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German Pages 394 [396] Year 1978
NIETZSCHE-STUDIEN
NIETZSCHE-STUDIEN Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung
Herausgegeben von
Ernst Behler • Mazzino Montinari Wolfgang Müller-Lauter • Heinz Wenzel
Band 7 • 1978
W G DE
1978
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Anschriften
der
Herausgeber:
Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature G N - 3 2 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Mazzino Montinari via Gabriele d'Annunzio 237, 1-50135 Florenz Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Adolf-Martens-Straße 11, D-1000 Berlin 45 Prof. Dr. Heinz Wenzel Harnackstraße 16, D-1000 Berlin 33
Redaktion Marie-Luise Haase, Faraday weg 17, D-1000 Berlin 33
ISSN 0342-1422 ISBN 3 11 007166 5 © Copyright 1977 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göscheri'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. — Printed in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin
VORWORT
Der vorliegende Band 7 der Nietzsche-Studien erscheint zugleich als Sonderband. Er enthält die Vorträge und Diskussionen einer Tagung, die vom 25. bis zum 27. März 1977 in Berlin stattgefunden hat. Die Leitung dieser von der Fritz Thyssen Stiftung in Köln angeregten und von ihr finanzierten Tagung lag in den Händen von Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter. In ihrer Vorbereitung und Durchführung wurde er unterstützt von Dr. Jörg Salaquarda. Beide fungieren als Herausgeber des Sonderbandes. In das Herausgebergremium des Jahrbuchs ist als viertes Mitglied Prof. Dr. Ernst Behler eingetreten. In den USA lebende und schreibende Autoren können sich in Zukunft vorzugsweise an ihn wenden. Behler
Montinari
Müller-Lauter
Wenzel
ANEIGNUNG UND UMWANDLUNG Friedrich Nietzsche und das 19. Jahrhundert
Herausgegeben von
Wolfgang Müller-Lauter Jörg Salaquarda
VORWORT DER HERAUSGEBER DIESES BANDES
Die in diesem Band enthaltenen Referate und Diskussionsbeiträge wurden auf einer ersten von mehreren geplanten Tagungen über die Philosophie Friedrich Nietzsches vorgetragen. Als Thema dieser Tagung war Nietzsches Auseinandersetzung mit wesentlichen Tendenzen seiner Zeit vorgesehen. Im Zuge der Vorbereitung erwies es sich sehr rasch als unmöglich, im Rahmen von drei Tagen diesem Thema in zureichendem Maße gerecht zu werden. Nach den ersten Korrespondenzen und nach Sichtung der Vorschläge von eingeladenen Referenten zogen wir es vor, einige ausgewählte Aspekte etwas ausführlicher zu behandeln. Dies gilt in besonderem Maße für das Thema Nietzsche und die Romantik. Als weitere Schwerpunkte kristallisierten sich in den Vorverhandlungen heraus: Nietzsches Verhältnis zur Psychologie, zu den Naturwissenschaften und zur Musik. Selbst hinsichtlich dieser Schwerpunkte konnten wir keine Vollständigkeit anstreben; andere für Nietzsches Beziehung zu seinem Jahrhundert wichtige Themen mußten völlig ausgeklammert werden. Obwohl viele Fragen, die Nietzsches Stellung zu seiner Zeit betreffen, unerörtert bleiben mußten, wird das Thema einer zweiten Tagung, die für den Sommer 1980 vorgesehen ist, wahrscheinlich die Wirkungsgeschichte von Nietzsches Denken in unserem Jahrhundert bilden. Im Verlauf der