar nicht nennen;

sein bestes seien noch seine Briese, bei denen er nicht daran gedacht habe, als Schriftsteller zu glänzen.

doxe.

Diderot ist nach ihm das Para­

Für gewisse Leute, welche die Ordnung nicht lieben, ist daher

seine Unordnung reizend.

Er liebt die Wahrheit, ohne sie zu achten,

wie eine Maitresse, und mit deni Vorsatz der Untreue. Typus der Zer­

flossenheit, der Keckheit, sich Alles, selbst Vernunft und Wahrheit, er­ laubend, von allen Winden der Zeit bewegt, ohne Ballast, nicht un­

fähig des Guten, sobald sein Vollbringen nur die Frucht eines ersten

Anstoßes war und keine Ausdauer verlangt, das Böse mit der Un­ überlegtheit eines Kindes übend, welches eine Statue steinigt, würde es nach Nisard eine eben so große Thorheit sein, ihn zu bewundern,

als, wie La Harpe, ihm im Namen der Religion, der Moral und des Geschmacks eine pedantische Rechnung über seine Paradoxien abzufor­

dern.

O wenn Diderot doch Nisard's Paradoxie erlebt hätte, von

ihm zu sagen, er sei ein so kecker Bursche gewesen, daß er sich Alles, sogar Vernunft und Wahrheit, erlaubt habe! Diderot ist ein Autor, über welchen gerade gebildete Weltleute am

richtigstm urtheilen würden, allein, wie wir gesehen haben, sind es fast immer Professoren, die sich mit ihm beschäftigt haben.

Die Weltleute

mürben für seinen Witz, für seine Beweglichkeit, für seine dialogische Form, für seine Korruption, weit mehr Empfänglichkeit mitbringen.

Auch in

Deutschland aber waren eS, Göthe ausgenommen, vorzüglich Professoren,

die sich mit Diderot zu thun machten.

Vier berühmte Historiker haben

über ihn geurtheilt: Schlosser, Raumer, Moritz Arndt und Eduard Arnd.

Schlosser hat im zweiten und vierten Bande seiner Geschichte

des

achtzehnten Jahrhunderts Diderot bald gelobt, bald gescholten, je nach­

dem er seiner Sympathie für die Aufklärung, sobald sie die Wunder bestreitet, die Pfaffm und Despoten verfolgt, ober seiner Antipathie

gegen Alles, was er für unmoralisch hält, begegnet, v. Raumer hielt am 16. März 1843 in der Berliner Akademie, deren Mitglied Diderot gewesen, -einen Bortrag über ihn, der in dem betreffenden Jahrgang der Schriften der Akademie S. 275—298 abgedruckt ist. Wie Alles, was Raumer schreibt, sehr gut gemeint, vollkommen auf­ richtig, nicht ohne Belesenheit in einigen Schriften Diderot's, an der Casuistik exotischer Fragen bei ihin sich ergötzend, aber mit seinem Für und Wider den Leser zuletzt gänzlich in Zweifel lassend, welche Be­ deutung er Diderot eigentlich beilegen solle. Herr v. Raumer sieht die Wahrheit immer in der Mitte der Extreme; er meint damit ihre hö­ here Einheit, allein es begegnet ihm, daß er, nachdem er von dieser Seite eben so viel gelobt, als von jener getadelt hat, die Mitte auch leer läßt. Biel entschiedener, und zwar günstig, äußert sich Moritz Arndt über Diderot. Arndt hielt irrthümlich, wie Baboeuf, ben Code de la Nature für Diderot's Werk, und übersetzte ihn unter dem Titel: Grundgesetz der Natur von Diderot, Leipzig 1843, in's Deutsche. Diese Uebertragung begleitete er mit einer Zugabe, in welcher er sich über Diderot, den er für den Autor des Code hielt, als Schriftsteller und als Menschen aussprach. Diese ausführliche Auslassung aus dem Munde des Deutschesten Mannes, der die Gallischen Thorheiten und Laster aus tiefster Seele haßte, kann überraschen, denn seine Vorstellung Di­ derot'« weicht sehr von der landläufigen, namentlich von der der Pro­ fessoren der Theologie, ab. Arndt rühmt nämlich von ihm, daß er im Strudel der feinsten und verdorbensten Welt sich von seinem elter­ lichen Hause her ein schlichtes und gerades Wesen bewahrt habe. Er sei ein ernster, hochbegabter, mit Tiefsinn, Scharfsinn und reicher Phan­ tasie ausgestatteter Mann gewesen, der neben dem mathematischen Ta­ lent ein starkes poetisches besessen habe. In einer gewissen Ueber« schwänglichkeit der Empfindung, in einem gewissen zu hoch schwebenden und dem Blick häufig verdämmernden Fluge der Phantasie, in einer oft überströmenden Wortfülle, welche unterweilen durch zu reißende Gluth und Fluth des Gefühls fast zu breit und gestaltlos werden will, könne er den Menschen Germanischer Abkunft gar nicht verleugnen. Wenn man dem spätern gediegenen Manne die schlimmen Iugendverirrungen abrechne, so erscheine er in seinen Schriften durchaus rein, Nordische Revue. IV. 1. Heft. 1865.

2

18

Didewt'ö bisherige Schicksale in der Literatur.

männlich und redlich, die Wahrheit mit Ernst und Tapferkeit suchend,

und die gefundene nach seiner Ueberzeugung bekennend. nem Gemüth und der Stimmung

und Bestimmlmg

Er war sei­ seines Wesens

nach ein einfältiger und unscheinbarer Mann, der dem Lärm, Gewirr und Glanz des breiten und eitlen Lebens gern aus dem Wege ging und in der Stille und in der Einsamkeit der Studien sein Glück suchte.

In das Treiben der Feinen und Geistreichen, scheint es, hat er aus Gutmüthigkeit sich zuweilen mehr hincinzerren lassen, als daß er durch

eigene Eitelkeit und Genußsucht dahin verlockt wäre.

Er lebte einmal

in Paris, sollte und mußte mit den Parisern arbeiten und wirken, und konnte sich also ihrem Kreise nicht entziehen.

Als Mensch erscheint er

immer hülfreich und freundlich; nicht blos für seine Freunde, sondern für Iedermänniglich, was seiner Hülfe bedurfte, jeder uneigennützigsten

Hingebung und Aufopferung fähig.

Er hat sein Leben treu und red­

lich für seine Freunde und Mitbürger durchlebt, er hat rastlos gear­ beitet und gewirkt, um das, was er für eine gute und Menschen be­

glückende Lehre hielt, zu einer Europäischen Weltlehre zu machen. —

Ganz anders urtheilte der Historiker Eduard Arnd 1857 im zweiten Band seiner Geschichte der Französischen Literatur von der Renaissance bis

zur Revolution, indem er alle Erweiterungen,

die unser Jahrhundert

zur Kenntniß Diderot'« gebracht hat, ignorirt, im Wesentlichen mir die

negative Seite an ihm hervorhebt und von allen seinen Werken nur ein einziges,

den Brief über die Blinden, näher beleuchtet,

um zu

zeigen, daß Diderot ein Atheist gewesen.

Viel besser und die neueren Forschungen in großem Umfang be­ rücksichtigend ist, was H. Hettner in seiner

Geschichte der Franzö­

sischen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, Braunschweig 1860, S.

260—321 über Diderot gesagt hat. der einen Versuch gemacht hat,

Hettner ist eigentlich der Erste,

die Französische Literatur jener Zeit

nach ihrem innern Zusammenhang zu erfassen und die einzelnen Auto­ ren als Momente eines Processes darzustellen, der sich von dem gol­ denen Zeitalter Ludwig XIV. bis zu dem blutigen der Revolution mit

unaufhaltsamer Nothwendigkeit vollzog.

Hettner stellt Diderot zwischen

Voltaire und Rousseau und macht ihn zum Centrum der negativen

Bewegung.

In der That war Diderot Voltaire nicht weniger als

Diderot'? bisherige Schicksale in der Literatur. Rousseau verwandt.

Natur.

19

Wie jener wollte er die Cultur, wie dieser die

Wie jener gehörte er durch die Herausgabe der Encyklopädie

der breitesten Oeffentlichkeit an, wie dieser, liebte er die Einsamkeit. Er fiel aber in kein Extrem.

Er buhlte nicht, wie Voltaire, nm den

Beifall der Fürsten und der Völker, und floh nicht, wie Rousseau, in das Dunkel der Wälder.

Er war vor Allem Kritiker.

Das sind die bisherigen Schicksale Diderot's in der Literaturge­

schichte. Man würde die Zeugnisse, in denen sic sich uns dargestellt haben, vielleicht noch vermehren können, allein sic werden hinreichend darthun, wie widersprechend noch immer das Urtheil über ihn ist.

Von der

einen Seite eben so sehr bewnndert und verehrt, als von der andern gcringgcschätzt und verachtet, weiß man nicht, wem man sich vertrauen

soll.

Es ist nicht der Widerspruch über Einzelnes, wie er im Urtheil

über bedeutende Menschen und Schriftsteller uns so oft begegnet, son­

dern cs ist die Grundverschiedcnheit der Auffassung, die uns stutzen macht.

Wie soll man ein wahrhaftes Urtheil über ihn gewinnen?

Ist dies anders möglich,

als dadurch,

daß man seine Entwicklung

Schritt für Schritt verfolgt? Bisher hat man gewöhnlich zuerst einen Abriß seines Lebens gegeben und dann, oft ohne alles Princip, seine Werke besprochen.

Müßte man aber nicht vielmehr das Leben und

die Werke mit einander verbinden?

Nur durch ein solch

genetisches

Verfahren würde man dahinter kommen, ob Diderot überhaupt eine Entwickelung gehabt.

Das Urtheil über feine einzelnen Schriften darf

nicht ein Borurtheil, cs muß Resultat sein.

Die Schwierigkeit, ein

solches zu finden, liegt aber darin, daß Diderot zwei ganz verschiedene

Sphären der Erscheinung gehabt hat, die eine während seines Lebens,

die andere nach seinem Tode.

Der großen Literaturgeschichte gehört

er offenbar nur durch das an,

was er während seines Lebens ver­

öffentlicht hat, denn nur diese Schriften haben in den Gang der da­

maligen Literatur lebendig eingreifen können.

Es ist und bleibt zu­

letzt doch immer die Encyklopädie einerseits, das bürgerliche Drama

andererseits, welche dein lebenden Diderot seinen Anspruch auf Ruhm geben.

Nun hat er aber gerade in den Schriften, die allmählig nach

seinem Tode bekannt geworden sind, in den Romanen: la Religieuse;

Jacques et son maitre; in den Dialogen: le Neveu de Rameau;

20

Diderot's bisherige Schicksale in der Literatur.

le Heve de D’Alembert; in dm Salons; in dem Paradoxe sur le Comedien; in den Briefen an Falconet und an Sophie Voland; in

seinen petits papiers, den Beilagen der Grimm'schen Correspondenz, eine so große Originalität und Tiefe des Gedankes, eine solche Frische

der Phantasie, eine solche Innigkeit des Gefühls, eine solche Mannig-

falügkeit der Stoffe und Formen an den Tag gelegt, daß dieser post­ hume und apokryphische Diderot mehr werth ist, als der dem vorigen

Jahrhundert bekannt gewesene Philosoph. Eine gründliche Darstellung Diderot's wird nun auch

die kryp­

tischen, die posthumen Schriften chronologisch an dem Ort ihrer Ent­ stehung als Momente der Entwicklung desselben zu fassen haben, wenn sie auch als Anachronismen außerhalb der Literatur dastehen, aus de­

ren bewegter Mitte sie einst als heimliche Gebutten entsprangen.

Zu­

gleich aber müßte dieser kryptische Diderot streng von dem öffentlichen unterschieden werdm,

der

allein seinen Zeitgenossen

bekannt

war,

deren Urtheil über ihn nur durch seine gedruckten Schriften bestimmt werden konnte; denn nur so könnte für beide Seiten, für Diderot und

das Publikum, Gerechtigkeit erreicht werden.

Wie geistreich die apo-

kryphischen Werke Diderot's seien, so können sie heut zu Tage doch nicht sein, was sie gewesen sein würden, wenn sie von der Umgebung, für welche sie eigentlich bestimmt waren, hättm genossen werden können.

Die Voraussetzungen, welche sie hatten, sind nicht mehr vorhanden und

wir müssen uns mit ihnen schon halb und halb, wie mit Resten des Alterthums, künstlich vermitteln. Die glückliche Vereinigung so verschiedmer

Aufgaben muß das jetzige, nächste Ziel der Darstellung und Beurthei­ lung Diderot's fein, Diderot's, der dem, welcher zum ersten Mal an

ihn herantritt, ein Chaos zu fein scheint, dessen Bewegung aber immer mit der Production eines Kosmos endet.

Der WeMklegraph. Von Karl Andree.

Unser Iahrzehent wird, falls nicht alle Anzeichen trügen, den Welt­

telegraphen, welcher die ganze Erdkugel mit elektrischen Drähten um­ spannt, vollendet sehen.

Man hat ihn für ein „Bedürfniß" erklärt,

das Befriedigung verlange, und in der That tritt ein solches, gegen­ über der großartigen Umwandlung, in welcher das ganze Güterleben und das Verkehrswesen aller Erdtheile und aller Oceane begriffen ist,

immer schärfer in den Vordergrund.

Die Telegraphenstränge haben schon setzt eine kolossale Ausdehnung gewonnen.

In Nordamerika reichen sie in ununterbrochener Linie von

Neufundland gen Westen bis nach Britisch-Columbia, und verbinden

die Gestade des atlantischen Oceans mit jenen dcS stillen WellmeerS; in Europa und Asien gehen die Drähte von Gibraltar an den Säulen

des Herkules bis Kiachta an der sibirisch-mongolischen Grenze und von Scutari am Bosporus bis nach Ranguhn in Pegu an der Mündung des Jrawaddy.

Auch Nordafrika ist in das große System einbezogen

worden, die Kapkolonie und Australien haben längst ihre Telegraphm, nicht minder einige Länder Südamerika's.

Aber alle diese Stränge, ob­

wohl sie über einen Raum von vielen tausend Meilen hingezogen sind,

bilden doch immer nur disjecta membra; es kommt darauf an, diese vereinzelten Theile in systematischer Weise, dem Interesse des großen

Verkehrs gemäß, weiter zu führen, mit ihnen die ganze Erde zu um­ spannen, den Welttelegraphen herzustellen.

Die Aufgabe ist schwierig, aber die Technik unserer Tage ruht nicht und weiß alle Hindernisse zu

überwinden.

Sie erfordert

gewaltige

Summen Geldes, aber diese werden mit Leichtigkeit beschafft, weil die

22

Der Welttelegraph.

Anlage produktiv ist und die Vortheile, welche nicht blos nach dem Zins­

erträge veranschlagt werden dürfen, aus der flachen Hand liegen.

Der

Bau schreitet unablässig fort, ein Glied noch dem andern wird vollendet, und so eben lese ich, daß im November 1864 weit hinten in Ostasicn

die Strecke von Chabaroffka, also von der Mündung des von Süden

her aus der Mandschurei in den Amur fließenden Ussuri, bis nach Nicolajeffsk, das unweit von der Küste des ochotskischen Meeres liegt, dem In Sibirien bleibt von Westen nach

Verkehr übergeben worden sei.

Osten hin nur noch die Lücke zwischen Irkutsk, respective Kiachta aus­ zufüllen, und die russische Regierung, welche in der neueren Zeit dem

Verkehrswesen die gebührende Aufmerksamkeit zuwendet, will diese Linie binnen zwei Jahren Herstellen.

Welche Fortschritte Jahren gemacht!

hat

die

elektrische Telegraphie

seit

fünfzig

Die ersten Anfänge datircn aus dem Jahre 1809,

die praktische Ausführung auf der kurzen Strecke zwischen Baltimore

und Washington reicht nicht viel über ein Vierteljahrhundert hinaus. In England begann man mit der Anlage elektrischer Drähte 1839,

diese erhielten aber erst seit 1845 eine größere Ausdehnung und erheb­

lichen Belang für den Verkehr.

Die 9tordamerikaner haben, mit der ihnen eigenen Ruhmredigkeit, die Erfindung des elektrischen Telegraphen für sich in Anspruch genom­

men, und bleiben auch noch jetzt bei dieser Behauptung, obwohl sie platterdings unwahr ist.

Der Petersburger Akademiker I. Hamel

wies auf der Naturforscherversammlung zu Bonn 1857 überzeugend durch Thatsachen und Jahreszahlen nach, daß auch diese Erfindung, gleich jener des Schießpulvers, der Buchdruckcrkunst, der Uhren ic., eine

deutsche sei und daß der Amerikaner Morse keinen Anspruch auf dieselbemachen könne. Zwar hat die höchste Gerichtsbehörde in Washington

diesem Manne die Priorität zugesprochen, welche in das Jahr 1832

falle; man war aber mit den Thatsachen unbekannt und machte sich eines Irrthums schuldig.

Herr Hamel stellt Folgendes fest.

Sömmering zeigte am 29.

August 1809 der Akademie der Wissenschaften in München den ersten durch Galvanismus wirkenden elektrischen Apparat vor und gab ein­

gehende wissenschaftliche Erörterungen. Er benutzte die chemische Wirkung

des Galvanismus, um Signale in der Ferne zu erzeugen; er entwickelte Blüschen aus Wasser in neben einander gereiheten Glas­ röhren und jede Blase bezeichnete einen Buchstaben

des Alphabets,

eine Ziffer rc.

München also sah den ersten galvanischen Telegraphen; den

ersten elektro-magnetischen Telegraphen hatte St. Petersburg. Dort stellte ihn Baron Schilling von Cannstadt her, der in

Bkünchen mit Sömmering halten hatte.

vielfach

wissenschaftlichen Verkehr

unter­

Die große Erfindung des Dänen Oersted über die Ein­

wirkung der Elektricität ans den Magnetismus füllt in das Jahr 1820

und Schilling von Cannstadt machte bald nachher Versuche, dieselbe auf die Fernschreibeknnst anznwcnden.

Es gelang ihin, zwischen St. Peters­

burg und dem Lustschlosse Zarskoc Selo einen elektromagnetischen Tele­

graphen herzustellen, der bequem und sicher corrcspondirte^

Professor

Weber in Göttingen nahm die Erfindung auf und gab, schon 1833,

Verbesserungen an.

Schilling erläuterte seinen Apparat 1845 auf der

Naturforschcrversammlung in Bonn, und in Folge davon faßte ein dort

anwesender Mann ans Schottland, Fothergill Eooke, den Entschluß,

die elektrische Telegraphie in England bei den Eisenbahnen einzuführcn. Er setzte sich im Anfänge des Jahres 1837 in London mit dem Phy­ siker Wheatstone in Verbindung und beide machten am 25. Juli an

der Nordwestbahn ihre Probeversuche mit einem 15 englische Meilen

langen Drahte.

Aber schon vierzehn Tage früher hatte Steinheil

in München das Gebäude der Akademie der Wissenschaften mit der

Sternwarte bei Bogenhausen und mit seiner Wohnung in der Theresienstraßc verbunden, und im folgenden Jahre wies er die Möglichkeit nach, den galvanischen Strom beim Telegraphiren durch die Erde zur Batterie zurückkehren zu lassen.

Um dieselbe Zeit glaubte Schilling eine Jsolirung gefunden zu haben, welche genüge, um die Lcitungsdrühte durch Wasser zu führen.

Er

war eben damit beschäftigt, St. Petersburg über Oranienbaum mit Kronstadt unter dem Wasser in Verbindung zu setzen, und hatte ein Seil

mit mehreren nach seiner Angabe isolirten Kupferdrähten verfertigen lassen,

als am 7. August 1837 der Tod ihn hinwcgrafftc.

Damals wußte man

noch nichts von der Gatta pcrtscha (denn so lautet der malayische Name),

welche wir erst seit 1846 besitzen, obwohl sie im indischen Archipelagus von den Ginget)ornen schon seit Jahrhunderten benutzt wurde. Mit dem amerikanischen Maler Morse verhalten sich die Dinge in folgender Weise. Während seiner Rückreise von Europa im Jahre 1832 erhielt er auf der See von einem Reisegefährten, dem Docktor Jackson aus Boston, einige Mittheilungen über die elektrische Telegraphie, be­ schloß dieselbe praktisch anzuwenden und verband sich zu diesem Zwecke mit dem Chemiker Gale. Am 4. September 1837, also vier Wochen nach Schillings Tode, machten beide ihre ersten Versuche, j)ie völlig mißlangen und keine praktische Bedeutung hatten. Bon einer „Priorität" Morse's kann also, keine Rede sein. Das unter dem Namen dieses Mannes bekannte Instrument kam erst lange nach 1837 in Gebrauch. Wir hielten es für zweckmäßig diese Mittheilungen zu geben, weil wir neulich wieder einmal in einer deutschen Zeitung lasen: „daß die Welt dm Nordamerikanern nicht dankbar genug für eine so groß­ artige und so wohlthätige Erfindung sein könne!" Auf die technischen Verbesserungen, welche im Fortgange der Zeit der Betrieb erfahren hat, gehen wir nicht ein. Nachdem man einmal die Vorzüge der elektrischen Telegraphen erkannt hatte, entstand ein Wett­ eifer unter den Völkern, sich dieses neue Verkehrsmittel in möglichst großer Ausdehnung anzueignen. Der atmospärische Telegraph wurde überflügelt und ist nun völlig in Vergessenheit gerathen; er war 1794 zuerst durch den Franzosen C happe in Anwendung gekommen und aller­ dings hat er großen Nutzen geleistet. Aber ihm hasteten mehrere Mängel an. Er arbeitete langsam, weil die Zeichen auf jeder einzelnen Station wiederholt werden müssen und er war unsicher, weil er bei trübem Wetter nicht benutzt werden konnte; ohnehin konnte man gleichzeitig nicht mehr als einen Bericht auf derselben Linie befördern. Der elektrische Telegraph hat alle diese Mängel nicht, und von vielen anderen Vorzügen abgesehen, erklärt sich schon daraus, daß er so rasch an Ausbreitung ge­ wonnen, in größerem Maßstabe in England, wie schon bemerkt, nicht vor 1841 oder eigentlich 1843 und 1845, in Deutschland seit 1842, in Frankreich erst feit 1846; dann folgten die übrigen Länder. Man fand keine Schwierigkeiten, die Telegraphenlinien auf dem festen Lande mit einander in Verbindung zu bringen, wohl aber fragte

sich, ob eS gelingen werde, unterseeische Linien in der Weise herzu­

stellen, daß sie regelmäßig benutzt werden könnten. Der Versuch im

Kanal zwischen England und Frankreich gelang, und damit war ein großer Antrieb gegeben. Was für einen Meerestheil ausführbar sei, so folgerte man nun,

müsse auch auf größere Meeresstrecken sich anwenden lassen,

ohnehin

stehe man ja erst in den Anfängen der Technik und Probiren gehe über Studiren.

Weitere Versuche gelangen gleichfalls, und im Jahre 1858

glaubte man das große Problem, einen ganzen Ocean mit dem Drahte

zu überspannen, glücklich gelöst. Es ist wahr, kein anderes Verkehrsmittel wirkt so durchgreifend auf

die Umgestaltung der Weltverhältnisse, als gerade der elektrische Telegraph; Dampfschiffe und Locomotiven waren für ihn gleichsam nur Vorläufer,

die eigentliche neue Zeit, namentlich für den großen Verkehr, begann erst mit den Stangen und Drähten.

Man erledigt seitdem die wichtigsten

Geschäfte in Minuten und Stunden, während man früher Wochen und

Monate nöthig hatte.

Im Sommer des Jahres 1858 wurde ein wichtiges Problem ge­ löst ; der transatlantische Telegraph schrieb unterseeisch zwischen Europa

und Nordamerika, von der Insel Valenti« in Irland nach St. IohnS

aus Neufundland; er arbeitete etwa zwanzig Tage lang und zwischen beiden Erdhälsten wurden vierzig Telegramme befördert. Dann gerieth er

ins Stocken und versagte den Dienst; aber die Möglichkeit, auf sehr

weiten Strecken unterseeisch zu correspondiren, war unwiderlegbar dar­ gethan, und die Störung nur durch technische Fehler oder Unvollkom­

menheiten herbeigeführt.

Von dieser Ueberzeugung ist man allgemein

so sehr durchdrungen, daß der Plan, ein nach verbesserten Methodm hergestelltes Tau abermals durch den atlantischen Ocean zu legen, und

die beiden Erdhälften direct zu verbinden, in England mit großem Nach­

drucke wieder ausgenommen und verfolgt worden ist.

Die Zeitungen

melden, daß das große schwierige Unternehmen im Jahre 1865 ver­ wirklicht werden solle.

Die für dasselbe eingezahlte Geldsumme betrug

am 1. Februar des laufenden Jahres 799,638 Pfd. Sterling,

also

in runder Summe 5 Millionen Thaler; die Arbeiten an dem neuen

26

Der Welttelegraph.

Kabel hatten im April 1864 begonnen, 1035 englische Meilen desselben waren im Januar 1865 vollendet und man hofft auf günstige Erfolge.

Bevor wir näher auf die Geschichte dieses atlantischen Telegraphen eingehen, wollen wir erwähnen, daß ein Nordamerikaner von deutscher

Abkunft, Schaffer aus Boston, schon im Anfänge der fünfziger Jahre

den Plan zu einem Welttelegraphen entworfen und für diesen insbe­ sondere die Linie durch Sibirien in's Auge gefaßt hatte.

Im Jahre

1854 machte er persönlich dem Kaiser Nikolaus Vorschläge über die An­

lage eines systematischen Telegraphensystems im ganzen russischen Reiche. Der Zar war mit demselben

einverstanden.

Rußland

wollte

nach

Kräften mitwirken, daß ein Telegraph von Nordamerika über Grönland,

Island unb die Färöer gelegt werde, um hier Anschluß an die euro­ päischen Drähte zu finden;

von Moskau solle eine Linie durch das

russische Asien und Amerika nach San Francisco in Californien gehen; die specifisch russische Linie solle Kasan berühren, über den Ural ge­ spannt werden, nach Omsk, Kolywan, Irkutsk und nach Kiachta an der

chinesisch-mongolischen Grenze laufen. Von Irkutsk wolle man sie einer­ seits bis an die Amurmündung, andererseits irgendwo bis an das Meer

von Kanltschatka oder an die Behringsstraße weiter führen, um sie dann nach Amerika hinüberzulenken.

Ein großer Theil der hier vorgezeichneten Linien ist während der

letztverflossenen zehn Jahre vollendet worden, und für den Welttele­

graphen bleiben auf dem festen Lande nur noch in Nordwestamerika und

in Sibirien einige Lücken auszufüllen, die zwar große Kosten verursachen,

aber keine eigentlichen Hindernisse darbieten werden.

Diese hat man nur

auf den unterseeischen Strecken zu erwarten; bewährt sich das obener­ wähnte atlantische Kabel, dann wird alle Noth ein Ende haben, weil man für die Linie zwischen Nordwestamerika und Nordostasien die neuen technischen Methoden, also das verbesserte Tau, nutzbar machen kann.

Schlimnier aber stünden allerdings die Sachen, wenn dasselbe den Dienst versagen sollte. Im August 1850 wurde der unterseeische Telegraph zwischen Dover

und Calais gelegt. Diesem gelungenen Versuche folgten dann viele andere in Europa gleich in den nächsten Jahren, während man in Amerika den

ersten Versuch 1855 machte, als es sich darum handelte, die Insel Kap

Breton mit Neufundland zu verbinden.

Er mißlang, aber trotzdem

beharrte Cyrus Field auf seinem Plan, einen submarinen Telegraphen

zwischen Amerika und Europa zu legen; vor den Schwierigkeiten bebte er nicht zurück.

Es kam zunächst darauf an, die Bereinigten Staaten mit Neu­ fundland, und zwar der Trinity-Bay zu verbinden. dorthin betrug die Drahtlänge

Don Boston bis

600 englische Meilen.

Sie durchzieht

den Staat Maine, die englische Provinz Neubraunschweig, geht der Fundy-

bay entlang, an der Nordkiiste Ncuschottlands hin, durch den Meerescirni von Canso hinüber nach der Westküste voin Kap Breton bis zur

Aspybay unter 47 Grad nördlicher Breite.

Dort taucht

der Draht

abermals in das Meer bis Port au Basgue, nahe an der westlichen

Spitze von Neufundland.

Wir sagten oben, daß der Versuch dieser

letzten unterseeischen Strecke, welche 86 Miles lang ist, für den Verkehr

nutzbar zu machen, zuerst mißlang, aber ein zweiter wurde 1856 mit

Erfolg gekrönt.

Von Port au Basgue zieht der Telegraph in gerader

Richtung nach Osten, etwa 88 deutsche Meilen weit und zumeist durch einen dichten, nur an wenigen Stellen unterbrochenen Wald, bis zur

Ostküste von Neufundland, zur Trinitybay.

Auf dieser ganzen Strecke

waren bis vor Kurzem und sind vielleicht noch heute nur fünf Stationen

vorhanden. Es kam nun darauf an, von St. Johns auf Neufundland bis Valentin in Irland, auf einer Entfernung, die in geradem Striche

1650 Miles beträgt, einen unterseeischen Telegraphen zu legen und die Atlantic-Tclegraph-Company ging rüstig an's Werk.

An der Ausführ­

barkeit zweifelte sie keinen Augenblick, weil sorgfältige hydrographische Untersuchungen ergeben hatten, daß die Bodcnbeschaffenheit des atlan­ tischen Oceans kein Hinderniß darbiete.

Das Becken dieses Meeres bildet

zwischen beiden Erdhälften eine ungeheure Thalmulde, deren Grund eine

ziemlich gleichmäßige Gestaltung aufweist und vergleichsweise keine er­

heblichen Unebenheiten darbietet. Man hat diese Region als eine unter­

seeische Steppe oder auch als das atlantische Telegraphenplatcau bezeichnet.

Die tiefsten Stellen liegen zwischen den Bänken

von Neufundland und den Bermudas-Inseln, während der mexikanische Meerbusen vcrhältnißmäßig seicht erscheint. Man legte deshalb das Kabel

nördlich von jener Seeregion auf einer Strecke, wo die Tiefe nicht mehr als 2080 Faden, also 12,480 Pariser Fuß betrug, und meinte, daß auf

ihr das Seil so ruhig, fest und ungestört ruhen werde, wie auf dem Boden eines Teiches oder als sei es in Schnee gebettet.

Im Sommer des Jahres 1857 war das 2500 englische Meilen lange Tau vollendet, und sechs Dampfer hatten'sich zum Versenken desselben

in die Arbeit getheilt.

Das Kabel brach in Folge des Versehens der

Arbeiter; im Juni 1858 schlug ein zweiter Versuch fehl, aber man ließ sich nicht abschrecken und das große Werk gelang.

Am 17. Juli 1858

war eine Dampfflotte von Queenstown abgesegelt, hatte am 29. desselben Monats auf hoher See das Drahtkabel zusammengespließt und am

5. August schrieb der atlantische Telegraph seine erste Bot­ schaft.

Die Kosten des Werkes hatten 1,280,000 Dollars betragen.

Der nordamerikanische Präsident Buchanan sagte in seinem elektri­ schen Gruß an die Königin Victoria: „Der Triumph dieses großen

internationalen Unternehmens ist glorreicher als irgend einer, den je ein Eroberer auf dem Schlachtfeld erfochten,

denn er ist der Menschheit nützlicher!"

Und in der That, das

kleine Geschwader, welches den unterseeischen Telegraphen legte, hatte

eine herrlichere Eroberung gemacht als jemals irgend eine Kriegsflotte. Es verrichtete ein unblutiges Werk, im Interesse des Friedens, der Ge­

sittung und des Verkehrs.

Bor sieben Jahren erfuhr das

großartige

Werk eine Unterbrechung; aus irgend einer immer noch nicht genügend ermittelten, wahrscheinlich, wie schon oben angedeutet wurde, technischen

Ursache fing das Tau an, den Dienst zu versagen und die großartigen Hoffnungen, denen man sich auf beiden Erdhälsten nicht ohne Grund hingegeben hatte, erwiesen sich, vorerst wenigstens, als eitel.

Wir hoffen, daß im laufenden Jahre an dem neuen atlantischen Telegraphen jenes Mißgeschick sich nicht wiederholen werde. Inzwischen war

ein großer und folgenreicher Antrieb einmal gegeben, und wenn man sich in Bezug auf die transatlantische Verbindung auf die Zukunft zu vertrösten hatte, so entwickelte man nach anderen Richtungen hin eine löbliche Energie. Die großartigen Erfolge liegen vor und gerade während wir diese Zeilen schrieben, lesen wir in einer Nummer der „Times", daß auch der

Eröffnung des europäisch-indischen Telegrap hen keine Hinder­ nisse mehr im Wege stehen.

Er bildet ein wichtiges Glied in der Kette

des Welttelegraphen und wir werden weiter unten einige nähere Mit­ theilungen über ihn geben. Hier fassen wir zunächst den asiatisch-amerikanischen Tele­

graphen ins Auge, durch welchen Europa mit der „Neuen Welt" in

Verbindung gesetzt werden soll.

Er tritt als ein Mitbewerber des neuen

atlantischen Telegraphen auf, der, wie schon gesagt, im Laufe deS Jahres 1865 in Thätigkeit treten soll.

Aber es liegt auf der Hand, daß bei

dem ungeheuren, immer kolossaler sich gestaltenden Wechselverkehr zwischen den verschiedenen Erdtheilen ein einziger Telegraph für die Bedürfnisse

Auch ist man des besten atlantischen Kabels nicht

nicht genügen wird.

unter allen Umständen sicher, weil der Ocean sich nicht controliren läßt.

Wenn ein Zufall dasselbe beschädigt, wird sofort alle Verbindung stocken, und auf eine ununterbrochene Strecke von mehr als 500 deutschen Meilen wird eS immer mit großen Schwierigkeiten und Kosten verbunden sein, die Stelle ausfindig zu machen, wo etwa der Schaden liegt, das Tau auf­

zuwinden und auszubeffern.

Es erscheint also unter allen Umständen

sehr ersprießlich, zwei Linien zu haben, die atlantische und jene über

Land.

Allerdings wird die Letztere gleichfalls zum Theil eine unter­

seeische sein müssen, aber auf verhältnißmäßig kurzen Strecken, so daß Schäden sich leichter ausbeffern lassen, als bei der oceanischen Linie.

Wir hören, daß die Unterhandlungen zwischen der russischen Re­ gierung und den amerikanischen Unternehmern des Ueberlandtelegraph en zu einem günstigen Abschlusse gediehen seien. Kaiser Alexander hat sich dem großen Werke sehr förderlich gezeigt und jenen Unternehmern

ein Privilegium für die Linie in den ruffisch-amerikanischen Besitzungen und in Nordostasien bis zum Amur gewährt.

Die russische Regierung

will, wie schon bemerkt, die noch vorhandene Lücke zwischen Irkutsk und

Chabaroffka so rasch als möglich ausfüllen, und wie energisch sie bisher

den Bau ihres sibirischen Telegraphen betrieben hat, ergiebt sich daraus, daß sie die Linie von Kasan an der Wolga bis Kiachta binnen drei Jahren vollendete.

Das ist aller Ehre werth, wenn man in Erwägung

zieht, wie große Schwierigkeiten in einem erst spärlich besiedelten Lande

zu überwinden waren.

Wir wollen hier bemerken, daß diese Linie,

30

Der.Welttelegravh.

welche von Kasan ausljeht, wo die Anschlüsse der europäischen Telegraphen stattfinden, über den Ural nach Tjumen und dann über Omsk und

Irkutsk nach TroitzkosawSk läuft, das eine Wegstunde von Kiachta ent­ fernt ist; sie hat Abzweigungen nach Irbit, dem bekannten Mcßplatze, und nach Schadrinsk; die Drahtlänge beträgt 10,725 Werst.

Man hat

namentlich bei den Arbeiten am Baikal-See manche praktische Erfahrungen gemacht,

welche bei der Fortführung des Telegraphen sowohl in der

Mongolei und Nordostsibirien, wie in Nordwest-Amerika benutzt wer­

den sollen. Der Plan

zur Ausführung

des Uebcrlandtelegraphen ist nach

langen Erwägungen jetzt eben, im Januar 1865, endgültig fcstgcstellt worden.

Wir müssen den Leser ersuchen, eine beliebige Weltkarte, wo

möglich die von Hermann Berghaus und von Stülpnagel, zur Hand zu nehmen. Im Herbst 1864 lasen wir im New-Aork-Herald, daß von 1865

an die Arbeiten am Ueberlandtelcgraphcn ernstlich in Angriff genommen werden sollten; im October sei das erste Schiff von New-Jork mit

Baumaterial nach der Nordwestküste abgegangen.

Drei andere folgten

einige Wochen später, und den Sauimelplatz dieses kleinen Geschwaders

wird Sitka bilden, die Hauptstadt der russisch-amerikanischen Besitzungen. Ueber manche Einzelnheitcn der Linie war man damals noch nicht recht

im Klaren, z. B., ob man den Telegraphen im Gebiete der Vereinigten Staaten von der Mormonenstadt am großen Salzsee durch das Terri­

torium Idaho nach Portland in Oregon führen sollte oder über St. Paul in Minnesota durch die Redrivergcgmd und weiter westlich nach

Britisch Columbia.

Kein Zweifel blieb, daß man von hier ab weiter

nach Norden die einzelnen Handelsposten im englischen, wie im russi­ schen Amerika zu benutzen habe.

Aber wie den Draht nach Asien hinüberlcgen und an den Amur gelangen? Ueber die Behringsstraße? Oder vom Kap Romanzoff über

die Lorenzinsel nach dem Kap Tschuktschkoi? Denn den Plan, die lange

Kette der aleutischen Inseln zu benutzen, welcher anfangs aufgetaucht war, ließ man bald wieder fallen, weil die Oertlichkeit eine beträchtliche Anzahl unterseeischer Abtheilungen erfordert hätte, die man so viel als irgend möglich vermeiden wollte.

Man wird in der Gegend, wo oben

im Norden der Draht unterseeisch gelegt werden muß, der Vorsicht Halder stets einen Dainpfcr auf Station Haden, damit ohne Zeitverlust jedem Schaden adgeholfen werden könne.

Die xIntcrcssen der amerikanischen Unternehmer werden durch Perry

M c D o noug h Colli ns vertreten, einen sehr rührigen, unternehmenden Mann, der seit nun zehn Jahren mit zäher Ausdauer den Plan ver­

folgte, die Handelsvcrkchrsvcrbinduug zwischen Amerika und Asien zu beleben.

„Nachdem ich — so schreibt er in der Vorrede zu seinem

Rciscwcrkc*) — von Wrangels Buch über Sibirien gelesen hatte, war

ich im Geiste viel mit diesem weit ausgedehnten klandc beschäftigt, das so gewaltige Ströme, endlose Wälder und einen so großen Reichthum an edlen Metallen hat.

Dort ist eine Fülle natürlicher Hilfsquellen, welche

für den Welthandel nutzbar gemacht werden können,

sobald nur ein

Abzngswcg zum Ocean vorhanden ist." „In den Jahren vor 1855 lebte ich in Californicn, wo ich den

Handelsverhältnisscn des nördlichen Stillen Mccrcö besondere Aufmerk­

samkeit zuwandtc.

Ich erwog, auf welche Weise ein Verkehr zwischen

der amerikanischen und der asiatischen Küste ins Leben zu rufen sei, und

der Amurslrom erschien mir als der passende Weg, auf welchem der

amerikanische Handel in die dunkeln Tiefen Nordasiens eindringcn, der Civilisation ein neues Gebiet erobert meiden sönne.**)

Da erfuhr ich,

daß die Russen Besitz vom Amurlandc genommen und an der Mündung desselben eine Niederlassung gegründet hätten.

Die wichtigen Folgen

dieserBcsitznahme wurden mir sofort klar, und ich ging nach Washington, um mir dort genauere Kunde zu verschaffen, denn in Californicn wußte man damals wenig über den Amur, mit welchem noch keine directe

Verbindung stattgefunden hatte.

Ich konnte kein Schiff ausrüstcn, um

sofort selber an die Amurmündung zu gehen, auch wäre ich dann als Privatmann gekommen und wußte auch nicht, ob mir als solchem ge-

*) A vuyage down the Amoqr: with a land journey through Siberia, and incidental notices of Manchooria, Kamscatka (sic!) and Japan. By M. D. Col­ lins. New-York, Appleton, 1860. ** ) Ich will bemerken, das; das erste Schiff, welches aus Amerika nach dem Amur ging, von einem Deutschen, aus Sachsen, Herrn Otta Esche, ausgerüstet worden ist.

Der Welttelegraph.

32

stattet sein würde, den Strom aufwärts zu fahren, oder das Land zu erforschen."

Im März 1856 wurde dann Collins zum Handelsagenten der Bereinigten Staaten am Ainur ernannt,

hatte nun einen amtlichen

Charakter, ging nach St. Petersburg und von dort über den Ural und

durch Sibirien bis an die Mündung des Amur.

Ueberall fand er eine

freundliche, zuvorkommende Aufnahme, namentlich auch beim General­ statthalter von Ostsibirien, Grafen Murawiesf-AmurSky.

Wir sehen heute, wie viel von den Plänen und Projekten, welche vor zehn Jahren auftauchten, schon verwirklicht worden ist.

Der Amur

wird von Dampfern befahren, ein Gleiche« gilt von seinen zwei wich­ tigsten Nebenflüssen, dem Sungari und dem Ussuri, 1000 Werst Tele­

graphendrähte sind bereits hergestellt.

Collins leitet, wie bemerkt, jene Arbeiten, welche von der amerika­

Diese gebietet über die erfor­

nischen Gesellschaft ausgeführt werden.

derlichen Geldmittel (angeblich 50 Millionen Dollars), die Kosten für den Bau von New-Aork bis zur Amurmündung sind auf 5 bis 10

Millionen Dollars veranschlagt worden.

Eine einfache Botschaft von

London nach New-Iork soll 50 Rubel kosten, wenn sie nicht mehr als 10 Wörter enthält.

Das ist freilich theuer; die Unternehmer des

neuen atlantischen Telegraphen werden ohne Zweifel keinen so hohen Preis stellen. Auf einer Karte, welche Collins gegen Ende des vorigen Jahres in New-Aork hat drucken lassen, findet man die Linie verzeichnet, welche nun für den Ueberlandtelegraphen festgestellt worden ist.

Sie zieht von

Kiachta über Aaksa dem Amur entlang, bis zu dessen Mündung ins Ochotskische Meer.

Diese Strecke, von etwa 2000 Miles Länge, soll zu

Ende des Jahres 1866 vollendet sein.

Wir habm schon gesagt, daß sie

auf Kosten der russischen Regierung gebaut wird. An der Amurmündung beginnen die Arbeiten der Amerikaner.

am

nördlichen

Ufer

des

Sie führen die Linie von dort

Ochotskischen Meeres

hin

über Tausk

(60® n. Br.), dann in nordöstlicher Richtung nach PenschinSk, also bis an den nördlichsten Theil der Halbinsel Kamtschatka und weiter in südöstlicher Richtung über Kap OlyütorSk (60° n. Br.) nach dem Kap

Tschuktschkoi, das im Osten des Anadyrbusens, gleichsam am Ein-

gange zur Behringsstraße liegt.

Diese selber bleibt nördlich liegen, weil

der Telegraph von Kap Tschuktschkoi unterseeisch nach der St. Lorenz­ insel gelegt wird und von dieser nach

dem amerikanischen Festland.

Er folgt dann den Küsten des russischen Amerika's und Britisch Colum-

bia's bis zum Pugetsunde.

Bon diesem aus reicht schon jetzt die Tele­

graphenverbindung nach Osten quer über ganz Nordamerika bis zum

Kap Race auf Neufundland. Das ist der Hauptstrang, und wir zweifeln nicht, daß die ameri­ kanische Gesellschaft denselben vollenden werde.

Sie verfolgt aber noch

weitere Pläne, deren mir erwähnen wollen, obschon die Verwirklichung derselben noch in weitem Felde liegt. Es handelt sich dabei um zwei Linien, vermittelst deren Ruß­ land mit Vorderindien, Hinterindien und Australien in

Verbindung gebracht werden soll. Die eine Linie soll von dem großen sibirischen Telegraphen bei Omsk abzweigen, am Irtysch aufwärts bis nach Semipalatinsk geleitet

und westlich von der Dsungarei nach den turkistanischen Chanaten laufen, um weiter durch Afghanistan zu ziehen und sich bei Peschawer dem indi­

schen Telegraphennetz anzuschließen. Sie hätte also einerseits Verbindung

mit dem Drahte, der bis

an die Mündung des Irawaddy

läuft,

andererseits mit jenem, der von Karratschi unweit der Indusmündung

nach BaSra und durch Mesopotamien, Armenien und Kleinasien bis Konstantinopel geht.

Die zweite Linie soll von Kiachta aus durch die Mongolei nach Peking und an der chinesischen Küste hin bis Canton gehen.

Sie

soll weiter führen nach Formosa, den Philippinen, über NeuGuinea nach Australien, bis in dessen Süden nach Melbourne.

Im

Norden Australiens würde sie in der Halifaxbay zusammentresfen mit dem Strange, der von Hinterindien her, zum großen Theil unterseeisch,

über Java, Timor und Flores kommt.

Wir lesen (Rigaische Zeitung vom 8. Februar), daß diese letztere

Linie von einer englischen Gesellschaft in Angriff genommen sei. Angabe ist neu, vielleicht auch nicht richtig.

Diese

Jene beiden Linien haben,

so weit die Strecke von Canton einerseits, und von Hinterindien ande­ rerseits bis Australien in Frage kommen, vorerst noch einen abenteuerNordische Revue. IV. 1. Heft. 1865.

3

lichen Anstrich, und uns fällt unwillkürlich ein Dichterwort ein, das hier

paßt: „Leicht bei einander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen." Wir haben an einem andern Orte (Globus,

Jllustrirte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde, von Karl Andree, VII, S. 157) die Schwierigkeiten hervorgehoben, welche sich der Anlage

eines Telegraphen gerade zwischen Indien und Australien entgegenstellen, sie sind, nach dem Ausspruche eines englischen Ingenieurs, welcher jene Regionen genau kennt, „größer als auf irgend einer anderen Linie in

der Welt." Die Verhältnisse für die Linie von Singapore über Java und Timor nach Australien sind folgende. Die Entfernung von Ranguhn

an der Irawaddymündung, dem gegenwärtigen Endpunkte des indischen Telegraphen (der nirgends unterseeisch ist), beträgt etwa 1000 Miles.

Eine Linie zwischen Ranguhn und Singapore würde, wenn auf dem festen Lande angelegt, fast überall durch unbewohnte Waldgegenden und

die Besitzungen von fünf unabhängigen, halbbarbarischen Fürsten ziehen; wenn man sie dagegen unterseeisch legen wollte, fände das Kabel fast

überall Korallenboden.

Was das heißen will, hat man an dem Rothen

Meer-Telegraphen gesehen, den man zuletzt nach Aufwendung großer Kosten hat aufgeben müssen.

Von Singapore nach Honkong in Süd­

china hat man 1500 Miles; auf dieser Strecke wäre der Draht unter­

seeisch zu legen und zwar nicht in seichten Meeresgegenden, sondern in einem oft von Wirbelstürmen, Taifunen, heimgesuchten Ocean in beträcht­

licher Tiefe und fast ohne Zwischenstation.

Dagegen hat das Meer

zwischen Singapore und Batavia keine beträchtliche Tiefe, wohl aber fast durchgängig Korallenboden.

Die Holländer legten von Java aus vor

etwa vier Jahren ein Telegraphentau, das ein paar Tage lang Dienste that, dann aber sofort von den scharfen Korallen zerrieben wurde.

Als

nach mehrmaligen Ausbesserungen der Schaden sich allemal wiederholte,

ließ man das Unternehmen als ein hoffnungsloses fallen. Die Meeres­

strecke von Batavia über Timor nach Kap Aork, der Nordspitze Austra­ liens, mehr als 2000 Miles, ist zu nicht geringem Theile sehr tief. Jene asiatisch-australische Linie würde im Ganzen etwa eintausend deutsche

Meilen lang sein und das Telegraphentau würde auf beträchtlichen

Strecken theilweise auf dem allergefährlichsten Korallenboden, theilweise

auf sehr seichtem Meeresboden ruhen müssen.

So lautet der Nachweis

des englischen Sachverständigen. Unter den Gliedern des Welttelegraphen nimmt die Linie von der

Mündung des Indus bis zum Bosporus eine wichtige Stelle ein, weil sie die indischen Länder mit einem Theile Asiens und mit ganz

Europa verbindet.

Die Herstellung hat ungemeine Schwierigkeiten ver­

ursacht, es ist aber der Energie und der unermüdeten Ausdauer der

Engländer möglich gewesen, dieselben zu besiegen.

Am 13. Januar

meldete man aus Bombay: „Der englisch-indische Telegraph ist fertig;

man erwartet nur noch englische Signalisten aus Konstantinopel." Den Engländern mußte Alles daran liegen, eine rasche und sichere Telegraphenverbindung mit Indien zu gewinnen. Sie verfolgten zunächst den Plan, dafür das Rothe Meer zu benutzen; nachdem sie aber etwa 800,000 Pfund Sterling verausgabt hatten, gewannen sie die Ueber­

zeugung, daß dort niemals mit Sicherheit auf einen regelmäßigen Dienst

der Linie zu rechnen sein werde.

Wir sagten oben, wie gefährlich ein

Korallenboden für jedes unterseeische Kabel ist.

Man mußte also einen

anderen Weg suchen und wählte die Strecke am persischen Meer­

busen durch Mesopotamien nach Kleinasien.

Schon im Jahre 1848 brachte England bei der türkischen Regierung die Anlage eines Telegraphen durch Kleinasien und Mesopotamien in

Anregung, und die Pforte ging auf die Sache ein.

Sie erbot sich, auf

ihre Kosten eine Linie von Konstantinopel, respective Seutari, bis Bagdad

am Tigris herzustellen.

Sie hat auch Wort gehalten und dieselbe

(1314 englische Meilen)

schon seit Jahren vollendet.

Es war dann

Sache der Engländer, von Indien aus einen Anschluß zu gewinnen.

Das indische Telegraphensystem reicht, wie schon hervorge­

hoben wurde, in nordwestlicher Richtung bis zu der rasch emporblühenden Hafenstadt Karratschi im Mündungsgebiete des Indus.

Dort mußte

der Ausgangspunkt sein, wenn der Telegraph auf dem Lande, am

Nordgestade des Golfes von Oman gezogen werden sollte.

Es kam zu­

nächst darauf an, die sehr wenig bekannte Küste von Mekran (die gedrosische Wüste des Alterthums) zunächst bis Guadel (Guades) zu

erforschen, und das geschah durch Major Goldsmid in der Zeit vom 12. December 1861 bis zum 29. Januar 1862.

Die 390 Miles lange

9*

36

Der Welttelegraph.

Strecke, zwischen 62 und 67 Grad östlicher Länge, bildet einen Theil

von Beludschistan und ist eine kahle Wüstenei, welche nicht einmal regel­

mäßig Wasser hat.

An vielen Haltestellen, wo die Karawanen rasten,

ist nicht mit Bestimmtheit auf einen Trunk zu rechnen; auf anderen

Strecken liegen Sümpfe, oder man muß theils sehr steinige, theils sehr

schlammige Hügel überschreiten.

Aus Goldsmid's Schilderungen wird

uns klar, weshalb das Heer des macedonischen Alexander in dieser gedrosischen Einöde so große Mühseligkeiten und Entbehrungen zu er­ dulden hatte.

Nach Erforschung dieser Gegend ging sofort der Ingenieur Walton an die Arbeit, und es gelang ihm, mit sechshundert asiatischen Arbeitern,

die von fünfundzwanzig Europäern beaufsichtigt wurden, den ganzen

Strang bis Guadel schon im Mai 1862 herzustellen.

Auf jede englische

Meile kommen 18 eiserne Telegraphenstangen, denn Holz fehlt in jener

Gegend.

Die Noth um Wasser war oft so groß, daß Niemand sich

waschen durfte und die trüben Pfützen, welche etwa vorhanden waren,

von bewaffneten Männern bewacht werden mußten, damit nicht auf ein­

mal alles Wasser ausgeschöpft würde. Von Guadel aus nach Westen hin mußte der Draht unterseeisch

durch den Golf von Oman gelegt werden.

Fünf mit den erforderlichen

Kabeln befrachtete Schiffe verließen Europa am Ende des October 1863.

Sie hatten auch eine vollständige Telegrapheneinrichtung für die fünf am persischen Meerbusen zu errichtenden Stationen an Bord.

derselben hat zwei Oberaufseher und sechs Gehülfen.

Jede

Alle diese Sta­

tionen liegen in öden Gegenden und bei jener von Ch asab in Arabien

rechnen die Telegraphisten so wenig auf den friedliebenden Sinn der Küstenbewohner, daß dort immer ein Schiff vor Anker liegt, welches im

Nothfalle ihnen Sicherheit gewähren soll.

Ein kleiner Dampfer ist stets

in Thätigkeit, um die Verbindung zwischen den einzelnen Stationen zu unterhalten.

Allemal nach Ablauf von drei Monaten werden die Be­

amten gewechselt, weil man ihnen nicht zumuthen kann, länger in den fürchterlichen Einöden auszudauern.

Uebrigens hat jede Station eine

Bibliothek. Die fünf Hauptpunkte sind folgende: Von Karratschi bis Gua­ del; von Guadel über den Golf von OmLn nach der Insel Chasab;

von Chasab nach Bender Abuschähr, und von dort nach Fah, einem kleinen Orte an der Mündung des Schat el Arab, wo die unter­

seeischen Drähte sich mit jenen der Landlinien vereinigen.

Diese gehen

nach Basra, Bagdad, Mossul, Diarbekir und durch Kl ein asien

Man hat außerdem, um den Nachtheilen zu begegnen,

nach Scutari.

welche sich aus einer Störung der Linie

in Mesopotamien ergeben

konnten, von Bagdad einen Draht durch Persien bis Te h eran gezogen,

das jetzt mit Täbris in Aserbeidschan und mit Tiflis in Georgien in Verbindung steht,

während zugleich der

persische Telegraph bis

Bender Abuschähr fortgesetzt werden soll.

Die Besorgnisse vor Störungen in Mesopotamien waren keineswegs

unbegründet.

Ein großer Theil des Landes gehört den Aneseh- und

Montcsik-Arabern, welche thatsächlich unabhängig sind und gegen die Türken einen ingrimmigen Haß hegen, weil, wie-sie meinen, von diesen ihnen nichts Gutes kommen könne.

Deshalb sagten sie auch den eng­

lischen Agenten, welche mit ihnen unterhandelten, daß der Telegraph

ihnen als ein Werkzeug der Unterdrückung erscheine, wenn die Türken

ihn besäßen; ein Werk der Unterdrückung aber wollten sie zerstören.

Und so ist es in der That gekommen.

Am Ende des Jahres 1863

starb der Scheich Bender, Oberhaupt der Montesik-Araber, welche allezeit sich das Recht bewahrt haben, ihre Häuptlinge selber zu ernennen. Jetzt

wollte der Statthalter von Bagdad, Namik Pascha, ihnen einen türkischen

Gouverneur aufzwingen, aber die Montefik griffen zu den Waffen, rissen die Dampferdepots am rechten Ufer des Tigris nieder und sperrten den

Verkehr auf dem Flusse.

Bei Hillah verjagten oder tödteten sie die

beim Telegraphenbau beschäftigten Arbeiter, warfen Stangen und Drähte um und nahmen das Baumaterial mit sich fort.

Folgen des Unverstandes der Türken,

Das Alles waren

welche außerdem den Dienst

schlecht und unregelmäßig besorgen. Es ist nun den Engländern gelungen,

auf jeder Station einen zuverlässigen Beamten halten zu dürfen, und

mit den Arabern hat man ein Abkommen getroffen.

England zahlt

den Scheichs einen Jahrgehalt und dafür wollen sie fortan „Beschützer der Drähte" sein. In Nordamerika, wo der Telegraph in den westlichen Einöden

weite Strecken des Jndianergebietes durchzieht, ist er bis jetzt vor den

Der Welttelegraph.

38

Angriffen der braunhäutigen Menschen sicher gewesen.

Sic hegen eine

religiöse Scheu vor dem Kupferdrahte, der reden kann und in welchem der Große Geist wohnt.

Der „Ueberland-Welttclegraph" also wird von Cap Clear in Irland nach Osten hin ganz Europa, Asien, und Nordamerika bis zum Kap

Race auf Neufundland

durchziehen und eine Länge von annähernd

20 bis 22,000 englischen Meilen haben.

Nach den von Collins mitgc-

theilten Schätzungen, die freilich vorerst nur als annähernd richtig betrachtet werden können, stellen die Entfernungen in runden Zahlen

sich etwa folgendermaßen heraus:

Bon Kap Race, Neufundland, am atlantischen Ocean der „Welttelegraph" als Lücke

(welche

und Amerika offen

zwischen Europa

läßt) bis San Francisco, Californien

.

. .

5500M.

von San Francisco bis BritischColumbia bis zum russischen Amerika

800 „

. .

600 „

bis zur Behringsstraße.....................

1600



bis zuin Amur.................................

2539



bis Irkutsk............................................

3000



bis St. Petersburg...........................

4000



1500

bis London.................................... bis Cap Clear...................................... 3m Ganzen etwa:

840





52000 M.'

In Europa wird die Linie von Archangel am Weißen Meere bis

Cadiz, oder von Perm bis Lissabon die längste von Nordost nach Südwest fein. Wir wollen von den Projekten, welche von Seiten der amerikanischen Telegraphengesellschaft für Asien entworfen worden sind, hier absehen,

und nur bemerken, daß sic den Plan hat, die beiden Kontinente der westlichen Erdhälfte mit einander zu verbinden.

So will sie z. B.

Drähte ziehen von El Paso am Rio Grande del Norte in NeuMexico, bis zur mexicanischen Hauptstadt,

1600 Miles, weiter nach

Panama 1400 M., von dort die ganze Westküste Südamerika's ent­ lang bis zur Südgränze von Chile; von Valparaiso aus und über

Santiago soll der Draht über die Cordillercn nach Osten hin durch die argentinischen Pampas bis Buenos Ayres laufen,

um dort den

La Plata zu überschreiten, und an den Küsten von Uruguay und Brasilien, immer dem Meeresgestade entlang auf der atlantischen Seite bis zur Landenge von Pananra geführt werden. Collins nimmt für die projeklirtc und bis auf Weiteres nur erst

„vorschwebende Linie" folgende Entfernungen an: vorn Ausflusse des Amur bis Aeddo, Japan,

l 260 M.

von Irkutsk bis Peking............................

1285 „

Peking, Schanghai, Canton .

.

1500 „

Amoy, Manila, Australien (!)

...

5000 „

Omsk, durch Turkestan nach Bombay

2450 „

Kasan, Astrachan, Kaukasus, Tiflis

1120 „

Tiflis, Teheran, Bagdad Bagdad, Bombay .

.

.

.

900 „

1540 „

.

Bagdad, Konstantinopel............................

1260 „ 1420 „

Konstantinopel, Moskau............................

Konstantinopel, Jerusalem, Suez

.

.

.

1100 „

Wir wollen erwähnen, daß die Gesellschaft während der verflossenen Monate in Nordamerika fünftausend Arbeiter beschäftigt hat, welche in jeder Woche 200 englische Meilen des Telegraphen hcrgestellt haben, allerdings in Gegenden, wo keine erheblichen Schmierigkeiten zu besiegen

sind und die Baumaterialien ohne große Mühe herbeigeschasft werden

konnten.

Sie hat die Erfahrung gemacht, daß bei strenger Kälte der

Telegraph gut arbeitet, daß aber bei Regen, Nebel und sehr warmem

Wetter die elektrische Thätigkeit abniuiint.

In solchen Fällen wird der

„mechanische Wiederholer" angewandt, ein Instrument, das so lang ist

ivie ein Federmesser, alle 600 bis 800 Miles in einer Hülle, durch

welche die Leitung geht, einen neuen Strom abschicßt und für die ganze

Linie von Amerika über Asien nach Europa in Eins gezogen wird. Doch wir sehen ab von diesen noch in weiter Nebelferne liegenden

Plänen, obwohl wir nicht zweifeln, daß sie im Fortgange der Zeit ihre

Verwirklichung finden werden.

So viel ist sicher, der asiatisch-ameri­

kanische Ueberlandtclegraph wirch in den nächsten Jahren als eine voll­

endete Thatsache dastehen.

Es war wieder einmal der deutsche Genius,

welcher durch Männer wie Schilling, Weber, Gaus, Steinheil und

Jacobi einen herrlichen Triumph gewonnen und einen großartigen Anstoß

40

für die Welt gegeben.

Der Welttelegräph.

Andere Völker waren dann mit uns um die

Wette bestrebt, das Neuerfundene weiter zu entwickeln und für die

Menschheit ersprießlich zu machen.

Mit der unberechenbaren Wirkung,

welche der Telegraph, je weiter er sich ausdehnt, sowohl auf den geisti­ gen, wie auf den materiellen Verkehr nothwendig ausüben muß, stehen

wir gegenwärtig erst in den schwachen Anfängen, die vollen Ergebnisse

eines solchen Umschwungs sind künftigen Tagen Vorbehalten.

Nach der Schlacht. Aus der „Histoire d’un Conscrit de 1813“*).

Als ich erwachte, war es Nacht und ringsum herrschte tiefe Stille. Leichte Wolken zogen am Himmel hin, der Mond beleuchtete mit hellem

Glanze das verlassene, zerstörte Dorf, die umgestürzten Kanonen, die

Haufen der Todten — wie er von Anbeginn der Welt das rieselnde Wasser, das sprießende Gras und die fallenden Blätter beleuchtet hat.

Der Mensch ist eben ein Nichts im ewigen Kreislauf der Dinge und der Sterbende fühlt das besser als feder Andere. Ich vermochte kaum mich zu rühren und litt große Schmerzen.

Nur meinen rechten Arm

konnte ich

bewegen und endlich gelang eS

mir, mich auf den Elbogen zu erheben.

Ringsum lagen Todte, die

im hellen Mondenschein weiß aussahen, wie Schnee.

Einige hatten

den Mund weit offen, andre die Augen — noch Andre lagen mit dem Gesicht auf der Erde, die Patronentasche und den Tornister auf dem Rücken, in den krampfhaft geschlossenen Händen die Flinte.

blick

war

grauenhaft

und

Der An­

meine Zähne schlugen aufeinander vor

Entsetzen.

Ich wollte um Hülfe rufen, aber der Ton, den ich hervorbrachte, klang wie der schwache Schrei eines weinenden Kindes, und in Ver­

zweiflung sank ich auf den Boden zurück. Dennoch schien es, als hätte der matte Laut, den ich ausstieß,

ein vielfaches Echo geweckt.

Erst in der Nähe, dann in immer wei­

tern Kreisen wurden klagende Töne hörbar.

Die Verwundeten glaubten

wahrscheinlich, daß sich Hülfe nahe, und die, welche noch zu rufen ver*) S. Nord. Revue III. Heft 3.

42

Nach der Schlacht.

mochten, riefen.

Das Geschrei währte einige Minuten, dann kehrte

die frühere tiefe, lautlose Stille zurück.

Ich hörte nichts mehr, als

das Schnauben eines verwundeten Pferdes hinter der nahen Hecke.

Das Thier wollte sich aufrichten — ich sah seinen Kopf und den

langen Hals, dann sank es zurück. Durch die Anstrengung, die ich gemacht, hatte sich meine Wunde

geöffnet und ich fühlte, wie das warme Blut von Neuem an meinem Arme hinabrieselte.

meinte.

Ich schloß die Augen — zum Sterben, wie ich

Scenen aus der Vergangenheit, bis in die früheste Kindheit

zurück, gingen an meinem geistigen Auge vorüber.

Wie im Traume

sah ich unser kleines Dorf — meine Mutter, die mich auf dem Arme trug und ein Wiegenlied sang, um mich einzuschläfern — unsern Hund Pommer, mit dem ich mich auf dem Fußboden wälzte — den Vater,

der am Abend mit der Axt auf der Schulter nach Hause kam und mich auf den Arm nahm. „Arme Mutter", dachte ich, „armer Vater!

Wenn ihr damals,

als ihr euer Kind mit so vieler Liebe und Mühe erzöget, gewußt hättet, daß es eines Tages so elend umkommen sollte; so allein, so verlassen, fern von aller Hülfe, ihr würdet denen geflucht haben, die so viel Elend verschulden.

wenigstens

noch

Ach, wenn ihr hier wäret, wenn ich euch

einmal danken könnte für Alles, was ihr an mir

gethan habt!"

Thränen traten Wangen herab.

mir in

die Augen und rollten mir über die

Meine Brust hob sich schmerzlich — ich schluchzte wie

ein Kind.

Dann verdrängten andre Bilder die Gestalten meiner Eltern.

Ich

dachte an Muhme Gredcl, an Catharine, an Meister Gulden, meinen Lehrhcrrn.

Ich sah, wie eines Morgens der alte Briefbote Rödig

mit der ledernen Tasche über der Schulter bei der Muhme eintrat und ihr ein großes Papier überreichte.

Es war mein Todtenschein.

Ich

hörte Catharinens verzmeiflungsvolles Weinen und die Verwünschungen der alten Frau, die ihre grauen Haare zerraufte, indem sie schrie, daß

eS keine Gerechtigkeit mehr gäbe weder im Himmel noch auf Erden, und daß eö für rechtschaffne Leute besser wäre, nie geboren zu fein, da

Gott sie doch verließe.

Der gute Meister Gulden kam, um sie zu

trösten, aber als er in die Stube trat, fing er an zu schluchzen: „Der arme Joseph, der arme Joseph!" Das zerriß mir das Herz. Ich dachte daran, daß dreißig oder vierzig tausend Familien in Frankreich, Rußland und Deutschland fast zu gleicher Zeit dieselbe Nachricht empfangen mußten — ja daß cs für Viele noch schrecklicher war, denn eine große Zahl der Unglücklichen, die todt und verstüm­ melt auf dem Schlachtfelde lagen, hatten noch Vater und Mutter und es schien mir, als hörte ich den Schmerzensschrei der Menschheit zum Himmel aufstcigen. Auch der armen Frauen von Phalsburg, die während des Rück­ zuges der großen Armee aus Rußland in den Kirchen auf den Knien lagen, erinnerte ich mich, und verstand jetzt, was damals ihre Herzen bewegt hatte. Im Geiste sah ich nun mitten unter den Beterinnen Catharine knien. Sie dachte an mich, betete für mich! ... Wir hatten uns seit unsrer Kindheit geliebt und sie. konnte mich nicht ver­ gessen ! Thräne auf Thräne rann mir über die Wange herab — aber dennoch hatte das Bewußtsein, daß Catharine der Liebe zu mir treu bleiben würde bis an das Grab, etwas unaussprechlich Tröstliches und Beruhigendes für mich. Gegen Morgen fiel der Thau in Form eines feinen Regens, der auf die Dächer und den Erdboden niederrieselnd, ein leises, monotones Geräusch hervorbrachte. Ich bedachte, wie Gott die Welt vom Ur­ anfang so wunderbar eingerichtet, wie er täglich dieselben Erscheinungen wiederkehren läßt, wie seine Macht ohne Grenzen ist, seine Liebe die Welt umfaßt und seine Güte uns unsre Schuld vergiebt! Auch ich durfte vielleicht hoffen, daß er mir meine Fehler vergeben würde, um meiner Leiden willen. Dann richtete ich meine Gedanken wieder auf die Außenwelt. Der fallende Regen schien die lautlose Stille der Nacht verscheucht zu haben. Von Zeit zu Zeit hörte man im Dorfe das Geräusch einer zerbröckelnden Mauer, eines zusammensinkenden Daches und selbst die durch das Getöse der Schlacht verschüchterten Thiere schienen beim Einbruch der ersten fahlen Dämmerung wieder Muth zu gewinnen.

44

Nach der Schlacht.

Än einem benachbarten Stalle fing eine Ziege an zu meckern — ein

großer Schäferhund ging, die Todten mit hängendem Schwänze be­ trachtend, langsam vorüber.

Als er in die Nähe

des verwundeten

Pferdes kam, fing dieses an, entsetzlich zu schnaufen — vielleicht hielt

es ihn für einen Wolf — und der Hund lief eiligst davon.

Alle diese Einzelnheiten sind mir deutlich erinnerlich, denn in den Momenten wo man zu sterben meint, gewinnt jede Kleinigkeit eine

Bedeutung — weiß man doch, daß man in dieser Welt bald nichts mehr sehen und hören wird. Aber mehr als alles Andre hat sich mir ein Moment eingeprägt,

den ich nie vergessen werde und wenn ich noch hundert Jahre lebte. ES ist der Moment, als ich in der Ferne menschliche Stimmen zu

hören glaubte.

Ich fuhr empor und horchte. . . .

Mühsam erhob ich

mich auf dem rechten Elbogen, um nach Hülfe zu rufen ...

Es war

noch finster, aber schon zeigte sich ein blasser Tagesschimmer an, Saume

des Horizontes.

In der Ferne glaubte ich ein Licht zu sehen, das sich

bald hierhin bald dorthin wendete, bald gänzlich still hielt — endlich

sah ich schwarze Schatten, die sich niederbeugten, aber Alles war noch verschwommen

und undeutlich,

nur

in

schwachen Umrissen wahr­

nehmbar.

Indessen schienen auch andre meiner Unglücksgefährten das Licht zu bemerken.

Von allen Seiten wurden tiefe, schmerzliche Seufzer

hörbar — von allen Seiten erschallte ein klägliches Rufen, aber es

waren nur schwache, in der Ferne kaum vernehmliche Töne. Mein Gott, was ist das Leben, was bietet es uns, daß wir eS so hoch im Werthe halten?

Was erwartet uns jenseit des Grabes,

daß die Nähe des Todes in allen lebenden Wesen einen so unüber­

windlichen Schauder erregt?

Wer vermag eine Antwort zu geben auf

diese Fragen? Die Menschen sprechen und denken darüber seit Jahr­

hunderten — gelöst hat noch keiner das Räthsel. In dem glühenden Wunsche: zu leben, beobachtete ich daS näher

kommende Licht, wie vielleicht ein Ertrinkender nach

dem rettenden

Ufer ausschaut... krampfhaft richtete ich meinen Kopf empor, um es

zu sehen — mein Herz zitterte in Furcht und Hoffnung.

Ich wollte

schreien, aber ich brachte kaum einen Laut über die Lippen.

Mein

schwaches Stöhnen verklang im Rauschen des Regens — aber dennoch

sagte ich mir zum Troste immer wieder: komnien näher ..."

„Sie hören dich .. .

Sie

Endlich schien es mir, als ob das Licht in dem

gegenüberliegenden Garten wäre.

Ich täuschte mich nicht... es wurde

bei jedem Schritte des Trägers größer ... da plötzlich, nachdem eS sich einige Minuten bald nach rechts, bald nach links hin bewegt hatte, schien es sich in einer Vertiefung des Terrains zu verlieren — und

endlich war cS verschwunden! ...

Ich sank ohne Bewußtsein zu Boden.

Alö ich wieder zu mir selbst kani, befand ich mich in einem großen, offnen Schuppen.

Jemand gab mir ein Gemisch von Wasser und

Wein zu trinken, daS mich wunderbar erfrischte.

Ich öffnete die Augen

und sah einen alten Soldaten mit grauem Schnurrbarte, der meinen

Kopf aufrichtcte und mir einen Becher an die Lippen hielt. „Nun?" fragte er freundlich, „nun, geht cs besser?" In meiner Freude, daß ich noch lebte, mußte ich ihn anlächeln.

Meine Brust unb mein linker Arm lagen in einem festen Verbände. Ich fühlte die Wunde brennen wie Feuer, aber ich machte mir wenig

daraus.

Ich war glücklich, denn ich lebte ja!

Einige Augenblicke beschäftigte ich mich damit, die dicken Balken

zu betrachten, die sich über mir kreuzten, und die Ziegel, durch welche die Sonne an mehr als einer Stelle hcreinschien.

Dann wendete ich

den Kopf und sah, daß ich mich in einem jener großen, offnen Schup­ pen befand, unter denen die Brauer der Umgegend ihre Tonnen und Wagen aufbewahren

Ringsum lagen auf Matratzen, Strohsäcken und

Strohbündeln eine Menge von Blessirten, während in der Mitte des

Raumes der Oberarzt mit mehren Gehülfen an einer Art von langem Küchentische stand und eben beschäftigt war, einem Verwundeten das

Bein abzunehmen.

Der Patient stieß klägliche Schmerzenslaute aus.

In der Nähe des Tisches lag ein Haufen abgeschnittner Arme und

Beine, und man kann sich vorstellen, daß mir bei diesem Anblick nicht eben wohl zu Muthe war. Fünf oder sechs Jnfanteriesoldaten gingen mit Krügen und Bechern zwischen den Verwundeten umher und reichten ihnen zu trinken.

46

Nach der Schlacht.

Indessen wanderten meine Blicke doch immer wieder zu dem Chi­

rurgen, der mit aufgestreiften Hemdärmeln Arme und Beine amputirte, ohne zu hören und zu sehen, was um ihn her vorging.

Der Mann

hatte eine große krumme Nase, eingefallene Wangen und wurde aller

Augenblicke zornig gegen seine Gehülfen,

die ebenfalls

mit nackten

Armen neben ihm standen und ihm Charpie, Messer, Zangen oder

Leinwand nicht schnell genug zureichen konnten, ober das Blut, seiner

Meinung nach, zu langsam mit den Schwämmen aufwischten. noch schien ihm das Geschäft vortrefflich

Den­

von der Hand zu gehen,

denn in weniger als einer Viertelstunde waren zwei Beine amputirt. Eben als man einen wenigstens sechs Fuß langen, verwundeten

Russen auf den Tisch legte, dem eine Kugel den Hals in der Nähe des Ohres durchbohrt hatte,

und der Wundarzt abermals in höchster

Ungeduld ein kleines Messer verlangte, ging draußen ein Cavaleriechirurg vorüber.

Er trug ein Portefeuille unter dem Arme und blieb,

als er unsern Wundarzt bemerkte, stehen. „He, Forel!" rief er lustig.

„Ah, Du bists, Duchene," entgegnete Forel indem er sich um­ drehte.

„Wie viel Blessirte?"

„Siebzehn bis achtzehntausend!"

„Teufel auch! — Nun und wie geht es sonst?" „Vortrefflich.

Ich gedenke eben, mir zu einem Frühstück zu ver-

helfm." Unser Chirurg verließ den Schuppen, um seinem Freunde und Ka­

meraden die Hand zu schütteln.

Sie unterhielten sich längere Zeit mit

der größten Gemüthsruhe, während die Gehülfen einen Schluck Wein

tranken und der Russe verzweiflungsvoll die Augen verdrehte. „Du brauchst nur die Straße hinunter zu gehen, Duchene," hörte

ich endlich Forel sagen.

„Gleich dort bei dem Brunnen ... Du siehst

ihn doch?"

„Gewiß." „Gerade gegenüber findest du das Marketenderzelt."

„Ah, schön, ich danke dir, Forel; leb wohl."

„Guten Appetit, Duchene!" rief Forel ihm nach, dann kehrte er in den Schuppen zurück und fing an, den Hals des Russen vom Nacken

bis zur Schulter aufzuschneiden.

Er

that dies

anscheinend

in der

schlechtesten Laune und herrschte seinen Gehülfen mehr als einmal zu: „Schnell meine Herren, schnell!

Beeilen Sie sich!"

Der.Russe ächzte vor Schmerzen, aber der Chirurg ließ sich da­ Endlich fand er die Kugel und warf

durch nicht im mindesten stören.

sie auf den Boden.

Dann legte er mit einigen schnellen und geschickten

Handgriffen den Verband um, und sagte kurz: „Fort damit!" Man nahm den Russen vom Tische und legte ihn zu den Andern

auf das Stroh.

Dann kam sein Nachbar an die Reihe.

Ich hätte nie im Leben geglaubt, daß dergleichen Dinge in der

Welt passiren könnten, aber ich sah noch andre, die mir ewig denk­ würdig bleiben sollten. Mein fünfter oder sechster Nachbar war ein alter Corpvral, der

mit verbundenem Bein auf seinem Strohsacke saß.

Seinem Neben­

mann hatte man den Arm abgenommen.

„Rekrut," sagte der Corpora! zu ihm, indem er listig mit den Augen blinzelte; „Rekrut, sieh einmal dorthin; ich wette, daß du

deinen Arm nicht herausfindcst." Der Andre war todtenblaß, aber er hatte bei der Amputation die Jetzt wendete er seine Augen dem

größte Standhaftigkeit bewiesen.

bezeichneten Haufen menschlicher Gliedmaßen zu und wurde auf der Stelle ohnmächtig. Der Corpora! fing an zu lachen.

„Er hat seinen Arm richtig erkannt... es ist der da unten mit der kleinen blauen Blume ...

Merkwürdig, daß die Wirkung immer

die gleiche ist!" Er war offenbar stolz auf die Entdeckung, die er gemacht hatte,

aber es lachte Niemand mit ihm. Die Blessirten riefen unaufhörlich nach Wasser.

Sobald der Eine

zu trinken verlangte, folgten alle Andern seinem Beispiele, so daß man sie kaum schnell genug zu befriedigen vermochte.

Der alte Soldat, der

mir zuerst zu trinken gegeben hatte, schien eine Art von Freundschaft für mich zu fühlen und reichte mir jedesmal wenn er vorüberging

seinen Becher.

48

Nach der Schlacht.

Nachdem ich so etwa eine Stunde gelegen haben mochte, sah ich, daß eine Anzahl Leiterwagen

herbeigekommen

Schuppen aufgestellt hatten.

waren und sich vor dem

Sie gehörten den Bauern der Umgegend, die Peitsche auf der

die in Manchesterjacken und schwarzen Hüten, Schulter, ihre Pferde am Zügel hielten.

Piquet Husaren.

Bald darauf erschien ein

Der Wachtmeister stieg ab und trat in den Schuppen.

„Ich habe die Ordre zwölf Wagen mit Verwundeten nach Lützen

zu eökortiren," sagte er.

„Nehme ich sie hier in Empfang?"

„Sie sind ganz recht, Wachtmeister," entgegnete der Chirurg. Man fing nun sogleich an, die erste Reihe der Blessirten hinaus­

zuschaffen, nachdem man jedem von ihnen noch hatte.

einen Trunk gereicht

Sobald einer der Wagen voll war, rückte er weiter und ein

andrer kam an die Reihe.

Ich befand mich auf dem dritten und saß

in Stroh gebettet vorn an.

Mir zur Seite saß ein Rekrut vom

27. Regiment, der die rechte Hand verloren hatte; hinter mir lag ein andrer, dem das Bein fehlte; einem dritten waren die Kinnladen zer­ schmettert — und so ging es fort bis zum letzten Mann.

In den

letzten Wagen befanden sich die am schwersten Verwundeten. Man hatte uns so sorgfältig in

unsre Mäntel gewickelt, daß

man von den Meisten nichts sah, als die Nase oder die Mütze, denn wir froren, trotz des warmen Sonnenscheins.

Keiner der Blessirten

sprach ein Wort, sondern jeder schien seinen eignen schweren Gedanken

nachzuhängen.

Die Husaren, die uns begleiteten, plauderten, lachten

und rauchten, ohne sich im mindesten um uns zu kümmern.

Schon bei der Abfahrt hatte ich zuweilen Frostschauer, zuweilen fliegende Hitze empfunden — es war der Anfang eines Wundfiebers,

aber erst in der Gegend von Leipzig verlor ich das Bewußtsein.

Bis

dahin sah und hörte ich klar und deutlich.

Als wir Kaja passirten, traten mir noch einmal alle Greuel des Krieges vor Augen.

Das Dorf war eine einzige große Ruine.

Die Dächer der Häuser

waren eingestürzt, nur hier und da stand noch eine Giebelwand auf­ recht.

Balken und Latten waren zerstört und zerbrochen.

Durch die

zertrümmerten Außenwände sah man überall in das Innere der Häuser, in die kleinen Stuben und Kammern und aus die Treppen.

Hier und

da stand in den Oberstubcn noch ein Ofen, oder ein Spiegel hing an

der Wand und der dahinter steckende Rosmarinzweig verrieth, daß hier in friedlichen Zeiten ein junges Mädchen gewohnt hatte.

Besitzer, Weiber, Kinder

und

Trümmern ihrer Habe umher.

Die armen

Greise gingen trostlos zwischen den Wer hätte ihnen Voraussagen sollen,

daß ihr mühsam erworbenes Eigenthum, ihr ganzes bescheidnes Glück

eines Tages bis auf den Grund zerstört werden sollte — und zwar nicht durch die Gewalt der Elemente, sondern durch die ungleich schreck­ lichere Wuth der Menschen.

Selbst die Thiere theilten das Gefühl des allgemeinen Unglücks. Die Tauben suchten, ängstlich hin und her flatternd, die gewohnte Stätte; Rinder und Ziegen irrten kläglich brüllend durch die Gärten

und Gassen und sahen sich nach ihren Ställen um; die Hühner hatten

sich auf die Bäume geflüchtet — und wohin der Blick auch fiel, überall waren die Spuren der Flinten- und Kanonenkugeln sichtbar.

Am Ende des Dorfes saß ein weißhaariger alter Mann auf der Schwelle seines zerstörten Häuschens. schen den Knien.

fahren.

Er hielt ein kleines Kind zwi­

Ohne eine Miene zu verziehe«!, sah er uns vorüber­

Ob er uns bemerkte — ob er überhaupt etwas sah?

weiß eS nicht.

Ich

Die tief gefurchte Stirn und die starren blicklosen Au­

gen drückten nichts aus, als dumpfe Verzweiflung.

Wie vieler Jahre

harter Arbeit, wie vieler Entbehrungen, welcher unverdrossenen Spar­ samkeit hatte es bedurft, um sein Alter vor Noth zu sichern! Jetzt war

Alles, Alles dahin!

Er und das Kind hatten keinen Ziegel mehr,

unter dem sie ihr Haupt hätten niederlegen können... .

Aber trauriger, trostloser noch, als dieses traurige, trostlose Bild

der Zerstörung waren die langen Reihen der Stagen, welche die Ver­ wundeten nach den Lazarethen brachten — diese Unglücklichen, deren

Zahl in den BülletinS stets zu klein angegeben wird und' die fern von

der Heimalh, fern von den Ihrigen, massenhaft in den Hospitälern

hinsterben, während man in den Kirchen DankcShymnen singt und unter Kanonendonner die frohe Botschaft verkündigt, daß Tausende

von unschuldigen Menschen hingeschlachtet wurden.

Und dann jene unendlich langen Gruben, an denen die Bewohner der Umgegend seit dem frühen Morgen so eifrig arbeiteten, um den Nordische N«»»e. IV. 1. Heft. 1865.

4

50

Nach bet Schlacht.

Ausbruch der Pest zu verhindern, die Alles, wa- da lebt, mit Ver­ nichtung bedroht.

Ich habe jene ungeheuren Gräber von den Höhen

von Kaja aus gesehen und habe mich voll Entsetzen abgewendet.

Man

bestattete dort die Gefallenen — Russen, Franzosen, Deutsche, im Tode brüderlich vereint, wie sie es nach dem Willen Gottes auch im

Leben sein würden, hätte man nicht Federbüsche und Uniformen erfun­ den, um sie aufeinander zu hetzen, damit sie sich zerfleischen, je nach dem Belieben ihrer Beherrscher.

Friedlich liegen sie nun neben ein­

ander in starrer Umarmung, und wenn, wie wir hoffen, etwas von ihnen fortlebt, so hat der Tod sie versöhnt und ihr gemeinsamer Fluch

gilt nur jenem grausamen Wahne, der die Völker seit Jahrhunderten hindert, als Brüder in Eintracht neben einander zu lebm.

VolkswMhschastUche Bricft aus Rußland. Von Ant. E. Horn.

St. Petersburg, den 18. März. DaS

Princip

der

internationalen Solidarität,

schlingenden Interessengemeinschaft, namentlich auf

Gebiete, gewinnt täglich mehr Boden, thun der Regierungen.

der

völkerum­

wirthschaftlichem

bald mit bald ohne Hinzu­

Den rein theoretischen Gongreffen der Oeko-

nomisten, der Statistiker, der Ingenieure, der Advokaten, der Handels­

kammern folgt heute der sog. telegraphische Congreß in Paris, in wel­ chem fast sämmtliche europäische Regierungen vertreten sind und

der zum Zwecke hat, die möglichste Einförmigkeit des Tarifs auf dem gesammten

europäischen Continent herbeizuführen.