Tagung, besonders deutlich in der Schlußaussprache, wurde von mehreren Teilnehmern moniert, daß wir, trotz der in der Vorbereitungsphase eingetretenen Veränderungen, den ursprünglichen Arbeitstitel Nietzsche als Kritiker seines Jahrhunderts für die Tagung beibehalten haben. Wir tragen dieser berechtigten Kritik nunmehr Rechnung, indem wir diesen Band unter einem anderen Titel veröffentlichen. Mit der Formulierung Aneignung und Umwandlung wollen wir einen Grundzug von Nietzsches Umgang mit der Tradition herausheben, auf den von vielen Teilnehmern mehrfach eingegangen worden ist: daß Nietzsche nie bloß rezipiert, vielmehr das Aufgenommene von der ersten Lektüre oder Kenntnisnahme an in ein unverwechselbar Eigenes umgeprägt hat. Das trifft auf das von ihm Begrüßte wie auf das von ihm Verworfene zu. Auf S. XV des Bandes werden die Teilnehmer der Tagung aufgeführt. Nach der Festlegung von Themen und Referenten zu einem ziemlich frühen Zeitpunkt beachteten wir bei den zusätzlichen Einladungen vor allem zwei Gesichtspunkte. Zum einen sollten neben der Philosophie auch andere an
X
Vorwort der Herausgeber dieses Bandes
Nietzsches Verhältnis zu seinem Jahrhundert besonders interessierte Disziplinen, z. B . Germanistik, Literaturwissenschaft, Theologie und Musikwissenschaft durch Sachkenner vertreten sein. Zum anderen versuchten wir, die Einladungen im Blick auf die Besonderheit der Schwerpunkte auszusprechen. Von den vorgesehenen Teilnehmern, die uns zugesagt hatten, waren schließlich drei zu unserem Bedauern verhindert. Prof. D r . Reiner Wiehl (Philosophie, Heidelberg) und Prof. Dr. Peter Köster (Theologie, Bielefeld) erkrankten in letzter Minute; Prof. Dr. Ferruccio Masini (Germanistik, Rom) erhielt durch ein Mißverständnis die Einladung mit den genauen Terminen zu spät. — Von den auf der Liste Aufgeführten haben nicht alle an der gesamten Tagung teilnehmen können. Einige reisten mit Verspätung an, am zweiten oder gar erst am dritten Tag der Tagung; andere mußten Berlin vorzeitig verlassen. Die Referate sind in einer Reihe von Fällen umfassender und detaillierter ausgearbeitet worden, als sie — aus Zeitgründen — während der Tagung vorgetragen wurden. Der Abdruck in diesem Band erfolgt den jeweiligen Wünschen der Autoren gemäß. Selbstverständlich sind in der Druckfassung auch Anmerkungen und Stellen verweise mit aufgenommen worden. Auch sind einige Referate nach der Tagung noch überarbeitet und ergänzt worden; solche Ergänzungen und Überarbeitungen wurden nur berücksichtigt, wenn sie sich nicht aus den Diskussionen ergaben oder nahelegten. — Von einer Vereinheitlichung der Vorträge hinsichtlich der benutzten Ausgaben und der Zitierweise haben wir, dem generellen Brauch der Nietzsche-Studien folgend, abgesehen. Die Diskussionen wurden während der Tagung aufgezeichnet. Die Abschriften der Tonbandmitschnitte haben wir überarbeitet, d . h . gestrafft und in einigen Fällen in eine andere Abfolge gebracht, die sich aus Sachgründen anbot. Wir legten aber Wert darauf, die Argumente der Diskussionsteilnehmer nicht zu verändern und ihre sprachlichen Eigentümlichkeiten nach Möglichkeit zu bewahren. Nach unserer Überarbeitung hat jeder Diskutant seine Voten noch einmal überprüft. Fast alle haben