Rußland,

dessen

Taris wir letzthin eingehend erwähnten, ist in dieser Genferenj vertreten und man hat sich hier, angesichts derselben, zu bedeutenden Goncesstonen

entschlossen.

Es wird wohl füglich nicht verlangt werden können, daß

in diesem unermeßlichen Reiche, etwa wie in Frankreich, Belgien und Preußen, Ein Tarif für alle erdenklichen Distanzen geschaffen werde.

Diese Einförmigkeit, wenn sie anders nicht durch die Geringfügigkeit des Preises ausgeglichen wird, ist sogar vom wirthschastlichen Stand­

punkte aus verwerflich.

Sie mag bequem sein, aber insofern jeder

Dienst auch seinen Lohn erheischt und verdient und bei dem Umstande,

daß der Staat dem Einen nur geben kann was er dem Andern nimmt,

ist es auch billig, daß jede Leistung von Seiten des Staats von Den­

jenigen, denen sie zu Gute kommt, auch bis zur vollständigen Deckung des Kostenpreises bezahlt werde.

wenn die russische Regierung,

Es ist daher ganz in der Ordnung, wie in den hiesigen Amtsblättern mit­

getheilt wurde, ihren Gesandten bei der eben tagenden Pariser Gon»

BolkSwirthschastlich« Briefe au# Rußland.

52

ferenz dahin instruirte, daß für das gesammte europäische Gebiet diese«

Reiches fünf Regionm geschaffen werden, in deren jeder der Preis einer einfachen Depesche 25 Kopeken (1 Thlr.) betrüge, während für das außereuropäische Rußland weitere acht Regionm mit erhöhten PreiS-

fätzen bestehen würden.

Man wird ersteren Tarif gewiß nicht über­

mäßig findm, wenn man bedenkt, daß eine Depesche, welche 50 Kop.,

also genau den Preis eines Telegramms in Preußen zu zahlen hätte, zwei Regionen, d. h. zwei Fünftheile des Reichs zu durchwandern hätte,

eine Strecke, die oft die größte Ausdehnung der preußifchm Monarchie übersteigen müßte.

Dazu kommt noch die bei weitem

geringere Rm-

tabilität des russischen Telegraphennetzes wegen der ungeheuren Aus­

dehnungen und der verhältnißmäßig sehr geringen Bevölkerung, welche

daffelbe benutzt; nichtsdestoweniger werden aber, um den gesteigerten Erfordemiffen einzelner Städte zu genügen, die Drähte und das Per­

sonal vermehrt werden müssen, ohne daß, für erstere namentlich, auf

den Zwischenstationen eine entsprechende Verwendung und ein lohnendes

Einkommen zu erwarten wäre.

Alle diese Umstände werden gewiß an

der Pariser Conferenz gebührend berücksichtigt werden und das Resultat der letztem dürfte wohl zu unserer Kenntniß gelangen, noch bevor diese

Zeilm im Drucke erscheinen.

Wir wollen darum bei diesem Gegenstände nicht länger verweilen, ihn vielmehr zum Ausgangspunkte anderer Wünsche machen, da es nun

einmal festzustehen scheint, daß gewiffe Regierungm in Europa, um

den Erfordernissen ihres eignm Landes zu genügm, erst die Mahnfttmme

von

außen hören müssen.

So lange noch das Postwefen

ausschließlich in den Händen der Regierungen liegt, können Reformen auf diesem Gebiete auch nur von ihnen ausgehen und gewiß wärm auf letzterem internationale Bestimmungen zu Gunstm der Einförmig­

keit ein Bedürfniß, eben so dringend, ja viel dringender als in Bezug auf da- Telegraphenwesen.

Wie kommt eS nun, daß sich die Regie­

rungen dort viel langsamer und unschlüssiger zeigen, als hier? Es läßt sich wirklich kaum eine andere Erklärung dafür ersinnen, als daß sie,

die Regierungen, unter den Mängeln des Postwesens bei weitem we­

niger leiden als daS Publikum.

Im eigenen Lande ist jede Regierung

nicht nur, sondern auch alle ihre Unterbehörden bis zum deutschm

Finanzwächterposten und zum französischen garde champetre hinab

nicht allein mit der Portofreiheit freigebigst bedacht, sondern alle diese Behörden und Behördchen genießen noch besonderer Vorrechte in Bezug

auf die Vertheilung der Correspondcnz; und Jeder, der je einen Blick in das bureaukratische Getriebe geworfen,

weiß zu welchen Mißbräu»

chen jene Portofreiheit Anlaß giebt und wie sehr sie die unnütze Schreib­

seligkeit befördert.

Es hat damit freilich ein Ende, sobald es sich um

die internationale Correspondenz handelt; die Unbequemlichkeiten, welche dieser letztern anhaften, sind aber wieder den Behörden wenig fühlbar.

Die Büreaukratie begnügt sich in jedem Lande,

die eigene Heimath

mit ihren Correspondenzen zu überschwemmen, und insofern die Regiemngen, d. h. die Diplomaten Mittheilungen von Land zu Land zu

senden haben, thun sie dies zumeist durch besondere Couriere. anders steht es hinsichtlich der Telegraphie.

Ganz

Diese, eine Erfindung

neuester Zeit, hat sich weniger büreaukratisch als merkantil organisirt; die Vielschreiberei ist ihrem Wesen entgegen und so kennt sie auch nicht

die nonchalante Behandlungsweise, mit welcher die ehrwürdige Post­ verwaltung von den Staatsdienern in aller Herren Ländern bedacht wird; wer eine Depesche versendet, und wäre es selbst ein Souverän,

muß an der Kasse baar bezahlen.

Diesem Umstande ist eS zu dankm,

daß von Seite der löbl. Regierungen dem Telegraphenwesen eine viel

aufmerksamere Beachtung gewährt wird, als seinem ältern Bruder,

dem Postwesen; eben derselbe Umstand, daß nämlich alle Dienste des

Telegraphen sofort bezahlt werden und Mißbräuche gar nicht vorkom­

men, bringt es auch mit sich, daß im Dienste selbst die wünschenswertheste Pünktlichkeit herrscht und Klagen über unrichtige Bestellung,

Verspätung u. s. w. zu den Seltenheiten gehören. constatirte

dieser Tage

der Generalpostdirektor

in

In Frankreich

einem

amtlichen

Kommunique, daß täglich 3000 Briefe unbestellt bleiben, sei es weil

sie an die unrichtige Adresse gelangen, sei es, weil oft kleine Briefe

in Zeitungspackete u. s. w. hineingerathen.

Es wird sich Achnliches

auch nicht zum hundertsten Theile von den telegraphischen Depeschen

sagen lassen;

richtig ist allerdings, daß bei denselben, weil sie doch

wichtigern Inhalt» sind, auch auf die Adresse eine größere Sorgfalt

verwendet wird, so wie auch, daß sie zum größten Theile nur von ge-

Bolkswirthschaftliche Briefe aui Rußland.

54

bildeteren Personen ausgehen, was sich von den Briefen nicht sagen läßt.

Bei aller Rücksichtsnahme auf die Massenhaftigkeit der letzteren,

welche einzelne Fehler unvermeidlich macht, bleibt doch eine Verbesse­ rung des Dienstes, namentlich in internationaler Beziehung zu wün-

schm.

Ob nicht, wie Einzelne wollen, das Postwefen überhaupt der

Privatindustrie überlassen werden sollte,

wie dies

mit der

bereits

Packetbeförderung in vielen Ländern geschehen ist, mag hier ununter­

sucht bleiben; fiskalische Motive in einigen, politische in den meisten

Ländern werden hier noch lange ein unübersteiglicheS Hinderniß radi­

kaler Reform bilden.

Das ist eben die Kehrseite aller Staatsindustrie,

daß sie bald aus Indolenz, bald weil politische Motive

immer hinter den

Anforderungen der

fortschrittlichen

mitspielen,

Zeit

zurück­

bleibt, zurückbleiben muß, weil ihr der Stachel der Concurrenz ab­ geht;

daß

aber gleichzeitig jede Unzukömmlichkeit

im Privatverkehr

des Bürgers zu Unzufriedenheit und Klage gegen den „Staat" Anlaß giebt.

Die Regierungen ihrerseits haben daher ein hohes Interesse,

den Vorwürfen des Publikums möglichst aus dem Wege zu gehen, und eS kann dies bei der heutigen Entwickelung der Verbindungen nur auf internationalem Wege geschehen — was allerdings nicht hindert, daß speciell unsere Regierung aus eigenem Antriebe diejenigen Ver­

besserungen einführe, von denen wir in unserem letzten Briefe ge­ sprochen und welche alle andern Länder sich längst angeeignet haben.

Viel erheblicher sind die Fortschritte, welche durch internationale Vereinbarung mit Bezug auf das Eisenbahnwesen erzielt wurden.

Gewiß war hier eine Verständigung viel schwieriger und umständlicher. Nicht nur haben die verschiedenen Länder nicht dieselben Einrichtungen

für ihre Schienennetze; in jedem einzelnen Lande sogar hat jede Eisenbahn-Compagnie ihr besonderes Reglement und die freie Bewegung ist

erschwert durch die Beschränkungen, welche die continentale Gesetzge­

bung so freigebig angehäuft hat.

Dazu kommt noch, daß in manchen

Ländern die Regierungen selbst ganz oder theilweise Bahnbesitzerinnen

sind, und sie sind es bekanntlich, die am schwersten von der einmal eingeführten Routine abgehen.

Nichtsdestoweniger mehren sich täglich

die Verträge, welche die gesammten europäischen Eisenbahnen in ein

einziges Gesammtnetz zu fassen bestimmt sind und die eS ermöglichen

BolkSwirthschastliche Briefe aus Rußland.

56

sollen, daß Reisende und namentlich Waaren von einem Ende des Welttheiles bis zum andern befördert werden, ohne erst beim Einbrüche

jeder neuen Linie oder jedes neuen Landes neuer Plagereien ausgesetzt

Schon ist auch die große russische Eisenbahngesellschaft in

zu sein.

dieses allgemeine Netz ausgenommen worden, obzwar dies nicht ohne

Schwierigkeiten bewerkstelligt werden konnte, weil auch hier wieder die Valutafrage, welche unser ganzes

in Betracht kommen mußte.

wirthschaftliches Leben

durchzieht,

Man hat es sich gefallen lassen müssen,

den büreaukratischen Dünkel, welcher die Werthverminderung des Pa­

pierrubels nicht anerkennen will, aufzugeben und für den internatio­ nalen Verkehr derselben Rechnung zu tragen.

Das ergiebigste Feld völkerrechtlicher Vereinbarung bleibt freilich noch für lange Zeit die Zollgesetzgebung.

Ganz richtig bemerkte dieser

Tage der belgische Professor Hr. von Molinari in einer der Vor­

lesungen, welche er gegenwärtig hier hält: Angesichts der Eisenbahnen,

welche bestimmt sind, die Schranken zwischen den verschiedenen Län­

dern wegzuräumen, sei die Zollgesetzgebung, welche dieselben künstlich erhalte, ein Anachronismus.

Die Agitation zu Gunsten einer Refom»

der russischen Zollgesetze, welche von dem deutschen Handelstage auS-

ging, hat leider bis jetzt wenig, richtiger gar keine Früchte getragen. Unsere Verwaltung hat sich allerdings entschlossen, das an dieser Stelle

schon oft erwähnte Memorandum jenes Handelstages den

russischen

Börsengenossenschaften zur Begutachtung mitzutheilen, und aus den bis

jetzt eingelaufenen Gutachten hat

sie die

beruhigende

Ueberzeugung

schöpfen können, daß dieser erste Versuch, sich um die Meinungen der Intcrcssirten zu kümmern, ihr nicht besonders theuer zu stehen kommen werde.

Unser Handelsdepartement kann nun die Hände in den Schooß

legen und dem Drängen der Ausländer und

der freihändlerischen

Theoretiker die Erklärungen der Handelscorporationen unserer vorzüg­ lichsten Städte wie Nowgorod, Petersburg u. s. w. entgegenhalten,

wonach die von Deutschland ails

angerathenen Reformen nur den

Ruin der einheimischen Industrie und bezwecken.

Daß in allen Ländern

des nationalen Wohlstandes

ähnliche Protestationen zum Vor­

schein kamen, sobald es sich um Tarifänderungen handelte, darüber

wird man sich vorläufig bei uns hinaussetzen, und man wird sich gern

begnügen, auf den Widerwillen der beseitigten Kreise hinzuweisen, um in gewohnter Unthätigkeit zu verharren. Daß aber bei uns die Re­ form der Zollmanipulation noch dringender Noth thut, als jene der Tarife, darauf haben wir bereits früher (im Novemberhefte d. Revue) hingewiesen. Neuerdings finden mir eine Bestätigung für diese An­ sicht in einem Promemoria, welches die englische Regierung soeben an die meisten Staaten des Continents versendet hat und in welchem die Mängel der europäischen Tarife insbesondere durch Vergleiche mit der englischen Gesetzgebung ersichtlich gemacht werden. Wir wollen diesem Dokumente nur diejenigen Andeutungen entnehmen, welche die Wich­ tigkeit der Zollmanipulationen, von den Tarifen ganz abgesehen, nach­ weisen. „Als Seidenwaaren noch Einfuhrzölle im vereinigten König­ reiche zu entrichten hatten — heißt es daselbst — war die Durch­ suchung derselben eine sehr schwierige Sache, denn die zarte und werth­ volle Natur dieser Güter erheischte große Sorgfalt im Auspacken und wieder im Einpacken; geräumige Lokalitäten, nach der Wasserseite hin gelegen, waren zur Vornahme dieser Operation erforderlich und die Importeure hatten den Magazinbesitzern zu diesem Behufe schwere Gelder zu entrichten. Die größeren Häuser waren genöthigt, einen oder zwei Gehülfen mit hohem Salair ausschließlich zu dem Zwecke zu halten, bei der Zollprüfung anwesend zu sein und die Gebühren zu entrichten. Jetzt aber ist die Prüfung so oberflächlich und nimmt so wenig Zeit in Anspruch, daß dieselbe durch Vermittelung der Spediteure besorgt wird, diese nehmen die Waare in Paris oder Lyon in Empfang und liefern sie in den Magazinen der Importeure in London ab und zwar für einen Kostenbetrag, der hinter dem frühern weit zurückbleibt. Ein anderes Beispiel liefern Tapeten. Als diese noch nach dem Qua­ dratyard verzollt wurden, mußte jedes Collo vollständig ausgepackt und die Länge und Breite aller Stücke gemessen werden; seitdem aber dieser Artikel nach dem Gewichte verzollt wurde, war das Abwiegen sämmt­ licher Colli in sehr kurzer Zeit geschehen und nur einzelne wurden geöffnet, um die Richtigkeit des deklarirten Inhalts zu eonstatiren." Ganz richtig bemerkt die Denkschrift, daß sich ähnliche und wahrschein­ lich sehr viele ähnliche Beispiele unter dem jetzt obwaltenden System der meisten europäischen Tarife würden anführen lassen. Nicht minder

richtig wird gesagt, daß für gewisse Artikel, wie Glas, eine strenge Manipulation alle Freisinnigkeit des Tarifs paralqsirt und durch den Schaden, welcher bei minutiöser Untersuchung unvermeidlich ist, die Einfuhr geradezu unmöglich macht; ebenso ist es bei den Geweben: wenn nämlich bei diesen der Zoll nach dem Gewichte und der Anzahl der Fäden erhoben wird, so ist das zur Ermittelung deS Zoübetrages erforderliche Berfahren sehr mühsam für die Zollbeamten, andererseits drückend für die Importeure. Damit nicht genug, sind in den meisten -ändern die Formalitäten unendlich vervielfacht und verkehrerschwerend. So lange die gesetzgeberische Weisheit ihr höchstes Ziel darin erkannte, die Einfuhr fremder Waare möglichst zu hindern und dieselbe nur als ein nothwendiges Uebel zu dulden, das man thunlichst beschränken müsse, mögen alle jene Vorsichtsmaßregeln logisch begründet gewesen fein; auch daS ausgesprochene Mißtrauen gegen alle Welt, von dem die Zollgesetzgebung und deren bekanntlich nicht besonders liebenswürdige Vollstrecker allenthalben angeweht waren, hatte seine Begründung, denn instinktmäßig fühlten Gesetzgeber und Gesetzvollstrecker, daß hier eine Einrichtung geschaffen war, zu deren socialer Rechtfertigung der gesunde Menschenverstand allein nicht auSreichte; die Anwendung mußte also eine desto strengere sein, sollte das einmal vorgesteckte Ziel nur irgend­ wie erreicht werden. Leser, die nie außerhalb Deutschlands gereist sind, können von jenen Plackereien kaum einen matten Begriff haben. Nächst den Zollbeamten der früheren kleinen italienischen Staaten haben namentlich jene von Rußland, Belgien und Frankreich eine traurige Berühmtheit. Von dem russischen Grenzwächter wird allerdings be­ hauptet, man könne sein Gewissen durch einen freundlichen Händedruck zum Schweigen bringen. Viel schlimmer stand es bis jetzt mit der „rigidite“ der Franzosen und Belgier, die sich berufen glaubten, für ihr mißliches Amt am Publikum Revanche zu nehmen, und es an Roh­ heiten nicht fehlen ließen. Es ist bekanntlich eine nur dieser Ver­ waltungsbranche eigenthümliche Unsitte, den Reisenden erst zu befragen, ob er nicht Steuerbares habe, und erst auf feine verneinende Antwort hin dann das Gepäck zu untersuchen. Gan; richtig antwortete eines Tages ein französischer Feuilletonist Henri de Pöne einem solchen Grenzeerberus: „Da Sie meinen Worten keinen Glauben schenken werden,

58

Volkswirthschaftliche Briefe aus Rußland.

so untersuchen Sie ohne zu fragen."

dem Staatsseckel nützte, Denkschrift.

darüber

Was diese drakonische Strenge

belehrt

uns

wieder die

englische

Es ist durch viele Fälle erwiesen, heißt es daselbst, daß

bei Waaren leichtbeweglicher Natur ein hoher Zoll den ganzen Handel in die Arme der Schmuggler treibt.

Das stellte sich insbesondere in

Betreff der Spitzen aller Art heraus: als der Zoll auf diesen Artikel in England 30 Prozent vom Werthe betrug, kam den Zollbeamten

selten ein Stückchen importirtcr Spitzen zu Gesichte; kaum aber war der Zoll ermäßigt, so gelangten große Quantitäten dieses Artikels zur Ver­

zollung und die Erfahrung hat erwiesen, daß ein niedriger und einsacher Zoll die Versuchung zu schmuggeln beseitigt und die Zollein­

nahmen erhöht. Bei uns in Rußland scheint die Verwaltung von dieser Erkennt­ niß noch keine Notiz genommen zu haben.

So ist erst vor Kurzem ein

Dekret erschienen, welches genau specifizirt, was jeder Reisende, wenn er nach Rußland kommt, als persönliche Leibwäsche zollfrei mitbringen kann.

Es ist bei dieser Aufzählung gewissenhaft verfahren und, ma

foi, nichts vergessen worden — als der eine Umstand, daß wenn nur

150—200 Reisende an einem Grenzposten ins Land treten, eine genaue

Kontrole ihres Gepäckes, der Vorschrift dieses neuen Reglements ent­ sprechend, einen ganzen Tag in Anspruch nehmen würde, wenn nicht

anders das Zollpersonal so bedeutend vermehrt werden soll,

um als

Endresultat dieser Reform nur eine Vermehrung der Ausgaben und der Plackereien zu ergeben.

Es ist allerdings eine gewisse Liberalität

beobachtet worden, indem bestimmt wurde, daß wenn die Gesammtgebühr, welche ein Reisender zu entrichten hätte, nicht über drei Rubel

beträgt, eine Nachsicht derselben

eintritt.

Taschentücher, bei Leibe nicht Eines mehr!

Ein Dutzend Hemden und

Wo mag wohl die Gesetz­

gebung die Berechtigung hernehmen. Jemandem vorzuschreiben, daß er nicht mehr als dieses eine Dutzend Wäsche in Gebrauch haben soll? Ein englischer Reisender mit seiner berühniten Handtasche kann sich diese Beschränkung gefallen lassen, aber was wird ein Holländer sagen?

Die Nothwendigkeit der Zollschranken

einmal anerkannt, muß man

freilich auch zugeben, daß eine Grenze sein muß zwischen der zoll­ pflichtigen „Waare" und den zollfreien weil zum persönlichen Bedarf

gehörigen „Kleidungsstücken", und weil in Rußland die Einfuhr der letztern wirklich außergewöhnliche Dimensionen angenommen und dem Zollerträgnisse Abbruch gethan, glaubte man dem Uebel steuern zu können, indenr man jenes neue Kleiderreglement aufstellte. Aller Vor­ aussicht nach wird dasselbe ebenso fruchtlos bleiben, wie alle bisher zur Abschaffung des Schmuggels ergriffenen Maßregeln, und nur dazu dienen, den Zollbeamteten eine Gehaltserhöhung zu verschaffen, für welche es im Budget keinen Platz geben wird. Hätte man der eigent­ lichen Ursache nachgeforscht, warum jeder vom Auslande kommende Russe sich so vollkommen mit fremder Waare approvisionirt, so würde man erkannt haben, daß eben die Höhe des Tarifs und die daraus entstehende Verthenerung hiezu den Anlaß geben. Es ist ja faktisch, daß Leute, welche einen bedeutenden Kleidereinkauf zu machen haben, eine Reise ins Ausland nicht scheuen, weil die Kosten derselben durch den Gewinn am Einkäufe vollständig gedeckt sind, und daß in der That nach Rußland viel mehr fertige Waare von Nichtkausleuten ein­ geführt wird, als nach irgend einem andern Lande. Soll dem ge­ steuert werden, so muß die Gesetzgebung, so viel an ihr liegt, den Grund zu solchem Gebaren wegräumen, nicht aber dem unwider­ stehlichen Drange eines jeden Älenschen, das Beste dort zu kaufen wo er cs am billigsten bekommt, auch noch den Reiz der verbotenen Frucht hinzufügen. Es giebt in Rußland der natürlichen Umstände genug, in Folge deren noch für lange Zeit alle bessere Leistung mensch­ licher Arbeit theurer als in andern Ländern herzustellen und daher zu bezahlen sein wird; diese natürlichen Ursachen können nicht mit einem Schlage beseitigt werden; aber ihre Wirkung wird gemildert, wenn man der großartigen Errungenschaft unserer Zeit, der inter­ nationalen Arbeitstheilung freien Spielraum läßt. Dies ist die Bahn, in welche die russische Gesetzgebung einzulenken hat, wenn sie endlich auf wirthschaftlichem Gebiete wirkliche Erfolge verzeichnen will. Ich schließe für heute mit einem Faktum, von dem ich wünschen möchte, daß es für Rußland alle die günstigen Folgen haben möge, welche sich die betheiligten Kreise von demselben versprechen. Es ist nämlich vor einigen Tagen nach fünfjährigem Harren endlich einigen russischen Grundbesitzern und Bureaukraten die Ermächtigung zur

60

Bolk-wirthschaftliche Briefe auf Rußland.

Gründung einer Bodencreditbank ertheilt worden.

Ich habe des

Projektes, welche- dieser Concession zu Grunde liegt, im Augusthefte 1864 der Revue gedacht; die Autorschaft desselben gebührt dem

Hrn. Staat-rath Tarassenko-Otreschkow und eS handelt sich um eine Art von Landschaftscreditanstalt, wo die Grundbesitzer zugleich als

Darleihnehmer und Geber fungiren und den Creditnehmern Pfand­

briefe ertheilen, welche diese selbst oder vermittelst der Anstalt ver­ werthen können.

Der Organismus ist ein sehr complicirter,

was

aber namentlich der Besorgniß Raum giebt, ist die zu große Aus­

dehnung, welche die Gesellschaft ihrem Wirken geben zu wollen ver­

sichert.

Dir Creditanmeldungen, welche seit Jahren zugelassen sind,

belaufen sich schon jetzt, vor der Concessionirung, auf die fabelhafte

Summe von 250 Millionen Rubel und wenn man bedenkt, wie schwer

selbst die Regierung, trotz Lotterie- und Prämienanlockungen eine An­ leihe von 100 M. Rubel unterbringen konnte, so bleibt eS fraglich,

wie eine Bodencreditanstalt bei der ungeheuren Ausdehnung ihres Wirkung-kreiseS, bei der Verschiedenheit de- Bodenwerthe» im Reiche,

bei der Unsicherheit, welche amtliche Schätzungen gewähren, — für ihre

Werthpapiere einen Markt gewinnen will, welcher auch nur den zehnten Theil der obenangeführten Summe zu absorbiren geneigt wäre.

Wir fürchten, es werde sich an dieser Anstalt der Spruch bewahr­ heiten: qui trop embrasse, mal etreint, wünschen aber von Herzen,

daß diese Befürchtung zu Schanden werde. Auf die Art und Weise, wie» sich die Gründer der Anstalt ihre Beziehungen zum Geldmärkte

einzurichten gedenken und die uns etwas zu — kindlich scheint, kom­

men wir nächsten» ausführlicher zurück.

Alt und Neu ). Lieder und Sprüche von

Wilhelm Wolssohn.

Rechte Wahl. Such' eine Seele dir, die gleich dem Baume Fest wurzelt in dem eigenen Gebiet, Nicht die dem Vogel gleich im lust'gen Raume Mit leichtem Flügel da. und dorthin zieht. Zu jener freilich muht du suchend gehen, Doch sicher, wann du willst, erreichst du sie: Ruh' aus bei ihr und laß dir Kühlung wehen — Sie weicht und wankt von ihrer Stelle nie.

Die andre kommt an deinen Herd geflogen, Doch ihres Bleibens ist nicht hier nicht dort: Dom Flattertriebe durch die Welt gezogen, Ist sie an jedem und an keinem Ort.

*) S. Nord. Revue. III. 1. Heft.

62

Alt und Reu.

Lieder und Sprüche von Wilhelm Wolfsohn.

Menschenkenntniß. Du kannst dich von dem Thun und Treiben Der menschlichen Natur belehren —

Und still dabei zu Hause bleiben, Statt auf dem Markte zu verkehren.

Merk' auf bei jeder eignen Wandlung Und wag's, dir selbst sie zu bekennen;

Halt' an bei jeder eignen Handlung Und wag's, beim Namen sie zu nennen.

Dann werden sich dir schon bei Zeiten

Die Menschen, wie sie sind und waren, Die guten und die bösen Seiten

Im eignen Innern offenbaren.

So viel an dir vorüberziehen, Ein jeder ist dir schon erschienen — Und konntest du dich selbst nicht fliehen, Vertrügst du dich auch gern mit ihnen.

Gedankensünden. Die todeswürdigen Gedankensünden,

Ach, zahllos find sie, wie der Sand am Meer: Wenn die der Besten vor Gerichte stünden,

Wo nähmst du Zeit, ihr Urtheil zu verkünden, Wo nähmst du Raum, es zu vollziehen, her!

Zuflucht. Wenn vom Glauben du geschieden,

Wenn das Hoffen dir entwich — Rette deinen Seelenfrieden

In den Glauben noch an dich.

Alt und Neu.

Lieder und Sprüche von Wilhelm Wolfsohn.

Läuterung. Was Menschen dir an Weh bereiten, An argem Lohn und schnödem Dank;

Was du empfingst an Bitterkeiten, Was dich so arm gemacht und krank; Was dir gebeugt den stolzen Nacken, Was dir gebleicht das dunkle Haar —

Das alles wird von seinen Schlacken

Den Geist dir läutern wunderbar. Die Eitelkeit, den Schein, das Hohle, Was dich mit falscher Lockung rief,

Die Trugwelt nichtiger Idole Durchschaust du klar, erkennst du tief.

Und fehlt auf deiner Lebensstrecke

Auch Blumenglanz und Blüthenduft — Doch über ihrer Winterdecke Weht kräft'ger Hauch und reine Lust.

Lösung. Wenn in deinem Herzensbunde

Schon der Keim des Todes ruht,

Lös' ihn in entschloffner Stunde, Lös' ihn rasch mit festem Muth; Laß ihn lebenskräftig sterben,

Und er lebt dir noch im Geist, Während langsam ihn verderben

Ihn auf ewig tödten heißt.

Sonnenlos. Ein sonnenlos Gemüth wird Keinem lohnen;

Wohl zieht dich hin der Wehmuth Allgewalt —

Jedoch versuch' es nur, darin zu wohnen: ES ist nicht trüb allein, es ist auch kalt.

63

64

Alt und Neu.

Bieber und Sprüche von Wilhelm Wolssohn.

Du wirst die Stunde niemals segnen —

Sie hat noch Keinen je beglückt — Die durch ein zaubervoll Begegnen

Dich deiner eignen Welt entrückt.

Wie schnell der Zauber auch verschwindet, Wie bald der Sinne Nebel fällt —

Doch dein geblendet Auge findet

Den Weg nicht mehr in deine Welt.

Fütterst du die kleinen Geister Mit des Lobes Leckereien,

Immer frecher, immer dreister

Werden sie dein Lob erschreien.

Und du darfst es nicht mehr wagen, Endlich sie zurückzuweisen, Weil sie dann dich selbst benagen,

Deinen guten Ruf verspeisen. Darum laß den Lobgefräß'gen

Nie den Mund nach etwas wässern,

Was die Winz'gen, Mittelmäßigen Doch nicht heben kann und bessern.

Decke niemals ihre Blöße

Mit der Nachsicht zarter Hülle —

Preise nur die echte Größe, Rühme nur die wahre Fülle.

Freundeszweck. Du kannst nur Trotz im Freunde wecken

Durch Mahnung an verletzte Pflicht; Dein nackter Vorwurf wird ihn schrecken

Und rührt sein Schuldbewußtsein nicht.

Alt und Neu.

Lieder und Sprüche von Wilhelm Wolfsohn.

Doch im Gewand der Bitte führe Den Vorwurf 311 dem Freunde hin;

Dann öffnest bu ihm Thor und Thüre Und triffst den schuldbewußten Sinn.

Die Ungleichen. Wenn der Eine im Alter noch jung, Der Andre in Jugend schon alt ist;

Wenn des Einen Seele voll Schwung, Des Anderen stumpf und kalt ist; Wenn der Eine redlich und wahr, Der Andere voller Lug ist —

Und beide werden ein Paar, Nun denke, was das für ein Zug ist!

Und dennoch oft Jahre lang

Mit eifervollem Befleißen — Ziehen sie Einen Strang — Und können ihn nicht zerreißen!

Nordische Revue. IV. 1. Heft. 1865.

5

65

Die romanischen Sprachen. Von Rudolf Rost.

Die Römer hielten an dem Grundsätze fest, daß jede Eroberung, wenn sie von Dauer sein soll, zugleich eine geistige sein müsse. Daher

ist die Geschichte der lateinischen Sprache zugleich die Geschichte Rom» und eS knüpft sich an die Begründung, Feststellung, und Ausbreitung römischer Herrschaft auch die Begründung, Feststellung und Ausbrei­

tung des Latein in räuMcher und zeitlicher Beziehung.

Aber nicht

auf Italien sich zu beschränken, war Rom'S Bestimmung, und wie

unter seiner siegreichen Aegide das Latein innerhalb der Grenzen dieses Landes gegen verwandte und nicht verwandte Sprachen aufgetreten war, unterwerfend, vemichtend, verwandelnd, mit gleicher unwidersteh­

licher Einwirkung folgte es der römischen Eroberung auf allen Zügen weit über die Wälle hinaus, welche die Natur in Alpen und Pyrenäen seinem Vordringen entgegenzustellen schien.

In den äußersten Winkel

der neugewonnenen Provinzen, in unzugängliche Gebirgsthäler mußten

sich keltische, baskische und albanische Sprachen flüchten,

um nicht

spurlos weggeschwemmt zu werden von der einbrechenden, alles Ent­ gegenstehende

sprache.

verschlingenden und überdeckenden Fluth

der Sieger­

Nur da, wo eine ebenbürtige oder überlegene Bildung der

ihrigen entgegentrat, konnte ihre geistige Eroberung mit der materiellen derer, welche sie redeten, nicht gleichen Schritt halten: in Griechen­

land und den griechischen Kolonien blieb trotz aller römischen Waffen­

gewalt das Latein ein zu spät gekommener, keine dauernde Stätte fin­ dender Fremdling.

Auch in den germanischen Norden und slavischen

Osten ließ sich die eines milderen Himmelsstriches gewohnte Pflanze Italiens nicht zu gedeihlichem Fortkommen versetzen; sie mußte den

rauheren Boden, den selbst das erobemde Rom nur auf Streifzügen

kennen

lernte und

überlassen.

besetzte,

einer andern und späteren Vegetation

Die Gebiete, welche dem Latein verschlossen blieben auf

dem röuüschen orbis terrarum, erscheinen, so ausgedehnt sie auch

immer sind,

doch weniger umfangreich,

jenigen zusammenstellt, das Latein

im

welche

Verein

wenn

auf demselben

mit Rom

erobert

man

sie

mit den­

damaligen Weltkreise

und,

glücklicher

darin

als Rom, durch alle Umwälzungen der Völkerwanderungen hindurch

bis auf diesen Tag bewahrt hat und besitzt — ein durch alle Zeiten

leuchtendes Denkmal von der dauernden Macht des Geistes neben der vergänglichen Macht der Materie!

Und nicht nur was Rom erwarb,

hat das Latein in verjüngten Gestaltungen sich zu erhalten gewußt;

zu dem altüberkommenen Besitzthum hat es ein noch weiteres neues gefügt, in Länderstrecken, zu deren Eroberung dem erobernden Rom

selbst die Ahnung von ihrem Vorhandensein abging: denn nicht nur

da» romanische Europa, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, ein Theil der Niederlande und ein Theil der Schweiz, sowie die daco­ romanische Waüachei reden in neulateinischer Zunge,

sondern auch

jenseit des Oceans, soweit Spanier, Portugiesen und Franzosen un­ geheure Reiche ansiedelten und Inseln kolonisirten, tönt die Sprache

Rom» in dreifacher Eigenthümlichkeit und Umbildung fort. Den Ursprung der romanischen Sprachen hat man nun nicht in der lateinischen Schriftsprache,

Römer zu suchen.

sondern in den Volksmundarten der

Die» beweist ja schon der Umstand, daß die älte­

sten Formen, welche doch in jeder Sprache der Volksmund am treuesten bewahrt, mehr in den romanischen Sprachen, als in der römischen

Schriftsprache, erhalten sind.

Zwar haben auf die Bildung der roma­

nischen Sprachen auch andere Elemente eingewirkt, wie, wenn auch

im geringsten Umfange, die bereits vor dem Eindringen der Römer in jene Gebiete daselbst einheimischen Sprachen, mehr allerdings noch

die Mundarten der nach dem Sturz der römischen Herrschaft herein­ brechenden Germanen.

Alles aber, was fremde Sprachen beigetragen

haben, wiegt noch nicht den zehnten Theil des lateinischen Bestandtheiles auf.

Ihm fallen fast sämmtliche sogenannte

grammatische Wörter

(Partikeln, Fürwörter), ohne die es kaum möglich ist einen Satz zu sprechen, ihm die wichtigsten Begriffe zu, welche das leibliche und

68

Die romanischen Sprachen.

geistige Wesen berühren.

Darum ist

bedeutend mit Sprache,

und lateinisch

leicht, bequem.

ersetzen,

gleichbedeutend mit deutlich,

Bei weitem die meisten Stämme der alten Sprache

behaupteten sich in zu

dem Romanen Latein gleich»

den neuen, und um den Verlust der übrigen

spalteten

sich

viele Wörter

in mehrere Formen mit

eigenen Bedeutungen, welche die Stelle selbständiger Wörter einnahmen.

Außer dem Verhältniß der romanischen Sprachen in ihren gemein­ samen Eigenheiten zur lateinischen ist eS jedoch auch nothwendig, bei

jeder einzelnen die in ihr besonders hervortretenden Eigenthümlichkeiten

zu berücksichtigen.

Um das zu thun, also um eine Charakteristik der

romanischen Sprachen zu geben, müssen wir jede für sich der Betrach­ tung unterziehen und beginnen mit

I. der italienischen Sprache.

Sie muß das Meiste von

der Mutter aller romanischen Sprachen geerbt haben, denn sie wohw

ja im Mutterhause.

Wenn wir aber bedenken, wie viel räuberische

Hände an diesem Erbthcile frevelten, indem sie zerstörten, was sie nicht

zu gebrauchen verstanden und fremde Bestandtheile der Sprache zu­ führten, dann kann cs uns nicht mehr befremden, daß Italiens Sprache

nicht mehr die alte, reine römische ist.

Doch aber hat sie so Vieles

aus alter Zeit erhallen, daß derjenige, welcher lateinisch versteht, sie leichter als eine andere romanische erlernt. Aus der Aussprache, die auf ganz besonders gleichförmige, leicht­

faßliche Weise durch die Rechtschreibung bezeichnet wird, läßt sich nicht

schließen, daß die italienische Sprache der Mutter am treuesten ge­ blieben sei, ja es läßt sich wohl eher vermuthen, daß der kriegerische

Geist früherer Zeiten sich nicht in den sanften Klängen der jetzigen Sprache Italiens aussprach.

Gewiß aber bildete sich die Aussprache

mit Verweichlichung des Volkes weicher und dies geschah natürlich

noch bei Lebzeiten der römischen Sprache.

Die italienische Sprache besitzt einen großen Reichthum an latei­

nischen Wörtern, aber mit ost anderer als der gewöhnlichen Bedeutung. Diese erscheinen durch die Rechtschreibung oft mehr verändert als sie

e« in der That sind. Nach Diez, Grammatik der romanischen Sprachen, mag kaum der zehnte Theil der einfachen Wörter unlateinisch sein.

Was von diesem Zehntheil dem Griechischen angehört, kann schwerlich

auf anderem Wege als durch das Latein selbst, sei cs nun das klas­ sische oder das im Munde des Volkes lebende, in die italienische Schriftsprache gekommen sein. Nur bei den Jnseldialekten, dem Sicilischcn und Sardinischen, veranlaßt die viel größere Beimischung grie­ chischer Wörter und verstattet die insulare Lage solcher Sprachgebiete, an einen dircctcn Uebergang aus dem Griechischen in die Bolksmundart zu denken. Das sonst bedeutendste Element im Italienischen ist das germanische. Außerdem finden sich in den Mundarten Sicilicns und Calabricns auch Spuren des Arabischen. Zur italienischen Schriftsprache bildete sich vorzugsweise die to scanischc Mundart aus, und der frühen festen Gestaltung, welche dieselbe gewann, der Geltung, die sic sich über ganz Italien zu errin­ gen wußte, ist cs neben der vcrhältnißmäßigen Einfachheit und Be­ stimmtheit ihrer Laute zuzuschreiben, daß die italienische Sprache seit der Zeit, da sie zuerst in schriftlichen Denkmälern auftritt (in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts), sich weit weniger ver­ ändert hat, als die andern romanischen Sprachen. Bon den Formen hat die italienische Sprache ausschließlich die auf Vocale ausgehenden behalten, daher auch die Nominativcndungen int Plural den Accusativendungen vorgezogen. Vom Neutrum sind ihr noch einige MehrheitSformcn geblieben, welche mit weiblichen Eigen­ schaftswörtern verbunden werden. Die lateinische Sprache hat eine ernste Hoheit; die Hoheit der italicitischen Sprache ist ungezwungener und sanfter, sie ist die Sprache der Liebe und der Lieder. Sie verdient aber auch diese Bezeichnung durch ihre seltene Vereinigung von Weichheit und Klang und ganz besonders durch die Wahrheit dieses Klanges, wo südliche Lebenslust, glühende Leidenschaft, finstere Gefühle der Furcht und des Unglücks, alle in ergreifenden, entsprechenden Tönen sich kund thun. Freilich gilt das nicht von jeder italienischen Volksmundart, sondern haupt­ sächlich von der zarten und schönen Sprache Roms. Zur Dichtkunst bieten auch die zahlreichen Reime und die natürliche, fiicßendc Be­ tonung, die angeborene und angcwöhnte Ausdrucksweise der Sprache die Hand; freilich nur ;it der Poesie, welche Himmel, Erde und Volk Italiens erzeugen, nicht zu der schwermüthig schwärmenden, vom Geiste

Die romanischen Sprachen.

70

des Orients durchdrungenen der Spanier und heutigen Griechen — hier ist Alles volle, glühende Wirklichkeit, ein reiches Leben voller Lust.

II. Die spanische Sprache.

Wenn auch nicht in geographischer,

so doch in lautlicher Hinsicht grenzt an das Italienische zunächst das Spanische, dem Latein in der Flexion zum Theil noch treuer geblieben

als das Italienische, im Laute und im Wortschätze ihm aber entfrem­

deter.

Wie in Italien Toscana, so hat in Spanien Castilien vor­

zugsweise die Schriftsprache gebildet und sie über die rivalisirenden beiden Hauptmundarten, das dem Portugiesischen näher stehende Ga­ licische und erhoben.

das

dem Provenzalischen

verwandte Catalonische

Die Fortbildung der spanischen Sprache schritt auch, nach­

dem sie in ihren ersten Schriftdenkmälern (gegen die Mitte des zwölften Jahrhunderts) einen festen Ausdruck gewonnen hatte, noch fortwährend

weiter, weshalb der Unterschied zwischen Altspanisch und Neuspanisch

ein ziemlich bedeutender ist und nur von dem Unterschiede zwischen

Altfranzösisch und Neuftanzösisch noch überwogen wird. Der größte Theil der spanischen Wörter ist

zwar lateinischen

Ursprungs und manche sind in täglichem Gebrauche, die es bei den

Römern in demselben Sinne auch waren, bei den übrigen romanischen

Sprachen aber nur hin und wieder gebraucht

und gewöhnlich durch

andere ersetzt werden, die im Lateinischen nur selten Vorkommen.

Doch

findet sich im Spanischen auch eine bedeutende Anzahl Wörter germa­

nischen und arabischen Stammes, woher es kommt, daß es doch wie­ der weniger lateinische Wörter hat als seine Nebensprache, das Por­

tugiesische. Die spanische Sprache hat wie ihre Schwestern in der Einheit des Hauptwortes meist die lateinische Ablativform, aber abgekürzter

als die italienische und walachische.

Sie allein hat das u der vierten

lateinischen Declination als Kennbuchstaben beibehalten.

Im Genus

findet sich im Spanischen, wie auch int Portugiesischen eine Art Neu­

trum, doch nicht in der Art der Alten und nur bei eigentlichen Neu­

tralbegriffen mittelst des Artikels lo und mehrerer anderer demonstra­

tiven Pronomina.

Sehr ähnlich dem Lateinischen ist die Sprache in

den Zeitwörtern, weil sie die Endungen auf s beibehalten, und an den vorhergehenden Buchstaben nur wenig verändert hat, z. B. ama-

mos, mit etwas offener ausgesprochenem Laute als amamus.

Im

Infinitiv hat sie das e gemäß ihrer Neigung zu Consonantenendungen

weggeworfen.

Daß übrigens das Princip des Wohllautes in ihr über

diese Neigung vorherrschend ist,

beweist

die Inkonsequenz in Bei­

behaltung des auslautenden e bei dem Particip auf nte.

Bei dem

Zeitworte ser, sein, wird bei den zusammengesetzten Zeitformen da-

Hilsszeitwort habet, haben, wie in der französischen und walachifchen Sprache gebraucht. Finden sich im Lautsystem des Spanischen, wie nicht zu ver­ wundern,

baskische und arabische Bestandtheile vor, so. dürfen wir

aber auch nicht übersehen, daß der Wortschatz dieser Sprache auch

da

zahlreiche germanische Elemente in sich birgt,

das Eindringm

deutscher Völkerstämme, wie der Sueven und Westgothen, nicht ohne Einfluß auf die Rede des Volkes bleiben konnte.

Es gibt wohl nicht leicht eine Sprache, die mit der weichsteri Aussprache eine so wunderbare Fülle stolzen Klanges verbände, als

die spanische.

Ihre majestätische Schönheit in der Form bildet dabei

oft einen merkwürdigen Gegensatz zur Bedeutung, welche meistens der Kraft und Fülle durchaus.nicht entspricht,

denn das volltönendste

Wort bezeichnet oft den geringfügigsten Begriff.

dezza ist ja sprichwörtlich geworden.

Die spanische Gran­

Fehlt der Sprache zwar auch

die Geläufigkeit und Lebhaftigkeit ihrer italienischen Schwester, so hät sie

trotzdem

nicht

weniger

Formen für die

Seins und Handeln» in Zeitwörtern,

Zeitbeziehungen

als diese.

de»

Im Conjunctiv,

dessen Gebrauch mehr Bildung und Besonnenheit fordert, weist sie sogar noch mehr Formen auf.

Es darf uns dieser Vorzug vor der

italienischen Sprache durchaus nicht befremden.

Denn wenn Mannich-

faltigkeit in der Thätigkeit auf viele Thätigkeit überhaupt schließen

läßt, so ist sie bei der spanischen Sprache vor Allen Beweis für ein reiches Leben.

Diese Verschiedenheit

von

dem rascheren Feuer der

italienischen Sprache scheint sich namentlich darin auszusprechen, daß

die Zeiten, welche das spanische Zeitwort vor dem italienischen voraus hat, eine Vergangenheit und eine Zukunft sind.

Das nimmer ruhende,

heiße Leben will nur Gegenwart, ernste Besonnenheit dagegen blickt

vorzugsweise gern in stille Vergangenheit und bedeutungsvolle Zukunft.

72

Die romanischen Sprachen.

III. Die portugiesische Sprache.

Obschon die portugiesische

Sprache der spanischen sehr nahe steht, so scheint aber doch eine phy­ gegenseitige Abneigung

gegen

gewisse Laute des einen Volkes bei dem anderen zu bestehen.

Daß

siologisch

und

phonetisch

begründete

die Zahl der aus dem Lateinischen stammenden Wörter, wie schon

bemerkt,

größer, als bei der spanischen Sprache, ist, rührt wohl

hauptsächlich daher, daß Portugal sich von der Herrschaft der Araber losriß, ehe noch der Einfluß ihrer Sprache so stark werden konnte, als in den spanischen Landen.

Im Ganzen hat sich das Portugiesische in einer älteren Gestalt bewahrt, und schon die frühesten Sprachproben (ans dem Ende des

zwölften Jahrhunderts) weichen weit weniger von dem jetzigen Sprach­ gebrauch ab, als es bei den gleichzeitigen ersten Denkmälern der Spa­

nier der Fall ist.

Das Lautsystem in der portugiesischen Sprache ist

äußerst verschieden von dem des Spanischen.

Alle dort voller und

härter klingende Consonanten sind hier weich und flüssig; sogar die einfachen Vocale sind häufig durch Verzwiefachung breiter auseinander

geflossen.

Dadurch verlieren sie

und

durch

sie die Sprache einen

großen Theil selbständiger Kraft; doch sind so viele volltönende En­

dungen des Spanischen geblieben, daß sie sich mit jener größeren Weich­

heit, sowie mit der raschen Zusammenziehung ernsterer Wörter zu einem

recht lieblichen Ganzen vereinigen.

Dadurch war die portugiesische

Sprache von Anfang an sehr fähig, sanfte und doch heftig vorüberrau­ schende Gefühle in poetifchem Gewände auszudrücken und hatte daher schon frühzeitig ihre Dichter. Vollkommene Unabhängigkeit des Portugiesischen vom Spanischen

ist nicht nur in den Lauten ersichtlich, sondern charakterisirt sich auch

unter Andern in der Flexion des Verbums. die Zeiten der Vergangenheit durch zum Hilfszeitwort

sehr

Der Portugiese drückt

das bei ihm durch Verkürzung

bequem und mundgerecht gemachte teuere,

nicht wie der Spanier und Andere durch habere aus.

Auch hat er

die lateinische Plusquamperfectbildung nicht nur der Form nach, wie

Spanier und Provenzalen, sondern auch der Bedeutung nach bewahrt. DaS Seltsamste aber in der portugiesischen Flexion ist jedenfalls die

höchst auffallende Fähigkeit und Sitte den Infinitiv nicht etwa, wie

das in andern Sprachen vorkommt, zu decliniren, sondern ihn zu

conjugiren und die persönlichen Beziehungen durch Verbalendungen, die ihm wie einem andem Teinpus bcigefügt werden, auszudrücken. Fragen wir uns nun,

woher diese Eigenthümlichkeit kommt?

Bildung dieser Form ist ja so anomal!

Die

Die Erklärung liegt darin,

daß man sich jenen portugiesischen Infinitiv, der der Form nach ein lateinisches Imperfectum Conjunctiv! vorstellt, mit der portugiesischen

Conjunction que aufgelöst denkt. IV. Die proven^alische Sprache.

Zwischen dem Idiom des

nördlichen Frankreichs und den Sprachen der pyrenäischen und der

apcnninischen Halbinsel bildet das Proven^alische eine natürliche sprach­

liche wie geographische Vermittelung, insofern in ihm gleichsam jede der übrigen Sprachen sich durch besondere Eigenthümlichkeiten' mit ver­ treten sieht.

Es würde diese Verwandtschaft des Proven^alischen mit

allen seinen sprachlichen Grenznachbarn noch sicherer nachzuweisen und

noch weiter zu verfolgen sein, wenn nicht durch die Ungunst der Zeiten die Sprache der Troubadours zu Grunde gegangen wäre, noch ehe sie

zu einer seststehendcn Rechtschreibung gelangt war. Auf den Boden des südlichen Frankreichs, von den äußersten Grenzen der römischen Provincia an, bis zu den so oft. von den

Mauren überschrittenen Pyrenäen brachen die ersten Blüthen proven^alischer Dichtung auf.

ein noch größeres Gebiet.

Die provenyalische Sprache jedoch umfaßte Sie begriff nicht nur das südliche Frank­

reich, wo die Grenzscheide gegen das Nordfranzösische durch Dauphine,

Lyonnais, Auvergne, Limousin, Perigord und Saintonge sich hinzog,

sondern auch über die Pyrenäen und Alpen weit nach Spanien, die

Schweiz und Italien hineingrisf.

In Italien rechnete man die pie-

montesische Mundart mehr zum Provenyalischen als zum Italienischen und in Spanien reichte das catalonische Proventzalisch am mittel­

ländischen Meere entlang bis über Alicante hinaus;

balearischen Inseln setzte es sich fest.

auch auf den

Wegen ihrer großen Verbrei­

tung und der dadurch beigeführten Mannichfaltigkeit der Ausbildung

hieß diese Sprache früher nicht bloß die proven^alische, sondern auch die romanische schlechthin.

Sie war die erste unter ihren Schwestern,

welche sich einer poetischen Anwendung und einer feinen literarifchen

74

Die romanischen Sprachen.

Behandlung erfreute, als dir andern noch einzig auf den Gebrauch im täglichen Verkehr angewiesen im Dunkel dahinlebten, unbeachtet

von Dichtern und Gelehrten. Das Proventzalische, welches jetzt fast im ganzen südlichen Frank­ reich bis an die Loire oder noch weiter hinaus, in der spanischen

Provinz Catalonien und in einem Theile der Insel Sardinien, am schönsten aber in Languedoc gesprochen wird, drückt Gedanken und

Gefühle mit französischer Leichtigkeit, aus.

Anmuth und Oberflächlichkeit

Sein Lautsystem und seine eigenthümliche Redeweise machen es

noch heute, wo es nur noch Volkssprache ist, zu einem besonderen

Zweige des romanischen Sprachstammes.

V. Die französische Sprache.

Die französische Sprache ist

aus dem von der proven^alischen betretenen Wege

der Abplattung,

Verstümmelung und Zusammenziehung der Formen noch weiter vor­ geschritten.

Eine größere Unempfindlichkeit

gegen den musikalischen

Wohllaut reiner Vocale und voller Vocalendungen,

eine geringere

Scheu vor consonantischen Auslauten unterscheidet schon das älteste

Französisch sehr zu seinem lautlichen Nachtheile von dem ältesten Pro-

venyalisch und widerspricht, in dem nordfranzösischen SprachvrganismuS begründet, zugleich auf das entschiedenste der Vermuthung von

der ursprünglichen Identität beider Sprachen.

Zwar ist das von uns

früher bereits gegebene älteste altfranzösische Sprachdenkmal, die Straß­

burger Eidschwüre vom Jahr 842, nicht frei von lateinischen Anklängen überliefert, aber auch so läßt sich das specifisch nordfranzösische Ele­ ment darin nicht verkennen.

Die französische Sprache hat mit der

lateinischen weit mehr

Aehnlichkeit in der Schrift, als in der Aussprache.

Der Umstand nun,

daß die lateinischen oder romanischen Endungen, welche heutzutage nicht mehr ausgesprochen werden, die Schrift noch bewahrt, ist ein Beweis dafür, daß sie einst wirklich gesprochen worden sind.

Dazu

kommt, daß die Aussprache dieser Endungen in einigen Mundarten noch jetzt ziemlich vollständig ist.

Die Verbildung ist

in Manchen

Fällen auch in die Rechtschreibung übergegangen, wodurch namentlich die Abstammung der Hauptwörter von der lateinischen Ablativform öfters

verwischt wird und die französischen Wörter der alten Nominativform

näher zu stehen

scheinen.

Möglicherweise

stammen

manche

dieser

Formen, besonders die weiblichen Hauptwörter auf x, wirklich von

der Nominativform ab, wie paix von pax, faux von falx.

Ist zwar

die Menge der aus dem Lateinischen stammenden Wörter ebenfalls

bedeutend überwiegend, so besitzt die Sprache doch auch eine nicht zu verachtende Anzahl germanischer, weniger keltischer Bestandtheile.

Denn

die Franken redeten mitten unter Romanen ein halbes Jahrtausend hindurch die Sprache ihrer Bäter noch fort und es nahmen die kelti­

schen Wörter in dem Maße ab, wie die deutschen zunahmen.

So sind

des Krieges, seiner Ausrüstung

und der

namentlich die Ausdrücke

Eigenschaften, welche die physische Macht begleiten, germanischen Ur­ sprungs, weil es ja den Franken Vorbehalten war, den Kriegerstand zu bilden.

Warum das Französische, diese liebenswürdige Sprache, welche sich allen Berhältnissen des Lebens mit soviel Leichtigkeit und Zier­ lichkeit anpaßt, einer so großen Verbreitung sich erfreut, daß man in

ihrem Besitz in der ganzen civilisirten Welt sich verständlich machen kann, liegt außer andern Gründen wohl mit daran, daß ihr Charakter

sich schon seit längerer Zeit abgeschliffen hat und sie auf diese Weise mundrecht für Jedermann geworden ist.

Der Prunkschleier ihrer Ele­

ganz deckt kein tiefes Gefühl, aber auch durchaus keine Falschheit; sie

sucht im Gegentheil aus einen» schönen, reinmenschlichen Gefühl das Unangenehme nicht zu verbergen, sondern zu versüßen.

In ihr weht

ein leicht beweglicher, auf das Praktische gerichteter Lebenssinn.

Der

Franzose ist bestimmt, daher wendet er doppelte Verneinungen an,

ne-pas, ne-point

Der Deutsche ist Denker, weshalb seine Worte

genauere Unterscheidungen zulassen,

als die

entsprechenden franzö­

sischen, man vergleiche Begriff, Verstand, Vernunft mit notion, esprit und raison.

Während der Franzose mehr Feinheit

besitzt

als der

Deutsche, ist der letztere dem ersteren an tiefem Gefühl weit überlegen.

So hat der Franzose keine entsprechenden Wörter für Gemüth, Sehn­ sucht, Heimath, innig.

Die französische Sprache ist durchaus verständig

und nüchtern, alles Unbestimmte und Ahnungsvolle wie im Deutschen

ist nicht zu finden.

Der Franzose ist aber thätiger und schneller han­

delnd, er sagt daher faire faire, faire venir, il fait naufrage u. a.

mehr. Da er ein Mann der Gesellschaft und des öffentlichen Lebens ist, so hat auch keine Sprache einen so großen Ueberfluß an Aus­ drücken für alles Muntere und Lustige, sowie für die gewöhnlichen Formen der Unterhaltung aufzuweisen, als die französische. Für Witz hat sie pointe, saillie, bon mot; für Spott: moquerie, raillerie, Persiflage, ironie; für Genuß: plaisir, delectation, delice, amusement, divertissement etc.; für schwatzen und plaudem: causer, jaser, babiller, jaboter, caqueter u. a. mehr. Nock) mehr aber als Worte enthüllen uns ganze Redensarten den Charakter der Sprache und des Bölkes. So fragt der Franzose: Comment vous portezvous? wie tragen Sie sich? In Paris stellt man gegenwärtig, wenn von einer Heirath die Rede ist, die Frage: combien und nicht qui epousez-vous? wieviel, und nicht wen heirathen Sie? In der französischen Satzbildung herrscht das Gesetz der Klar­ heit. Der gesellschaftliche Charakter der französischen Sprache, ihre praktische Lebendigkeit haben vorzüglid) die kürzere, im raschen Mo­ mente wirkende Satzbildung begünstigt, denn der gesprochene Ausdruck duldet durchaus keine lang ausgesponnenen Perioden. Die Kürze der französischen Perioden hat den Vortheil, daß sie die Aufmerksamkeit des Lesers oder Hörers, ohne ihn lange warten zu lassen, fast ebenso schnell befriedigt, als erregt. Der Franzose fordert stets Klarheit. Da sich ihm ein größeres Ganze nicht leicht Überschaulid) darbietet, ein zu mächtiger Bissen seine Ungeduld reizt, so hilft ihm hierbei trefflid) die Sprache und gibt ihm die Sache — löffelweise. Aus dem von der französischen Sprache hier Gesagten läßt sid) wohl schon mit zieinlicher Sicherheit der französische Charakter erkennen, jener leichte und sanguinische, mehr an der Oberfläche des Lebens klebende, mit feinem Gefühl für die äußere Form, für Sitte und Anstand aus­ gerüstete Sinn. Die nenfranzösische Schriftsprache hat einen so vorwaltenden, allein maßgebenden und tiefeindringenden Einfluß gewonnen, daß da­ neben die provineiellen Mundarten in ihrem eigenen Lebenskreisc mehr und mehr verkümmert und einer wissenschaftlichen Betradstung ent­ fremdet sind. ErwähnenSwcrth ist allenfalls darunter nod) das in den belgischen Provinzen Lüttich, Namur und Luxemburg im Bolksmund

lebende Wallonische, das durch Alterrhümlichkeiten der Lautlehre, der Flexion und namentlich des Wortschatzes sich dem Altfranzösischen in manchen Stücken bedeutend nähert. VI. Die walachischc oder daloromanische Sprache. Das Walachische ist eine romanische Sprachinsel mitten im nichtromanischen untern Donauland. Wir können hierbei nicht umhin, auf die bemerkenswerthe Erscheinung hinzuweisen, daß um die untere Donau und weiter nach Südwesten sich eine Eiruppc aneinandergrenzender Spra­ chen zusammengefunden hat, die bei aller Berschiedenheit rücksichtlich der Abstammung jedoch darin übereinstimmen, daß sie die verdorbensten ihrer Familien sind. Diese mißrathcnen Abkömmlinge sind das Walachische in der romanischen, das Bulgarische in der slavischen und das Albanesische in der griechischen Familie. Das Berderbniß zeigt sich in der nördlichsten Sprache, der walachischen, noch in einem ge­ ringern Grade, mehr schon in der mittleren, der bulgarischen, und hat in der südlichsten, der albancsischcn einen ihre Herkunft fast völlig verdunkelnden Grad erreicht. Alle drei stimmen besonders darin übereilt, daß sie den Artikel an das Ende der Hauptwörter anhängen. Den lateinischen Stamm des Walachischen beurkundet schon der ')iame Romeni, Romenia, den das Bolk selbst sich und seiner Sprache beilegt, beurkunden ferner Lautlehre, Flexion und Wortschatz in unver­ kennbarem Blaße. Der Aussprache liegt das Italienische zu Grunde, doch unterscheidet sie sich in Aianchem davon wesentlich. Obschon die Menge der aus dem Lateinischen stammenden Wörter geringer ist, als in der verwandten italienischen Sprache, so besitzt das Walachische doch außerordentlich viele altlateinische Wörter, welche dem Italienischen, wie den übrigen romanischen Sprachen mangeln. UeberdieS haben viele Wörter ganz lateinisches und romanisches Aussehen, ohne daß sie in den Schriftsprachen sich finden und ohne daß doch auch ihr Ursprung in anderen Sprachen nachgewiesen werden kann. Diese Erscheinung berechtigt nun zu dem Schlüsse, daß sowohl jene Wörter, sowie die Erhaltung von mancherlei lateinischen Formen im Walachischen aus der römischen Volkssprache herrühre. Solche Formen sind die bei­ behaltene Bocativendung auf e, die Endung m im Singular der Zeitwörter, das unterscheidende ie der vierten Conjugation, das alte

Plusquamperfektum des Conjunctivs auf sem, vielleicht auch die Ad­

verbialendung e bei den Wörtern auf escu.

Freilich mangelt dagegen

das Futurum, welches durch ein Hilfszeitwort gebildet wird.

Auch

selbst die wenigen Comparationsreste der übrigen romanischen Sprachen

scheinen im Walachischen gänzlich zu fehlen.

Die Declination sieht

lateinischer aus, als sie es ist, weil die angehängten Endungen wirk­

lich nur Fürwörter sind, ausgenommen die erwähnte Vocativendung und einige alte Pluralgenitive.

Wie schon bemerkt, hat das Wa­

lachische mit dem Albanesischen und Bulgarischen den den romanischen

Sprachen durchaus fremden Artikel postpositivus gemein. In den Sprachschatz de» Walachischen ist in Folge des Aliein-

stehens und der Losreißung von dem Mittelpunkte des romanischen Stammes eine solche Fluth staminfremder Wörter von allen Seiten

eingedrungen, daß das romanische Element darüber, vielfach verküm­ mert, Mühe hat dem Andrange seitens des Slavischen, Magyarischen, Türkischen, Griechischen und Deutschen einen nachhaltigen Widerstand

zu leisten. Der Charakter der Sprache in Klang und Bildung der Rede ist

dem der andern Schwestern zwar ähnlich, aber nicht so ausgebildet.

Es findet sich daher Weichheit des Lautes neben harter und breiter Aussprache, romanischer Satzbau neben steifer Weitläufigkeit.

Daö Walachische theilt sich in zwei Hauptzweige: das reinere Da­ koromanische

im engern Sinne diesseits der Donau und das

Thrakoromanische

oder

Kutzowalachische

jenseit

derselben.

Unter letzteren ist mehr Unromanisches, besonders aus dem Griechischen und Albanesischen, doch finden sich auch wiederum altlateinische Wör­

ter, die dem Dakoromanischen fehlen.

Beide Zweige

haben wieder

ihre Mundarten, naiuentlich der erste das Walachische im engern

Sinne und da» Moldauische.

Hieher gehört auch das in Sieben­

bürgen und Ungarn gesprochene Walachische. VII. Die churwälsche oder rhätoromanische Sprache. Im

Vergleich mit den übrigen romanischen Sprachen hat die churwälsche Manches unveränderter

und weniger abgeschliffen

erhalten.

Diese

von Jahrhunderten her erhaltenen Wörter und Formen stehen darum

dem uns bekannten Lateinischen nicht so ganz nahe, weil sie schon in

jener alten Zeit vergröbert und verändert waren, sowie im Altsranzösischen und Proven^alischen, von welchem letzterm es ohne Zweifel ein Zweig ist. Zugleich mag denn auch die härtere Aussprache schon jener Zeit angehören, durch den Einfluß des Alemannischen unterstützt, von dem es auch die Rechtschreibung größtentheils angenommen hat. In der Pergleichung mit der lateinischen Sprache spricht die Recht­ schreibung mehr als billig gegen die Aehnlichkeit, da das Churwälsche ganz der Aussprache gemäß geschrieben wird. Ausnahmen von der Uebereinstimmung des Sprechens und Schreibens gibt es nur wenige.

Aus der alten Zeit mag cs auch noch herrühren, daß das Chnrwälsche manche französische Wörter, die es nicht besitzt, durch Wörter aus dem so nahen Italien ersetzt. Alerkwürdig ist es, daß diese Sprache weniger Partikeln lateinischen Stamines hat, als ihre Schwe­ stern, mit Ausnahme des Walachischen. Die in allen romanischen Sprachen dem Latein ziemlich ähnlich erhaltene Stellung der Eigen­ schaftswörter zu den Hauptwörtern ausgenommen, weicht das Chnrwälsche mehr als seine Schwestern im Satzbau vom Lateinischen ab und hat darin einen mehr deutschen Charakter angenommen, z. B. das dem Deutschen eigene, den Nachsatz beginnende Wort „so", chnrwälsch scha. Deutscher Einfluß hat der Sprache zwei wesentlich romanische Kennzeichen, die Bildung des Futurum durch habere und das zum historischen Tempus verwandte Perfectum geraubt. Die Sprache ist überhaupt stark mit deutschen Bestandtheilen gemischt, die leicht an ihrer romanisirten Form zu erkennen sind.

Die churwälsche Sprache klingt zwar rauher als die feine toska­ nische Mundart, hat aber dessenungeachtet ihre Annehmlichkeiten. Ihr ganzer Laut zeigt die derbe, ungezierte, aber auch ungebildete Tochter einer schönen Mutter; trotzdem erscheint sie dem an rauhere Töne gewohnten Ohre des Nordländers immer noch sanft. Die großartige Natur ihrer felsenstarrenden Heimath spiegelt sich wieder in den voll­ tönenden Doppellauten, in der kräftigen, freilich auch harten Aus­ sprache der Consonanten. An Formen ist die churwälsche Sprache ärmer als ihre Schwestern und steht der walachischen noch am nächsten.

80

Die romanischen Sprachen.

Das Churwälsche zerfällt in zwei Mundarten: das Rumänische

im Rheingebiete des Cantvns Graubündten und das im Jnngebiete gesprochene Ladinischc.

Letztere ist in dem Grade mit dem Ita­

lienischen gemischt, wie die romanische mit dem Deutschen.

Namentlich

hat das Ladinischc die besondere romanische Futurumsform des Ita­ lienischen, während es im Rumonischen mit vegnir (lateinisch venire) umschrieben wird.

Die Sprachen, deren Eigenthümlichkeiten und Charakter wir zu

schildern versuchten, umschlingt nun ein Band — ihre gemeinsame, stark ausgeprägte Abstammung von Rom.

Sind auch ihre einzelnen

Formen verschieden, so ist es aber nicht die Form, die ihren alten

Geist über die neuen Umgestaltungen ausgoß.

Welche Kraft lag dem­

nach in der römischen Mutter! „Mitten in allen diesen (durch Einwan­

derungen hervorgerufenen) Veränderungen", sagt Wilhelm von Humboldt, „blieb aber in der untergehenden römischen Sprache das wesentliche Princip ihres Baues, die reine Unterscheidung des Sach- und Be-

ziehungsbegrisfes, und das Bedürfniß, beiden den ihnen eigenthümlichen Ausdruck zu verschaffen, und im Volke das durch die Gewohnheit von

Jahrhunderten tief eingedrungene Gefühl hiervon.

An jedem Bruch­

stück der Sprache haftete dies Gepräge; es hätte sich nicht austilgen Es lag jedoch in

lassen, wenn die Völker es auch verkannt hätten.

diesen selbst, es aufzusuchen, zu enträthseln und zum Wiederausbau anzuwenden.

In dieser, aus der allgemeinen Natur des Sprachsinnes

selbst entspringenden Gleichförmigkeit der neuen Umbildung, verbunden mit der Einheit der in Absicht des Grammatischen unvermischt geblie­

benen Muttersprache, muß man die Erklärung der Erscheinung suchen, daß das Verfahren

der

romanischen Sprachen

in

ganz entfernten

Länderstrichen sich so gleich bleibt, und oft durch ganz einzelne Ueber­ einstimmungen überrascht."

und China Die Landreise von Peking, der Hauptstadt des himmlischen Reiches, bis

nach Petersburg ist eine der längsten, die man auf unserm Erdbälle machen kann.

Früher war sie mit größeren Schwierigkeiten verknüpft als jetzt, wo die

chinesische Regierung den Reisenden nichts mehr in den Weg legt und ihnen

willig Pässe ertheilt.

Zuletzt hat diese große Tour durch China, die Mongolei

und Sibirien ein Engländer, Alexander Michie, ausgeführt und sein vor

Kurzen! erschienenes Reisewerk: The Siberian overland route from Peking to

Petersburg, through the Stepps of Mongolia, Tartary etc. London 1864 giebt uns viele werthvolle Aufschlüsse über die Beziehungen Rußlands zu China, aus denen wir unsern Lesern Einiges mittheilen.

Die weiten Regionen, welche Michie bis zur sibirischen Grenze zu durch­ reisen hatte, waren bis vor wenigen Jahren den Europäern verschlossen, nur

Rußland hatte das Recht, zu genau bestimmten Fristen und auf vorgezeichnetem

Wege eine Gesandschastskarawane nach Peking zu schicken.

Rußlands Einfluß

war in China immer ein weit größerer, als der der Westmächte und auf seiner ganzen weiten Reise traf Michie überall auf Spuren dieses Einflusses.

lands Gesandtschaft in Peking ist die älteste.

Ruß­

Während Engländer und Franzo­

sen Millionen auf einen Krieg mit China verwandten und das Blut ihrer Söhne in den Straßen Pekings floß, schoben die Russen einfach durch diplo­

matische Verhandlungen ihre Grenzen weiter vor und gewannen große Provinzen des chinesischen Reiches.

Es ist natürlich, daß bei einer viermonatlichen Reise durch die beiden größten Reiche der Welt sich Michie vergleichende Betrachtungen über die beider­

seitigen Verhältnisse derselben aufdringen mußten. Beide Reiche waren im dreizehnten Jahrhundert von den Mongolen unter­

jocht und beide warfen später dieses Joch wieder ab.

Seit jener Zeit haben

Russen und Chinesen immer in Wechselbeziehung gestanden.

Rußland dehnte

seine Besitzungen nach Osten, China nach Westen aus und nun läuft die Grenze

zwischen beiden auf Hunderte von Meilen quer durch Jnnerasien hin. Das siegreiche Vordringen Rußlands in Asien, und die Unterwerfung zahl­

reicher eingeborener Stämme in Sibirien, ward zuerst unterbrochen, als es auf

Nordische Revue. IV. 1. Heft. 1865,

tz

Rußland und China.

82

die in ihrer Art civilisirten und militärisch gut organistrten Chinesen traf.

Da-

mals war China noch im Stande, Rußland Bedingungen aufzuerlegen, wie es 1689 durch den Vertrag von Nertschinsk auch geschah, ohne daß Rußland

jedoch seine weitführenden Pläne aufgab.

Mit der ihm eigenthümlichen Geduld

und Ausdauer rückte es allmählig vorwärts; Waffengewalt und diplomatische

Kunstgriffe — Alles ward angewandt und Schritt für Schritt drang es vor bis endlich im Jahre 1860 General Jgnatiew durch seinen kühnen Handstreich das

Werk krönte.

Rußland war es, das aus dem Siege der Engländer und Franzo­

sen in Peking den größten Gewinn zog, denn zu derselben-Zeit verleibte Jgna­ tiew ohne Widerstand die ganzen Küstenprovinzen der Mandschurei von der Mün­

dung des Amur bis nach Korea dem Zarenreiche ein. Als China zuerst mit Rußland in Grenzstreitigkeiten gerieth, war aller Vortheil auf Seiten des ersteren.

China war ein mächtiges Land, das nur die

kriegerischen Mandschus aufzurufen hatte, um über ein imponirendes Heer zu

gebieten. Geld war im Ueberfiusse vorhanden, weit mehr als in Rußland; seine

Bevölkerung war fleißig, producirend und somit eine unermeßliche Steuerquelle. China handelte vertheidigend, der Kriegsschauplatz lag seinem heimischen Herde

nahe; seine Regierung war stark und intelligent. Rußland dagegen war damals noch weit zurück, seine Regierung der von China nicht gewachsen und das Opera­

tionsfeld weit von Moskau entfernt. Peter der Große flößte dem Zarenreiche neues Leben ein. Außer den vielen

Derbefferungen im Inneren, lag ihm auch die äußere Machtstellung seines Lan­ des am Herzen und die Interessen im fernen Osten desselben vernachlässigte er keineswegs. Aber er sowohl als seine Nachfolger fanden in den Mandschukaisern ebenbürtige Gegner und von den Tagen Kanghis, welcher 1688 die Russen aus

den Amurländern vertrieb, bis auf die neueste Zeit herab, konnte Rußland weiter nichts erlangen, als daß es Handelsgesandtschaften nach Peking schicken durste.

Seine Ainbassaden erschienen dort in

gedemüthigter Sellung,

wie

Bittende oder Tributpflichtige.

Aber Rußland ruhte nicht, es arbeitete an seiner inneren Ausbildung fort, machte sich fremde Erfahrungen zu Nutze und wurde eine große Militärmacht.

Peter, Katharina II und Nikolaus strebten nach Erweiterung der Grenzen. Während so Rußland Fortschritte machte, stand China im besten Falle still.

Durch den ersten englischen Krieg im Jahre 1839 ward der Keim des Verfalles, welchen der verweichlichende Luxus der Mandschudynastie später in dieses Reich gelegt hatte, schnell über ganz China ausgebreitet. Die verkommenen Mandschu-

kaiser hatten die Tugenden ihrer Väter ganz vergessen und waren in Sinnlich­ keit untergegangen.

Eine weit verbreitete Korruption war die Folge dieser

Entsittlichung des Hofes;

Ungerechtigkeit und Bedrückung lasteten aus dem

chinesischen Volke. Räuberbanden verwüsteten die schönsten Provinzen des Reiches, das ganze Gebäude erzitterte in seinen Grundfesten und es fehlte nur noch der

Rußland und China.

83

Mann, welcher die Zügel aus der Hand der unfähigen Lenker nahm.

Trotzdem

war die Verblendung in Peking größer denn je, man schaute mit Verachtung auf die westlichen Barbaren herab und glaubte an die eigene Unüberwindlichkeit, bis

die Einnahme Pekings 1860 alle Einbildungen zerstörte. Die Zeit fürRußlands In den Streitigkeiten mit den Westmächten hatte Ruß­

Ernte war gekommen.

land auf Seiten Ehina's gestanden und als Lohn für diese Freundschaft nahm

es die Amurländer.

China war nicht in der Lage zu widerstehen.

Der Vertrag

ward abgeschlossen und Rußland triumphirte. Die Wichtigkeit dieser Erwerbung für Rußland ist nicht genug zu schätzen. Bis zu jener Zeit besaß Rußland keinen Hafen am stillen Weltmeere, der nicht wenigstens sechs Monate durch Eis geschlossen war. Die neu gewonnenen Küsten

boten dagegen, namentlich in ihrem südlichen Theile, ausgezeichnete Häfen dar,

welche mehrere Monate länger als Nikolajewsk an der Mündung des Amur offen waren.

Die gegenwärtige hilflose Lage China's hat hauptsächlich ihren Grund in dem Verfall des Militärwesens während eines langen Friedens.

Die Chinesen

selbst sind keine Freunde des Kampfes und Krieges, sie sind zu fleißig und zu

erwerbsüchtig, um Menschen, Zeit oder Geld in Fehden zu verwüsten.

Daher

sind sie auch der Gnade und Uiignade sremder Armeen oder einheimischer Räuber­ banden unterworfen. Das Ansehen und die Macht ihrer Regierung waren unter

diesen Umständen dahin. Rußlands Uebergewicht dagegen stieg mit dem Aufschwünge seiner militärischen Organisation. Seine sorwährenden Kämpfe in Europa wiesen es auf die

Ausbildung seiner Armee hin, und auch die Eroberungskriege in Asien verlang­

ten Truppen in großer Anzahl.

großen Militärmacht

Es vereinigte sich Alles, um Rußland zu einer

zu erheben.

Die absolute Herrschaft des Zaren war im

Verein mit ehrgeizigen Plänen einem solchen Ergebnisse ungemein günstig.

Man

hatte in Rußland die von einem starken Willen gelenkten Tatarenhorden gesehen,

welche Asien und halb Europa unterjocht hatten.

Warum sollte man von dem

großen Rußland aus nicht den umgekehrten Zug nach Asien machen? Aber woher

auch die Idee zur Eroberumg Asiens gekommen sein mag, die Geschichte Ruß­ lands in den letzten zwei Jahrhunderten zeigt, wie consequent sie stets verfolgt wurde und wie sehr sie die Politik der Zaren von Peter bis Nikolaus beherrschte.

In einer Beziehung jedoch, so sagt Michie, gleichen sich Rußland und China

sehr, nämlich in der Bestechlichkeit ihrer Beamten, die freilich in Rußland gegen­ wärtig von allen Schichten der Gesellschaft auf das unerbittlichste bekämpft wird.

Die Thatsache selbst ist bis zu einem gewissen Grade von den Regierungen aner­ kannt worden und gilt als

fast untilgbar.

In China ist dadurch eine der

Hauptursachen, durch welche dieses Reich zerfällt, herbeigefuhrt worden.

Rußland dagegen ist die Regierung stärker als dieses Uebel.

In

Es mag dadurch

dem Lande viel Schaden zugefügt worden sein, aber der Wille des Zaren gilt

84

Rußland und China.

doch im entferntesten Winkel des großen Landes. Ungerechtigkeiten der Beamten,

Willkürlichkeiten mögen vorkommen, aber nirgends verweigert man einem Ukase aus St. Petersburg den schuldigen Gehorsam. Alles ist in Rußland dem Ruhme des Zaren und der Militärmacht des Landes Unterthan und Alles wird diesen

beiden geopfert. Es darf nicht abgeleugnet werden, daß die kriegerische und aggressive Politik

Rußlands viel Gutes geschaffen hat. Der verborgene Reichthum wüster Gegenden ist ans Tageslicht gefördert; Handelsstraßen sind durch dichte Wälder angelegt worden, in denen bisher nur wilde Thiere und deren Jäger hausten. Der Pflug

geht über alte Schlachtfelder und blühende Ortschaften erheben sich da, wo früher Wüste und Oede war. Das sind Segnungen der russischen Kriegspolitik, wäh­ rend China mit seinem „Frieden um jeden Preis" täglich mehr zerfällt.

Was bisher angeführt wurde, sind nur zufällige oder äußere Umstände, welche den Charakter der beiden Reiche modrficirten oder auf deren Geschicke ändernd einwirkten.

Die wesentlichen Gründe von Rußlands Aufschwung und

Chinas Verfall liegen viel tiefer.

Rußland ist jugendkräftig, sein nationales

Leben im Aufblühen begriffen, die Barbarei ist abgeschüttelt.

China dagegen

hat schon seit Langem seinen Reifepunkt erreicht; seine Industrie, Kunst, Alles

was seine Civilisation ausmacht, hat den Gipfel erklommen, ein weiteres Fort­ schreiten erscheint nicht möglich. Der Zenith seines Ruhmes liegt hinter ihm.

Man irrt sich aber, wenn man annimmt, China müsse darum seinem gänzlichen Verfalle entgegmeilen. Die Masse des Volkes ist keineswegs entartet; sie ist so

frisch und kräftig, wie sie nur immer gewesen. Nur die Regierung ist alt und

schwach geworden, und ein Wechsel der Dynastie kann China den Glanz wieder verleihen, welcher einem so großen Reiche zukommt. Die unverwüstliche Zähig­ keit der chinesischen Institutionen hat das Land durch viele Revolutionen unver­ ändert bewahrt. Tie eigenartige Civilisation des Volkes, sein Ernst in der Aus­

übung friedfertiger Gewerbe haben es befähigt, seine nationale Existenz unter mehr Dynastiewechseln aufrecht zu erhalten, als bei irgend einer andern Nation der Welt.

A. J.

Zur Charakteristik Platen's. Von K. Elze*).

Wenn wir das Titelbild zu Platen's Werken betrachten, so empfangen wir

den Eindruck eines schönen, schlanken Mannes von stolz aufstrebendem, kühnem Geiste, von feurigem, durchdringendem Blicke und fast antiker Körperbildung.

Wir fühlen uns versucht, diesen Kopf zu einer herrlichen Jünglingsgestalt zu ergänzen, wie sie sich einst bei den olympischen Spielen den Siegeskranz in die

braunen Locken geschlungen haben mag.

Allein das Bildniß täuscht. Mendels­

sohn-Bartholdy, ein eben so feiner als unbefangener und wohlwollender Beob­

achter, hat in seinen Reisebriefen (I, 155 folg.) eine ganz andere Skizze Pla­ tens geliefert, wie wir sie uns dem Bilde gegenüber nicht hätten träumen lassen.

„Graf Platen", so schreibt er, „ist ein kleiner, verschrumpfter, goldbebrillter, heiserer Greis von 35 Jahren. sehen anders aus.

Er hat mir Furcht gemacht.

Die Griechen

Er schimpft auf die Deutschen gräßlich, vergißt aber, daß

er es auf Deutsch thut."

Eine ähnliche, schmerzliche Enttäuschung wie hinsicht­

lich seiner äußern ist uns auch in Bezug auf Platen's geistige Gestalt durch seinen

vor mehreren Jahren herausgegebenen Briefwechsel und durch sein 1860 erschie­ nenes Tagebuch bereitet worden.

Wäre es nicht bereits ein alter Erfahrungs-

*) Der geehrte Verfasser des vorstehenden Aufsatzes sagt weiter unten: „Der Gegenstand dieser Zeilen ist nicht Platen's Poesie, sondern sein Charakter." Wir glauben von vornherein auf diese Aeußerung aufmerksam machen zu müssen, und betonen sie unsererseits um so mehr, als der Verfasser seine Schätzung des Dich­ ters Platen doch durchblicken läßt — eine Schätzung, der unser eigenes Urtheil in sehr wesentlichen Stücken entgegen ist. Auch daß man über den Charakter Platen's nach Prüfung aller hier in Betracht kommenden Documente nicht unbedingt das Urtheil des Verfassers unterschreiben muß, wollen wir uns und unsern Lesern nicht verhehlen. Doch bleibt jedenfalls die correcte und präcise Art, sowie die höchst schätzenswerthe Objektivität anzuerkennen, mit welcher er aus Platen's Tagebuch und Briefen seine Beurtheilung, so zu sagen, Punkt für Punkt motivirt. Ueber die Frage, inwieweit Tagebücher, Briefe, mit einem Worte Selbstbekenntnisse eine unfehlbare Grundlage zur Beurtheilung eines Charakters oder seiner Handlungen bilden, hoffen wir bald einmal Gelegenheit zu finden, unsere eigene Ansicht zu entwickeln. D. Ned.

86

Zur Charakteristik Platen'-.

satz, daß gerade die nicht für den Druck bestimmten Briefe und Tagebücher

das lebendigste und ungeschminkteste Abbild von dem geistigen Leben und Wesen

eines Schriftstellers oder Künstlers geben, so hätte eine eben so mannichfaltige

als werthvolle Reihe derartiger Spenden, welche in den letzten Jahren unserer Literatur zu Theil geworden ist,

diese Thatsache über jeden Zweifel erheben

Dahin gehören außer Mendelssohns eben erwähnten Briefen Kleist's

müssen.

Briefe an seine Schwester Ulrike, Börne's Briefe an Frau Hertz, Heine's Briefe

an Moser, Varnhagen's und Humboldts Briefwechsel, Rietschel's Autobiographie

u. a.

Dieser Reihe von Schriften schließen sich auch Platen's Briefwechsel und

Tagebuch an (der Zeit nach gingen sie ihnen voraus) und die bisherige Cha­

rakteristik Platen's, wie sie z. B. Gödeke in der bekannten trefflichen und nur zu lobrednerischen Biographie vor den Werken gegeben hat, dürfte nach ihnen eine

Vom Tagebuche ist vorerst

nicht unwesentliche Umgestaltllng erfahren müssen.

nur der Anfang bis zum Jahr 1815 herausgegeben und zwar in einer Bearbei­ tung des verstorbenen Kirchenraths Engelhardt,

eines persönlichen Freundes

Platen's, so daß der Herausgeber Pfeufer, gleichfalls ein persönlicher Freund des

Dichters, dieselbe als die „ausschließliche Arbeit Engelhardt's" bezeichnet.