von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, einzelne Sätze oder Passagen zu präzisieren bzw. sie stärker ihrem persönlichen Stil anzugleichen. — Einige Diskussionen mußten während der Tagung aus Zeitmangel begrenzt oder abgebrochen werden. Das hat dazu geführt, daß manches allgemeine Problem nicht in zureichender Ausführlichkeit besprochen werden konnte. Beispiele dafür sind die mehrfach aufflackernden Gespräche über die Bedeutung und das Recht der Einbeziehung des Nachlasses Nietzsches, sowie über die Frage, ob sich in Nietzsches Werk faschistische Ideen oder Tendenzen aufweisen lassen. Auf den Abdruck dieser Diskussionsansätze wollten wir gleichwohl nicht verzichten. — Auf Belege und Zitatnachweise für Diskussionsvoten haben wir,
XI
Vorwort der Herausgeber dieses Bandes
von wenigen Ausnahmen abgesehen, verzichtet, um deren Lebendigkeit und Freiheit auch für den Leser ausdrücklich werden zu lassen. Unser Dank gilt allen denen, die zum Zustandekommen und Gelingen der Tagung und dieses Bandes beigetragen haben. Das ist in erster Linie die Fritz Thyssen Stiftung. Von ihrem Repräsentanten, Herrn Prof. D r . Gerd Brand, ging die Anregung zu den Nietzsche-Tagungen aus. Die Stiftung hat durch ihre finanzielle Unterstützung die Durchführung zunächst dieser ersten Tagung möglich gemacht. Unser Dank gilt allen Teilnehmern an der Tagung, insbesondere denen, die durch Referate und Diskussionsbeiträge zu ihrer Gestaltung beigetragen haben. Später haben sie durch rasche und termingerechte Durchsicht und Überarbeitung der Referate und Diskussionsvoten mitgeholfen, daß dieser Band dem Publikum nicht allzu lange nach Beendigung der Tagung vorgelegt werden kann. Besonderer Dank geht an Herrn Janz, der es ermöglichte, Tonbandaufzeichnungen von zwei Musikstücken Nietzsches — Ermanarich und Der Hymnus an die Freundschaft — anzuhören; im Zusammenhang mit seinem Vortrag vermittelten sie einen instruktiven Eindruck von Nietzsches kompositorischen Arbeiten. Wir danken ferner unseren Mitarbeitern Norbert Gebert, Marie-Luise Haase und Johannes Neininger, die zu einem reibungslosen Ablauf des Kongresses und zur technischen Vorbereitung dieses Bandes viel beigetragen haben. Im Januar 1978
Müller-Lauter
Salaquarda
INHALT
Vorwort
V
Vorwort der Herausgeber dieses Bandes
IX
G. GOEDERT, Nietzsche und Schopenhauer
1
Diskussion
16
P. HELLER, Nietzsches Kampf mit dem romantischen Pessimismus . . Diskussion
51
E. BEHLER, Nietzsche und die Frühromantische Schule
59
Diskussion
88
E. BISER, Die Reise und die Ruhe. Nietzsches Verhältnis zu Kleist und Hölderlin Diskussion C.A.MILLER,
97 115
Nietzsches „Soteriopsychologie" im Spiegel von Dosto-
evskijs Auseinandersetzung mit dem europäischen Nihilismus Diskussion K.PESTALOZZI,
27
Nietzsches Baudelaire-Rezeption
Diskussion
. . 130 150 158
179
Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche 189
W . MÜLLER-LAUTER,
Diskussion J . SALAQUARDA, Nietzsche und Lange
224 236
Diskussion W. KAUFMANN, Nietzsche als der erste große Psychologe Diskussion
261 276
XIV
Inhaltsverzeichnis
M. MONTINARI, Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren Diskussion
288 303
C.P.JANZ, Friedrich Nietzsches Verhältnis zur Musik seiner Zeit . . 308 Diskussion D.S.THATCHER, Nietzsches Totengericht über Brahms Diskussion
327 339 357
Siglen
363
Register
365
Hinweise für den Benutzer
365
Literatur-Register 1. Nietzsche 2. Zu und über Nietzsche
366 366 372
Personen-Register
376
TEILNEHMER DER TAGUNG
Prof. Dr. Horst BAIER, Renkenweg 9, D-7750 Konstanz Prof. Dr. Ernst B E H L E R , Comparative Literature Seattle, Washington 98195/USA
GN-32,
University of Washington,
Prof.Dr. Rudolph BERLINGER, Residenzplatz 2, D-8700 Würzburg Prof. D Dr. Eugen BISER, Kaulbachstr. 31/1, D-8000 München 22 Prof. Dr. Mihailo DJURIC, Banijska 1, YU-11000 Beograd Prof. Dr. Sander L. GILMAN, Department of German Literature, Cornell University, Goldwin Smith Hall, Ithaca, N . Y . 14853/USA Prof. Dr. Georges GOEDERT, 40, rue Schrobilgen, Luxembourg, Großherzogtum Luxemburg Prof. Dr. Karlfried GRÜNDER, Schattbachstr. 4, D-4630 Bochum-Querenburg Prof. Dr. Peter HELLER, State University of New York at Buffalo, Germanic-Slavic, Wilkeson-Quad, SUNY/Buffalo, N . Y . , 14214/USA Curt Paul JANZ, Brühlweg 42, CH-4132 Muttenz Prof. Dr. Walter KAUFMANN, Princeton University, Department of Philosophy, 1879 Main Hall, Princeton, New Jersey 08540/USA Prof. Dr. Frederick R. LOVE, Brown University, Department of German, Box E, Providence, Rhode Island 02912/USA Prof. Dr. Reinhart MAURER, Ithweg 1, D-1000 Berlin 37 Prof. Dr. C . A. MILLER, Yacht Haven, Friday Harbor, San Juan Island, Washington 98250/USA Prof. Dr. Mazzino
MONTINAR.1,
via Gabriele d'Annunzio, 237, 1-50132 Florenz
Prof. Dr. Wolfgang MÜLLER-LAUTER, Adolf-Martens-Str. 11, D-1000 Berlin 45 Prof. Dr. Karl PESTALOZZI, Universität Basel, Strengigässli 17, CH-4123 Allschwil Dr. Jörg SALAQUARDA, Bozener Str. 10, D-1000 Berlin 62 Prof. Dr. Hans-Martin SASS, Klein-Herbeder-Str. 9 a, D-5810 Witten-Heven Prof. Dr. Richard L. SCHACHT, University of Illinois at Urbana-Champaign, Department of Philosophy, Urbana Illinois 61801/USA Prof. Dr. David S. THATCHER, University of Victoria, Department of English, Post Office Box 1700, Victoria, B. C . , Canada V8W2Y2 Prof. Dr. Carl ULMER, Universitätsstr. 7/II/II, A-1010 Wien Prof. Dr. Paul
VALADIER, 1 2 8 ,
rue Biomet,
F-75015
Paris
Prof. Dr. Heinz WENZEL, Harnackstr. 16, D-1000 Berlin 33
GEORGES
GOEDERT
NIETZSCHE UND SCHOPENHAUERDaß Nietzsches Philosophie in außergewöhnlich hohem Maße als Reaktion gegen Schopenhauer dasteht, ist sicherlich eine Tatsache, die kaum noch besonderer Erwähnung bedarf. Die dionysische Bejahung folgte auf die Lehre von der Verneinung des Lebenswillens wie der Tag auf die Nacht, als deren Gegensatz und Uberwindung. Ich möchte die genauere Eigenart dieser Beziehung beleuchten durch eine Analyse von drei fundamentalen Gesichtspunkten in Nietzsches Denken. Der erste davon wäre die ständig wegweisende dionysische Bejahung des tragischen Charakters der menschlichen Existenz und die damit verbundene Rechtfertigung der mit jeder tieferen Erkenntnis verknüpften Leiden. An zweiter Stelle wird die Rede sein von Nietzsches „Immoralismus", wobei die folgenschwere Bedeutung desselben für seine Kritik des Christentums besonderer Berücksichtigung bedarf. Und drittens muß das Ideal der Stärke erwähnt werden, in der Konzeption vom tragischen Menschen und im Glauben an die „Ewige Wiederkunft des Gleichen".