Es

ist dabei aus Platen's sehr umfangreicher Handschrift alles Anekdotenhafte weg­ gelassen und nur das beibehalten, „was seine Bildung zum Dichter zu erklären

geeignet ist" (Vorrede VI).

Ob durch diese durchgängige Zusammendrängung

auch die eigenthümliche Färbung eine Aenderung erlitten hat, läßt sich aller­ dings nicht sagen, ist jedoch kaum

anzunehmen.

Was hingegen den Brief­

wechsel anbelangt, so liegt er, so viel sich ersehen läßt, durchaus in seiner nr. sprünglichen, unbearbeiteten Gestalt vor.

Wenn wir jetzt versuchen, im Umrisse die Sunune dessen zu ziehen, was uns Briefwechsel und Tagebuch an Ausschlüssen über Platen's Bildungsgang

und Charakter gebracht haben, so müssen wir mit der Thatsache beginnen, daß er

keineswegs unter günstigen Verhältnissen geboren war.

Das Wenige, was wir

über das Leben der Familie erfahren, gewährt durchaus keinen befriedigenden oder erfreulichen Eindruck, wenngleich wir dem Dichter auf sein Wort glauben,

daß er von „höchst würdigen" Eltern geboren wurde.

Von seiner ersten Gattin

hatte sich der Vater scheiden lassen, und unser Dichter lernte seine sechs Halb­ geschwister aus dieser ersten Ehe kaum kennen.

Nur des Bruders und der einen

Stiefschwester wird ein oder zwei Mal im Vorbeigehen gedacht — der letztem,

weil ihr Besuch im väterlichen Hause den Dichter verhinderte gleichfalls dahin zu reisen.

Jedenfalls waren die fünf Schwestern der Mutter gefolgt.

„Die

erste Ehe meines Vaters", heißt es im Tagebuche (91, vergl. 106), „war eine

unglückliche und brachte tausend Unfälle über unser Haus."

Aus der zweiten

Ehe des alternden Oberforstnieisters (er war 48 Jahre alt, als Augllst geboren wurde) blieb der Dichter das einzige Kind, da ein jüngerer Bruder drei Jahre

alt starb.

Allem Anschein nach war der Vater streng, kalt und pedantisch, ließ

jedoch dem Kinde, nach Platen's eigenen Worten, eine „einfache und unver­

zärtelte" Erziehung zu Theil werden.

wie er versichert, nie gesagt worden.

Daß er adliger Abkunft sei, ist Platen,

Mit der körperlichen Erziehung scheint es

jedoch nicht zum Besten bestellt gewesen zu sein; Platen wurde weder ein Reiter, noch ein Jäger, weder Turner noch Tänzer.

Die einzige Körperübung, an

welcher er Freude fand, war das Schlittschnhlailfen; schwimmen lernte er erst als Mann in Italien.

Wir lesen nichts davon, daß der alte Platen seinen

Sohn mit in den Wald genommen, ihm ein Gewehr in die Hand gegeben oder

Allerdings war der Knabe erst 10 Jahre alt,

ihn auf ein Pferd gesetzt hätte.

als er das elterliche Haus verließ; umsomehr hätte er als Kadett, Offizier und Student die physische Seite der Erziehung femten lernen und nachholen sollen, allein auch da erwarb er sich keine Kunstfertigkeit in den ritterlichen Uebungen

des Jünglingsalters — ja er erwähnt sie nicht einmal.

Des Vaters Amts­

geschäfte brachten es mit sich, daß der Knabe viel mit der Mutter allein blieb;

sie las ihm vor und suchte ihm Geschmack für Lektüre einzuflößen,

Aber auch

sie scheint theilweise grilligem Pedantismus verfallen gewesen und in ihrem Wesen wenig Weiches und weiblich Hingebendes besessen zu haben.

Es liegen

Anzeichen vor, daß sie eine von den predigenden Müttern war; auch zog sie sich

allmählich gänzlich menschenscheu von allem Umgänge zurück.

In den Briefen

an ihren Sohn bediente sie sich bis an seinen Tod der französischen Sprache ausgesprochener Maßen um ihn in Uebung zu erhalten. Aus demselben Grunde mußte dieser dem Vater französisch schreiben, während er der Mutter, wenigstens

in den veröffentlichten Briefen, deutsch antwortete.

Das übelste Mißverhält­

niß, das einen Schatten auf Platen's ganzes Leben geworfen hat, war seine

hochadlige Geburt bei gänzlichem Mangel eines auch nur bürgerlichen Bedürf­ nissen entsprechenden Vermögens.

Dieser Umstand war es, der ihn als 10jüh-

rigen Knaben in das Münchener Kadettencorps führte.

Die Schilderung,

welche er vom Leben und der Erziehung der Kadetten entwirft, erinnert man-

nichsach an die hohe Karlsschule.

„Alles ging nach der Uhr; Glocke oder

Trommel oder Trompete gaben das Zeichen zu allen Beschäftigungen."

So

selbstverständlich diese militärische Disciplin in einer Kadettenanstalt ist, so wenig läßt sich verkennen, daß sie auf Platen's Entwickelung von nachtheiligem Einfluß war, indem sie die ihm angeborene Anlage zum Pedantismus, welche

schon durch die häusliche Erziehung befördert war, weiter ausbilden half. Den drei Klassen der Censuren entsprachen drei Klaffen von Tischen; „auf den guten wurde am meisten, auf den schlechten am wenigsten Essen gereicht." Platen hielt

sich stets auf den mittleren.

Die Lektüre und der Briefwechsel der Kadetten

wurden strengstens beaufsichtigt und dem jungen Platen wurde sehr verargt,

daß er Verse machte.

Er mußte vielfachen Spott deshalb erdulden.

Platen

verhehlte nicht, wie sehr er nachgerade das Drückende seiner Lage fühlte und

sich aus dem Kadettenhause heraussehnte, was ihm natürlich die Unzufrieden-

88

Zur Charakteristik Platen'S.

heit des Vorstandes nur in erhöhetem Maße zuzog.

Strafen folgten auf Stra-

fen, und der Unzufriedenheit mit ihm hielt sein Trotz das Gleichgewicht.

Platen war kein Schiller.

Aber

Was diesen zu thatkräftigem Handeln und endlich

zu gewaltsamer Selbstbefreiung trieb, veranlaßte jenen nur sich immer eigen­

sinniger und mürrischer in sich selbst zurückzuziehen.

Schiller überwand den

äußern Druck auch äußerlich, weil er ihn vollständig innerlich überwunden hatte;

Platen setzte ihm nur einen intermittirenden innern Gegendruck entgegen; zu seiner schüchternen Schweigsamkeit, seiner unfruchtbaren Selbstbetrachtung und verbitterten Melancholie wurde hier der Grund gelegt, soweit es nicht bereits

im Eltemhause geschehen war. Aus dem Kadettenkorps trat der junge Platen in die Pagerie, die er in vieler Hinsicht als eine Erlösung von Druck und Zwang betrachten durste.

Er

war nicht ungern bei Hofe, obwohl er wie die übrigen Pagen bei Tafel aufwarten, die Schleppen der Damen tragen und beiKirchenseierlichkeiten allerhand

Dienste thun mußte.

„Das Leben am Hose", so schreibt er, „machte doch einen

großen Eindruck auf mich.

So kleinlich auch manches bei näherer Betrachtung

sein mag, so hat doch alles äußerlich den Schein des Großen und Sorgenfreien. Wie die Zauberspiele eines Gauklers gewährt es einen erfreulichen Anblick,

wenn man dem innern Räderwerk nicht nachspürt."

Mit naiver Offenheit ge­

steht Platen, daß er beim Austritt aus der Pagerie sich am schwersten von sei-

nem schönen Galakleide getrennt habe, das ihm so theuer gewesen wie Werthern sein blauer Frack, wenngleich er später die Offiziersuniform, die doch fast alle

Jünglinge bethört, keineswegs liebte, sondern die bürgerliche Kleidung auf­ richtig vorzog.

Zwei Wege waren es, welche aus der Pagerie herausführten, das akade. mische Studium mit der darauf folgenden Beamtenlaufbahn und der Offizier­

stand.

Die Edelknaben der ersten Kategorie erhielten vom Könige während

ihrer Studienzeit eine Jahresunterstützung von 600 Gulden.

Trotz der trüben

Erfahrungen in der Kadettenanstalt wählte Platen den Offizierstand und zwar

aus den merkwürdigsten Beweggründen und gegen den Rath seiner Freunde. Er wollte Offizier werden, nicht um Offizier, sondern um Bücherwurm und

Dichter zzi sein.

„Mein Entschluß Soldat zu werden," schreibt er im Tage­

buche 30, „bleibt fest, obwohl viele, die mich kennen, mir davon abrathen.

Es

sind Motive, welche nicht von dem Wesen des Soldatenstandes hergenommen sind, die mich bestimmen, sondern die durchaus den Poeten betreffen — die viele

Muße, die ich mir verspreche, die Hoffnung die Welt zu sehen, der Aufenthalt in der Hauptstadt, die mir unter andern Vortheilen besonders eine große Bibliothek bietet. Dagegen halte ich die schlechten Aussichten im Civildienste und das mir verhaßte

Leben auf Universitäten, wo man sich entweder ganz der ungeselligen Einsamkeit,

oder dem allzugeselligen Strudel übergeben muß, und die Furcht vor Provinzial­ städten."

An die Garnisonen in den Provinzialstädten denkt er nicht.

MarH

darf eS freilich mit dieser hohlen und widerspruchsvollen Motivirung nicht genau

nehmen, denn Platen zählte noch nicht 18 Jahre, als er im März 1814 das Lieutenantspatent erhielt.

nur zu bald ein.

Was seine Freunde vorhergesehen' hatten, Iras leider

Vielleicht hätte es ihn mit dem gewählten Stande ausgesöhnt,

wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, sich an dem Befreiungskämpfe gegen den von Elba zurückgekehrten Napoleon zu betheiligen, und sein jugendlicher Thaten­

drang wiegte sich ohne Zweifel um so mehr in solchen Hoffnungen, als sein Regi­

ment wirklich im April 1815 Marschbefehl nach Frankreich erhielt.

Allein schon

in Saargemünd empfingen sie die Kunde von der Schlacht bei Waterloo, so daß

sich der erträumte Feldzug in einen thatenlosen und langweiligen Hin- und Rück, marsch — eine militärische Promenade — auflöste.

Unter solchen Umständen

mußte natürlich der unauflösliche Zwiespalt zwischen Platen's Charakter und

seinem Stande bald zum Ausbruch kommen. Zur Parade erschien er in Nankin­ beinkleidern statt der befohlenen blautuchenen; zum Exerciren, das seine Stu.

dien unterbrach, kam er zu spät; auf dem Marsche in Frankreich vertiefte er sich mit einem Kameraden in tagelange Gespräche über Literatur und Poesie, ja er las ihm sogar unterwegs seine Gedichte vor und übersetzte Pope's Versuch über

den Menschen; auf der Wache am Jsarthore studirte er Fichte's Bestimmung des Menschen, Lucian und Lord Chesterfields Briefe; von der gewöhnlichen adligen Offiziersgeselligkeit schloß er sich aus und ging lieber mit Bürgerlichen, nament­ lich mit jungen Lehrern um.

Er war mit einem Worte unter den Offizieren

das, was die Studenten ein Kameel nennen. Wiederholte Verweise und Strafen

konnten dabei natürlich nicht ausbleiben. Sein Oberst, der ein alter Gamaschen­

held gewesen zu sein scheint, verhehlte seine Unzufriedenheit und Abneigung gegen ihn nicht und erklärte ihn geradeswegs für untauglich zum Soldaten.

In der

That war all sein Dichten und Trachten nicht auf das Schwert, sondern auf die

Feder und die Bücher gerichtet.

Diese wurden bald sein Eins und Alles, in

ihnen concentrirte sich immer mehr seine ganze Neigung und Kraft, wie sich bei

einem kurzen Ueberblick über den Gang seiner Studien des Nähern zeigen wird. Wenn wir bemerkt haben, daß das Kadettenhaus — wie nachher die

Pagerie und das Regiment — einen befördernden Einfluß auf Platen's Pedan­

tismus geäußert habe, so mag das als ein Widerspruch zu seinem Verhalten als

Offizier erscheinen, allein es erscheint eben nur so.

Es erging ihm wie allen

pedantischen Gelehrten/ Er wollte und konnte sich nicht einem äußerlichen Sche­ matismus unterordnen; er verlangte Freiheit nur um seinem Pedantismus auf dem ihm eigenen Gebiete nachhängen zu können.

Sern Formalismus war

ein innerlicher und wurde das durch den Drllck der militärischen Maschinerie in immer höherem Grade. Der archimedische Wunsch, in seinen Cirkeln nicht länger

gestört zu werden und das Bedürfniß, Einheit und Abschluß in seine Studien zu bringen, wurde endlich so lebhaft, ja leidenschaftlich, daß er sich zum Besuch der

poch vor Kurzem verabscheueten Universität entschloß und sich durch seine Gönner

Hur Charakteristik Plateu'S.

90

nicht allein den dazu nöthigen Urlaub, sondern auch das königliche Stipendium von 600 Gulden erwirkte.

So bezog er im April 1818 die Universität Würz­

burg, die er später mit Erlangen vertauschte.

Daß er, der Graf und Offizier,

zu diesem Behufe nachträglich sein Gymnasialexamen ablegte, ist ein ehren­

volles Zeugniß seines gediegenen Strebens. Aus dem Tagebuche geht deutlich hervor, daß Platen als Student — wie

er als Offizier gewesen war — um seine eigenen V)orte zu gebrauchen, ein nichts weniger als liebenswürdiger Mensch war.

Er war nun frei und konnte seine

Lebensweise seinen Neigungen gemäß gestalten. Allein ihin fehlte alle Leichtigkeit

und Fröhlichkeit der Jugend. Wir hören nie von einem luftigen Jugendstreiche,

den er ausgeführt oder an dem er sich betheiligt hätte.

Er wußte, was man bei

seinem Stande am wenigsten erwarten sollte, sich nicht in Gesellschaft zu bewegen; er war zaghaft, verlegen, ungewandt und altklug, und war sich dieser Mängel bewußt. Sein Freund Fugger wünschte ihm Stolz und Selbstgefühl, ein Wunsch, der leider tausendfältige Frucht getragen hat, während ein anderer, den ihm

Fugger einige Jahre später ans Herz legte, leider unter die Dornen fiel, näm­ lich der Wunsch, daß er sich eines heitern Humors erfreuen möge, um Dinge und Menschen in einem bessern Lichte zu betrachten.

Platen war stets und mit

Allem unzufrieden; zeitweise bemächtigte sich seiner, wie ihm Fugger schreibt

(Nachlaß I, 76) ein krankhaftes Mißbehagen, wobei ihm gar nichts genügte und er nie froh ward, als wenn er etwas geradezu abstoßen konnte.

Die Keime

dieser Eigenschaften waren seinem geistigen Wesen gewiß angeboren, waren dann aber durch seine Erziehung in dem kinderleeren Elternhause ausgebildet wor­

den.

Jedenfalls hatte es ihm gn Umgang mit andern Kindern gefehlt, an

denen er sich hätte abschleifen können.

Die Einsarnkeit, an die er sich so ge­

wöhnt hatte, setzte er später aus Neigimg fort, und im Kadettenkorps wie in der

Pagerie fehlte ihm der bildende Familienkreis und namentlich der Frauenum­ gang gänzlich. gemünzt.

Ein Wort Göthe's paßt aus Platen's Lage als wäre es auf ihn

„Weil wir doch einmal so gemacht sind," so heißt es im Werther,

„daß wir Alles mit uns und uns mit Allem vergleichen, so liegt Glück oder

Elend in den Gegenständen, womit wir uns zusammenhalten, und da ist nichts gefährlicher als die Einsamkeit."

Auf diese Weise erklärt sich auch Platen's Un­

beholfenheit den Damen gegenüber.

In der Pagerie hieß er seinem eigenen

Geständniß zufolge „ohne Umschweife der Narr", und seinen Lehrern galt er für durchaus excentrisch. Von seiner Altklugheit giebt es einen merkwürdigen Beleg,

daß er den in seine Werke aufgenommenen Codex von Lebensregeln bereits in

seinem 20. oder 21. Jahre verfaßte, während eine solche Arbeit sonst nur die Frucht gereifter Männlichkeit und Lebenserfahrung zu sein pflegt.

Bezeichnend

ist das Mittel, welches Platen anwandte, um die ihm mangelnde Kunst des Um­

ganges zu erwerben; statt sich in die Gesellschaft selbst zu begeben, studirte er

auf seinem Zimmer die einschlagenden Werke von Knigge, Nicolai, Garve und

Pockels (Tagebuch 139), als ob Jemand ein Schwimmer werden könnte, wenn er selbst die besten Werke über die Schwimmkunst auswendig lernte.

„Das ge­

sellschaftliche Leben in den Kreisen, denen ich angehöre," sagt Platen im Tage­

buche 137, „ist mir drückend und unerträglich.

Ich fühle wohl, daß ein großer

Theil der Schuld hiervon an mir selber liegt.

Ich weiß mich gar nicht bei

gewöhnlichen Gesprächen zu unterhalten, was doch so nöthig ist für jeden Mann,

und besonders für einen jungen Menschen nieines Standes als Adeliger und

Offizier."

Daß sich Platen von der Fadheit und Hohlheit der gewöhnlicheil

aristokratischen Geselligkeit abgestoßen fühlte, wird ihm Niemand verübeln; aber er fand überhaupt keinen Gesellschaftskreis, in dem er sich zu unterhalten oder

zu zerstreuen vermocht hätte.

So saß er in Gesellschaft stumm da — der Her­

ausgeber des Tagebuches sagt, er sei oft von einer beleidigenden Schweigsam­ keit gewesen — und vertraute dann nach der Nachhausekunft das, was er hätte

sagen können und sollen, seinem Tagebuche an.

„Wer Jahre lang", bemerkt

der Herausgeber sehr richtig, „ein Tagebuch nicht etwa blos der äußeren Be­ gebenheiten, sondern des eigenen Herzens führt, wer jede Kränkung, jeden Schmerz, jede Täuschung, jeden wirklichen oder eingebildeten Fehler mit der gewissenhaften Treue eines Chronisten einregistrirt: der zeigt eben hierdurch, daß ihm der heitre, unbefangene Genuß des Daseins versagt ist."

Dieser Zaghaftigkeit und Unbeholfenheit in der Gesellschaft stand in Platen's Jnnerm das Bewußtsein seines Strebens gegenüber, das allmählich in das

Bewußtsein seines Werthes überging.

In Bezug aus den reinen und unermüd­

lichen Eifer, mit welchem er an der Veredlung seines Herzens wie an der Bildung seines Geistes arbeitete, mußte er sich natürlich manchen überlegen fühlen, die in der Gesellschaft eine Rolle spielten, ohne doch die Gesellschaft überzeugen zu können, daß er begründetere Ansprüche auf ihre Beachtung und Werthschützung

besitze.

Um dem Joche und der Demüthiglmg des Alltagslebens zu entgehen,

flüchtete er sich daher in die Welt der Bücher.

„Ich lebe eigentlich nur noch in

den Büchern", schreibt er im Tagebuche, was ihm freilich auch nur eine halbe Befriedigung gewährte.

Denn er war zu der Einsicht gelangt, daß „das wahre

Glück des Menschen in der Thätigkeit besteht." Ruhmsucht,

Er fühlt Thatendrang und

An seinem 20. Geburtstage trägt er „einstigen Dichterruhm und

eine diplomatische Laufbahn" als seine liebsten und kühnsten Wünsche in das

Tagebuch ein.

Abgesehen davon, daß sich diese beiden Wünsche schlecht genug

mit einander vertragen, war Platen, wie wir ihn eben geschildert haben, völlig ungeeignet zum Diplomaten, und es spricht sich eine auffallende Verkennung

seiner selbst in diesem öfter als höchstes Ziel hingestellten Wunsche aus.

Uebri-

gens schloß die Neigung zur Diplomatie keineswegs öftere Schwankungen aus, sondern wir sehen Platen — wie so ost begabte Jünglingsnaturen — im Gegen­

theil in fieberischer Hast bald aus diese, bald auf jene Idee zufliegen, welche sei­ nen Thätigkeitstrieb und seine Ruhmliebe zu befriedigen verspricht.

Einmal

92

Zur Charakteristik Platen'S.

ersaßt ihn plötzliche Sehnsucht nach Amerika; er möchte Sprachlehrer in Phila­

delphia werden und sich so gern sein Glück selbst bauen.

„Die Vereinigten

Staaten", so heißt es im Tagebuche, „sind wohl noch das einzige Land, wo man

sich auch mit geringen Talenten eine erträgliche Existenz verschaffen kann.

In

meinem Vaterlande habe ich nichts zu erwarten, mein Stand, den ich nicht abschütteln kann, widersteht mir."

Wenige Wochen später fühlt er sich wieder

mächtig nach Italien hingezogen.

Ein ander Mal spricht er davon, sich dem

Forstfache zu widmen, obwohl ihn seine Studien dazu nicht im Mindesten be­ fähigten.

Als der einzige Anfang, welcher ihn möglicherWeise zu einer

diplomatischen Stellung hätte führen können, läßt sich sein Wunsch ansehen, in das

Gefolge der Prillzessin von Wales ausgenommen zu werden, welche im Begriffe stand, eine Reise nach Persien zu unternehmen.

Stehenden Fußes begab sich

Platen, ohne jede Jntroduction, in das Hotel der Prinzessin in München, als

er bei ihrer Durchreise durch diese Stadt die Sache aus der Zeitung erfuhr,

mußte aber zu seinem Leidwesen hören, daß der Plan bis auf Weiteres aufge­ geben sei. Uebrigens mögen ihn auch hierbei sicherlich mehrHafisische als diplo­ matische Neigungen getrieben haben. Platen's Studien steuerten überhaupt keineswegs auf einen künftigen Ge­

sandten, sondern auf einen Literator oder Bibliothekar los.

Den letztem Beruf

rieth ihm auch Schelling mit richtigem Takte an. Mit dem Fleiße der Verzweif­ lung stürzte er sich in die Erlernung todter und lebender Sprachen und erwarb

sich, größtentheils ohne fremde Hülfe, eine größere oder geringere Kenntniß des Griechischen, Lateinischen, Französischen, Englischen, Italienischen, Spanischen,

Portugiesischen, Holländischen, Schwedischen, Dänischen, Persischen, Arabischen

u. s. w.

Er las, um nicht zu sagen verschlang, alle klassischen Dichter in ihrer

Ursprache, vornehmlich Homer, Virgil und Horaz, Shakespeare, Milton und

Byron, die französischen Tragiker, Oehlenschläger, Dante, Tasso, Ariost und

Boccaccio, Cervantes und Camoens, und mehr als alle endlich Hafis.

Dieser

poetischen Lektüre, welche Platen das Zurechtfinden in der Welt der Wirklichkeit natürlich nicht zu erleichtern vermochte, hielt die prosaische kein genügendes Gleichgewicht, kaum hier und da findet sich ein geschichtliches, geographisches

und noch weniger ein naturhistorisches Werk verzeichnet, das Platen zur Hand genommen hätte.

In der Philosophie war er eine Zeit lang sehr eifrig, ohne

jedoch in die Tiefe zu dringen.

Im Gegentheil schwärmte er, was seinem kriti­

schen Blicke kein glänzendes Zeugniß ausstellt, für den mittelmäßigen Philo­

sophen Joh. Jak. Wagner (in Würzburg) wie für den mittelmäßigen Dichter-

Heyden (besonders für dessen Renata und Konradin) und den mittelmäßigen Mystiker Kanne, den er für den tiefsten Sprachphilosophen erklärt, der vielleicht

je gelebt (Tagebuch 212).

In Heyden, den er hoch über Göthe stellt, erblickt

er den Gipfel der Poesie, die Zusammenfassung von Shakespeare und Calderon,

oder mit specieller Rücksicht auf die deutsche Poesie, von Göthe und Schiller

(Tagebuch 201). Ueber Göthe dagegen, den er verschiedentlich herabsetzt, schreibt

er u. a. im 1.1828 an Fugger: „Was hilft im Grunde der ganze Umfang des

Göthe'schen Genies, wenn er doch, außer seinen Romanen, nichts eigentlich Voll, endetes und absolut Klassisches hinterläßt?"

Es war natürlich, daß Platen nicht beim Lesen der Dichter stehen blieb;

er begnügte sich nicht damit in sich aufzunehmen, schaffen.

er versuchte auch selbst zu

Nach seinem ganzen Bildungsgänge erscheint jedoch seine schöpferische

Kraft nicht als eine ursprüngliche, sondern als eine durch die Reception hervor­ gerufene.

Schon in früher Jugend trug

er sich

namentlich zu einem großen nationalen Epos. Wasa

mit dichterischen Planen

Zuerst erkor er sich Gustav

zum Helden aus; dann ließ er diesen Stoff fallen und arbeitete an

einer Dichtung unter dem Namen: „Die Harfe Mahonteds", die gleichfalls unvoll­

endet geblieben ist.

Auch an Odoacer dachte er einmal und in seinen letzten

Jahren in Italien beschäftigte ihn lange Zeit der Gedanke, die Geschichte der Hohenstaufen episch zu bearbeiten.

Uebrigens diente er der Muse von Anfang

an wie Faust dem lieben Gotte „auf besondere Weise", indem ihm seit seinen ersten Versuchen die Formvollendung als höchstes Ziel galt, was ihn daher

von Anfang an zur unermüdlichsten Feile trieb.

Dichter der Feile.

Er ist par excellence der

Durch das Studium des Hafis und durch die demselben

nachgebildeten Gaselen versenkte er sich immer mehr in den formalen Charakter der Poesie; später, als er „den Orient abgethan", eignete er sich die Kunstfor-

men der Griechen an, bis er endlich ganz in der Poesie der Form aufging.

Von

Tag zu Tage füllte die poetische Komposition seinen Geist immer ausschließlicher aus, so daß er zuletzt in Italien dahin kam, an Schelling zu schreiben, Leben

und Tod sei ihm völlig gleichgültig, nur seine poetische Existenz interessire ihn. Die immer von neuem auftauchenden Zweifel an seinem Dichterberufe sind es,

welche ihm fortwährend trübe Stunden verursachen und ihn oft der Verzweif­ lung nahe bringen.

Er thut sich, wie er sagt, an keinem Tage genug; er findet,

die Poesie sei bei ihm nur eine Jugend- und Liebesergießung und will ihr ent­

sagen; er traut sich wenig lyrisches Talent zu und erklärt alle seine Sachen für

unglaublich schwerfällig.

Zwischendurch kommt ihm wieder der Gedanke, daß

die Früchte so emsigen und edeln Strebens nicht schlecht sein können; gute Ur­ sachen, das ist seine geheime Schlußfolgerung, müssen doch auch gute Wir­

kungen hervorbringen.

Aehnlich

wie Gretchen hatte er das Gefühl, alles

was ihn zu seinen Gedichten getrieben, sei doch so lieb und gut gewesen und folglich könnten die Gedichte selbst auch nicht anders als gut sein.

Einmal

bricht er ähnliche Bemerkungen mit den Worten ab: „Ich fange schon wieder

an, mir selbst zu räuchern" (Tagebuch 7 8).

Allein diese Selbsträucherung kehrt

allmählich in immer kürzern Zwischenräumen wieder, bis die ursprüngliche Selbst­

verzweiflung in Selbstvergötterung übergeht. Es ist dies keineswegs der einzige Gegensatz, welchem wir in Platen's Ent-

§4

Zur Charakteristik Platens.

Wickelung begegnen, im Gegentheil glauben wir gerade in dem UeberspringeN

von einem Aeußersten zum andern einen wesentlichen Charakterzug desselben zu

erkennen.

Ein der harmonischen Vermittlung mit der Außenwelt so sehr ent­

behrender Charakter, der sich mit seinen Mitmenschen nicht ins Gleichgewicht zu setzen vermochte, muß natürlich bedeutenden Schwankungen ausgesetzt sein, und

mit Recht hat ihm schon sein vertrautester Freund, Fugger, mehrfach das„Wankelmüthige,

Unruhige und Bewegte seiner Gemüthsart" vorgehalten; Fugger

kannte seine Launen und Grillen und scheute sich nicht, sie gegen ihn selbst beim

rechten Namen zu nennen.

Ist es nicht auch ein Sprung zum Gegensatze, daß Platen Deutschland gegen Italien vertauschte? Bei seiner ersten Reise nach Oberitalien (1824) be­

merkt Platen über den Eindruck, den Venedig auf ihn hervorbrachte: „Venedig zieht mich an, ja es hat mich mein ganzes früheres Leben vergessen lassen, so

daß ich mich in einer Gegenwart ohne Vergangenheit befinde.-------- Ich fühle eine unendliche Trägheit mich vom Platz zu bewegen, und doch empfinde ich auf

der andern Seite, wie wenig Italien die Heimath eines Deutschen sein könne, wie gleichsam seine ganze Natur sich ändere, und wie

gedankenlos er sich in dieser Periode seines Lebens vorkomme.

Auch die poe­

tische Ader scheint gänzlich versiegt zu sein; nur eine kleine Reihe, zum Theil

noch unvollendeter Sonette ist entstanden, die sich ganz auf Venedig beziehen." Nebenbei bemerkt zeigen die „unvollendeten Sonette" unseres Bedünkens

recht deutlich, daß sie nicht sowohl Erzeugnisse begeisterten Ergusses, als müh­

samer Verstandesthätigkeit sind. — Und doch wurde Italien wenige Jahre später Platen's zweite Heimath! Hier verfiel er plötzlich aus dem Brüten über einem

wahren Wüste von Büchern in ein ästhetisches Schlaraffenleben — ohne Bücher,

ohne Umgang versank der vor Kurzem noch so thatendurstige Jüngling in eine Unthätigkeit, welche ihm von seinen Freunden leider ohne Erfolg vorgehalten wurde. Daß wenigstens seine italienischen Studien den in Deutschland gepfloge­ nen nicht entfernt an die Seite gestellt werden können, läßt sich schon jetzt mit

Bestimmtheit behaupten, obwohl nur der noch ungedruckte Theil des Tagebuches

darüber volle und zuverlässige Auskunft zu geben vermag. Ein seltsamer Beweis

fürPlaten'sErschlaffung ist es auch, daß er aus Langeweile, wie er selbst ge­

steht, in Italien die Flöte spielen lernte. Darauf pflegte er die Melodien zu blasen, welche sein Freund Fugger zu seinen Liedern setzte.

Andere Lieder interessirten

ihn wenig; nur nach Lützow's Wilder Jagd trachtete er so lange, bis er sie erlangt hatte und auf der Flöte blasen konnte.

„Sie nimmt sich vorzüglich

hübsch auf der Flöte aus", schreibt er an Fugger, der ihn öfter wegen seiner Flöte verspottet.

Lützow's wilde, verwegene Jagd auf der Flöte ist übrigens

eine so köstliche Blüthe ästhetischer Verirrung, daß wirklich „die Aesthetiker etwas für das Komische daraus lernen können" wie Pütten von seiner verhängniß-

vollen Gabel rühmt.

Auch in Platen's ästhetischen Anschauungen begegnen wir nicht minder auf­

fallenden Widersprüchen und Sprüngen.

Daß vor der in Italien ihn überall

umgebenden Klassizität der Geschmack an nordischer Romantik gänzlich schwin­ den und sein Formensinn sich immer entschiedener, zugleich aber auch immer ein­ seitiger ausbilden mußte, ist begreiflich genug.

Kein Leser aber wird ahnen,

bis zu welchem Grade Platen ein Bewunderer entgegengesetzter Richtungen gewesen war, Keinem würde bei der verhängnißvollen Gabel oder dem roman­ tischen Oedipus der Gedanke beikommen, daß der Dichter derselben wenige Jahre

früher Müllner's Schuld, die er im Rhampsinit eine Mißgeburt der Zeit getauft

hat, als ein ausgezeichnetes Stück und den 24. Februar als ein Meisterwerk gepriesen hat, wenn er es nicht im Tagebuche 103 und 203 mit unzweideutigen Worten ausgesprochen fände.

Eben so wenig sollte man denken, daß der be­

rühmte Sonettist Platen noch ‘im Jahre 1818 bekennt, dem Sonett in keiner

Sprache Geschmack abgewinnen zu können, so wie daß er den Petrarka „fade" findet.

Was Platen's Selbstvergötterung anbelangt, auf die wir nochmals zurück­ kommen müssen, so versucht Pfeufer in der Vorrede zum Tagebuche dieselbe aus der Beschäftigung mit der orientalischen Poesie zu erklären, zu deren Styl aller­

dings das Sclbstlob des Dichters gehört.

Entschuldigung.

Das ist jedoch eine sehr schwächliche

So wenig sich Göthe oder Rückert davon haben anstecken

lassen, eben so wenig würde das bei Platen der Fall gewesen sein, wenn nicht dieser orientalische Zug seinem eigensten Wesen entsprochen hätte.

In dieser

Hinsicht steht Platen's Briefwechsel ganz einzig da. Was anfänglich nur in ver­ einzelten und unterdrückten Tönen aus dem Innersten des Dichters hervorklang,

verstärkt sich hier zu immer volleren Accorden, bis schließlich gar kein anderer Ton mehr gehört wird, als der des unerhörtesten Eigenlobes und im Anschlusse daran der des Hasses und der Verachtung gegen diejenigen, welche nicht in Be­

wunderung seiner Werke zerfließen.

Wie sich Kaiser und Könige selbst die

Krone aufgesetzt haben, so ist Platen ein Dichter, der sich selbst gekrönt hat.

Wir kennen seine Ausrede, daß er nicht sich, sondern den in ihm wohnenden Gott preise.

Sie kann uns nicht abhalten, in seiner Eitelkeit und Selbstüber­

schätzung eine krankhafte Geistesverstimmung zu erblicken, die wohl geeignet

gewesen wäre, für ein längeres Leben Besorgnisse der ernstesten Art zu erwecken. Man lese nur, wie er sich über den gläsernen Pantoffel ausspricht oder wie er

die Gabel als ein Meister- und Musterstück ausstellt.

Seinem Vater weiß er

nichts $ii schreiben, als vom Reisekoffer, von seidenen Strümpfen, habit de nuit, und — seiner Unsterblichkeit.

Die. Gabel, so lauten seine Worte (Nachlaß I,

240, vergl. I, 279) „commencera une nouvelle epoque dans ma vie poe-

tique et dans la litterature allemande.-------- C’est le premier de mes

, ouvrages que j’ose nommer immortel sans crainte d’etre dementi.“

Bei

der Gesammtausgabe seiner Gedichte ist es ihm darum zu thun, mit einem

96

Zur Charakteristik Platens.

Werke zu erscheinen, „dem man einen klassischen Werth nicht abstreiten kann,

einer Sammlung von Gedichten, denen man, Klopstock und Göthe abgerechnet

— Schiller ist für Platen überhaupt nicht vorhanden — nicht leicht etwas vor oder an die Seite wird setzen können, so daß ich also in jedem Falle als der

dritte lyrische Dichter der Nation erscheinen werde, freilich nur bei denen, die

wiffen, was lyrische Kunst und Dichtung ist; doch ist mir dies einstweilen genug." (Nachlaß II, 62.)

Etwas Aehnliches wie sein Oedipus, den er noch weit über

die Gabel setzt, existirt seiner Meinung nach nicht leicht in einer Sprache.

Es

ist überhaupt eigen, daß er durchgängig seine letzte Production für seine beste

und bedeutendste erklärt.

Besonders ist das der Fall bei den Oden und Hym­

nen, welche er einzeln, wie sie entstanden, an Fugger schickte.

Seine zehn

Hymnen oder Festgesänge erscheinen ihm als die Krone der deutschen — wenn nicht aller Poesien.

Er hat damit ganz Recht, wenn unter einem Dichter nichts

als ein Sprach- oder Verskünstler verstanden wird. Sein Ausspruch, daß er der Ode zweiten Preis errungen, ist bekannt.

Alles in allem kam er sich in der

zweiten Hälfte seines Lebens als ein völlig anderer Mensch vor als früher, wo er, wie er öfter sagt, noch unbekannt mit sich selbst gewesen fei.

Wer mit

solchen Ansprüchen auftritt, darf sich nicht beklagen, wenn ihm die Kritik nur

Strenge und keine Nachsicht entgegen bringt.

Der Aufenthalt in Italien war

auch in dieser Hinsicht nachtheilig für den Dichter, indem er ihn allem geistigen

Verkehr entrückte und ihn in seiner muthwillig herbeigeführten Vereinsamung den Maßstab verlieren ließ, um sich und andere damit zu messen. Der erwähnte

Güthe'sche Ausspruch wurde hier zur vollsten Wahrheit an ihm.

Seine Freunde

haben das keineswegs verkannt, sondern offen gegen ihn ausgesprochen.

Er

war fteilich der Ansicht, die lyrische Poesie erfordere Einsamkeit und melancho­ Auch des bekannten Streites mit Heine

lische Anschauung (Nachlaß II, 35).

und Jmmermann müssen wir an dieser Stelle gedenken.

Wir find weit ent­

fernt, Heine in Schutz zu nehmen, welcher der angreifende Theil gewesen war

und, wie gewöhnlich, so auch in diesem Falle selbst die schmutzigsten Waffen nicht scheute.

Dessenungeachtet macht es einen sonderbaren Eindruck, zu lesen

wie Platen seinen Gegner einen „armseligen Schmierer" schilt, den er „die

Centnerlast seiner Ueberlegenheit" fühlen lassen will und den er „als ein offen­

bar Größerer zerquetschen" könne.

Was die dichterische Ueberlegenheit des

einen über den andern anbetrifft, so mag die Zeit unparteiisch darüber richten

— der Gegenstand dieser Zeilen ist nicht Platen's Poesie, sonderen sein Charakter

— bezüglich des Schmierens aber hat uns die Gesammtausgabe zu unserer Verwunderung belehrt, wie sorgfältig Heine an seinen scheinbar aus dem

Aermel geschüttelten Versen gefeilt hat.

Es ist wahr, Platen hat die aristopha­

nische Kunstform mit wunderbarem Geschick und Erfolge erlernt, Heine dagegen hat außer dem Cynismus des attischen Komödiendichters auch einen großen Thei(, seines Geistes und seiner Grazie geerbt.

S7

Zur Charakteristik Plateu's.

Die Selbstüberhebung hatte für Platen eine quäle nde Schaar äußerer und

innerer Verdrießlichkeiten zur Folge.

Von der Ueberzeugung erfüllt, daß seinen

Werken ein Absatz ohne Gleichen zu Theil werden müsse, verlangte er aus­ schweifende Honorare von Cotta und gerieth mit diesem in Mßhelligkeiten, als er seinen Forderungen nicht entsprach und sich auf unverkaufte Vorräthe berief. Noch ärger wurde der Hader, als Cotta den Verlag der Abbassiden und der

neapolitanischen Geschichten ablehnte, und andere Buchhändler in seine Fuß­

stapfen traten. suchen.

Die Abbassiden mußten ein Unterkommen in einem Almanach

Nicht minder schlecht als auf die Buchhändler ist Platen, der nur Be­

wunderung vertrug, auf diejenigen Recensenten und Freunde zu sprechen, welche

sich Herausnahmen, seine Werke öffentlich oder vertraulich zu tadeln, was keines­ wegs selten geschah.

Der Oedipus erregte sogar Anstoß und allgemeines Miß­

fallen, und viele Beurtheiler zogen nach Platen's eigenen Worten den Schluß

daraus, daß er eigentlich gar kein Dichter sei.

Eine Kritik in einer der besten

englischen Zeitschriften sprach ihm bei dieser Gelegenheit allen Witz ab.

Im

Briefwechsel kommt in der That nicht ein einziger Witz oder Scherz vor, trotz­

dem sich Platen so viel aus die Witzfülle zu Gute thut, mit welcher er seine Lust­

spiele ausgestattet zu haben vermeint.

Diese Tadler galten dem Dichter bald

als Pöbel, dessen Haß ihm, wie er sagt, seit dem Erscheinen der Gabel auf allen Lebenswegen folgen werde.

Mißtrauen und Verbitterung wuchsen in seiner

Seele; von irgend einem Berliner Frömmler bildete er sich ein, daß er ihn mit

„unablässiger Wuth" verfolge. Aehnliche Gesinnungen übertrug er ohne Zweifel auf die ganze Nation, bis er endlich zu der trostlosen Ueberzeugung kam, man

könne nichts Schlechteres sein als ein Deutscher, sowie zu dem Entschlusse, nie­ mals in „das Land der Esel" zurückzukehren.

Nächst Platen hat wohl Niemand

ärger auf die Deutschen geschimpft als Börne; allein sein Schelten entsprang aus reiner und inniger Vaterlandsliebe, welche uns bei ihm überall zwischen den

Zeilen entgegenleuchtet , während Platen's Schimpfen seinen Ursprung in der Selbstsucht unbefriedigter Eitelkeit hatte.

Platen verlangte jedoch nicht Bewunderung allein, sondern seiner Meinung nach hatte das Vaterland und in dessen Vertretung die Fürsten die Verpflich-

tung, ihn standesgemäß zu erhalten. Er klagt, daß die Deutschen ihn verhungern ließen (Nachlaß II, 169).

Ein Ehrenplatz im deutschen Prytaneum war seiner

Ansicht nach das, was ihm gebührte, um so mehr, als er fortwährend mit Sorge

und Geldnoth zu kämpfen hatte. Durch Schelling's Verwendung^wurde er 1825

Ehrenmitglied der baierischen Akademie, in welcher Eigenschaft er ein Jahr­ gehalt von 500 Gulden bezog.

fortgezahlt.

Seine Lieutenantsgage wurde ihm außerdem

Bei seiner Unthätigkeit und seinem zwecklosen Hin- und Herreisen

in Italien wollten jedoch diese Hilfsquellen niemals ausreichen, so daß er sich

nach wie vor wiederholt in der größten Bedrängniß befand und seine Zuflucht zum Borgen nehmen mußte. Nordische Revue. IV. 1. Heft. 1865.

Ein ihm gleichfalls im Jahre 1828 gemachtes ।

98

Zur Charakteristik Platen'S.

Anerbieten, die Leitung einer kritischen Wochenschrift für das Theater mit 2500 Thalern Gehalt in Berlin zu übernehmen, lehnte er ab. Dagegen stieg, wenigstens

vor der Aufnahme in die Akademie, mehrere Male der Gedanke in ihm auf, zum Katholicismus überzutreten und in einem fetten und gemüthlichen Kloster Mönch

zu werden.

Seine Freunde sagen, das sei Scherz gewesen.

Das aber war kein

Scherz, daß er mehrfach fürstliche Personen angesungen hat, in der Absicht, ihnen bekannt und von ihnen gnädigst berücksichtigt zu werden.

Bor allen war das

der Fall mit den Mitgliedern der baierischen Königsfamilie, zu denen er aller­

dings seit seinem Aufenthalte in der Pagerie in persönlichen Beziehungen stand. König Ludwig ließ ihm — vor der Wahl zum Akademiker — auf verschiedene

Bittgesuche Geldgeschenke zukommen, aber Platen klagt dessenungeachtet einmal,

daß er einen „Knauser" zum Könige habe.

Ein besonderes Augenmerk hatte er

auf den Kronprinzen von Preußen (Friedrich Wilhelm IV.) geworfen.

Nicht

genug, daß er eine Ode an ihn gerichtet, bittet er seinen nach Berlin gereisten Freund Fugger ausdrücklich, keine Gelegenheit vorübergehen zu lassen, um dem

Kronprinzen des Dichters Ergebenheit zu bezeugen. Schon vorher hatte er beim Drucke des Oedipus das Wort „Liturgien" in „Psalmodien" verwandelt, weil

ihm das erstere in Preußen schaden möchte; trotzdem ängstigte er sich, daß der Oedipus in Preußen verboten werden könnte, wie es mit den Gedichten in Oester­ reich wirklich geschehen war.

Um dieselbe Zeit und noch nach der Aufnahme in

die Akademie beschäftigte sich der damals in Italien lebende Rumohr mit ver­ schiedenen Plänen, um seinem Freunde eine gesicherte Zukunft zu schaffen. Unter

andern lenkte er seine Aufmerksamkeit auf die englische Königssamilie, um wo möglich eine englische Pension zu erlangen, was bei der Stellung, welche die Familie Platen in Hannover einnahm, wohl nicht unmöglich gewesen wäre.

Wir

müssen Platen die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß auch seine an fürstliche Personen gerichteten Oden nicht ohne würdigen Freimuth sind, allein das ganze Verfahren und die demselben zu Grunde liegende Gesinnung scheint uns doch

wenig für den Dichter der Polenlieder zu passen.

Erinnern wir uns obenein

an seinen Jünglingsgedanken, nach Amerika auszuwandern und sich dort als

Sprachlehrer eine unabhängige Existenz zu gründen, so tritt uns auch hier wieder der Widerspruch unangenehm entgegen.

Außerdem liefert aber Platen's Ver­

langen und Bedürfniß nach einem reichen Gnadengehalte einen eigenthümlichen

Kommentar zu seinem bekannten Ausspruche, daß die Poesie sich nicht mit einem

praktischen Lebensberufe vertrage, daß man der Kunst sein ganzes Leben weihen solle, daß, wer einen Lorbeer davontragen wolle, nicht Morgens mit Akten in die Kanzlei und Abends auf den Helikon gehen solle.

Gewiß ist das eine hohe

und erhabene Anschauung und man kann den Mann nur glücklich preisen, welcher

sein Leben ihr gemäß gestalten kann. Aber eben so gewiß ist es die erste Anforderung, welche von der Welt der Prosa an jeden Mann gemacht wird, daß er

sich selbst seinen Lebensunterhalt auf ehrenvolle Weise erwerbe, wenn er nicht

mit Glücksgütern gesegnet zur Welt gekommen ist.

Vermag er das durch die

Pflege seiner Kunst — um so besser für ihn; wo nicht, so gehen die Anfor­

derungen der Prosa denen der Poesie vor.

Kein Arbeitsfähiger hat ein Recht

auf die Taschen seiner Mitmenschen oder auf die Seckel des Staates.

Hat etwa

die Nachtigall ein Recht zu verlangen, daß ihr andere Vögel das Futter zu­

tragen, damit sie sich ungestört ihrem Gesänge hingeben könne? Noch eines letzten Punktes müssen wir gedenken, in welchem Platen in Widerspruch mit sich selbst gerathen ist — das ist das Kapitel von der Freund­

schaft. vor.

Weder im Tagebuche noch im Briefwechsel kommt irgendwo eine Liebe

Nur als Platen Page in München war, machte eine junge Französin aus

vornehmer Familie mit Vornamen Euphrasia — den Familiennamen erfahren

wir nicht — einigen Eindruck auf sein Herz; es war, was der „armselige

Schmierer" Heine eine blöde Jugendeselei nennt.

Platen nennt sich selbst im

Tagebuche kalt und zweifelt, daß ihm die Liebe noch einige Accorde entlocken werde.

Selbst das Land der klassischen Schönheit scheint seine Kälte nicht haben

besiegen zu können; nur ein Mal kommt die Bemerkung vor, daß Venedig ver­ führerisch sei und die Sinnlichkeit aufrege. Die Huldigungen, welche der Dichter

dem blinden Gotte versagte, brachte er dagegen in um so höherem Maße der

Freundschaft dar, so daß der cynische Heine die nichtswürdigsten Verleumdungen

darauf bauen konnte.

Platen bedurfte eines kräftigen und weltkundigen Cha­

rakters, um sich an ihn anzulehnen; dessenungeachtet ließ er es wenigstens später

an der rechten Hingebung an denselben fehlen.

In Erlangen liebte er schwär­

merisch einen Herrn von Bülow, einen feingebildeten, fröhlichen Gesellen, der offenbar den melancholischen Dichter erheiterte und ergänzte und dem dieser den Spiegel des Hafis widmete. Leider wurden sie durch ihre verschiedenen Lebens­ wege bald aus immer getrennt.

Dagegen war das Verhältniß zu seinem älte­

sten Jugendfreunde, dem mehrerwähnten Grafen Friedrich Fugger ein lebens­ längliches.

Fugger war katholisch, und der protestantische Platen, der, wie er

selbst sagt, sich nicht rühmen konnte, ein Christ zu sein, versuchte anfänglich ihm,

nach seinem eigenen Ausdrucke, einige Tropfen Katholicismus abzuzapfen. Doch

hörten die Dispute über Religion und Philosophie bald auf, zumal Fugger weder für die eine noch für die andere ein tiefer gehendes Interesse gehegt -u

haben scheint.

Fugger war ein thatkräftiger, auf sich selbst stehender Charakter;

arm wie sein Freund, sollte er nach dem Testament eines Onkels in den Besitz eines ansehnlichen Vermögens gelangen, wenn er sich bis zum 30. Jahre ver­

mählte.

Wirklich verlobte er sich noch rechtzeitig, doch erfahren wir nicht, ob

auch die Heirath bis zu dem bestimmten Termine zu Stande tarn; vielmehr scheint nichts daraus geworden zu fein.

In seiner Familie erlebte Fugger viel

Kummer und Sorge; sein Vater und ein Bruder legten beide in Geistesstörung

Hand an sich selbst.

Wie Platen war Fugger Offizier und ging freiwillig mit

den Truppen des Königs Otto nach Griechenland.

Später erhielt er eine ange7*

Zur Charakteristik Platen s.

100

sehene Stellung am baierischen Hofe.

Seine Mußestunden füllte er vorzugs­

weise mit Musik aus, für welche er ein nicht unbedeutendes Talent besaß. Leider ist wohl von seinen Compositionen Platen'scher Lieder wenig oder nichts in die

Oeffentlichkeit gedrungen. Der Herausgeber des Tagebuchs vergleicht die Freund­

schaft Platen's und Fugger's mit der zwischen Schiller und Körner, und soweit es Fugger betrifft, läßt sich diesem Vergleiche gern beistimmen.

Wie aber ver­

hielt sich Platen? wie bethätigte er seine überschwänglichen Lobpreisungen der

Freundschaft?

In dem langjährigen Briefwechsel der beiden Freunde — leider

hat Fugger aus übergroßer Bescheidenheit, wie Pfeufer sagt, den größten Theil seiner eigenen Briefe unterdrückt — zeigt sich Platen, um es mit Einem Worte zu sagen, durchgehends als ausgeprägter Egoist.

Fugger spricht einmal seine

Freude darüber aus, daß Platen bei einem Besuche in München an etwas außer sich warmen Antheil genommen habe (Nachlaß I, 68). und seltene Freude.

Das war aber eine kurze

Platen behandelt Fugger durchaus als seinen Geschäfts­

besorger und insbesondere als den Corrector seiner Schriften.

Kein Brief ist

ohne Auftrag, und die Aufträge erstreckten sich vom Vertrieb der Platen'schen Werke und der Besorgung der Geldgeschäfte bis herab zum Ankauf von Macassaröl. Das Amt als Corrector namentlich war nichts weniger als eine Sinecure,

denn die Verbesserungen, welche Platen vor und während des Drucks vornahm,

ziehen sich wie Bandwürmer durch seine Briefe.

Die Druckfehler verfolgten ihn

wie böse Geister; die metrischen Schemata über den Od.en, Reim und Inter­

punktion machten ihm Tag und Nacht Sorge.

Eine Unzahl von Cartons mußte

gedruckt werden und Platen ertheilte seinem Freunde die erforderlichen An­

weisungen in einein unangenehm geschäftsmäßigen,

befehlshaberischen Tone.

Von Dank ist selten, von Gegendiensten nie die Rede, und die eigenen Ange­ legenheiten des Freundes werden kaum einmal einer hingeworfenen Aeußerung gewürdigt. „Dein Augenübel wird nun hoffentlich geheilt sein," heißt es einmal im Vorbeigehen.

Als Fugger seinen Entschluß nach Griechenland zu gehen an-

kündigte, war Platen außer sich. wo alle Leute sterben?"

„Was," rief er aus, „Du willst dorthin gehen,

Ohne die Aufrichtigkeit dieser Besorgniß irgendwie in

Zweifel zu ziehen, kann man sich doch nicht verhehlen, daß es Platen außerdem schwer aufs Herz fallen mußte, auf diese Weise auch seines treuen Geschäfts­

führers verlustig zu gehen.

In der That hat Platen, so lange Fugger in

Griechenland war, fast gar nicht an ihn geschrieben — in Griechenland hatte er

nichts auszurichten. Seine Geschästsbesorgung mußten unterdessen die Gebrüder Frizzoni in Bergamo übernehmen, die ihm gelegentlich auch mit Vorschüssen

aushalfen. gewidmet.

Zum Danke dafür wurden auch ihnen wie Fugger ein paar Oden So war es um Platen's wirkliche Freundschaft bestellt.

Es ist die

prosaische Kehrseite der poetischen Medaille, die wohl Niemandem bei dem herr­

lichen Verse aus der Gabel in den Sinn gekommen ist: Dort lehnt sich der Freund an die Schulter des Freunds, nie bange vor einstiger Trennung.

Ist es nicht dieselbe Enttäuschung wie beim Titelbilde, die uns hier ent­

gegentritt? Wir bedauern aufrichtig, vor dem Leser kein mit helleren Farben gemaltes

Bild eines so vielfach gefeierten Dichters haben aufrollen zu können. Allein wir folgen dem lateinischen Wahlspruche:

„Ein Freund ist Plato, ein Freund ist

Sokrates, aber eine größere Freundin ist die Wahrheit."

Sehen wir uns in der

deutschen Literaturgeschichte um, so werden wir finden, welche ganz anders ge­

arteten Lebensbilder Lessing, Schiller, Uhland u. A. in den Spiegel ihrer Zeit geworfen haben.

Wer Platen's Tagebuch und Nachlaß selbst aufschlagen will,

wird uns nicht nur von Uebertreibung sreisprechen, sondern wie wir fürchten,

das Gesagte im Uebermaß bestätigt finden.

Schon nach einem kurzen Versuche

wird er des trockenen Tones namentlich der Briefe satt werden und zu der Ueberzeugung gelangt sein, daß dieselben jeder Gefühlswärme, jeder wahrhaft

menschlischen Theilnahine, jedes dichterischen Schwunges, wie jedes Humors und Witzes bar sind.

Es gebrach Platen an einer abgerundeten, harmonisch durch-

gebildeten Individualität, mit der er frisch und frei seinen Weg durch die Welt hätte nehmen können und die zumal einem Dichter geziemt. Wir sehen in seinem Wesen vielmehr eine seltsame Mischung von edelm Streben und unbestreitbarem Talente

gepaart mit zaghafter und unmännlicher Melancholie, abstoßender

Selbstsucht und maßloser Eitelkeit und Ueberhebung.

Seine poetische Antwort

auf den Vorwurf des Egoismus aus dem Jahre 1822 (Werke I, 304 folg.) ver­ fängt nicht.

Vieles haben die Verhältnisse verschuldet, in die er durch seine

Geburt gebracht wurde; hätte er aber ernstlich und auf die rechte Weise an sich gearbeitet, so hätte er ohne Frage Manches besiern können.

Ob er, um seinen

eigenen Ausdruck anzuwenden, ein Dichter war in seiner Seele Tiefen, mag an

diesem Orte dahingestellt bleiben; so viel ist jedoch über jeden Zweifel erhaben, daß er groß ist als poetischer Künstler, daß er, wie er selber rühmt, der Sprache sein Gepräge aufgedrückt hat und daß er in dieser Hinsicht als mustergültig für

kommende Geschlechter dasteht.

Eine erschöpfende Charakteristik seines Wesens

und Wirkens wird sich erst geben lassen, wenn die Tagebücher vollständig ver­ öffentlicht sind.

Vielleicht wäre es für Platen's Ruhm vortheilhafter gewesen,

wenn Tagebuch und Briefwechsel überhaupt nicht ans Licht der Oeffentlichkeit gezogen wären; da dies jedoch einmal geschehen ist, so hat er so gut wie das Publikum ein Recht und ein Interesse daran, daß nichts zurückgehalten wird.

Bis dahin können wir nur mit dem Ausdrucke aufrichtigen Bedauerns von ihm

scheiden wegen des freudelosen Lebensweges, der ihm beschieden war, wenngleich

wir nicht verhehlen können, daß ein sehr großer Theil der Schuld daran auf ihn selber fällt.

Sitzungen der geographischen Gesellschaft in

St. Petersburg.

Es liegen uns die Protocolle dieser thätigen Gesellschaft vom 2. Dec. 1864,

Pom 13. Januar und vom 3. März 1865 vor.

Wir finden in ihnen sehr

schätzenswerthe neue Beiträge zur Länder- und Völkerkunde.

Die Betheiligung

der Mitglieder war eine lebhafte; das Präsidium führte unter Beisitz des Ad. miral Lütke der Großfürst Constantin. Aus den Verhandlungen heben wir her­

vor: Danilewski's Forschungen am Asow'schen Meere im Jahre 1864.

Er un­

tersuchte namentlich die Deltamündungen des Kubanstromes und die durch diesen Fluß gebildeten eigenthümlichen niedrigen Inseln, Plawni, welche sehr rasch zu

Steppen sich erweitern und die Meeresküsten vergrößern.

Aber die anderen in

das Asow'sche Meer mündenden Flüsse, namentlich der Don tragen nur sehr we­ nig zur Versandung desselben bei.

Struve uyd Potanin erforschten das Tabagatai Gebirge (Murmelthier-

gebirge), welches sich im inneren Asten südlich von Dsaisansee und im Norden des Ala-kul erhebt. Die in jener Gegend wohnenden nomadischen Kirgisen haben

in letzter Zeit Versuche gemacht, feste Wohnsitze zu gründen; am Katyn-Su haben sie zusammen mit tatarischen Kaufleuten zwei Dörfer erbaut und die Ansässig-

machung würde mit mehr Erfolg betrieben werden können, wenn es im Gebirge

nicht an Bauholz mangelte.

Es ist dies bei einem vorzugsweise nomadischen

Völkerstamm eine sebr bemerkenswerthe Erscheinung, die ihren Grund aber darin

findet, daß hierdurch die Kirgisen sich in den dauernden Besitz der von ihnen

durchstreiften Landschaften setzen wollen. Das größte Interesse unter allen neuen Mittheilungen nehmen aber die

Fahrten des Admirals Butakow auf dem Jaxartes in Anspruch. Dieser Strom, der Syr Darja, wie die Araber "ihn bezeichnen, hat in unsern Tagen eine gesteigerte Bedeutung gewonnen. Er geht durch das Charzat Chokand und mün­

det in den Aralsee. Dort und am Jaxartes erheben sich russische Festungen, welche

als Operationsbasis für das Vorgehen Rußlands in Jnnerasien gelten können.

Bereits haben Dampfer den Jaxartes befahren und glücklicherweise wurden in dem nur zehn Meilen von diesem Strome entfernten schwarzen Gebirge oder

Kara-tau Steinkohlen entdeckt.

Admiral Butakow hat den Strom 807 Werst

landeinwärts erforscht und astronomisch ausgenommen, so daß hierdurch eine be­ deutende Lücke in der Geographie Jnnerasiens ausgefüllt wurde.

Der Jaxartes führt eine imposante Wassermasse mit sich und überschwemmt oft seine niedrigen Ufer weit und breit.

Wenn die Wasser abgelaufen sind, ent­

wickelt sich ein prächtiger Graswuchs, den die Kirgisen für ihre Heerden nutzbar

machen. In diesen Wiesen erheben sich Sandhügel, die mit Tamarisken und Di­ steln bewachsen sind; im Flusse selbst dehnen sich oft drei Werst lange mit Ge­

sträuch bedeckte Inseln aus, in welchen sich Tiger aufhalten.

Die Breite des

Flusses beträgt 150 bis 400 Saschenen; die Tiefe wechselt zwischen drei und sechs Saschenen;

die mittlere Geschwindigkeit ist von 4% bis 6 Werst.

Der

Geschmack des Wassers ist gut, obgleich es trübe und gelblich aussieht. Längs des ganzen Uferlaufes war nirgends eine menschliche Wohnung zu

erblicken; selten bemerkte Butakow von Kirgisen mit Hirse, Melonen oder Gerste

bestellte Felder. Jegliche Sicherheit für Menschen und Eigenthum fehlt, denn die Raubzüge und Fehden nehmen in diesen turkestanischen Gegenden kein Ende. Die Bevölkerung in der ganzen Umgebung ist dünn und so liegt denn dieser herr­

liche Fluß, welcher eine große Handelsstraße sein könnte, vollkommen verödet da.

In früheren Zeiten ist er dies auch gewesen und Butakow fand die Ruinen von Otrar, wo Tamerlan starb und von Tunkat, das dieser gewaltige Herrscher einst zerstörte. Wo die Russen, wie am Fort Perowski, ihre Macht ausgebreitet haben, da

gedeiht die Bevölkerung und Leben wie Eigenthum find ficher.

Dort haben

die Aule der Kirgisen zahlreiche Bewohner, treffliche Heerden und gute Kibitkas,

Wagen, welche zugleich als Wohnungen dienen.

Sie sind fleißig, bauen Deiche,

graben Kanäle und entwässern den Boden, der so in blühendes Ackerland um­ gewandelt wird; bei Fort Nr. 1 baut man sogar einen guten Wein und auch

Baumwollenpflanzungen gedeihen.

Von allen Seiten zieht sich die Bevölkerung

in die Nähe der rusfischen Forts hin, die so zu Culturstätten werden. Butakow hält das Land am Syr Darja für sehr gesund; Fieber kommen nicht vor und so wird unter dem wohlthätigen Schutze Rußlands mit der Zeit

aus einer Einöde eine blühende Culturlandschaft entstehen können. In der Januarsitzung wurde der allgemein befriedigende Jahresbericht

vorgelegt.

Die große Constantinmedaille erhielt M. N. Jvachintsow für seine

hydrographischen Arbeiten über das Caspische Meer.

Kleine silberne Medaillen

wurden an vierzehn Mitglieder, kleine goldene an vier vertheilt und zwar an Ulsky für seine Reliefdarstellungen des Grundes des Caspischen Meeres, an Th.

Schmidt für seine vierjährigen Arbeiten als Chef des physikalischen Expedition

nach Sibirien, anL.Kaemtz für meteorologische Arbeiten und an J.Nossovitsch für

seine Sammlung der weißrussischen Sprichwörter. In der Generalversammlung vom 3. März kamen zwei sehr interessante Abhandlungen zur Verlesung. Herr Andreew hatte den Ladogasee näher erforscht

104

Sitzungsberichte.

und gab zunächst eine Uebersicht der wichtigen Rolle, welche derselbe in der rus­

sischen Geschichte spielte. Schon Peter der Große hatte den Versuch gemacht auf

ihm eine Flotte zu errichten.

Die früheren Karten dieses großen Wasserbeckens

waren wenig genügend und erst im Jahre 1858 ertheilte der Großfürst Con­

stantin den Befehl zu genauen hydrographischen Aufnahmen, die nun bald be­

endigt sein werden.

Während dieser sechs Jahre hat man wichtige Resultate er­

zielt und eine umfasiende Karte gezeichnet, welche binnen Kurzem veröffentlicht

werden wird. Andreew wies auch auf den großen Fischreichthum des Sees hin, der eine bedeutende Einnahme-Quelle namentlich für die Bewohner des Süd.

randes ist.

Die klimatischen Verhältnisse des Sees sind sehr rauh.

Die Tem­

peratur des Wassers beträgt im Winter zwischen 2 und 30 R. und steigt im Sommer nie über 5 oder 6" R.

Das Eis auf demselben erreicht die außeror.

dentliche Stärke von 1 '/2 bis 2 Arschinen; es hält sehr lange aus und liegt be-

sonders im nördlichen und nordöstlichen Theile des Sees bis lies in das Jahr hinein.

Die Schifffahrt wird bis jetzt noch mit sehr unzulänglichen und schlecht

gebauten Fahrzeugen betrieben, deren etwa 600 jährlich im Hafen von Schlüssel­

burg einlaufen. Sie verfrachten Holz, Balken, Granit, Marmor, Graphit, Guß­ eisen, Metalle, gesalzene Fische u. s. w. Herr Andreew schloß seinen Bortrag mit

einigen ethnographischen Bemerkungen über die Umwohner des Sees.

Die Ka-

relen bewohnen die Ostküsten und nähren sich hauptsächlich von Viehzucht, die

aber in so unvollkommener Weise betrieben wird, daß Viehseuchen, namentlich in den Districten Olonetz und Petrosavodsk, das ganze Jahr über nicht aufhören. Hierzll trägt besonders das schlechte Trinkwasser viel mit bei, das meistens aus

Morästen stammt und eine rothe schlammige Beschaffenheit hat.

Die sibirische

Rinderpest ist die natürliche Folge des Genusses; in dem benachbarten Finnland,

wo das Vieh ordentliches Trinkwaffer hat, tritt sie dagegen nie auf. Herr Viskowatow trug zum Schluffe eine Abhandlung über den Dev.

dorakgletscher am Kasbekberge im Kaukasus vor, welcher sich in das Thal des Terek hineinerstreckt. Dieses Thal bildet bekanntlich die einzige Passage zwischen

den Gegenden nördlich vom Kaukasus und Transkaukasien und ist als die geor­ gische Militairstraße bekannt.

Aus dem genannten Gletscher ergießt sich das

Flüßchen Devdorak in den Terek und an dieser Stelle ist es, wo man die be­

rühmten Erdstürze des Kasbek findet.

Die Menge des herabgestürzten Schnees,

Eises und Gesteines ist so kolossal, daß man sie auf anderthalb Millionen Cubik-

saschenen geschätzt hat. Die Straße ist dadurch vollständig gesperrt worden, jahre­ lange Arbeiten haben wenig dagegen genützt und man hat schließlich eine Noth­ straße anlegen müssen.

R.

Revue -er bildenden Künste. Pfau's artistische Briefe. — Neue Aufgaben und Werke auf dem Gebiete der Malerei. — Nekrolog.

„Das Nützliche befördert sich selbst, denn die Menge bringt es hervor und Alle können's nicht entbehren; das Schöne muß befördert werden, denn wenige

stellen's dar und viele bedürfen's", dies Motto der öffentlichen Vorlesungen

H. G. Hotho's hätte an die Spitze der Aussätze gestellt werden können, welche L. Pfau in der Augsb. Allg. Zeitung unter dem Titel: „Artistische Briefe" ver.

öffentlicht hat. Auf dies e Briefe ist von uns schon in der letzten Revue hinge,

wiesen worden; inzwischen hat die Münchener Akademie sich veranlaßt gefühlt, durch eine Zuschrift, die von allen Mitgliedern unterzeichnet war, dem Verfasser ihre Anerkennung des Gesagten und ihren Dank dafür kund zu geben. Diese Anerkennung ist im Ganzen ein überflüssiges Aktenstück; es wäre passender

gewesen, wenn sie sich mit dem Dank begnügt hätte. Die Zustimmung verstand sich von selbst; es war natürlich, daß die Künstler alle ihm zujubelten, wenn er zu beweisen unternahm, daß es des Staates Pflicht und Interesse sei, die Kunst im ausgedehntesten Maße zu unterstützen. Um diese Zustimmung konnte es auch

dem Verfasser nicht zu thun sein, sondern um die Zustimmung der Regierungen.

Die Künstler wollte er nicht zu seiner Ansicht bekehren, die waren es ja längst und konnten ihm nur danken, daß er das Gesagte in einem öffentlichen Organe

und mit bessern Worten, als sie selbst vermocht, bewies. Es handelt sich für den

Verfasser darum, die öffentliche Meinung auf seine Seite zu bringen, und durch die öffentliche Meinung die leitenden Factoren des Staats.

Die „artistischen

Briefe" erörtern aber ein so wichtiges Thema, daß wir uns nicht versagen können, näher auf sie einzugehen.

Der Verfasser, welcher uns vor Augen und zu Herzen

führen will, daß die Kunst vom Staate auf's energischste unterstützt werden müsse, basirt seine Jnduction auf die Behauptung, daß selbst vom ökonomischen Stand, punkte die Kunst diejenige Industrie sei, welche am meisten einbringe und folglich zur Vermehrung des öffentlichen Reichthums die geeignetste sei.

Seine Deduc.

tionen entbehren leider jener ruhigen Entwicklung, jener logischen Steigerung, welche, Beweis aus Beweis leitend, uns mit Nothwendigkeit zur Ueberzeugung

zwingt, im Gegentheil biegt die Spitze zuletzt um und die ganze Fluth von Be.

weisen versandet in Freiheitsphrasen.

Doch zur Sache: wir wollen sie nehmen,

106

Revue der bildenden Künste.

wie sie eben vorliegt.

Nachdem der Verfasser sich mit der Kunst auf den rein

menschlichen Standpunkt gestellt und zu beweisen gesucht, daß, wo sie zur Voll­ endung gelangt sei, die typischen Formen der Transcendenz verlassen, fragt er: ist die Kunst, wie manche behaupten, einer der großen Hebel der menschlichen Cultur,

dem ein gebildetes Geschlecht

nie

zu viel Aufmerksamkeit

schenken

kann, oder stellt sie, wie Andere meinen, einen zwar angenehmen, aber wenig nützlichen Luxus vor, um den die politische Gemeinschaft sich nichts zu kümmern

hat? Soll der Staat, wie die modernen Finanzmänner verlangen, die Pflege der Kunst dem Wohlwollen der Liebhaber überlassen, oder soll er nach dem

Beispiel der Alten, die Künstler unter die Fittige seines Budgets nehmen und

für das Gedeihen ihrer Werke Sorge tragen? Der Verfasser stellt sich natürlich

auf die letztere Seite und rückt nun die Frage den Finanzmännern dadurch nahe,

daß er die Kunst neben die Industrie stellt und dadurch sie sogleich über alle Industrie erhebt, daß er sagt: „im Schaffen von Werken übertreffe sie jede In

dustne", und dies nicht nur aus der Geschichte der Malerei nachweist, sondern speciell aus dem Beispiele Belgiens, das gegenwärtig in runder Zahl 1200 Künstler zähle, deren jährliche Arbeit dm durchschnittlichen Erlös von 5 Mil­

lionen Franken ergebe, eine Summe, die für ein Land von 5 Millionen Ein­ wohnern allerdings nicht zu verachten ist; denn es besteht schwerlich in Belgien oder sonstwo eine Industrie, die mit der Arbeit von 1200 Menschen und ohne Beiziehung des Kapitals zu solchen Resultaten gelange. Die künstlerische Thätig­

keit ist ein Schaffen von Werken ohne Verbrauch von Kapital, ein Reichthum, der so zu sagen auf der Hand wächst. Darauf baut der Verfasser die oben ange.

führte Behauptung: vom ökonomischen Standpunkte sei somit die Kunst diejenige

Industrie, welche am meisten einbringe, und folglich zur Vermehrung des Reich, thums die geeignetste sei. Dabei bleibe die Kunst nicht stehen, sie producire einen bleibenden Werth, der sich mit der Zeit verdopple und verdreifache, während der

von der Industrie erzeugte Werth von Tag zu Tag abnehme, um zuletzt ganz zu verschwinden; vermittelst der Nachbildung endlich trage das Kunstwerk Wucher­

zinsen.

Durch eine detaillirte Aufzählung all' der Zweige, die die Kunst beschäf­

tigt, addirt er die Erträgnisse nach Millionen und Millionen und fragt: wir wären doch begierig zu wissen, wo man die Industriellen hernehmen will, die

bedeutendere Geschäfte machen als Shakspeare, Göthe, Schiller, Mozart, Beet­ hoven, Mendelssohn, Buonarotti, Raffael, Rubens? deren Credit mit jedem Jahre wächst.

Das find solide Häuser,

Die Finanzmänner, meint Pfau, werden

das Alles auch zugeben, nur keine Berechtigung von Ansprüchen an den Staat daraus ableiten lassen. Die Kunst solle fich wie jede andere Industrie durch ihre eigne Kraft entwickeln.

Dagegen meint der Verfasser der Briefe: die Kunst als

die expanfivste und einträglichste aller Industrien dürfte vielleicht einer besondern

RKckficht würdig sein.

Sie sei überdies die hohe Schule einer Masse von

Industrien, die sie mit ihrem Hauche belebe; alle Gewerbe, welche der deco.

rativen Kunst angehören, gedeihen blos unter der Bedingung, daß die große

Kunst lebe, wachse und ihnen ihr Feuer und ihren Geschmack mittheile. Hier unterbricht der Verfasser den Gang seiner Entwickelung und sucht aus der Ge.

schichte darzulegen, daß Kunst und Civilisation Hand in Hand gehen, in eins

zusammenfallen.

Griechenland, das beinahe unfruchtbare, sei nur dadurch so

mächtig gewesen, daß es in Ermangelung des Ackerbaues die hohe Industrie

hatte, daß es in allen Arten schöner Dinge die besten Manufacturen der Welt

besaß. Die Ueberlegenheit in der Industrie verdankte es seiner Ueberlegenheit in der Kunst. Er führt diesen Beweis durch das Mittelalter bis auf die heutige

Welt durch, in der er hauptsächlich auf Paris hinweist, das durch seine künst­

lerische Industrie so mächtig sei. „Man nehme Paris seine Kunst und nichts bleibt

als ein Häuserhaufen, denn mit den Künsten verliert es die Feinheit seines Lebens und die Eleganz seines Daseins."

Alle französischen Herrscher hätten

eine dunkle Ahnung gehabt, daß hierin ein Hebel ihrer Macht liege. Die „in

ihren besonderen Ursachen verwerfliche, in ihren allgemeinen Folgen aber heil­ same Verschwendung der Höfe" nimmt der Verfasser utiliter an und behauptet, sie habe ein artistisches Uebergewicht angebahnt, das zu Macht und Reichthum führe.

Dagegen verwahrt er sich alles Ernstes dagegen, daß die monarchische

Form die Kunst schaffe; viele Republiken würden uns Lügen strafen. Die Kunst entfaltet sich, wenn wir den Verfasser hören, weder durch die Munificenz dex Könige, noch durch Schulen und Akademien, noch endlich durch Medaillen, „Band­

zipfel" und andere Schülerpreise, sondern durch die Liebe, welche das Volk ihr weiht, die Achtung, welche die Gesellschaft ihr zollt, und das Geld, welches der

Staat ihr widmet.

Und der Staat ist dazu verpflichtet, weil eben die Dinge,

welche allen nützlich und keinem nothwendig sind, in den Bereich der staatlichen Fürsorge gehören. Wie aber soll der Staat eingreifen? Ein Problem, das sich schon so viele Staatsmänner vorgelegt. Pfau antwortet: durch Errichtung von Kunstschulen und Geldauswerfen für Kunstwerke, speciell für monumentale Kunst,

werke, unter welchen der Verfasser, wie uns aus dem Ganzen hervorzugehen scheint, vornehmlich große Fresken im Auge hat, wie er überhaupt die Malerei vorzüglich

im Sinne trägt. Nachdem er bereits am Ziele angelangt scheint, faßt er den Stoff noch einmal von vorne an und sucht den Finanzmännern vorzurechnen, daß

die Kunst die höchste Industrie und daß sie, da die Industrie von ihnen aufs ent» schiedenste gefördert werde, auch die Kunst unterstützen müssen. Die Jnductiop ist allerdings eine sehr kluge und wohlberechnete, da den Finanzmünnern nur auf dieser Seite beizukommen ist, ihnen das Verständniß für die Kunst meist abgeht.

Nur als potenzirter Industrie, zu welcher sie Pfau, um zu seinem Zwecke zu

gelangen, herabsetzt, werden sie ihr ihre Unterstützung angedeihen lassen. Und

die Beweisführung ist sehr glücklich. Die ausgedehnteste und fruchtbarste, folg, lich die der Pflege zugänglichste und würdigste Industrie ist diejenige, welche die

meisten umwandelnden Kräfte entfaltet, d. h. die am wenigsten rohe Materie und

108

Revue der bildenden Künste.

am meisten arbeitenden Geist verbraucht, wo also die Quantität in der Qualität

aufgeht, und das ist — die Kunst.

Wodurch aber die Kunst von der Industrie

sich immer scheidet, das ist, daß diese die Bedürfnisse des Körpers, jene die des

Geistes befriedigt, daß der „Consument" der Kunst, je mehr er davon verbraucht, desto mehr davon verlangt. Indem die Kunst ihre Production entwickelt, bildet fie die Geister, und indem sie die Geister bildet, vermehrt sie die Käufer. Das

ist der wunderbar ersprießliche Kreislauf der Kunst. Sie schafft sich selber ihre Absatzquellen, weil sie das Bedürfniß erzeugt, indem sie die Befriedigung bringt.

Aber die Förderung der Kunst —- dreht er die Beweisführung um, — fördert auch die Industrie auf die rationellste und wirksamste Weise, und wenn der Staat

das Gewerbe, das physischer Nothwendigkeit gehorcht, sich selbst überlassen kann,

so muß er der Kunst warten, die nicht von materiellen Bedürfnissen, sondern von nationalem Gefühl und collectiver Intelligenz lebt. Durch die Freundschafts­ dienste, welche die Kunst der Industrie, dem Schooßkinde der Finanzmänner,

leistet, hofft er ihr Herz bis zur Herausgabe des Kassenschlüssels zu rühren.

Freilich, meint er, seien die Finanzmänner sich noch nicht hinlänglich klar, daß der Staat weder ein Familienhaushalt, noch eine Productensabrik, noch ein

Handelshaus, sondern vielmehr eine sittliche, intellectuelle, civilisatorische Einrich­ tung ist.

Nein, nicht nur die Finanzmänner, die ganze sogenannte gebildete

Welt weiß es nicht, daß die Industrie nur Mittel zum Zweck, nicht selbst Zweck ist; eine Zeit aber, welche das Mittel zum Zweck über den Zweck setzt, kann nur

eine Uebergangsepoche sein, aus der sich eine Zeit der Herrschaft des Geistes wieder herausringen muß. Die materielle Wohlfahrt kann immer nur die Basis

der geistigen sein. Dieses Verkennen des Weltzw ckes ist das Brandmal unserer Uebergangsepoche.

Während wir uns diese Abschweifung erlaubten, hat der

Verfaffer der artistischen Briefe die Kunst an die Stelle der Religion gesetzt: sie sei die geläuterte Religion des gebildeten Menschen, die natürliche Erbin der

Kirche im Schooße des Staats. Ehe die Kunst diese Erbschaft antreten kann — und dazu ist vor der Hand noch wenig Aussicht, da es dazu einer andern Cultur­ stufe bedarf — wollen wir dem Verfasser noch auf den Boden der Geschichte folgen,

auf dem er zu beweisen sucht, daß die unter Künstlern verbreitete Ansicht, monar.

chische Form und fürstliche Gunst seien die unerläßliche Bedingung, gewaltig irre. Dieser Passus, der ihm von seinem demokratischen Standpunkt dictirt ist,

scheint uns der schwächste, denn er weist im Ganzen gerade nach, daß unter dem

Absolutismus die Kunst am meisten geblüht. In jenen Republiken des Mittelalters doch wohl nicht, weil sie Republiken waren? Dafür ist er uns den Beweis schuldig geblieben. Die heutigen Republiken könnten die Künstler allerdings ganz

wohl zu dem Glauben an die beschützende Monarchie bringen; wir wollen des­

halb keineswegs zweifeln, daß in einer idealen Republik, wie sie sich der Verfaffer denkt und wünscht, die Kunst die höchste Blüthe erreichen werde. Wo der Volks­

geist zur Kunst hielt, sagt Pfau, hat den Künstlern die finanzielle Mitwirkung

nie gefehlt; während da, wo die Nation den künstlerischen Anstrengungen fremd

blieb, die Freigebigkeit der Fürsten nie eine fruchtbare und dauerhafte Kunst,

thätigkeit erzeugt hat.

Darin stimmen wir vollkommen mit ihm überein, und

das hat sich selbst in jüngster Zeit bewahrheitet; wir brauchen nicht erst zurückzuschweifen.

Das bloße Mäzenatenthuin, auch das schöpferische an Ideen, thut

es nicht allein; für Pfau ist auch noch die absolute Freiheit der Ideen und der

Bewegung der Geister nothwendig, um zur wahren Kunstblüthe zu gelangen. —

Die artistischen Briese reißen den Faden der Entwickelung ab und kommen nun auf den artistischen Unterricht zu sprechen, eine Frage, die sich gegenwärtig um die beiden Faktoren dreht: Akademie oder Musterschule.

Der Verfasser ist der

Ansicht, daß der Unterricht in der Werkstätte eines tüchtigen Künstlers der aka­ demischen Lehrmethode vorzuziehen sei. Aber der Staat könne weder den Meister zwingen, Schüler zu nehmen, noch die Schüler nöthigen, des Meisters Bedingun-

gen gutzuheißen. Die Meisterschule ist eine Art Monopol, das der organisirenden

Thätigkeit der Gesellschaft entschlüpft. Der Staat hat daher keine andere Wahl, als Schulen für die Kunst zu errichten. Warilm sollte der Staat aber nicht ebenso gut — denn selten wird ein Meister nicht gern Schüler bilden — diesen lohnen,

sowie er Lehrer an Akademieen besoldet? Bei der Ansicht Pfau's von der allge­ meinen Fähigkeit der Menschen zur Kimst darf er auch der Durchschnittsbildung der Akademieen das Wort reden, an deren Spitze er einen wissenschaftlich gebil­

deten Künstler stellt, denn der Wissenschaft könne der Künstler heute überhaupt nicht mehr entrathen.

Die Akademie solle die größte Zugänglichkeit sich zum

Prinzipe machen. Das Proletariat, das durch die Akademieen erzeugt wird, sieht

er nicht so schlimm an, als die Gegner der Akademieen. Die Vermehrung der Künstler führe nicht zur Verminderung der Künste; im Gegentheil, wenn die

Kunst sich demokratifiren soll, so muß die Zahl der Künstler zunehmen. Er will die ganze Stufenleiter zwischen Lehrling und Meister besetzt wissen; aber er bedenkt

nicht, daß die auf den unteren Stufen Stehenden nicht sich bescheiden und „treue, verdienstvolle Arbeiter" werden, sondern sich für ebenso große Künstler halten,

wie die, welche auf der Sonnenhöhe der Menschheit stehen.

Jeder glaubt, den

Marschalstab in seinem Tornister zu tragen. Ist es ein Unglück, fragt Pfau, wenn die Zöglinge, die keine Meister werden, Schüler bleiben, und die Wohnung der unbemittelten Bürger mit dem Abglanze des Genius schmücken? Er fordert deshalb, daß die Akademie die Ueberhebung auf jede Weise bekämpfe, und die

Talente zweiten rmd dritten Ranges den industriellen Künsten zuweise, was der Schule zur Ehre, dem Schüler zur Befriedigung und der Gesellschaft zum Ruhm

ausschlagen würde.

Allerdings! Aber wird es der Schüler glauben, daß er ein

mittelmäßiges Talent sei? Wir wollen nur ein Beispiel anführen. Wie Wenige

haben sich in Deutschland entschlossen, selbst wenn sie am Hungertuche nagten, sich der Illustration zu widmen, zu der doch wahrhaftig mehr gehört, als die

Herren glauben, vor Allem Zeichnen, was gar manche von unsern Akademie,

Revue der bildeüdrn Künste.

110

Professoren selbst nicht können.

Das Jllustriren dünkt ihnen zu gering, wie das

Decorationsmalen, weil fie nicht begreifen, daß man etwas Tüchtiges gelernt haben muß, um etwas darin zu leisten.

Unsere Nachbarn jenseit des Rheins

find darin schon um ein gutes Stück vernünftiger. Durch ein enges Aneinander­

schließen von Kunst und Industrie hofft Pfau diesen Zwiespalt aufzuheben und die Einflüsse körperschaftlichen Eigendünkels zu vernichten. Wenn er zum Schluffe

darauf zu sprechen kommt, was der Staat bisher für Kunst gethan, so drückt er

das in seiner kräftigen Weise mit den Worten aus: der Staat hat, unbeirrt von

Grundsätzen, die Kunst in jener anarchischen Weise unterstützt, welche den heu­

tigen Staat überhaupt kennzeichnet. Er fordert, daß die Künstler das erste Wort in der Kunst haben, daß der Staat ihre Beschlüsse ausführe, denn in Sachen der

Kunst wisse keine Regierung mehr als die Künstler.