I. Die dionysische
Bejahung
des Tragischen
und die Leiden
der
Erkenntnis
Was Nietzsche zweifelsohne so sehr an Schopenhauer beeindruckte, sicherlich viel mehr als der Atheismus, war dessen Sinn für das tragische Los des Menschen. Es war dessen Uberzeugung, „wie wesentlich alles Leben Leiden" sei 1 , und daß von allen Lebewesen der Genius am meisten zu leiden habe. Man mag es mit Richard Oehler als einen „Zufall" ansehen 2 , daß Nietzsche kurz nach seinem 21. Geburtstag Die Welt als Wille und Vorstellung entdeckte und nicht das Hauptwerk eines anderen großen Philosophen. Jedoch muß zugegeben werden, daß kein anderer bedeutender Denker es vermocht hätte, ihn damals innerlich so tief zu bewegen. Wie Heinz
1
2
In sämtlichen Zitaten wird die heute übliche Rechtschreibung verwendet. Die Welt als Wille und Vorstellung, Band 1 (im folgenden: W W V I), i n : Sämtliche Werke, hg. von A . Hübscher, Wiesbaden 3 1 9 6 6 , Bd. 2, S. 366.
Fr. Nietzsche
und die Vorsokratiker,
Leipzig 1904, S. VI.
2
Georges Goedert
Heimsoeth richtig schreibt, war er seit langem „aus der eigenen Natur bereitet für das düstere Licht, das hier auf Welt und Menschenleben fällt" 3 . Nietzsche entdeckte bei Schopenhauer die Bestätigung seines tiefinnersten Erlebens. Er schrieb, nachdem er Ende Oktober 1865 Die Welt als Wille und Vorstellung bei einem Antiquar in Leipzig gefunden hatte: „(. . .) hier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt, Leben und eigen Gemüt in entsetzlicher Großartigkeit erblickte" 4 . Schon für Weihnachten desselben Jahres bestellte er sich zuhause die Parerga und Paralipomena sowie das damals eben erschienene Schopenhauer-Buch von Haym. Es lohnt sich, die Briefe aus der darauffolgenden Zeit zu lesen, um festzustellen, wie Nietzsche in Leiden und Nöten Trost bei Schopenhauer suchte 5 und sich darum bemühte, Anhänger für diese Philosophie zu gewinnen 6 . Auch die Pfingsten 1869 so vielversprechend in Triebschen beginnende Freundschaft mit Richard Wagner steht weitgehend unter dem Zeichen der gemeinsamen Verehrung Schopenhauers. Und wenn Nietzsche sich ab 1872 nach und nach von Wagner distanziert, so kommt das hauptsächlich daher, daß er jetzt Schopenhauer ablehnt und ganz entgegengesetzte Wege gehen will. Schließlich tragen an dem endgültigen Bruch im Jahre 1876 nicht die Ereignisse der Festspielhauseröffnung in Bayreuth die Hauptschuld. Vielmehr darf angenommen werden, daß Nietzsche die sowohl im Ring des Nibelungen als auch im Parsifal-Projekt, das Wagner ihm im Herbst, bei einer Begegnung in Sorrent, eröffnet haben soll, sich äußernde Gedankenwelt Schopenhauers nicht mehr vertragen konnte. Tatsache ist, daß Nietzsche bereits in der Geburt der Tragödie und in den derselben vorausgehenden Vorträgen eine lebensbejahende Philosophie entwickelt hatte, welche ihn als einen Gegner Schopenhauers erscheinen ließ. Die 1874 entstandene Dritte Unzeitgemäße ist nur ein verspäteter Dank. Nach Schopenhauer ist das Leben zutiefst tragisch. Sämtliche Individuen sind „Erscheinungen" des einen, universalen Willens. Sie bekämpfen und zerfleischen sich untereinander, was soviel heißt, wie daß der Wille mit sich selbst entzweit ist, daß er an sich selbst zehrt. Deshalb wird hier das Leiden zum ontologischen Charakteristikum, und Glück bedeutet nur flüchtiges Aufhören des Leidens. Das Wollen ist ja ein Streben, das einen Mangel, eine 3
4
5
6
Des jungen Nietzsche Weg zur Philosophie, in: Studien zur Philosophiegeschichte ( = Kantstudien, Ergänzungshefte 82), 1961, S. 152ff.; hier: S. 162. E . Förster-Nietzsche, Der werdende Nietzsche. Autobiographische Aufzeichnungen Nietzsches, München 1924, S . 3 1 7 . Vgl. insbesondere die Briefe an Freiherrn von Gersdorff vom 7. 4. 1866, 16. 1. 1867, sowie 24. 11. u. 1. 12. 1867: K G B I 2. Vgl. u. a. die Briefe an Freiherrn von Gersdorff vom 7. 4. 1866, Ende 8. 1866, sowie 24. 11. u. 1. 12. 1867: K G B I 2.
Nietzsche und Schopenhauer
3
N o t voraussetzt, ohne welche es nicht da wäre. Keine Befriedigung ist dauerhaft, „vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Streb e n s " 7 . Schopenhauer behauptet vom Weltwillen, daß er, „auf allen Stufen seiner Erscheinung (. . .), eines letzten Zieles und Zweckes ganz entbehrt, immer strebt, weil Streben sein alleiniges Wesen ist, dem kein erreichtes Ziel ein Ende macht (. . . ) " (S. 364). Die Not wird vergrößert durch die vorhandenen Hindernisse. Diese sind aber wiederum der Wille selbst, außer welchem es ja nichts gibt. Der Wille zehrt an sich selber, „weil außer ihm nichts da ist und er ein hungriger Wille ist. Daher die Jagd, die Angst und das Leiden" (S. 183). Er kann also ohne Kampf und Grausamkeit nicht bestehen und ist folglich essentiell böse. Hier ist also die Natur nicht göttlich, sondern vielmehr teuflisch. Mit Heimsoeth dürfen wir von einem „Pandämonismus" sprechen 8 . Heinrich Hasse behauptet seinerseits richtig, die Welt, wie Schopenhauer sie konzipierte, dürfte „ein Werk oder eine Erscheinung des Teufels sein" 9 . In der Geburt der Tragödie teilt Nietzsche durchaus die Ansicht vom tragischen Charakter des Seins. Jedoch rechtfertigt er das Tragische, und zwar indem er es zur Urquelle des Schönen macht. In seiner Interpretation der attischen Tragödie, wo er den psychologischen und ästhetischen Gegensatz von Apollo und Dionysos zum kosmischen Symbol erhebt, das ihm den Schlüssel liefert zum Verständnis des Seins, schafft er die Grundlage seiner gesamten dionysisch-tragischen Philosophie. Aus dem „Ding an sich" macht er den leidenden dionysischen „Urkünstler" der Welt, der aus seinem „Urschmerz" heraus die empirische, Apollo unterstellte Welt zu schaffen gezwungen ist, um darin Erlösung zu finden. Der „Urschmerz" wird somit untrennbar gepaart mit der „Urlust" schöpferischer Tätigkeit. Die Welt wird zum Spiel, gespielt vom „Ur-Einen", zur Schau, in der das „Ur-Eine" sich anschaut: sie wird zum Schauspiel. Hier herrscht die gute Eris Hesiods vor, denn das Tragische wird auf doppelte Weise gerechtfertigt. Ohne den Widerspruch zu sich selbst, also Apollo, könnte Dionysos nicht bestehen. Andererseits muß dieser Gegensatz groß und schmerzvoll sein, damit die empirische Welt zur größtmöglichen Vollendung gelange. Damit ist Schopenhauers Pessimismus überwunden. Das Leben, so kann interpretiert werden, darf nicht verneint werden wegen des in ihm enthaltenen Leidens. Es wird auch nicht bejaht trotz des Leidens, sondern dank 1
8
9
W W V I, S. 365 (im folgenden nur mit Angabe der Seitenzahl in Klammern im Text zitiert). Metaphysische Voraussetzungen und Antriebe in Nietzsches Immoralismus ( = Abh. der Akademie der Wiss. und der Lit. Mainz, Geistes- und Sozialwiss. Klasse), Wiesbaden 1955, S. 53. Das Problem der Erlösung bei Schopenhauer und Nietzsche, in: 23. Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft, 1936, S. lOOff.; hier: S. 110.