Eine solche Blüthe des

Staates, bei der allein ein ähnlicher Zustand möglich sei, werde aber erst dann

eintreten, wenn die Freiheit da sei. — Wir find dem Verfasser der Artistischen Briefe in alle Gänge seiner Gedankenentwickelung gefolgt, aber wir haben diese Gedanken fich nicht mit logischer Gewalt zuspitzen sehen — es bleiben disjecta

fliembra von Anforderungen, die wir übrigens großentheils gerne unterschreiben: der Staat unterstütze die Kunst, er hat die Verpflichtung dazu, denn die Kunst ist ein ebenso wichtiger, wenn nicht wichtigerer Factor im öffentlichen Leben, als die Industrie, in künstlerischen Dingen gönne er aber dem Künstler das erste Wort.

Wie der Staat die Kunst unterstützen soll, das haben wir an diesem Otte zum

Oestern wiederholt und haben spezielle Vorschläge zu geben nicht versäumt, wäh­ rend gerade diesen wichtigen Punkt Pfau uns zu erörtern schuldig geblieben. —

Unsere Revue mußte zuletzt mit der Bildnrrei abbrechen; wir haben nun einen größern Rückblick auf die Malerei zu werfen.

Bor Allem sei der monu­

mentalen Kunst gedacht, in der wir sogleich einer erfteulichen Aufgabe begegnen,

welche die Kunst in dem schon öfter von uns angedeuteten Sinne fördert.

Der

sächsische Kunstverein wirst aus seinem Fond für öffentliche Zwecke 2000 Thaler zur Ausschmückung der Aula in der neu erbauten Kreuzschule am Dohnaplatze

in Dresden aus.

Wir wissen nicht, haben auch andere Kunstvereine solche

bestimmte Fonds; hier ist ein Stück gegeben, das der Verein für historische Kunst sich wohl zu Herzen nehmen dürfte, statt die Schnorr von Carolsfeld'sche Idee, der wir freudig beistimmten, damit abzuweisen, daß es eine zu hohe Stufe der

politischen und künstlerischen Bildung voraussetzen hieße, wenn etwa hundert gleich­ gestimmte Künstvereine, Fürsten und Private jahrelang zusammenhalten und bei­ steuern sollten, um in den verschiedensten Städten Deutschlands Werke der monu­ mentalen Kunst errichten zu lassen.

So müßte es denn immer den Einzelnen

für Einzelnes überlassen bleiben. — Otto Knille hat vom König von Hannover

den Auftrag erhalten, das Schloß Marienburg bei Nordstetten, welches der König seiner Gemahlin zum Geschenk gemacht, mit Fresken zu schmücken, deren Stoff

der Künstler aus der Geschichte der sächsisch-thüringischen Lande, der Heimath

der Königin, entnehmen wird.

Demselben Künstler ist auch der Auftrag gewor.

den, das neue Börsengebäude in Bremen mit Bildern zu schmücken.

Für die

Ausschmückung des Berliner Rathhauses ist eine Commission niedergesetzt, um Vorschläge zu machen. Man wünscht sie Kaulbach zu übertragen. — Nur ver­

einzelt hört man von den Aufträgen für das Münchner Maximilianeum, gerade als ob es an einem einheitlichen Plane fehlte. So hört man jetzt von einem

Auftrage, welcher Prof. Seiberh geworden, der zwei mehr als ceremonielle Bilder al fresco für die Vorsäle zu malen hat. Das Eine ist die Einführung Alexander

von Humboldt's unter die Ritter des Maximilianordens, das Andere eine Ver­

sammlung berühmter Diplomaten, die auf Bayerns Schicksale entschiedenen Ein­ fluß gehabt. Trotz der ungünstigen Sujets ist die Compofition klar und ver­ ständlich und zeugt von einem richtigen Gefühl für die monumentale Kunst. —

Theodor Grosse hat in den Loggien des Leipziger Museums die Freskobilder der Ostseile vollendet und ist nach Rom zurückgekehrt, um die Cartons für die West,

feite zu zeichnen.

Sie erfreuen nainentlich durch die kräftige und harmonische

Farbe. — Unter den neuen historischen Bildern hat Swoboda's „Barbarossa,

der die besiegten Mailänder empfängt", das entschiedenste Unglück gehabt, obgleich es vom Verein für historische Kunst angekaust wurde. Es ist allerdings in seiner

conventionellen Haltung ein völlig mißlungenes Bild, während der Künstler doch einst viel Tüchtiges versprochen hatte. — Der böhmische Maler Jar. Czermak,

von dem die „Slavischen Blätter" Bild und Biographie bringen, hat bei der Kunstausstellung in Rouen den ersten Preis für das Bild „Baschiboschuks ent­ führen ein südslavisches Weib" zuerkannt erhalten. Nachdem der Künstler früher die südlichen Slavenländer bereist, begiebt er sich jetzt nach Italien und Paris.

— In Cöln hat Rahls Nero (Carton und Farbenskizze) sehr angesprochen. Die Compofition, heißt es, liefere ein merkwürdiges Beispiel dafür, wie auch das

alles menschliche Gefühl empörende Sujet durch den ideal gehaltenen Vortrag genießbar werden könne.

Die Gestalten seien in edlen Linien gezeichnet, es

herrsche durchaus das plastische Element vor. — Der Weimarer O. Günther

begegnet uns aus historischem Boden mit einem Heinrich I. als Städteerbauer,

von welchem die grandiose Behandlung der Massen, wie Feinheit und Wärme besonders gerühmt wird. — In der Reihe der historischen Gruppenbilder, welche Kaulbach mit seiner Reformation begonnen und die nun von Lindenschmid und

Schwörer im Auftrage der Bruckmann'schen Kunsthandlung fortgesetzt wird, hat der letztgenannte Künstler eine Ruhmeshalle der deutschen Wissenschaft von 1740

bis 1840 gezeichnet. Diese Aufgabe, welche so total verschiedene Zeilen auf so engem Raume zusammenrückt, ist an fich undankbar, doppelt undankbar durch das Costüm. Der Künstler hat fie trotzdem mit viel malerischem Talent, rhythmischem Sinn und gutem Geschmack befriedigend gelöst. Die Köpfe sind nament^ lich porlraittreu. Lindenschmid behandelte die Blüthe der italienischen Poefie von

Dante bis aus unsere Tage.

Wir können uns für diese Sujets nicht erwärmen

112

Revue der bildenden Künste.

und mehr Interesse als das einer Portraitsammlung können sie nicht gewähren.

Schließen wir die historische Gruppe mit dem Schlachtbild und gedenken Pappenheim's Tod von F. Dietz, dem man eine lebendige Composition und einen gut gemalten Hintergrund nachrühmt.

Von kriegerischen Bildern, die nicht gerade

Schlachtbilder sind, haben die Kaukasusbilder Theodor Horschelts (das letzte Mal in Torschelt gefälscht) mit Recht großes Aufsehen genracht.

Die prachtvollen

Federzeichnungen, welche von Albert in München zu einem Werke: „Erinnerungen aus dem Kaukasus"

zusammengestellt werden, versetzen uns mitten in diese

Kämpfe. Der Künstler beginnt mit der Expedition gegen die Lesghier von 1858,

in welcher Baron Wrewski den Todfeind besiegt, geht sodann über zu dem Winterfeldzug in der Tschetschina unter General Jodakino, der mit der Bela­

gerung und Erstürmung Wedens, des damaligen Hauptnestes Schamyl's, endete. Daran reiht sich die Sommerexpedition im Daghestan unter Bariatinski, in welcher Schamyl auf Gunib gefangen wurde. Aus dem darauffolgenden Kriege

gegen die Tscherkessen am schwarzen Meere und der Ueberwältigung der Stämme wird das Werk, das vorläufig auf zwölf Blätter festgestellt ist, ebenfalls einige

Darstellungen enthalten. Das Hauptbild, das vom Fürsten Bariatinski bestellt ist, hat die Ausgabe der größten Portrait- und Localtreue.

Gerade dies wird

aber vom rein künstlerischen Standpunkte beanstandet werden können. Die große weltgeschichtliche Bedeutung des Moments geht durch diese stereoscopische Behänd-

lung verloren.

Für ein solches Bild hätte Horschelt eine dramatisch bewegte

Composition, einen Moment, der den Wende- und Höhepunkt der Entscheidung

gezeigt hätte, wählen sollen.

Da wo das Genrebildliche sich geltend macht, steht

Horschelt dagegen auf der Höhe der Situation. — Genre im großen Styl hat Feuerbach in Rom in seinem neuesten Bilde: Die Balconscene aus Romeo und

Julie, das dem Freih. v. Schack gehört, gegeben. Die Scene ist schön aufgefaßt und edel gezeichnet.

Nur vermißt man die Wärme des Colorits, die letzte Voll­

endung. — Steinle's Loreley, die in der Skizze viel versprach, ist geziert und tenden­ ziös, die Farbe grau. Erfreulicher ist „Faust unter den Spaziergängern" von Schwerd.

geburth. Die Composition ist von angenehmster Frische und Leichtigkeit; nur die

Familienähnlichkeit der Köpfe stört etwas. — Das prächtigste Kabinetsstück des Genre: Knaus' „Taschenspieler" macht gegenwärtig die Runde durch Deutschland,

ehe es in den Privatbesitz (Goupil hat es bereits verkauft) übergeht.

Knaus ist

mit diesem Bilde entschieden auf der Höhe seines Talents angekommen. Charak-

teristik und Farbe halten sich noch das Gleichgewicht; wir fürchten aber nicht, wie so Viele, daß es mit der Zeit farblos werden werde.

Knaus kehrt immer

wieder zur Natur und seinen großen Vorbildern, den Holländern, zurück. — In der Land- und Seeschaft sei zuletzt eines Künstlers gedacht, der uns Deutschen

leider nicht in dem Grade bekannt ist, wie er es verdient, des Russen Aiwasowsky, der vor Kurzem im holländischen Kirchenhause zu Petersburg sieben Bilder aus­

gestellt hatte.

Die Russen schätzen Aiwasowsky selbst als ihren besten Land-

Ichaster. Die gerechteste Bewunderung fund sein Seesturm bei Amalfi um der

herrlichen Gegensätze willen, welche Meer und Wolken bilden. Venedig im Abend, roth, Schiffe an der Küste Neapels, sind farbenreiche Bilder.

Aber die wahre

Kraft seines Talentes entfaltet der Künstler erst in den Bildern, die er der Hei. math entnimmt.

So in dem „Sonnenaufgang im Kaukasus" — hier steht er

Nottrnann am nächsten in der leuchtenden Farbe des Himmels, der Tintenabstu.

fung von der duftigen Ferne, dllrch den wärureren Mittelgrund bis zum licht,

übergossenen Vordergrund.

Auch die Staffage belebt das Bild sehr wirksam.

Durch Stimmung ausgezeichnet ist der „Mondschein nach dein Sturme an der Krinlküste", zu beiu einen effectvollen Gegensatz die getreidereiche „Ebene der

Krim in der Mittagshitze" bildet. Landschaftlich ein sehr bedeutendes Bild ist

auch seine „ Sündfluth" — nicht iiu großen Stpl Schorns, denn die Figuren bilden nur die Staffage und nicht die Hauptsache, sie sind es nicht, in deren Hal.

tung und Ausdruck der große Moment sich spiegelte. Aber das Wasser, um das

es Aiwasowsky wohl zumeist zu thun war, wie überhallpt um das Landschaftliche, das Wasser ist grandios dargestellt. Wir bedauern, daß diese Bilder nicht auch

die Runde in Deutschland machen, wo wir von russischer Kunst nur das kennen,

was russische Künstler von Deutschland aus dorthin senden. Von einem deutschen Künstler, der die Welt durchwandert, von Hildebrand, haben wir kürzlich der

reichen Ausbeute gedacht, die er in Berlin zur Ausstellung gebracht; sie ist leider in Privatbesitz statt in den des Staates übergegangen. — Selleny in Wien hat drei jener Cartons vollendet, welche er nach seinen Novara-Reiseskizzen zur spä­

tern Ausführung in Oel fertig machen will: die Insel Madeira mit Funchal, die vulkanische Insel St. Paitl und der Grottentempel zu Mahabalipuram (Vorder­

indien). Zunächst kommt ein australischer Urwald an die Reihe. — Andreas

Achenbach, von dem es gegenwärtig etwas still, während man um so mehr von

Oswald, seinem Bruder, hört, ist die Ehre geworden, an Calame's Stelle Mitglied der belgischen Akademie der Künste zu werden. — Auf dem Gebiete der

Glasmalerei ist von der Stadt Paris ein großer Plan im Werk: sie hat 66,000 Franken zur Restauration der Glasgemälde sämmtlicher Pariser Kirchen aus.

gesetzt. Es gilt hier die Aufgabe, die moderne Glasmalerei mit der alten in Einklang zu bringen. In München hat die neueste Schöpfung Joseph Scherers, ein großes Glasgemälde für die Frauenkirche, durch die Schönheit der Com-

pofition, die Strenge der Zeichnllng, die harmonische tiefe Farbengluth aufs

Neue Zeugniß für die große Befähigung des Künstlers abgelegt, der mit seinem Bruder so manches bedeutende Werk in München und Stuttgart, Landshut und

Passau geschaffen, daß nun auch das Ausland auf ihn den Blick richten dürfte.

Einige tüchtige Künstler, zwei große Celebritäteu, hat der Tod uns geraubt:

die Franzosen verloren in dem Historienmaler Deveria, von welchem viele ge. schätzte Gemälde eristiren, eine bedeutende Kraft.

Der Conservator am Mu­

seum in Rouen, Court, welcher in Paris im Alter von 67 Jahren starb, war ein

Nordische Revue. IV. 1. Heft. 1865.

8

114

Revue der bildenden Künste.

Schüler von Gros, dessen kräftiges Colont er geerbt hatte; seine bekanntesten Bilder sind der „Tod Cäsars" und „Boissy d'Anglas"; auch als Portraitmaler leistete er Ausgezeichnetes.

Einen berühmten Kupferstecher hat England in

William Humphry verloren, der 71 Jahre alt in Genua verstarb.

Bekannt

sind feine Stiche nachLeslie's Sancho, Correggio's Magdalena, Reynold's Coquette und viele Portraitköpfe. — Deutschland verlor den Landschafter X. L. Spar­

mann, den Lehrer Napoleon's, der 60 Jahre alt in Dresden starb. Zwei jüngere

Kräfte nahm der Tod in München hinweg: den Landschafter I. L. Mali, der 36 Jahre alt starb, wie den Historienmaler A. Baumann, von dem die Fresken

in den Hallen des neuen Gottesackers in München herrühren, in gleichem Alter. Endlich haben wir des raschen Todes 31t gedenken, der uns den Architeeten Stüler

August Stüler, l.

und beinahe im selben Momente den Bildhauer Kiß raubte.

preuß. Oberbaurath, starb am 18. März. Ein Schüler Schinkel's hat er in desseil Geiste fortzuarbeiten gesucht, wie er noch wenige Jahre vor seinem Tode in der Rede am Schinkelfeste beklagte, daß Schinkel's Einfachheit von den Jüngern ver­

lassen werde, Formen sich hervordrängten, die von der edlen Hoheit der seinen durchaus abwichen uni) ein gewisses Haschen nach malerischem Effekte sich geltend

mache. Stüler's Bedeutllng lag in seinem feinen, sinnigen Detail, und er war daher ganz der Mann, sich den Plänen König Friedrich Wilhelm's IV., seines

Gönners, zu fügen und sie auszuarbeiten. Der große schöpferische Gedanke fehlte

ihm.

Seine bedeutendsten Ballten sind die Börse zu Frankfurt, das neue Mu­

seum, die Markus-, Bartholomäils-, Matthäi- und Jakobskirche, die Kllppel des Schlosses in Berlin, das Universitätsgebäude in Königsberg, das WallraffRichartz-Museum in Cöln, die Mllseen in Stockholm und Pesth und die Burg Hohenzollern.

Das Glück war ihm mit schönen Aufgaben günstig, und sein

Name hat einen Hellen Klang. Wenige Schritte vom neuen Mllseum, Stüler's Hauptwerk, steht die Aniazone, das Hauptwerk von Augllst Kiß, der am 2 1. März

gestorben.

1802 geboren, ist er 62 Jahre alt geworden.

Aus Rauch's Schule

hervorgegangen, hat ihm die Amazonengruppe, welche 1 839 im Modell fertig

wurde, einen europäischen Namen gemacht, imd gleich bei ihrem Entstehen ein solches Aufsehen erregt, daß man eine Subscription eröffnete, um das kolossale Werk in Bronze ausführen zu lassen. Die Gruppe ist entschieden eines der be­

deutendsten Werke der modernen Plastik, wenn nicht das bedelltendste freier Phall-

tasie. Die Kühnheit der Composition und die meisterhafte Ausführung gleich wie die der Natur in feinsinnigster Weise abgelauschte Wahrheit verdienen die

größte Bewunderung. Später folgten die Reiterstatuen Friedrich's des Großen und Friedrich Wilhelm's IV. für Breslau, des Letzteren auch für Potsdanl,Beuth's Statue vor der Bauakademie, Winterfeld's und Schwerin's für den Wilhelms­

platz, des alten Dessauers für Dessau und einige Mausoleen.

gruppe allein schon wird seinen Namen verewigen.

Die Amazonen­

Literarische Nevue. Vom deutschen Büchermarkt. Der deutsche Büchermarkt bietet nach Neujahr ein ödes Bild. Von den glänzenden Schaufenstern der Buchhändler ist die bunte Welt der Jugend - und Kinderschriften, sind die Prachtbände, die Kupferwerke, die goldstrotzenden Mini, aturallsgaben verschwunden, die für die kauflustigen Massen zu Weihnachten ausgestellt wurden. Die Sortimenter legen die großen Strazzeir auf, von allen Seiten, aus Nord und Süd, Ost und West laufen die Remittendenzettel zum Aussüllen ein, und „Soll und Haben " wird mit einem Eifer durchgenommen, wie das berühmte Buch gleichen Namens kaum von dem eifrigsten Leihbibliotheken­ leser. Aus den Büchertischen der Buchhändler wachsen die Krebshaufen zu Py­ ramiden im und die Ballen der nicht verkaufteil Bücher, denen man den wohlkliilgendeir Namen Remittenden gibt, wälzen sich, lawinenartig anwachsend, nach den Centralpunkten des deutschen Buchhandels, von wo sie den Verlegern wohl­ verpackt wieder zuwandern. Die armen Bücher, an denen der Sortimenter nicht ganz verzweifelt, behält er als Disponenden, nni sie, wenn sie auch im zweiten Jahre sich nicht als verkäuflich gezeigt, unbarmherzig für immer ziirückzuschicken. Das sind die verhängnißvollen ersten Monate des Jahres, in welchen die lite­ rarische Bilanz gezogen und der Courszettel des deutscheil Buchhandels gemacht wird. Die Leipziger Commissionäre sind in diesen Tagen genau in der Lage, jedem Schriftsteller sagen zu können, wie seine Actien stehen. Diese Börsentage sind völlig todt für den Markt selbst: es erscheinen wenig Neuigkeiten, die nicht in Fortsetzungen oder in Zeitschriften bestünden. Die letzteren haben ihren natürlichen Termin im Neujahr, aber auch dafür ist der Kalender schwankend geworden, indem es die Speculation, welche Alles in's Auge fassen lnuß, für günstiger erach­ tete, im Oktober mit den Zeitschriften, namentlich mit neuen zu beginnen, da mit Anfang des Winters die Leselust reger wird, und der Beutel von den Weih­ nachtsfreuden lind Neujahrsrechnungen nod) nicht afficirt ist. Die Lust zur Gründung von Journalen ist in den letzten Jahren, namentlich auf dem Boden der Unterhaltungsliteratur, ausnehmend groß gewesen. Die colossalen Er­ folge einzelner Zeitungen und Wochenblätter haben ein wahres Fieber in den buchhändlerischen Kreisen entzündet. Die 140,000 Abonnenten der „Garten­ laube", die 100,000 der „Jllustrirten Welt" ließen die Verleger schon nicht

116

Literarische Nevue.

mehr schlafen, und nun gar der noch großartigere Erfolg von „Ueber Land und

Meer," das

bei seinem immer noch ansehnlichen Preis 60,000 Abonnenten

zählt, — das war unerhört auf dem Büchermarkt, und ein einigermaßen unter,

nehmender Verleger meinte, man brauche nur einen Namen für das Journal zu

haben, so seien die Abonnenten schon da. In der jeweiligen Provinz schwingen sich diese Nachahmungen, die ihren Vorgängern Alles bis auf das 3E gestohlen,

mit Ausnahme des Titels, zu einer anständigen Abonnentenzahl empor, auf der

sie sich ein paar Jahre halten.

Mit Freuden würden wir dieses Symptom

unserer Zeit begrüßen, denn es spricht sich der Drang des Volkes nach Lectüre darin aus, wenn nur nicht die meisten dieser Journale, statt das Volk zu sich

herauf zu ziehen, gar zu tief zu ihm Hinabstiegen, dem rohen Geschmack durch eine überwürzte Unterhaltung einerseits, anderseits durch eine die Köpfe mit

Scheinwissen und Halbwissen füllende Belehrung huldigen würden. Die letzten Monate des vorigen Jahres haben eine Reihe von solchen Unterhaltungsblättern

austauchen sehen: wir erinnern nur an das „Daheim", die treue

Gartenlaube, einzig mit dem Unterschiede der streng

Copie der

conservativen Tendenz

auf kirchlichem und politischem Boden, die ihm bekanntermaßen das verhängniß­ volle Placet des preußischen Kriegsministeriums erworben: an das „Willkommen",

eine ähnliche Copie, und an die „Hausmannskost", welche ihrem Publicum den Speck und die Linsen der Literatur auftischen. Von größeren illustrirten Jour, nalen ist nur die „Allgemeine illustrirte Zeitung" auf dem Markt erschienen: es

ist dies indeß ein mehrere Jahre altes Journal „Die Glocke", die es unter dieser

dem größeren Titel von „Ueber Land und Meer" entlehnten Firma noch einmal versucht, emporzukommen.

Das „Illustrirte Journal" ist nur ein Abklatsch fran«

zöfischer Clichtzs, die in aller Herren Länder ausgebreitet werden sollen. Das Neue, was die illustrirte Literatur in letzter Zeit gebracht, wäre also nichts Neues sondern „alles schon einmal dagewesen" oder noch da. Nur die Jugend ist mit einer Novität bedacht worden durch die inTrier erscheinende „Lachtaube", welche

neben den trefflichen Jugendzeitschriften, die den Ernst mit der Unterhaltung zu paaren wissen, nur den jugendlichen Lachmuskeln bei Zeiten die richtige Ela.

sticität verleihen will. Wir haben auf dem Scheiterhaufen dieses Kinderhumors, der eine erhellende Flamme geben sollte, über die Einfalt des Anzündenden uns

des Lächelns, wie Huß, nicht enthalten können. Zwei Novitäten haben wir dagegen auf dem Kunstgebiete zu begrüßen; an ihrer Spitze stehen gewiegte Kenner, die

ihr ganzes Gewicht in die Schale legen, aber beide, seltsamer Weise, auch den ganzen Erfolg an ihren Namen knüpfen. Der Herausgeber der einen Zeitschrift

„Ueber Künstler und Kunstwerke", Hermann Grimm, dem wir die meisterhafte

Biographie Michel Angelo's verdanken, beabsichtigt in der vor der Hand nur auf ein Jahr berechneten Zeitschrift — das ist jedenfalls neu — die zerstreuten

Materialien zur Kunstgeschichte zu sammeln und zwar zunächst zur Malerei. Das Blatt ist, wie es beinahe ausschließlich vom Verfasser geschrieben werden soll,

auch ein auf Wenige berechnetes Blatt, wenn es nicht durch Material sich doch zuletzt zu einem dauernden

das zuströmende

und großen Sammelplätze der

Forschungen erweitert. Indeß liegt in dem unscheinbar dünnen Heste ein Gedanke

von großer Tragweite ausgesprochen : nämlich, daß es heutzutage vor allem bei der Forschung darauf ankomme,

die Lücken des Wissens und der Wissenschaft

aufzuzeigen, um zur Forschung und Bearbeitung des Erforschten anzuregen.

Las war es, was uns immer als die Aufgabe all der jährlichen Versammlungen auf dem Boden der Wissenschaft erschien,

bringend werden können.

die dadurch allein wahrhaft frucht-

Weiteren Kreisen wendet sich der bekannte Dramaturg

H. Th. Rötscher mit seinen „Drarnaturgischen Blättern" zu, welche ein Organ

zur Förderung und Hebung der dramatischen Poesie und ihrer Darstellung durch die Schauspielkunst werden sollen.

Der Herausgeber behauptet, das Bedürfniß

nach einem Organe, welches die Interessen der dramatischen Poesie und Darstel­

lung würdig vertrete, sei allgemein. Wenn er einerseits damit die unermüdeten Bestrebungen Anderer etwas gar zu leichtfertig über Bord wirft, so ist ander, seits noch sehr zweifelhaft, ob das von ihm gegründete Organ sich als vollständig

geeignet erweisen wird, jenem allgemeinen Bedürfniß ^u entsprechen. Wir ver­

kennen die Verdienste des Herausgebers keineswegs: aber eben mit seinen theoretischen Diatriben wird der deutschen Bühne nicht auf die Beine geholfen, das Theater,

elend nicht abgestellt.

Der Herausgeber hat das erste Vierteljahrshest mit nicht

weniger als 15 Aufsätzen bedacht: 16 sind es im Ganzen und die meisten haben wir schon anderwärts gelesen.

Der Herausgeber scheint demnach die ganze Kraft

des Unternehmens in seiner eigenen Feder zu suchen: möchte die Monotonie, die jetzt schon eingetreten, das elegant ausgestattete Blatt nicht im Keime ersticken! —

Ein dilettirendes Blatt, das zugleich wesentlich auf Belehrung basirt ist, erscheint seit Neujahr unter der Redaction von Dr. W. Meinert und nennt sich „Psychia. trisches Unterhaltungsblatt".

Der anekdotische Stoff, der sich in dieser Wissen,

schäft krystallisirt, dürste wohl ein Blatt füllen.—Eins der bedeutendsten älteren Blätter, „Das Ausland", begegnet uns im neuen Gewände: es hat sich die Jllu.

stration annectirt, gegen die es im Prospect zu Felde zieht und gegen die es nach

vorliegenden Proben auch eine entschiedene Antipathie haben muß.

Das „Ausland"

liebäugelt mit der wissenschaftlichen Geographie Petermann's und dem Bilder, schmuck des Globus, statt eben nur das Ausland sein zu wollen, wie es früher

war, ein Blatt,

das die Erdkunde auf eine anziehende und unterhaltende

Weise zum Gemeingut machte.

Der wissenschaftliche Pli steht dem Blatte doch

nicht zu Gesichte, das einst eines der beliebtesten Blätter Deutschlands war.

Die „Bibliothek ausländischer Classiker", welche das bibliogr. Institut in Hildburghausen begonnen, ist das großartigste Sammelwerk der letzten Jahre. Die Übersetzungsliteratur ist durch die Proletarierarbeit, welche die „schlechten

Löhne" der Buchhändler veranlaßt haben, in solchen Mißkredit in Deutschland

gerathen, daß es an der Zeit war, die besten Kräfte zu einem großen Unter-

118

Literarische Revue.

nehmen zu sammeln, an welchem mitzuarbeiten allein schon zur Ehre gereicht,

das aber auch andererseits durch die höchsten in Deutschland möglichen Honorare den Uebersetzern Muße gönne, mit Fleiß und Eifer an die große Ausgabe zu

gehen.

In England und Frankreich wird ein tüchtiger Uebersetzer hoch geschätzt

wie ein Originalautor, und englische Ueberseherhonorare übersteigen um ein Be­

deutendes die deutschen Originalhonorare.

Wenn auch das Letztere bei uns noch

in weiter Ferne steht, so werden wir doch das Erstere erreichen, wenn sich wie

bei diesem Unternehmen die besten Namen vereinigen.

Die deutsche Sprache be­

sitzt allein die Vielseitigkeit, Selbstverleugnung, Formgewandtheit und Vollen­

dung, um der Eigenart fremder Geistesschöpfung bei der Nachbildung gerecht zu werden, wir sind die Uebersetzer „von Gottes Gnaden" und doch gilt das Ueber-

setzen für ein'niederes Handwerk, statt für eine respectable Kunst, da wir doch einen Fürsten an der Spitze unserer deutschen Uebersetzer stehen haben.

Die

Bibliothek der ausländischen Classiker erfüllt darum eine doppelte Aufgabe und nach den uns vorliegenden Heften in würdigster Weise: fünf Hefte sind in un­

seren Händen, welche Shakspeares Romeo undMacbeth in Jordan's, Shatspeares Hamlet in Seegers Übersetzung, Tegners Frithjofs Sage von H. Viehoff, Tö­

pfers Rosa und Gertrud von K. Eitner enthalten.

So sehr Shakspeares Ver­

deutschung mit der eingebürgerten Uebersetzung von Schlegel zu ringen hat, wird sich die neue Bearbeitung beider „Dichter" — denn W. Jordan und L. Seeger

sind solche — doch bald als ebenbürtig behaupten.

Treue, Eleganz und echt

deutsches Gepräge haben wir in allen uns vorliegenden Bänden gefunden, am

wenigsten hat uns die Frithjofssage in Viehoffs Bearbeitung behagt: Tegner

harrt trotz der vierzehn vorhandenen Uebersetzungen noch immer des richtigen

Dolmetschers für den, der das Original gründlich kennt. Ein wirklicher Schmuck ür unsere Büchersammlungen wird diese erste umfassende und gediegene Ueber, setzung der Classiker des Auslandes sein. — Den alten Classikern Deutschlands

ist die deutsche Bibliothek von Heinr. Kurz gewidmet, welche I. I. Weber in luxuriöser Ausstattung nach Druck und Einband erscheinen läßt.

Der siebente

Band enthält Jörg Wickrams „Rollwagenbüchleiil", eine Sammlung von grö­

ßeren Erzählungen, so genannt, weil sie zur Unterhaltung auf dem Reisewagen dienen sollte.

Der erste Romanschreiber der Deutschen, der Stadtschreiber zu

Bürgheim im Elsaß, erzählt hier seine Schwänke; doch hätten wir es lieber ge­

sehen, wenn uns Kurz einen seiner Rornane geboten. Der genannte Herausgeber hat eben auch die vierte Auflage seiner „Geschichte der deutschen Literatur" (Leipzig, Teubner) vollendet.

Der Vorzug dieser Literaturgeschichte besteht be­

kanntermaßen darin, daß sie neben vollständigem biographischen und biblio­ graphischen Detail, das sie bringt, ruis einen Einblick in die Literatur durch die alisgewählten Stücke alls den Werken der einzelnen Schriftsteller gewährt und

unserm Urtheil nicht maßgebend vorgreift, indem wir uns selbst ein Bild von der Entwicklung der Literatur machen können, zu dem sie uns das Material

bietet. Von ausländischer Literaturgeschichte liegt uns ein Band aus dem handschristlicheu Nachlasse des böhmischen Gelehrten Shafarik vor, welcher die Ansünge der „Geschichte der serbischen Literatur" mit der Gründlichkeit behandelt die ihm einen so großen Namen erworben. Vorwurf und Behandlung desselben macheil das Buch zu einem Bibliothekenwerke. — (Sin kleines Bruchstück der deutschen Literaturgeschichte hat Appell in seinem „Werther und seine Zeit" behan­ delt, ein Blich, das sich ails einer (leinen ästhetischen Bibliographie der Wertherliteratlir in dieser zweiten verbesserten und vermehrten Auslage zu einer gründ­ lichen und umfassenden Bearbeitung dieser einflußreichen literarischen Erscheinnng erweitert, und diesen Theil der Götheliteratur gewissermaßen zum Ab­ schluß bringt. Zur Schillerliteratllr, über die wir bald auch ein „Schiller und kein Ende" rufen dürften, während uns heute noch ein tüchtiger Commentar der Werke des Dichters fehlt, hat Fr. von Gleichen-Rußwurm einen neuen Beitrag in „Schillers Kalender" gebracht, welcher die Tagebücher des Dichters vom >8. Juli 171)5 bis 18o5 enthält, die uns das poetische Soll und Haben und den prosaijchen Revers des Poetenlebens in scharfem Relief zeigen. Das deutsche Volk sieht sich dadurch seinem Liebling so nahe gerückt, daß es die Falten seiner Vor­ hemdchen zählen, und die Kaffeebohnen, die der große Mann gebraucht, nachrech­ nen kaiul. Der Biograph Schillers, Joh. Scherr, dem wir in Journalen demo­ kratischer Färbung mit Aussätzen über alle möglichen literar-cultur-historischen Themata begegnen, welche sich dnrch Derbheit nnb Rücksichtslosigkeit des Urtheils, willkürliche Behandlllng des Historischen für seine besonderen Zwecke und die Nonchalance der Form bemerklich machen, und denen es auch aufzufallen gelingt, hat wieder einen Band solcher Aussätze unter dem Titel: Studien (Leipzig, O. Wigand) gebracht, für die wir den früher benutzten Titel Mixpickles geeigneter gefunden, da eben von gewissenhaften Studien kaum die Rede sein kann. — Auf dem Gebiete der Theologie wird gegenwärtig der Kampf um den „Jesus der Geschichte" und den „Christus des Glaubens" ausgekämpft und die Agitation der Wissenschaft trügt sich in die öffentlichen Kreise des Lebens hinüber. Wäh­ rend die protestantische Geistlichkeit sich in Protesten gegen Schenkel vereinigt, wirft ihm Strauß vor und weist ihm nach, daß er, wie Schleiermacher, auf hal­ bem Wege stehen geblieben, wie dieser Gefühlspolitik auf dem Boden der Reli­ gion getrieben. Was Strauß Schleiermacher vorwerfe, gelte in gleichem Maße für Schenkel; für die Kritik nehme er nicht genau in Anspruch, was der Kritik gehöre und für den Glauben mehr als was dem Glauben gebühre. Das ist der Kern der neuesten gegen Schleiermacher gerichteten Schrift von Strauß, welche den angeführten Titel führt. (Berlin, F. Duncker.) Auch aus dem Boden des Katho­ licismus vollzieht sich gegenwärtig, von Baden ausgehend, ein großer Kamps, den wir erst in die Literatur hereintreten lassen wollen, ehe wir ihn besprechen. Zur Rechtsculturgeschichte hat Ad. Helfferich einen interessanten Beitrag in seinem eben begonnenen Werke: „Der Crbacker" (Leipzig, Brockhaus) gegeben, auf

120

Literarische Revue.

den wir später nach Vollendung zurückkommen.

Auf dem Boden der Staats-

wirthschaft, der gegenwärtig so reich bebaut, und namentlich durch die Poplllarifirung der Wissenschaft befruchtet wird, ist die neueste Erscheinung unstreitig auch

die bedeutendste: wir meinen Wilh. Roschers System der Volkswirthschaft, ein Hand- und Lesebuch für Geschäftsmänner und Stndirerlde (Stuttg., Cotta), das derselbe jetzt in vierter Auflage herausgiebt und von dem der zweite Band: die Nationalökonomie des Ackerbaues mld der verwandten Erdproductionen eben er­ schienen ist.

— Während hier die Popularisirung der Wissenschaft so heilsam

wirkt, hat sie auf dem Boden der Heilwisfenschaft um so gefährlichere Fortschritte gemacht.

Die bekannten Artikel, welche der Gartenlaitbe zu ihrem Rufe verhülfen,

die populär-medicinischen von Prof. Bock sind zu einem Buche „Vom gesunden und kranken Menschen" zusammengestellt worden, das eben in sechster Auflage

in Lieferungen ausgegebe,i wird.

jedoch den Arzt

nicht

Der große Erfolg des Buches, das bis heilte

entbehrlich und

unter

dem Scheine der Berathung

die Menschen um so rathloser gemacht, kurz eine Verwirrung hervorgerusen, die

Niemeyer, der geistvolle Tübinger Professor, in seiner zum Druck gekoinlnenen Rede über Volksarzneimittel so treffend charakterisirt und in ihrer Gemeinschäd­

lichkeit aufgezeigt — der große Erfolg des Buches, sagen wir, hat die populären „Gesundheitslehren"' wie Pilze aus der Erde getrieben: Reclam, Pistor, Kres, Klenke, Lion, und wie sie alle heißen, find Nachfolger Bocks geworden.

Jede Zeitung hat ihren

besonderen Referenteii in populärer Gesundheitspflege und mit lauter Präjervativkenntniffen

werden mir immer kränker, und haben wir all die popularisirtel:

Wissenschaften im Kopfe, so müssen wir doch bei dem kleinsten Unwohlsein 511111

Arzt schicken und verstehen, wie Heine von Bönle sagt, von der Mediciil gerade

so viel, um uns umbringen 511 können.

Diese Gesundheitspflege, wenn sie geblie.

ben wäre, was ihr Name besagt, hätte unendlich wohlthätig wirken können; so haben wir's nur zu einen: lebensgefährlichen Dilettantismus gebracht. — In:

Gebiete der Sprachwissenschaften haben wir nur eine, aber eine sehr verdienst,

volle Arbeit zu erwähnen : des „Registers zu Jacob Grirnms Grammatik, welches G.K. Andersen (Göttingen, Dieterich) bearbeitet und dadurch jenem großen Natio­

nalwerk erst seine Vollendung gegeben hat. Nur wissenschaftlicher Hochmuth samt

den Werth solcher Hilfsmittel für den täglichen Gebrallch verkennen und das Register ist gerade üi diesem Augenblick, wo wir das Wörterbuch desselben Ber. fassers erhalten, doppelt von Werth.

Sie ergänzen fich gegenseitig.

Beim Uebergang zur Geschichte begegnen wir ebenfalls einem Register, das die treffliche „Allgemeine Weltgeschichte von G. Weber" abschließt.

Engelmann

in Leipzig hat ein Register für die ersten fünf das Alterthum umfassenden Bände herausgegeben. Einen Grund für diese Trennung können wir uns nicht denken,

da in der Geschichte die Perioden doch nicht so streng abzuschließen find und überall in einander überspielen.

Die „Geschichte und Geschichtschreibung unse­

rer Zeit" hat Ernst Petsche in einer sehr bemerkenswerthen Diatri-be kritistrt und

namentlich über die letztere, welche formell noch so sehr im Argen liegt, wenn sie auch sonst durch und seit Schlosser colossale Fortschritte gemacht hat, sehr beach-

tenswerthe Wiille ist

gegeben.

Von Mommsens geistvoller Rünlischen Geschichte

die vierte, nahezu unveränderte Auflage erschienen.

römischen Geschichte,

von

einem

Souverän

Ein Bruchstück der

bearbeitet,

macht

diesem

in

Allgenblick «»ehr von sich sprechen, als irgend ein politisches Ereigniß; wir meiner! die Geschichte Cäsars voll Napoleon, dessen erster Band in deutscher

llebersetzung bei Gerold in Wien erschienen ist unb in den ersten Tagerr schon alich iil Delltschland einen Erfolg hatte, wie mir ihn sonst nur in London und

Paris von bedeutendell Buchern kennen.

Ob dieser Erfolg auch den übrigen

Bärlden Zll Theil wird, das möchte sehr die Frage sein.

Eine Kritik des Buchs

karlll nicht Aufgabe dieser Revue sein; ihm gebührt ein eigner Aufsatz.

Deutsche

Betriebsamkeit wird sich nicht nur durch Nachdrucken schänden, sondern auch in Eommentarien

und Flugschriften breit machen.

So hat der schreibfertige W.

Rilstow bereits eine Schrift über das Buch angezeigt, ehe dasselbe nur erschienen war.

Wie man das heißt, brallchen wir unsern Lesern nicht zu sagen.

Von

deiltscher Specialgeschichte haben wir des dritten Bandes einer Geschichte der rothell Erde zu gedenken, welche „die Zeiten der Blüte und Kraft des deutschen

Reichs" schildert:

I. S. Seiberh gibt damit seiner gründlichen Forschung der

„Landes- unb Rechtsgeschichte Westphalens" eine mit Interesse erwartete Fort­

setzung. (Arnsberg, Ritter.)

Zwijcheil Geschichte und Biographie mitten inne steht die Lebensbeschreibung, welche die großen Ausblicke vom Leben der Einzeln-en auf die gesammte Welt­

lage gibt, und bei der eiirzigen Arbeit, die uns in diesen Tagen vorliegt, ist dies an sich schon durch den Stoff geboten, denn es gilt einen Mann, der die Welt

bewegte und beherrschte;

andererseits ist diese Behandlung des Stoffes gerade

ein großer Vorzug des Werkes:

wir meinen Schirrmacher's „Kaiser Friedrich

der Zweite", von welchem der vierte Band (Göttingen, Vandenhoeck u. R.) er­ schienen, welcher den Kaiser in seinen Kämpfen mit Papst Jnnocenz darstellt.

Neben dieser großen Biographie eines großen Fürsten sei der Lebensskizze eines kleinen Fürsten gedacht, der aber feinem Lande ein großer Segen war: Mosle

hat vom Leben des „Großherzogs Paul Friedrich August von Oldenburg" (O. Schulze) ein hübsches anziehendes Charakterbild entworfen. Nicht viel umfang­

reicher, aber ebenso fesselnd ist die Biographie des vom Burgtheater abgetretenen Fichtner, welche den Fürsten G. Czartoryski zum Verfasser hat, jene strenge

Hand, welche mit so sichrer Feder seit Jahren über die Leistungen der Wiener Bühnen in den „Recensionen für Theater" Buch führt. Die unerbittliche Strenge, aber auch die unerschütterliche Gerechtigkeit dieses Kritikers ist bekannt: einen um

so wohlthuenderen Eindruck macht diese Schrift. Trotz ihres geringen Umfangs erscheint sie als das schönste Denkmal auf einen Künstler, der durchaus fern und frei von aller Manier war. —

Zur Memoirenliteratur habeir wir drei reiche

122

Literarische Revue.

Beiträge in Briefwechseln erhalten. Aus früherer Zeit gab Ritter von Arneth, dem wir die meisterhafte Biographie der Maria Theresia verdanken, nun auch

den Briefwechsel dieser Fürstill und Marien Alltoinettens (Wien, Braumüller) heraus, welcher die Jahre 1 770— 17SO umfaßt: ein authentischer Briefwechsel,

über den fein Zweifel aufkommen kann, während bekanntermaßen über dell von Graf Hllnolsteiil lind später von Feuillet de Conches herausgegebenen Briefwechsel

der Marie Alltoinette die bedenklichsten Zweifel erhoben wurden, welche an Täu­ schungen der Herausgeber selbst glauben ließen.

Aus neuerer Zeit stammen die

beiden Briefwechselsammlungen von Varnhagen, welche Ludmilla Assillg wieder

zu Tage gefördert.

Man hat Varnhagen vorgeworfen, er mache es mit Rahel,

wie jener Fischer, der seine Frau immer wieder ins Wasser warf, bis er ihre

Leiche voll Krebsen sah; so krebst jetzt Ludmilla Assing mit der Leiche ihres Oheims aus dessen Nachlaß sie zilr Enttäuschung der scandalsüchtigen Welt, welche meinte, das humboldte sich so fort, den Briefwechsel Barnhagens mit Oelsner heraus­

gab (Stuttg., Kröner).

Oelsner war der „geheime Agent" Preußens in Paris

lind hat in seinen Briefen Buch geführt über die diplomatischen Kreuz- und Quer­

züge des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts und der Briefwechsel hat inso­ fern immerhin einigen Werth für den Geschichtschreiber; das große Publikum aber, das nun einmal hinter jeder Assing'schen Edition Skandal wittert, wird sich wenig

daran erbauen. Ein ganz andrer Reiz — und das scheint auch Brockhaus wohl erkannt zu haben — wohnt dem Varnhagen'schen Briefwechsel mit Stägemann,

Metternich, Heine und Bettina inne, welcher kaum minder eifrig gelesen werden wird, als der mit Humboldt.

Gerade die wlinderliche Zusammenstellllng dieser

vier Personen hat schon etwas eigenthümlich Anziehendes und in jedem einzelnen concentrirt sich eine Phase der geistigen Bewegung der Jahre 1820 — 1830.

Ludmilla Assing hat der Gesammtausgabe der Heine'schen Werke einen ganz kostbaren Beitrag entzogen, um ihn selbst zu verwerthen. — Mit dem dritten Bande ist endlich auch der Briefwechsel Charlottens von Schiller und ihrer

Freunde (Stuttg., Cotta), welchen Ludw. Ulrichs herausgegeben, abgeschlossen.

Die Reiseliteralur ist durch Baron Müllers „Reisen in den Vereinigten

Staaten, Canada und Mexiko" (Leipzig, Brockhaus), von welchen eben der dritte Band erschien, bereichert worden.

Dieser letzte Band des prachtvoll ausgestat-

teten Werkes enthält die Geschichte und Statistik Mexikos, und eine Nomenclatur

der Wirbelthiere des Landes. Die Statistik, welche sich über die geographischen

und klimatischen Verhältnisse, Bevölkerung, Maße und Gewicht, Minen, Acker­ bau, Viehzucht, Industrie, Handel und Verkehr, sowie die Staatsverhältnisse verbreitet, ist reich an neuem Material und wenn auch Kenner Mexikos in dem

ganzen Buche etwas zu viel Phantasie finden, welche die wirklichen Verhältnisse

überwuchere, so mag das seine Entschuldigung in dem Umstand finden, daß der Verfasser eine ganze Masse Material, das ihm auf dem Wege nach Europa ver­

loren ging, „aus der Tiefe des Gemüths ersetzen" mußte.

Trotz dieser Verluste

wird der Verfasser dem Vorliegenden noch zwei Werke: eine „Beschreibung des

Kaiserreichs Mexiko" und eine „Naturgeschichte der Wirbelthiere" nachfolgen lassen.



„Erinnerungen ans

van Rhyn aus

Spanien" hat

dem Hol­

ländischen des Caperose (Leipzig, Brockhaus) übersetzt, und der bekannte Rector des Gymnasüllns

in Lemgo H. R. Brandes, welcher jedes Jahr seine Ferien­

reise zu Papier bringt und in kleinen Heften veröffentlicht, hat diesmal ebenfalls

seinen „Ausflug nach Spanien" (Lemgo, Ateyer) zum Druck gegeben.

Durch die

neueröffnete Eisenbahn wird der Zauber auch dieses Landes bald den profansten

Augen verfallen. Der Rector von Lemgo ist gerade kein sonderlich poetisches Ge­ müth, erzählt aber ganz leidlich, etwa wie man in kleinen Städten im Kreise der Honoratioren am Wirthstische Abends erzählt.

Er ist noch ein gutes Stück

„alte Zeit"! Die Kriegsgeschichte ist dllrch die jüngsten Ereignisse in Schleswig-Holstein

mit einem tüchtigen Stück Literatur bereichert worden; im Ganzen macht diese

Literatur keinen sonderlich erquicklichen Eindrilck. Man sieht nur den Flügelschlag der Raben, die über das Schlachtfeld hinziehen. Die Buchmacherei, die in Deutsch­

land so stark grassirt, hat sich hier wieder im glänzendsten oder widerwärtigsten Lichte gezeigt. Wir haben hier nur noch die Nachzügler zu verzeichnen: Adelbert Graf

Baudissin's „Schleswig-Holstein Meerumschlungen", das weder Vogel noch Fisch ist, weder Geographie noch Geschichte, ist noch im Erscheinen (Stuttg., Hallberger)

begriffen.

Die Correspondenten der Tageszeitungen haben wie der Engländer

Russel sämmtlich ihr Material noch einmal zu verwerthen gesucht, Wilhelm Petsch

in zwei Büchern „Mein Feldtagelnich" (Berlin, Schlesier) und „Heldentheater,

Characterbilder und Anekdoten" (Ebend.), und der bekannte Militärhumorist von Winterfeld bringt seinen „Schleswig-Holsteinischen Krieg" mit dem zweiten Bande (Potsd., Döring) zu Ende.

Aus dem Krieg in Unteritalien datirt noch

das Buch des sächsischen Hauptmanns v. Meerheimb „Von Palermo bis Gaeta"

(Dresden, Burdach), eine Darstellung im Sinne des entthronten Hauses.

Die Kunstlehre und Kunstgeschichte wird in selten thätiger und tüchtiger Weise bearbeitet; zwei Zeugnisse liegen eben davon vor.

Das eine ist Riegel's

„Grundrisi der bildenden Künste" (Hannover, Rümpler), welcher ein klares, über­ sichtliches Bild der Wissenschaft gibt, der die jüngste Zeit erst die sichere Basis gegeben, auf welcher jetzt aufgebaut werden kann.

Das andere ist W. Lübkes

„Geschichte der Architektur", welche bereits in dritter Auflage erscheint.

Der

Verfasser hat nainentlich der neuen Zeit, die bisher etwas dürftig bedacht wor­

den war, Rechnung getragen und die neueren Forschungen mit Fleisi benützt. Das handliche Buch, daS sich durch ungemein glückliche Anordnung und klare,

auch dem Laien zugängliche Darstellung auszeichnet, ist wirklich geeignet, die

Kenntniß dieser Wissenschaft, die wir kaum mehr entbehren können, in die wei­ testen Kreise zu tragen.

Ein kleines, für Mllsikgeschichte interessantes Büchlein

ist das „Skizzenbuch von Beethoven", das G. Nottebohm (Leipzig, Breitkopf)

Literarische Revue.

124

beschrieben und in Auszügen dargestellt.

Für die Theaterstatistik ist ein unent.

behrliches Handbuch, das im achten Jahrgang erscheint: F. Röder's „Theater­

kalender" (Berlin, Peiser).

Während dieser dicke Band seine Blätter mit dem

Schematismus der deutschen Bühnen füllt, schildert uns W. Grothe Bühnenleid und

Schauspielerlust in seinem Buche „Aus dem Reiche der Lampe und der Schminke" und variirt jenes unerschöpfliche Thema, das immer neuen Reiz hat, so oft wir es auch schon haben von berufenen und unberufenen Händen behandeln sehen.

Ich stehe am Rande des unsrer literarischen Revue zugemessenen Rauines, und doch überschaue ich noch eine lange Reihe von Gedichtsammlungen, Romanen

und Theaterstücken, welche die letzten beiden Monate auf unsern Büchertisch ge­

legt und unsre Leser sind vielleicht gerade darauf am meisten gespannt, wir müs­ sen sie zu unsrem Bedauern auf das nächste Heft vertrösten: sie erhalten uns

wohl bis dahin ihr Interesse!

vermischte Mittheilungen.

Fortschritte im russischen Schulwesen. Die Reform des Schillwefens bildet bekanntlich in Rußland jetzt eine der

brennendsten Tagesfragen und man kann säum ein russisches Blatt in die Hand

nehmen, ohne aus Erläuterungen über diesen Gegenstand zu stoßetl.

Man hat

in allen Kreisen dessen hohe Wichtigkeit vollkommen eingesehen, und ist eifrig

bemüht, den Mängeln, welche bisher bestanden, abzuhelfen oder da, wo noch

gar nichts vorhanden war, etwas Tüchtiges und Gutes 511 schaffen. Freilich läßt

sich diese in das Culturleben der Nation mächtig eingreifende Reform nicht über das Knie brechen, und es taufen begreiflicher Weise auch viele Fehlgriffe mit

unter; aber die Erkenntniß, daß eine Besserung eintreten müsse, ist allseits vor. banden und es fehlt auch nicht an vielversprechenden Keimen, aus denen einst ein schöner Baum erwachsen wird.

Wir freuen uns, hier eine Reihe von Fort­

schritten auf diesem Gebiete constatiren zu können, welche jedenfalls von dem Ernste Zeugniß ablegen, mit dem man die Sache angreift.

Daß Rußland sich

hierbei fremde Länder, und vor allem Deutschland, in mancher Beziehung zum

Muster nimmt, kann nicht ausfallen. Denn da, wo es sich um dieErlernllng des Guten handelt, sollen keine nationalen Eifersüchteleien und Vorurtheile mit in's Spiel kommen; hat doch der französische Unterrichts minister vor Kurzem laut

und öffentlich anerkannt, wie sehr Deutschland in Bezug auf das Volksschul­

wesen allen andern Ländern der Welt weit voraus sei und wie die Bildung, die dem Aerinsten dort zu Theil wird, einen der schönsten Vorzüge dieses Landes aus­

mache.

Und was das stolze Frankreich, „das an der Spitze der Civilisation

marschirt", willig und gern anerkennt, das kann, so glauben wir, auch das große Zarenreich thun. Seine Regierung ging hierin mit gutem Beispiele voran. Das

beweisen unter anderm die Sendungen russischer Gelehrten und Pädagogen nach Deutschland, die von dort eine hohe Achtung für die deutschen Universitäten und

Schulen mit heimbrachten.

Man muß sich dabei in Rußland nicht an Einzelnes stoßen und das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, wie dies z. B. ein Herr Uschinski im Feuilleton der „Stimme" vom 4. März thut.

Er versucht es, die weibliche Erziehung in

Deutschland durch schlechte Späße lächerlich zu machen.

Er hofft, daß man in

126

Vermischte Mittheilungen.

Rußland einen humaneren und christlicheren Plan für die weibliche Erziehung

finden werde, als dies bisher in Deutschland der Fall ist.

hier das Bessere als Feind des Guten auftreten soll.

Es scheint, als ob

Bei uns geschieht doch

wenigstens etwas, sogar viel. Aber in Rußland? Dort muß man erst ansangen,

und es steht Anfängern schlecht, über Leute, die es bereits zu etwas gebracht haben, zu spotten.

Da, wo nicht überall die Regierung in Rußland mit der Einrichtung von Schulen vorgehen kann, treten einzelne Leute, Corporationen oder Städte in die

Lücken ein.

Aus reiner Liebe zur Sache gründete, wie die „Nordische Post"

erzählt, ein Adliger des Gouvernements Mohilew, Tschernitscheff, auf seinem Gute eine Schille, in der er selbst zuerst nebst seiner Frau und einer Goilver-

nante als Lehrer wirkte.

Er unterhielt alles aus eigenen Mitteln, die Schule

wuchs und verbreitete Segen nach allen Seiten. Bei uns in Deutschland würde ein solcher vereinzelter Fall immerhin Anerkennung verdienen, allein in Ruß­

land ist er eine hervorragende That, wenn man bedenkt, wie wenig dort im Gailzen noch für die Volksbildung bisher gethan wurde. Auch durch Vermächtnisse geschieht mancherlei für das Schulwesen. So spen­

dete kürzlich ein Ehrenbürger der Stadt Twer, A. F. Golovinski, für das dortige Gymnasium die bedeutende Summe von 1 1,000 Rubeln, und von 3000

Rubeln für die öffentliche Bibliothek.

Derselbe wohlthätige Mann hatte bereits

10,000 Rubel dafür verausgabt, die niedrig gelegenen Stadttheile seiner Vater­ stadt gegen die Ueberschwemmungen der Wolga 311 schützen.

In Sainara, der jüngsten der russischen Gouvernementsftädte, giebt sich

auch ein erfreulicher Fortschritt kund, welcher diesen Ort, der nur 30,000 Ein­ wohner zählt, bald zu eiuer der bedeutendsten Provinzialstädte Rußlands erhe­

ben wird. Dort bestehen vier weibliche Erziehungsanstalten, während in Wladi­ Und zwar ein weibliches Gyinnasium, eine Kreis- und

mir keine einzige ist. zwei Pfarrschulen.

Für die Töchter aus dem Stande der Geistlichkeit ist auf

Kosten dieser letzteren am 24. Februar eine eigene Schule Kapital von 10,000 Rubeln flüssig gemacht worden.

errichtet und ein

Diese an und für sich

erfreuliche Thatsache hat jedoch eine bedenkliche Nebenseite. Wohin soll es führen, wenn die Stände sich schon in der Jugend streng scheiden?

Man hat eigene

Schulen für die Kinder der Adligen, der Kaufleute und der Soldaten — jetzt trennen die Geistlichen noch ihre Töchter von denen ihrer Mitbürger.

Mit Recht

sprechen sich die Petersburger Nachrichten, denen wir diese Notiz entnehmen,

gegen eine solche Maßregel aus. Auch die Trennung nach Glaubensbekenntnissen ist sehr zu mißbilligen; nur bestehen in Rußland z. B. für die Juden noch Verhältnisse, welche zu einer

solchen Trennung zwingen. So haben wir denn aus Grodno von der Eröffnurlg einer russischen Schule für jüdische Knab en zu berichten, welche bereits von 620 Schülern besucht wird.

Den dortigen Juden ist zu einer solchen neuen Pflanz-

statte der Bildung nur Glück zu wünschen. Beklagenswerth aber bleibt es in hohen! Grade, daß die Intoleranz vorzugsweise der polnischen Gesellschaft in jenen Gouvernements noch immer diese eonfessionelle Absonderung zur Noth­ wendigkeit macht. An Gewerbs- und Handelsschulen ist in Rußland noch großer Mangel. Aber auch hier offenbart sich der Fortschritt. Mitte Januar wurde in Sara­ tow eine Ackerbauschule eröffnet, die auf den Vorschlag des Ministers derReichsdomänen, 45 Werst von der genannten Stadt, auf der Marine-Lehrmeierei errichtet wurde. Der Zweck dieser Anstalt ist derselbe, welcher auch der Grün­ dung der Schulen in Gorigorezk, Charkow und Kasan zu Grunde lag, d. h. die Bildung geschulter Wirthschafter, Comptoiristen und Commis. In der Folge wird wahrscheinlich noch eine Klasse für Mechaniker und Techniker errichtet wer­ den. Vorläufig bestehen nur die beiden Vorbcreitungsklassen und im August dieses Jahres soll eine dritte Klasse hinzukommen. Es sind im Ganzen 2 1 Zög­ linge eingetreten und unter.diesen befinden sich Söhne von Adligen und Kalls(eilten. Man erwartet von dieser Anstalt wesentlichen Nutzen für die Land­ wirthschaft der umliegenden Gegenden. A.

Nothstand in Russland. Der Winter und das Frühjahr haben mit ihren ungünstigen klimatischen Verhältnissen in einem großen Theile Rußlands Krankheiten und Seuchen hervorgerufen, die eine ungemeine Ausdehnung angenommen haben. Die Rück­ wirkungen dieser Calamitätell auf Handel imd Wandel sind nicht ausgeblieben. So berichtet manaus Charkow, daß dort die commerciellen Verhältnisse sehr gedrückt sind und eine allgemeine Einschränkung unter den wohlhabenderen Be­ wohnern stattfindet. Viele Güter und Häuser werden wegen Geldmangel zu Spottpreisen geradezu verschleudert. Wucher ist an der Tagesordnung, Privatcrebit nicht vorhanden, denn es ist vorgekommen, daß sonst creditfähige Leute für Summen von 4000 Rubeln Wechsel un Betrage von 7000 und 8000Rubel ausstellten. Die Preise für landwirthschaftliche Prodncte sind bedeutend ge­ sunken. So erhielt ein Gutsbesitzer für den Tschetwert Weizen, welcher ihm im August auf 3 Rubel bis 3 Rubel 50 Kop. zu stehen kam, im Februar nur 2 R. 50 Kop. Aus Saratow klagt mau über großen Futtermangel. Der Schnee lag dort so hoch, wie seit langer Zeit nicht; die Kälte stieg im Januar bis auf 30 O R. In manchen Schäfereien fielen bis 2oOO Stück Schafe, die, weil sie nichts zu fressen hatten, sich gegenseitig die Wolle abnagten. Man fürchtet einen allgemeinen Wollmangel. Das Heu kostete 50 und das Stroh 20 Kop. per Pud. Es sind dies Preise, wie sie im Saratow'schen, einer Gegend, die in guten

128

Vermischte Mittheilungen.

Jahren zwei reiche Heuernten liefert, noch nicht vorgekommen sind.

In allen

Dörfern herrscht der entschiedenste Futtermangel, obgleich die Bauern den groß»

ten Theil ihres Viehs verkauften.

Pferde, die sonst 30 bis 40 Rubel ko; eten,

werden für 10 bis 15 Rubel verkauft.

Auch aus dem Lande der donischen Ko saken ertönen laute Klagen.

Die Mißernten der letzten drei Jahre, besonders aber der beiden letzten, haben, nach dem russischen Invaliden, einen großen Verfall der landwirthschaftlichen

Verhältnisse zur Folge gehabt.

Der diesjährige Winter mit seinen schroffen

Uebergängen von Regen zu starkem Froste und umgekehrt hat der Viehzucht einen empfindlichen Schlag versetzt und die ärmeren Einwohner fast ganz zu

Grunde gerichtet. Namentlich befindet sich die Bevölkerung der ganzen Umgegend von Nowotscherkask am Rande des Verderbens.

Hunger bereits in hohem Grade empfunden.

An einigen Orten wird der

Viele Bewohner der unteren

Stanizen haben schon im December ihr Vieh geschlachtet und leben jetzt von

gesalzenem Fleische, welchem sie die kärglichen Reste von Mehl oder Grütze, die

sie noch besitzen, beimischen.

Es geht das Gerücht, daß ein beträchtlicher Theil

der Kosaken die geistliche Behörde gebeten habe, während der Fastenzeit Fleisch­ speisen genießen zu dürfen.

Verantwortticher Redacteur: Dr. W. Wolssohn in Dresden. Druck und Verlag von Carl B. Lorck in Leipzig.

Der Großfürst Thronfolger Nikolai Alexsndrowitsch. Ein Herrscher, der das so oft zur servilsten Redensart mißbrauchte

Wort „Landesvatcr" in seiner Person zur leuchtenden Wahrheit macht:

Kaiser Alexander II., der Befreier seines Volkes, der jeden Schritt seiner Herrschaft mit

dem

unermüdeten Streben

bezeichnet, seinem

Reiche die Segnungen der Aufklärung, der mit Gesetzlichkeit verbundenen

Freiheit zuzuführm — Kaiser Alexander, den die Geschichte als einen der größten Eroberer im Geiste der Menschlichkeit und Gerechtigkeit

nennen wird, ist von dem bittersten Weh getroffen worden, das ein Vaterherz treffen kann: den geliebten Sohn zu verlieren. Wohl berechtigt ist die allgemeine Theilnahme an seinem Verlust

und ganz besonders die tiefe Trauer, die sich in seinem Lande kundgiebt.

Aber daß diese Trauer auch dem Hingeschiedenen Sohne Alexan­

ders gilt, den Hoffnungen, die ganz Rußland auf ihn gesetzt — daß es

ein Recht hatte, so große Hoffnungen auf den Thronfolger zu setzen, die es nun zu Grabe trägt: dafür wollen wir ein unverfälschtes Zeug­

niß unsern Lesern mittheilen.

Es ist

eine kurze Charakteristik de-

Heimgegangenen Großfürsten — ein begeisterter Nachruf, wie ihn der frische Schmerz dictirte — aus der Feder Boris Tschitscherin's, Prof,

des russischen Rechtes an der Universität Moskau,

eines der aus­

gezeichnetsten Männer der Wissenschaft in Rußland, eines durchaus unabhängigen und unbestechlichen Charakters*).

Tschitscherin hatte seit

einigen Jahren als Lehrer des Prinzen hinreichende Gelegenheit, ihn genau kennen zu lernen, und spricht sich über ihn folgendermaßm auS: *) Dies zu bestätigen liegt Keinem näher, als dem Herausgeber dieser Zeit­ schrift, der in Boris Tschitscherin einst seinen Lieblingsschüler besaß und ihn für dieselbe Universität vorbereitete, deren Zierde er gegenwärtig ist. R»rdische Stout. IV. 2. H-sl. 1865.

9

130

Der Großfürst Thronfolger Nikolai Alexandrowitsch.

„Rußland wird bald die irdische Hülle desjenigen in Empfang

nehmen, dem es nicht beschieden war, den Thron des Landes zu be­ steigen.

Auf fremdem Boden, fern von der geliebten Heimath, unter

dem Himmel des Südens, verschied der Erbe des russischen Reichs. Heiter und rüstig unternahm er vor kaum einem Jahre die Reise ins

Ausland, erwarb eine Braut, wie er sie sich nur wünschen konnte;

aber statt einer glücklichen Rückkehr und einer fröhlichen Hochzeit findet

er auf der heimischen Erde nur seine letzte irdische Behausung. Sogar

dem erfahrenen Auge unergründlich, barg sich der Tod schon lange unter der Blüthe der Jugend, unter den glänzenden Hoffnungen, und

ereilte sein Opfer unvorhergesehen und unerwartet.

Die jugendliche

Braut umarmte den ihr bestimmten Bräutigam auf dem Sterbelager. Träume, Erwartungen, alles was das Herz mit Freude erfüllte, ver­ schwand wie ein Nebel.

Dieser Schlag wird schwer nachhallen im Vaterlande. kannte den Großfürsten.

Rußland

Er hatte das Innere bereist, vorzüglich die

Gegenden an der Wolga, deren er stets mit besonderer Liebe gedachte.

Seine letzte Reife begleitete ein grenzenloser Enthusiasmus; sie war ein ununterbrochener Triumphzug.

Rußland begrüßte in ihm

seine

Zukunft, seine Hoffnungen, und konnte sich mit überströmendem Herzen an ihm ergötzen.

Auch das Aeußere des Großfürsten zog unwillkürlich

einen Jeden an.

Ein schlanker Wuchs, seine, angenehme Züge, eine

wohlgebildete Stirn, große schöne Augen mit einem geistreichen, hellen,

freundlichen Blick, untadelhafte Körperformen, eine gewisse jugendliche

Anmuth die aus seinem ganzen Wesen sprach — alles das nahm aus den ersten Blick für ihn ein.

Rußland konnte die höchsten Gaben

des Geistes und Herzens in ihm ahnen, kannte ihn aber eigentlich doch nur dem Aeußeren nach und vom Hörensagen, und nur Die­

jenigen, die ihn näher beobachtet, wußten welche Pfänder für das künftige Wohl des Landes in der jugendlichen Seele verborgen lagen, nur sie können die ganze Tiefe, die ganze Bitterkeit dieses Verlustes

vollständig beurtheilen. Der Großfürst war durchaus kein alltäglicher Mensch; sein Na­

turell war ein feines, hochherziges, fähig nicht nur lebendige Sympathie, sondern auch glühende Anhänglichkeit zu erwecken.

Das weiteste Feld

des Denkens und alle Nuancen des Gefühls waren ihm zugänglich. Früh fing er an zu denken, und früh wollte er, aus eigenem Antrieb,

eine Höhe erreichen, die seine Stellung erheischte.

Eine glückliche Wahl

der Umgebung kam besonders in seinen letzten Lebensjahren der unter«

nehmenden Natur zu Hülfe. 1859 wurde Graf S. G. Strogonow zu seinem

Leiter ernannt; Rußland wird diesem Manne sowohl für seine frühere Thätigkeit an der Moskauer Universität ein gutes Andenken bewahren, wie für seine späteren Bemühungen um den Kaiserlichen Erstgebormen,

den er mit väterlicher Umsicht und mütterlicher Sorgfalt bewachte. Von

dem Zeitpunkte, wo Graf Strogonow dem Thronfolger

beigegeben

wurde, sprach dieser immer wie von seiner leuchtendsten Lebensepoche. Eine neue Welt eröffnete sich ihm; er kam mit neuen Persönlichkeitm zusammen, lernte das Denken, die Wissenschaft, die Aufklärung lieben

und achten.

Seine Lehrer können bezeugen, wie schnell die Entwicke­

lung weiter ging; das Herz klopfte freudig, wenn man zuhören konnte, wie klar, folgerichtig genau und kunstgerecht er sogar den Gang philo­

sophischer Ideen auseinandersetzte, zu denen er am wenigsten natürliche

Hinneigung hatte.

In dem zwanzigjährigen Jüngling war die Ruhe

des Geistes und das gesunde Verständniß zu bewundern, womit er in Er irrte sich natürlich nicht

jeder Frage das Wesentliche hervorsuchte.

selten in seinen Beurtheilungen;

wer

irrt sich

nicht oft in seinen

Jahren?

Aber er irrte sich wie ein richtig denkender und aufgeklärter

Mensch.

„Ich thue mir nur auf Eins etwas zu Gute", sagte er,

„darauf, daß ich keine sinnlosen Gedanken habe; — das ist der Haupt­

gewinn, den ich von meiner Erziehung davontrug, und vielleicht ist gerade dies in meiner Stellung das Wichtigste."

Und in der That hat nie­

mand sachwidrige oder sonderbare Meinungen von ihm hören können.

Die Natur hatte ihm die Fähigkeit gegeben, das Falsche und Leere zu erkmnen, genau auf festen Punkten stehm zu bleiben; die fortschreitende

Entwickelung gewährte ihm die Möglichkeit, sich von engherzigen Ge­ sichtspunkten zu befreien, einen breiten Weg zu betreten, den Blick in

alle Gebiete des menschlichen Wissens und Handelns eindringen zu lassen.

Und auf diesem weiten Schauplatze erschien er selbständig.

Er

hatte nicht jenen energischen, prüfenden Geist, der nach neuem Wissm

durstet und unaufhaltsam danach strebt,

allem

auf den Grund zu 9*

132

Der Großfürst Thronfolger Nikolai Alexandrow lisch.

kommen. Seine klare ruhige Natur wartete vielmehr das Heran­ treten der Eindrücke ab; eS schien als wollte bisweilen ein Gedanke an ihm herabgleiten ohne in die Tiefe zu fallen. Aber dennoch ging nichts spurlos vorüber, alles faßte unbemerkt Wurzel, alles wurde still verarbeitet und reifte in der jungen Seele. Die freinden Einflüsse schwanden, die eigenen Urtheile gewannen an Festigkeit. Während der letzten Jahre, inmitten der Erregung und der Prüfungen, die das Vaterland ereilten, verflogen auch jene kindisch-liberalen Ausfälle, die der Jugend so natürlich, ja sogar so nothwendig sind; ein festerer und aufgeklärterer Liberalismus trat an ihre Stelle. Seiner Natur, den Elementen seines Geistes gemäß, hatte er Mitgefühl für die Be­ wegung, den Fortschritt, aber er verwarf alle revolutionären Bestre­ bungen und unmäßigen oder nicht zeitgemäßen Forderungen. Beson­ ders verdammte er unbedingt alles was Rußland schwächen oder ihm Schaden bringen konnte. Rußland liebte er glühend, von ganzem Herzen. Während der Reise im Auslande trugen die Gedanken ihn unaufhörlich dahin zurück und er sagte: „Wenn ich etwas Gutes sehe, so ist es mir immer als müsse etwas Russisches darin sein." In seiner Braut fand er russische Gesichtszüge und einen russischen Charakter. Er liebte die heimathliche Natur, die Ebene, liebte das ehrliche, erge­ bene, männliche Wesen des russischen Soldaten, des russischen See­ mannes. Für die Flotte hatte er eine besondere Zuneigung. Bon Kindheit auf liebte er das Meer leidenschaftlich und leitete gern selbst ein Segelboot. Er suchte sogar diese Leidenschaft zu bekämpfen, um nicht in eine einseitige Richtung zu verfallen. In der russischen Ge­ schichte war er besser bewandert als in jeder anderen Wissenschaft, und beugte sich vor den großen Persönlichkeiten Pcter's und Katharina'«. Mit einem ernsten und festen Sinn, mit einem feinen Gefühl für das Schöne, verband sich in ihm eine bewundernswerthe Kraft sittlicher Principien und religiöser Ueberzeugungen. Die moralischen Motive standen immer bei ihm in erster Linie. Wenn von einem ihm unbe­ kannten Manne gesprochen wurde, so war stets seine erste Frage: ist er ein guter Mensch? Das wurde sogar zur Gewohnheit bei ihm, dieser Ausdruck war ihm stets aus der Zunge. Um sittlicher Vorzüge willen verzieh er gern anderweite Mängel, wurde aber int Gegentheil un-

erbittlich

bei

jeder Abweichung

von

den Forderungen der Moral.

Die kleinste Unwahrheit verdamnite er mit dein ganzen Feuer einer reinen Seele, mit der ganzen Entschiedenheit seiner zwanzig Jahre.

Die Erfahrung hätte später sein Urtheil gemildert;

sie

hätte ihm

gezeigt, daß bei den Menschen am öftersten Gutes und Böses durch­

einander gemischt ist.

Aber die edle Entrüstung der jungen Seele

zeugt immer von einer hohen Natur. cherei verhaßt;

Vorzüglich war ihm alle Krie­

sie flößte ihm Widerwillen ein.

Er verachtete die

niedrigen Naturen; er forderte von den Menschen Ehrlichkeit, Auf­ richtigkeit, Wahrheit, und Leute, bei denen er diese Eigenschaften be­

merkt hatte, wußte er nicht nur zu würdigen, sondern auch zu lieben. In Betreff der Religion waren seine Ueberzeugungen unerschüt­

terlich, während auch nicht ein Schatten von beschränkten Ideen oder Fanatismus in ihm

aufkam.

Dies

war vielleicht der bemerkenS-

wertheste Zug seines Charakters. Bei einem zwanzigjährigen Jüngling

findet man nicht leicht eine so selbstbewußte Festigkeit der Ueberzeu­

gung im Verein mit einer so weitgehenden Toleranz.

Er kannte alle

wesentlichen Einwendungen gegen das Christenthum, wußte aber die­

selben kräftig und treffend zu bekämpfen, indem er sowohl auf die Forderungen des menschlichen Herzens wie auch auf die Rechte der

menschlichen Freiheit hinwies.

Er glaubte mit Wärme, befolgte die

Satzungen seiner Kirche, aber alles das mit Erkenntniß und Ruhe, ohne je das Gewissen Anderer zu verletzen. Braucht noch gesagt zu werden, daß sein Herz rein wie Gold

war?

Wer seine Natur,

die wenig geneigt war

sich

hinreißen zu

lassen, von außen beobachtete, der konnte bisweilen daran zweifeln.

Er selbst hielt sich für leidenschaftslos, obgleich ihm weder die Wärme, noch das heilige Feuer fehlte.

Bei tieferem Einblick jedoch, besonders

in seine Privatbeziehungen, waren die Eigenschaften dieses nicht stür­ mischen, aber mit einem wunderbaren Instinkte, mit seltener Feinheit des Gefühls begabten Herzens leicht zu erkennen.

Sein warmes Ver­

hältniß zur nächsten Umgebung, sein unwandelbares Zartgefühl, seine

liebenswürdigen Freundlichkeiten, seine fast weibliche Zärtlichkeit für diejenigen, die ihm nahestandcn, alles das verrieth eine Seele voll

Sanstmuth und Liebe.

Es kamen bei ihm Züge von kindlicher Herzens-

134

Der Großfürst Thronfolger Nikolai Alexandrowitsch.

einfalt vor.

Auf dem Gesichte eines ihm lieben Menschen wählte er

sich die Stelle, wo er allein das Recht hatte ihn zu küssen.

Jede

Gewohnheit hatte er gern, in der sich der Reiz des häuslichen Lebens

und des Freundekreises spiegelt.

Er wahrte jede Erinnerung die mit

einem Herzenseindrucke zusammenhing, und kam oft mit warmem Ge­ fühl darauf zurück.

Mit zwanzig Jahren liebte er nicht nur Kinder,

sondern verstand es sogar, ihnen Zuneigung einzuflößen.

Er war

für das Familienglück geboren, und alles schien ihn dazu vorzubcreiten.

Bon der Wiege aus kannte er keinen Kummer, seine Kindheit floß ungetrübt dahin; im frühen Jünglingsalter kam ihm die reinste Liebe

entgegen; das Leben entfaltete sich vor ihm in seiner ganzen Schön­ heit, und er genoß es in vollen Zügen.

Ehe ihn die Krankheit ergriff,

konnte man sich nicht genug ergötzen an seinem kindlichen Muthwillen, seiner sorglosen Fröhlichkeit, der schlichten Ungezwungenheit seiner Um­

gangsweise, der naiven Freude, die ihm der Anblick einer neuen Gegend

oder ein neues Kleid gewährten.

Diese Verbindung liebenswürdiger,

kindlicher, seiner jungfräulichen Natur entspringender Eigenschaften mit festen Grundlagen des Geistes und Herzens, verliehen seiner Persön­

lichkeit wunderbaren Zauber und Anziehungskraft.

heitere, warme, freie Atmosphäre.

Um ihn war eine

Er schuf um sich her eine moralische

Welt, deren natürlicher, unwillkürlich alle Herzen anziehender Mittel­ punkt er war.

Man wird vielleicht sagen, das sei ein idealisirteS, unter dem Eindruck

des eben erlittenen Verlustes gemaltes Bild.

möglich, daß er gar keine Fehler hatte?

Fehler!

Ist es denn

Wer hat sie nicht?

Er hatte Eigenliebe, aber sie drängte ihn zu arbeiten, vorwärts zu

gehen, die ihm gebührende Höhe zu erreichen. Eitelkeit zum Vorschein.

Bisweilen kam auch

Aber er gestand seine Fehler so liebenswürdig

ein, strebte so aufrichtig danach sie abzulegen, daß sie nur den Schatten

bildeten, welcher das Licht um so schärfer hervorhob.

„Ich habe früher

gern den Leuten Sand in die Augen gestreut", sagte er; „nicht geradezu,

das thun nur Narren, aber mit verschiedenen Kunstgriffen.

Doch

Dmitri Borisowitsch*) hat mir das saft ganz abgewöhnt." *) Dmitri Borisowitsch Richter, der über sechs Jahre bei ihm war, und für den der Thronfolger die zärtlichste Zuneigung hegte.

Der Großfürst Thronfolger Nikolai Alexandrowitsch.

Ja, es war

eine lichte Erscheinung

135

dem Leben Rußlands.

in

Wir konnten vor der ganzen Welt stolz auf ihn sein, in ihm die Er­ füllung unsrer schönsten Hoffnungen träumen; alles, wofür das Herz

des Russen schlägt: die zukünftige Macht, den Ruhm, die Wohlfahrt Rußlands.

In den Uebergangsperiodcn, in den schweren Jahren der

Krisen und Prüfungen, wo das Leben fast auf jedem Schritt riesen­

hafte Aufgaben und kaum zu

überwindende Schwierigkeiten findet,

streifen die Gedanken des Menschen unwillkürlich in eine hellere Zu­

kunft hinüber; er sucht Trost in der idealen Vorstellung einer Zeit, wo

die Frucht der Arbeiten der Gegenwart zur Reise gediehen sein wird. Und wenn diese helle Zukunft, wenn die erhabene Idee des Vaterlandes

sich in der Gestalt eines liebenswürdigen Jünglings verkörpert, auf

den sich die Blicke von Millionen in freudiger Erwartung richten, wenn der Traum auf diese Weise sichtbar, greifbar, in die schönsten Formen

gekleidet erscheint, dann giebt man sich einer solchen Persönlichkeit mit

ganzer Seele hin.

Im menschlichen Leben ist kein Gegenstand, kann

keiner sein, der mehr dazu angethan wäre, die reinste und innigste

Liebe zu erwecken.

Das fühlt das Herz eines jeden Russen.

Wenn

aber alle diese Träume und Hoffnungen wie Nebel verschwinden, in einem Augenblicke verfliegen, wenn der Jüngling in der Blüthe des

Lebens an der Schwelle des Glücks Menschen übrig?

hinsinkt,

was bleibt da dem

Die Alten beugten sich vor der unerbittlichen Hand

des neidischen Schicksals, welches

das Beste auf Erden, Jugend,

Schönheit, Glück, Hoffnungen vernichtet; wir sehen darin die unerforschlichen Wege der Vorsehung."

Nizza, den 13/25. April 1865.

B. Tschitscherin.

Der Schnitzaltnr in der deutschen Kunst. Von Alfred Woltmann.

Es ist immer das Zeichen einer wahren, naturgemäß erwachsenen Kunstblüthe, wenn die drei bildenden Künste, Architektur, Plastik und Malerei, Hand in Hand gehen und gemeinsam beisteuern zu Schö­ pfungen monumentalen Charakters. Das hatten sie auch in der mittelalterlichen Kunst gethan. Die Skulptur, der sich namentlich an den Portalen ein freier Spielraum eröffnete, und die Wandmalerei hatten im romanischen Styl geblüht. Anders aber gestalteten die Verhältnisse sich, als, in Deutschland um die Mitte des 13. Jahr­ hunderts , die Gothik zur Herrschaft gelangt war. Wie der mittel­ alterlich-christliche Glaube, unbefriedigt von dieser Welt, in eine höhere Welt hinaufweist, so strebt auch dessen künstlerischer Ausdruck, der gothische Bau, statt als feste Masse am Boden zu wurzeln, in zahl­ lose Einzelglicder aufgelöst gegen oben, indem er einer übersinnlichen Idee zuliebe die realen Bedingungen scheinbar verneint und sich unter­ wirft. Sein System beruht auf einer glänzenden aber überkünstlichen Berechnung und ist, ganz wie der stolze Aufbau der damaligen Hier­ archie, überhaupt nur möglich bei rücksichtsloser Consequenz. Das kühne Emporstreben in der Gothik scheint uns ein Bild von Freiheit zu gewähren, und doch ist nirgend weniger Freiheit als da. Unter ein starres, eisernes Gesetz ist alles Persönliche gezwungen. Mögen Detail und Ornament auch noch so verschwenderisch auftreten, sie sind ohne Selbständigkeit und Erfindung. Durch mathematisch construirteS Maßwerk in ewiger Wiederholung ist Alles überwuchert, ein Reichthum, welcher doch nur verkappte Armuth ist. Die Schwester-

fünfte aber, welche die Künste der individuellen Empfindung sind, werden an jeder freieren Entfaltung gehindert. Wandmalerei ist nicht mehr möglich, da es keine Wände giebt. Zwischen den Pfeilern sind nur die großen Fenster da; sie bleiben die einzigen, in höherer künst­ lerischer Hinsicht natürlich nicht sehr günstigen Stätten für die Ma­ lerei; und die Skulptur, so mannigfaltig sie beschäftigt wird, ist in die architektonische Gliederung überall so unfrei hineingeklemmt, daß sie allmählig zur bloßen Steinmetzarbeit herabsinkt. Hierin zeigt sich die große Einseitigkeit des gothischen Styles, mag er auch in anderer Hinsicht noch so bewunderungswürdig fein. Als nun mit dem Schlüsse des Mittelalters der individuelle Geist wieder zu seinem Rechte gelangt und auch die Künste der indi­ viduellen Empfindung, Plastik und Malerei, zu neuem Leben erwachen, müssen diese, um die Rolle zu spielen, die ihnen gebührt, sich loslösen von der Architektur, die sie nicht zu Worte kommen läßt. Beide schließen sich um so enger an einander an, und da sie im architekto­ nischen Organismus keine Stelle finden, gründen sie sich ihren neuen und eigenen Organismus. Die Stätte dafür ist der Altar, der wich­ tigste Punkt int Inneren der christlichen Kirche, au welchem die un­ blutige Erneuerung vom Opfertode des Heilandes stattfindet. Gleich­ zeitig mit dem Auftreten der gothischen Architektur waren bedeutende Umänderungen in Gestalt und Ausschmückung des Altars vor sich gegangen. Es ward Gebrauch, daß der Priester nicht mehr hinter dem Altar, sondern vor demselben stand, abgewendet vom Volke, das Gesicht gegen Osten gekehrt. So ward der Altar ganz nahe an die abschließende Wand des Chores gerückt, und diese Stellung ließ es wünschenswerth erscheinen, daß er, um nicht bei den schlank empor­ strebenden Verhältnissen deö Baues gar zu sehr zu verschwinden, ebenfalls einen höheren Aufsatz erhielt. Diesen auszubilden und zu schmücken ward nun die Aufgabe von Bildnerei und Malerei, je mehr diese Künste im 15. Jahrhundert zu einem höheren Aufschwung ge­ langten. Aber mochten sie auch hier sich frei machen wollen von der Architektur, diese ist doch für jede monumentale Entfaltung der Künste so nothwendig, so sehr die unabweisliche Trägerin, daß Plastik und

138

Der Schnitzaltar in der deutschen Kunst.

Malerei sich genöthigt sehen, erst wieder ein architektonisches Gerüst für ihre Schöpfungen aufzubauen. So entstehen die Flügelaltäre,

zu denen die Form

des altbyzantinischen tragbaren Klappaltärchens

das Motiv gegeben, die aber jetzt in ganz anderen Verhältnissen und reicherer Ausbildung auftreten.

Ein tiefer Schrein bildet den Haupt­

theil dieser Altäre, gewöhnlich mit großen Statuen ausgefüllt.

Flügel

zum Oefsnen und zum Verschließen befinden sich an beiden Seiten,

innen und außen mit Reliefs oder Malereien geziert.