4
Georges Goedert
dem Leiden. Allerdings sind nur starke Menschen, wie Nietzsche sie im „tragischen Zeitalter der Griechen" sah, einer solchen Einstellung fähig. Auch was Schopenhauers Konzeption des Genius betrifft, darf angenommen werden, daß Nietzsche sich insbesondere angesprochen fühlte durch die darin enthaltene Uberzeugung von der Existenz einer durch Leiden geadelten Elite der Menschheit, selbst wenn er fortan über die eigentliche Funktion einer solchen Elite zum Teil ganz gegensätzliche Ansichten vertreten sollte. Der Genius entsteht, nach Schopenhauer, wenn der Intellekt das notwendige Maß, das er für seine natürliche Bestimmung, d. h. den Dienst des Willens, braucht, übersteigt und dazu gelangt, „sich rein objektiv zu beschäftigen" 10 . Dies sei der Ursprung der Kunst, der Poesie und der Philosophie. „Ein Genie", sagt Schopenhauer, „ist ein Mensch, der einen doppelten Intellekt hat: den einen für sich, zum Dienste seines Willens, und den andern für die Welt, deren Spiegel er wird, indem er sie rein objektiv auffaßt" 1 1 . N u r diejenigen, deren Intellekt sich vom Frondienst am Willen loszulösen vermag, seien „die wahrhaft Edeln, die eigentliche Noblesse der Welt. Die andern sind Leibeigene, glebae adscripti" 12 . Vertieft in die „reine" Anschauung der „Ideen", in denen der Wille sich in vollkommener Weise objektiviere und welchen, im Gegensatz zu den „Erscheinungen", die „flüchtigen Träumen zu vergleichen" seien (S. 331), somit metaphysische Realität zukomme, sei der Intellekt für Augenblicke „ewiges Weltauge" (S. 333). Und da der Intellekt „an sich" der eine Wille sei, höre der Wille hier auf zu wollen, was gleichbedeutend sei mit vorübergehender Erlösung vom Leiden. Die „Ideen" werden bei Schopenhauer genauestens unterschieden von den „Begriffen". Letztere, erreichbar für jeden, der mit Vernunft begabt ist, seien bloße Hilfsmittel der Wissenschaft, welche sich ja ausschließlich auf „Erscheinungen" beziehe und dem Satz vom Grunde unterstellt sei. Die „Ideen" dagegen könnten nur erfaßt werden von demjenigen, „der sich über alles Wollen und alle Individualität zum reinen Subjekt des Erkennens erhoben hat (. . .)" (S. 276), also vom Genie. Außer der Uberzeugung, daß von allen Menschen der Genius am meisten zu leiden habe, konnte Nietzsche von der Schopenhauerschen Vorstellung des Genius somit vor allen Dingen noch zweierlei festhalten. — 1. Der Verschiedenheit ihres Erkenntnisvermögens entsprechend sind die Menschen ungleich. Wenn er selbst auch die Ungleichheit im wesentlichen auf den 10
11 12
Parerga und Paralipomena, S. 72. PP II, S. 77f. PP II, S. 72.
Band 2 (im folgenden: PP II), in: Sämtliche Werke, a.a.O. Bd. 6,
Nietzsche und Schopenhauer
5
Dualismus der Stärke und der Schwäche begründet, darf dennoch bei ihm das geistige Moment in der Stärke nie unterschätzt werden. — 2. Wie Schopenhauer räumt auch Nietzsche der Wissenschaft einen untergeordneten Platz ein. Sein Irrationalismus äußert sich bereits in der Geburt der Tragödie ganz entschieden in der Kritik des Sokrates. Dort wird der „theoretische Mensch", der „wissenschaftliche Geist" als Produkt eines Kräftezerfalls dargestellt. Er wolle das Leben korrigieren, weil er nicht mehr imstande sei, es zu ertragen so, wie es ist. Nur soweit aber die Gemeinsamkeit mit Schopenhauer! Was Nietzsche nicht annehmen kann und wogegen er sich zeitlebens zur Wehr setzt ist die Auffassung, daß der tiefere Einblick in das Wesen der Dinge Anlaß oder Ausgangspunkt zur Lebensverneinung sein sollte. Dementsprechend entwickelt er, besonders in seiner dritten