Ein Sockel —

oder eine Predella, um den italienischen Ausdruck anzuwenden —, ebenfalls mit gemalten oder geschnitzten Bildern, trägt das Ganze, und darüber wächst ein reicher architektonischer Aufsatz empor, pyramidalisch hinanstrebmd und in zierlichen Spitzen und Thürmchen, den soge­

nannten Fialen, endigend, in seinen Hohlkehlen, an seinen Ecken, unter seinen Baldachinen wiederum Raum für ein reiches Spielen des Ornamentes, sowie für kleine und große Statuen und Gruppen

gewährend. steigern.

Der Platz für die Bilder kann sich in das Unendliche

Auch die Rückseite ist gewöhnlich gemalt, auch das Sockel­

bild ist oft, wie ein zweiter kleinerer Altar mit Flügeln versehen,

und am Hauptschrein kann sich

zweites gesellen.

endlich dem

einen Flügelpaar ein

Dann entstehen die sogenannten Wandelaltäre,

bei deren erstem Eröffnen dem Beschauer gewöhnlich lauter Gemälde vor Augen stehen.

Aber die Mittelfläche kann sich noch einmal von

einander thun, um das mit Schnitzereien gefüllte Innerste zu zeigen.

So standen also die beiden Künste hier in überraschend inniger Verbindung; ja noch mehr: sie schienen fast in einander überzugehen.

Die Plastik, obgleich eigentlich ihr die wichtigere Rolle zufiel, ließ, der ganzen Zeitrichtung gemäß, welche mehr auf das Malerische ging, in ihren Leistungen einen malerischen Grundzug walten.

Die styl­

volle Durchbildung der Gestalt und die gleichmäßige Betonung der ganzen körperlichen Form, was doch die eigentlich plastischen Elemente

sind, treten ganz zurück.

Dafür waren in der nordischen Kunst jener

Zeit die Bedingungen nicht da.

Keine schönen Gestalten der Natur

wie der alten Kunst standen jenen Meistern als herrliche Vorbilder

vor Augen.

Bei ihnen war das Gefühl für die eigentlich körperliche

Schönheit noch nicht entwickelt; die Schönheit, welche sie verstanden,

war diejenige, welche sich im Antlitz ausspricht, um die Bewegungen,

Stimmungen, Empfindungen der Seele zu verkünden, und hiermit neh­

men die Künstler es so heilig und ernst, daß sie einer gewissen stillen Befangenheit, welche über die ganze Gestalt sich breitet, nicht entgehen.

An und für sich in ihrem Charakter malerisch, hatte die Bildnerei nur noch einen Schritt zu thun, um von der Malerei auch noch die Farbe zu entlehnen.

Der moderne Geschmack ist der Farbe in Bau­

kunst und Bildnerei abgeneigt, und die Aesthetik steht ihm redlich bei,

indem sie haarklein und haarscharf beweist, daß in jene Künste die Bemalung nicht hingehöre. Diese Farbenscheu ist aber einer der größten künstlerischen Mängel unserer Zeit, ist ungesund durch und durch, ist

ein Erzeugniß von Ueberbildnng und Unnatur, ist nichts als ein ab­ gelebtes Ueberbleibscl aus der mattherzigen Zopfperiode.

Das gesunde

Auge freut sich an der Farbe und sehnt sich nach der Farbe, wie es sich nach dem Lichte sehnt und an ihm freut.

Die gesunde Kunst hat

jederzeit der Farbe bedeutenden Spielraum gewährt.

Mag das mo­

derne Vorurtheil auch noch so mismüthig sich dagegen sträuben, die Forschung hat unwiderleglich dargethan, daß auch bei Bauwerken und

Bildwerken der Griechen die Bemalung eine große Rolle spielte.

umfassender war die Verwendung, die sie im Nkittelalter fand. da von den hohen Kirchenwölbungen

bunte Bilder

Noch Wenn

aus goldenem

Grunde strahlten, wenn alle architektonischen Glieder, aller Schmuck

und Zierrath in Farben leuchteten, da kam Leben in das Ganze, recht

im Gegensatz zu der abgestorbenen Kahlheit und öden Unlebendigkeit, die unsere Straßen und Plätze, unsere Hallen und Kirchen heut zu Tage zeigen.

Und die Farbe ist nicht nur eine schöne Zuthat, sie ist

auch nothwendig.

Zwar nur die Form ist das Element,

durch

welches die Plastik wirkt, aber der Form kommt auch die Farbe zu statten, da sie dem Auge hilft, jene deutlicher zu unterscheiden.

Ganz besonders sind nun die Bildwerke auf den Farbenschmuck hingewiesen.

unserer Schnitzaltäre

Kein reiner weißer Marmor,

welcher die feinsten Nüancen der Form zeigt, ist ja ihr Material, sondern das derbe Eichen- und Lindenholz, welches die Farbe nicht nur nöthig hat, um die Formen erkennen zu lassen, sondern auch um das, was in diesem Material unabwendlich herb und schneidend wird,

140

Der Schnitzaltar in der deutschen Kunst.

Entkleidet jene Werke ihres farbigen Schmuckes und sie

zu mildern.

sind zu Leichen geworden!

In Zeiten der Kunstbarbarei, besonders

im vorigen Jahrhundert, aber selbst auch heute noch, ist es häufig vorgekommen, daß solche Bildwerke mit weißer Oelfarbe überstrichen

worden sind, aber regelmäßig ist alle ihre Eigenthümlichkeit, alle ihre Schönheit, ihr Zauber vernichtet.

Die großartige, harmonische, wohl­

thuende Wirkung, welche die alten Meister

mit ihrer Bemalung

erreichten, bleibt bei den heutigen Versuchen dieser Art allerdings voll-

kommell aus, bleibt noch viel weiter hinter den Leistungen der Vor­ zeit zurück, als die heutige Glasmalerei hinter der alten, und erscheint

Die Bemalung der

entweder schwächlich oder grell, oder auch beides.

schönen Altäre von Joseph Knabl in der Münchener Frauen­

kirche ist ein bezeichnendes Beispiel, sie hat die Schnitzereien ver­ nichtet.

Die

alten Meister hatten eben ihre eigene Art, ihren con-

sequent durchgebildeten Styl.

Auf grob naturalistische Wirkung gingen

sie keineSwegeS aus, mochten sie auch noch sehr auf Kraft und Ent­

schiedenheit in der Haltung dringen. und namentlich die Gesichter,

Die Fleischtheile, die Hände

bildeten sie freilich mit der größten

Feinheit und vollkommensten Lebenstreue aus, so daß auch die leiseren Seelenregungen in ihnen sich spiegeln konnten.

Bei allem Uebrigen

aber erhielt die Vergoldung das Uebergewicht, welche das Ganze

gleichsam in eine ideale Sphäre erhob.

Sie füllte die Hauptmassen

und Hauptflächen, durch damascirte Muster leise gedämpft.

Die Far­

ben, die hinzutraten, namentlich an den Innenseiten der Gewänder,

waren

gesättigt, tief und entschieden,

in Roth, Grün und Blau.

Alles leuchtete, prächtig aber gehalten und im wundersamsten Einklang.

Durch diese Art von Zusammenwirken kam es dahin, daß Plastik und Malerei sich eigentlich

gar nicht

mehr als gesonderte Künste

fühlten; der Maler arbeitete, wie der Bildhauer, in Holz und Farbe;

daß die Thätigkeit beider eine verschiedene war, dessen war man sich kaum mehr bewußt.

Bildschnitzer und Maler gehörten fast überall

der nämlichen Zunft an.

Und wenn daraus auch nicht folgt, daß

jeder Künstler beide Techniken ausübte, so war eS doch ziemlich ge­

bräuchlich;

und jedenfalls wurde die Herstellung

des Altars

stets

einem Meister übertragen, der, wenn auch nicht der Verfertiger, so

doch der Unternehmer des Ganzen war. Etwas handwerksmäßig ging es in der damaligen Kunst überhaupt zu, und bei solchen Werken noch in erhöhtem Maß. Hier war den Schülern und Gehülfen stets ein gut Stück Arbeit überlassen. Die verschiedenen Theile waren in künstlerischer Hinsicht außerordentlich ungleich. Regelmäßig standen die Flügel gegen das Mittelstück, die Außenflächen gegen die Innen­ flächen, die Rückwand gegen die Vorderseite an Reichthum der Aus­ stattung wie an Güte der Arbeit zurück. Durch die ganze Art der Behandlung und farbigen Ausschmückung erhält der Altar nun den Charakter voller dramatischer Lebendigkeit. Und nicht allein aus äußeren, auch aus inneren Gründen. Springer hat auf das geistvollste bewiesen, daß die Flügelaltäre eigentlich die in Holz und Farbe festgehaltenen, aus einem vorübergehenden Schau­ spiel zu einem dauernden gemachten geistlichen Dramen oder Mysterien jener Zeit sind. Diesen haben die Maler und Bildschnitzer ihre Mo­ tive entlehnt, haben den poetischen Erzeugnissen ihrer Zeit sich ange­ schlossen. Die vielen Einzelscenen und Einzelvorstellungen bilden bei den Altären eine Reihe nach einander folgender Momente wie die Scenen eines Dramas. Indeß sind gewöhnlich die Altarwerke grö­ ßerer Art reicher als ein geistliches Schauspiel zu sein pflegt. Es gab Weihnachtspiele, welche die Kindheitsgeschichte Christi enthielten, Passionöspiele, Adventfpiele mit der Darstellung der letzten Dinge. Der Altar, welcher nicht zu jedem dieser Feste und Zeitabschnitte geändert werden kann, vereinigt daher häufig alle diese Cyklen. Innen enthält er die Darstellungen aus der Leidensgeschichte, auf den Außenseiten der Flügel die aus der Kindheit, oder umgekehrt. Die Rückseite zeigt in den meisten Fällen das jüngste Gericht. An untergeordneteren Stellen kommen Propheten und Heilige vor, wie ja solche in den Prologen der Spiele auftreten. Den Heiligen und ihrer Legende aber, die ja auch bei. Mysterien oft den Hauptgegenstand bilden, sind mitunter selbständige Altäre, oder bei Wandelaltären die vorderen Innenseiten geweiht. Der Thürmchen-Aufbau oberhalb des Schreines ist bei geöff­ neten wie bei geschlossenen Flügeln sichtbar, und die darin angebrachten Darstellungen müssen daher allgemein gültigen Inhalts sein. Sie enthalten den Gekreuzigten oder Gott Vater mit Engeln, welcher

142

Der Schnitzaltar in der deutschen Kunst.

alsdann die Stelle des Himmels bei den Mysterien vertritt.

Denn

gar oft gingen in diesen die Vorstellungen auf drei über einander errichteten Bühnen vor sich,

deren

oberste

den Himmel mit Gott

Vater und seinen Engelscharen, die mittlere die Erde, die untere die Hölle bedeutete.

Auch an letztere kommt in den Altären mitunter ein

Anklang vor, da im Sockel hie und da ein Bild des Fegefeuers an­

Gewöhnlich aber dient die Predella als eine Art Prolog.

gebracht ist.

Es ließe sich noch weiter ausführen, daß nicht nur die Gegen­

stände, sondern auch die Art und Weise der Darstellung zu einem großen Theil aus dem Anlehnen an jene Schauspiele zu erklären ist. Durch

dieses

wurde

der ausgesprochene Realismus

der Auffassung

wesentlich unterstützt, wurde die Beobachtung eines reichen, prangenden Kostüms, welches einfach der Zeitmode entnommen war, wesentlich gefördert.

Verschiedene der auftretenden Gestalten haben in den My­

sterien ohne Zweifel das allgemein gültige Gepräge erhalten, das in

den Werken der bildenden Kunst ihrer Erscheinung eigen ist.

Ja auch

die Zusammenstellung des Gemeinsten mit dem Erhabensten, die uns

in der Kunst jener Zeit so befremdend entgegentritt, hat hier ihren

Grund.

In allen bildlichen Darstellungen des 15. Jahrhunderts, selbst

bei Meistern von solcher Milde

und Innigkeit des

Gefühls

wie

Martin Schongauer, fällt uns die abschreckende Häßlichkeit und

Rohheit der Schergen und Henker des Heilandes aus.

Das kommt

daher, daß dieselben aus den Spielen allgemein als boshaft, höhnisch

und entmenscht bekannt waren.

Der Flügelaltar in dieser Art ist eine eigentlich deutsche Schöpfung; nur hier ist er allgemein verbreitet und vollkommen ausgebildet.

anderen Ländem tritt er blos vereinzelt auf.

In

Zu den frühesten Bei­

spielen gehört der Klarenaltar von Meister Wilhelm im Chor

des Kölner Domes, aus dem Schlüsse des 14. Jahrhunderts.

In

der künstlerischen Entwickelung war in jener Zeit vor der Plastik die Malerei weit voraus, und so ist hier letzterer allein die Aufgabe zu­

gefallen.

In der Gliederung herrscht

noch die größte Einfachheit;

Schrein und Flügel enthalten in zwei Reihen übereinander die Ge­ schichte Christi in vierundzwanzig Bildfeldern von gleicher Größe, und

nur ein etwas umfangreicheres Mittelbild zeigt, auf die Bestimmung

des Altars bezüglich, die Gestalt eines messelesenden Priesters. Bereits

dem Anfang des 15. Jahrhunderts,

dem

Jahre 1431,

gehört der

Magdalenenaltar in der Kirche zu Tiefenbronn, einem Dorfe unweit Pforzheim an,

eine

schwäbische Kunst jener Zeit.

der interessantesten Proben

für die

Mag auch die Mittelfigur der von En­

geln einporgetragenen heiligen Magdalena ein plastisches Werk sein,

die vorwiegende Kunst ist auch hier noch die Malerei.

In den Hei­

ligengestalten, in den Scenen auö der Geschichte des Lazarus und seiner

Schwestern regt sich ein realistischer Sinn und ein frohes Naturgefühl

zu einer Zeit, da sonst die deutsche Kunst fast noch ganz vom gothischen

Idealismus befangen war.

In die heiligen Ereignisse werden frisch

und heiter die Züge des täglichen Lebens verwebt. auch die Form des Altars.

Eigenthümlich ist

An die beiderseits bemalten Flügel, welche

die Mittelfigur verschließen, lehnen sich ein oberes und zwei Seiten­ felder in der Art an, daß ein breiter Spitzbogen durch das Ganze

gebildet wird.

Eine über dem Scheitelpunkt des Bogens frei ange­

brachte Madonnengestalt bildet den einzigen Aufsatz.

Auch das künst­

lerische Selbstgefühl ist bei dem Meister dieses Werkes bereits erwacht. Er hat — was unt jene Zeit noch höchst selten ist — den Schrein

mit seinem Namen bezeichnet: „Lucas Moser Maler von Wil",

dem benachbarten Reichstädtchen Weyl.

Und noch eine Inschrift, wohl­

bekannt in der Kunstgeschichte, steht gegenüber: „Schrie kunst schrie

und klag dich ser bin begert jecz niemen mer so o we" — ein rühren­ der künstlerischer Schmerzensschrei!

gehend begründet.

Aber er war gewiß nur vorüber­

Gerade in Schwaben nahm jetzt die Freude an

köstlichen Bildern und Schnitzwerken unausgesetzt zu.

Ein weit großartigeres Werk aus etwas späterer Zeit weist die­

selbe Kirche in ihrem Hochaltar auf, welcher, laut Inschrift, im

Jahre 1469 vollendet und zu Ulm von Hans Schüle in gemacht worden ist.

Obgleich dieser sich hier in der Inschrift als Maler nennt,

dürfen wir in ihm doch den Urheber des Ganzen vermuthen.

An

künstlerischem Werthe das Bedeutendste sind die Schnitzereien,

wie

überhaupt seit der Mitte des 15. Jahrhunderts die Plastik das Ueber-

gewicht erlangt.

Die Innenseite enthält die Darstellungen aus der

Passion in streng geschichtlicher Reihenfolge, die auf dem linken Flügel

144

Der Schnitzaltar in der deutschen Kunst.

mit Christus vor Pilatus und der Kreuztragung beginnt, auf dem

rechten mit Grablegung

und Auferstehung

schließt.

Während dies

Gemälde sind, enthält die Mitte in Schnitzwerken die Kreuzabnahme Christi und

darunter den Leichnam des

trauernden Mutter.

Compositionen.

Herrn

im

Schoße

seiner

Beides sind figurenreiche, vortrefflich angeordnete

Ein sehr scharfer Naturalismus spricht sich überall

aus, der in dem häßlichen, dürren Christuskörper der unteren Dar­

stellung seinen Adern und Blutstropfen in das Widerstrebende geht, aber auch in dem schmerzlich emporgewendeten Kopfe der heiligen Jung­

frau zu großer Tiefe des Ausdrucks führt, während bei der Magda­

lena in der oberen Scene den Hoheit beseelt.

schön

gebildeten Kopf eine

seltene

Heiligengestalten von sprechender Lebendigkeit in den

Zügen, hier Elisabeth

und Katharina,

dort

die

beiden Johannes,

stehen an den Seiten. Alle diese Bildwerke zeichnen sich noch besonders

durch den edlen, stylvollen Wurf der Gewänder aus. Die Außenseiten der Flügel enthalten die Gemälde aus der Kind­ heit des Herrn: Verkündigung, Heimsuchung, Christi Geburt, Anbetung

der Könige, in den Farben

einfach, mit landschaftlicher Scenerie.

Gemalte Heiligengestalten nehmen die Rückseite

des Schreins

ein;

aber die gewöhnliche Hinweisung aus die letzten Dinge ist auch hier vorhanden, indem in der Mitte der Erzengel Michael mit der Gerichts­

waage steht.

Im Fialcnaufban des Schreines erblickt man Christus

am Kreuz zwischen Maria

und Johannes.

Die zwölf Apostel zu

den Seiten Gott Vaters schmücken den Sockel,

durch

edle, ernste

Würde das schönste Gemälde von allen.

Schwaben ist an Schnitzaltären besonders reich. Mehrere befinden sich in Hall und Gmünd, hier besonders ein Altar mit der Wurzel

Jesse oder dem Stammbaum Christi, Sippschaft bildet.

dessen Hanptstück die heilige

Der prächtige Wurf der Gewänder und die Fein­

heit der Köpfe werden daran gerühmt.

Eine der großartigsten Schö­

pfungen ist der 1498 vollendete Hochaltar der Kilianskirche zu

Heilbronn.

An Reichthum und Höhe ragt er ebensowohl wie an

Arbeit hervor.

Bis an die Wölbung beinah wächst er hinan, durch­

weg von schlanker, zierlichster Architektur.

Keine Gemälde, nur Schnitz­

werk enthält er, das leider durch einen modernen weißen Oelanstrich

die Hälfte seines Reizes eingebüßt. Ganz oben in den Baldachinen und Spitzpyramiden erblickt man wieder den Gekreuzigten zwischen Maria, Iohannes und Magdalena, sowie verschiedenen anderen Hei­ ligen. Der Mittelschrein enthält in lebensgroßen Figuren die heilige Jungfrau mit dem Kinde, umgeben von einem heiligen Papst, einem Bischof — wohl Sankt Kilian, der Schutzpatron der Kirche, welcher als Bischof von Würzburg starb — Stephanus und Laurentius. Be­ sonders die beiden ersteren imponiren durch den Ausdruck tiefer Be­ geisterung und ernster Ueberzeugungstreue hier, sowie geistvoller Kühnheit dort. Ihnen wie allen übrigen Gestalten ist eine spre­ chende Lebendigkeit eigen; die heilige Jungfrau zeichnet sich durch die vollen, runden Formen ihres Gesichtes aus, das Kind ist von anziehendster Lebhaftigkeit der Bewegung. Hier athmet ein frischer, aber durch Maß und Schönheitsgefühl in den Schranken gehaltener Realismus. Ueberall herrscht ein großer Styl, selbst in der Gewan­ dung, wenn auch hie und da die Falten noch etwas Knittriges haben. Beinahe noch bedeutender im Ausdruck ist die Predella, welche in halben Figuren die ergreifende Vorstellung des Schmerzensmannes zwischen Maria und Johannes, zu den Seiten die vier Kirchenväter enthält, Köpfe die aus dem Leben geschöpft nnd mit höchster Feinheit und Meisterschaft durchgebildet sind, in Auffassung und Haltung höchst mannigfaltig, bald nachdenklich, bald in eifriger Unterhaltung be­ griffen, mit den Händen lebhaft gestikulirend. Ebenso werthvoll sind die Reliefs auf den Flügeln, Christi Geburt und Auferstehung, die Ausgießung des heiligen Geistes und Maria's Tod, in den Compositionen reich und gut ersonnen, in der Behandlung von größter Gelenkigkeit, durch Lebenswahrheit und Naturverständniß ausgezeichnet, in Köpfen und Bewegungen voll Geist, Empfindung und Energie. Der Hintergrund, mag er nun eine Landschaft vorstellen oder ein mannigfach ausgestattetes Gemach, ist ganz malerisch behandelt; bei den Figuren jedoch ist ein wahrhaft plastischer Charakter festgehalten. In Schwaben wird dieses Werk nur noch durch den berühmten Hochaltar von Blaubeuren übertroffen. Wer Ulm besucht und dessen großartigen Dom bewundert, dem ist der Ausflug nach dem drei" bis vier Stunden entfernten Blaubeuren sehr zu empfehlen. Der Nordische Revue. IV. 2. Heft. 1865.

ju

146

Der Schnitzaltar in der deutschen Kunst.

bloße Weg ist schon angenehm und wird immer freundlicher, je mehr

er aufwärts führt im Thal der Blau, des kleinen Flusses, der sich

munter zwischen Wiesen und waldigen Hügeln entlangschlingt,

bis

man endlich in einen engen, von kahlen Felsen umschlossenen Kessel

gelangt, wo von der Höhe eine Burgruine hinabschaut und in der Tiefe das Städtchen liegt.

Am Ende desselben, hart am Blautops,

dem Weiher, azurblau wie ein Gebirgsee,

darin das Flüßchen ent­

springt, ragt die verödete Kirche des ehemaligen Benedictinerklosters auf, welche das Kunstwerk enthält.

In ebenbürtigen Leistungen haben

Skulptur und Malerei das Ihrige dazu beigetragen, während zugleich ein architektonischer Aufbau von höchster Kühnheit und Zierlichkeit das

Ganze trägt und umrahmt, und Alles in wohlerhaltenem Farben­

schmucke dasteht.

Aus den Geinälden tritt uns hier deutlich der Geist

eines Meisters entgegen, welcher unter Schwabens damaligen Künstlern

obenansteht, des Bartholomäus Zeitblom aus Ulm, Schwieger­ sohn des Hans Schülein, den wir oben kennen gelernt.

Die Jahrzahl

1496, welche die Vollendung der Arbeit bezeichnet, stimmt auch vollkommm mit der Blütezeit des Künstlers überein.

Während die Pas­

sionsbilder an den Außenseiten der Flügel und die kolossalen Heiligen­

gestalten auf der Rückwand wohl nur Schülerarbeiten sind, tritt uns des Meisters eigene Hand, wenn das erste Flügelpaar des Wandel-

altars sich öffnet, in den sechzehn Darstellungen aus der Geschichte

Johannes des Täufers, des Kirchenpatrons, entgegen.

Es sind recht

bezeichnende Werke für Zeitblom, diesen anziehenden und ausgezeichneten Künstler, den Waagen mit Recht den deutschestm aller Maler genannt

hat.

In der That, nicht nur der überall wiederkehrende Gesichtstypus

mit der stark vortretenden, leicht gebogenen Nase ist ein ganz vater­

ländischer; deutsch ist vor Allem die Treue, Redlichkeit und Aufrichtig­

keit, die zu uns aus jedem Angesicht sprechen, deutsch das milde, verständige Wesen, die zurückhaltende Bescheidenheit bei allen auftre­

tenden Personen, deutsch aber endlich auch der Mangel an energischem

Handeln, an entschlossenem Eingreifen, der sich überall als die schwächere

Seite von Zeitblom'S Kunst zeigt.

Zeichnung und Verhältnisse der

Figuren sind bei ihm so kenntnißvoll, die Gewandung so edel und

schlicht, die Farbe so warm, klar und harmonisch, daß ihm zur höchsten

Vollendung nichts, als die kecke Sicherheit im Auftreten fehlt. entschiedensten

zu

seinem Vortheil,

in der stillen Erhabenheit,

Am die

sein Element ist, kann er sich daher in den Außenseiten der Predella

zeigen, welche das Lamm Gottes zwischen den vier Evangelisten, Io­

hannes dem Täufer und dem heiligen Benedikt, enthält.

Auch von

Schnitzereien bietet der Sockel das Bedeutendste, in seinem Innern nämlich die Brustbilder Christi und der zwölf Apostel, scharf, aus­

drucksvoll und mannigfaltig in der Charakteristik.

Eine dem Maler

ziemlich entgegengesetzte künstlerische Persönlichkeit tritt uns aus diesen Schnitzwerken wie aus denen des innersten Schreins selbst entgegen. Zwei große Reliefs, sehr flach gearbeitet und im landschaftlichen Hinter­

gründe blos gemalt,

Christi Geburt und die Anbetung der Könige,

nehmen die Flügel ein; in der Mitte steht Maria mit dem Kinde,

über welcher drei Engel mit der Krone schweben, und ihr zur Seite die beiden Iohannes nebst den Heiligen Benedikt

und Scholastika.

Die Arbeit geht nicht sehr in das Detail, welches großentheils der

meisterhaften Bemalung überlassen blieb.

An Großartigkeit stehen diese

Gestalten denen des Malers gleich, aber es herrscht in ihnen nicht

ernste Ruhe, wie bei letzteren, sondern Schwung und Lebendigkeit vor.

Nur noch eine Schöpfung der deutschen Kunst ist erhalten, welche

neben dem Altar von Blaubeuren ebenbürtig dasteht, ja in mancher Hinsicht noch vorzüglicher ist,

der Altar von Sankt Wolfgang.

Wohl ist der Ort, wo er sich befindet, in ganz Deutschland gut bekannt.

Aber wie wenige von den Reisenden, welche nach dem herrlichen Salz­

kammergut gezogen sind, um in den Schönheiten der Natur zu schwel­ gen, haben dem schönen Kunstwerk Beachtung geschenkt.

Gegend werth, in der es steht.

Es ist der

Mir wird immer jener Sommer­

morgen zu den anmuthigsten Erinnerungen gehören, da ich, vom aus­

sichtreichen Schafberg herab gekommen, von dem Friedhof, der in den blaugrün funkelnden Bergsee vorspringt, das alte Kirchlein betrat. Nach der lachenden Frühsonnenheiterkeit draußen mußte das Auge sich

erst an die Dämmerung innen gewöhnen.

Da stand das mächtige

Werk, erst ernst und achtunggebietend, bis endlich Alles Gestalt ge­ wann, der Blick es zu überschauen vermochte und zum vollsten Ent­ zücken hingerissen ward.

148

Der Schnitzaltar in der deutschen Kunst.

Wenige Kunstschöpfungen der Zeit besitzt das deutsche Vaterland, welche von Härten und Schroffheiten so frei sind, durch welche so sehr

der Hauch höchster und lauterster Schönheit weht, wie durch diesen Altar, welchen, der Inschrift nach, Michael Pacher aus Bruneck,

ein österreichischer Meister, im Jahre 1481 vollendet hat.

Hier bleibt

alles Häßliche und Abschreckende fern, hier giebt es keine Scenen und Episoden, in welchen Rohheit und Gemeinheit die Hauptrolle spielen; keine fratzenhaften Hmkerfiguren, keine gräßlichen Marterscenen kom­ men vor.

Alles athmet entzückende Lieblichkeit und wird erklärt durch

süßesten poetischen Zauber. Aufbaues,

Nur in den Baldachinen des zierlichen

welcher oberhalb des Schreines in fünf Spitzthürmchen

emporwächst, ist dem Leiden und Tode des Herrn eine Stelle ver­

gönnt.

Hier hängt er am Kreuzesstamm, indeß Mutter und Lieb­

lingsjünger zu ihm aufblicken.

Andere Heilige zu den Seiten und

ganz oben, unter dem leichten, durchbrochenen Spitzhelm der Mittel­ fiale, die pflanzenartig emporschießt und immer luftiger wird, thront

der Allmächtige, mit der Rechten segnend, in der Linken die Weltkugel

haltend, ernst, mit königlicher Krone und langem Bart.

Zwei holde

Engel knien in Anbetung zu seinen Füßen. Auch dies ist ein Wandelaltar, auf dessen äußerste Flügel vier Scenen aus der Legende des heiligen Wolfgang gemalt sind.

Nach

ihrer Eröffnung zeigen sich acht Gemälde aus der Lehrthätigkeit Christi,

mit der Taufe im Iordan beginnend und der Erweckung des Lazarus

schließend.

Denn nur für Christi Wirken, Wunder und Triumphe,

nicht für Verurtheilung, Peinigung und Sterben ist hier Raum, in diesem Werke, welches glanzvoll, heiter und festlich wie ein Hymnus

feiern soll die Auserwählte des Herrn, die gebenedeite Jungfrau und Mutter.

Ihr ist

der innerste Schrein geweiht.

Auf den Flügeln

daneben sieht man drei Gemälde aus Christi Kindheit, denen als viertes

Maria's Tod sich anschließt.

Ihre Krönung bildet dm Gegenstand

des mittleren Schnitzwerkes.

Majestätisch, in göttlicher Herrlichkeit thront hier der Erlöser und

erhebt in edler Geberde seine Hand, um die heilige Mutter zu segnen, die emporgehoben ist in den Himmel, in den er ihr voranging.

Mit

gefalteten Händen kniet sie vor ihm.

denes, niederwallendes Haar.

Schon ziert die Krone ihr gol­

Demuthsvoll

neigt sie das anmuth-

umslossene Haupt, aus welchem tiefste, verklärte Seeleninnigkeit leuchtet. Was ihr jetzt von Gnade und Himmelsfreude zu Theil wird, sie kann es noch nicht fassen, aber mit vollein Herzen giebt sie sich ihm selig

und vertrauensvoll hin.

Engel umgeben sie, wo nur ein Plätzchen

ist, zu Häupten und zu Füßen, singen und musiciren ihr zum Preise,

halten, unter ihr kniend, die Schleppe ihres Gewandes.

Zur Seite

stehen, in bischöflichem Ornate, die Heiligen Wolfgang und Benedikt,

die mit der Festigkeit und Charakterwürde eine Freiheit und Grandezza

vereinen, wie sie den deutschen Werken dieser Zeit nur in den seltensten Fällen eigen ist, und die kaum gestört wird durH den gar zu weiten, phantastisch spielenden Wurf der Gewänder.

Wie ergriffen von dem

feierlichen Vorgang der Mittelgruppe, schauen sie begeistert und erho­

benen Gemüthes drein.

Alle Figuren stehen unter reichen Baldachinen,

die einen wirksamen Schatten werfen, so daß die in Farben und Gold­ glanz strahlenden Bildwerke aus dem dunklen Grunde desto entschie­

Reizend ist die Umrahmung des Schreines.

dener hervortreten.

Lauter

kleine Gestalten, Erzväter, Propheten, Adam, König David, der Täufer

Iohannes, stehen und wiegen sich zwischen Blumenstengeln und Reben­

gewächs, Tulpenkelchen und Rosenzweigen, Alles bunt, in sinnreichen Verschlingungen.

die Predella.

Eine schöne geschnitzte Anbetung der Könige bildet

Auf den

gemalten Flügeln innen Heimsuchung

und

Flucht nach Aegypten, außen die Kirchenväter, vortreffliche Brustbilder. Nur diese vielleicht nebst den vier innersten Bildern des oberen Schreines gehören dem Meister Michael Pacher, dem Urheber der Schnitzereien, selber an,

während die übrigen Malereien

Gehülfen verrathen.

die Hände verschiedener

Von solchen sind auch an der Rückwand die

großen Heiligengestalten gefertigt, welche sämmtlich der kolossale Chri­

stophorus überragt, der Patron der Schiffer, dessen hier am Gestade des Gebirgsees wohl zu gedenken war.

Denn wer ein Christophbild

gesehen, so ging die Sage im Volk, konnte den Tag über keines jähen

Todes sterben.

An den Schmalseiten des Schreines, für die Vorder­

ansicht durch die Flügel verdeckt, stehen noch die großen Statuen der

zwei ritterlichen Heiligen

Florian

und Georg,

edle,

fast

elegante

Der Schnitzaltar in der deutschen Kunst.

150

Figuren, mit schönen jugendlichen Köpfen, in voller Rüstung, mit entfalteten Fahnen, als hielten sie Wache an dieser Stelle.

Schnitzaltäre kommen auch sonst in diesen Gegenden vor, z. B. der von Hallstadt und der in der Stiftskirche auf dem Nonn­

berge zu Salzburg, ursprünglich in der alten Kirche zu Schaffau, einem Dorfe zwischen Abtenau

und Golling.

Ein schöner kleiner

Altar aus Botzen, jetzt im Nationalmuseum zu München,

wird ebenfalls dem Michael Pacher zugeschrieben.

Weit realistischer

indeß, als die Skulpturen des Sankt Wolfgang-Altars, ist hier das Schnitzwerk

des

MittelschreincS,

die Verehrung

des

neugeborenen

Christuskindes durch Maria und Joseph, denen sich verschiedene Engel,

Ochs und Eselein nebst einigen Hirten gesellen, alle von gleich freund­ licher Theilnahme für das Neugeborene erfüllt, zu dessen Anbetung in der Ferne auch schon die heiligen drei Könige herbeiziehen.

Neben

aller Naivetät und Gemüthlichkeit herrscht in den Formen doch noch eine gewisse Befangenheit vor.

Eine überraschende Schönheit tritt uns

indeß auf den Flügelbildern entgegen, welche jenem Meister in der

That nahe stehen.

In sehr flachem Relief enthalten sie die beiden

Heiligen Katharina und Christina, in denen ein Streben nach höchster Ein seltener Schwung geht durch die Ge­

Idealität sich offenbart.

stalten, ihre Haltung, ihre bauschigen Gewänder.

voll, reich und doch zart.

goldenen Kronen hervor.

Die Formen sind

Unmuthige Gesichter lauschen unter den

Jede Bewegung erscheint graziös, die Hände

sind zierlich und fast theatralisch in der Gcberde. Auch Franken weist verschiedene Altäre auf, die wir nicht im Ein­

zelnen genauer berühren können.

Zwei Künstler namentlich stehen als

Hauptunternehmer solcher Arbeiten obenan,

beide von bedeutendem

Namen und Einfluß, beide talentvoll und außerordentlich produktiv, aber beide fast mehr Bilderfabrikanten als eigentliche Künstler, so daß

bei Allem, was sie leisten, sehr viel mittelmäßige Gesellenarbeit mit unterläuft.

Der eine ist Fritz Heilen, welcher 1467 Stadtmaler zu

Nördlingen ward und

1491 starb.

nach Schwaben verbreiteten

sich

Nördlich nach Franken, südlich

seine Einwirkungen.

Er war es,

welcher vorzugsweise die flandrische Technik und Kunstweise, die er bei

den niederländischen Meistern selbst gelernt, in die Heimath verpflanzte;

und sein Hauptwerk ist der Hochaltar zu Rothenburg an der Tauber.

Der Zweite ist

Diirer's Lehrmeister, der Nürnberger

Michael Wohlgemuth (1434 —1519), der, außer manchen Werken

in Franken selbst, besonders den berühmten Hochaltar von Zwickau geschaffen.

In der ganzen Anordnung ist letzterer dem von Rothen­

burg nahe verwandt.

Die geschnitzten Heiligengcstalten des Mittel-

schreines sind in beiden den Gemälden überlegen; die gemalten Flügel enthalten innen hier wie dort die Scenen aus der Kindheit Christi.

Die Außenseiten sind beim Altar von Rothenburg zerstört, werden aber sicherlich wie bei dem von Zwickau die Passion dargestellt haben.

Die

Rückwand zeigt beidemal das jüngste Gericht. Auch in der Mark, Pommern und Meklenburg, in Sachsen und sonst im norddeutschen Flachlande kommen Schnitzaltäre vor; ein Beispiel ist der Altar in'der Ulrichskirche zu Halle.

Reich an

solchen Schöpfungen ist auch Schlesien, und vorzugsweise Breslau. Alles was sich davon in der Corpus-Christi- und Bernhar­

dinerkirche wie im Museum schlesischer Alterthümer

vor-

findct, wollen wir nicht einzeln erwähnen. Das Beste der Arbeit nach

ist offenbar in einer Kapelle der Magdalenenkirche der Stanis­

laus-Altar, welcher Scenen aus der Legende dieses Heiligen ent­ hält, in dem mittleren Schnitzwerk die sehr figurenreiche und oramatisch

bewegte Vorstellung, wie Sankt Stanislaus, der Bischof, sich bei einer

Klage vor dem Königsthrone einen Verstorbenen als Zeugen citirt.

Größer und im Aufbau mannichfaltigcr, mit gemalten Doppelflügeln versehen, ist der Marienaltar in der Clisabethkirchc, welcher,

nebst anderen Darstellungen und vielen Heiligengestalten, als Hauptstück

eine

höchst

originell aufgefaßte Verkündigung

enthält.

Die heilige

Jungfrau hat ein Einhorn, das Symbol der Jungfräulichkeit, im

Schooße und der vor ihr kniende Engel Gabriel stößt in ein Horn. Der größte Schnitzaltar des nördlichen Deutschlands ist der in

der Domkirche zu Schleswig, ursprünglich in der Klosterkirche zu

Bordesholm in Holstein befindlich.

Hans Brüggemann aus Husum

ist der Meister des Werkes, und wie berühmt es schon in alter Zeit

gewesen, zeigt eine häufig wiederkehrende Sage, die auch an dieses geheftet ist: die Mönche von Bordesholm sollen dem Künstler die Augen

Der Schnitzaltar in der deutschen Kunst.

152

ausgestochen haben, damit er nichts Aehnliches mehr zu schaffen im Stande

sei.

Erst 1521 ward der Altar vollendet, und so treten hier bereits deut­

liche Spuren des Renaissance-Geschmackes in dem sehr verwilderten architektonischen Aufbau

ein, und

gänzlich unbemalt geblieben.

das Schnitzwerk ist seltencrweise

Vier auf das Abendmahl bezügliche Vor­

stellungen füllen die Predella; Schrein und Flügel enthalten sechzehn Scenen aus der Passion, von denen Kreuztragung und Krenzigung in

größeren Verhältnissen die Mitte einnehmen.

Mehrere krönende Sta­

tuen, Adam und Eva, Maria und Johannes, viele Engel nebst dem

Heiland als Weltrichter kommen hinzu.

Das mittlere Spitzthürmchen

endigt in ein nochmaliges Bild des Gekreuzigten. es 385 Figuren und

Im Ganzen sind

Durch diese Größe

die Höhe beträgt 47 Fuß.

wie durch die technische Fertigkeit der Arbeit ragt der Altar hervor.

Außerordentliche Lebendigkeit geht durch, und namentlich die Hände sind von vortrefflicher Arbeit.

Indeß ist das Naturstudiuni kein tiefer

gehendes und was am meisten fehlt, ist das Schönheitsgefühl.

Feste

Haudegen und derbe, bärtige Kriegsgesellen von plumper, vierschrötiger

Gestalt und im Zeitcostüm bilden die Mehrzahl der handelnden Per­ sonen.

Der Meister scheint sich in Calcar gebildet zu haben, wo

ein verwandter, ebenfalls späterer Altar sich in der Klosterkirche befindet.

Aber nicht durchgängig stehen die norddeutschen Leistungen hinter den süddeutschen in höchster künstlerischer Hinsicht zurück.

Elisabethkirche zu Marburg

Die berühmte

enthält in ihrem Querschiff vier

kleine Schnitzaltäre von breitem Format und mit gemalten Flügeln, die unter die Werke ersten Ranges zu zählen sind.

dieser Altäre stellt die heilige Sippschaft dar,

Der anziehendste

die in einer schönen

gothischen Kirchenhalle, wohl in S. Elisabeth selbst, beisammen weilt.

Die Köpfe sind nicht gerade tief und

bedeutend, aber gefällig und

hold, die Gewänder zwar in Einzelheiten verwickelt, aber fließend und weich.

Die hübschen Frauen, die beschaulichen Männer, die lieblichen

spielenden Kinder vereinigen sich zu einem Bilde heiterer, naturfrischer, traulicher Familienpoesie.

Auch hier waren sicherlich schwäbische Einwirkungen bestimmend, die sich ja weit verbreiteten, bis in die Schweiz, wo Jakob Rösch

am Schluß des 15. Jahrhunderts den prachtvollen Hochaltar zu Chur

gefertigt, an den Oberrhein, wo im Münster zu Breisach ein schöner Marienaltar vom Jahre 1526 steht.

Ein großartiges Werk end­

lich, welches sich ebenbürtig den Altären von Sankt Wolfgang und Blaubeuren anreiht, weist der Elsaß auf, den ehemaligen Hochaltar des Antoniterklosters zu Jssenheim, jetzt im Museum zu Kolmar.

Der

thronende Ordenspatron, der heilige Antonius, nimmt die Mitte ein,

in überlebensgroßem Rundwcrk.

Hieronymus mit dem Löwen und

Augustinus mit dem knienden Stifter stehen ihm zur Seite.

Diese

Köpfe, welche zu athmen und zu reden scheinen, sind an Lebenswahrheit, an Energie, an überwältigender Majestät nahezu einzig unter allen Leistungen der Epoche.

Die Predella zeigt offenbar eine ganz andere

Hand; wie erfahren, daß sie ein Meister Desiderius Beichel schon im Jahre 1493 gearbeitet, während alle übrigen Theile des Werkes bereits deutlich den Charakter vom Anfang des 16. Jahrhunderts an sich tragen.

Die halben Figuren Christi und der Apostel, welche der

Sockel enthält, sind geschickt gruppirt und lebendig, aber minder groß­ artig.

Ein unverkennbarer Gesichtstypus mit spitzem Oval, hervor­

tretenden Backenknochen, schmalen Augen und kleinem Hinterkopf geht

überall durch.

Auch die Gemälde dieses Altars nehmen unter allen deutschen Kunstleistungen

der Epoche eine hervorragende Stellung

ein.

Ihr

künstlerischer Charakter scheint auf Hans Baldung Grien (1470—

1552), den großen schwäbischen Meister, der in Dürer'S Fußstapfm trat und in Straßburg gestorben ist, als Urheber zu deuten.

Eine

kühne, feffellose Phantastik herrscht auf dem innersten Flügelpaar, wel­ ches der Legende des Klosterheiligen gewidmet ist, dessen Statue die Mitte des Schreines einnimmt.

Die Versuchung des heiligen Antonius,

der von einem Heere gräßlicher Dämonen gepeinigt wird, ist auf der einen, Paulus und Antonius in der Wüste auf der anderen Seite zu

sehen.

Schließen sich diese Flügel, so zeigt das vordere Mittelbild des

Wandelaltars, flankirt von Mariä Verkündigung und der Auferstehung des Herrn, eine Verherrlichung der jungfräulichen Gottesmutter, wie

die deutsche Kunst sie nicht zum zweiten Mal hervorgebracht.

Das

Kind in den Armen sitzt sie in freier, freundlicher Gegend da.

Ein

goldener Prachtbau von zahllosen Engeln bevölkert, welche zu ihrem

154

Der Schnitzaltar in der deutschen Kunst.

Preise musiciren

und

sie verehren, baut sich ihr gegenüber empor.

Endlose Schaaren andrer schweben vom Himmel herab, wo in strah­ lender Glorie Gott Vater erscheint.

Alles ist in wunderbaren Licht-

und Farbmzauber getaucht.

Hier sind also die beiden aneinanderstoßenden Flügel zu einer größerm Bildfläche benützt.

Bei den Außenseiten de» vorderen Flügel-

paares findet das Nämliche statt;

sie enthalten gemeinschaftlich eine

Darstellung des Gekreuzigtm von Schülerhand.

Diese Art der Anord­

nung bezeichnet in der geschichtlichen Entwicklung des Flügelaltares eine neue Stufe.

Mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts hat wieder die

Malerei der Plastik den Vorrang abgewonnen; sie wird allmählich die

tonangebende Kunst und beansprucht einen größeren Spielraum für sich.

War ihr bisher durch die Bildnerei nur eine bescheidene Neben­

rolle zugewiesen worden, so strebt sie jetzt immer entschiedener dahin,

die Hauptrolle für sich zu erlangen.

Ja es ist ihr sogar nicht mehr

genug, mit der Schwesterkunst die Herrschaft theilen zu dürfen; sie

versucht diese gänzlich zu verdrängen, wie sie einst von ihr zurückgedrängt worden war.

Der große flandrische Meister Hubert van Eyck hatte

schon am Anfang des 15. Jahrhunderts bei seiner berühmtesten Schö­

pfung, dem sogenannten Genter Altar, sich getraut, das ganze Werk, Mittelbild wie Außen- und Jnnmseiten der Flügel, allein mit Hülfe seiner eigenen Kunst, der Malerei, herzustellen.

Nunmehr wird Aehn-

liches auch in Deutschland Gebrauch und hiefür bietet das glänzendste Beispiel der großartige Hochaltar des Münsters zu Freiburg

im Breisgau,

ebenfalls ein Werk des Hans Baldung Grien.

Dies ist der Uebergang zum modernen Altar, der aus einer einzigen

Bildfläche besteht.

Mit dem Anbruch einer neuen Zeit ist kein Raum

mehr für den alten Flügelaltar, welchen man das glänzende Finale

nennen kann, worin die Kunst des Mittelalters ausklingt.

Londoner Skizzen*).

in. Ein Gang durch das britische Museum. „Zwei Dinge können Sie nur einmal in der Welt sehen: das britische Museum und die Londoner Docks.

Einen Krystallpallast kann

man überall bauen; Häuser wie unser großes Parlamentsgebäude giebt

es anderswo auch und Städte mit drei Millionen Einwohnern finden sich im himmlischen Reiche.

Aber der Handel Londons, der uns in

seinen Docks vor Augen tritt, wo alle Schätze der Welt aufgespeichert

liegen; das britische Museum, das in der Großartigkeit seiner Samm­ lungen nicht überboten wird, — die sind nur hier zu finden."

So

sagte mir bei meinem letzten Aufenthalt in London ein Bürger dieser Stadt; ich prüfte den Ausspruch und fand ihn richtig.

Aber wo wäre

auch einem zweiten Lande die Gelegenheit geboten gewesen eine solche

Sammlung zu erlangen? Großbritannien umspannt mit seinen Poly­

penarmen den Erdball und die zahlreichen Colonien liefern dem Mutter­ lande einen großen Theil der in der naturwissenschaftlichen Abtheilung

des Museums aufgestellten Schätze.

Und was England oder die Co­

lonien nicht selbst hervorbrachten, das wandert mit Hülfe des britischen Geldes nach

der Metropole an der Themse.

Zm britischen Museum

zeigt es sich so recht, wie es Geld, und vor allem Geld war, welches als großer Magnet seine Kraft über den europäischen Continent erstreckte

und von dort Schätze der Kunst und des Alterthums gleichsam wie

leichte Eisenfeilspäne nach dem großartigen Gebäude in Great Russell Street hinzog.

*) S. Nord. Revue Bd. II. Heft 3. S. 294.

Londoner Skizzen.

156

Schon ist das weitschichtige Gebäude von seinen Erdgeschossen an bis unter das Dach so vollständig überfüllt, daß man an eine neue

Vergrößerung desselben denkt.

Eine ganze Straße, Montagu Street,

wird demnächst derselben zum Opfer fallen, denn die Sammlungen wachsen dermaßen an, daß viele werthvolle Sachen in Kisten verpackt

in den Kellern aufbewahrt werden müssen. Seine Entstehung verdankt das britische Museum dem bekannten

Sir Hans Sloane.

Vor seinem Tode (1753) überwies er seine groß­

artigen Sammlungen, die ihm 50,000 Pfund gekostet hatten, gegen eine Entschädigung von 20,000 Pfund der Nation.

DaS Parlament

nahm durch eine eigene Akte diese Schätze an und bereits im folgenden Äahre wurde Montagu House zum Zwecke der Aufstellung der Samm­

Nicht lange, und die Räume wurden zu eng.

lung angekauft.

König

Georg III. schenkte die werthvollen ägyptischen Alterthümer, die welt­

berühmten Marmorbildwerke vom Parthenon wurden von Lord Elgin angekauft, neue Bibliotheken erworben.

lischer Architekt,

Da entwarf ein genialer eng­

Robert Smirke, 1823 den Plan zu dem neuen

Prachtgebäude, das mit ionischen Säulen geziert, sich nun vor uns erhebt. Die ganzen Sammlungm zerfallen in eine literarische, archäolo­ gische und naturwissenschaftliche Unterabtheilung, die wieder in Sektionen

für gedruckte Bücher, Manuskripte, orientalische, britische und mittel­

alterliche Antiquitäten, römische und griechische Alterthümer, Münzen

und Medaillen, für Botanik, Zoologie, Paläontologie und Mineralogie

getrennt sind.

An der Spitze einer jeden Sektion steht ein „Unter­

bibliothekar." Wir treten ein.

Ungemein höfliche Polizeileute weisen uns zurecht

und die Aufseher bemühen sich uns in alle Einzelheiten einzuweihen, wie denn die Liberalität in der Benutzung dieses großartigen Insti­ tutes — mit Ausnahme der Bibliothek — über alles Lob erhaben ist.

Vor der Abtheilung für Bücher und Handschriften hält Shakespeare'-

Marmorstatue von Roubilliac Wacht, das einzige Denkmal, das (ab­

gesehen von dem Standbild in Dichter in London gesetzt wurde.

der Westminsterabtei)

dem

großen

Schöne hohe Säle mit prächtigem

Oberlicht, weite Gänge zwischen den einzelnen Schränken und Kasten,

welche das

des

nung druck.

literarische Material Ganzen,

machen

aufnehmen,

einen

die praktische Anord­

ungemein

wohlthuenden

Die Originalbibliotheken, aus welchen die große Sammlung

erwuchs und die den ersten Kern zu ihr bildeten, tragen noch immer

den Namen ihrer ersten Eigenthümer: Harley, Egerton u. s. w.

Sloane, Grenville,

Cotton,

Von außerordentlichem Werthe sind nament­

lich die historischen Handschriften der „Cottonian Collection“, welche aber von den Bibelhandschriften noch bei weitem übertroffen werden.

Den ersten Rang nimmt darunter die Alexandrinische Handschrift aus dem Ende des vierten oder dem Anfänge des fünften Jahrhunderts

ein.

Sie ist in griechischen Uncialbuchstaben geschrieben und etwa aus

derselben Zeit als die sinaitische von Tischendorf jetzt in St. Petersburg befindliche Handschrift.

aufgefundene und

Außer den syrischen

von Dr. Curedon entdeckten Manuskripten entging eine andere Hand­ schrift, eine illuminirte Copie der Genesis, der Zerstörung bei dem

unglücklichen Brande von Ashburnham Haus, der so viele Schätze der Wissenschaft dem Feuer überlieferte.

Sie soll einst dem Eusebius ge­

hört haben und bildet das einzige Ueberbleibsel von derartiger Kunst

aus dem vierten Jahrhundert — nur noch übertroffen von dem be­

rühmten vatikanischen Virgil. Wenige Büchersammlungen dürften wohl eine ähnliche Menge so

herrlicher mit Möuchsminiaturen und allerlei Bildwerk geschmückter Handschriften aufwcisen, wie das britische Museum.

Die Kunst fast

jedes Jahrhunderts vom vierten an, sicher aber vom achten bis zum

sechzehnten ist durch die schönsten Exemplare vertreten und keinesfalls ist die Pariser Bibliothek, ja vielleicht nicht einmal die des Vatikan in

dieser Beziehung so reich ausgestattet.

Da die letztere weniger zugäng­

lich und nicht so gut katalogisirt ist, so läßt sich darüber kein sicheres

Urtheil fällen.

An classischen Manuskripten sind, durch die Natur der

Lage begünstigt, die italienischen Sammlungen reicher als die britische, während letztere in orientalischen Handschriften unübertroffen ist. Der Ruf der Sammlung gedruckter Bücher von den seltensten,

ersten Ausgaben an, bis auf die kostbarsten Prachtwerke unserer Zeit

herab, ist hinlänglich bekannt.

In Bezug auf die Anzahl der Bände

hält man die Pariser Bibliothek für die umfangreichste; zählt man

Londoner Skizzen.

158

aber die vielen Brochüren und kleineren Schriften, die im Museum

meist in Sammelbände zusammengebunden sind, so übertrifft die Lon­ doner Bibliothek gewiß die französische auch hinsichtlich der Zahl, wie es in Bezug auf Inhalt und Werth sicher der Fall ist.

Die meisten

Kataloge ergeben etwa 800,000 Bände.

Die Engländer haben von je in schönen Einbänden großes ge­

leistet ; die Buchbinderei steht bei ihnen in hoher Blüthe und der Ab­ scheu gegen nur brochirte Werke ist ein ziemlich allgemeiner, so daß fast alle Bücher in provisorischen Leinwanddecken in den Handel kom­

men.

Bekanntlich sind aber die besten Londoner Buchbinder Deutsche.

Besonders stattlich repräsentiren sich die Grenville Bibliothek und die

„Kings Library“ in dieser Beziehung und man zeigt dort einzelne

Einbände, die 20 und 30 Pfund Sterling kosteten.

Die Aufstellung

seltener Drucke ist sehr instruktiv und giebt ein vollständiges Bild von

der Entwickelung der Typographie in allen europäischen Ländern; da ist keine Lücke in den reichm Sammlungen, von den ältesten Holz­

schnittbüchern an.

Natürlich sind die ältesten englischen Drucke von

Caxton sehr reichlich vertreten.

Er benutzte noch unsre eckigen deutschen

Typen, die sich ja so lange Zeit in England erhielten.

Die ersten

abgerundeten italienischen Lettern findet man in Drucken von Sweynheym und Pannartz, zwei Deutschen, die ihre Officin in Rom hatten. Ein von ihnen 1496 gedruckter Livius ward von Lord Grenville sür 903 Pfund angekauft und dem Museum geschenkt.

Eine deutsche Bibel

von 1541 ist deshalb interessant, weil sie aus Luther'S Besitz in den Melanchthon!« überging.

Beide große Männer haben das Exemplar

mit Anmerkungen versehen und Luther schrieb die für ihn gewiß be­ zeichnenden Worte hinein:

„Psalm 23.

Und ob ich wandern müßte

zum finstern tal, fürchte ich mich doch nicht, dmn du bist bei mir. Martinus Luther. D. 1542."

ES ist eine wahre Freude, die hier

aufbewahrten ersten Shakespeare-Ausgaben zu sehen, zum Theil

Untat, wie manche der unscheinbaren Quartos, welche theilweise noch zu Lebzeiten des Dichters erschienen.

Viel häufiger sind dagegen die

Folioausgaben, geziert mit einem Porträt des großen Dramatikers. Die lustigen Weiber von Windsor führen in der Quartausgabe von

1619 vollständig

folgenden

interessanten Titel:

A Most pleasant

and excellent conceided Comedy of Sir John Faistaffe and the

merry Wines of Windsor withe the swaggering vaine of Ancient

Pistoll and Corporal Nym.

Auch der berühmte Bries von Colum­

bus über die Inseln, „supra Gangem nuper inventis“ gedruckt durch

Eucharius Argenteus (Silber) Rom 1493, liegt hier aus, sowie die 1507 in Lothringen gedruckten Cosmographiae Rudimenta von Hyla-

comyluö, in welchen sich die Stelle befindet, in der zum ersten Male

das Wort America (Americi terra) gebraucht wird.

Ich führe nur

wenige Beispiele an, aber sie beweisen schon den großen Reichthum

dieser Bibliothek und wie ein Gang durch dieselbe uns in alle Zeiten und in alle Thätigkeiten des menschlichen Geistes versetzen kann. Ich habe bereits oben angedeutet, daß man in Bezug auf die

Benutzung der Bibliothek lange nicht so liberal wie aus dem Conti

nente ist.

Besonders ist man gegen Fremde sehr mißtrauisch und es

bedarf langer Förmlichkeiten und guter Empfehlungen, ehe man eine Karte zur Benutzung des bewunderungswürdigen Lesesaals erhalt. Dieser liegt inmitten des ganzen großen Gebäudes, dem Haupteingange

gegenüber.

Er ward auf dm Rath

des Oberbibliothekars Panizzi

1854 erbaut und kostete 150,000 Pfund Sterling.

Er ist rund und

mit einer Glaskuppel überwölbt, die 140 Fuß im Durchmesser, also

einen Fuß mehr als die Peterskuppel in Rom hat.

Alles ist gut

geheizt und ventilirt, Teppiche liegen am Boden und an 35 Tischen

haben 300 Leser Platz.

An den Wänden stehen ringsherum encyclo-

pävische Werke, Kataloge und Lcxica, die Jedermann, der einmal Zu­

tritt hat, frei benutzen kann.

Für die Bibliothekare ist es keine leichte

Aufgabe all den verschiedenen Wünschen nachzukommen, oft aus den entferntesten Winkeln der Riesengcbäude die bestellten Werke herbei­ zuholen, die alten, vorhandenen in Ordnung zu erhalten und die jähr­ lich einlaufenden 20,000 neuen Bände einzuregistriren. Die Sammlung der Stiche und Handzeichnungen, welche

in die Bibliothek mit eingeordnet ist, erscheint verhältnißmäßig klein,

aber auserwählt.

Besonders bemerkenswerth

zeichnungen von Rubens

sind viele Original­

und die Gravirungen von Dürer.

Einzig

in ihrer Art ist jedenfalls aber die Holbeinische Sammlung und die vollständige Collection der Arbeiten von Wenzeslaus Hollar.

Dieser

Meister des Griffels ward im Jahre 1607 zu Prag geboren, ging aber schon frühzeitig nach England, und wie die Engländer unsern Händel so gerne zu einem der Ihrigen stempeln, so verfahren sie auch

mit diesem Tschechen.

Ueber den Ankauf seiner Kupferstiche für das

böhmische Nationalmuseum wurden im Landtage zu Prag vor zwei

Jahren große Debatten geführt. beiten an das Tschechenthum.

Aber nichts erinnert in seinen Ar­

Es liegt im

britischen Museum ein

Brief von ihm in englischer Sprache, in dem er sich gegen Sir Wil­

liam Dugdale darüber beklagt, daß er von Soldaten verhaftet und eingesperrt worden sei.

Seine Handzeichnungen des Towers in Lon­

don, der Stadt Tanger in Marokko u. s. w. tragen holländische, la­ teinische oder englische Unterschriften; die Prager Ansichten dagegen deutsche — nirgends fand ich tschechische.

Es dürfte daher für die

Prager Herren gerathm sein, Hollar als einen „entarteten Slaven" zu

betrachten. Der größte Reichthum

des britischen Museums beruht aber in

seinen archäologischen Sammlungen

(Departement of Anti-

quities), denn in ihnen finden wir Gegenstände, welche die Kunst

aller Zeiten und Völker, deren Werke einen bleibenden Charakter haben, repräsentiren. Einzig in seiner Weise steht das ägyptische Museum da.

Die kolossalen Werke der alten Pharaonen, die Papyrusrollen, die zarte­ sten Ornammte, Wandgemälde, Mumien, Nippsachen und größere Ge­

genstände von literarischem Werthe, wie der Rosettastein sind hier vertreten.

Der letztere eröffnet unter Glas und Rahmen die ganze

ägyptische Sammlung, und wer für das großartige Thun und Treiben

im alten Lande der Pharaonen, durch welches der heilige Nil seine be­ fruchtenden Fluthen wälzt, nur einigermaßen Sinn hat, der wird mit

Ehrfurcht vor diesen schwarzen Stein hintreten, der uns den Schlüssel zu den Geheimnissen der Hieroglyphenschrift in die Hand gab. Fran­

zösische Ingenieure gruben 1798 in der Nähe von Rosetta die Fun­ damente zu

einem Fort.

Dabei förderten sie einen verstümmelten

Stein ans Tageslicht, der eine dreifache Inschrift trug.

Die oberste

war mit Hieroglyphen, die mittlere mit ägyptifcher Cursivschrift, die zu unterst mit griechischen Buchstaben geschrieben.

Die letztere war den

Gelehrten sogleich verständlich; sie enthielt die Apotheose des Ptole-

mäus Epiphanes, des Fünften in der Reihe der Ptolemäer, der im Jahre 208 vor Chr. geboren wurde.

Die Wichtigkeit des Fundes für

die ägyptische Alterthumsforschung wurde sogleich

erkannt und der

Stein sollte mit vielen andern ägyptischen Alterthümern nach Frank­ reich gebracht werden.

Schiff und Stein fielen aber den Engländern

in die Hände und so steht der schwarze Stein, welcher uns längst ver­

lorene Geheimnisse der ägyptischen Priester enthüllte, nun im britischen Museum.

Seine besondere Wichtigkeit für die Hieroglyphenentziffe­

rung liegt in dem Umstande,

daß auf demselben außer den heiligen

und demotischen Characteren noch die griechische Sprache vertreten ist und mit Hilfe derselben gelang es zunächst, die Namen Ptolemäus

und Kleopatra zu entziffern.

Ein Engländer Thomas Aoung und der

berühmte Franzose Champollion sind es, die um die Ehre streiten, zu­

erst eine Hieroglyphengruppe richtig errathen und gelesen zu haben.

So weit es anging sind die ägyptischen Sammlungen chronolo­ gisch geordnet worden.

Es dehnen sich denn auf diese Weise Monu­

mente vor uns aus, die zum mindesten vom Jahr 2000 vor der christ­ lichen Zeitrechnung bis zur Zeit der mohamedanischen Invasion Aegyp­

tens, 640, reichen. stände,

welche

Nirgends, selbst in Berlin nicht, sind die Gegen­

uns das religiöse und häusliche Leben der Aegypter

illustriren helfen, in solcher Menge zu sehen wie hier.

Glasschrank

reiht sich an Glasschrank, dicht gefüllt mit zierlichen Bronzen, Gold­

sachen,

Amuletten aus Serpentin, Glaswaaren und irdenen Basen;

selbst die Perrücke einer ägyptischen Dame fehlt so wenig als die In­ strumente, die sie beim Färben ihrer Wimpern mit Antimon ge­ brauchte.

Dazwischen stehen die Mumiensärge mit ihren bunten Far­

ben und

heiligen Schriftzeichen,

vor allen die Mumie des Königs So scheint un­

Men-Ka-re, welcher die dritte Pyramide einst erbaute.

serer Zeit nichts mehr heilig zu sein; herausgerissen aus seinem tau­ sendjährigen Schlummer dienen hier die Gebeine eines Königs der

Wissenschaft und der Neugierde des Publikums. Wie in Bezug auf die ägyptischen Alterthümer das britische Mu­

seum den ersten Rang einnimmt, so steht es auch in Bezug auf die assyrische Sammlung weit über allen andern Museen der Erde.

Drei lange Gallerien und ein bedeutender Transseptraum, die sich neRordische R«vue. IV. 2. Hcft, 1865.

H

bett den ägyptischen Sälen hinziehen, bergen hier die Ueberreste eines Kunststyls, der bereits zur Vollendung und höchsten Blüthe gediehen

war, als die Geschichte der Kunst in Europa noch kaum in den An-

fängm stand.

Wir brauchen nur die Namen Layard und Raw­

linson zu nennen, um auf den unschätzbaren Werth dieser Monu­

mente hinzuweisen, die über und über mit den seltsamen Keilinschriftm bedeckt sind, welche uns gleich den ägyptischen Hieroglyphen so lange räthselhast blieben.

Und wie die Geheimschrift der Priester des Pha­

raonenlandes ihre ersten Entzifferer durch das Glück der Umstände

begünstigt in einem Engländer und einem Franzosen fand, so blieb

hier der unbestreitbare Ruhm einem unserer Landsleute.

Grotefend

aus Hannover war es, der das erste Licht über jene Zeichen verbrei­ tete und

die schweigenden Steine zu reden zwang.

Layards große

Ausgrabungen fanden in den Jahren 1847 bis 1850 statt;

die Re­

sultate seiner mühevollen Arbeiten stehen jetzt hier vor unsern Augen, und an der Hand seines weit berühmt gewordenen Buches „Niniveh and its remains“ erhalten wir den klarsten Einblick in die Kunst der alten Assyrer.

Ergänzt sind

die Sammlungen

durch die Ent­

deckungen, welche der englische General-Consul zu Bagdad H. C. Raw­

linson in den Jahren 1853 bis 1855 machte.

Die Ausgrabungen

fanden in großen Hügeln statt, welche durch natürliche Anhäufungen

des Bodens über den Ruinen der alten Paläste und Häuser sich ge­ bildet hatten und zwar zu Nimrod in der Nähe von Mosul am Ti­

gris; zu Khorsabad, gleichfalls bei Mosul, wo aber die meisten Schätze von dem Franzosen Botta gehoben und in den Louvre ge­

bracht wurden, und zu Kuyundschik, das die Stelle des alten Ni­ niveh am Tigris einnimmt.

Die assyrische.Chronologie ist noch sehr

unbestimmt und man kann nur annähernd die Zeit von 930 bis 625

vor Christus als die Entstehungsjahre

dieser Monumente

feststellen.

Die ungeheuren Stiere und geflügelten Löwen mit Menschenköpfen,

welche als Hüter vor den Thoren der Paläste standen, die adlerköp­

figen Dämonen, die Gottheiten mit dem Fischleib, die schon in der Bibel erwähnt werden (Sam. I. 4); die Kriegsthaten und Iagdzüge

assyrischer Könige, Scenen aus dem häuslichen Leben treten uns mit seltener Lebenswahrheit entgegen und lassen uns einen tiefen Blick in

das Leben eines großen Volkes und Reiches thun, das jetzt vom Erd­

boden verschwunden ist. Unschätzbar sind die Ergebnisse, welche wir an der Hand der

ägyptischen und assyrischen Alterthümer für die Geschichte der Kunst

gewinnen.

Wäre es dem großen Winckelmann vergönnt gewesen diese

Werke zu schauen, wie ganz anders würde sein Urtheil über die Kunst seiner geliebten Hellmen gelautet haben!

Nach ihm war die griechi­

sche Kunst ohne allen äußern Einfluß frei und selbstständig auf dem Boden Griechenlands aus dem griechischen Geiste entstanden, sür ihn hatte diese keinen Zusammenhang mit den Völkern des Orients. Aber

die Entdeckungen,

dWen bedeutendste Resultate im britischen Museum

aufbewahrt werden, haben der entgegengesetzten Ansicht zum Siege verholfen, sie Haben bewiesen, daß wie der Gang der Weltgeschichte von Osten ausging, so auch die Kunst au« den Wunderländern am

Nil, Euphrat und Tigris über das Mittelmeer zu dem gottbegnadig­ ten Volke der Hellenen wanderte.

Die tüchtigsten Archäologen und

Kunstkenner unserer Zeit, namentlich Deutsche wie Roß, Feuerbach,

Thiersch,

Böckh u. A. haben dies anerkannt und bis ins Einzelne

nachgewiesen.

Champollion zeigte wie die älteste griechische Säule,

die dorische, aus der ägyptischen entstand, das Erechtheum auf der

Akropolis ist die Nachahmung eines ägyptischen Vorbildes, in vielen griechischen

Götternamen erkannte man ägyptische, phönizische und

assyrische wieder.

Roß wies nach, wie die Chimäre Lyciens und die

andern fabelhaften Thiergestalten der Assyrier und Babylonier sich auf

den ältesten griechischen Vasenbildern wiederholen und dasselbe System

der

polychromen Bemalung der Bau-

und Bildwerke

sich in den

frühen Kunstperioden ain Nil und Euphrat findet und von da nach Griechenland und

Italien verbreitete.

Die Faltung der Gewänder

und die künstliche Ringelung des Haupt- und Barthaares ist dieselbe bei alten griechischen Statuen wie auf den assyrischen Reliefs, die­

selbe wie sie Homer seinen Helden beilegt und Thukydides an den

alten

Athenern

beschreibt.

Die wesentliche

Uebereinstimmung

der

Kunstformen auf dem großen Ländergebiete vom Nil und Euphrat bis nach Sicilien war keine zufällige.

So sind die ägyptischen und assyrischen Säle die beste Vorschule

11*

für den Beschauer, ehe er in die Sammlungen griechischer und

römischer Alterthümer eintritt. Was die griechischen Kunstwerke betrifft, so steht auch hierin das britische Museum ohne Zweifel in

erster Linie und man braucht blos an die von Lord Elgin vom Par­

thenon geraubten Marmorbildwerke von PhidiaS zu erinnern, um

diesen Ausspruch zu bewahrheiten.

Nicht weniger reich ist auch die

Zeit nach Phidias vertreten, sowie alle griechischen Colonien, die in

Klein-Asien und Afrika blühten.

In Bezug auf römische Bildwerke

findet man in Italien sowohl als in Paris besseres und bedeutenderes

als in London. Aber durch ihre Vollständigkeit, mit der alle Epochen der römischen Kunst vertreten sind, wird die Sammlung zu einer der

belehrendsten.

Bon außerordentlichem Werthe sind

ferner die alten

Basen und geschmackvoll gearbeiteten Bronzen, unter denen die kleinen Statuetten griechischer Gottheiten, die man in Dodona sand, und die

Schulterverzierungen eines Panzers aus dem alten Lucanien für die

schönsten Stücke

antiker

Handwerkerarbeit gelten, ebenso

wie man

goldene, in etruskischen Gräbern entdeckte Omamente für die besten

Muster alter Goldschmiedkunst erklärt. Im Erdgeschoß des Museums bergen zehn größere und kleinere

Säle die Marmorkunstwerke der Griechen und Römer, während drei große Gelasse im ersten Stocke die Vasen und Bronzen aufnehmen.

Links von der großen Eingangshalle finden wir in einer schmalen

Gallerie römische Porträtstatuen und Büsten von Herrschern und be­ rühmten Männern und Frauen. Für uns Deutsche ist namentlich ein

„Barbarenkopf" von besonderem Interesse.

Als solcher wird er

durch den Haarschnitt und den Schnurrbart gekennzeichnet.

Der Aus­

druck des jugendlichen Gesichtes ist ernst und schwermüthig, als läge

in ihm eine Sehnsucht nach den düstern Wäldern der nordischen Hei-

math, die dem Jüngling selbst unter dem blauen sonnigen Himmel Italiens nicht aus dem Sinne kam.

Es ist der Marmorkopf des

Thumelikus, des Sohns von ArminiuS und Thusnelda, der von den Römern im Uebermuthe als Gladiator zu Ravenna auferzogen wurde.

Mit der in Florenz aufbewahrten Statue der Thusnelda soll dieser Kopf eine große Aehnlichkeit besitzen.

Auf diese Gallerie, die unter ungünstiger Beleuchtung leidet, fol-

gen nun die Säle, welche uns theils in unbezweifelten Originalen, theils

in alten herrlichen Nachbildungen den

ganzen Götterhimmel

Roms und Griechenlands und die Mysterien der alten Religion vor­ führen.

Da steht, leider arg verstümmelt, der berühmte Eros des

Praxiteles, ein

Brust;

schöner schlanker Leib mit dem Köcherband über der

eine Wiederholung des borghesischen Fechters und eine Mar­

morgruppe des Bacchus und Eros, die wegen ihrer Lieblichkeit Erwäh­

nung

verdient.

geringerer als

Kein

Alk amen es, der Lieblings­

schüler des Phidias, war es, der die wunderbaren Sculpturen des

Apollotempels der Phigalier zu Bassä schuf, die nun eine der ersten Zierden des Museums sind und für den verhältnißmäßig ge­

ringen Preis von 60,000 spanischen Piastern hierher gelangten.

Der

Tempel, von dem diese Sculpturen stammen, steht noch in waldiger

Gebirgseinsamkeit Italiens; er ward von Jktinos, dem Baumeister

des Parthenon,

zu Ehren

des Apollon Epikurios im Auftrage der

Phigalier erbaut, damit der helfende Gott die schreckvollen Verheerun­

gen, welche damals die Pest über Hellas verhängte, abwenden solle.

Erst im Jahre 1811 entdeckte eine Gesellschaft von Künstlern, darunter der geniale OUo von Stackelberg, unter dem Schutt, welcher das

Innere des durch ein Erdbeben eingestürzten Tempels bedeckte, kost­

bare Reliefs, welche die Kämpfe der Centauren und Amazonen dar­ stellen.

Das Werk des AlkameneS gehört an vollendeter Composition

und Meisterschaft der Ausführung zu den schönsten Denkmälern des

Doch

Alterthums.

paar Schritte haben

es

war nur ein Werk des Schülers; nur ein

wir uns weiter zu wenden und wir stehen vor

den in der Kunstwelt einzig und unerreicht dastehenden Schöpfungen

des Meisters,

vor den Parthenonsculpturen des unsterblichen

Phidias.

Zwei der schönsten Säle des Museums, die Elgin rooms, ber­ gen die Ueberreste jener großartigen Sculpturen, in welchen Phidias den

schönheitgewohnten

Athenern die beiden

großen Hauptdogmen

der Pallas Athene: das Mysterium ihrer Geburt und die Sage von der Schaffung des OelbaumeS durch dieselbe vorführt.

Damit wir

einen vollen Ueberblick über die Stellung, welche diese Bildwerke einst einnahmen,

gewinnen, müssen wir uns die beiden hier aufgestellten

Modelle des Parthenon anschauen, die R. C. Lucas mit bewunde­ rungswürdiger Genauigkeit anfertigte. Das eine stellt das Gottes­ haus in seinem unverletzten Zustande dar, das andere giebt uns ein Bild von der jammervollen Zerstörung, die durch die Bomben des Italieners Morosini im Jahre 1687 angerichtet wurde. Jede Metope, jeder Theil des Cellafrieses, jede Giebelfigur ist in den Modellen deut­ lich wieder zu erkennen. Man hat viel darüber geklagt, daß Lord Elgin die letzten Reste der schönsten Kunstperiode von dem ursprüng­ lichen Orte raubte und für 35,000 Pfund an das britische Museum verkaufte. Wir können uns diesem Urtheil nicht anschließen — denn an diesem Orte sind sie vor jeder ferneren Unbill des Wetters und der Menschen geschützt und der ganzen civilisirten Welt zugänglich, was auf der Akropolis nicht der Fall war. Sie erfreuen so unend­ lich mehr Freunde der Kunst, als in der entlegenen Hauptstadt des halbbarbarischen Griechenlandes, dessen heutige Bewohner für diese entsetzlich verstümmelten Marmorstatuen doch keinen Sinn haben. Aber ich muß es auch gestehen, die Elgin rooms sind im britischen Museum die leersten, die am wenigsten besuchten, ein Beweis, daß der großen Masse auch bei uns ganz entschieden das Verständniß für diese herrlichsten Kunstwerke des Alterthums fehlt. Für den ober­ flächlichen Beschauer stehen eben nur graugelbe, theilweise zerbröckelte, zerschlagene und zerschundene Marmorblöcke da, in denen man aller­ dings noch die allgemeinen Formen erkennt, an denen aber alle fei­ neren Einzelheiten zerstört sind. Nur ein idealisch schöner Pferdekopf ist, durch die Aufstellung in einer Ecke des Giebelfeldes, von der Zer­ störung verschont geblieben und die Politur des Marmors ist an ihm noch theilweise so frisch, als wäre sie erst heute ausgeführt worden. Ueber die Parthenonsculpturen haben die ersten Kunstkenner der Welt geschrieben; wir müssen es aufgeben von ihnen zu reden. Nur Schom'S treffende Worte mögen hier noch eine Stelle finden: „Nicht die Schönheit der Formen, nicht der Reiz der Stellungen, nicht der Adel und die Anmuth des Ausdruckes, auch nicht die Freiheit ober Kühnheit der Ausführung, — nichts von alle dem, obschon dies alles sich an ihnen vorfindet, hat das Lob dieser Werke so hoch gesteigert, sondern allein ihre Lebendigkeit, diese gänzliche Durchdringung und

Ueberwältigung der Natur, welche den Marmor gleichsam erweicht, in Fleisch verwandelt und mit Seele begabt hat."

Wir können noch lange durch die archäologischen Säle des Mu­ seums wandern; immer und immer wieder, so oft wir auch eintreten,

erblicken wir Neues. Obgleich in der Münzen-, Medaillen- und Gemmensammlung viel Werthvolles, ja Unica vorhanden sind, so stehen doch die Berliner, Pariser und Wiener Museen in dieser

Beziehung höher.

Auch die christliche Kunst ist in der „Medieval

Collection“ reich vertreten,

besonders in Metallarbciten,

Emaillen

und alten Geschirren. Die kleine Sammlung von Stempeln und Pet­ schaften zeigt viel Interessantes, namentlich die Originalsiegel der Städte Deutz und Boppart, die ihren Weg über den Kanal hierher fanden, wie so manches alte deutsche Trinkglas, so mancher Humpen, der mit

dem Reichsadler geziert ist. Die ethnographische Sammlung, welche nach Ländern ge­ ordnet ist und uns die verschiedenen Kleidungen, Geräthe, Götzenbilder

und Waffen wilder Völker vorführt, ist in einem ziemlich dunklen

Saale in großen Glasschränken aufbewahrt, übel angeordnet nnd bei weitem nicht so bedeutend, wie man sie im Mutterlande so vieler Co­

lonien erwarten sollte.

Sie bildet den Uebergang

zu der natur­

wissenschaftlichen Abtheilung, die mit ihrer unendlichen Mannichfaltigkeit viel mehr Zeit zur Befchauung beansprucht, als Alles,

was uns bisher aus literarischem oder archäologischem Gebiete ent­

gegentrat. Der Vorstand

des naturwissenschaftlichen Reiches im britischen

Museum ist der berühmte Naturforscher Owen.

Die Sammlung

selbst wird in eine zoologische, botanische und geologisch-mineralogische getheilt.

Die Zahl der bekannten Säugethiere, die bis jetzt auf

unsrer Erde entdeckt worden sind, läßt sich nicht genau ermitteln; auch sind die verschiedenen Autoren noch darüber im Streite, doch dürfte

man der Wahrheit ziemlich nahe kommen, wenn man 2000 bis jetzt bekannte Säugethierspecies annimmt und von diesen birgt das briti­

sche Museum 1600 Arten.

Es ist Hoffnung vorhanden, daß mit der

Zeit alle überhaupt nur entdeckten Säugethiere ausgestopft oder in Spiritus ihren Platz in dieser bis jetzt einzig in ihrer Großartigkeit

dastehenden Sammlung finden

werden.

So sind zum Beispiel die

Hufthiere bereits vollständig mit 183 Arten vertreten und auch die Affen zeigen wenig Lücken. Unter diesen nehmen die menschenähnlichen Gorillas, die du Chaillu am Gabunstrome im aequatorialen West-

africa schoß, den ersten Platz ein.

Es ist eine ganze Familie, die sehr

gut ausgestopft in einem besonderen Glasgehäuse immer einen großen Kreis Zuschauer um sich versammelt und manchen zu der Darwinschen „Also dies sind unsre Großeltern?"

Frage veranlaßt:

Der Londoner

zoologischen Sammlung steht das Leydener Museum am nächsten, denn thierreichen Colonien wie Sumatra, Java rc.

aus den

wird dieses

durch heimkehrende holländische Schiffe noch immer reich mit Thierm

versehen. Von mehr als 8000 lebenden Vogelarten besitzt da« britische Museum etwa 4200, welche in 20,000 Exemplaren aufgestellt sind. Dazu nehme man die vielen Nester und die zahlreichen Eier, die ein­

zelnen herrlichen Gruppen von Colibris und andere durch ihr präch­

tiges Gefieder ausgezeichnete Vögel, welche das Auge blenden,

uud

man wird anerkennen müssen, daß das britische Museum auch in dieser Beziehung allen andern Sammlungen vorangeht, wenn auch in Ley­

den und Berlin einzelne Gruppen vollständiger und besser vertreten find, was

namentlich

bei letzterem Orte um so mehr Anerkennung

verdient, weil dort nicht so die Gelegenheit zum Sammeln gegeben ist, wie in London.

Da finden wir die letzten Reste des Dronte oder

Dodo (Didus ineptus), jenes ausgestorbenen großen Vogels,

das

Riesenei des Aepyornis maximus, der einst aus Madagaskar lebte, ein Exemplar des nordischen Riesenalks

(Alca impennis), der feit

kurzem vom Erdboden verschwunden ist, und jene seltsamen flügellosen

Vögel (Apteryx),

zueilen.

die auf Neuseeland gleichfalls ihrem Untergange

Verschwindende Arten

stehen sie als letzte Mohikaner hier

eingereiht unter den tausenden von lustig fortexistirenden gefiederten

Genossen, ein Zeugniß für den ewigen Wandel in der Natur.

Weniger Interesse bieten dem gewöhnlichen Besucher des briti­ schen Museums die großen Abtheilungen, in welchen die Fische und

Reptilien meist in Spiritus aufbewahrt werden.

Fast alle uns be­

kannten Fische — 10,000 Arten — sind hier aufgestellt und unter

den Schlangen, Eidechsen und Fröschen ziehen höchstens die ausge­ stopften Riesenschlangen, Alligatoren und ungeheuren Riesenschildkröten

den Blick des Beschauers auf sich.

Aber erstaunen muß er über die

Menge und Mannichfaltigkeit der Formen,

Exemplaren von Fischen entgegentritt.

die ihm in den 26,000

Saurier, d. h. Krokodile und

Eidechsen, kennt man bis jetzt 612 Arten, von denen 429 im briti­

Die bis heute erforschten 200 Arten

schen Museum enthalten sind.

Schildkröten sind aber alle vertreten und von 800 bekannten Schlan­

gen über 700. Unter den niederen Thieren, Weichthieren,

Gliederthieren

und Strahlthieren fallen zunächst die 100,000 Exemplare der schön­

sten Muscheln in die Augen.

Man kennt bis jetzt etwa 16,000 Ar­

ten, von denen das Museum 10,000 besitzt.

Trotz dieser ungeheuren

Anzahl der Arten und Exemplare geht hierin doch die Pariser Samm­ lung der Londoner voraus.

Groß ist auch der Reichthum an Insek­

ten und Gliederthieren überhaupt.

Hier lassen sich die Menge der

gekannten Species und die Anzahl der im Museum vorhandenen Ex­

emplare nur annähernd schätzen. Die botanische Abtheilung, die allerdings für das Auge sehr wenig bietet, ist nicht weniger berühmt als die zoologische und

besonders wird ihr durch die Menge Originalexemplare, nach welchen die verschiedenen Schriftsteller die Pflanzen zuerst beschrieben und die als typisch für die Art gelten, Werth verliehen.

Außer einer großen,

von Sir Hans Sloane herrührenden, in 300 Bänden aufbewahrten Pflanzensammlung, die aus der vorlinnoischen Zeit stammt, besitzt das

britische Museum noch große und werthvolle Herbarien, die von Sinne selbst beschrieben wurden.

Weltberühmt ist unter den Botanikern die

Cliffordsche Collection, die Sinne im Hortus Cliffortiauus beschrieb,

die Sammlungen von Sir Joseph Banks und Robert Brown.

Als

lebendige Ergänzung für die trockenen Herbarien dient der großartig

angelegte Garten

von Kew

mit seinen berühmten Palmenhäusern,

während der zoologische Garten, der reichste und größte der Welt, die zoologische Sammlung ergänzt.

Der

dem Auge der Beschauer zu­

gängliche Theil der botanischen Abtheilung kann natürlich nicht sehr

groß sein; er beschränkt sich auf Dinge von allgemeiner Bedeutung,

Londoner Skizzen.

170

auf die Produkte der Pflanzenwelt und auf ihre Anwendung in den Künsten und Gewerben.

Modelle

von Pilzen und Schwämmen,

Früchte und Nüsse, Nahrungsmittel und Droguen, vegetabilische Fette

und Oele, Faserstoffe und die verschiedenen Arten von Nutz- und Farbehölzern sind hier aufgestellt. Die geologischen

und paläontologischen Abtheilungen sind ver-

hältnißmäßig neue Schöpfungen.

Der diesen Disciplinen zugetheilte

Raum ist ungemein knapp bemessen und so ist denn die Aufstellung

eine im höchsten Grade ungünstige.

Ein klarer Ueberblick ist kaum

möglich und das großartige britische Museum steht hierin bei weitem hinter dem mineralogischen Museum in Dresden zurück, bei dem wir mit Recht die klare Uebersichtlichkeit und geschmackvolle Aufstellung

bewundern.

Darum ist es aber nicht minder reich an Schätzen;

die

Sammlung fossiler Knochen ist ohne Frage die größte und vollstän­ digste überhaupt.

Allerdings besitzt

St. Petersburg in den Ueber-

bleibseln von Haut und Haar jenes kolossalen Mammuths, das sich aus einer längst vergangenen Epoche int Eise der Lenamündung er­ halten hatte, einen einzigen und wunderbaren Schatz; aber London

kann auch seine Seltenheiten

aufweisen.

Da steht die Platte mit

dem merkwürdigen menschenähnlichen Salamander, den der Schweizer

Arzt Scheuchzer im vorigen Jahrhundert als „homo diluvii testis“ beschrieb; der berühmte Kiefer eines Beutelthieres aus den Stonesfield Schiefem, der erste seiner Art, und vor allem jenes Unicum aus

den Solenhofener Kalkschiefern, der merkwürdige Urvogel, der Archaeopteryx, der eine Art Bindeglied zwischen Reptilien und Vögeln bildet und an dem noch jede einzelne Feder deutlich zu erkennen ist.

Bis zum Jahre 1862 befand sich dieses seltene Stück noch in Deutsch­

land, dann wanderte es nebst einer herrlichen Sammlung von fossilen Fischen für 700 Pfund nach London, da man im Baterlande kein Geld

für diesen Schatz hatte.

VolkswirthschaMche Briefe aus Rußland. Von Ant. E. Horn.

St. Petersburg, den 26. April. Die am Ostersonntage eingetroffene Nachricht von bett Siegen

Sherman« und Sheridans, von der Einnahme Petersburgs und Rich­ monds ist wohl in keinem europäischen Lande, selbst Deutschland nicht

ausgenommen, mit so ungetheilter Freude ausgenommen worden als hier in Rußland.

Denn nirgends zählt der fflavenhaltende Süden weniger

Freunde, nirgend« wurde die loyale gemäßigte aber feste, ihre« Ziele«

sich bewußte und niemals selbstvergessene Politik Lincolns und Seward«

aufrichtiger geachtet und wieder hier in Rußland.

mit sympathischern Wünschen umgeben al«

Die zweideutige Politik de« europäischm

Westens gegenüber Amerika einerseits, die kluge Haltung des Washing­ toner KabinetS in der Pvlenfrage andererseits mögen da« Ihrige dazu beigetragen

haben, den freundschaftlichen Beziehungen zwischen der

Zarenregierung und dem „Weißen Hause" jenseit« jde« Oceans jenes

demonstrative Relief zu geben, welches zu so vielem Kopfschütteln in demokratischen Kreisen Anlaß gab und welches die mit dem Süden

sympathisirende Presse so oft benützte; um diesen als den Kämpfer für

Freiheit hinzustellen, den Norden aber als den Vertreter des Despotis­ mus, der Bölkerunterjochung.

Es ist aber gewiß, daß die russischen

Sympathien für die Lincoln'sche Politik, welche bewußt oder unbewußt der Negeremancipation zusteuerte

und mit

oder

ohne Willen diese

große Frage zur Lösung brachte, schon vom Anbeginn des Kampfes an sehr lebhaft waren, noch lange bevor die Polenfrage in Europa

wieder auf's Tapet

gebracht wurde.

Dies läßt sich kulturhistorisch

172

Bolk-wirthschaftltche Briefe aui Rußland.

Wo, wie hier zu Lande, die Greuel der

gar nicht schwer erklären.

Sklaverei noch in so ftischem Angedenken sind, wo die wirthschaftliche Unftuchtbarkeit dieser „besondern Institution" — wie die Baum-

wollen-Lords sie nannten — noch in allen Lebensverhältnissen so fühl­ bar ist, da können jene Sympathien für den „heldenmüthigen" um

seine „Unabhängigkeit" kämpfenden Süden,

wie

sie eine krankhafte

Romantik zum Theile in England und Frankreich erzeugte, nicht Platz greifen.

Allerdings hatten diese Länder durch den Krieg in Amerika

mancherlei Entbehrungen zu leiden, die sie mit Bitterkeit gegen die

Kriegführenden erfüllten und ihnen den Wunsch nach Bemdigung des

Kampfes nahe legten, was für Rußland weniger der Fall war.

Auch

die s. g. politischen Motive, richtiger der internationale Neid, welcher in dem Ruin des Andern

die Gewähr

eigener Wohlfahrt erblickt,

konnten Rußland nicht in die Reihen der thätigen oder stillen Gegner

der Bereinigten Staaten treiben ....

So groß aber auch die Freude

über die letzten Siege des Nordens, war sie doch nicht ohne Bei­

mischung einiger bitterm Gefühle für diejenigen Russen, welchen die wirthschaftliche Entwickelung ihres Vaterlandes am Herzm liegt.

Den

Einen stieg sofort die Besorgniß auf, die zum Frieden rückgekehrte

Republik werde nun mit erneuter amerikanischer Energie sich der Er­ zeugung von Rohprodukten widmen und nicht nur Baumwolle, sondern auch Getreide, Hanf, Talg u. s. f. in solchen Massen und zu so billigen

Preisen auf den europäischen Markt bringen, daß es Rußland, bei

seinem Mangel an BerbindungSmitteln, ganz unmöglich würde, diese

Conkurrmz zu bestehen.

Die Andern konnten nicht umhin, wehmüthig

auf die jüngste Vergangenheit zurückzublicken und sich ins Gewissen zu rufen, wie wenig Rußland die vier Jahre des amerikanischen Krieges zu seiner wirthschaftlichen Hebung benutzt hat.

Der Krimkrieg hatte

zuerst das westliche Europa dahin gebracht, einen Theil seiner Bedürf­

nisse an Bodenerzeugnissen und Rohmaterialen, die es bis dahin von Rußland bezogen hatte, aus Amerika zu holen, welches jenem gar bald den Rang ablief.

Als im Jahre 1861 die Bereinigten Staaten

in Krieg geriethen und gezwungen würben, einerseits die Ausfuhr von Getreide, Mehl und andern Rohprodukten zu vermindern, andererseits

dm Bezug europäischer Jndustrieerzeugnisse einzuschränken, da wäre

es an Rußland gewesen, sich des verlorenen Terrains schnell wieder zu

bemeistern, durch Eisenbahnbauten den Verkehr des Landes zu

heben, durch einen freisinnigen Zolltarif den Austausch zu befördern und dem Reiche einen festen Platz auf dem internationalm Markte

zu sichern.

Wie wenig von all dem geschehen, ist bekannt.

Jetzt wo die Noth wieder hart an uns herantritt, drängt sich die Eisenbahnfrage natürlich wieder in den Vordergrund.

von hoher Bedeutung für

Zwei Projekte

Handel und Industrie des Reichs sind

neuestens der Regierung unterbreitet worden; das eine bezweckte, in Fortsetzung der österreichischen Linie Lemberg-Czernowitz, den Bau einer Bahn Czernowitz-Odessa, wodurch das Schwarze Meer und ein Theil des russischen Südens am kürzesten und schnellsten mit dem europäi­ schen Weltmärkte in Verbindung gebracht würde.

Das Projekt, an

und für sich eines der empfehlenswerthesten und hier auch von her­

vorragenden Staatsmännern warm unterstützt, soll nichtsdestoweniger nach wiederholten Ministerberathungen als gescheitert anzusehm sein,

weil die ausländischen Unternehmer, welche eine Zinsengarantie bean­ spruchten, ihrerseits in den Augen unserer Regierung nicht genügende Sicherheit boten und man hier solchen Unternehmern gegenüber nach

mancherlei Erfahrungen etwas mißtrauisch geworden ist. — Dem zwei­ ten Projekte haben nur Einheimische zur Wiege gestanden; es geht

von den Generalen Graf Baranow und Martschenko, dem Fürsten

Leo Kotshubei und dem Hofstallmeister Graf Strogonoff aus; doch ergiebt sich aus den Statuten die Absicht der Gründer, eine englische

Gesellschaft zu bilden d. h. das Kapital int Auslande zu beschaffen. Zweck dieser Gesellschaft ist der Bau einer neunhundert Werst langen

Bahn von Orel über Kursk, Charkow und das Kohlenbassin de« Don nach Taganrog und Rostow, im Anschlusse an die jetzt vom

Staate gebaute Strecke von Moskau nach Orel,

welche bekanntlich

später nach dem schwarzen Meere fortgesetzt werden soll.

Nach dem

vorliegenden Projekte soll die Linie sich in vier Sektionen theilen, und zwar, von Orel nach Kursk (143 Werst), von Kursk nach Charkow

(227 W.),

von Charkow nach Bachmut (245 W.) und von Bach­

mut nach Taganrog (205 W.) und nach Rostow (70 W.).

Die erste

Sektion soll nach 2% Jahren, die vierte nach 3 '/„ die zweite und

174

Bolkswirthschaftliche Briefe aus Rußland.

dritte und somit die ganze Linie nach 5 Jahren vollendet sein.

ES

soll vorläufig nur ein Bahngeleise gelegt werden, das zweite Geleis

jedoch Vorschrift sein, sobald Prozent erreicht.

das

Erträgniß

einer

Sektion sieben

Abweichend von dem bisherigen Gebrauche, wonach

der Kapitalbetrag, für welchen die Zinsengarantie der Regierung in

Anspruch genommen wird, von vornherein bestimmt zu werden pflegt,

verlangen die Gründer jene Garantie für den Betrag, welcher nach vollendetem Bau einer jeden Sektion

als wirklich ausgegeben

anerkannt werden wird, zu welchem Behufe dm Behörden die ausge­

dehnteste Controle, ja sogar das Recht zugestanden wird, dm Bau durch Staatsingmieure auf Kostm der Gesellschaft aussühren zu lassen. Indem sie sich so jedes aleatorischen Gewinnes begeben,

glauben sich

die Gründer berechtigt, dagegen ihre Ansprüche auf die Zinsgarantie des Staates etwas höher zu stellen als dies bis jetzt geschehen. Schon der englischen Gesellschaft, welcher im Jahre 1863 die Concession für

die Moskau-Sebastopoler-Bahn ertheilt wurde (und die seither be­ kanntlich verzichtete), hatte die Regierung eine 5%tge Zinsengarantie, V14 % Amortissemmt für 90 Jahre bewilligt, überdies aber gestattet,

daß Aktim und Obligationen mit einer Prämie von 20 Prozent aus-

gegeben werden, wodurch die Garantie eigentlich 61 ’/36 % betrug. Auch hatte jene Gesellschaft den Preis der Linie auf 108,000 Rub. pr. Werst normirt.

Die jetzt neu gegründete Gesellschaft, an deren Spitze

Chefs des russischen Ingenieurs-Korps stehen, glaubt auf Grundlage eingehender Studien die Versicherung geben zu können, daß der Werst-

preis den Betzrag von 62,500 Rubel nicht übersteigen werde; sie ver­ langt hingegen, jedoch nur für die Dauer von 50 Jahren, eine Ga­

rantie für Zinsen und Amortissemmt von 5% %, mit Zuschlag einer 20%igen Prämie d. h. also 6% % des Effektiv-KapitalS.

Ursprüng­

lich hatten die Gründer die Absicht, ein Gcsammtnetz in der Länge von 2300 Wersten sich concessioniren zu lassen, um so dm ganzen

Südm des Reichs, dem es an Verbindungsmitteln so sehr fehlt, mit Schienenwegm zu versehen.

Da die Regierung sich diesem Ansinnen

widersetzte, mußte sich die Gesellschaft auf die obige Linie beschränken,

indem sie sich zugleich bereit erklärte,

eine Zweigbahn nach

Kiew

(welche namentlich in Moskau sehr lebhaft gewünscht wird) und nach

Radziwilow an der österreichisch-russischen Grenze, einer der wichtigsten

Zolleinbruchsstationen, auszusühren. Was die oben skizzirte Linie betrifft, lichkeit

und

Rußlands

Ertragfähigkeit Schatzkammer;

tinen Ackerland, zählt vierzehn

das

zum

nur

er

Eine

umfaßt

so ist über deren Nütz­

Stimme.

führende Linie hat überdies den

Millionen

zwanzig

Theil schwarzer

Millionen Einwohner.

Der Süden ist

Dessia-

Humusboden ist, und

Die zum Asow'schen Meere

Vortheil,

dem

Verkehr das bis

jetzt noch fast unerschlossene Kohlenbecken am Donetz zu eröffnen, wel­

ches im westlichen Theile des Landes der Donischen Kosaken und im östlichen Theile des Gouvernements Iekaterinoslaw in den Distrikten

von Bachmut und SlawenoserSk Gouvernement

von

Charkow

gelegen ist und

hinein

erstreckt.

sich bis

Nach

in das

den Angaben

eines französischen Ingenieurs (Explorations mineralogiques faites dans la Russie d’Europe par M. J. Guillemin, Ingenieur civil des mines), umfaßt dieses Kohlenbecken, so weit eS auf der Ober­

fläche sichtbar ist, eine Ausdehnung von etwa 16,000 m Werst oder

1000 □ Meilen, d. h. viermal mehr als sämmtliche bis jetzt benutzte Kohlenlager Frankreichs.

Herr Guillemin berechnet die Tiefe der

Kohlenbecken auf 9—10 Metres, meint jedoch, der Kohlengräber dürfe

seine Berechnungen nur für eine Tiefe von 5—6 MetreS aufstellen;

aber selbst in dieser Beschränkung sei die zu gewinnende Kohlenmasse

eine enorme und dazu angethan, spätere Generationen vollkommen zu beruhigen.

Was den Kostenpreis betrifft, so sei derselbe gegenwärtig

am Herstellungsorte nur 2 Kop. pr. Pud oder 6 Fr. 11 Cent. (1 R. 53 Kop.) pr. Tonne.

Aus den vorstehenden Angaben geht für die

Gesellschaft die Möglichkeit hervor, ihre Kohlen nach Moskau zu einem

Preise zu befördem, welcher dem ausländischen Produkte die ernsteste Conkurrenz zu

machen im Stande wäre; ein Gleiches könnte über

Taganrog nach Odessa, Konstantinopel und der Levante geschehen und selbst nach dem Westen Rußlands hin, sobald der Anschluß in Kursk

an die westliche Bahn bewerkstelligt sein wird.

Angenommen selbst,

daß mit dem vermehrten Gebrauche eine Preiserhöhung von 50% eintrete, was durch Vervollkommnung der Betriebsanstalten zu ver­

meiden wäre, so würde doch dieser äußerst billige Kohlenpreis der Eisen-

Dolkswirtbschaftliche Briefe aus Rußland.

176

industrie, für welche im Süden Rußlands so günstige Elemente vor­ handen sind, einen mächtigen Aufschwung geben, diese ihrerseits wie­

der die Kohlengewinnung bedeutend erhöhen. schaft selbst

Die Eisenbahn-Gesell­

würde natürlich am ersten sich das Vorhandensein jener

reichen Kohlenminen zu Nutze machen und ihre Transportpreise da­ durch Hillig veranschlagen können.

Das Projekt, vom Ministerium

der öffentlichen Bauten befürwortet, dürste in kurzer Zeit im Mini­ sterrathe zur Entscheidung kommen.

DaS traurige Ereigniß, welches

unser Kaiserhaus betroffen, möchte allerdings einige Stockung in die

Staatsgeschäfte gebracht haben.

NichtSdestowmiger hoffe ich schon in

meinem nächsten Briefe den Erfolg der für das obige Unternehmen

jetzt schwebmden Verhandlungen berichten zu könnm. Was einigermaßen zu dieser Hoffnung berechtigt, ist der Umstand,

daß in neuester Zeit die Regierung wieder eine Bahnconcession ertheilte und dabei von dem Rigorismus abging, der Privatunternehmungen

gegenüber zum Prinzipe erhoben war. Für die Bahnstrecke Rjazan-KoS-

low ist es dm Unternehmem gestattet wordm, ihre Obligationen (nomi­ nell zu 200 Thlr.) zum Preise von 164 Thlr. also mit einer Prämie

von 18% auf den Markt zu bringen, trotz des nicht vor langer Zeit gefaßten Beschlusses, allem „Prämienspiel" mtgegenzutreten.

Allerdings

ist die Linie, um die es sich hier handelt, eine unbedeutende.

ganze Kapital ist auf 16 Mill. Thaler veranschlagt,

Das

wovon etwas

weniger al» ein Drittel in Aktien (zum Sterlingfuße) und der Rest in Thaler-Obligationm emittirt wurde.

Diese Bevorzugung, welche

dm Obligationen zu Theil wird, hat in den letzten Iahrm bedeutend

an Ausdehnung gewonnen.

Sie hat unstreitig bei Gefellschaftsunter­

nehmungen ihre Gefahren, indem der sociale Fonds, mit dem „gear-

beüet" wird, zum großen Theile selbst aus Schulden bestehend, nicht mehr den auswärtigen Gläubigern als Garantie dient, diese also dadurch

bedeutend verringert wird.

Für die Aktionäre selbst ist sie ein Lotterie­

spiel; die Obligationen als Gesellschaftöschuldm haben auf den ersten

Theil des Gewinnes Anspruch und ist dieser Gewinn nicht bedeutend, so absorbirt oft die festnormirte Zinsenzahlung und Amortisation der

Obligationen denselben gänzlich und den Aktien bleibt das leere Nach­ sehen, wie dies jetzt bei der Nordbahn in Spanim der Fall ist (siehe

„Semaine financiere“ vom 22. April d. I.).

Ist im Gegentheil das

Erträgniß des Unternehmens ein bedeutendes, so haben die Obligationen

hiervon keinerlei Gewinn, die Aktien aber sind dann um so besser bethei-

ligt, je geringer ihre Anzahl ist und je größer der Antheil an dem nach Abzug

der Obligationsspesen erübrigenden Reingewinne.

Bei

Unternehmungen freilich, wo Zinsen und Amortisirung vom Staate garantirt sind, ist das Risiko der Aktienbesitzer nur ein relatives;

der

Minimalzins, welchen die Garantie bedingt, bleibt ihnen immerhin

gesichert, wenn nur nicht durch zu gewagte Prämiencombinationen der

Nominal betrag der Obligationen schon jene Summe erreicht, für welche die Regierungsgarantie einsteht.

Die Berlockungen, denen der Kapital­

markt ausgesetzt ist, sind allerdings so zahlreich und so verführerisch,

daß an ein solides Gebaren, an die frühere Art der Emission von

Zinspapieren kaum mehr zu denken ist.

Die 15jährige Anleihe mit

Verpfändung der Klostergüter, welche neulich die italienische Regie­ rung ausgenommen, die neueste mexikanische Anleihe mit ihren echt

kalifornischen Gewinnverheißungen ,

italienische Regierung

macht

die weitere Anleihe,

(425 Mill. Fres, effektiv,

welche

also

die

etwa

700 Mill, nominell); die türkische Finanzoperation zur Consolidirung der schwebenden Schuld, welche in wenigen Tagen bevorsteht; die eben

vom Pariser Gemeinderathe, d. h. vom K. Präfekten Haußmann be­ schlossene Prämienanleihe von 300 Mill. FrcS. (ohne der bevorstehenden

kleineren Anleihen der österr. Regierung und Spaniens zu gedenken) sind mehr als genügende Gründe, um das Kapital, so abondant es auch in diesem Augenblicke zu sein scheint, anspruchsvoll zu machen.

Man

wird freilich nicht ohne Bedauern constatiren können, daß einerseits die meisten der vorstehend angeführten Anleihen s. g. staatlichen d. h. unproduktiven Zwecken dienen sollen und dadurch den Kapitalmarkt für culturfördernde Unternehmungen ernstlich vertheuern, daß andererseits

die Regierungen selbst zu allem Lotterie- und Prämienspiel bereitwilligst die Hand bieten und so der nur mit moralischen Waffen gegen diese Spielwuth ankämpfenden Wissenschaft den Sieg erschweren.

In Frank­

reich namentlich, wo das Gesetz alles Lotteriespiel verbietet, haben nichts­

destoweniger

vom Staate protegirte Kreditanstalten die mexikanische

Anleihe „lancirt"

und

der Seinepräfckt selbst in seinem berühmten

Nordische Revue. IV. 2. Heft. 1865.

12

Caravanseräil, wie er Paris nannte, setzt sich über die Staatsein­ richtungen hinaus und macht Lotterieanleihen. Wer will es dann den Privatunternehmungen verdenken, wenn auch sie diese schlüpfrige Bahn betreten und durch allerlei marktschreierische Combinationen den Kapita­ listen zu fesseln suchen? Es ist komisch, wenn in gewissen Ländern jede Ueberschreitung des sechsprozentigen Zinsfußes als „Wucher" ver­ folgt, dabei aber den Eisenbahn- oder andern Unternehmungen gestattet wird, Obligationen im Nominalwerthc von 500 Fres, zum Preise von 215 FrcS auszubieten, wie dies neuestens geschehen! Wie sich bei dieser Kapitalsjagd die neue russische Agrarbank mit ihren beengten Statuten einen größern Wirkungskreis zu verschaffen gedenkt, das bleibt ein Räthsel oder vielmehr es erklärt sich aus der Abgeschiedenheit vom Geldmarkt, in welcher die wohlmeinenden aber schlechtberathenen Gründer (Büreaukraten und Offiziere) sich befinden. Die Bestimmung z. B., daß den Kreditnehmern nicht mehr als G % an Zinsen abgefordert werden dürfen, ist unausführbar, wie ja schon aus den oben erwähnten Umständen hervorgeht. Es wird wohl vielfach behauptet, iveil der Grundbesitz im Allgemeinen teinen hohen Gewinn abwerfc, könne er auch Geld nur zu billigen Zinsen entleihen. Wäre dies richtig, so müßte die Bodenindustrie so lange auf Kredit warten, bis sie durch Vervollkommnungen dahin gelangt wäre, ein höheres Erträgniß zu bieten; solche Verbesserungen aber erheischen eben Kapitalien, d. h. Kredit und der Ackerbau befände sich somit in einem vitiösen Zirkel. Indeß ist dem nicht so; der bessere Landbesitzer wird es nie so weit kommen lassen, daß er Schulden bis zum ganzen Werthe seines Besitzes mache; er wird nach Maßgabe seiner Bedürf­ nisse % oder höchstens die Hälfte desselben in Pfand geben, das Ka­ pital aber dem ganzen Complexe zu Gute kommen lassen; er wird somit nur während der ersten Jahre sich einige Entbehrung auferlegen müssen, späterhin aber die Frucht der guten Kapitalsverwendung auf dem Ge sammt besitze ernten. Vielleicht märe es gerathen, für jene ersten Jahre die Zahlungsbedingungen besonders günstig zu gestalten, um so dem Grundbesitzer die Sorge für den Anfang zu erleichtern, und namentlich in Rußland möchte dies empfehlenswerth sein, wo die meisten Grundbesitzer, schon von früheren Zeiten her mit Schulden

belastet,

ohnehin

können.

Es möchte dies allerdings als eine gefährliche Concession an

deren Tilgung

nur mit Schwierigkeiten

obliegen

die ohnehin vorhandene Tendenz zum leichtfertigen Schuldenmachen

betrachtet werden; die Schwierigkeit der Berhältnisse dürfte es aber als gerathen erscheinen lassen, diese Maßregel ernstlich in Betracht zu

ziehen.

Das Kapital, Dank den kunstvollen Gestaltungen, die seine

Lerwaltung in unseren Tagen angenommen, könnte sich mit einem

solchen Arrangement ohne Schaden abftnden und dem Grundbesitzer, welcher das entlehnte Kapital in nützlicher Weise verwendet hat, wäre

es gewiß, nach den ersten fünf Jahren z. B., leichter je V-z oder 1 % jährlich an Zinsen und Amortisirung mehr zu zahlen, wenn er nur den sehr schwierigen Anfang überstanden.

Freilich ist solches Gebaren

nur möglich, wenn eine Bodenkreditanstalt den großen Kapitalmarkt für sich offen hat, der es leicht vertragen kann, wenn ein Verhältniß-

mäßig geringer Kapitalantheil während einiger Zeit zinslos in den Grundbesitz gesteckt wird, um das Bersäumte später reichlich wieder

einzubringen und zugleich auch nun durch Erleichterung des Kredits

die Agricultur und damit den allgemeinen Reichthum zu heben.

Es

wäre dies auch eine Art Prämienspicl, welches aber ausnahmsweise einen moralischen Hintergrund und gesunde wirthschaftliche Folgen hätte.

Um aber auf dein Kapitalmärkte sich producircn zu können, mliß eine Agrarbank den Anforderungen desselben sich stets anschmiegen, seine

guten Momente benützen, seine schlechten bestehen können.

Man wen­

det freilich ein, auch andere Anstalten ähnlicher Art im Auslande und

in den baltischen Provinzen hätten ein Zinsmaximum festgestellt, wel­ ches noch hinter dem hiesigen (6 %) zurückbleibt und sie hätten selbst jenes oft nicht erreicht.

Man vergißt aber, daß erstens das Kapital

in Rußland überhaupt seltener und daher theurer ist als im Aus­ lande,

daß ferner unserem Grundbesitze (wie im Augnsthefte 1864

d. R. des Weiteren nachgewiesen ist) mancherlei Elemente der Sicher­ heit abgehen, die durch eine erhöhte Zinsprämie compensirt werden

müssen, daß endlich jene als Beispiel und Beweis angeführten Boden­

kreditanstalten in kleinen Dimensionen angelegt sind und ihr Kapitals-

bedürsniß meist in der nächsten Umgebung befriedigen, während die für das ganze russische Reich berechnete Bank,

welche schon jetzt für

12*

180

Volks wirtschaftliche Briefe aus Rußland.

250 Millionen Rubel Kreditanmeldungen in ihren Büchern verzeichnet hat, unumgänglich auf den großen Geldmarkt angewiesen ist.

In

einer vor Kurzem stattgehabten Zusammenkunft der in Petersburg an-

wefenden Gründer und Actionäre wurde beschlossen, die erste Fonds­

einzahlung in der zweiten Hälfte des Monats Mai zu bewerkstelligen. Sobald eine Million Rubel eiugezahlt und der doppelte Betrag ge­

zeichnet ist, kann die Gesellschaft ihre Thätigkeit beginnen; da das

Kapital nur als Caution für die richtige Zahlung der Zinsen und des

Amortiffements zu gelten hat, so kann die Ausgabe der Obligationen das Zwanzigfache des eingezahlten Betrages ausmachen.

Eine nicht

ferne Zukunft wird lehren, ob diese erste große, unter schwierigen und eigenthümlichen Umständen zu Stande

gekommene russische Boden­

kreditbank auch nur theilweise den sanguinischen Hoffnungen zu ent­ sprechen vermag, welche die Gründer und viele Kreditbedürftige an

dieselbe knüpfen.

Von unseren drei baltischen Provinzen, wo die adeligen Gesetz­

geber dem fortschrittlichen Drängen unserer Zeit in übergroßer Vor­ sicht den Grundsatz: chi va piano va sano stets als Hemmschuh

anlegen, hat die eine, Livland, in neuester Zeit sich wieder zu einer Concession an die Forderungen des

lassen.

modernen Zeitgeistes bewegen

Der Landtag dieser Provinz hat beschlossen, daß bis zum

23. April 1868 die gänzliche Aufhebung der Frohnpacht bewerkstelligt

sein müsse.

Eine andere dankenswerthe Errungenschaft besteht in Auf­

hebung der den Gemeindegerichten zustehenden Befugniß,

bäuerliche

Grundeigenthümer und Gesindewirthe mit körperlicher Strafe zu be­ legen; auch das Recht der „Hauszucht" Erwachsenen gegenüber (diese

Mecklenburgische Idylle), welches der livländische Adel bisher besaß, wurde im jüngsten Landtage aufgegeben,

und nur für „minorenne

Dienstboten und minderjährige Zöglinge" beibehalten, was allerdings

einen eigenthümlichen Begriff von den Ideen gewisser Leute über Er­

ziehung giebt.

Zwei andere von der Regierung vorgeschlagene Re­

formen von wirthschastlicher Bedeutung sind hingegen vom Landtage

vorläufig noch abgewiesen worden.

Was die Reform der Verfassung

und Verwaltung der Landgemeinden betrifft, so hat die Versammlung „sich zwar mit den vom Generalgouverneur im Sinne ausgedehnterer.

BolkSwirthschaftliche Briefe aus Rußland.

181

von der gutsherrlichen Betheiligung unabhängiger autonomer Befug­ nisse

bezüglich

der Communalangelegenheiten

und

des Communal-

vermögens einverstanden erklärt" — sich jedoch die „binnen Kurzem

erfolgende Ausarbeitung einschlägiger Projekte" Vorbehalten.

Der an­

dere Vorschlag ging dahin, auch den städtischen Bürgern das Recht zum Ankauf adeliger Güter zuzuerkennen.

Schon in einer früheren

Session mit einer Mehrheit von 127 gegen 69 Stimmen verworfen,

wurde derselbe auch diesmal mit 115 gegen 78 Stimmen abgelehnt.

Lange wird sich indeß der Adel auch gegen diese Zumuthung des Zeit­ geistes, von der seine eigenen Mitglieder durch erhöhte Concurrenz

beim Güterverkauf den directesten Gewinn zu erwarten haben, aus

purem Kastengeist nicht mehr sträuben können.

Niccolo Machiavelli. Bon

Iulius v. (S) o f c it.

I.

Fast vier Jahrhunderte sind verflossen seit der Mann, deui diese Zeilen gemidiuet sind, gehören; zahlreiche Schriften sind über ihn ge­ schrieben, aber keineswegs steht das Urtheil über ihn fest, denn wäh­ rend andre Namen mit der Zeit die sie hervorgebracht untergehen oder höchstens als Merkmale derselben in der Geschichte sich erhalten, blieb Machiavelli in fortlaufender Verbindung mit der Politik jedes llahrhunderts in Europa. Er trat auf an einem Wendepunkte der ganzen europäischen Politik, in ihn: wurzeln die treibenden Ideen aller neuern Zeitbewegung, mit seinem Namen und seinen Ideen haben sieh die Prob­ leme derselben stets verknüpft, daher wurde er von den Einen bewun­ dert und in den Himmel erhoben, von den Andern geschmäht und sein Name verflucht. Noch heute kann man die allerwidersprechendsten Urtheile über ihn finden. Zum Theil hat er es selbst durch die innern Vorbehalte verschuldet, welche er sich als Mensch bei seinen Rathschlägen der praktischen Politik machte, zum Theil kommt dies da­ her, daß die meisten Schriftsteller sich lediglich an das berüchtigte Buch vom Fürsten hielten, statt sich an die Gesammtheit seiner Schriften und feilte Persönlichkeit selbst zu wenden. Namentlich ist seine Stellung nicht genug gewürdigt worden, die gleichwohl den Schlüssel seiner Po­ litik liefert. Auf den Trümmern des längst durch zahllose Barbaren­ schwärme vernichteten römischen Reichs hatte das Bürgerthum Fuß gefaßt als Element einer neuen Staatenbildung, und im Verlaufe des Jahrhunderte langen bittern Kampfes zwischen der weltlichen und geistlichen Macht hatte dieses namentlich in Italien immer mehr Pri­ vilegien, immer größere Macht erworben, so daß schon in der Mitte

des zwölften Jahrhunderts der norditalicnische Städtebund mit Erfolg dein deutschen Kaiser Barbarossa widerstand. Bon da an sehen wir den Reichthum und die politische Macht dieser italienischen Republiken fortwährend zunehmen, aber der Keim des Verderbens lag in der ausschlicßcnden Berechtigung einiger wenigen Familien zur Herrschaft. Als nun die großen Parteikämpfe der Guelfen und Ghibellinen oder der Anhänger der Kirche und des Kaiserthums nicht nur im Reiche, son­ dern auch in Italien alle Lebenszustände durchdrangen und die Männer der Politik sowie die der Wissenschaft in zwei feindliche Feldlager trennten, da theilten sich die mächtigen Geschlechter vieler Städte in beide Factionen und brachten diese Städte dadurch an den Rand des Verder­ bens. Dies war auch in Florenz der Fall, in einer und derselben Familie gab es Guelfen und Ghibellinen, welche sich oft in blutiger Schlacht gegenüberstanden. Während dieser gewaltigen Wirren hatten sich in vielen Städten Italiens theils große, theils kleine Herrm der Herrschaft bemächtigt, die einen mit Hülfe des Kaisers, die andern mit Hülfe des Papstes, die einen gestützt auf die Gunst des Volkes, die andern auf die des Adels. Ihre Herrschaft wußten sie zu befestigen und zu behaupten durch ein vollständig ausgedachtes System aller Greuel und Schandthaten, deren die menschliche Natur fähig ist. So geschah es in Genua, Lucca, Siena, Bologna, Mailand, Ravenna, Neapel. Dies sind die Zustände gegen Ende des fünfzehnten Jahr­ hunderts, unter denen der große Sekretär der florcntinischcn Republik aufwuchs und die er seinem System der Politik zu Grunde legte. Niccolo Machiavelli wurde geboren zu Florenz am 3. Mai 1469 aus einer hoch angesehenen Familie, deren Vorfahren häufig das erste Staatsamt bekleidet hatten, die aber in der letzten Zeit in ihrem Vermögen herabgekommen war. Es sind noch jetzt Portraits von ihm vorhanden, die ein neuerer Schriftsteller folgendermaßen beschreibt: „Der kleine schmächtige, fast mit einer Hand zu umspannende Körper scheint von elastischer Biegsamkeit und Dehnbarkeit, findet jedoch seinen Halt und Schwerpunkt in dem wunderbar ernsten, gedankenvollen Kopf, in dessen Ausdruck eine ungeheure Tragweite liegt. Kopf und Gesicht haben eine sehr schmale, länglichte Form, das schwarze Haupt­ haar ist glatt und knapp anliegend und über der schönen hohen

Niccolo Machiavelli.

184

Denkerftirn und an beiden Seiten zurückgestrichen.

Gesicht, Kinn und

Lippen sind von einem sehr wohl gezogenen, fast zu sorgsam gestutzten

Bart umschattet.

unter mächtig

Das etwas tief liegende Auge, das kühn und groß

gezogenen Brauen ruht,

hat

einen durchdringenden,

spähenden, lauernden Blick, der schonungslos, nicht vertrauend und nicht fürchtend, aber auf Alles gefaßt und Alles für möglich haltend auf seinen Gegenständen zu haften scheint.

Ein geistvolles charakte­

ristisches Mißtrauen, das jedoch in dem edelsten Ausdruck sich hält,

aber einen bösartigen und drohenden Uebergang nicht auszuschließen scheint, schattirt die ganze Physiognomie mit wunderbaren Tinten und

Nüancen.

Die römische

Nase,

entschieden, aber fein

gewissermaßen thatsächlichen Aus­

fügt einen festen, unternehmenden,

druck dem genialen, aber

trübe

ausgebildet,

schimmernden Gesicht hinzu.

Eine

bewundernswürdige Zierde des Mannes ist seine ungemein schöne, fast weiblich volle, aber in künstlerischer

Form gebildete

Hand, die den

feinen Geist, den sinnigen Meister der Darstellungskunst, in ihren zarten und physiognomischen Nüancen verräth." Bon den Jugendschicksalen Machiavelli'S wissen wir nur, daß er mit 24 Jahren zur Erlernung der StaatSgeschäste als Hülfarbeiter

bei Marcello Virgilio eintrat, der zugleich Lehrer der griechischen und

lateinischen Literatur war und nach Vertreibung der Mediceer ein be­ deutendes StaatSamt in Florenz bekleidete.

Nach vier Jahren wurde

Machiavelli zum Kanzler der zweiten Kanzlei und bald darauf zum

Secretär des Rathes der Zehn ernannt.

Kurz zuvor hatte nämlich König Karl VIII. von Fankreich den Peter von Medici, Sohn und Nachfolger des berühmten Lorenzo, der

ebenso unfähig wie sein Vater groß und bedeutend war, aus Florenz vertrieben und seinen Palast mit den herrlichsten Kunst- und Literatur­

schätzen der Plünderung seiner Soldaten preisgegeben. Nun wurde sofort die Verbannung der Mediceer decretirt und

eine etwas freiere Regierungsform trat an die Stelle der bisher aus­ schließlichen Aristokratie.

Um diese Zeit schwang sich in Florenz der

berühmte und noch heute von seinen Brüdern hoch gefeierte Domini­

kaner Girolaino Savonarola auf und predigte gegen Staat und Kirche,

indem er alttestamentliche Theokratie und Demokratie zu verschmelzen

Zwar wußte er damit momentan die Massen gewaltig zu elek-

suchte.

trisiren, als aber Alexander VI den Bannstrahl gegen sein Haupt schleuderte, schützte ihn die Volksgunst nicht gegen den Scheiterhaufen.

Nach seinem Tode wurde die Leitung der Republik dem großen Rathe übertragen, an dessen Spitze ein auf Lebenszeit gewählter Gonfaloniere der Justiz stand, welche hohe Würde dem Peter Soderini übertragen wurde.

Unter dieser Regierung trat Machiavelli in den

öffentlichen Dienst. Seine Geschäfte bestanden in Führung der gesammten auswärti­

gen und innern Correspondenz des florentinischen Staats, in der Protokollirung der Rathsverhandlungen und vorzüglich in Leitung und Uebernahme zahlreicher Gesandtschaften, von denen 23 bekannt sind,

darunter mehrere nach Deutschland und Frankreich; bei allen führte

er nie die wirkliche Gesandtschaft, aber stets war er die Seele des Ganzen und während Andre materiellen Nutzen hatten, fiel ihm nur

die Mühe und Arbeit zu, ja er war in Folge des geringen Gehalts sogar genöthigt

hierbei sein Privatvermögen zuzusetzen.

Gesandtschaftsposten schrieb

Florenz.

Auf diesen

er zahlreiche Berichte an den Rath in

Sie gehören zu dem Interessantesten seiner Werke, nament­

lich die Berichte aus Frankreich und Deutschland, auf die wir später

kurz zurückkommen. Bedenkt man nun, welch großartige weit verzweigte Verwicklungen

damals — Ende

des fünfzehnten Jahrhunderts —

zwischen Frankreich, Deutschland und Italien, worin sich Venedig, Rom

Florenz, Neapel und Mailand gegenseitig das Gleichgewicht hielten, obwalteten,

so

kann man sich

einen

Begriff von

der Thätigkeit

und dem diplomatischen Scharfblicke des Mannes machen, der die Fäden dieser Verhandlungen, soweit sie Florenz betrafen, allein in der

Hand hatte.

Machiavelli war seiner innersten Neigung und Anlage

nach ausschließlich Diplomat und Politiker, daher war ihm d?r ein­

zige Maßstab der Beurtheilung für jegliche Handlung der Erfolg,

diesem aber opferte er in Theorie und

lichkeit mit Religion, Moral und Recht.

Praxis

die

ganze Persön­

Dasjenige Buch nun, das

diesen Gedanken mit scharfer Dialektik ausführt und zugleich ein System der Diplomatik genannt werden könnte, ist sein Buch, betitelt: II prin­

cipe.

Diese höchst merkwürdige Schrift, die seinen Ruhm verkünden

wird, so lange es Staaten und Politiker gibt, schrieb er aller seiner Aemter entsetzt, in der Verbannung auf einem kleinen Landgute. Unablässig hatten nämlich die Mediceer seit ihrer Vertreibung, namentlich durch ihre Verbindungen mit dem römischen Stuhl und dem deutschen Kaiser an ihrer Rückberufung gearbeitet, anfangs ohne Er­ folg, da die herrschende Partei in Florenz von Frankreich unterstützt wurde. Als aber im Sommer des Jahres 1512 der Cardinal Gio­ vanni von Medici und sein Bruder Julian es dahin brachten, daß auf dem Fürstentage zu Mantua die Rückkehr der Medici und Aende­ rung der Florentiner Regierungsform als eine Nothwendigkeit aus­ gesprochen wurde, gelang es jenen beiden mit Hülfe deutscher Sold­ truppen den Einzug in Florenz zu erzwingen. Julian machte sich jetzt zum Dictator und räumte' mit Schwert und Verbannung unter den Anhängern des frühern Regiments auf. Durch Decret vom 8. November 1512 wurde der große Staatssecretär, dem sein Vater­ land so viel verdankte, der in die größten Staatsgeheimnisse eingcweiht war, seiner Würden mit) Aemter entsetzt und auf ein Jahr aus der Stadt verwiesen, kurz darauf aber der Theilnahme a>r der Ver­ schwörung des Boscoti und Capponi verdächtigt, inö Gefängniß ge­ worfen und auf die Folter gelegt, welche er mit wunderbarer Stand­ haftigkeit ertrug. Erst im März 1513, als Cardinal Giovanni als Leo X den päpstlichen Stuhl bestieg, wurde Machiavelli der Haft ent­ lassen, jedoch aus Florenz verwiesen. Von seinem früher nicht unbedeutenden Vermögen war ihm mit seinen fünf Kindern nur ein von seiner Familie ererbtes kleines Land­ gut bei San Casciano geblieben, zwischen Florenz und Rom gelegen. Trotzdem daß sich mehrere seiner einflußreichen Freunde bei den Me­ diceern für ihn verwendeten, mußte er in seiner Einsamkeit bleiben, sicher das allerschrecklichste für einen so hochstrebcnden, so thätigen Geist. Hier sann er auch unaufhörlich nach, wie er wohl wieder tut Staatsdienste verwendet werden könne, denn politische Thätigkeit ge­ hörte zu seiner Existenz, wie Wasser zu der des Fisches. Aus Ver­ zweiflung und Langeweile, vielleicht auch mit der Absicht wieder ver­ wendet zu werden, warf er sich jetzt auf die Schriftstellcrei, sein Buch vom Fürsten und die Untersuchungen über die ersten 10 Bücher des

Livius, eine Abhandlung voll der geistreichsten Bemerkungen und Excurse aus dem ganzen Gebiet der Geschichte mit tiefstem Einblick int die Verhältnisse deS Alterthums und seiner eignen Zeit, sind hier geschrieben. Die Art seiner Beschäftigung und seine ganze Lebensweise erkennen wir am besten aus dem berühmten Briefe vom 10. December 1513 den er an seinen Freund Francesco Vettori, mit welchem er früher auf der Gesandtschaft in Deutschland gewesen und der nunmehr Botschaf­ ter der Mediceer in Rom war, geschrieben hat. Er erzählt in diesem Briefe mit Wehmuth, wie er einen ganzen Monat lang gejagt, Krammets­ vögel gefangen, dabei vor Sonnenaufgang aufgestanden, um seine Ruthen mit Leim zu bestreichen und dann mit den Käfigen auf dem Rücken wieder hciinzugchen; ferner daß er Holz schlagen lasse und seine Zeit mit den Holzhauern verbringe, die sich fortwährend zanken; wenn er dann sein Holz verkaufen wolle, werde er von Jedermann betrogen und übervortheilt, was ihn in zahllose Händel verwickele. Dann fährt er fort: „Wenn ich das Gehölz verlasse, gehe ich nach einer Quelle und von da nach einer Bogelhütte, die mir gehört, mit einem Buch unter dem Arm, dem Dante oder Petrarca oder auch einem dieser geringeren Dichter, dein Tibull, Ovid oder einem ähnlichen. Da lese ich von ihrer Zärtlichkeit, ihren Liebschaften, ich erinnere mich der meinigen unb ergötze mich eine Weile an solchem Sinnen. Sodann gehe ich nach der Schenke an der Landstraße, rede mit den Borüber­ ziehenden; frage nach den Neuigkeiten ihrer Heimath, erfahre so man­ cherlei Dinge und beobachte die mannigfaltigen Meinungen und ver­ schiedenen Grillen der Menschen. Unterdeß kommt die Stunde der Aiahlzeit heran, wo ich mit meiner Familie solche Speisen genieße, wie sie mein armes Landgut und mein geringes Erbe mit sich bringt. Nach Tische gehe ich wieder in die Schenke; da treffe ich in der Regel den Wirth, einen Fleischer, einen Müller und zwei Ziegelbrenner. Mit'diesen verspiele ich dann den ganzen Tag mit Cricca und Triktak, wobei es tausend Händel giebt und tausend Schimpfe­ reien, meistens um einen Quattrino; und schreien hört man uns bis nach San Casciano. So versenkt in dies gemeine Leben, stille ich die Gluth meines Kopfes und lasse der Widerwärtigkeit meines Schicksals freien Lauf,

indem ich mich darein füge, so von ihm mit Füßen getreten zu werden, um doch zu sehen, ob eS sich nicht endlich darüber schämt.

Kommt der Abend, so kehre ich heim und gehe auf mein Schreib­ zimmer, auf dessen Schwelle ich mein bäuerisches Kleid voll Schmutz und Koth von mir werfe, und königliche Gewänder und wie sie am

Hofe sich ziemen anlege; so, würdig angethan, besuche ich die alten Hofhaltungen der Männer des Alterthums und von ihnen freundlich

empfangen, nähre ich mich von solcher Speise, die mir allein gehört

und für die ich geboren ward; da errathe ich nicht, mit ihnen zu reden und die

Ursachen ihrer Thaten zu erforschen, und ihre Humanität

macht, daß sie mir antworten.

Bier Stunden lang, die ich so zubringe,

empfinde ich nicht den mindesten Ueberdruß, vergesse ich allen Kummer

und fürchte weder die Armuth noch den Tod; ganz und gar versetze

ich mich in die Mitte dieser Großen.

Und wie Dante sagt, daß man

keine Weisheit erwirbt, ohne das Erkannte zu behalten, so habe ich ausgezeichnet, was ich durch ihre Unterhaltung gewonnen habe und

ein Werkchen de principatibus ausgearbeitet, in welchem ich

mich

so tief als möglich in die Betrachtungen dieses Gegenstandes versenke.

Ich untersuche darin, was eine Herrschaft sei, wie viele Gattungen eS davon giebt, wie sie erworben, wie sie aufrecht erhalten, wodurch

sie verloren werden; und wenn Euch je einer meiner wunderlichen

Gedanken zugesagt hat, so dürfte Euch dieser nicht mißfallen.

Einem

Fürsten und besonders einem neuen Fürsten, müßte er sehr willkom­

men sein, deßhalb will ich es Sr. Magnificenz dem Iulian widmen."

Und weiter unten fährt er fort:

„Ich habe mit Filippo über

mein erwähntes Werkchen gesprochen, ob ichs dem Iulian überreichen soll oder nicht, und

wenn ichs ihm überreiche, ob ichs ihm dann

selbst bringen oder schicken sollte.

Wenn ich's ihm nicht gebe, muß

ich fürchten, daß es von Julian jedenfalls doch gelesen wird, wenn

ich's ihm aber gebe, komme ich in die Nothwendigkeit, mich zu beeilen, denn ich gehe zu Grunde und kann eS nicht lange so treiben, ohne

durch meine Armuth verächtlich zu werden.

Hernach hatte ich den

Wunsch, daß diese Herrn Medici anfangen möchten, mich zu gebrauchen

und wenn ich anfangs Steine wälzen sollte; denn ich müßte mich selbst bemitleiden, wenn ich mir sie nicht mit der Zeit gewinnen sollte. DeS-

halb, wenn man's läse, würde sichtbar werden, daß die fünfzehn Jahre, die ich mit dem Studium der Staatskunst zugebracht habe, von mir weder verschlafen, noch verspielt worden sind, und es sollte doch Jedem

lieb sein. Jemand zu seinem Dienst zu haben, der auf Andrer Kosten sich so große Erfahrungen gesammelt hat.

An meiner Treue braucht

Niemand zu zweifeln; ich werde nun nicht lernen, sie zu brechen; denn Iver 43 Jahre redlich und treu befunden worden ist wie ich, von dem könnte man doch annehmen, daß

er seine Natur nicht ändere; von

meiner Treue und Redlichkeit aber ist meine Armuth der Beweis."

Hieraus ersehen wir klar die Zwecke, welche Machiavelli mit dieser Schrift verfolgte.

Zunächst wollte er das

Resultat seiner frühern

Thätigkeit und seiner jetzigen Studien in geordnetem Systeme darstellen, dann aber auch hierdurch sich die Möglichkeit der Wiederverwendung

im Staatsdienste verschaffen. seinem

unglückseligen

Dazu kam die leidenschaftliche Liebe zu

von tausend

Händel und Wirren zerfleischten

Vaterland, die in ihm den Gedanken erweckte, daß die einzige Hoffnung und das einzige Hei! Italiens in der Herstellung eines einigen Reiches

beruhe.

Diesen Gedanken hegte er nicht allein, schon Alexander VI

und Cesare Borgia hatten an dessen Verwirklichung gearbeitet und

neuerdings hatten ihn die Mediceer, namentlich Leo X und sein Neffe Lorenzo wieder ausgenommen. Letzterer war nämlich kaum 21 Jahre alt in die Stelle seines vollständig unfähigen Oheims Julian getreten, daher

wurde ihm auch das Buch von Machiavelli gewidmet.

Vielleicht aus

Abneigung gegen die Principien, vielleicht aus Furcht vor der gewal­ tigen Größe des Schriftstellers, nahm er das Buch an, kümmerte sich

aber nicht um den Verfasser, so daß dieser jetzt in die traurigsten Ver­ hältnisse gerieth, aus denen ihn erst der Tod

des

Lormzo

(1519)

einigermaßen erlöste. Um diese Zeit erhielt er vom Papst Leo X den Auftrag, Vor­

schläge zu einer Reform der Staatsverfassung von Florenz zu machen,

welchem Auftrage er mit der größten Gewissenhaftigkeit nachkam und die Aufgabe

selbst

zu

einer größern

tief politischen

wissenschaftlichen Abhandlung ausarbeitete.

und zugleich

Die Vorschläge selbst aber

mochten den Mediceern, die nach absoluter Herrschaft strebten, wenig

190

Niccolo Machiavelli.

nach dem Sinne sein, denn Machiavelli erkannte das einzige Heil in

der Wiederherstellung der alten rein republikanischen Berfassung. Für ihn selbst hatte diese Schrift die einzige Folge, daß er jetzt

sich wieder in Florenz aufhalten konnte, wenn er auch seinen ständigen

Wohnsitz noch nicht da nahm.

Hier waren es die Gärten des Ru-

cellai und der dort sich versammelnde Freundekreis, die eine unwider­ stehliche Anziehung auf ihn übten.

Gestiftet waren diese Gärten zur

Zeit Lorenzos von Medici mit dem Beinamen des Prächtigen.

Aus­

gestattet mit den herrlichsten Skulptur- und Architekturmerken, bildeten

sie seit zwei Menschenaltern den eigentlichen Mittelpunkt des künstlerischen Bernardo Rucellai hatte dort die plato­

und wissenschaftlichen Lebens. nische Akademie

wieder eingerichtet und sein Enkel Cosimo Rucellai

ein Jüngling voll der großartigsten Anlagen, aber verkrüppelt an Körper, der von Kindheit an contrakt sich nur in Sänfte und Rollsessel durch

seine herrlichen Gärten bewegen konnte, hatte zu jener Zeit eine wahre Akademie der Literatur und

Kunst gestiftet.

Außer

Machiavelli ge­

hörten noch zu diesem Kreise Zanobi Buondelmonti, Lorenzo Strozzi, Jacobo da Diaceto,

Luigi Alamanni, Baptist

della Palla,

später hoch berühmt durch Werke der Kunst und Literatur.

Anregung mußte Machiavelli durch

alle

Vielfache

diesen Kreis erhalten, denn er,

älter als die meisten, war der eigentliche Lehrer der Staatswissenschaft

und praktischen Politik; seine sieben Bücher über die Kriegskunst und

die berühmten Abhandlungen über die ersten zehn Bücher des Livius

verdanken dieser Thätigkeit ihre Entstehung und

Vollendung.

erste Schrift ist den beiden Brüdern Pietro und Luigi

widmet.

Die

Alamanni ge­

Die andre den Freunden Rucellai und Buondelmonti.

Aber nicht lange dauerte

dies

friedliche Zusammenleben.

Im

Jahre 1522 ging aus den Rucellaischen Gärten eine Verschwörung

gegen das Leben des Cardinal Giulio hervor, der seit dem Tode Lo-

renzo'S das StaatSruder von Florenz in Händen hatte.

Wohl alle

Theilnehmer der berühmten Unterhaltungen waren vertraut mit dem

Plane der Verschwörer, durch Beseitigung der Mediceer die alte Frei­ heit wieder aufzurichten, doch nur zwei: der Maler Pietro Alamanni und da Diaceto, mußten ihr Haupt auf den Block legen,

andre, der

Dichter Luigi Alamanni und Buondelmonti entkamen durch die Flucht,

Letzterer nach Ferrara, der andere an den Hof Königs Franz I. Sicher

war auch Machiavelli der ganzen Sache nicht fremd, aber entweder suchte man ihn, der schon so viel Unbill erlitten, absichtlich nicht in

die Untersuchung zu ziehen oder er hatte sich von Anfang sicher zu stellen gewußt. Daß aber die Pläne der Verschwörer nur das praktische

Resultat der Lehren, die sie von seinem Munde gesogen, waren, ergiebl sich nicht nur aus

der innigen Freundschaft zwischen den Häuptern

der damaligen Revolution und Machiavelli, sondern auch aus seinen

politischen Grundsätzen, wie er sie überall mit Ausnahme des Buches offen aussprach.

vom Fürsten

Denn für Florenz erwartete er das

Heil nur von der früher bestandenen republikanischen Verfassung, für Gesammt-Ätalien freilich wünschte er mit innigster Ueberzengungsgluth einen starken Monarchen, der dem Elend der Zerrüttung und des Bürgerkriegs ein Ende machen könne.

Sicher konnte es auch dem

Cardinal Giulio nicht entgangen sein, daß die Intentionen der Ge­ nossen des Rucellai mit denen Machiavelli'S übereinstimmten, aber er

ließ ihn vollständig unbehelligt, ja als er kurz darauf als Clemens VII

den päpstlichen Stuhl bestieg, gab er ihm den Auftrag, die Geschichte der Republik Florenz zu schreiben, hauptsächlich wohl um ihn einiger­ maßen zu beschäftigen, vielleicht auch, weil er von ihm eine Verherr­

lichung seiner Familie erwartete.

Auch hatte Machiavelli jetzt wieder

Gelegenheit sich in seinem eigentlichen Lebenselement zu bewegen. Er

wurde von Clemens zu mehreren größern und kleinern Gesandtschaf­ ten verwendet.

Es waren nämlich jetzt wieder großartige weitverzweigte

Verwickelungen zwischen Kaiser Karl V und dem Papste entstanden, in Folge

deren

der

Kaiser

seinen

Feldherrn den

Connetable von

Bourbon mit bedeutender Heeresmacht über die Alpen geschickt hatte.

Zweimal ging Machiavelli als päpstlicher Gesandter zu dem Conne­ table, um ihn von offnen Feindseligkeiten gegen Rom abzuhalten, aber

seine Sendung war vergeblich. Papstes

die

Errichtung neuer

Darauf leitete er im Auftrage des umfangreicher

Befestigungswerke für

Florenz, denn diese Stadt, welche damals nur noch als eine päpstliche

Stadt zu betrachten war und von Rom aus regiert wurde, hatte wohl zuerst die Feindseligkeit des deutschen Heeres zu fühlen.

sollte sich diese Voraussicht bestätigen.

In der That

Immer ungestümer verlangten

Niccolo Machiavelli.

192

die kaiserlichen Soldtruppen, nachdem sie fast ganz Oberitalien durch­ zogen und gebrandschatzt, den Zug nach Florenz und Rom.

Hatte Machiavelli schon früher rastlos gearbeitet, um die Stadt in den nöthigen VertheidigungSzustand zu setzen, so war er jetzt un­

aufhörlich thätig, um wenigstens das Aeußerste abzuwenden.

Zweimal

ging er im Auftrag seiner Mitbürger als Gesandter zu seinem Freunde Francesco Guicciardini, dem berühmten Staatsmann und Historiker,

der damals als Oberbefehlshaber der römischen Truppen im Atodc-

nesischen stand, um ihm den gefährlichen Zustand der Stadt Florenz auseinanderzusetzen und ihn zu kräftiger Unterstützung an Mannschaft und Gold zu bewegen, zugleich auch um für seine Mitbürger Erkun­

digungen über den wahren Stand der Uneinigkeit zwischen Kaiser uud Papst einzuziehen.

Dies ist die letzte politische Thätigkeit Machiavelli'S.

Wie glücklich es ihn machte, überhaupt wieder im öffentlichen Leben thätig sein zu können, welche Pläne er für die Zukunft seiner Vater­

stadt darauf baute, sehen wir aus einem Briefe au seinen Freund Guicciardini. Die Dinge entwickelten sich anders als man gedacht hatte. Kurze

Zeit nach jener zweiten Gesandtschaft an den römischen Befehlshaber

stürzte sich das deutsche Söldnerheer gegen Rom.

Die wenig disci-

plinirten römischen Truppen unter dem Oberbefehle des unzuverlässigen Herzogs von Urbino leisteten nur geringen Widerstand.

Am 6. Mai

1527 mußte sich die ewige Stadt ergeben und sah in ihren Mauern

plötzlich ähnliche Greuel und barbarische Rohheiten, wie in den Zeiten, als die Gallier

unter BrennuS oder die Vandalen unter Geiserich

siegreich ihre Mauern erstiegen hatten. Zu gleicher Zeit wurden in Florenz die mediceischen

Beamten

vertrieben und so ohne Blutvergießen die Republik wieder hergestellt. An der Spitze dieser Bewegung standen Niccolo Capponi und Filippo Strozzi, beseelt von dem Gedanken, der einst die Freunde des Rucellai ins Unglück gestürzt.

Der einzige Unterschied war der, daß jetzt

die Gelegenheit günstiger war, weßhalb die Sache auch zur Ausfüh­ rung gedieh.

Ob Machiavelli jetzt auch mit diesen Plänen vertraut

war, läßt sich mit Bestimmtheit nicht behaupten, doch scheint es, daß

seine letzte politische Thätigkeit ihn ganz absorbirte, und so mochte er

wohl von jenen Dingen wissen, stand aber sicher nicht in engerer Berbindnng mit ihnen, wie er auch in keiner Weise thätig eingriff. Copponi wurde jetzt zum Gonfaloniere der Justiz ernannt und im übrigen die Berfassung wieder hergestellt wie sie früher gewesen. Das Wappen der Mediceer wurde von allen öffentlichen Gebäuden herabgefchlagen, das erst kurz zuvor in der Kirche dell'Anuunciata errichtete Standbild Papst Clemens VII zerbrochen, die Besitzungen des Papstes in der Stadt confiscirt. Zum Glück entkam noch der Cardinal von Cortona mit den beiden Reffen des Papstes nach Pisa, sonst wäre wohl schwerlich Blutvergießen vermieden worden. Machiavelli befand sich um diese Zeit in Rom; bei der ersten Nachricht von der veränderten Lage der Dinge eilte er nach Florenz, wo er hoffen konnte, den Lohn für so viele Mühsal und Anstrengung, für Verbannung, Kerker und Folter, die er im Dienste der florentinischeu Freiheit ertragen, den Lohn für die Aufopferung seines ganzen Lebens zu erhalten. Statt dessen wurde er kalt und gleichgültig em­ pfangen, seine Thätigkeit in den letzten Jahren hatte sein ganzes früheres Leben mit Vergessenheit überdeckt. Der eine Vorwurf, daß er in den letzten Jahren sich dem Dienste der Mediceer angeschlossen, genügte, um ihn in den Augen Aller lmmöglich zu machen, und kein Mensch dachte daran, daß er sein ganzes Leben, sein Vermögen und das Wohl seiner Familie im Dienste des Staates geopfert hatte. Seine alte Sekretärstelle, mit deren Verleihung er im höchsten Grade zufrieden gewesen wäre, wurde einem unbekannten Menschen Namens Gianotti verliehen. Zwar setzten die Freunde Machiavelli's, namentlich Buondelmonti und Luigi Alamanni, die an der Spitze der Bewegung standen, alle Hebel ihres Cinflusfes für ihren frühern Lehrer in Bewegung, aber vergebens. Das Volk wollte einmal nichts von ihm wissen. So blieb ihm denn nichts übrig als zu sterben. Die eigentliche Ursache seines Todes, der am 22. Juni 1527 nach leichter Erkrankung cintrat, war sicher der Schmerz und die Verzweiflung über das Scheitern all seiner Pläne und Hoffnungen. Seine Familie verließ er in der größten Armuth, denn wie wenig ihm sein Beruf trug, wurde schon erwähnt, aber auch von seinen zahlreichen Schriften konnte er keine Frucht ernten. Bei feinem Tode war außer den sieben Büchern über die Kriegskunst nichts Nvrkische Revue. IV. 2. He st. 1865.

13

Niccolo Machiavelli.

194 veröffentlicht.

Sein Grab in der Kirche zum heiligen Kreuz war lange

Zeit vergessen, bis ihm im Jahre 1787 Großherzog Leopold ein Denk­ mal setzen ließ.

Nur kurze Zeit erfreute sich Florenz der neu erlangten Freiheit, nach vier Jahren kehrten die Medici zurück, und nun wurde die Re­ publik in ein erbliches Herzogthum, bald darauf in ein Großherzog-

thum verwandelt.

Erst damit kehrten geordnete Zustände zuriick, aber

der ftühere Glanz war erloschen, die einst so herrliche Blüthe sank

mit jedem Jahrzehend immer tiefer.

Volkswirthschafttiche Briefe aus Deutschland. Von Wilhelm Wackernagel.

Berlin, den 2. Mai 1865.

Dem großen Todten jenseits

coln,

weiland

Präsidenten

der

des Oceans,

Vereinigten

Abraham Lin­ von Nord­

Staaten

amerika, mag, bevor unsre Hand sich anschickt, die laufenden Geschäfte zu berühren, im Geiste der Kranz der Anerkennung auf die noch frische Gruft im fernen Illinois niedergelegt werden; so heischt es die Pflicht

internationaler Courtoisie gegen jenes mächtige Staatswesen, dessen Volk in ihm den Verlust seines Vaters betrauert, und welches mit den beiden Nationen, zwischen denen diese Blätter den Austausch civilisatorischer

Ideen zu fördern bestimmt sind, seit den Tagen seines

Washington

in

unsterblichen

den freundschaftlichsten Beziehungen gestanden hat.

Abraham Lincoln ist gefallen durch Mörderhand; nicht darin aber

liegt das Tragische

des furchtbaren Ereignisses, welches die ganze

gesittete Welt wie ein moralisches Erdbeben

erschüttert hat, sondern

vor Allem darin, daß er nicht aus Motiven persönlicher Rachsucht hingeopfert tvurde, sondern weil in ihm die leitende Idee seines ganzen Volkes sich verkörperte, denn Lincoln wollte niemals etwas Andres

sein als der Vollstrecker des Willens seines Volkes.

Das

amerikanische Volk, insoweit es loyal zur Bundesverfassung hält, muß,

bis die erschütterten Gemüther wieder ins Gleichgewicht gelangen, sich

fast so vorkommen, als ob der bessere Theil seines

Selbst von ihm

genommen, als ob die Seele, welche in ihm wohnte, für immer ent­

flohen sei; denn in Abraham Lincoln waren alle Tugenden seines Volks verkörpert; alle Hoffnungen desselben lebten in seiner Brust;

alle Thaten desselben trugen den Stempel seines Geistes.

13*

Als die

196

Volkswirthschaftliche Briefe a»S Dentschland.

Kunde von dem furchtbaren Ereigniß die weiten Staaten der Union

durchlief von Washington nach Baltimore, von Baltimore nach Phila­ delphia, von Philadelphia nach New-Jork, von New-Jork nach Detroit, von Detroit nach Illinois und bis zum fernen Iowa hin, da waren Aller Herzen gebrochen und Aller Augen erfüllt mit Thränen; aber auch hier diesseits des Oceans beeilten sich die Männer aller Parteien

ohne Unterschied, Fürsten und Völker, den Brüdern in Nordamerika ihre sympathischen Gefühle zu bezeugen.

Wenn dem Volke der Union

in seinem Schmerze Eins zum Troste gereichen kann, so ist cs dieses,

daß jenes grause Ereigniß alle Nationen es nochmals um so tiefer hat empfinden lassen, wie die Sache, für welche Lincoln den Tod dcs

Märtyrers starb, die Sache der ganzen Menschheit ist.

Für uns

persönlich liegt noch eine ganz besondere Veranlassung vor,

gerade

heute dem Andenken des großen Todten Worte der Anerkennung zu

weihen, weil wir erst vor wenigen Stunden mit unsern Brüdern aus Nordamerika an geweihter Stätte unter dem schwarzumflorten Sternen­ banner standen und den schmerzbewegten Worten lauschten, mit welchen

Mr. Tappan, der auch in Deutschland als Gelehrter bekannte frühere Kanzler der Universität Ann-Arbour im Staate Michigan, das Andenken

des

dahingeschiedenen

Freundes

feierte.

Es

ging uns aus diesen

Worten, die noch lange nachzittern werden in unsrer Seele, das Ver­ ständniß darüber auf, daß Lincoln mit seinem Blute feinen Apostel­

eifer für die Ausbreitung und Verkündigung einer Lehre besiegelte, zu deren Schülern auch

wir uns zählen, und die da

lautet:

die

Arbeit allein ist eS, welche die Grundlage des nationalen Wohlstan­

des bildet; jeder Fortschritt der Menschheit hängt von der Anerkennung dieser großen Wahrheit ab.

Wer die Arbeit mit dem Makel der

Sklaverei belastet, wer sie für unwürdig des freien Mannes erklärt,

der versündigt sich wider den heiligen Geist der Humanität, der ist der ärgste

Feind der Freiheit

und des Fortschritts.

Dies ist das

Evangelium, welches Lincoln seinem Volke verkündigt und für welches er als Blutzeuge den Tod erlitten hat. Wer war dieser Abraham Lincoln, so fragte Mr. Tappan —

He was the son of a working man and himself a working man, der Sohn eines Arbeiters und selber ein Arbeiter.

Mit der Büchse

in der Faust gewann er die Wälder von Illinois den Wilden ab; mit der Axt in der Hand rodete er diese Wälder aus und schuf blü­

hende Fluren an ihrer Stelle. — He practical man;

was a

ein Mann, der Alles,

self-made

man,

a

was er hatte und war, sich

selbst verdankte, ein Mann erzogen durch das Leben.

die Mittel, um sich zu bilden; er erwarb sie sich.

Er besaß nicht

Nicht in der Schule

wurde er erzogen; die Welt erzog ihn, in ihr erlangte er jene Bildung,

die allein das praktische Leben gewährt und die allein

dazu hilft, ein

praktisches Ziel zu erreichen, jenen durchdringenden Verstand, der schnell

und scharf die Thatsachen auffaßt und zu classificiren weiß, jene prak­ tische Logik, welche den Mann befähigt, auch überwältigenden Ereig­

nissen die Spitze zu bieten. Bon dieser Schärfe und Bestimmtheit seiner Gedanken legen auch seine Reden Zeugniß ab, die zugleich ein Muster

glücklicher Bolksthümlichkeit, eine unerschöpfliche Fundgrube praktischer Lebensregeln

sind,

welche gesammelt ein Buch der Weisheit bilden

würden wie das Salomonis und welche beim Volke schwerer wiegen

als die gelehrtesten Argumente.

— He was a man of a true and

saithtul heart, ein Mann von treuem und lauterem Herzen.

wer sein ganzes

Auch

Leben kennt, wird nicht eine einzige unehrenhafte

Handlung von ihm anzuführen vermögen; er war allezeit im Bunde mit der Tugend und mit dem Recht; unbefleckt und geehrt blieb sein Name bis an sein Ende — He was a man of the public life;

er lebte und arbeitete nicht für sich; er widmete sich mit Hingebung den Pflichten des öffentlichen Lebens; sein ganzes Wirken war der Sache seines Volkes, den edelsten Zielen wahrer Humanität geweiht.

Das war Abraham Lincoln. —

Und ein solcher Mann wurde durch die Stimme des Volks zur Leitung des Staates berufen zu einer Zeit, wo der Bestand Verfassung

desselben

in

ihren Grundfesten erschüttert

und die

waren.

Die

Union drohte zerrissen zu werden, weil die nördlichen und die südlichen

Staaten über eine Frage in Conflict gerathen waren, von deren Lösung die Zukunft der Menschheit abhängt.

Die Erde, so ließ der Diener

des göttlichen Wortes seine Stimme vernehmen, ward dem Menschen von Gott gegeben, daß er sie sich zu eigen mache durch die Arbeit seiner Hände und die Ueberlegenheit seines Geistes; der Mensch ist

198

Bolkswirthschaftliche Briese aus Deutschland.

von Gott selber zur Arbeit berufen, und dennoch sind die Männer der Arbeit, der körperlichen wie der geistigen, alle Zeit arm und leidend gewesen, sind die, welche unter Schweiß und Sorgen die Grundlagen

des nationalen Wohlstandes gelegt haben, alle Zeit

unterdrückt und

in den Staub getreten worden; das ist aber der große Kampf dieser

Welt, der Kampf, den die Arbeit um ihre Existenz und um ihre Ehre

kämpft.

Die Trümmer der Burgen, die man in diesen Landen schaut,

sie bezeugen, daß hier die Arbeit triumphirt hat über ihre Gegner; das

Dekret, welches der Kaiser von Rußland zur Aushebung der Leibeigen­ schaft unterzeichnet, hat hier in der alten Welt die Schmach der Arbeit

als eine niedere Sklavenpflicht aufgehoben; aber erst wenn die Arbeit

die Ehre und die befruchtende Macht der ganzen Welt sein wird, ist der Fortschritt der Menschheit gesichert.

Diese große Wahrheit kämpft

sich gegenwärtig in Amerika zur Anerkennung durch.

In den südlichen

Staaten der Union war alle Arbeit in die Hände der Sklaven gelegt gewesen und auch der freie Arbeiter dem Sklaven fast

worden;

die Prärogative

Müßiggang.

gleich erachtet

des freien Mannes im Süden

war der

Um sich dieses Vorrecht zu sichern strebte der Süden

darnach, die Institution der Sklaverei in sämmtliche Bundesterritorien einzuführen, Gebiete zu annectiren, in denen

die Sklaverei bereits

bestand, ja die Sklaverei in die Staaten des Nordens zu tragen, damit

es durch die ganze Union keine

andre Arbeit als Sklavenarbeit

mehr gäbe. Diesen Gegensatz der freien Arbeit und Sklaven­ arbeit hat öincoln beim Antritt seines Amtes bis zum offenen Kampfe entwickelt vorgefunden; selber ein Arbeiter, ist er für die Rechte der Arbeit

eingetreten und der Führer seines Volkes in diesem großen Kampfe

für die Sache der Menschheit geworden, welche niedergetreten war in den Sklaven und den armen Weißen des Südens.

So lange dieser

Gegensatz bestand, war an kein friedliches Zusammenleben innerhalb der

Union zu denken, war von dem Hader des Nordens und Südens kein Ende abzusehen; ein Gemeinwesen, welches in sich geschieden ist durch eine

Linie, diesseits deren die Arbeit das Recht und die Ehre des freien

Mannes, jenseits deren sie die Pflicht und die Schmach des Sklaven ist, konnte keinen Bestand haben.

Für diese im Volke der nördlichen

Staaten lebende Ueberzeugung ist Lincoln nun eingetreten; er hat nie

etwas Anderes erstrebt, als daß der Wille des Volkes Gesetz werde. Nicht sein Krieg war es darum, der da geführt wurde, sondern der Krieg des Volkes. In dem Momente nun, wo die Sache des Volkes triumphirte, nahm ihn der Tod hinweg; er hat seinen Lauf vollendet und sein Werk gethan; kein Flecken haftet an seinem Rufe; Nichts bleibt von ihm zurück als die Größe und der Glanz seines Namens. Im Buche der Geschichte steht der Name Lineoln neben dem glorreichen Namen Washington's; beide werden leuchtende Sterne sein für die kommenden Geschlechter; von Beiden gilt wie von Wenigen das Wort: sie sind nicht geboren, um zu sterben, denn ihre Werke folgen ihnen nach. — So der Freund vom Freunde; die Geschichte wird, wie wir meinen, an diesem Urtheil nicht viel zu ändern haben. Der Krieg, welcher zur Niederwerfung der südlichen Staaten ge­ führt wurde, kann als beendigt betrachtet werden. Das Werk, welches jetzt beginnt, ist zwar nicht geeignet, durch gewaltige äußere Ereignisse die Aufmerksamkeit der Welt in gleicher Weise auf sich zu ziehen; nichtsdestoweniger wird es aber gerade von seiner Durchführung ab­ hängen, ob mit jenen Strömen Blutes, welche den Boden der Union getränkt haben, zugleich auch der unselige Hader, der dieses mächtige Gemeinwesen zerriß, vom sühnenden Schooße der Erde ausgenommen wurde, oder ob sie nur die Drachensaat neuer Zwietracht befruchtet haben. Es ist vom Congreß mit der erforderlichen Mehrheit der Stimmen ein Gesetz angenommen und noch vom Präsidenten Lincoln sanctionirt worden, welches in Abänderung der Bundesverfassung das Institut der Sklaverei für unzulässig erklärt; dieses Gesetz erlangt jedoch erst dann verbindliche Kraft, wenn drei Viertel der Staaten ihm zugestimmt haben. Sobald dies der Fall sein wird — ein Präclusivtermin, bis wann diese Zustimmung erfolgt sein muß, ist nicht vor­ geschrieben — hat jeder Staat der Union, in welchem das Institut der Sklaverei noch zu Recht besteht, seine Gesetzgebung mit der neuen Verfassungsbestimmung in Einklang zu bringen. Die große Frage ist nun die, was soll mit den vier Millionen Farbigen werden, die in den Staaten des Südens als Sklaven leben? Derideale Aufschwung, welchen die Bevölkerung der nördlichen Staaten während des Krieges genommen

hat, wird nicht für immer Vorhalten und jedenfalls nicht so weit reichen, um an Stelle der mit der Muttermilch cingesogenen Abneigung der Weißen vor der schwarzen Race selbst nur jenes Gemeingefühl treten zu lassen, welches die Angehörigen derselben Nation gegeneinander beseelt, mögen sich gleich zwischen ihnen auch noch so viele Stllfen der Gesellschaft strecken. Eins der schwierigsten Probleme der Menschheit hqxrt dort drüben seiner Lösung: die Frage, wie die Cocxistenz zweier Racen in einem Gemeinwesen zu ermöglichen ist, ohne daß die begab­ tere Race die minder begabte in den Staub tritt. Damit, daß die Freiheit der Sklaven prvclamirt wird, ist es allein nicht gethan; es handelt sich darum, eine ganze Anzahl von Staaten, deren Berfassung bisher auf dem Rechtsinstitut der Sklaverei beruhte, vollständig aufs Neue zu orgauisiren und namentlich den nunmehr freien Farbigen dasjenige Maß von Rechten zuzumessen, welches sie befähigt, sich auf Grundlage der freien Arbeit eine gesicherte Existenz und jeden Grad der Bildung zu erwerben, der ihnen überhaupt erreichbar ist, ohne daß sic jedoch durch die Verleihung dieser Rechte zugleich in die Lage versetzt würden, einen hemmenden Einfluß auf die Entwicklung des ganzen Gemeinwesens zu üben. Am leichtesten läßt sich noch die Eigenthumsfragc lösen, da die Besitzer der früher mit Sklaven bewirth­ schafteten Pflanzungen sehr gern dazu bereit sein werden, einen Theil ihrer Besitzungen ihren freigcwordenen Sklaven zu freiem Eigenthum zu überlassen, um sie auf. diese Weise in der Nähe der Pflanzung seß­ haft zu machen und als freie -Arbeiter bei der Bewirthschaftnng der­ selben verwerthen zu können. Ob und in wie weit den Farbigen politische Rechte verliehen werden können, wird Gegenstand der sorgfältigsten Erwägungen sein müssen; es wird sich indessen in den Negerdörfern, neben welchen die Pflanzung mit dem Herrenhause als eine besondere Gutsgemeinde coustituirt werden müßte, eine geeignete Gelegenheit für praktische Versuche über die Frage finden, ob die schwarze Bevölkerung bereits jetzt schon befähigt ist, in einem beschränkten Umfange von dem Recht der Selbstverwaltung einen angemessenen Gebrauch zu machen. Für praktische Staatsmänner wird die Union aus lange Jahre hinaus ein höchst interessantes Arbeitsfeld bieten, da es sich darum handelt, inmitten einer Civilisation, welche nach gewissen Richtungen hin als

unerreichtes Verbild dasteht, aus den rohesten Anfängen heraus gleich­

sam eine zweite Gesellschaft zu organisircn.

Um uns nicht allzusehr in theoretische Speculationen zu verlieren, brechen wir an

dieser Stelle mit

unseren Betrachtungen

über den

eventuellen Lauf der Dinge in Nordamerika ab; es bereitet sich die Menschheit dort drüben auf eine neue Entwickclungscpoche vor, welche

wohl Keiner von

denen mehr erleben wird,

die

heute wirken und

schaffen; ja deren auch nur ungefährer Verlauf sich nicht einmal voraussehcn läßt.

Wenn wir uns unsern heimischen Zuständen

zuwenden,

so knüpfen wir naturgemäß an denselben Ausgangspunkt wie in unserm

letzten Briefe an.

Wir verließen die Arbeiterfrage, welche auch

während der letzten beiden Monate unausgesetzt sich im Vordergründe

zu erhalten wußte, bei der Wendung, die sie zu praktischen Lösungs­

versuchen hin zu nehmen im Begriffe stand. Es ist so oft und wieder­ holt in der Tagespresse

der

Einfluß discutirt worden, welchen ge­

meinsame Arbeitseinstellungen auf die Höhe des Lohnes haben

könnten,

daß es

eigentlich Niemand Wunder nehmen kann, wenn

schließlich hier und da die Arbeiter einzelner Geschäftszweige auf den Gedanken gekommen sind, die Ergebnisse der theoretischen Untersuchung

an dem

Prüfstein der Praxis" zu

erproben.

Da

das Verbot der

Arbeitercoalitionen öffentlich wohl nur von Wenigen noch vertheidigt wird, so sind auch von keiner Seite die competenten Behörden darum

angegangen worden, gegen diejenigen Arbeiter, welche an einem Sinke

sich betheiligtcn, auf Grund der bestehenden gesetzlichen Strafbestim­ mungen einzuschreiten.

Auch den Behörden mußte daran gelegen sein,

bevor das Verbot der Coalitionen in aller Fonn aufgehoben wurde, umfassende Studien darüber anstellen zu können, wie dergleichen ge­

meinsame Arbeitseinstellungen in praxi verlaufen würden.

Bis jetzt

hat sich noch nirgendwo die Nothwendigkeit gezeigt, im Interesse der

öffentlichen Ordnung zu interveniren; überall ist die Differenz zwischen Arbeitern und Arbeitgebern innerhalb der gesetzlichen Schranken ver­

laufen ; überall haben beide Theile sich entweder über neue Bedingungen

geeinigt oder doch ernsthafte Versuche zu einer solchen Bereinigung

angestellt. Die feiernden Arbeiter haben wegen der musterhaften Haltung, die sic während der Arbeitseinstellungeft beobachtet haben, sich von

202

Bolkswirthschaftliche Briefe aus Deutschland.

allen Seiten der wärmsten Theilnahme zu erfreuen gehabt. Der einzige Sinke von Bedeutung, welcher augenblicklich noch besteht, der Sinke der Leipziger Schriftsetzer, hat sogar über die Grenzen Deutsch­

lands hinaus Beachtung gefunden;

im Uebrigen ist aber nirgendwo

Gelegenheit zur Beobachtung neuer und bisher noch nicht beschriebener Symptome dieser socialen Entwickelungskrankheit geboten gewesen. —

Wie es an dieser Stelle — freilich gehörte dazu kein besonderer Scharf­ sinn — vorhergesagt

wurde,

hat

unser

Herrenhaus

den vom

Hause der Abgeordneten beschlossenen Gesetzentwurf betreffend die Auf­ hebung der gegen die Arbeitercoalitionen gerichteten Strafbestimmungen

verworfen und in einer Resolution seine eigenen Ansichten über die

Behandlung der socialen Frage niedergelegt.

Der Rath des Herren­

hauses läuft darauf hinaus, daß der Staat sich mit größerer Sorg­ falt als bisher der von den Industriellen ausgesogenen Arbeiter an­ nehmen solle.

Anstatt die Ordnung der Verhältnisse zwischen Arbeiter

und Arbeitgeber rein dem gegenseitigen Uebereinkommen beider Theile

anheimzugeben,

soll

der Staat auf längere

Kündigungsfristen der

Arbeitscontracte, auf reichlichere Dotirung der UnterstützungS-, Krankenund AlterSversorgungS-Kaffen von Seiten der Fabrikbesitzer, auf Be­

günstigung von Consum-, Vorschuß- und Productivvereinen der Fabrik­ arbeiter, auf Bildung selbständiger Armenvorstände in den Fabrik­

bezirken hinwirken; mit einem Worte für die Fabrikarbeiter die Rolle

der irdischen Vorsehung übernehmen.

„In wessen Schutz ich mich

begebe, dessen Knecht ich bin"; die Arbeiter, welche zu den Staatsbe­ hörden ihre Zuflucht nehmen, um durch den Druck, welchen die letz­

teren auf die Arbeitgeber etwa auszuüben vermögen, ihre Lage zu verbessem, begeben sich dadurch dem Staate gegenüber in ein Abhängig-

keitsverhältniß, und ebenso werden diejenigen Fabrikbesitzer, welche guten Grund haben zu befürchten, daß ihre Arbeiter bei ehester Gelegenheit gegen sie die Intervention der Staatsbehörden nachsuchen werden, sich

bei Zeiten um das Wohlwollen der letzteren bemühen und ihnen in

allen Dingen entgegenkommen.

Divide

et impera.

Beide Theile

sollen durch die Aussicht, sich bei entstehenden Differenzen durch Füg­

samkeit gegen die Staatsbehörden bessere Bedingungen zu verschaffen, als der eine dem andern im *Wege der freien Vereinbarung zuzuge-

stehen bereit ist, von diesem Wege abgelockt und dazu bewogen werden,

die Intervention der Behörden anzurufen.

Bis jetzt ist jedoch noch

Niemand in diese Falle hineingegangen; zu Burg, wo die Tuchweber

in den zahlreichen dortigen Fabriken wegen einiger Bestimmungen in der von der Mehrzahl der Fabrikbesitzer gcineiirsam erlassenen neuen Fabrik­

ordnung, deren Aufhebung sie verlangten, wochenlang die Arbeit ein­ gestellt hatten, sind die von der Regierung zu

Magdeburg, wie es

scheint, aus eigener Initiative gleich beim Beginn des Strike angestell­

ten Vermittelungsversuche fruchtlos

Arbeiter von Burg später auf

ausgefallen;

dagegen haben die

das Zureden eines einfachen Dele-

girten der deutschen Arbeiter-Vereine sich mit den Fabrikherrn geeinigt. — Die von Seiten des Handelsministers zu gutachtlichen Aeußerungen

über die Aufhebung der §§ 181—184 der Gewerbeordnung aufgefor­ derten Handels- und Gewerbekammem haben sich wie die Magistrate

vieler bei dieser Frage interessirtcn Städte bereits in großer Zahl

vernehmen lassen; sie erklären sich fast einstimmig dahin, daß gegen

die Aufhebung des Coalitionsverbotes nicht nur Nichts zu erinnern

sei, sondern daß dieselbe sogar wesentlich dazu beitragen werde, das Verhältniß zwischen Arbeitern und Arbeitgebern zu bessern und auf eine gesundere Grundlage zu basiren.

Auch directe Meinungsäuße­

rungen hervorragender Industriellen liegen bereits vor; so haben eine

Anzahl Berliner Fabrikbesitzer, darunter Alb. Borsig

(die weltbe­

rühmte Maschinenbauanstalt), F. A. Pflug (Gesellschaft für Fabrika­

tion von Eisenbahnbedarf), und Siemens L Halske (Telegraphen­ bauanstalt) erklärt, daß sie in der Aufhebung des Verbotes der Arbeiter-

Coalitionen einen geeigneten Schritt erblicken, um dem Arbeiter zur freien Selbstbestimmung, zur freien Verfügung über seine Kraft und

Leistungen zu verhelfen und das Mißtrauen desselben in Betreff seiner vermeintlichen Ausbeutung durch die Arbeitgeber zu beseitigen, indem

ihm auf diese Weise Gelegenheit zu der Erkentniß geboten würde, daß die Höhe des Arbeitslohnes nicht willkürlich von dem Fabrikanten fest­ gesetzt werde, sondern vom Mangel oder Ueberfluß an Arbeit und

Arbeitskraft, von Angebot und Nachfrage abhänge.

Diese Erklärung

ist, mit zahlreichen Unterschriften bedeckt, am 1. Mai dem Staats­

ministerium überreicht worden.

204

Volkswirthschastliche Briefe aus Deutschland.

Die Eisenbahnvorlagen, deren wiederholt an dieser Stelle

gedacht worden ist, haben, wenn auch in etwas modificirter Form, die Zustimmung beider Häuser des Landtags gefunden, so daß der Bau der betreffenden Linien gesichert ist.

Nachdem das Haus der

Abgeordneten in seiner Sitzung vorn 28. März den präjudiciellen An­

trag des Abg. Michaelis, die Berathung und Beschlußfassung über die Eisenbahnvorlagen bis zum Zustandekommen eines Etatgesetzes zu

vertagen, verworfen hatte, handelte eS sich nur noch darum, woher der

Regierung die verlangten Mittel, ohne die Form einer Anleihe zu wählen, für welche sich keine Majorität gefunden haben würde, zur

Verfügung zu stellen seien.

Die Regierung hatte die Ermächtigung

verlangt, 3,900,000 Thlr. im Wege einer Anleihe aufzunehmen; das

Haus beschloß auf Antrag des Abg. v. Benda, daß dieser Betrag

aus der StaatScasse und zwar zunächst durch Veräußerung der, auf

Grund deS Gesetzes vom 30. Mai 1853 aus dem Ertrage der Eisen­

bahnabgabe für Rechnung des Staates angekauften, bei der Haupt­ verwaltung der Staatsschulden niedergelegten Eisenbahn - Stammactien entnommen werde.

Dieser Fond, der durch spätere Bestimmungen für

geschlossen erklärt

worden ist, — die Erträge der Eisenbahnabgabe

werden jetzt zu den laufenden Einnahmen des Staates gezogen — be­ läuft sich im Nominalbeträge auf 2,449,900 Thlr. in zum Theil sehr

schweren

Actien,

deren

gegenwärtiger

Courswerth

sich

auf

etwa

4,300,000 Thlr. berechnet, deren Veräußerung also, wenn sie unter

Benutzung günstiger Conjuncturen und, zur Vermeidung einer Conrsdrückung, in kleineren Partien geschieht, zur Deckung der erwähnten

3,900,000 Thlr. mehr als hinreichend ist.

Dem Staate steht über

diese Werthpapiere eine vollständig freie DispositionSbefugniß zu, wäh­

rend sein sonstiger Besitzstand an Actien (13,814,200 Thlr. Stamm­

actien und 616,600 Thlr. Cöln-Mindencr Prioritäten) durch vertrags­ mäßige Betheiligung des Staates an dem Stammcapital der betref­

fenden Eisenbahngesellschaften,

resp, durch Bestellung

als

Garantie

z.B. für die Oberhausen-Arnheimer Bahn eine feste Bestimmung hat,

die vom Staate nicht einseitig abgeändert werden kann.

Wie wenig

der betreffende Beschluß des Abgeordnetenhauses zu seinem wiederholt ausgesprochenen Entschlusse paßt, die Anerkennung seines Budgetrechts

„mit allen gesetzlichen Mitteln" zn erkämpfen, braucht hier nicht wei­ ter ausgefiihrt zu werden.

Das HauS mußte, wenn es dies wollte,

streng daran festhaltcn, daß einer Regierung, welche die Verwaltung

deö Staates

ohne

ein

verfassungsmäßig

zu Stande

gekommenes

Etatgesetz führt, keine Mittel neben und außer dem Etat­ gesetz zur Verfügung gestellt werden dürfen.

Waren die

betreffenden Eiscnbahnbauten wirklich so dringender Natnr, so konnte

das Abgeordnetenhaus es ruhig der Regierung anheimstellen, für den der Fortdauer der bndgetlosen Verwaltung,

Fall

auch dazu

die

Mittel zu nehmen, wo sie dieselben finden würde, also beispielsweise

den Eisenbahnsteuerfonds ohne Ermächtigung der Volksvertretung an­ zugreifen.

Hatte die Regierung, wie es scheinen muß, in dieser Be­

ziehung Scrnpcl, so mußte das Haus dieselben durch Hervorhebung der schweren Verantwortlichkeit, welche die Regierung durch eine solche

Maßregel auf sich laden würde, eher noch zu verschärfen suchen, nicht

aber eine verfassungswidrige Maßregel, welche zu verhindern nicht in seiner Macht stand, durch ein Gesetz legalisiren!

Der Abgeordnete

Schulze-Delitzsch hat so ziemlich das Richtige getroffen, wenn er

es aussprach, daß durch die Annahme des von Benda'schen Antrages der Kampf nm das Budgetrecht von Seiten des Hauses selbst von

vorn herein als ein verlorener bezeichnet worden ist. — Der Ein­

druck, den dieser Beschluß im Lande gemacht hat, ist auch durch die unmittelbar darauf erfolgte Ablehnung

der Bankvorlage im

Abgeordnetenhausc nicht verwischt worden, zumal sich ziemlich laut die Ansicht geltend gemacht hat, daß durch dieses ablehnende Votum ge­

wissermaßen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beabsichtigt

gewesen sei.

Die Bankvorlage wurde in erster Linie von volkswirthschaftlichen Gesichtspunkten aus bekämpft; mehr im Hintergründe hielten sich die eigentlich politischen Motive; obwohl diejenigen Abgeordneten, welche

trotz

ihrer Opposition

in

Fragen

der innern

Politik

den

Machterweiterungsplänen der Regierung ihren Beifall zollen, sich fast ohne Ausnahme auch für eine Erweiterung der Befugnisse der preußi­

schen Bank erklärt haben, indem sic sich davon eine Steigerung des

preußischen Einflusses in den übrigen deutschen Staaten versprachen.

Dolk-wirthschaftliche Briefe a«S Deutschland.

206

In der Debatte wurde von volkswirthschaftlicher Seite namentlich das

Borrecht

der

preußischen

Bank

zur

unbeschränkten

Noten­

emission einer scharfen Kritik unterzogen; die preußischen Privat-

Zettelbanken dürfen nämlich nur höchstens bis zum Betrage ihres

statutenmäßig concessionirten Aktien-Stammcapitals Noten in Um­ lauf fetzen. Bei den sämmtlichen im Umfange des preußischen Staates concessionirten acht Privat-Zettelbanken (dem Berliner Cassen-Berein,

der pommerschen ritterschaftlichen Privatbank zu Stettin, der städti­ schen Bank zu Breslau, der Königsberger, Danziger, Posener, Magde­

burger und Cölner Privatbank) betrug, nach Hübner'S statistischem Jahrbuch, das einbezahlte Capital im Jahre 1862: 8,899,000 Thlr.,

indem nur bei der ritterschaftlichen Privatbank zu Stettin das zu­ lässige Actiencapital nicht voll (bis auf 101,000 Thlr.) eingezahlt

war; die Notenemission dieser acht Banken ist also auf 9 Millionen Thlr.

limitirt; während die preußische Bank,

deren Stammcapital

einschließlich der Betheiligung des Staates 16,897,000 Thlr. beträgt,

im Jahre 1864 zeitweise über 131 Millionen Thlr. Noten emittirt hatte. Die preußische Bank ist in Bezug auf den Umlauf ihrer Noten

außerdem in hohem Grade bevorzugt, indem dieselben bei allen öffent­ lichen Lassen statt baaren Geldes angenommen werden müssen; sie

ist ferner von jeder Schranke im Deposit engeschäft befreit; wäh-rend die Privatbanken verzinsliche Depositen nur bis zum Betrage von

einer Mllion Thlr. annehmen dürfen; es müssen bei der preußischen Bank sogar die gerichtlichen Depositen (gegen 2 Procent) und die Capitalien der Kirchen, Schulen und milden Stiftungen (gegen 2‘/z Procent) niedergelegt werden; sie genießt endlich Stempel-, Sportel-, Porto- und Steuerfreiheit!

Solchen Bevorzugungen gegenüber, die

durch die Bankvorlage eine abermalige Erweiterung erfahren sollten,

wurde zuvörderst von dem Abg. Michaelis und Genossen ein Amen­

dement beantragt, welches auch für die preußische Bank eine Con-

tingentirung

der Notenemission anstrebte.

Die preußische

Bankordnung läßt eine unbeschränkte Notenemission zu; sie bestimmt nur, daß stets ein Drittel derselben baar gedeckt sein muß.

Statt

dieses proportionellm Berhällnisses hat man in England ein addi-

tionelleS Verhältniß zwischen Baarvorrath und Noten aufgestellt, so

daß nur ein zahlenmäßig bestimmter Betrag von Noten ungedeckt sein

darf,

der

ganze Rest

baar

gedeckt

sein muß.

Indem die

Bank dem Verkehre eine bestimmte Summe baaren Geldes entzieht, giebt sie demselben, wenn sie von ihrem Rechte im vollen Umfang Ge­ brauch macht, den dreifachen Betrag an Noten zurück, vermehrt also

die in ihrem Verkehrsgebiete umlaufenden Tauschmittel auf das Dop­

pelte.

Die Folge davon ist eine Erhöhung des Preises sämmtlicher

Waaren, eine Ermuthigung der Einfuhr, eine Entmuthigung der Aus­

fuhr, eine unnatürliche Differenz zu Gunsten der ersteren, die schließ­ lich durch die Ausfuhr von Edelmetall

gedeckt werden muß.

Dann

strömen die Noten zur Bank zurück und müssen mit Silber eingelöst werden; die Baarvorräthe der Bank nehmen ab, und in Folge dessen

muß auch die Notencirculation durch Einbehaltung der präsentirten

Nottn abnehmen und zwar in demselben Verhältniß, wie sie ftüher bei der Vermehrung der Baarvorräthe gestiegen ist, bis sich das na­ türliche Verhältniß wieder hergestellt hat;

es läßt sich eben nicht die

Masse der Tauschmittel innerhalb eines bestimmten Verkehrsgebiets

in beliebiger Weise erhöhen.

In Folge einer grenzenlosen Noten­

emission hat der Abfluß des Silbers aus Oesterreich stattgefunden, und dieses Silber hat die Masse der baaren Tauschmittel im Zollverein

beständig

erhöht;

sobald man aber in Oesterreich damit beginnen

wird, die Noten der Bank zum Tagescourse einzulösen, wird sofort das österreichische Silber nach Oesterreich zurückfließen, und der Be­ darf des deutschen Verkehrs an Edelmetall wird sich dadurch Befrie­

digung verschaffen, daß die über ganz Deutschland zu Millionen Tha­ lern verbreiteten Noten

der preußischen Bank nach Preußen zurück-

strönen und dort zur Einlösung präsentirt werden, was unter Um­ ständen mißliche Folgen nach sich ziehen könnte.

ES wird nun als

ein Satz der Erfahrung hingestellt, daß Preußen etwa 60 Millionen

Thlr. Banknoten als Tauschmittel ohne baare Deckung vertragen kann;

wenigstens liegen darüber, daß es mehr vertragen könnte, noch keine Erfehrungen vor und deshalb lim.itirte das Amendement des Abg. Michaelis den Betrag der ungedeckt zur Emission gelangenden Noten

auf 60 Millionen Thaler.

Dieses Ammdement wurde vom

Hause angenommen; der ganze Paragraph aber verworfen, indem durch

208

Volkswirthschastliche Briefe a«? Deutschland.

die Koalition sehr verschiedenartiger Elemente eine Mehrheit der Stim­ men gegen denselben zu Stande kam.

Dieser Beschluß des Hauses,

welcher die ganze Bankvortage zum Scheitern brachte, hat in kaufmän­

anfänglich

nischen Kreisen

großes

Ueberlegung wird man sich aber

Mißbehagen

erregt;

ruhiger

bei

sagen müssen, daß eine Borlage,

deren sehr große Tragweite sich mit -jedem Tage evidenter herauöstellte, unmöglich „mit Applaus" genehmigt

werden konnte,

der eingehendsten Erwägung unterzogen werden muß.

sondem

Der Regierung

ist bis zur nächsten Session des Landtags auch hinreichend Gelegen­

heit geboten,

über

eine.liberalere Behandlung der Privatbanken

schlüssig zu werden; sobald erst diesen gewisse Erleichterungen zu

Theil geworden sind, wird die Opposition gegen das erdrückende Pri­

vilegium der preußischen Bank bedeutend an Schärfe verlieren.

mentlich

muß

Na­

cs den Privatbanken gestattet werden, ihr Stamm­

capital beliebig erhöhen und verzinsliche Deposita ohne Beschränkung annehmen zu dürfen.

Die Commissions-Verhandlungen, welche ge­

genwärtig im Abgeordnetenhause über eine zeitgemäße Abänderung der Normativbedingungen vom

15. Sept. 1848 schweben, werden Gele­

genheit bieten, auf diese Frage zurückznkommen. Die Verhandlungen über den Abschluß eines Handels- und

Zollvertrageö zwischen Oesterreich und dem Zollverein

haben endlich am 11. April zum Ziele geführt; es ist der betreffende Vertrag bereits dem preußischen und österreichischen Abgeordnetenhause

vorgelegt worden.

Dieser Vertrag kann, als Frucht eines Compro-

misses, keinen Anspruch darauf erheben, die Männer von Princip zu befriedigen.

Die

Freihandelspartei in Preußen und die Hochschutz­

zöllner in Oesterreich wünschen daher gleichmäßig, daß dieser Vertrag

an irgend einer Stelle Schiffbruch leiden möge. in den

Bekanntlich besteht

österreichischen Regierungskrcisen der lebhafte Wunsch, mit

England einen Handelsvertrag abzuschließen; erlangt nun der Ber­ liner Vertrag vom 11. April in Oesterreich nicht Gesetzeskraft, so hofft

man von freihändlerischer Seite, wird es unmöglich sein, die engli­ schen Unterhändler mit ihren weitcrgehenden Forderungen dadurch ab­

zuweisen, daß man ihnen jenen Vertrag als das Maximum dessen, was von österreichischer Seite zugestanden werden könne, vorhält; die-

selben werden vielmehr darauf bestehen, daß die Verhandlungen auf

einer Grundlage geführt werden, welche dem Freihandelsprincip noch

weitergehende Concessionen, als

inacht.

der Berliner Vertrag es gethan hat,

Tritt dagegen der Berliner Vertrag für Oesterreich in Kraft,

so fürchtet man von freihändlerischer Seite, wird damit den gemäßig­

ten Schutzzöllnern auf lange Zeit hinaus ein plausibler Vorwand an

die Hand gegeben, sich jeder weitergehenden Tarifreform zu wider­

setzen; sie werden sagen, es sei erst abzuwarten, welche Folgen jener Vertrag für

die österreichische Industrie

habe und ob

dieselbe die

Fähigkeit besitze, unter den von jenem Vertrage geschlossenen Bedin­ gungen die Concurrenz mit der Industrie des Auslandes zu bestehen.

Nebenbei würde mit dem Berliner Vertrage auch die bekannte Zoll­ einigungsklausel

fallen,

welche

man zwar von österreichischer

Seite als bloßen „Kanzleitrost" bezeichnet, die aber unter Umständen doch zu Chicanen aller Art Anlaß bieten dürfte.

Da Oesterreich auf

Grund dieser Klausel jeder Zeit verlangen kann, daß mit ihm über eine „Zolleinigung" in Unterhandlungen getreten werde, selbst wenn

nicht die geringste Aussicht auf das Zustandekommen derselben vor­ handen ist, so kann

durch

diese Klausel

von österreichischer Seite

jedesmal eine Diversion versucht werden, so oft der Zollverein mit

fremden

Staaten Handelsverträge

abzuschließen

im Begriffe steht;

wird dadurch der Abschluß der letzteren auch gerade nicht verhindert,

so wird er doch jedenfalls dadurch verzögert.

Oesterreich wird z. B.

verlangen, von dem Fortgang der betreffenden Unterhandlungen

in

Kenntniß gesetzt zu werden, damit es daraus erfahren könne, ob der Abschluß des angebahnten Vertrages etwa dazu angethan sei,

die

Zolleinigung zu erschweren; es wird Vorstellungen dagegen machen, an die Pflichten

der Bundesgenossenschaft appelliren, die nicht ge­

lockert werden dürfe durch Begünstigung des Auslandes u. s.w. u. s. w. Aus diesen Gründen

wünscht man von freihändlerischer Seite, daß

der Berliner Vertrag irgendwo, am liebsten in Oesterreich selbst, zu Falle komme.

Der Vorlegung des zwischen England und dem Zollverein ab­

geschlossenen Vertrages in unsrem Abgeordnetenhause glaubt man noch in dieser Session entgegensehen zu dürfen; die Ratification desselben Nordische Revue. IV. 2. Heft. 1865,

14

210

Volkswirthschaftliche Brief« aus Deutschland.

soll sich durch die Einwendungen,

welche

eine Zollvereinsregierung

noch in der letzten Stunde erhoben hat, über die Gebühr verzögern.

Die Unterhandlungen, welche von Bayern und Württemberg im Na­ men des Zollvereins zu Stuttgart mit der Schweiz über den Abschluß

eines Handelsvertrages gepflogen werden, sind dadurch ins Stocken

gekommen, daß saft im Augenblicke des Abschlusses der Verhandlun­ gen Bayern Bedenken erhoben hat, doch glaubt man nicht, daß der Vertrag selbst an diesen Bedenken scheitern werde. — Endlich ist im Schooße der gegenwärtig zu Berlin tagenden Versammlung der Zoll­

vereins-Bevollmächtigten die Frage wegen des Abschlusses eines Han­

delsvertrages mit Italien angeregt worden.

Es ist bekannt, daß

die meisten deutschen Bundesstaaten das Königreich

Italien

nicht

anerkannt haben; im Uebrigen steht dem nichts entgegen, daß Preu­ ßen, wie im vorigen Jahre mit Belgien, so jetzt mit Italien für sich

allein einen Handelsvertrag abschließt; mögen dann diejenigen Zoll­ vereinsstaaten, die Italien nicht anerkannt haben, sehen, wie sie ihre Unterthanen

für die Verletzung

ihrer

materiellen Interessen

durch

die glänzenden Erfolge ihrer legitimistifchen Politik schadlos halten.

Das russische Presigesetz. Nulla dies sine linea. „Kein Tag ohne Pinselstrich" — dieses Motto dürfen wir wohl

über einen Aufsatz schreiben, der eine der reformatorischen Maßregeln

besprechen soll, mit denen Kaiser Alexander Jahr auf Jahr den Cha­ rakter feiner Regierung kennzeichnet.

Die früheren dieser Reformen

vorzuführen, müssen wir uns versagen: sie sind allgemein bekannt und uns fehlt der Raum für einen Ueberblick, der mehr als eine bloße

Aufzählung von Gesetzen und Organisationen wäre.

Nur auf die

eine Thatsache wollen wir Hinweisen, daß der polnische Aufstand den

gefürchteten Rückschlag oder Stillstand nicht hervorgerufen hat. Mußte

jene Erhebung für den Augenblick gewisse Unterbrechungen herbeiführen, so sind die Arbeiten der innern Gesetzgebung

nach Beseitigung der

Störung um so energischer wieder ausgenommen worden.

Eines der

Resultate, der wichtigsten eines, ist das Preßgesetz vom 6. (18.) April 1865.

Um die Bedeutung desselben richtig zu würdigen, müssen wir auf

die Vergangenheit zurückgehen.

Wir werden

uns nicht bis in die

Zeit zurückwenden, in der die russische Censur im Massenverbrauch von Schwärze mit der Buchdruckerpresse wetteiferte, ganze Seiten frem­

der Zeitungen unleserlich gemacht wurden und die russischen Schrift­

steller ihre besten Gedanken handschriftlich umlaufen lassen mußten. Unsere Schritte sollen bei dem Censurreglement vom 13. (25.) März

1862 Halt machen.

Dieses Gesetz schuf zwei höchste Censur-Instanzen,

von denen die eine, das Ministerium des Innern, die allgemeine Ober­ aufsicht darüber erhielt,

daß

nicht den

Censurvorschriften

Wider­

sprechendes veröffentlicht werde, während die zweite höchste Instanz,

das Ministerium der Bolksaufklärung, dem auch alle Specialcensoren

und

Censurcomites untergeordnet waren,

die

sämmtlichen übrigen

Das russische Preßgesetz.

212

Pflichten der Censur übernahm.

Die Censur aller Aufsätze über Kirch­

liches blieb der geistlichen Censurbehörde überlassen.

Von jeder Cen­

sur ausgenommen waren blos die amtlichen Zeitungen der Gouverne­ ments und

die Veröffentlichungen

der Verwaltungsbehörden,

doch

wurde dieselbe Gunst für die Veröffentlichungen gelehrter Gesellschaften in nahe Aussicht gestellt.

Eine dem Gesetz nachfolgende Censurverordnung verfügte, daß nichts

Communistisches und Socialistisches, nichts gegen die Unverletzlichkeit der Grundgesetze, die nationale Sittlichkeit, die Ehre und das häus­

liche Leben von irgend Jemand gedruckt werden dürfe.

die

Unvollkommenheit

der

gegenwärtigen

Aufsätze über

Einrichtungen

Rußlands

sollten nur dann zugelassen werden, wenn sie den Charakter speciell

wissenschaftlicher Beurtheilungen trügen, angemessenen Tone geschrieben wären

in

einem dem Gegenstand

und Bestimmungen

deren Mängel sich schon erfahrungsmäßig gezeigt hätten.

beträfen, Beurthei­

lungen von Mängeln und Mißbräuchen der Verwaltung, verfügte die Verordnung weiter, dürsten weder Personen noch Behörden und Aemter

nennen.

Beide Arten von Beurtheilungen

sollten blos in Werken

von mehr als zehn Druckbogen und in periodischen Zeitschriften, welche mehr als sieben Rubel jährlich kosteten, erscheinen dürfen. Dem Minister des Innern war das Recht beigelegt, jede Zeitung, die eine schädliche

Richtung verfolge, auf die Dauer von acht Monaten zu unterdrücken,

oder ihr die Aufnahme von Beurtheilungen der eben bezeichneten Art gänzlich zu untersagen.

Gerüchte von beabsichtigten Maßregeln der

Regierung wurden von jeder Veröffentlichung ausgeschlossen.

Endlich

sollten die Redactionen bei jedem zur Censur eingereichten Aufsatz den

Namen des Verfassers nennen. Zu diesen Preßverordnungen steht das Gesetz vom 6. (18.) April

in einem erfreulichen Contrast.

Wir sind zu einer Zusammenstellung

seiner wesentlichen Bestimmungen gezwungen, da es in den deutschen

Zeitungen nur stückweise und mit Hinweglassung hervorstechender Punkte einen Platz gefunden hat.

Das Gesetz gewährt Preßfreiheit (Befreiung

von der Präventivcensur) allen Schriften von gelehrten Körperschaften, allen Werken in den alten classischen Sprachen und Uebersetzungen in

diesen Sprachen sowie Rissen, Plänen und Karten.

In Moskau und

Petersburg sind von der Censur ferner befreit alle gegenwärtig erschei­ nenden periodischen Schriften, wenn deren Herausgeber es wünschen,

alle Originalwerke von nicht weniger als zehn Druckbogen und alle

Uebersetzungen

von

nicht weniger

als

zwanzig Druckbogen.

Diese

censurfreien Werke unterliegen bei Gesetzübertretungen der gerichtlichen

Verfolgung, die

Zeitungen

außerdem

der

Cautionsstellung (5000

Rubel für eine mindestens sechsmal wöchentlich erscheinende Zeitung, 2500 Rubel für jede andere) und, wenn sie eine schädliche Richtung einschlagen, Administrativstrafen.

Für Werke, für die eine geistliche

Censur eingeführt ist, für im Ausland erscheinende Drucksachen und

für alle periodisch erscheinenden Ausgaben von Kupferstichen, Zeich­ nungen und andern Darstellungen mit oder ohne Text bleiben die frühern Grundsätze in Kraft. Die Leitung der Censur- und Preßangelegenheitcn überträgt das Gesetz einer Oberbehörde, über die der Minister des Innern die Auf­

sicht führt.

Zu den Obliegenheiten derselben gehört die Ucberwachung

der Censurthätigkeit wie der Erzeugnisse der censurfreien Presse

Von

dieser Oberbehördc gehen die Verwarnungen aus, die wir weiterhin zu

erwähnen haben werden, und sie kann gerichtliche Verfolgungen veran­ lassen, falls diese nicht von der betreffenden Behörde bewirkt wor­

den sind. Neu erscheinende Zeitschriften bedürfen einer Concession, bei deren

Ertheilnng der Minister des Innern bestimmt, ob die Zeitung mit oder ohne Censur erscheinen soll.

Der verantwortliche Redacteur einer

Zeitung geht feiner Stelle verlustig, wenn er seine Ehrenrechte ein­

büßt oder ohne Erlaubniß der Odcrcensurbchörde ins Ausland geht und auf die an ihn erlassene Aufforderllng nicht zurückkehrt.

Alle

Zeitungen, die von der Censur befreit sind, haben der Behörde ein

Exemplar jeder Nummer zu überreichen, und zwar die täglich erschei­ nenden beim Beginn des Drucks, die übrigen mindestens zwei Tage vor der Versendung.

Jede Zeitung ist verpflichtet, ihr znkommende

amtliche Widerlegungen aufznnehmen, und es hat dies unentgeltlich zu geschehen, wenn die Entgegnung nicht mehr als den doppelten

Raum der Nachricht entnimmt, durch welche sie hervorgerusen wor­

den ist.

Da» russische Preßgesetz.

214

Der Minister des Innern hat das Recht, jeder Zeitschrift Ver­

warnungen zu ertheilen.

Die dritte Verwarnung hat ein zeitweiliges

Aufhören zur Folge, das sich bis auf die Dauer von sechs Monaten erstrecken kann.

Hält der Minister für nöthig, eine Zeitschrift nach

der dritten Verwarnung ganz zu unterdrücken, so trägt er bei dem

ersten Departement des dirigirenden Senats, welchem die Entscheidung zusteht, daraus an.

Für Preßvergehen werden bis zur Einführung

des neuen Justizreglements

besondere

Commissionen errichtet;

Be­

rufungsinstanz ist der dirigirende Senat.

Als Preßvergehen werden betrachtet:

1) Beleidigende und das

allgemeine Vertrauen erschütternde Aeußerungen über die im Reiche bestehenden Gesetze und über Verordnungen und Entscheidungen der

Regierungs- und Justizbehörden, Anzweiflungen der bindenden Kraft

der Gesetze, Unterstützung und Ermuthigung verbotener Handlungen,

um Mißachtung gegen das Gesetz zu erzeugen.

Das Gesetz giebt dazu

die Erläuterung: „Die Beurtheilung einzelner Gesetze sowohl, wie der Gesetzgebung im Ganzen wird nicht als ein Preßvergehen angesehen,

wenn darin keine Aufreizung zum Ungehorsam gegen die Gesetze und

keine für die bestehenden Gewalten beleidigenden Ausdrücke enthalten sind und die bindende Kraft der Gesetze nicht bestritten wird."

2) Auf­

rufe, welche zur Feindschaft eines Theils der Bevölkerung gegen den andern oder eines Standes gegen den andern aufreizen;

Bestreitung oder Ableugnung

der Principien

3) directe

des Eigenthumörechts

und der Familienbande behufs Erschütterung derselben,

selbst ohne

Aufreizung zum Begehen eines Verbrechens; 4) Veröffentlichung von Verordnungen der Adels-, Stadtgemeinden- und Provinzial-V'ersamm-

lungen, wenn sie in bett Hauptstädten ohne Genehmigung des General-

gouvemeurs, in anderen Städten ohne Genehmigung des Gouverne-

mentschefs erfolgt. Unsere Besprechung des Gesetzes mögen einige allgemeine Be­

merkungen einleiten.

Bon all den Freiheiten, welche die einzelnen

Bestandtheile des Gesammtbegriffs Freiheit sind, pflegt die Preßfreiheit

am letzten sich einzustellen.

Ein Volk hat lange Stadt- und Ge­

meinde-Ordnungen, eine Verfassung und Kammern, Gewissensfreiheit,

Gleichheit vor dem Gesetz, Schwurgerichte, und Preßfreiheit hat es

noch nicht.

ES liegt das in der Natur der Sache.

Schriftsteller ent­

stehen nicht wie Landtagsabgeordnete, Gemeindevertreter und Geschwo­

rene durch Wahlen „Garantien" bietet.

keine „Garantien".

des Theils der Bevölkerung,

der

die

meisten

Schriftsteller wählen sich selbst und bieten gar Die Regierung betrachtet sie daher mit Aüßtrauen

und stellt sie unter die polizeiliche Aufsicht der Censur.

Die Bevöl­

kerung sicht das im Grunde nicht ungern, obgleich sie es nicht ein-

gestcht, denn Jeder fürchtet für sich selbst.

Nun liegt es ferner in

der Natur der Sache, daß gerade die unfreie Presse die öffentliche

Meinung

zum Theil wenigstens

macht.

Die Zustände sind

noch

unentwickelt, das Denkvermögen des Einzelnen hat sich an politischen Dingen noch nicht geübt, auch an Kenntnissen, insbesondere an der

Gabe schneller Orientirung fehlt es.

Da greift man denn nach den

Zeitungen, in denen man, obgleich sie censirt werden, die Belehrung

findet, die man braucht.

Je mehr die Zustände aus dem anfänglichen

Chaos sich herausarbeitcn, je freier Alles sich gestaltet, um so ra­ scher verliert die Presse diese Art von Macht.

Die öffentliche Mei­

nung bildet sich jetzt durch tausend andere Dinge, durch Selbstthätigkeit in irgend einer Richtung des öffentlichen Lebens, durch'Theilnahme

an Persammlungen und Vereinen aller Art, durch fast sämmtliche Beriihrungen des alltäglichen Lebens.

Die Presse macht die öffent­

liche Meinung nicht mehr, sie ist die Zunge derselben.

Bekanntlich

hat die Times dieses Verhältniß am richtigsten erfaßt. Die sogenannten Meinungswechsel des Weltblattes sind Meinungswechsel des englischen Volks, denen die Times mit blitzschneller Frontverändcrung sich an­

schließt.

Wenn deutsche Regierungen noch heute glauben, daß die deutsche ZeitungSpreffe die deutsche öffentliche Meinung mache, und diese Presse

durch Maßregelungen davon abschrecken oder doch in der Arbeit stören wollen, so kann man einen so groben Irrthum kaum begreifen.

Das

deutsche Volk ist mündig und die Macht der Zeitungen liegt gegen­ wärtig in der Wucht der Massen, deren Organe sie sind. land liegen die Dinge ganz anders.

In Ruß­

Eiw politisches Leben ist dort

nur erst im Keime vorhanden, die rohe Volksmasse im Zustande der

Untildung und selbst in den höheren Classen der Uebergang von der

DaS russische Preßgesetz.

216

Halbbildung zur Vollbildung nicht überall so weit vollzogen, daß die Interessen, die sich gegenseitig zu unterstützen berufen sind, wirklich in einander griffen.

Die Literatur selbst leidet Mangel an Männern,

die sich mit Ernst auf ihre Aufgabe vorbereitet hätten.

Im Allge­

meinen herrscht etwa dieselbe Unreife, die sich in den Sturmtagen von 1848 bei uns in den Blättchen der Landstädte kundgab.

Die Be­

völkerung der russischen Provinzen sieht zu diesen Wortführern noch herauf.

Darum konnte die „St. Petersburger Zeitung" neulich sagen,

„daß die Zeitungen.bei der Schwäche der öffentlichen Meinung nicht so sehr diese ausdrückten, als daß sie der Gesellschaft die Meinung der

Publicisten vorlcgten." Diese Verhältnisse berücksichtigt das neue Preßgesetz und gewährt verschiedene Grade von Preßfreiheit.

Die in Moskau und Petersburg

bereits bestehenden Zeitungen werden von Männern geleitet, die eine

gewisse Erfahrung besitzen und der Regierung wie der Gesellschaft Ga­ rantien gewähren. Ihnen hat man daher Censurfreiheit angebvten. Neu

erscheinende Zeitungen bedürfen auch in den Hauptstädten einer Con­ cession.

Man befürchtet von der freien Concurrenz der Journalistik

mit Recht, Vaß sie die Schriftsteller verleiten würde, „nicht unter ernsten Männern, welche gesunden Sinn und Thatsächliches in der Literatur

suchen, sondern in der leichtfertigen Menge, tvelche leicht durch glän­ zende Phrasen, scharfen Ton und extreme Meinungen zu verlocken ist,

Leser zu werben."

Die Beibehaltung der Censur unter milderen For­

men in der Provinz rechtfertigt sich durch das oben über den Bildungs­

stand Gesagte.

Daß hier Willkür der Censoren nicht fern gehalten

werden wird — der Himmel ist hoch

und der Kaiser wohnt weit,

sagt das russische Sprüchwort — halten wir für den größten Uebel­ stand, den das neue Gesetz fortbestehen läßt.

Vollkommen rechffertigt

es sich, daß man ausländische Zeitungen und Schriften nach den älteren und strengeren Regeln behandelt.

So lange in London, Paris, Brüssel,

Genf, Berlin und Leipzig Fabriken von Brandschriften bestehen, die

ausschließlich für die Einfuhr in Polen und Rußland arbeiten, kann man auswärtige Preßerzeugnisse nicht liberal behandeln. Das System der Administrativstrasen besteht auf dem europäischen Festlande in so ausgedehntem Umfange, daß uns dessen Annahme in

Rußland um so weniger Wunder nehmen darf, als dort bessere Recht-

fertigungSgründe dafür bestehen, als in Preußen und Frankreich. Bildungszustandes erwähnten mir schon.

DeS

Bedeutend ins Gewicht fällt

ferner der Umstand, daß die Reformen des Kaisers eine Menge neuer Institutionen geschaffen haben, die sich im allgemeinen Vertrauen noch

nicht festsetzen konnten und denen eine von Nergeleien möglichst befreite Periode der Entwicklung verschafft werden mußte, wozu der blos ge­ richtliche Schutz nicht hinreichen würde.

Außerdem hat man mildere

Formen gewährt: die dritte Verwarnung hat eine zeitweilige Unter­

drückung von höchstens sechs Monaten zur Folge, und soll nach einer

nochmaligen Ueberschreitung die Zeitschrift ganz unterdrückt werden, so steht die Entscheidung darüber nicht dem Minister zu, der wegen

seiner frühern Maßregeln in derselben Sache als betheiligt erscheint,

sondern dem mit den Preßangelegenheiten beauftragten Departement des Senats.

Ein entschiedener Vorzug des russischen PreßgesetzeS vor

manchem deutschen ist die Bestimmung der Verantwortlichkeit für an­

gefochtene Artikel und Schriften.

In mehr als einem deutschen Staate

macht man von dem Verfasser angefangen Alle verantwortlich, die bei der Herstellung des Preßerzeugnisses, wenn auch nur mechanisch, ge­

wirkt haben.

Es ist vorgekommen, daß man bis zum Factor der

Druckerei gegangen ist

In Rußland hält man sich zunächst an den

Verfasser, bei Zeitungen zugleich an den Redacteur.

Nur in dem

Falle, daß diese unbekannt sind oder im Auslande leben, macht man

den Herausgeber verantwortlich, und an den Drucker kommt die Reihe nicht eher, als bis auch der Herausgeber nicht zu ermitteln oder wegen Aufenthalts im Auslande nicht zu bestrafen gewesen ist.

Der Sor­

timentsbuchhändler kann nie bestraft werden, es sei denn, daß auf dem verkauften Werke der Name und die Wohnung des Druckers nicht an­

gegeben sind.

In diesem Falle rechtfertigt sich seine Bestrafung, denn

jenes Fehlen von Namen und Wohnort mußte ihn aufmerksam machen,

daß er mit einem Erzeugniß der geheimen Presse zu thun habe. Möchten wir solche humane Bestimmungen doch auch überall in Deutschland haben! Nach den russischen Verhältnissen bemessen sich die Strafen, mit

denen Preßvergehen bedroht werden.

Nur in einem Falle, nämlich

218

Da- russische Preßgesetz.

wenn ein Theil der Bevölkerung oder ein Stand gegen den ansern

aufgereizt wird, kann auf Zuchthausstrafe erkannt werden.

In dem

Zustande socialer Umwandlung, in dem Rußland sich befindet, ist eine

solche Strenge nothwendig.

Jedes andere Preßvergehen wird mit Ge­

fängniß- oder Geldstrafe gesühnt.

Die Gefängnißstrafe erstreckt sich

von vier Tagen bis zu drei Monaten, die höchste Geldstrafe bckteht in fünfhundert Rubeln. Der russischen Klatschsucht legt die Bestimmung einen Zügel auf, daß jede Ehrenkränkung von Privaten zugleich mit

Geld- und Gefängnißstrafe (bis zu 500 Rubeln und bis zu sechs Monaten) bedroht wird.

Nur wenn Milderungsgründe vorliegen,

kann es der Richter bei einer von beiden Strafen bewenden laisen.

Bei Angriffen auf Gesetze, Verordnungen und Entscheidungen tritt, wie wir oben gesehen haben, entweder Geld- oder Gefängnißstrafe ein

und die letztere beschränkt sich im schlimmsten Falle auf drei Morate. Bei Ehrenkränkungen von Privaten ist ferner der Beweis der Wahr­ heit ausgeschlossen, in Betreff der Staatsdiener und der gewählten

Beamten dagegen zugelassen, indessen mit Beschränkung auf schriftliche Beweise.

Die Hauptsache haben wir noch am Schluß unserer Besprechung

hervorzuheben: worden.

die Preßfreiheit ist im Princip von Rußland anerkennt

Sie besteht in Petersburg und Moskau, von wo sie sich mit

der fortschreitenden Bildung ausdehnen wird über das Reich.

Meine Sekanntschast mit Puschkin. Aus Lashaeschnikow's Memoiren*).

Deutsch von A. S.

Puis, moi, j’ai servi le grand. homme ! Le vieux caporal. Im August 1819 kam ich nach Petersburg und stieg, als Adjutant des Grafen Ostermann-Tolstoi, in dessen Hause ab. Dieses Haus steht am englischen Quai, in der Nähe des Senats.

Damals war es bemerkenswerth durch seine

Spiegelscheiben aus einem Stück — eine große Seltenheit in jenen Zeiten — und durch seinen weißen Saal. An einem Ende des letzteren stand die Büste des Kaisers Alexander, und zu beiden Seiten die vortrefflichen Marmor-Statuen

zweier Grenadiere des Pawlow'schen Leibgarde-Regiments.

An dem andern

Ende des Saales sah man auf einem Fußgestelle eine Porzellanvase, gleich kost­

bar durch Ausführung und Gegenstand des darauf gemalten Bildes, wie auch durch die hohe Bedeutung der Vase selbst.

Sie war ein Geschenk des Kaisers

als Erkenntlichkeit für das berühmte Gefäß, welches das dankbare Böhmen für seine Rettung dem Helden der Kulmer Schlacht dargcbracht hatte, und von dem

Grafen mit so viel Deinuth und Frömrnigkeit der Kirche des PreobraschenskiRegiments übergeben worden war. Eines der Zimmer enthielt eine erwähnenswerthe Bibliothek, die alles auszuweisen hatte, was von militärwissenschaftlichen Werken existirte.

gegeben.

General Jomini hatte die Anweisung zur Zusammenstellung

Als Zierde des Hauses diente auch noch eine treffliche Schöpfung

Thorwaldsen's: die Gräfin Ostermann-Tolstoi in halbliegender Stellung; die Formen athmeten Leben und der marmorne Faltenwurf schien durchsichtig.

Wir (ich und der Fähndrich D. vom Sibirischen Grenadier-Regimente, jetzt Generallieutnant und Divisionsches) fuhren nicht durch die Hauptstraßen

*) Iwan Lashaeschnikow gehört zu den bedeutendsten russischen Schriftstellern, namentlich auf dem Gebiete deö historischen Romans, dessen Hauptvertreter er, nächst Sagoskiu, in der russischen Literatur ist. Von seinen Romanen waren be­ sonders „Das Eishaus" und „Die Eroberung Livlands" epochemachend und wurden auch ins Deutsche übersetzt. D. R.

220

Meine Bekanntschaft mit Puschkin.

der Stadt.

Wir sahen um so weniger, als uns gegenüber in dem viersitzigen

Wagen ein Vogelbauer mit einem Adler stand, dem zu Liebe wir für nöthig

erachtet hatten, die Vorhänge der Fenster herabzulassen.

Wir fuhren von der

Galeerenstraße aus, an welcher die Rückseite des Hauses stand, in den Hinterhof. Ich konnte mir daher keine Vorsiellung von der Stadt machen, in der ich nie

gewesen war. Ich war kaum aus dem Wagen gestiegen, als der Graf nach mir schickte.

Er stand aus einem Balkon mit der Aussicht aus die Newa. noch — es war ein göttlich schöner Abend.

Ich erinnere mich

Die eine Hälfte der Sonnenscheibe

war schon unter dem Horizonte, die andere vergoldete und röthete einen Schwarm sie umgebender duftiger Wölkchen. — „Du warst noch nie in Petersburg — sieh

her!" sagte mir der Graf mit einem gewissen Stolze, und sein einziger Arm wies

auf die Newa.

Es war mir, als öffnete diese Handbewegung eine neue, schöne

Welt vor meinen Augen. Petersburg war damals bei weitem nicht das, was es jetzt ist, aber auch

damals war ich entzückt über den Anblick der blauen, breiten Newa mit ihren Schiffen und Quais, der Akademie, der Börse und der Admiralität.

Ich bin

in Berlin und Paris gewesen, aber keine dieser Städte hat einen solchen Ein. druck auf mich hervorgebracht.

Es ist wahr, als ich Paris zum ersten Mal sah,

da empfand ich ein unbeschreiblich erhebendes Gefühl, aber ich muß hinzufügen,

daß es am Abend des 18. März 1814 war, daß ich die Stadt von der Höhe von Montmartre sah, bei dem Ersterben des Donners unserer Geschütze, bei dem

freudigen Rufe Hurrah! In jenen Momenten gedachte ich des Brandes von Moskau, gedachte der mühevollen Züge über die Schneegefilde Litthauens, wo ich über steifgefrorene Leichen stolperte, während die furchtbare Kälte mir den

Athem beengte und der Wind durch meinen Soldateumantel wie durch ein Sieb blies.

Lebhaft stellte sich mir auch das große, schaudererregende Bild der

von der fliehenden Armee gebrochenen Eisdecke der Berefina dar.

Der Geist

Gottes schien an dieser Stelle die ganze Macht seines Zornes zeigen zu wollen — er riß den Fluß auf bis zum Boden und verwandelte ihn mit seinem Hauche

plötzlich in Eis nebst Aflem was er Lebendiges darauf angetroffen.

Zwischen

zertrümmerten Rädern und Achsen, zerrissenen und blutgetränkten Kleidungs, stücken und todten Pferden — Hände, die aus dem Eise hervorragten, als woll, ten sie drohen oder noch um Rettung flehen, Leichen mit Eis in den Haaren, verzerrten Gesichtern, der Wuth, der Verdammniß oder dem Lächeln eines neuen

Lebens in den Zügen; und rings umher die schneebedeckte Steppe mit dürftigem Buschwerk unter dem Schleier des abendlichen Halbdunkels. «Kein Laut auf

diesem eisigen Friedhose als der Huffchlag meines Pferdes, das ängstlich zwischen

den Leichen dahinschritt; keine lebendige Seele außer mir und dem einstigen Wärter meiner Kinderjahre, der scheu umherblickend am ganzen Leibe zitterte. Das alles stand lebhaft vor mir auf der Höhe von Montmartre. Ich war eben

gesund und unbeschädigt aus dem Feuer der Schlacht und dem Pfeifen der Kugeln hervorgegangen — und vor mir, zu meinen Füßen, lag die Hauptstadt Frankreichs .... Nur im Traume hatte ich ihrer gedenken dürfen, und morgen

betrete ich sie mit der siegreichen Armee.

Ja, das war ein erhebendes, ein ent­

zückendes Gefühl, aber nicht durch den Anblick der Schönheiten von Paris erzeugt, sondern durch die Zusammenstellung der Umstände, die mich dahin geführt. Ein

ganz anderes Gefühl erfüllte meine Seele bei dem Anblicke der heimathlichen

Stadt, der von seinen Nachfolgern vergrößerten und ausgeschmückten Schöpfung

des Genius Peters des Großen. „Herrlich! Wunderbar!" Mehr konnte ich dem Grafen nicht sagen. Nachdem ich der Beschauung der Merkwürdigkeiten Petersburgs ein paar

Wochen gewidmet hatte,

Dienst es mir erlaubte.

zog ich mich in tiefe Einsamkeit zurück, in so weit der

In dieser Zeit bereiteteich meine Aufzeichnungen aus dem

Feldzuge für den Druck vor.

Rhetorik darin.

Es ist viel jugendlicher Enthusiasmus und viel

Ich gestehe, daß, während ich sie schrieb, noch die Aengstlichkeit

in mir wach war, ja nicht von dem Codex des Rischski und Consorten abzu.

weichen, den ich auf der Moskauer Universität bei dem Professor P. so genau auswendig gelernt hatte. „Glücklich ist, wer seine Rhetorik vergessen", hat jemand

sehr richtig gesagt. Ich hatte sie damals leider noch nicht vergessen. Zu derselben

Zeit trug mir der Graf aus, seine Militär-Bibliothek in Ordnung zu bringen und einen Katalog zusammenzustellen.

Bei der Bibliothek fällt mir unwillkürlich der Besuch ein, den einer der

bemerkenswerthen Leute seiner Zeit derselben machte, ein Mann, der sich ebenso durch seinen Geist wie auch durch seine Eigenheiten auszeichnete.

Es war der

General der Infanterie Fürst W., der die Truppen im Orenburgschen Landstriche commandirte.

Er parodirte in Manchem Suworoff.

schon in sehr vorgerückten Jahren.

Als ich ihn sah, war er

Er ging und fuhr in den Straßen Peters­

burgs bei der schärssten Kälte mit unbedecktem Kopfe, bisweilen mit einer gelben Rübe in der Hand.

Graf Ostermann-Tolstoi sah ihn von Zeit zu Zeit bei sich.

Ich erinnere mich, daß bei einem seiner Besuche der Herr des Hauses den Für­ sten und den gerade gegenwärtigen Grafen M. A. Miloradowitsch (den damaligen

General-Gouverneur von St. Petersburg) nach aufgehobener Tafel in seine

Bibliothek einlud.

Hier erschien der kindische Greis wie neu geboren; der An­

blick der militärischen Werke machte ihm gleichsam den Eindruck einer galva­ nischen Erschütterung.

Er wurde selbst zllm lebendigen militärischen Lexikon.

Eine große Anzahl von bekannten Schriftstellern, von Xenophon bis auf unsere Tage, ging er mit Citaten kritisch durch, und nannte genau die besten Ausgaben

eines jeden.

Alle Anwesenden staunten über seine energischen Beurtheilungen

und sein ungewöhnliches Gedächtniß. Bei geschlossenen Augen hätte ich mich nie

überzeugen können, daß ich dem kindischen Greise zuhörte, den ich nicht selten bei strenger Kälte ohne Hut auf der Straße gesehn.

222

Meine Bekanntschaft mit Puschkin. Der Hausherr ließ den Fürsten W. im Erdgeschoß und führte den Grafen

Miloradowitsch hinauf, um ihm die dort begonnenen prachtvollen Verschönerun* gen zu zeigen. „Mein Gott, wie gut ist das Alles", sagte der Graf, indem er die neu eingerichteten Gemächer betrachtete. „Aber wissen Sie?" fügte er lachend

hinzu, „ich bin auch damit beschäftigt, ein Haus so bequem als thunlich herzu­ richten — aber ein Haus, das der Krone gehört und wo man für Schulden ein­

gesperrt wird. Es ist meinerseits viel Egoismus dabei: es ist mir selbst viel­

leicht bes ,ieben, darin zu sitzen."

Dieser Ritter ohne Furcht und ohne Tadel,

der, wie viele Generale seiner Zeit, sich durch Originalität bemerkbar machte, seinen Soldaten freigebig feindliche Colonnen anwies und ebenso freigebig Geld

verthat (oft zu guten Zwecken, muß man hinzufügen), steckte in der That immer in unbezahlbaren Schulden, trotz der Großmuth, mit der ihn der Kaiser oft beschenkte. Wie ich oben gesagt, floß mein Leben in Petersburg in tiefer Einsamkeit

dahin. Das Theater besuchte ich selten. Das zu meiner vollen Verfügung gestellte Abonnementbillet des Grafen gab ich bisweilen M. I. G. zur Benutzung. „Wen läßt Du auf meinen Sperrsitz?" fragte mich einst Ostermann-Tolstoi mit augen­

scheinlichem Unwillen. Ich erklärte ihm, der Nutznießer sei ein bekannter Schrift­ steller und Journalist. „Ah so!" sagte der Graf, „dann darf er auch in Zukunft

meinen Platz einnehmen." Ich erwähne diese Kleinigkeit, um zu zeigen, welche Achtung die damaligen großen Herren den Schriftstellern bezeigten. Mit vielen mehr oder weniger bekannten Literaten jener Zeit war ich schon

vor meiner Ankunft in Petersburg bekannt, mit einzelnen befreundete ich mich während der interessanten Periode von 1810 bis 1820. N. Glinka's Bekannt­

schaft machte ich 1812 auf der Höhe Priklonnaia; als enthusiastischer Jüngling

horchte ich, wie er Moskau's Bewohner zur Vertheidigung der alten Hauptstadt Rußlands anfeuerte. Seinen Bruder Theodor sah ich zum ersten Mal in einer

schlesischen Herrnhuter-Colonie während der Waffenruhe inr Jahre 1813, und

befreundete mich mit ihm bei unseren Wachtfeuern in Deutschland und Frank­ reich. Nie vergesse ich die höchst komischen, von Sarkasmen und Wortspielen

strotzenden Erzählungen und Parodien des Poeten und Parteigängers D. W.

Dawidow. Wem er die Schlinge seines Witzes nachschleuderte, der stürzte köpf, über vom hohen Roß. Er brauchte kein Rasirmesser, wie man von einem andern

Satyriker gesagt hat — die Zunge leistete ihm die Dienste desselben.

In dem

schlesischen Städtchen Nimtscha, wo bei dem Onkel Dawidow's, unserm Corps-

Commandeur Rajewski, sich in dem Garten eines Bürgers ein Kreis näher Befreundeter versammelte, habe ich ihm oft zugehört. Es ist mir, als vernähme

ich noch seine witzreichen Gespräche, als sähe ich ihn noch mit seinem asiatischen Gesichte, seinen kleinen, funkensprühenden Augen, dem pechschwarzen Barte, unter welchem das'Georgenkreuz hervorschimmerte, und dem mit einem Riemen leicht

im Zaume gehaltenen Bauch.

Generale und Fühndriche schüttelten sich vor

Lachen. In tiefem Nachdenken, vielleicht durch die Einbildungskraft aus irgend

ein Schlachtfeld versetzt, machte Rajewski mit seiner Reitpeitsche allerlei Figuren

in den Sand; aber auch er konnte nicht lange ruhig bleiben; das Lachen rings umher riß ihn mit fort, und sein froher Blick überflog die Familie, die ihm der

Krieg gegeben, und deren guter Vater er war. Batjuschkow's*) Hand drückte ich brüderlich zum ersten und letzten Male in einer ärmlichen Hütte bei Brienne.

In deinselben Augenblicke donnerte die Signalkanone.

Die Offiziere jener Zeit

wissen, daß General Rajewski, dessen Adjutant er war, einem solchen Rufe pünkt­

lich zu folgen liebte.

Der General sprengte fort, der Adjutant ihm nach, indem

er mir vom Pferde einen Abschiedskuß zuwarf. Es war in der That ein Ab­

schied und auf ewig. Ich habe ihn nicht wieder gesehn. Mit A. Th. Wojeikow wurde ich im Winter 1814—1815 in Dorpat bekannt, wo unser Regimentsstab im Quartier lag. Man kann sagen, daß seine Worte vom Katheder in der Wüste

ertönten; die Vorlesungen waren von zwei, drei Studenten, bisweilen von ebenso vielen Offizieren und von unsern Generalen Poleijektow und Knorring besucht.

In seiner Familie machte ich Shukowski's Bekanntschaft.

Beide besuchten mich

hin und wieder. Ich bin stolz auf das Wohlwollen, das mir letzterer fortwäh­ rend erwiesen. Den Fürsten P. A. Wiasemski habe ich nicht selten während des

denkwürdigen Frühlings 1818 in Warschau gesehn. Hier, an der Marschalls­

tafel, bei welcher das ganze Gefolge des Kaisers zusammenkam, auch Graf Capo­ distria und andere hervorragende Persönlichkeiten der damaligen Zeit, saß ich

fast täglich neben A. I. Danilewski-Michailowski, der schon damals das Feld der militärischen Schriftstellerei betreten hatte.

Dort lernte ich auch viel aus

den literarischen Unterhaltungen des geistreichen Shichanow dessen anziehende Denkwürdigkeiten jetzt in den „Vaterländischen Memoiren" erscheinen. Nirgend aber kam mir der junge Puschkin zu Gesicht, der schon im Winter 1819 — 1820

Ruslan und Ludmilla herausgegeben hatte, Puschkin, dessen kleine Gedichte, in der Geschwindigkeit auf dein ersten besten Blättchen Papier mit Bleistift abge­ schrieben, in wenigen Stunden wie feurige Strahlen Petersburg durchzogen, und in wenigen Tagen von der ganzen Stadt auswendig gelernt wurden, —

Puschkin, dessen Ruf mit jedem Augenblicke wuchs. Unterdeß ward ich zu seinem

enthusiastischen Verehrer.

Der folgende ungewöhnliche Vorfall verschaffte mir

endlich seine Bekanntschaft. Ein Bericht über diese Begegnung wird seiner Bio­ graphie einige bemerkenswerthe Zeilen beifügen. Ich muß bemerken, daß alle

handelnden Hauptpersonen (Ihren gehorsamen Diener, den Erzähler ausgenom­ men) längst gestorben sind, ich kann also frei von ihnen sprechen.

Meine Wohnung im Hause des Grafen Ostermann-Tolstoi hatte ihren Aus­

gang auf die Galeerenstraße. Von meinen zwei Zimmern im Erdgeschoß hatte ich jedoch das erste dem vor wenigen Tagen eingetroffenen Major N. abge­ treten, der beim Stabe des unter dern Commando des Grafen stehenden Armee-

*) Der unglückliche Dichter, der das Loos Hölderlin's theilte.

D. R.

224

Meine Bekanntschaft mit Puschkin.

Corps diente. Für N.'s Erziehung war, wie man bei uns sagt, nur Kupfer­ münze verausgabt worden, und der Grad seiner Bildung erinnerte an das Ge­ wicht und den Werth dieses Metalls.

Das Aeußere entsprach seinen innern

Eigenschaften, und zeichnete sich durch eine breite Glatze und eine besonders rosige

Gesichtsfarbe aus.

Diese letztere hielt er hoch im Werth, weil sie ihn, seiner

Ansicht nach,- den weiblichen Herzen gegenüber, unwiderstehlich machte.

Viel

bildete er sich auf das Spiel der Franzen an seinen Majors-Epauletten ein, deren goldnem Schein er die Wirkung der Sonnenstrahlen auf seine Umgebung

zuschrieb. Wir nannten ihn Specht, weil er in seinem Aeußern und seinen Ge­ wohnheiten diesem Vogel glich. Der Kreis seiner literarischen Studien war auf

„Die arme Lise" und „Die Insel Bornholm" beschränkt, woraus er besonders gern das Gedicht „Es strafen die Gesetze, was liebend ich erkor" declamirte; einige Lieder aus der Wassernixe vervollständigten sein Wissen. Für das Theater

hatte er eine Leidenschaft, besonders für die Luftsprünge im Ballet. Auch den Freuden der Tafel war er hold. Es wurde erzählt, daß, wenn es auf den Mär­

schen galt, nach der Ruhe wieder auszubrechen, er nicht anders zu wecken war, als indem man ihm einen Löffel in den Mund steckte. Man konnte ihn stoßen und rütteln so viel man wollte, alles war vergebens; nur der Löffel half.

Er war übrigens ein ganz guter Kerl.

Meine Cameradschaft mit ihm

be­

schränkte sich auf dienstliche Beziehungen und die unwillkürliche Annäherung des

Zusammenwohnens.

An einem schönen Wintermorgen — Punkt Dreiviertel aus Acht — hatte

ich meine militärische Toilette beendet, ging in das Nebenzimmer zu meinem Major und befahl den Thee zu serviren. N. war nicht zu Hause; er pflegte den

gräflichen Stall zu besuchen, um nach der Ordnung zu sehen. Kaum hatte ich das Zimmer betreten, als aus dem Vorgemach drei Unbekannte herein kamen.

Der Eine war ein ganz junger Mensch, mager, klein von Wuchs, mit einem

Krauskopf und einem Negerprofil; er trug einen Frack. Ihm folgten zwei sehr gut aussehende Offiziere der Garde-Reiterei mit klirrenden Sporen und Säbeln.

Der eine war Adjutant; ich konnte mich erinnern, ihn schon früher in der Gesell­ schaft der Freunde der Aufklärung und des Wohlthuns gesehn zu haben; der

andere war Front-Offizier.

Der junge Herr in Civil trat mir näher und fragte

mit einer leisen aber wohlklingenden Stimme: „Wollen Sie mir gefälligst sagen,

ob Herr N. hier wohnt?" „Ja", erwiederte ich, „aber er ist in diesem Augenblick nicht da, ich will ihn sogleich rufen lassen." Ich hatte noch nicht den Befehl dazil

gegeben, als N. hereintrat.

Bei dem Anblicke der militärischen Gefährten des

Civilisten wurde er offenbar verlegen, erholte sich aber bald und nahm sogar eine martialische Stellung an. „Was ist Ihnen gefällig?" fragte er den Civi­

listen ziemlich trocken. „Das müssen Sie sehr gut wissen", entgegnete jener. „Sie haben mich zu acht Uhr herbestellt, es fehlt noch eine Viertelstunde; wir haben Zeit, die Waffen zu wählen und den Ort zu bestimmen." Das Alles wurde mit

derselben leisen, ruhigen Stimme gesagt, als wenn es sich darum handelte, ein freundschaftliches Gastmahl zu besprechen.

N. wurde roth wie ein Krebs und

verwickelte sich in seinen Phrasen als er antwortete: „Nicht dazu habe ich Sie hierher geladen — ich wollte Ihnen sagen, daß es für einen jungen Menschen

in Ihrem Alter nicht passend ist, im Theater zu schreien und seine Nachbarn zu stören, die das Stück anhören wollen." „Diese Vorlesung haben Sie mir schon

gestern in Gegenwart vieler Zuhörer gehalten", sagte der Civilist mit mehr Energie; „ich bin kein Schulbube, und bin gekommen, anders mit Ihnen von der Sache zu sprechen.

Dazu bedarf es nicht vieler Worte; diese beiden Herrn sind

meine Sekundanten; dieser Herr ist Militär (er wies dabei aus mich), er wird

sich gewiß nicht weigern, Ihnen als Zeuge zu dienen.

Wenn es gefällig ist —"

N. ließ ihn nicht ausreden. „Ich kann mich mit Ihnen nicht schlagen", sprach er, „Sie sind ein junger, unbekannter Mensch, ich aber bin Stabsoffizier." Die

beiden Sekundanten lachten bei diesen Worten; ich wurde bleich und zitterte vor

Entrüstung über die dumme und demüthigende Lage, in die sich mein Camerad

gebracht hatte, obgleich mir der ganze Auftritt noch ein Räthsel war.

Der Civi­

list fuhr mit kräftiger Stimme fort: „Ich bin ein russischer Edelmann, Puschkin, das werden meine Gefährten bezeugen, und es kann daher keine Schande für

Sie sein, sich mit mir zu schlagen." Bei dem Nmnen Puschkin durchzuckte inich der Gedanke, daß vielleicht der junge Poet vor mir stand, vor dessen Talent selbst Schukowsky schon den Hut

zog, Puschkin, der zum Tonangeber der ganzen gebildeten Jugend Petersburgs geworden war, und ich beeilte mich ihn zu fragen: „Habe ich vielleicht die Ehre, Alexander Sergejewitsch Puschkin zu sehn?"

— „So heiße ich", antwortete er lächelnd.

Puschkin, dachte ich, der Verfasser von Ruslan und Ludmilla, der Dichter der schönen kleinen Gedichte, die künftige Hoffnung Rußlands, sollte von der

Hand eines N. zu Grunde gehen, oder diesen N. erschießen und dafür der Strenge der Gesetze verfallen — nein, das darf nicht geschehen.

Es koste was es wolle,

ich bringe den Friedensschluß zu Stande, sollte ich auch nicht ganz offen dabei

zu Werke gehn. „In diesem Falle", sagte ich, indem ich mich der französischen Sprache be­

diente, die dem Major ganz fremd war, „erlauben Sie mir thätigen Antheil an der Sache zu nehmen und um eine Erklärung über den Ursprung Ihres Streites

zu bitten." Darauf erzählte mir einer der Offiziere, Puschkin sei am Abend zuvor im

Theater gewesen, wo ihm der Zufall unglücklicher Weise einen Platz neben N. angewiesen. Es wurde ein schlechtes Stück gegeben, vielleicht wurde auch schlecht

gespielt. Puschkin gähnte, zischte, sprach laut: „unausstehlich!" Seinem Nachbar aber schien das Stück zu gefallen.

Nordische Revue. IV. 2, Heft. 1865.

Anfänglich schwieg er, dann aber verließ ihn

15

226

Meine Bekanntschaft mit Puschkin.

die Geduld und er sagte Puschkin, daß er ihn hindere, zuzuhören. Puschkin warf

einen Blick auf seine Seite und fing den Lärm von Neuem an. Da erklärte N.

seinem nicht zu bändigenden Nebenmann, er würde die Polizei bitten, ihn aus

dem Theater zu entfernen. „Das wollen wir sehen", entgegnete Puschkin und fuhr in seinen Unzu­ friedenheitsbezeugungen fort.

Die Vorstellung war zu Ende, die Zuschauer fingen an sich zu entfernen.

Damit hätte auch der Streit unserer Gegner ein Ende haben sollen. Aber mein Kämpe verlor seinen unansehnlichen Nachbar nicht aus dem Gesichte und hielt ihn im Korridor an.

„Junger Mann", sagte er zu Puschkin und hob zugleich seinen Zeigefinger,

„durch Ihr Benehmen habe ich nichts von dem Stücke gehört — das war unan­ ständig, das war ungezogen."

„Ein Greis bin ich in der That nicht", entgegnete Puschkin, „aber, mein

Herr Stabsoffizier, noch ungezogener ist es, hier und mit solchen Gestikulationen

mir so etwas zu sagen. Wo wohnen Sie?" N. gab ihm seine Adresse und bestellte ihn auf morgen früh acht Uhr zu

sich.

War das nicht eine vollständige Herausforderung? Puschkin versprach zu kommen. Offiziere verschiedmer Regimenter umring,

ten die Gegner, als sie den Wortwechsel hörten; es entstand Lärm im Corridor, aber auf ein W»rt Puschkins stellte sich die Ruhe wieder ein und die Streitenden

trennten sich ohne weiteren Vorfall.

Puschkins Gefährte hatte mir also auch dessen Schuld nicht verheimlicht, indem er mir das Verhalten des Gegners erzählte.

Diesen Knoten mußte ich

lösen und dabei Puschkins Leben und Ehre schützen.

„Erlauben Sie mir, mich mit dem Major im Nebenzimmer zu besprechen", sagte ich den Herren vom Militär. Sie gaben mir ihre Einwilligung. Mit N.

allein, fragte ich ihn, ob es sich mit der Sache im Theater so verhielt, wie mir einer der Offiziere erzählt. Er bestätigte Alles.

Nun fing ich an, ihm die ganze

Unbesonnenheit seiner Handlungsweise zu erklären; stellte ihm vor, daß er selbst

die Schuld trage, da er, nachdem der Streit ohne Folgen geblieben, denselben

beim Ausgange aus dem Theater von neuem mit jenem jungen, ihm unbekannten Menschen begonnen; demonstrirte, wie grob das Drohen mit dem Finger, und wie albern die guten Lehren gewesen, und endete mit der Schlußfolgerung, daß, da er wahrscheinlich ohne sich dessen bewußt zu sein, eine förmliche Herausfor­

derung erlassen, jetzt ein Duell oder Entschuldigungen von seiner Seile zur Noth­ wendigkeit geworden.

Ich fügte hinzu, Puschkin sei der Sohn eines vornehmen

Mannes (aus dem Poeten hätte sich ein solcher Herr wenig gemacht). Alle Ueber-

227

Meine Bekanntschaft mit Puschkin.

zeugungsgründe begleitete ich mit der Schilderung der furchtbaren Folgen dieser

Geschichte, wenn sie nicht gleich entschieden werden sollte. „Ich gehe unverzüglich zu unserm General", sagte ich, „und dann — Du weißt, er versteht keinen Spaß."

Ich verbrauchte in dem Kampfe eine unverhältnißmäßige Quantität Pulver,

aber nicht umsonst. N. gelangte zu der Ueberzeugung seines Unrechts und willigte

ein, um Entschuldigung zu bitten. Ohne ihm Zeit zu lassen sich zu besinnen,

führte ich ihn in das Zimmer zurück, wo man unser harrte, und sagte zu Pusch­ kin: „Major N. hat sich Ihnen gegenüber durch eine unbewachte Bewegung und unüberlegte Worte vergangen; Alexander Sergejewitsch, es war nicht seine Ab­

sicht, Sie zu beleidigen." „Ich hoffe", entgegnete Puschkin, „daß Herr N. selbst Ihre Worte bestätigen

wird." Der Major entschuldigte sich und wollte seinem Gegner die Hand dar-

reichen, dieser aber kam der Bewegung nicht entgegen, rief kurz: „Ich verzeihe", und entfernte sich mit seinen Begleitern, die sich bei mir sehr verbindlich ver­

abschiedeten.

Meine Großthat hatte mir aufrichtig gesagt, für den ganzen Tag das

Blut verdorben — waruin, werden Sie leicht errathen.

Jetzt aber, nachdem

sechsunddreißig Jahre darüber vergangen sind, bin ich zufrieden, bin ich glücklich,

dazu berufen gewesen zu sein.

Hätte ich nicht eine so warme Verehrung für den

Poeten gefühlt, der schon damals seine künftige Größe vorausjehen ließ; wäre an meiner Stelle ein anderer gewesen, nicht ein weichherziger Diener der Musen,

sondern ein schroffer, kampflustiger Krieger, der, statt die Flamme des Streites zu löschen, sich bemüht hätte, dieselbe noch mehr anzufachen; hätte ich die Sache

anders geführt, nur noch Einen über den Hof herbeigerufen, Puschkin wäre viel, leicht schon zu Ende des Jahres 1819 von der Erde verschwunden, und wir wären der großen Schöpfungen verlustig gegangen, mit denen er uns später

beschenkte.

Ja, ich bin zufrieden mit meiner That, gleichviel ob ich sie gut

oder schlecht vollführt.

Auch ich kann jetzt sagen wie der alte Corporal des

Beranger:

„Puis, moi, j’ai servi le grand homme!“ Ich muß hinzufügen, daß ich bis zu dem Tode Puschkin's und N.'s nie ein

Wort über den Vorgang habe fallen lassen. Der Major hatte, wahrscheinlich in Folge desselben, im Theater kleine Unannehmlichkeiten mit Militärpersonen, aber alles nahm ein Ende, als er, nach verschiedenen hinter Puschkin's Rücken ausge­ stoßenen nicht sehr ritterlichen Drohungen, bald darauf Petersburg verließ.

Wenige Tage später sah ich Puschkin im Theater; er reichte mir lächelnd die Hand.

Ich wünschte ihm Glück zu dem mit seiner Dichtung Ruslan und

Ludmilla errungenen Erfolg, worauf er mir entgegnete: „das sind meine ersten Jugendsünden!"

228

Meine Bekanntschaft mit Puschkin. „Haben Sie die Gewogenheit, uns öfter mit dergleichen Sünden in Ver-

suchung zu führen", war meine Antwort. Puschkin stand schon auf der Höhe seines Ruhmes, als ich „die Eroberung

Livlands" und „das Eis-Haus" herausgab, und ich beeilte mich, ihm beide Ro­ mane als Zeichen meiner Verehrung für sein ausgezeichnetes Talent zu über­

senden.

Ein Freund, dem ich aufgelragen hatte ihm „die Eroberung Livlands"

einzuhändigen, schrieb mir unter dem 19. September 1832: „Ich danke Ihnen für die Gelegenheit, die Sie mir verschafft, Puschkin zu sehn. hat mir die angenehmste Rückerinnerung hinterlassen.

Die Begegnung

Mit Neugier blickte ich

aus diese nicht große hagere Gestalt und konnte den Händelsucher nicht heraus­

finden. liegt.

Auf Puschkin's Gesicht steht geschrieben, daß nichts Verstecktes in ihm Aber im Gespräch merkt man doch ein Geheimniß in seiner Seele — sei­

nen entzündenden Geist und seine Kenntnisse. Kein äußerer Flitter, keine Ziererei stört bei diesem Fürsten der russischen Poeten." Die Worte, die Puschkin an mich selbst bei dieser Gelegenheit richtete, sollte ich eigentlich zurückbehalten, aber ich

bin stolz darauf, indem ich sie überlese.

Wie sollte mich das Lob Puschkin's

nicht stolz machen! Ich hatte erfahren, daß er sich mit der Geschichte des Pugatschew'schen Auf­

standes beschäftigte, und schickte ihm ein seltenes Exemplar des Rytschkow. Dar­

auf erhielt ich von ihm einen Brief, den ich hier folgen lasse.

Alles Schmeichel,

haste darin betrachte ich als eine wohlwollende Begrüßung; das Liebste ist mir aber, daß der große Schriftsteller mein Werk einer Kritik gewürdigt hat; denn

damit beehrte er nicht einen Jeden, wie unlängst auch in einer seiner Biogra­ phien bemerkt wurde. Hier ist der Bries, den ich wie einen Schatz bei der Copie meiner Antwort aufbewahre:

„Ich muß Sie vor allen Dingen meines Säumens und meines Man­ gels an Pünktlichkeit wegen um Entschuldigung bitten.

Das Bildniß

Pugatschew's erhielt ich vor einem Monat und erfuhr, vom Lande zurück­ gekehrt, daß Ihnen bis jetzt noch kein Exemplar seiner Geschichte zligestellt

worden ist.

Die Handschrift Rytschkow's stelle ich Ihnen zurück, nachdem

Ihre Güte mich in den Stand gesetzt, dieselbe zu benutzen. „Erlauben Sie mir nun, mein Herr, Ihnen für die schönen Romane

zu danken, die wir alle mit so viel Eifer und so viel Genuß gelesen haben. Vielleicht steht in künstlerischer Hinsicht „das Eis-Haus" höher als „die Eroberung Livlands", aber die geschichtliche Wahrheit ist in Ersterem nicht

beobachtet, und das wird Ihrem Werke gewiß schaden, wenn die Akten der Wolynski'schen Sache veröffentlicht sein werden. Indeß Poesie wird immer

Poesie bleiben, und viele Seilen Ihres Romans werden leben, so lange die russische Sprache unvergessen bleibt.

Ich gestehe, daß ich bereit bin,

für Wassili Trediakowsky *) eine Lanze mit Ihnen zu brechen.

Sie miß­

achten einen Menschen, der in vieler Hinsicht unsere Achtung und Dank­

In der Wolynski'schen Sache aber spielt er die Rolle

barkeit verdient. eines Märtyrers. rührend.

Sein Bericht an die Akademie ist im höchsten Grade

Man kann denselben nicht lesen, ohne über seinen Peiniger ent­

rüstet zu sein. Vom Zaren (Herzog Biron v. Kurland) ließe sich auch noch

Manches sagen.

Er hatte das Unglück, ein Deutscher zu sein, und mußte

allem Schrecklichen, das in dem Geiste seiner Zeit und in den Sitten des Volks lag, als Sündenbock dienen.

Er hatte übrigens einen großen Ver­

stand und große Fähigkeiten.

„Erlauben Sie mir, eine philologische Frage an Sie zu richten, deren Entscheidung mir wichtig ist: in welchem Sinne gebrauchen Sie das Wort

„Chabot" in Ihrem lebten Werke, und welcher Mundart ist es entlehnt? „Indem ich mich Ihrem Wohlwollen empfehle, verbleibe ich u. s. w. Alexander Puschkin." 3. Nov. 1835. St. Petersburg.

Meine Antwort füllte drei Briefbogen; sie kann aus mehr als einem Grunde nicht abgedruckt werden.

Erstens vertheidigte ich mich energisch gegen

den Vorwurf Puschkins, daß ich die historische Wahrheit verletzt hätte.

Ehe ich

einen Roman begann, studirte ich lange den Zeitpunkt und die Charaktere des­

selben, besonders die historischen Hauptpersonen, die ich zu schilderrr hatte. Was

habe ich zum Beispiel nicht alles gelesen für meine Eroberung Livlands! Es waren mir zum Glück die seltensten Quellen in die Hände gerathen. Die Oertlich-

keiten, Sitten und Gebräuche des Landes beobachtete ich während einer Reise von zwei Dtonaten durch Livland, das ich großenlheils auf Feldwegen nach allen

Richtungen durchstrich.

Ebenso gewissenhaft studirte ich die Hauptpersonen

meines „Eis-Hauses". In meiner Antwort ergriff ich heftig Partei für das Gedächtniß meines

Helden, des Kabinetministers Wolynski, der als Gouverneur von Astrachan dem ihm anvertrauten Landstriche Leben eingehaucht, auf Peters des Großen *) Tredjakowsky (geb. 1703), Prof, der Beredsamkeit, einer der ersten Be­ gründer poetischer Kunstformen in der russischen Literatur, unter Kaiserin Anna die damals sehr klägliche Rolle eines Hospoeten spielend und eine Zeitlang im Besitz einer gewissen literarischen Dictatur, ein unermüdeter Vielschreiber und Uebersetzer, erscheint mutatis mutandis als eine Art russischer Gottsched. Die ästhetische und literarhistorische Tradition in Rußland hat ihn zu einem Spottbild des Pedantis­ mus und der Talentlosigkeit gemacht, das durch die freilich nicht wegzuleugnende Nie­ drigkeit seiner Gesinnung noch greller wurde. Aber ein gründlicheres Eingehen, eine gerechtere und vorurtheilsfreie Würdigung hat nicht verfehlt, auch seine großen Ver­ dienste um die russische Literatur außer Zweifel zu setzen. D. N.

230

Meine Bekanntschaft mit Puschkin.

Befehl als Gesandter nach Persien gegangen, seine Pflichten int Einklang mit

den Wünschen des genialen Zaren erfüllt, in Nemirow mit den Türken unserem

Vaterlande nützliche Verhandlungen geleitet u. s. w. Mächtige Feinde bürdeten Wolynski Verbrechen auf, die ihm nie eingefallen waren — die Mittel zur Recht­

fertigung fehlten ihm. Puschkin bezieht sich wahrscheinlich auf die Untersuchungsakten; aber die unparteiische Geschichte wird fragen, wie diese Akten entstanden

sind. Trediakowsky reichte eine Klage gegen ihn ein — wen konnte man damals nicht zwingen, einen solchen Schritt zu thun! Später hat eine hohe Autorität

den Ruf des Kabinetsministers von allem Vorwurf gereinigt. In meinem Ro­

man zeige ich ihn, wie er war — als einen edlen Patrioten, wenn ihm die Laster

seiner Zeit auch anhingen. Was Puschkin's Vertheidigung Trediakowsky's betrifft, so entsprang dieselbe freilich aus einem schönen Gefühle, aber ich wage es auszusprechen, der Gesichts­ punkt, von welchem er die damalige Epoche betrachtet, war ein einseitiger.

Ja,

Wolynsky hat Trediakowsky grausam, sogar unmenschlich behandelt, aber was will das sagen in Gegenwart der großen, ungeheuerlichen Dinge, die damals

vorgingen. Auch ich bin entrüstet über die Unmenschlichkeit, und dennoch achte

ich

Wolynsky hoch für die Dienste, die er dem Vaterlande geleistet, für seine

erhabenen Gefühle im Kampfe mit dem Unglücke.

Und war nicht der Reim­

schmied Trediakowsky das Spielwerk eines Jeden? Ich führe das Nachfolgende nur an, weil Beweise von mir gefordert werden.

Stupischin, ein angesehener

Mann seiner Zeit, der als 90jähriger Greis, wenn ich nicht irre im Jahre 1820

starb, erzählt: „Wenn Trediakowsky mit seinen Oden erschien, so mußte er, auf Biron's Befehl, auf den Knieen aus dem Vorzimmer durch alle Gemächer rut­

schen, indem er seine Gedichte mit beiden Händen auf dem Kopfe hielt; vor den

Personen angelangt, denen er die Verse vorlesen sollte, warf er sich dann platt

auf den Boden. Biron hielt ihn immer zum Narren und wälzte sich vor Lachen." Eine andere Frage ist es, ob ich gezwungen war, Trediakowsky in meinem

historischen Roman erscheinen zu lassen? — Ja, ich war gezwungen. Ich mußte ein treues Bild der Zeit geben, die ich zu schildern unternommen hatte. Tredia­

kowsky ist ein kostbares Eigenthum derselben, ohne Trediakowsky wäre das Bild

nicht vollständig gewesen, es hätte eine nothwendige Persönlichkeit in der Gruppe der Figuren gefehlt. Und mußte er hinein, so mußte er so hinein, wie er war. Wir find ihm dankbar dafür, daß er seine Zeitgenossen das Versemachen gelehrt und den Hexameter in die russische Poesie eingeführt hat. Aber auch diese Wohl­ that hätte weniger schwer auf uns gelastet, wenn er uns nicht mit den tausend

Versen der Telemachide gepeinigt hätte, wobei er auf die Zahl Tausend besonders

stolz war. Bei aller Verehrung für Puschkin muß ich es sagen, die Rechtfertigung Biron's erscheint mir wie ein lapsus linguae des großen Poeten. Er hatte das

Unglück, ein Deutscher zu sein? Im Gegentheil — für alle diejenigen, die seit dem Zar Aler. Michajlowitsch ihre Dienste mit Eifer, Nutzen und edlem Sinn Nußland gewidmet haben, ist ihre fremde Herkunft kein Unglück gewesen. Nur zeitweilige Ungerechtigkeiten konnten ihnen widerfahren. Als Beweis brauche ich nur auf Lefort, Ostermann, Münnich, Mannstein, Brun und andere hinzudeuten. Ich muß hier wiederholen, was schon so oft gesagt worden ist: Unser Vaterland hat Jahrhunderte lang mit wilden oder unruhigen Nachbarn zu kämpfen gehabt, um seine dereinstige hohe Stellung in Europa vorzubereiten und zu befestigen, und ist, an den Grenzen Asiens, später als der Westen von dem Lichte der Wissen­ schaft beleuchtet worden. Und darum sind die Fremden, die zu uns kommen, um Rußland in allem Nützlichen zu unterrichten, ob sie nun in die Armee, in die Flotte, in die Akademie oder in den Rath der Zaren treten, immer ausge­ nommen Ulld mit Ehren überhäuft worden, wie erwünschte und geachtete Gäste. Ihre Verdienste, wenn dieselben mit unserem wahren Wohl im Einklänge standen, wurden auch mit fortlebender Dankbarkeit belohnt. Was hat nun Biron von dem Volke verdient? Nicht weil er ein Deutscher war, wurde seine Zeit mit seinem Namen gebrandmarkt; das Volk aber ist immer gerecht in der Bezeich­ nung einer Epoche. Was seinen großen Geist und seine großen Fähigkeiten betrifft, so erwarten wir von der Geschichte einen Beweis für dieselben. Bis jetzt kennen wir keinen solchen. Ich gestehe, daß ich mir den Vorwurf Puschkin's sehr zll Herzen genommen hatte, besonders insoweit derselbe sich auf den Zeitgeist und die Sitten des Volks bezog, und daß die Ausdrücke meiner Entgegnung nicht ohne Bitterkeit waren. Einer meiner Freunde sagte mir, nachdem er meine Antwort gelesen, ich sei mit wohlbegründeten und sogar nothwendigen schneidenden Worten nicht haushäl­ terisch gewesen — hätte sie aber Puschkin gegenüber nicht brauchen sollen. „Hat er sich darüber geärgert?" fragte mich jener Freund. „Ich habe es selbst geglaubt, da ich lange nichts von ihm gehört", entgegnete ich. Aber Puschkin gehörte nicht zu den egoistischen Kindern unsers Jahrhunderts, die ihr eigenes Ich höher als die Wahrheit stellen. Er hatte erkannt, daß die Leidenschaftlichkeit meines an ihn gerichteten Brieses aus reiner Quelle geflossen war, aus einem überströmen­ den Herzen, und nahm mir die Ausdrücke, die einen Andern hätten unangenehm berühren können, durchaus nicht übel. Im Gegentheil; bei einer Reise durch Twer (wenn ich nicht irre im Jahre 1836) schickte er mir von der Poststation folgenden kurzen Zettel. Offenbar hatte nur Wohlwollen und freundliches Gedenken denselben bictirt. „Ich habe immer gehofft, Ihnen persönlich für Ihre freundschaftlichen Gesinnungen, für zwei Briefe, für die Romane und die Notizen über Pugatscheff danken zu können, aber die Widerwärtigkeiten verfolgen mich. Ich reise im Postkarren durch Twer und sehe so aus, daß ich es unmöglich wagen darf, mich bei Ihnen einzufinden, um unsere alte, kurze Bekannt-

232

Meine Bekanntschaft mit Puschkin. schäft zu erneuern.

Ich schiebe meinen Besuch bis zum September, daS

heißt bis zu meiner Rückkehr auf; bis dahin empfehle ich mich Ihrer Nach­ sicht, und Ihrem Wohlwollen.

Von Herzen der Ihrige

Puschkin."

Das Datum fehlt auf dem Zettel. Die Unterschrift erfreute mich sehr; sie

bewies die gute, edle Natur Puschkins; sie stellte unsere freundlichen Beziehungen wieder her, die ich durch unsern Briefwechsel zerstört wähnte.

In den letzten Tagen des Januar 1837 kam ich auf kurze Zeit mi§ Twer nach Petersburg.

Den 24. und 25. war ich bei Puschkin, um ihn zu begrüßen,

und traf ihn an beiden Tagen nicht zu Hause.

Es war mir unmöglich, länger

in Petersburg zu verweilen, ich reiste am Abend des 26. ab — den 29. war Puschkin nicht mehr.

„Die Flamme schwand von dem Altar!"

Musikalische Revue. Die Charwoche. — Sebastian Bach und Graun. — Protestantismus und Katho­ licismus in der Kirchenmusik. — Niemann und die Oper. — Die Afrikanerin. — Liszt in der Mönchskutte. — Tristan und Isolde und ein Bries Richard Wagner'S.

Die Charwoche war überall in Deutschland auch diesmal der ernste Ab­ schluß der musikalischen Saison unserer Hauptstädte. In Wien und Berlin ge­

langte Sebastian Bach's große „Matthäus-Passion" zur Aufführung.

In letz­

terer Stadt auch noch des Altmeisters Passion nach dem Evangelium Johannis. Gleiches wird uns vom Rhein, aus Leipzig, Stuttgart und Frankfurt am Main berichtet. Wunderbar muß uns eine solche Verbreitung des Cultus unseres er.

habensten und tiefsinnigsten Tonmeisters im Gebiete der Kirchenmusik erscheinen, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß es Felix Mendelssohn gewesen, der vor

kaum vierzig Jahren den großen Tondichter gleichsam erst wieder von den Todten erweckte. Zu Mozart's Zeiten noch war der Name Bach so verschollen und von

den breiten, geschnörkelten und größtentheils geistlosen Erzeugnissen der musi­ kalischen Zopf-Periode, die damals im Kirchenstyl herrschte, zugedeckt und ver­

schüttet, daß der Cantor Doles in Leipzig seinen jungen Freund Mozart mit der

Vorlage Bach'scher Motetten noch als mit wunderbaren Ueberbleibseln einer

verschollenen Periode zu überraschen und zu entzücken vermochte. Und doch war Bach damals kaum etwas über ein Menschenalter todt. Auch ward dadurch nichts geändert. Der Anregung, die Mozart erfahren, verdanken wir freilich den Gesang der geharnischten Männer in der Zauberflöte, der als ein ächt Bach'scher Cantus firmus sich durch die wurrderbar kunstvollen Verschlingungen der Stimmen des

Orchesters fortsetzt. Auch im Requiem lassen sich Bach'sche Einwirkungen nach­

weisen. Für die Masse der Musiker und vollends für das große Publicum blieb Bach aber vor wie nach ein bloßer kunstgeschichtlicher Name oder ein Buch mit sieben Siegeln. Das „wohltemperirte Clavier", das außer im Druck, in vielen

zum Theil von einander abweichenden Handschriften coursirte, kam gegen Ende des vorigen und im Anfang dieses Jahrhunderts in einige Aufnahme. Wenn

es auch selbstverständlich ist, daß es zu Beethoven's Lieblingswerken gehörte und auf seinem Flügel nie fehlte, so finden wir daffelbe doch auch schon in der Bauern­

hütte der Eltern des kleinen Blasewitzer Bauernjungen, aus dem später der

234

Musikalische Revue.

kursüchfische Kapellmeister Naumann wurde und in andern ähnlichen Fällen.

Dagegen blieb der V o c a l-Componist Bach, mit Ausnahme Leipzig's, wo seine Motetten als eine vereinsamt bleibende Tradition fortlebten, so unbekannt, daß als der jugendliche Felix Mendelssohn die Matthäus-Passion in einem Winkel der Bibliothek der Berliner Singakademie auffand, sein Lehrer Zelter von einer

Ausführung derselben schon darum nichts missen wollte, weil er sie ihrer musika­

lischen Schwierigkeiten halber für gradezu unmöglich hielt. Mendelssohn vollführte jedoch zu seines alten Meisters Staunen und beschämter Rührung das Wunder, und von diesem Leitpunkt an datirt denn jene Wiedererweckung und

Anerkennung Sebastian Bach's, die sich nach und nach als ein verständnißvoller und tief in die Gemüther eingreifender Cultus über unser ganzes deutsches Vater­

land verbreitete. Seien wir darauf als Deutsche stolz.

Die Popularisirung des

Tiefsinns und oft herben Ernstes eines Dante oder Michel-Angelo bei den Ita­

lienern würde etwa den Wirkungen gleich zu stellen sein, die in der Gegenwart

Bach's große Vocalwerke an den hohen kirchlichen Festtagen des Jahres auf viele Tausende in Deutschland ausüben. In Berlin, Leipzig, Frankfurt a. M.,

Köln u. s. w. hat man sogar Bach's schwierigste und am schwersten verständliche Ton­ schöpfungen, die gewaltige H moU-Messe und das wundersame Magnificat außer

den Passionen und Motetten zu wiederholten Aufführungen gebracht. Wir wollen zwar nicht bestreiten, daß zuweilm etwas Affectation und Eitelkeit bei diesem Bach-Cultus mit unterläuft. Wie wäre es sonst zu erklären, daß die Singakademie und drei weniger bedeutende Gesanginstitute Berlin's uns in der verflossenen

Charwoche neben Bach's Passionen ein so zopfiges und vom Staube einer längst vergangenen Zeit bedecktes Werk wie Graun's „Tod Jesu" nicht weniger als viermal in acht Tagen vorgeführt haben.

Wenn Graun auch ein besonderes

Anrecht auf das Andenken der Berliner hat, so ist dies Uebermaß in der Verherr­

lichung eines Werkes, dessen Werth höchstens ein kunsthistorischer geblieben, und

dessen leichtfertiger Roccoco-Stil nach Bach's erhabenem Ernst fast das Gefühl verletzt, doch eine etwas starke Zumuthung an unsere Pietät.

Denn nur aus

Pietät hört man noch Graun's Tod Jesu mit an, ein Werk, dessen Schnörkel,

Rouladen, Triller und altmodische Verzierungen nebst dem ganzen Apparat der italienischen Gesangskunst der zweiten Halste des vorigen Jahrhunderts in einem mitunter lächerlichen Contraste zu den tragischen und tiefernsten Vorgängen stehen, die es besingt. Ueberall blicken das wohlfrisirte und gepuderte Haupt des zu seiner Zeit so gefeierten Hoskapellmeisters und die Reifröcke und Schönpflästerchen

seiner Primadonnen hervor. Wir hören die Fächer der schönen Berlinerinnen von damals rauschen und wenden unsere Blicke unwillkürlich nach der königlichen

Loge in der Garnisonkirche, in der seit den Tagen Friedrich's des Großen jenes Werk alljährlich sich wiederholt, um uns zu überzeugen, daß der alte Fritz nicht unser jeweiliges Lächeln über die Arbeit seines Lieblings bemerkt und mit dem Krückstock droht. — Der Stern'sche Verein^seierte diesmal die Charwoche durch

Beethovens Missa solennis, der er bereits im Jahre 1862 seine Kräfte widmete. Auch diesmal kam das enorm schwierige Werk, dessen gewagte Tonlagen ein

wahrer Probirstein für die Ausdauer der Chorkräste eines Gesangvereins sind, zu

einer sehr befriedigenden und im Technischen vollendeten Aufführung. Im Jahre

1862 wollten uns dagegen Auffassung und Vortrag noch belebter und kühner erscheinen. — Aus Wien schreibt man, daß zu der am Chardienstag stattgesun-

denen Aufführung der Matthäus-Passion durch die Gesellschaft der Musikfreunde nicht nur der gebildetere Theil des Publieums der Hauptstadt, sondern auch Verehrer Bach's aus der ganzen Umgegend herbeigeströmt seien.

Eine solche

Feier des durch und durch protestantischen Tondichters in dem katholischen Wien,

will noch viel mehr sagen als die Huldigungen, die ihm das protestantische Nord­

deutschland darbringt. Man bilde sich nicht ein, daß die sublimsten Werke der Kunst frei von aller aus der Zeit der sie angehören hervorgehenden Tendenz seien. Ebensowenig wie in der bildenden Kunst sind sie das in der Musik. Wie

sich Palestrina oder Gabrieli einem nur einigermaßen gebildeten musikalischen Gefühl sofort als die katholischen Meister des Kirchengesanges offenbaren

werden, so sind Händel und vor allem Bach in jedem ihrer kirchlichen Werke vom Scheitel bis zur Sohle Protestanten, welche dieselbe begeisterte Reformation im

Gebiete einer evangelisch geistlichen Musik durchführen sollten, die Martin Luther einst in der K i r ch e bewerkstelligte. Wie es in Bezug hierauf äußerlich

bedeutsam ist, daß die italienischen Meister sich ausschließlich der durch die Kirche sanctionirten lateinischen Texte bedienten, während Bach sich hauptsächlich an das ursprüngliche Bibelwort der Lutherischen Uebersehung eng anschloß, so ist es noch viel tiefer bezeichnend,daß bei Sebastian Bach immer Christus der Mittelpunkt seiner ganzen künstlerischen Versenkung und Darstellung bleibt, ja daß er ihm, mit der

ganzen Subjectivität, die der Protestailtismus erst in das religiöse Bewußtsein ein­ führte, zwar wie einem bocherhabenen Freunde und unerreichbaren Vorbilde aber doch eben wie einem Freund e 'traulich^und menschlich liebend sich naht, während

er den Tonsetzern des sechszehnten mit) siebzehnten Jahrhunderts immer nur der unnahbare, richtende, von allem Menschlichen durch eine Kluft getrennte Gott

blieb, den sie von Schauern priesterlicher Andacht erfüllt besingen.

Dem durch die Charwoche erfolgten Abschluß der sich überall in Deutschland aus das Wintersemester beschränkenden eigentlichen Concertzeit, folgen jetzt

die nach diesem Jahresabschnitte ebenfalls gewöhnlich beginnenden Gastspiele unserer ersten deutschen und auswärtigen Opernsänger.

In Berlin haben wir

in dieser Beziehung besonders Niemann's zu gedenken, von deffen Leistungen wir nicht zu viel zu sagen glauben, wenn wir ihnen innerhalb des Gebietes, auf dem sie sich vorzugsweise bewegen, das Prädicat der Classicität zugestehen. Wirhaben

es hier nicht nur mit einem Sänger zu thun, dem die Natur außer einer wahr­ haft seltenen Tenor-Stimme eine imponirenbe herrliche Gestalt und einen idea­

len Ausdruck verlieh, sondern auch mit einem ernsten Musiker, der zugleich ein

236

Musikalische Revue.

denkender Künstler ist.

Wer Niemann als Raoul, Faust, Tannhäuser oder

Lohengrin gesehen und

gehört hat, wird ein nicht mehr zu

verlöschendes

Idealbild dieser durch die Tonkunst geschaffenen Gestalten in der Seele behalten,

die nichtsdestoweniger zugleich ein individuelles Gepräge tragen, was, wie das ja bei jeder hervorragenden Künstlergröße der Fall ist, eben nur Niemann eignet,

also gewissermaßen das Höchste und Beste darstellen, was er aus dem Ganzen

seiner Persönlichkeit heraus zu bilden und zu leisten vermag.

Wir möchten

Niemann unter unseren drei namhaftesten deutschen Helden-Tenoren einen be­ deutenden, wenn nicht den ersten Platz anweisen. Tichatschek übertrifft ihn zwar

vielleicht noch in unverwüstlicher Frische und Ausdauer, Niemann müssen wir

dagegen ein durchgeistigteres und harmonischeres Zusammenwirken von Gesang, Spiel und Vortrag zugestehen. Wenn er als Lohengrin aus dem Kahn steigt,

in welchem ihn der Schwan an das Ufer Brabants gezogen, so hat der edle ritterliche Anstand der kühnen Gestalt, die um eines Kopfes Länge über ihre ganze

Umgebung hervorragt, das lange wallende Haar, das reich und malerisch unter dem Helm auf die Schultern herabfällt, in Uebereinstimmung mit den wunderbar getragenen und wie in der Ferne verhallenden Tönen der klangvollen Stimme

wirklich etwas, das uns in das Land der Sage und des Wunders entrückt und der ganzen Erscheinung einen Anstrich von Uebermenschlichem verleiht, der treff­ lich zu Lohengrin, dem Ritter des mystischen Graal stimmt.

Bedeutende Bild-

Hauer und Maler kamen hierin mit uns völlig überein und empfingen von ihrem

Standpunkte aus denselben Eindruck, den der Referent als Tonkünstler erhielt.

— Sonst wäre von der Berliner Oper noch zu melden, daß uns Fräulein Defirve Artot verlaffen, nachdem sie zuletzt noch das Gretchen in Gounod's Faust gegeben. Man bezweifelte, ob es der sonst so bedeutenden Künstlerin ge. lingen werde, in dieser Partie, in welcher es trotz der französischen Verballhornifirung darauf ankommt, das- Goethe'sche Urbild möglichst wiederherzustellen,

neben Fräulein Lucca, dem Lieblinge unseres Publicums und in ihrer Art treff­ lich als Gretchen, zu excelliren. Wir können Fräulein Artöt das Zeugniß geben,

daß fie ihre Aufgabe ernst nahm, so ernst, daß sie sogar die Cartons zu Goethe's Faust von Kaulbach und Cornelius fleißig studirt hatte, um auch ihrem Spiel

das Gepräge der Classtcität zu verleihen. Vielleicht lud fie dadurch den Schein einer gewissen Absichtlichkeit und gemessenen Bewußtheit aus sich, der der naiven und unbefangen kindlichen Auffassung der Partie durch Fräulein Lucca beim

großen Publicum ein Uebergewicht verlieh.

Dem feineren Verständniß mußte

jedoch die Darstellung der Artüt als die tiefer und geistvoller erfaßte sich kund thun. Die Künstlerin gastirt jetzt in Wien, in der italienischen Oper, woher man

von ihren großen Erfolgen als Traviata, Rosina, Domino, Regimentstochter rc. berichtet.

Ganz Paris ist jetzt voll von den ersten Aufführungen der „Afrikanerin"

von Meyerbeer, jener großen Oper, die der Tondichter für sein gediegenstes Werk

erklärte, und bei dessen Vorbereitungen für die Scene ihn leider der Tod über­ raschte. Die Franzosen besitzen jenen liebenswürdigen Enthusiasmus, der ersten

Aufführung einer dramatischen Arbeit eines bei ihnen schon geliebten und ver­ ehrten Dichters oder Tonkünstlers mit einem Interesse zu folgen, das man bei

uns kaum großen politischen Ereignissen zollt. So war denn auch die am 28.

April stattgefundene erste Aufführung der Afrikanerin ein Ereigniß für ganz

Paris, nicht etwa blos für die Gebildeten. Denn auch darin unterscheiden sich die Franzosen noch immer vortheilhaft von uns, daß eine Größe auf literarischem

oder künstlerischem Gebiete, die bei uns nur von den bevorzugten Claffen der

Gesellschaft gewürdigt wird, bei ihnen bis zum Handwerker und Ouvrier hinab die warme und respectvolle Anerkennung genießt, die ebenso sehr dem Genius

gebührt, wie sie den Anerkennenden ehrt und liebenswürdig erscheinen läßt.

Schon vier Wochen vor der Ausführung war kein Billet mehr zu erhalten, und am entscheidenden Abend umschloß das große Opernhaus in seinen Mauern alles,

was in Paris Geist, Wissenschaft und Kunst heißt oder zur Elite der Gesellschaft zählt.

Kaiser Napoleon, der sehr gut weiß, was seinen Parisern gefällt, blieb

mit der Kaiserin von Anfang an bis nach dem vierten Akt, d. h. bis 1 Uhr in der Nacht, und auch dann noch entschuldigte er seine Entfernung mit den Worten

bei Felis, den er in seine Loge hatte rufen lassen, daß ihn nur das gebieterische

Bedürfniß, vor der den folgenden Morgen um 5 Uhr anzutretenden Reise nach Algier einige Stunden zu ruhen, davon abhalten könne, auch dem fünften Akte beizu­

wohnen. Die Aufnahme der Oper beim Publicum war, wie uns ein Augenzellge berichtet, eine enthusiastische. Die Oper soll wirklich auf gleicher Höhe mit den

Hugenotten stehen, also den Propheten weit überragen, und dies soll sich beson­

ders in Beziehung auf eine klassisch zu nennende Jnstrumentirung, die, ohne je, wie zuweilen im Propheten, gesucht zu fein, ganz neue Farben und Effecte ent­

halte, sowie hinsichtlich der prachtvollen Ensemblestücke und der großen Chor,

sätze bewahrheiten, deren einige fast noch die Schwerterweihe in den Hugenotten zu übertreffen schienen, so weit sich nach einem einmaligen Hören habe urtheilen

lassen.

Unter den verschiedenen großen deutschen Verlegern, die sich um den

Verlag der „Afrikanerin" für Deutschland bewarben, haben Bote und Bock in

Berlin den Preis davongetragen.

Die Herren können mit Heinrich Heine's

köstlichen Spottversen über die Reclame, die seiner Zeit der Pariser Verleger Brandus mit Meyerbeer's Propheten trieb, ausrufen:

„Ein Werk, drin Gott und die Natur! — Und ich besitz' die Partitur!" Die Clavierauszüge und alle möglichen Potpourris und Phantasten über das

Werk von unseren bedeutendsten Pianisten sind denn auch bereits als demnächst

erscheinend angekündigt. Doch fehlt diesmal der Name des Paganini des Clavier­ spiels, Franz Liszt's, unter ihnen, obgleich derselbe Transscriptionen über die früheren Opern Meyerbeer's nicht unter seiner Würde fand. Den Grund davon

238

Musikalische Revue.

erfahren wir aus den neuesten Zeitungen, die uns aus Rom berichten, daß Liszt, der schon früher in eine Beziehung zu dem Orden der Franziskaner getreten, die

ihm jedoch immer noch eine Stellung in der Welt ermöglichte, allem irdischen Treiben nunmehr gänzlich den Rücken gewandt und in der Peterskirche durch

einen Cardinal die Tonsur empfangen habe.

Kurz vorher trat er zum letzten

Male zum Besten katholisch-kirchlicher Zwecke und des Peterspfennigs auf, wobei der Papst und die ganze katholische Aristokratie Ronis, darunter die daselbst

anwesenden Fremden, vor allen die Damen, zugegen waren. Das ganze Ereigniß erscheint so sehr als ein Anachronismus und hat, bei der seltenen Eigenschaft

Liszt's als Künstler und Mensch, eine so merkwürdige psychologische Bedeutung,

daß es wohl einzig in seiner Art in der modernen Kunstgeschichte genannt werden darf.

Ein eclatanteres Beispiel, daß jene Schule der fanatischen Neuromantiker

und himmelstürmenden Hypergenialen, die sich seit dem Ende der klassischen

Epoche in unserer schönen Literatur und Tonkunst mit so viel Ostentalion gebär­

det, innerlich krank ist, kann kaum gedacht werden.

Nachdem sie alle Phasen

eines auf die Spitze getriebenen Subjectivismus durchlaufen, setzt sie demselben schließlich dadurch die Krone auf, daß sie, der Strörnung eines ganzen Zeitalters entgegen, zur Ascetik des Mittelalters zurückkehrt, nur weil es ihrem individuell­

sten Empfinden so am meisten behagt. Auch bei dem genialen Richard Wagner, dem andern hervorragenden Talente der jungdeutschen Romantiker in der Ton­

kunst, gewahren wir jene Vorliebe für mittelalterliche Traditionen, nur daß fie bei ihm fich mehr jenem mystischen Sagenkreise zuneigt, welchen das christliche Element um die Zeit der Minnesänger und Troubadours im europäischen Völker­ leben Hervorries. Was Liszt am gesteigertsten vollbringt, indem er seine ganze Person und Freiheit seiner fanatisch einseitigen Ueberzeugung opfert, sehen wir

in ähnlicher Weise Wagner auf dein Felde künstlerischen Schaffens vollführen und dabei in dieselbe Sackgasse gerathen, da er seinem vorgefaßten Principe die

künstlerische Erfahrung von Jahrhunderten, alle Kunstform, ja endlich sogar alle Melodie, Polyphonie und Rhythmik aufopfert.

Den Beweis hierfür liefert die

dritte seiner „Zukunftsopern", „Tristan und Isolde", die nach unserer Meinung

weit hinter dem Tannhällser und Lohengrin zurücksteht und deren Aufführung

in diesen Tagen in München erwartet wird. Und demungeachtet ist die, wie wir überzeugt find, ganz ehrliche Selbsttäuschung des Tondichters so groß und die

zuverfichtliche Meinung von der Epoche machenden Bedeutung seiner neuesten Tonschöpfung so weit gesteigert, daß wir, um davon einen Begriff zu geben, hier den Wortlaut einiger Stellen aus einem soeben veröffentlichten Briefe Wagner's mittheilen.

Es heißt darin:

„Die Aufführungen von „Tristan und Isolde", von denen wohl drei voll­ ständig gefichert sind, werden gänzlich ausnahmsvolle und mustergiltige sein. —

-------- Um von jenen störenden Einflüssen eines täglich arbeitenden Theater-

betriebes frei gehalten zu werden, ist mir das trauliche königliche Residenztheater

zur ausschließlichen Benutzung überlassen: Alles wird in ihm sorgsam für die Bedürfnisse einer innigen, klaren und trautverständlichen Aufführung nach mei­

nen Angaben hergerichtet. — — — — Für schöne Decorationen und höchst

feine charakteristische Costüme ist mit Eifer gesorgt worden, als gälte es nicht mehr einer Theateraufführung, sondern einer monumentalen Ausstellung. Auf diese Weise wie aus der Wüste unseres theatralischen Markttreibens in die er-

frischende Oase eines unmuthigen Kunst-Ateliers entrückt, bereiten wir das Werk

einer dramatischen Aufführung vor, die, rein als solche, bei Allen die ihr anwoh­ nen werden, Epoche machen muß.-------- Wir nehmen an, daß, wer sich eine Reise nach München eigens für diesen Zweck nicht verdrießen läßt, hiermit keine

oberflächliche Absicht verbindet, sondern dadurch seine ernste Antheilnahme am Gelingen der Lösung einer bedeutenden und edlen künstlerischen Aufgabe bezeugt;

und Jeder, der sich in diesem wohlverstandenen Sinne bei der Königl. Intendanz des Hof- und Nationaltheaters in München anmeldet, wird sicher sein können,

zu der von ihm bezeichneten Ausführung einen Platz im Theater für sich auf­

bewahrt zu finden. — Wie an Fremde, roirfr an die hier einheimischen Freunde meiner Kunst eine gleichlautende und auf den gleichen Zweck gerichtete Einladung

ergehen.------------------ Ist das Problem gelöst, so wird die Frage sich erweitern, und in welcher Weise wir dem eigentlichen Volke Antheil an dem höchsten und

tiefsten auch der Kunst gönnen und zu bereiten bestrebt sind, wird sich dann eben-

salls zeigen, wenngleich wir für jetzt das eigentliche stehende Theaterpublicum unserer Tage noch nicht unmittelbar hierbei in das Auge fassen zu dürfen glauben." Mit dieser Souverainetät haben sich Goethe und Schiller auch in Briefen

an vertraute Freunde unseres Wissens niemals geäußert.

E. N.

Literarische Revue. Deutsche Romane und Gedichte. Der breite Strom bet Poesie ober vielmehr ber Belletristik — unb von biefer ist heute unsres Amtes zu reben — rauscht in vollen Wogen bahin; er überfluthet sogar bie Ufer, aber er hinterläßt nur Schlamm, Schlamm, ber nicht bie befruchtenbe Kraft ber Nilwaffer hat, beten Überschwemmungen ein Segen für bas Lanb sinb. Zu keiner Zeit hat bie poetische Literatur in Deutschlanb eine solche Probuctionskraft entwickelt, als in bet unsrigen: aber bürsen wir von Poesie im stritten Sinne bes Wottes sprechen? Gewiß nicht. Lassen wir uns nicht burch bie Maffenprobuction über bie schöpferische Kraft täuschen. Die Zeiten, in benen am meisten probucirt würbe, sinb immer bie ärmsten an tieferem Ge­ halte gewesen. „Die Masse muß es machen", biefer Ausspruch gilt am wenigsten im Bereiche ber Poesie. Die Poesie unserer Tage weiß nicht mehr, baß sie eine Kunstform ist, sie hat bie Gesetze vergessen, es fehlt ihr ber Ernst bes Schaffens, welcher weiß, baß es auch im Reiche bet Phantasie mit bet Phantasie allein nicht gethan ist, baß es im Gegentheil eines festen Kernes bebarf, an ben bie Phantasie ihre Krystalle anschießt, burch bie es aber in tausenb Lichtern sich brechenb hin­ burchleuchtet.- Dieser Mangel eines tieferen Kernes, eines sittlichen Gehaltes, bem immer in ber Kunst bie mangelhafte ober ganz mangelnbe Form entspricht, hat auch unsre Aesthetiker veranlaßt, bie Probuttion unserer Tage ganz preis­ zugeben unb sich von ihrem Amte zurückzuziehen; unb so arbeitet unsre Literatur mit ungezügeltem, hanbwerksmäßigem Fleiße fort unb zeigt trotz ber Massen, bie tagtäglich auf ben Markt geworfen werben, eine Impotenz, bie wahrhaft traurig ist. Es gilt für ben Markt zu arbeiten, bie Concurrenz zu überbieten, unb biefe Hast brückt ihr Gepräge allem auf. Wir merken überall bie Absicht unb werben verstimmt. Wer schüfe heute noch aus bem Felbe ber Poesie, um eniem innern Drange zu genügen unb nicht vielmehr einem Bebürfnisse ber ßefenben entgegen^ zukommen, einer Leibenschaft unsres Publicums zu fröhnen unb seinen Mitringenben ben Rang abzulaufen ? Wir leben heute ein rascheres Leben, als vorbem: wir probuciren beshalb arlch rascher, aber biefe rasche Probuttion kann keine Kunstwerke schaffen, sie kann es nur bis zur Kunstinbustrie bringen, welche bie Dinge bes täglichen Gebrauchs mit Formen, bie sie ber Kunst entlehnt, verschönt. Wir haben ber Kunstinbustrie stets bas Wort gesprochen, aber sie gebe sich nur

nie für die Kunst selbst aus: und so bilde sich die Kunstindustrie auf dem Boden

der Poesie nicht ein, daß sie wirkliche, volle Kunst sei; sie hat mit der Kunst ver­

zweifelt wenig zu schaffen. Denn sie weiß kaum mehr, daß die Kunst, wie thätig die Phantasie auch sein mag, doch der Formen sich nicht entschlägt, sondern daß

gerade die Form mit zu ihrem Wesen gehört. Die Styllosigkeit ist aber gerade das Wesen unsrer modernen poetischen Producte. Wir verstehen unter Styl eine

gewisse Großheit der Behandlung, in welcher eine vom Gewichte des Gegenstands durchdrungene mächtige Subjeetivität sich ausspricht, einen Fluß und Schwung,

eine Bestimmtheit der Formen, worin alles Gedrückte und Rohe verschwindet, deren Züge sich der geometrischen Regelmäßigkeit zu nähern scheinen, um alles

Lockere und Zerfahrene zu entfernen und alles ungegliedert Massenhafte zu über­ winden.

Der Styl giebt die wesentlichen und ewigen Grundzüge und tilgt das

Kleine und Gemeine.

Der sittliche Kern und der künstlerische Styl sind der

Kunst der Dichtung von heute abhanden gekommen; die strenge Kunstform ist verlassen und dem Dilettantismus Thür und Thor geöffnet, kein Wunder darum, daß sich die Unbildung selbst mit Glück auf diesem Boden bewegt und daß die Frauen, die bei all ihren liebenswürdigen und vortrefflichen Eigenschaften die

gebornen Antagonisten strengen Styls sind, sich in unserer Literatur jetzt so breit machen können.

Sie sind es, die den Fluch der Geschäftigkeit in die Literatur

gebracht, sie haben mit ihrem Fleiß den Markt überschwemmt und jene Hast des Producirens hervorgerusen, die eben das künstlerische Schafferr zu Grunde richtet. Und wenn L. Wienbarg vor dreißig Jahren sagte, die Frauen allein sollten Ro­

mane schreiben, so wird er hoffentlich von dieser ästhetischen Galanterie voll­ ständig zurückgekommen sein und die Befähigung für diese Form der Kunst, das moderne Epos,

nicht auf ein einzelnes Geschlecht, sondern auf das

specifische Talent beschränken.

„Aber gerade dieses specifische Talent

be­

schränkt sich auf so wenige Namen, und diese wenigen lassen sich mehr als sie wollen von der allgemeinen Strömung mit fortreißen.

Wir sehen sie in

Bahnen einlenken, die von ihrer ursprünglichen Richtung, welche eine künstlerische, dem Ideale zugewandte war, vollständig divergiren, sehen sie durch die Massenproduction der Andern in den Strudel fortgerissen, um endlich auf der Höhe jener verdächtigen Beliebtheit anzukommen, welche ihren Werth nach dem Leip,

ziger Saldo bemißt.

Und welche Branchen des Romans verzeichnet dieser Leip­

ziger Saldo mit den größten Ziffern? Die Dorfgeschichte, welche noch vor weni­

gen Jahren in voller Blüthe stand, ist durch den Zusatz von soviel Verbrechen,

als sie nur irgend ertragen kann, aus der Dorfidylle zum Dorfcriminalroman geworden: der enge Rahmen der-Erzählung genügt ihr nicht mehr, sie muß sich

mit ihren aufgezwungenen Intrigen zur Breite eines Romans ausspinnen. —

Aus den Geheimnißromanen der Städte hat sich die Criminalgeschichte entwickelt: aus den Polizeigeschichten, denen das Verbrechen Selbstzweck, die es nicht als

Mittel benutzen, ist der Criminalroman herausgewachsen, der eben, weil er das R-rdische Revue. IV. 2. Heft. 1865.

16

242

Literarische Revue.

Mittel als Zweck setzt, von der Kunst ganz absieht und nur das gemeine Bedürf­ niß der Aufregung, des epileptischen Kitzels befriedigt.

In eine vornehnre Welt

verlegt und mit dem haut gout unserer sogenannten „Gesellschaft" versetzt, führt

der Criminalronian den Titel des Sensatioilsromans, in welchem die ailgesehensten, feinsten uub liebenswürdigsten Menschen mit einem unsichtbarerr Strick um

den Hals sich in der großen Welt bewegen, bis sie dem Arm der Gerechtigkeit ver. fallen, der Polizei, vor der jede Aesthetik einen angebornen Horror hat.

Die vierte

Phase, welche alle diese Elemente in sich vereinigen kann, die aber doch auch häufig sich in einer bessern, ursprünglicheren und natürlicheren Welt bewegt, die

noch nicht von unsern modernen Zuständen angefault ist uub darum ganze un­ gebrochene Naturen zeigt, ist der ethnographische Roman, der uns die Welt jen­ seits unserer weiteren Grenzmarken iln Spiegelbilde einer Geschichte bietet, aber,

wie das der Stoff mit sich bringt, gar zu leicht die Scenerie über die Geschichte

des Individuums überwiegen läßt und das Ganze in lauter Detail zersplittert.

Angeregt durch den colossalen Erfolg, den der Memoirenromail errang — so müssen wir den falschen historischen Roman der Mühlbach und Consorten nennen

— angeregt durch diesen Erfolg, suchten die großen Reisenden die Resultate ihrer Wanderungen auch noch aus diese Weise zil verwerthen, nicht wissend, daß es

nicht bloß einer Summe von Anschauungen und einer dadurch bereicherten Phan­ tasie bedarf, daß das künstlerische Formtalent der Phantasie das Gleichgewicht halten muß: und so rächte sich die Zufälligkeit, die sie in diese Bahn warf, durch eine Zerfahrenheit, Regellosigkeit und Styllosigkeit, welche das Kunstwerk als solches zerstört, während allerdings dem Roman ein anderes Verdienst nicht ab­

gesprochen werden kann, das der Belehrung.

Den gleichen Zweck verfolgt der

historische Roman, den wir oben aus den bescheidenen Titel Memoirenroman reducirt haben, und wo er auch nicht denselben Zweck verfolgt, verdankt er ihm doch seinen großen Erfolg. Die sogenannte „gebildete Welt" glaubt ihre mangel­

haften historischen Kenntnisse zu vervollständigen, die Lücken auszusüllen und sich

Ueberblicke zil verschaffe.«, iirdem sie das eifrig liest, was man ihr als historischen

Roman bietet und was doch eben darin seine Lüderlichkeit zeigt, daß es weder Wahrheit noch Dichtung ist. Durch die historischen Belege, mit denen es in seinen

Anmerkungen prunkt, sagt es uns eben, welch kleines Korn Wahrheit und wie viel Erfindung wir bekommen.

Statt uns dadurch auf sicherem, historischem

Boden zu fühlen, werden wir eben durch jene Belege jeden Augenblick an die

freie Luft gesetzt, in der wir mit unserem historischen Gewissen zappeln, bis uns wieder eine mitleidige Note auf eine Secunde Boden fassen läßt.

Nirgends ist

uns das Verkennen des Wesens der Poesie so ins Auge gesprungen, als gerade

hier beim Memoirenroman, der das Hauptgesetz des historischen Romans, daß der Held nicht eine historische Persönlichkeit sein darf, geradezu umstößt und die

historische Persönlichkeit nur um so auffälliger in die Mitte stellt. Der abnormste Auswuchs des historischen Romans, der blos biographische Roman, der aller

Kttnstform spottet, hat wegen seiner Fingerfertigkeit, Geschäftigkeit und Pietät­ losigkeit schon so viel Spott imb Hohn über sich ergehen lassen müssen, die lite­ rarischen Handlanger,

die ihn sabriciren,

haben sich so sehr um allen künst­

lerischen Credit gebracht, — denn hier fühlt Jeder instinctiv, die Kunst hat ein

Ende und das Handwerk fängt an, — daß wir uns eines weiteren Anathems überhoben glauben. Der psychologische Roman und der historische Roman ist auf ein Minimum herabgesunken; aber die Wenigen, die ihn cultiviren, haben eine stille Gemeinde nm sich versammelt, die es, und das will heutzutage viel sagen,

für ihre Ausgabe hält, auch dem Werke, das scheinbar blos auf Unterhaltung zielt, eine ernstere Seite abzugewinnen, nicht blos pathologisch die Geschichte auf sich wirken zu lassen, sondern dem Dichter in die Werkstätte seines Schaffens zu

folgen und die Fäden des kunstvollen Gewebes auszulösen, um sie durch die Phantasie wieder 311 verbinden.

Diese Gemeinde der „Geistigen" hat bei dem

Erscheinen des Freytag'schen Romans: „Die verlorene Handschrift" ein Fest ge­ feiert.

Wir geben hier über dieses vielbesprochene Werk kein Urtheil ab, wol­

len aber constatiren, daß dasselbe — um uns eines Theaterausdrucks zu bedienen — das literarische „Ereigniß der Saison" war, mit dessen Erfolg sich kein an­

derer messen kann.

Von Paul Heyse fallen in die letzte Periode mir neue Auf­

lagen seiner „Neuen Novellen" (die fünfte), und der „Meraner Novellen" (die

zweite).

Paul Heyse, der auf der einen Seite seine Natur so glücklich erkannt,

daß er von der Novelle sich nicht zur Ausbreitung des Romans verführen ließ,

eine Versuchung, der so wenige widerstehen, daß wir beinahe keine ächte Novelle mehr zu lesen bekommen, statt dessen aber um so mehr Romane, deren Stoff kaum zu einer Novelle ausreicht, — Paul Heyse hat auf der andern Seite neuer­

dings seine Neigung mehr und mehr dem Drama zugewandt, aus welchem Boden

er eben doch nur Novellen schafft, während seine Novellen gerade soviel Drama­ tisches besaßen, als die Novelle bei ihrem beschleunigten, zu rascherer Lösung drän­

genden Gang ertragen kann.

Gustav vom See (G. von Struensee), den wir

unsern besten Erzählern beirechnen können, und der durch den tieffittlichen Kern, den ruhigen klaren Gang und die edle Darstellung für sich gewinnt, hat in seiner

„Gräfin und Marquise" (Leipzig, Günther) ein Bild voll ergreifender Farben aus jener vornehmen Welt, die er mit besonderer Vorliebe schildert, gegeben. Der Lebensernst des ältern Mannes von hoher Stellung zeichnet sich auf jeder Seite ab.

Eine Lectüre für die Feingeistigen, nicht für den Lesepöbel.

Ihm

nahe steht der Culturhistoriker W. H. Riehl, der mit seinen „Geschichten aus alten Zeilen", die in zweiter Auflage (Stuttg., Cotta) erschienen, vergangene Jahrhunderte vor uns zaubert und den innern Zusammenhang scheinbar zer­

streuter Elemente an der Hand der Culturforschung nachweist.

Trotz aller Ge­

lehrsamkeit ist Riehl doch ein ganz liebenswürdiger Erzähler, der die Goldbarren seines Wissens flüssig zu machen versteht.

Müller von Königswinter hat aus

den Künstlerkreisen, in denen er sich seit lange literarisch bewegte, einen Schritt

244

Literarische Revue.

in die naive Welt des Landlebens gethan — es mit der Dorfgeschichte versucht, in diese aber so viel städtische Elemente hineingetragen, dieser Welt so viel von

des Gedankens Blässe angekränkelt rmd Conflicte hervorgerufen, die ihr so fremd find, daß wir der Gabe nicht herzlich froh werden können, wenn wir auch dem

geschickten Darsteller mit Interesse folgen. Die Dorfgeschichte ist schon mit soviel criminellen Elementen versetzt, daß wir den glücklichen Lyriker mit Bedauern ans diesem Wege erblickten.

Alsr. Meißner hat einen Judenroman: „Lemberger

und Sohn" (Berlin, Janke) zur Romanzeitung gesteuert und besonders edirt. Unwillkürlich vergleichen wir diese Prager Judengeschichte mit Komperts Ge­

schichten einer Gasse, welche zugleich auf unserm Tische liegen, da wir gerne

wieder und wieder in ihnen blättern, aber wir müssen sie hinter die letzteren zurückstellen.

Keiner hat wie Kompert das Judenthum so bis in seine feinsten

Aederchen hinein mit anatomischer Schärfe verfolgt und doch ein so lebensvolles Bild davon gegeben.

Der Meißner'sche Roman, der sich im Prager Ghetto ab­

spielt, hat uns weder die eigenthümliche Färbung jenes romantischen Quartiers

zu geben gewußt, weder die Scenerie, noch die ausgeprägten Charaktere der

Judenstadt, wie sie uns in des Deutschen Kompert und des Dänen Goldschmidt Erzählungen nach der ernsten, wie der humoristischen Seite entgegentreten.

Es

war ein äußerer, kein innerer Trieb, der den trefflichen Meißner veranlaßte, seiner Erfindung gerade den jüdischen Rockelore umzuhängen.

Alfred Hartmann, der

elegante schweizer Feuilletonist, der sich so liebenswürdig in modernen Kreisen

bewegt, wählt für seine novellistische Darstellung gern frühere Zeiten und ist nun auch mit einem großen historischen Roman: „Junker und Bürger" (Berlin,

Janke) hervorgetreten, der die letzten Tage der alten Eidgenossenschaft, die Jahre 1797 und 1798 zum Vorwurf hat und den weltgeschichtlichen Hintergrund mit

ebenso kecker, als die Figuren mit plastischer Hand darstellt.

Hans Wachen­

husen, der unruhige Tourist, der seine Koffer stets gepackt hat, um aus den Schau­

platz der „Actnalität" zu eilen, trägt von diesem unruhigen Wesen auch in die

epische Darstellung mehr hinein, als diese vertragen kann.

Hier in diesem „Zi-

geunerblut" (Berlin, Domino) durste schon eher von dem Blute rollen, das die

Natur dieses Volkes und des Dichters ist.

Wachenhusen ist bei den Franzosen

in die Schule gegangen und hat ihnen ihre besten Seiten abgelauscht: nach und

nach neigt er mehr auf die deutsche Seite. ganz Franzose.

In der Ueberproduction ist er noch

Sir John Retcliffe, unter welcher englischen Baronetage sich

ein Berliner Doctor, der Schwiegersohn des Hofrath Schneider, verbirgt, der

aus den reichen Mappen, die er dem König unterbreiten muß, das Material zu den Romanen seines Schwiegersohns liefert, welcher allerdings die Franzosen

und Engländer an Phantasie weit hinter sich läßt und jene guillotinenhaste

Spannung der Capitelschlüsse zu einem System ausgebildet hat. Sir John Ret­ cliffe hat wieder eine Actualität für den Roman verwerthet, indem er seine neuste

Erdichtung — Dichtung wollen wir nicht sagen — „in Puebla" spielen läßt.

So heißt der Roman, der in Lieferungen, statt in einem Feuilleton erscheint (Berlin, Liebrecht).

Den politischen Eroberungen folgen jetzt immer auch die

poetischen Usurpationen, ohne sich jedoch so lange wie jene zu halten.

Denn ge­

rade durch das Anschließen an die Zeit behaupten sie sich auch nicht länger aus unsern Büchertischen, als bis die politische Wetterfahne sich nach einer andern

Richtung dreht.

Den großen Magen der Leihbibliotheken füllen Romane, wie

Cubasch's „Salvator", eine Berjüngimgsgeschichte (Leipzig, Schlicke), F. Gleich's „Eine Dame ails der großen Welt", dessen Verfasser wir früher schon unter einem

Pfeudonyin begegnet sind.

Herrn Schiff's „Damenphilosophie" verbirgt unter

ihrem wunderlichen Titel „Novellen aus der aristokratischen Welt" (Hamburg, Richter), bekanntlich aber würden wir in dieser „Welt" niemand weniger suchen,

als den Verfasser. Johanna Conradi hat in ihrem „Georg Stein" (Riga,Kymmel)

den Gegensatz zwischen Letten und Deutschen zu einer recht hübschen, obgleich anspruchslosen Erzählung aus der Gegenwart Kurlands verwerthet. Die Sitte, in Zeitschristen zerstreute Novellen zu sammeln, hat in bedenk­

licher Weise überhand genommen und schwellt die Literatur auf eine wenig er­

bauliche Weise an. In einer Zeitschrift liest sich oft etwas ganz angenehm, was im Buche sich prätentiös ausspreizt und ungenießbar wird; namentlich aber da­

durch widerwärtig ist, daß wir rinwillkürlich uns verführen lassen, den ganzen

Band durchzulesen und den Essect des Einen durch den des Andern zu verderben. Ludw. Eckart, der bekannte politische Reijeprediger, der sich mit dem badischen Hofe jüngst überworfen, hat seine Novellen unter dem Hutten'schen Titel: „Ge­ fallene Würfel" gesammelt (Mannheim, Schneider). Die Phrase, politische, wie poetische, herrscht auch hier wie in seinen übrigen öffentlichen Manifestationen

und literarischen Arbeiten vor.

Die Geschichten, die mit dem Deutschthum und

dem weiblichen Geschlechte cokettiren, in dessen Hände er die Zukunft legt, ver­

mögen nicht warm zu machen; seine Helden sind hohl, obgleich sie mit Tendenz vollgepfropft sind. Lor. Dieffenbach giebt uns in seinem zweiten Cyclus „Novel­

len" (Frankfllrt, Sauerländer) sauber gearbeitete Bilder, denen aber die pastose Kraft des Oelmalens fehlt und die mehr die glatten, aber anziehend weichen

Formen des Porzellanbildes zeigen.

Durchaus anspruchslos sind die kleinen

Geschichten und Novellen, welche der Walliser Arzt Ferd. Hofstätter in seinem

„Berg und Thal" (Zürich, Meyer) aus seiner Heimath bringt. die im Dialekt erzählten Geschichten sehr gelungen.

Namentlich sind

Die trefflichen „Schubert­

novellen" von Ottfried (Jnnsbr., Wagner) haben eine zweite Auflage, nicht um des Helden allein, sondern um ihrer selbst willen verdient. — An fromme Ge­

müther — also Tendenzrichtung — richtet die Gräfin A. Schwerin ihre Er­

zählung in Briefen: „Theuer erkauft!" (Berlin, Fünshausen). Von größeren No­ vellensammlungen bietet sich uns vor allem eine Gesammtausgabe von Edmund Hösers Erzählungen, welche in zwölf Bänden (Stuttg., Krabbe) erscheint. Höser ist durch das neue Terrain, das er anbaute, durch die eigenthülnlich düstre Fär-

246

Literarische Revue.

bung seines Horizontes, durch die eckigen, struppigen Charaktere seiner Lieblings­ kreise, aus welchen Factoren fich seine spannenden Geschichten ausbauten, die

das unheimliche Element so glücklich benutzten, zu einem der beliebtesten Erzähler der Neuzeit geworden und eine Gesammtausgabe der kleinen Geschichten „im

Format der Classiker" dars deshalb auf ein großes Publicum rechnen, namentlich

bei dem mäßigen Preise.

Aber wir sehen zuletzt vor lauter Classikern unsre

eigne LiteraNlr nicht mehr.

Theodor Mügge's Nomansammlung (Breslau, Tre-

wendt) geht ihrem Ende entgegen; für einzelne seiner Romane hat sich doch noch

viel Interesse gezeigt und wir werden ihnen gerne eine Stelle in unsern Bücher­ regalen anweisen, was wir gerade nicht von vielen Romanen der Gegenwart

sagen möchten.

Wie viele werden jetzt noch im vierten, fünften Jahre nach dem

Erscheinen gelesen? Es ist eine so ephemere Literatur, daß den Kritiker hier und da ein Schauer überläuft, wenn er den Büchertisch überblickt!

Auch K. Herlos-

sohn's Schriften (Romane) erscheinen in einer Gesammtausgabe (Prag, Kober).

Die belletristische Uebersetzungsliteratur schmilzt mehr und mehr zusam­

men: während sie noch vor wenigen Jahren den Markt mif eine Weise über­

schwemmte, daß sie die Originalproduction zil erdrücken drohte, wird die Nach­ frage nach dieses „ausländischen Papieren" immer schwächer und das „einhei­

mische Papier" steigt im Werthe.

Mancherlei Factoren mögen dabei thätig ge­

wesen sein: wir wollen glauben, daß der nationale Aufschwung der letzten Jahre das Auge für den eignen Werth geöffnet, und dies ein Factor gewesen, allein es darf auch nicht übersehen werden, daß uns gegenwärtig im Auslande Namen

wie Boz, Bulwer, Cooper, Marryat, Sue, Dumas, Bremer, Carlen, aus denen man sonst ein „Belletristisches Ausland" aufbauen konnte, geradezu fehlen, und

wir.uns nur mit Namen zweiten Ranges behelfen müssen.

Die demokratische

Schwedin Marie Sophie Schwartz, welche den Kamps gegen die Aristokratie der Geburt und des Geldes eingegangen und mit ihrem derben Realismus ganz die

Stimmung der Gegenwart trifft, — nur sie vermochte den Blick noch auf das Aus­

land gerichtet zu halten.

Endlich ist der deutsche Roman auch pecuniär zligäng-

licher geworden und das ist ein nicht hoch genug anzuschlagender Factor.

Der

franzöfische Vertrag, der mit diesem Jahre ins Leben tritt, wird den Dingen

überdies noch eine ganz andere Wendung geben.

Wir werden nur legitime

Uebersetzungen bekommen und — was wir als Hauptgewinn betrachten, nur

gute Uebersetzungen.

Die zur Hast treibende Concurrenz fällt weg und bei dem

hohen Preis, den der Verleger fordern kann, da er seine Waare nicht mehr im Abstreich verkaufen muß, dürfen wir auch andre Anforderungen stellen.

Wir

werden anständig ausgestaltete, fleißig gearbeitete, elegante Uebersetzungen er­ halten, und ein anständiger Schriftsteller wird sich wieder unter den Ueberfetzern

sehen lassen können, während die Fabrikarbeit den Namen brandmarkte.

Von

elf Uebersetzungen, die uns vorliegen, ist eine einzige dem Französischen entnom­

men, „Die Nonne" (Hamb., Ausl.), ein kirchlicher Tendenzroman vom Verfasser

des bekannten „Maudil“.

Sechs Romane stammen aus Englund: „Beatrice" von

Miß Kavanagh, jener feinen Erzählerin, welche vom Gouvernantenroman eman-

cipirt, nun in freieren Elementen schafft und immer eine psychologische Studie mit wenig Mitteln, aber um so tiefer fesselnd durchzuführen weiß.

Geradezu

als Muster des psychologischen Romans mögen wir ihre Rolllane bezeichnen, die

mit ihrem kleinen äußern Apparat und ihrer ganz aus das innere Leben be­

schränkten Entwicklung den directen Gegensatz zum Sensationsroiuan bilden, den die Engländer eben jetzt cultiviren: W. E. Braddon in „Henri Dunbar" iinb der „Frau Doctorin" (Leipzig, Günther), Mrs. Wood in den „Grafentöchtern" (Dresden, Wolf), Brooks in „Ernst Adair" (Leipzig, Günther); Ant. Trollope's

„Orley Farm" haben wir in einer trefflichen Uebersetzung von H. Atarggraff's

Tochter (Leipzig, Günther) erhalten. Wenige Tage noch vor seinem Tode schrieb

und M. von diesen gediegenen Arbeiten seiner Tochter Clara mit großer Freude, mit glücklichem Vaterstolz.

Von der oben genannten Schwedin Schwartz er­

scheinen zu gleicher Zeit zwei Ausgaben, eine autorisirte bei Brockhaus in Leip­

zig, eine nicht autorisirte bei Franckh in Stuttgart.

Eine andre Schwedin, die

einen berühmten Namen trügt, mit dem sie in verwandtschaftlichen Beziehungen steht, Rosa Carlen, hat eine Criminalgeschichte „Die Hochzeit in Brünna" über

den Sund geschickt.

Aus der jungen norwegischen Literatur, die sich erst die

Flügel wachsen lassen muß, bringt Helms einen Roman: „Weibcrlist" von I. Dehn (Leipzig, Gerhard). — Die Lyrik steht in vollster Blüthe, obgleich Fr. Vischer schon in Heine den

geistreichen Verwesungsproceß erblickt. Durchblättern wir A. Levysohn's Rand­

zeichnungen:

„Jüngstdeutsche Lyrik" oder E. Kneschke's treffliche Sammlung

„Deutsche Lyriker", welche die lyrische Literatur nach 1850 umfaßt — wir stau­ nen über die Masse bekannter Namen, die sich bei den großen Revuen, welche die Blätter sür literarische Unterhaltung jedes Jahr mit bewundernswürdiger

Ausdauer vornahmen, eine höhere Rangauszeichnung erworben haben und den

goldenen Kragen der Miniaturausgaben tragen.

Schon zu den Alten zählt Fr.

Rückert, dessen Gedichte in der Sauerländer'schen Auswahl die 14. Auslage erlebt,

ein Zeichen, daß sein Liebesfrühling mit jedem Jahre neu erwacht.

Aus dem

Nachlasse eines Verstorbenen: L. Bechstein, hat man ein kleines Epos „Thürin­ gens Königshaus", die Huldigung eines dankbaren Dichters (Leipz., G. Wigand)

herausgegeben.

I. Rodenberg's Gedichte (Berlin, Seehagen) haben wir bereits

in dritter Auflage vor uns liegen: die außerordentlich glückliche Behandlung

der Sprache, welche die alten, ewig neuen Gedanken und Gefühle in anmuthige

Gewänder zu hüllen weiß, daß die prächtigen Formen verlockend noch immer durchschimmern, die Saiten, die er besonders im Frauenherzen anzuschlagen ver­ standen, haben ihn nicht mit Unrecht zu einem Lieblingsdichter der Jugend und der Frauen gemacht.

Franz Koppel hat in seinem „Cervantes auf der Fahrt"

(Stuttg., Kröner) zum großen Theil im spanischen Romanzenrhythmus und mit

Literarische Revue.

248

dem besten Wunsche sein Vorbild, Heine, zu erreichen, kurz mit wenig Witz und

viel Behagen ein Liebesabenteuer des Dichters des Don Quixote in Rom darzu.

stellen versucht.

Er ist aber unterwegs der kleinen Aufgabe erlegen; so glücklich

der Ton anfangs, so bald erlahmt der Dichter airch, es ist, als ob ihm der Arm abgehauen würde, wie seinem Helden.

Das Drama ist in der Literatur ebensowenig, wie auf der Bühne, in dieser Saison nur zu etwas Erfreulichem gediehen.

ephemere Erscheinungen aufgetaucht.

Im Lustspiele sind kaum einige

Hackländer

sucht seinen „Verlorenen

Sohn", der auf der Bühne keinen durchschlagenden Erfolg hatte, durch den Druck

(Stuttgart, Krabbe) für die Literatur zu retten. Aber das gedruckte Drama, das

nicht zur Ausführung kommt, bleibt dem Publicum gegenüber so gut Manuscript,

als den Bühnen, und unsre Dichter brauchten wahrhaftig sich gegen die letztern nicht mehr mit einem Verbot zu panzern, sie könnten sich häufig freuen, wenn ihre Stücke selbst räuberischer Weise aufgeführt würden.

Wir haben in unserer

Revue der gedruckten Stücke noch des vierten Bandes von Langers „Volksstücken" (Äien, Dirnböck), Libnau's „Episode aus dem Jahre 1813" und „der Kurfürst

und die Pächterin", zweier Lustspiele (Berlin, Rohn) zu gedenken; sowie einer dramatischen Bearbeitung von Hackländer's „Augenblick des Glücks", welchem Roman der Verfasser indessen selbst den specifisch dramatischen Nerv abgesprochen

haben muß, da er ihn sonst bei seiner Neigung zum Drama gewiß selbst bear­ beitet hätte.

Endlich sei noch der beiden Sammlungen erwähnt, welche Paul

Heyse und Rud. Gottschall von ihren dramatischen Dichtungen begonnen, der Eine

bei Hertz in Berlin (bis jetzt drei Bändchen, welche „Elisabeth Charlotte", „Maria

Moroni" und „Hadrian" enthalten), der Andere bei Brockhaus in Leipzig (bis jetzt zwei Bändchen mit „Pitt und Fox" und „Mazeppa").

vermischte Mittheilungen.

Das Paradeisspiel in Oberftanken. Wir erhalten aus Bamberg folgende Zuschrift: „Sie haben im Februar,

hefte der „Nordischen Revue" die Weihnachtsspiele im böhmischen Erzgebirge erwähnt und dabei auf deren Aussterben hingewiesen.

Es ist ein allgemeines

Gesetz, daß derlei Volkssitten vor dem nivellirenden Strome unserer Zeit ver^ schwinden; auch ich kann Ihnen aus unserm an eigenthümlichen Volksbräuchen

und Volkstrachten noch sehr reichen Oberfranken einen Beleg hierzu liefern. Ohne daß etwas neueres, besseres an die Stelle tritt, entweicht überall die Poesie aus unserm Volksleben. Die Paradeis spiele, welche um die Weihnachtszeit in Obersranken und

namentlich in dem Orte Taujchnitz aufgeführt wurden, leben auch nur noch in

der Erinnerllng.

Sie bestanden aus zwei Theilen.

Der erste behandelte den

Sündenfall. Der Teilfel führt den durch ihn verlockten Adam vor Gott und ver­

langt seine Befreiung.

Die Barmherzigkeit spielt die Vermittlerin und der Hei.

land übernimmt die Sühnung der ewigen Strafe, während die zeitliche, der Tod, vorn gefallenell Menschenkinde unabwendbar ist.

jene ewige Sühne aus.

Der zweite Theil drückt

Er stellt das Spiel vorn guten Hirten dar, welcher mit

dem als Jäger verkleideten bösen Feinde den Wettkampf eingeht, um eine junge Schäferin zu gewinnen.

Die Jungfrau, angelockt von den irdischen Freuden,

ergiebt sich, trotz der Warnungen ihres guten Engels, dem Jäger. fällt sie dem Tode.

Damit ver.

Aber Schmerz und Reue erfassen sie im letzten Augenblicke

und ihre Hoffnung auf Gnade wird nicht 311 Schanden.

Der gute Hirt entreißt

sie der Gewalt des bösen Feindes und Gott der Vater vergiebt ihr. Dieser zweite Theil des Spieles ist in der Erinnerung des Volkes bereits

verloren gegangen.

Was von dem ersten in der Tradition noch lebt, sammelte

Eduard Fentsch und theilte es int dritten Bande der „Bavaria" mit.

Nach ihm

waren die Spielenden Gott Vater im weißen Gewände mit ehrwürdigem Flachs­

barte und dem Scepter in der Hand; ein junger Cherub, gleichfalls weiß ge­ kleidet, mit goldenem Schwerte und rother Schärpe, während Gottes Schärpe

blau war.

Adam und Eva hatten weißlinnene Hemden über ihr gewöhnliches

280

Vermischte Mittheilungen.

Gewand angezogen und nicht minder war auch beim Chorus die weiße Gewand­ farbe vorherrschend.

Einer aus dem Chore trug den Baum der Erkenntniß,

ein Christbäumchen mit etlichen Aepfeln behangen.

Der Satan mit Hörnern

und Schweif bildet den Schluß.

So wanderte die aus jungen Burschen bestehende Truppe, sobald es an.

fing zu dämmern, von Haus zu Haus und ward gern empfangen.

Da ward

zuerst ein Kreis um den Paradeisbaum geschlossen und der ganze Chor hob an zu fingen:*)

„Wir wollen eins fingen von himmlischer G'schicht, Wie Adam und Eva erschaffen ist. Gott hat fie erschaffen ganz nackend und blos. Den Adam aus einem Erdenklos.

Er setzt fie miteinander ins Paradeis Und gab ihnen alle die Früchte preis. Nur eine hat er ihnen verboten: Sie sollten den Apsel nicht verkosten.

Die Eva war ein naschhafte- Weib, Sie brach den Apfel wohl von dem Zweig.

Wohl von dem Zweig, wohl von dem Ast, Wo Adam und Eva darunter saß." Hierauf schwieg der Chor.

Eva trat an den Baum in der Mitte, nahm

einen Apfel, aß davon und winkte Adam, ihm den Rest der verbotenen Frucht

anbielend.

Dieser folgte auch der Lockung mit den Worten:

„Deinetwegen

nehme ich auch einen Bissen!" Dabei war Satan mit anspornenden und ver­ führerischen Worten und Geberden fortwährend thätig, bis die Sünde begangen

war.

Nun erschien Gott Vater;

Satan selber übernahm die Rolle des An­

klägers, worauf denn die Scene dem biblischen Texte entsprechend ihren Verlauf nahm, und mit der Verweisung aus dem Paradiese endete.

dem Schwerte trat auf;

Der Cherub mit

in Reue und Schmerz mußten Adam und Eva den

Mittelraum verlaffen und hinter den Chor treten, der alsbald wieder mit seinem

Gesänge einfiel.

Die Parabase im Stil der einleitenden Verse enthielt nicht nur

Moral und Nutzanwendung, sondern auch die Hinweisung auf die ewige Gnade

*) Dieses Lied erinnert stark an ein noch heute in Deutschland gesungene-, welche- beginnt: Als unserem Herrgott die Zeit ward zu lang. Da schuf er den Adam ans einem Stück Land. Anmerk, de- Einsender-.

Vermischte Mittheilungen.

251

und Barmherzigkeit und auf einen nachkommenden Act der Versöhnung, bis end.

lich der Vers: „Und wenn wir nm'S Zahr 'mal wieder nmstnga So woll'n wir einander in Freuden finna (finden)"

den Schluß des Spiels ankündigte.

Allenthalben wurde es mit großer Er.

bauung angehört und verlief selten ohne Thränen der Zuschauer. Hierauf wurde der Paradeis-Chor je nach Können inib

Vermögen mit Geld oder Lebens,

mitteln beschenkt, und Gott Vater nlachte den Einsammler. Der Erlös aber ward zum Theil für wohlthätige Zwecke verwendet, zilm Theil aber verbrauchten ihn die Spielenden selbst."

Verantwortlicher Redacteur: Dr. W. Wolfsohn in Dresden. Druck und Verlag von Carl B. Lorck in Leipzig.

K.

Anzeigen. In der Matth. Nkieger'schen Universitäts-Buchhandlung in Mü nch en erschien soeben, und ist in allen Buchhandlungen zu haben: i,

Geschichte der kirchlichen Trennung zwischen dem

Orient und Oceident von den ersten Anfängen bis zur jüngsten Gegklrwarr. Von Dr. A

Pichler,

Privntddcenlen der Theologie an der Universität München.

II. (Schluß-) Band. M it

Namen- und

Sachregister.

II. Bd. 52 Bogen, gr. 8°. drosch. Preis Thlr. 4. 10 Ngr. I. Bd. (Byzantinische Kirche.) 36 Bogen, gr. 8°. Preis Thlr. 3. 6 Ngr. Der II. Bd. dieses Werkes behandelt 1) die Russische Kirche, 2) die Helle­ nische, 3) die Nestorianische, 4) die Armenische, 5) die Jacobitische, 6) die Koptische und Abessinische, 7) die Maronitische, 8) die neuere protestantische Mission in der Levante. Der darauf folgende II. Theil enthält die „Historisch-dogmatische Darstellunb des Papstthums gegenüber der Auffassung desselben durch die Orientalen" in drei Abschnitten: 1) der Primat und die Kirche, 2) der Primat und die Patri­ archen, 3) der Primat und das Dogma. In letzterem Abschnitte werden die ver­ schiedenen Theorien über den Umfang der Papstgewalt vom Beginne des 16. Jahr­ hunderts — die früheren enthält der I. Bd. — bis auf die allerjüngste Gegenwart herab vollständig dzucgestellt, nämlich die Ansichten aller bedeutenden Theologen über die zeitliche Gewalt des Papstes, über sein Verhältniß zu den Bischöfen, den Canonen und Concilien und über die päpstliche llnfehlbarkeit. Ueber den I. Bd. haben sich bereits Stimmen der drei christlichen Bekennt­ nisse mit großer Anerkennung ausgesprochen. Unter den Griechischen Blättern sagt die am Weitesten verbreitete, zu Triest erscheinende „Klio": „Pichler ist von allen katholischen Theologen der erste, der, obwohl am katholischen Dogma strenge sesthaltend, die Geschichte des Schismas mit llnbefangenheit darstellt, an welcher Möglichkeit wir nach den bisherigen Auffassungen von Maimbnrg bis Tosti schon fast verzweifelt hatten." Die „Nordische Revue", Dezemberhest 1864, schließt ihre Kritik mit den Worten: „Wir können der verdienstvollen Arbeit des Verfassers keine bessere Wirkung wünschen, als daß sie in diesem Sinne auch in weitesten Kreisen belehre und anrege."

Verlag der Fr. Hurter'schen Buchhandlung in Schaffhausen.

Der Insurgent. Bon

Äugust Lewald. (Historischer Roman aus der neuern polnischen Zeitgeschichte.)

Zwei Bande,

ff. 5. 48.

Rthlr. 3. 1«.

Zu beziehen durch alle Buchhandlungen.

3.

Ausgrabungen in Südrußland. Von Dr. Paul Becker.

Die Grabhügel der pontischen Steppe sind unter den Fundstätten von Alterthümern nicht die unwichtigsten, aber man muß sie zu den unbekannteren zählen.

Obgleich es, seit den verdienstvollen Arbeiten

des berühmten Akademikers Köhler, an Beschreibungen der in Kertsch

und seiner nächsten Umgebung aufgefundenen Gräber und der in ihnen entdeckten Alterthümer, von denen alles Wichtigere in die kaiserlichen

Sammlungen der Residenz kam, obgleich

durchaus nicht gefehlt hat*),

und

außerdem über die Ausbeute der jährlichen^Grabungen von

dem Director des Kertscher Museums ein eingehendes Journal geführt

wurde, so haben doch die dahin gehörigen Berichte keine große Ver­

breitung gefunden.

Dazu hat der Umstand beigetragen, daß der eine

Theil der hierher gehörigen Schriften, weil in russischer Sprache ge­ schrieben, dem Auslande ganz fremd geblieben, und der andere, wenn auch französisch oder deutsch abgefaßt, doch nur ausnahmsweise über

die Grenzen des Inlandes hinausgekommen ist.

Aber auch in Ruß­

land selbst war es immer außerordentlich schwierig, über die Grabungen

und deren Resultate ganz sichere und vollständig befriedigende Nach­ richten einzuziehen, zumal da das Kertscher Journal, eigentlich blos

für eine Abtheilung int Ministerium des Innern bestimmt, nur aus-

*) Ich erinnere «n die Arbeiten von Koppen, Dubois, Sabatier, Mnralt, Köhne, Aschik, Seontieff, Becker, vom Fürsten Sibirski, vom Grafen Ouwarvff, sowie an die Memoiren der Petersburger nnd der Odessaer archäologischen Ge­ sellschaft. Nordische Revue. IV. 3. Heft. 1865.

17

254 nahmSweise

Ausgrabungen in Südrußland.

den gelehrten Gesellschaften, und diesen auch nicht voll­

ständig mitgetheilt zu werden pflegte.

Um so freudiger begrüßte daher

gewiß jeder Freund der Wissenschaft und Kunst das Erscheinen eines großen Prachtwerkes*) in zwei mächtigen Foliobänden,

welches die

Alterthümer des kimmerischen Bosporus, die in der kaiserlichen Ermitage aufbewahrt werden, mit Sachkenntniß bespricht und die interessantesten in Abbildungen dem Auge vorführt.

In der Einleitung dieses mit

vielem Geschmack und großer Pracht ausgestatteten Werkes wird eine geschichtliche Zusammenstellung über die in der Nähe von Kertsch ge­

machten Grabungen gegeben, unter denen die Aufdeckung eines Tumulus, welcher bei

den Tataren Kal-Aba (Aschenberg) heißt, von besonderer

Wichtigkeit ist.

Schon die Construction der Grabkammer und des zu

ihr führenden Ganges hat

— nur

in

kleinerem Maßstabe — die

größte Aehnlichkeit mit dem Bau des sogenannten Schatzhauses des

AtreuS zu Mykene, welches jedoch, wie die im Kal-Aba gemachten Funde beweisen können, für ein KönigSgrab gehalten ist und als solches von den neueren Forschern auch anerkannt wird.

Denn daß die im Kal-

Aba im Jahre 1830 entdeckte Grabkammer, die sich bis dahin unver­

sehrt erhalten hatte, eine königliche Gruft gewesen sei, ergiebt sich offen­ bar aus den vielen

unter denen

werthvollen,

daselbst gefundenen Gegenständen,

zwei königliche Diademe aus Gold

und zwei silberne

Skepter nur einem königlichen Paare angehören können, so daß die in jenem Grabe noch

erhaltenen Skelette, ein männliches und ein

weibliches, hiernach wohl Ueberreste eines Königs und einer Königin

fein dürsten.

Außerdem entdeckte man das Gerippe eines Pferdes und

daneben das eines Mannes, von denen jenes wohl dem Lieblingspferde des Königs,

dieses seinem königlichen Stallmeister angehören dürfte.

Unter den Platten des steinernen Fußbodens der Grabkammer befand

sich endlich ein noch nicht ausgemauertes, jedenfalls älteres Grab mit

*) Antiquites du Bosphore cimmerien, conservees au musee imperial de VErmitage. Ouvrage publie par ordre de Sa Majeste Tempereur. 2 vols. St. Petersbourg 1854 mit russischem und französischem Texte, eingedruckten Holz­ schnitten, 95 Tafeln (in Kupferstichen, Lithographien und Farbendruck) und zwei gestochenen Karten (Nr. 1 carte topographique des environs de Kertch et de ses tumules. Nr. 2 carte du Bosphore cimmerien).

den Resten eines Leichnams und mit verschiedenem Goldschmuck.

Grä­

ber ähnlicher Construction sind später noch mehrere Mal in Kertsch vorgekommen, da man sie aber schon früher geöffnet hatte, waren sie

der ihnen ursprünglich beigegebencn Schmucksachen und Schätze beraubt, und besitzen nur in architektonischer Hinsicht ein Interesse.

In anderen

Kurganen oder Tumulis bestand die Grabkammer nur aus festgetretener

Erde, während sie wieder in anderen aus Ziegeln oder aus dünnen Kalksteinplattett construirt war.

In mehreren, besonders aber in den

Gräbern von Kertsch, fand man hölzerne Särge, von denen sich

einige, die fast vollständig erhalten waren, durch künstlerischen Schmuck besonders hervorthun.

Außer den menschlichen Skeletten, die man frei

oder in Särgen auffand, waren Aschenkrüge, in denen man die ver­ brannten Gebeine der Verstorbenen aufbewahrt hatte, durchaus keine

Seltenheit, und zwar fand man die Skelette und Aschenkrüge neben­ einander,

müssen.

so daß beide Begräbnißarten

gleichzeitig bestanden haben

An diese in dem angeführten Werke ausführlich

Classification der verschiedenen Gräber,

aus

gegebene

denen die Schätze des

kaiserlichen Museums in Petersburg hervorgegangen sind, schließen sich zwei Karten, welche den Leser mit der Topographie der dortigen Gegend

genauer bekannt machen. Hierauf folgt dann der erklärende Text zu den

auf den Tafeln dargestellten Alterthümern *), welche theils griechischen, theils

*) Hier sieht man z. B. auf dem ersten Blatte eine weibliche, aus getriebenem Golde gefertigte Maske, von welcher man annimmt, daß sie, weil neben ihr ein silberner Scepter lag, das Gesicht einer Königin bedeckt habe; dann (auf Taf. 2— 32) eine große Menge verschiedenartiger Schmucksachen (wie Diademe, Blätter­ kränze, Ringe mit geschnittenen Steinen), Waffenstncke und Geräthe, von denen der weit größere Theil aus reinem Golde gefertigt, wenige nur aus Silber oder Bronze gemacht sind. Es folgt dann die reiche Sammlung metallener Gefäße (Taf. 33—44), von denen eines, einzig in seiner Art, von Bernstein, viele von Silber, alle aber mit mehr oder weniger trefflichen Darstellungen geschmückt sind. Hierauf kommen die Thongefäße (Taf. 45—63), die —• wenngleich fast ausschließlich mit rothen Fi­ guren aus schwarzem Grunde, und daher der jüngeren Klasse dieser Alterthümer angehörig — dennoch in ihren Darstellungen theils den schönen, theils den reichen Styl zeigen, und bei letzterem durch Hinzuziehung anderer Farben, namentlich von weiß und blau, polychrome Figuren ausweisen. An die Gefäße reihen sich dann die Terracotten (Taf. 64—76), verschiedene Alterthümer in Glas (Taf. 77, 78) und die Darstellung alles dessen, was sich von den ost mit kunstvollen Sculpturen ge­

schmückten Gegenständen in Holz, namentlich von den Sargsragmenten erhalten hat

256

Ausgrabungen in Südrußland.

mehr oder weniger barbarischen Ursprungs, von der außerordentlichen Mannichfaltigkeit und dem seltenen Reichthume der kaiserlichen Sainm-

lung ein deutlich sprechendes Zeugniß ablegen.

Den Schluß des gan­

zen Werkes bildet die von Ludolf Stephani gegebene, ganz vortreffliche

Erklärung aller aus diese Gegend und auf das alte Tanais (Nedwigowka) bezüglichen Inschriften auf Stein und Thongefäßen, soweit solche in den Besitz der kaiserlichen Sammlungen in Petersburg gelangt

sind. Diese

Sammlungen hatten

Schätze erhalten.

schon

vor dem Krimkriege wahre

Während desselben mußten die Grabungen natür­

licher Weise eingestellt, und alles Wichtigere aus dem Kertscher Museum ins Innere oder nach Petersburg geschafft werden.

Die Beute deö

in die Stadt Kertsch eindringenden Feindes war daher im Ganzen eine

nur unbedeutende und ein von Mac Pherson geschriebenes Buch über

die Alterthümer von Kertsch (Antiquities of Kertch) mit Bildern in Farbendruck verdient deshalb wenig Beachtung.

Nicht blos die Peters­

burger Sammlungen, sondern auch die einiger russischen Magnaten

(Kotschubei, Uwaroff, Sibirski,

Stroganoff)

enthalten weit

Voll-

kommnereS. Die russischen Grabungen wurden zuerst unter dem Mini­ sterium des Grafen Perofski nach einem System ausgeführt, von dem

Director des Kertscher Museums Herrn von Lutzenko eifrig fortgesetzt, und über deren Resultate ein in alle Einzelheiten eingehendes Tage­ buch gehalten.

Das alles hatte unter Aschikö Direktion, der Jahre

lang in Odessa lebte und aus der Ferne die Arbeiten nicht genau zu

überwachen im Stande war, nur mangelhaft geschehen können, und deshalb mußte es jedenfalls ein offenbarer Gewinn für die Sache fein,

daß sich die Regierung von nun an, mit Aufwendung großer Kosten

und Beobachtung eines von Sachkundigen entworfenen Systems, der

Grabungen eifrigst annahm.

Die

jetzt ins Leben

gerufene,

durch

wesentliche Erfolge belohnte Thätigkeit hat zu so glücklichen Resultaten

(Taf. 79—84). Hieraus erblickt man ans ein Paar Tafeln (85, 86) die besonders wichtigen und interessanten Münzen Pantikapaons und der bosporaniscben Könige, und daun noch znletzt mehrere Pläne und Zeichnungen (Tas. 87—91) von den in Kertsch und dessen Umgebung entdeckten Gräbern.

geführt, daß die russische Regierung, in Folge der reichen Ausbeute der taurischen Grabungen, auch andere, namentlich im Ekaterinoslawschen Gouvernement gelegene Kurgane in Angriff nahm, und am 2. Februar

1859 eine archäologische Commission unter dem Vorsitze des Grafen

Stroganoff (Serge) einsetzte, welche über die jährlich gemachten Funde und Entdeckungen authentische Nachrichten einziehen, und über bk»

selben in jedem Jahre einen genauen Bericht veröffentlichen sollte. In Folge dieser kaiserlichen Bestimmung sind bis jetzt vier CompterenduS, und zwar in den Jahren 1860, 1861, 1862, 1863 erschienen, und

denselben wird der fünfte im laufenden Jahre nachfolgen. So wichtig und interessant diese Jahresberichte auch jedem Freunde der Alterthums­

wissenschaft sind, so würde ich mir über dieselben hier keine Mitthei­

lungen zu machen erlauben, wenn ihnen nicht, unter dem einfachen

Titel „ Supplements“, eine ausführliche Behandlung

der wichtigeren

Funde beigegeben wäre, und letztere nicht durch sehr sorgfältig aus­ geführte Zeichnungen auf ein allgemeineres Interesse gerechten Anspruch machen dürften.

Um indessen die Geduld meiner Leser nicht auf eine

zu harte Probe zu stellen, will ich sie heute nur mit den zwei ersten

dieser CompterenduS bekannt zu machen suchen, und den Bericht über die folgenden für einen zweiten Artikel aufsparen. In dem Compterendu für das Jahr 1859 (Petersburg 1860)

giebt der Graf Stroganoff als Präsident der kaiserlichen archäologischen Commission zuerst die Orte an, an welchen man im Laufe des Jahres

1859 zur Entdeckung von Alterthümern Grabungen unternommen habe,

und berichtet dann, was die einzelnen ergeben hätten.

Die hierhin

gehörigen Arbeiten waren an drei verschiedenen Punkten des großen Reiches unternommen worden,

und zwar namentlich im Ekaterino­

slawschen Gouvernement, in der Umgegend von Kertsch und auf der

Halbinsel Taman. Im Ekaterinoslawschen Gouvernement (beim Flecken Alexandropol, 50 Werst vom Dniepr und 30 vom Flusse Buzuwluk) hatte die Er­

öffnung der JlyroBäa Monua (Rasengrab), eines in einem Umkreise

von mehr als drei deutschen Meilen (25 Werst) in der Steppe sicht­

baren Kurgans,

zur wichtigen Entdeckung der bis dahin vergeblich

gesuchten skythischen Königsgräber geführt, welche nach Herodot (lib. IV)

Ausgrabungen in Südrußland.

258

im Lande GerrhoS liegen sollten.

Die aus mächtigen Steinen auf­

geführten Grabkammern waren freilich schon früher geöffnet und ihrer Schätze größtentheils beraubt worden, allein die von den Plünderern zurückgelassenen Gegenstände in Gold und Silber, sowie besonders in Kupfer und Eisen füllen dessenungeachtet doch noch im Museum der

kaiserlichen Ermitage sechs Glasschränke, und sind um so interessanter, als einige derselben griechischen Ursprungs, mit denen aus Kertsch, namentlich aus Kal-Aba stammenden

große Aehnlichkeit darbieten.

Andere gehören in die Klasse der sogenannten Tschudischen Alterthümer, wie solche auch in Westsibirien Vorkommen.

Fünf vom Akademiker

Baer untersuchte, gleichfalls in jenem skythischen Königsgrab gefun­ dene Schädel gehören zwei verschiedenen Völkern an, denn zwei von ihnen sind denen sehr ähnlich, die im mittleren Rußland vorkommen,

während die drei anderen, unter welchen ein Königsschädel sich befindet,

mit den in Sibirien entdeckten, den tschudischen, vollkommen überein­ stimmen.

Die im Jahre 1859 in derselben Gegend, namentlich beim

Dorfe Mariewka, unternommene Eröffnung eines anderen, weniger

großen, aber derselben Klasse angehörigen Kurgans wies auch hier ein skythisches Königsgrab nach in einer von mächtigen Steinen gebildeten

Grabkammer mit langen Gängen, sowie mit verschiedenen ganz ähn­

lichen Gegenständen, wenngleich in geringerer Zahl, da auch dieser TumuluS schon in früherer Zeit und zwar noch gründlicher geplündert worden war, als die .lyroBtui Morn.ia. Außerdem eröffnete tncftt noch drei andere Tumuli beim Dorfe Mariewka, welche äußerlich dem zuerst in Angriff genommenen sehr ähnlich waren und ein für sich abge­ schlossenes Ganze zu bilden schienen.

Man fand in denselben indessen

nur menschliche Skelette, sowie einige ganz einfache Thongeschirre, und

vermuthet daher, daß in ihnen, neben dem Hauptgrabe des Königs,

die Gebeine der bei der Bestattung des königlichen Herrn geopferten Diener und Sklaven zu erkennen seien.

Die Grabungen bei Kertsch wurden im Jahre 1859 an sieben verschiedenen Localitäten in nächster Umgebung der Stadt fortgesetzt,

und durch dieselben 58 verschiedenartige Gräber aufgedeckt, von denen besonders drei, noch unberührt von räuberischen Händen, eine sehr reiche Ausbeute ergaben.

In der steinernen Grabkammer des einen

Grabhügels stand ein hölzerner zur Hälfte erhaltener Sarg mit ge­

schnitztem Deckel, eine 5% Werschok hohe Amphora mit Darstellungen*)

aus schwarzem Grunde,

ein

kleiner Metallspiegel,

mehrere

goldene

Ringe und eine Schale, auf deren schwarzem Deckel eine Toiletten­ scene gemalt ist.

Einer der Ringe enthält einen Chalcedon, in welchem

sehr kunstvoll ein Löwe eingeschnitten ist.

In dem zweiten Grabe, das

seiner Construction nach dem ersten ähnlich war, fand man gleichfalls

einen hölzernen Sarg und ähnliche Gegenstände, wie in jenem.

Noch

wichtiger war das dritte Grab auf der Höhe des Berges Iuz-Oba, wo in einer geräumigen Gruft mit sog. ägyptischem Gewölbe ein schon

von Würmern zernagter, mit verschiedenem Schnitzwerk und Zierrathen

geschmückter Sarg stand, welcher einen hohen, mit einem Stoffe be­

schlagenen Deckel hatte.

Unter letzterem fand man, neben dem ganz

verwesten Leichnam, ein Paar geschmackvoll in Golddraht gearbeitete

Ohrringe mit goldenen Gehängen, Mänaden darstellend, von denen die eine einen Panther, die andere eine Hirschkuh oder ein Reh an

den Füßen hält; ferner eine goldene Halskette, zwei kleine goldene Ringe (bei einem derselben ist auf der ebenen, mit keinem Edelstein versehenen Fläche eine Rose nebst einer auf ihr sitzenden Cicade ein­

gegraben); dann einen Chalcedon mit antiker goldener Kette, in vor­ trefflichem Schnitt,

die geflügelte Gorgone mit Schlangen in den

Händen darstellend;

sodann einen Agat

mit der Darstellung eines

Pferdes, welches beim Wettrennen eben am Ziele ankommt; endlich

ein großer vergoldeter Bronzespiegel, eine knöcherne Spindel und an­

dere Kleinigkeiten.

Neben dem Sarge standen zwei prachtvolle, voll­

ständig erhaltme Thongefäße; das eine, eine Amphora; das andere, eine Patera; bei beiden auf schwarzem Grunde gelbliche Figuren, an

denen einzelne Theile durch Farben und Gold hervorgehoben werden.

Die Amphora zeigt

auf

der Hauptseite

einen bärtigen Mann auf

einem Throne und zu dessen Seiten Athene, Hermes und andere Fi­

guren; auf der Rückseite eine bacchische Scene. Patera ist eine Toilettenscene dargestellt.

Aus dem Deckel der

Beide Gefäße können in

*) Man sieht auf dem Gesäße einen Jüngling, ein Pferd und eine junge Frau,

die ein Trankopfer vollzieht.

260

Ausgrabungen in Südrußland.

Bezug auf kunstvolle Zeichnung und reiche Ausführung dem Besten beigezählt werden, was uns aus dem Alterthum an ähnlichen Kunst-

producten überkommen ist. — Außerdem ergab die Eröffnung der an­

deren Gräber, von

deren Resultaten das Journal des Directors

Lutzenko alle Einzelheiten aufzählt und durch Zeichnungen veranschau­ licht, noch eine Menge werthvoller Gegenstände, unter denen folgende namentlich angeführt werden: eine Urne von weißem Marmor mit

einem Deckel; eine andere von Bronze, vergoldet, nebst silbernem Deckel und Untersatz, und verbrannte Knochen, Stücke Pech und einen Chal­ cedon enthaltend, aus welchem Aphrodite mit dem vor ihr stehenden

Eros abgebildet ist;

eine schöne,

thönerne Amphora von

schwarzer

Farbe, mit Cannelirungen und einer Guirlande; ein 2 ’/2 Arschin hohes

Thongefäß; verschiedene Inschriften theils auf zerbrochenen Marmor­ platten , theils auf Gefäßhenkeln; einige Statuetten ans Terra cotta;

eine hübsche kleine Lampe in der Form eines Stierkopfes; thönerne und gläserne Gefäße verschiedener Gestalt;

eine Menge von Perlen

von Halsketten, theils in Gold, theils in verschiedenen Massen, theils

in Carneol, Lignit und Ambra; mehrere Amulette;

Ringe in Gold,

Silber, Bronze und Eisen; Ohrgehänge in Gold, Silber und Bronze;

goldene und eherne FermoirS; endlich Münzen, welche für die genauere Zeitbestimmung der einzelnen Gräber von der höchsten Wichtigkeit sind. Außerdem erwarb man käuflich von Privaten noch 18 Goldbleche aus

dem schon 1831 geöffneten Grabhügel Kul-Oba. Was endlich die Grabungen auf der Halbinsel Taman anbelangt,

so beschränkte man dieselben im Jahre 1859 hauptsächlich auf den Platz Phanagoria'«, in dessen Nähe man unter dem Wasser die Reste eines alten Molo'S sieht, und wo man früher eine griechische Inschrift

aus dem vierten Jahrhundert vor Chr. G. entdeckt hatte.

Hier, wo

jedenfalls die alte Stadt einst gestanden, fand man ein Basenfragment mit schwarzen Figuren auf gelbem Grunde, verschiedene Architektur­

stücke in Marmor oder in gewöhnlichem Stein, und ein Paar griechi­ sche Inschriften, von denen die eine von den Bürgern der Königin

Dynamis, der Enkelin von Mithridates dem Großen gewidmet ist, die

andere, aus dem Jahre 152 n. Chr., zur Zeit des Rhoemetalces auf die Restauration eines Tempels der Sonnengöttin Bezug hat.

In

dem dort, nahe am Wasser, stehenden Hügel entdeckte man Reste einer

4 Arschin

dicken Mauer von Ziegelsteinen.

dem jetzigen Phanagoria führten,

Andere Grabungen in

ohne daß bei denselben besondere

Alterthümer vorgekommen wären, zur weiteren Entdeckung von Bau­

lichkeiten der alten Stadt, während die in der Umgegend geöffneten Tumuli,

die man größtentheils ihrer Schätze schon früher beraubt

hatte, eine verhältnißmäßig geringe Ausbeute lieferten.

Dafür zeich­

nete sich das Gefundene durch besondere Seltenheit aus; so unter an­

derem ein Paar griechische Thongefäße mit sehr kunstvoll ausgeführten

Darstellungen.

Auf dem einen*), einer Hydria, erblickt man auf

schwarzem Grunde Athene, Hermes und einige andere Figuren; auf

dem anderen, einer 8 Werfchok hohen Amphora, sieht man, gleich­

falls auf schwarzem Grunde, einerseits eine junge Frau, die vor der Verfolgung eines jungen Mannes bei ihrem Vater Schutz sucht, und

andererseits eine Scene aus der Palästra.

Zu den Seltenheiten gehört

ferner (aus einer schon früher zerstörten Katakombe) ein gut erhaltenes

Tuch, in dem man noch die eingewebten farbigen Streifen erkennen kann; und eine Filzmütze, wie sie bei den Skythen (nach der Dar­

stellung auf der Vase von Bernstein aus dem Kul-Oba) als Kopf­ bedeckung im Gebrauche war.

Diese muß sich bei ihnen lange unver­

ändert erhalten haben,, da die besagte Katakombe jedenfalls einer viel

späteren Zeit, als das Grab im Kul-Oba angehört.

Die noch an

andern Orten aus Taman angestellten Grabungen lieferten eine bron­ zene Hydria in vollendetem Styl, und führten zur Entdeckung von

Ohrgehängen, Armbändern, Ringen theils in Gold oder Silber, theil» in Bronze,

sowie von Münzen und Gesäßen in Thon oder Glas.

Ueber sämmtliche in Taman gemachten Funde und über Alles, was

bei Eröffnung der einzelnen Kurgane BeachtenswertheS vorkam, giebt ein mit Zeichnungen versehenes, der Commission mitgetheiltes Journal

die genaueste Auskunft.

*) Das 81/2 Werschok hohe Gefäß zeigt »ns aus schwarzem Grunde rothe Fi­ guren, an denen nur Einiges weiß