Periode, eine Schopenhauer total entgegengesetzte Konzeption sowohl der Kunst als auch der Philosophie. Es dürfte sicherlich nicht als überflüssig erachtet werden, wenn man für das Studium der Beziehung Nietzsches zu Schopenhauer das herkömmliche, alterprobte Drei-Perioden-Schema beibehält. Gestattet es doch eine Einsicht in die verschiedenen Entwicklungsphasen dieser Beziehung, wobei manche angeblichen Widersprüche im Denken Nietzsches aufgelöst werden können, und besonders auch die Abhängigkeit seiner Christentumspolemik von seiner Kritik Schopenhauers besser ans Licht rückt. Für Nietzsche ist Philosophie dionysische Bejahung des Lebens mitsamt seinen fürchterlichen Aspekten. Was dagegen Schopenhauer unter Philosophie versteht wird letzten Endes bestimmt durch die ethischen Grundprinzipien des altindischen Denkens. Sie gipfelt in der „Heiligkeit", in welcher die Erkenntnis vom Wesen der Welt die Möglichkeit zur totalen Verneinung des Lebens liefert, zu seiner Uberwindung und Vernichtung, zur endgültigen Brechung des Weltwillens. Daneben kann die Kunst nur vorübergehend Trost spenden. Wegen des ihr zugrunde liegenden Einblicks in das Wesen des Willens sei sie jedoch eine Art Vorbereitung auf die Askese. Dies gelte in ganz besonderem Maße für die Tragödie, von welcher Schopenhauer als von der „höchsten poetischen Leistung" spricht. Zweck derselben sei die „Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens". Es sei „der Widerstreit des Willens mit sich selbst, welcher hier, auf der höchsten Stufe seiner O b jektität, am vollständigsten entfaltet, furchtbar hervortritt" (S.298). In einem nachgelassenen Fragment von 1888 spricht Nietzsche von dem „skandalöse(n) Mißverständnis Schopenhauers, der die Kunst als Brücke zur Verneinung des Lebens nimmt . . . " 1 3 . Seit der Geburt der Tragödie stand nämlich bei ihm fest, daß die Tragödie höchster Ausdruck der Bejahung sei, 13
K G W V I I I 3, 14 [119], S. 90.
6
Georges Goedert
da gerade in ihr die schrecklichsten Aspekte des Lebens als Ingredienz maßloser Fülle und Schönheit erschienen. Die Erkenntnis vom Wesen der Welt kann nach Schopenhauer aber sowohl ,,Motiv" als „Quietiv" des menschlichen Wollens sein. Ist sie „Motiv", dann bejaht damit der Wille sich selbst, d. h. „indem in seiner Objektität d. i. der Welt und dem Leben, sein eigenes Wesen ihm als Vorstellung vollständig und deutlich gegeben wird, hemmt diese Erkenntnis sein Wollen keineswegs; sondern eben dieses so erkannte Leben wird auch als solches vom ihm gewollt, wie bis dahin ohne Erkenntnis, als blinder Drang, so jetzt mit Erkenntnis, bewußt und besonnen" (S. 336). Diese Selbstbejahung des Willens, so meint Schopenhauer, könne sich bei einem Menschen vollziehen, der zwar das Wesen des Willens erkannt hätte, jedoch nicht „zugleich durch eigene Erfahrung, oder durch eine weitergehende Einsicht, dahin gekommen wäre, in allem Leben dauerndes Leiden als wesentlich zu erkennen" (S. 334). Diesen Standpunkt konnte Nietzsche einnehmen, um ihn gemäß seinen dionysischen Vorstellungen zu vertiefen. Von ganz besonderer Bedeutung ist wohl auch der Umstand, daß Schopenhauer an dieser so wichtigen Stelle der Welt als Wille und Vorstellung, im Zusammenhang mit der erwähnten lebensbejahenden Gesinnung, von dem Wunsch nach einer „Wiederkehr" des individuellen Lebenslaufes spricht. Er schildert den Menschen hier als jemanden, „der im Leben Befriedigung fände, dem vollkommen wohl darin wäre, und der, bei ruhiger Überlegung, seinen Lebenslauf, wie er ihn bisher erfahren, von endloser Dauer, oder von immer neuer Wiederkehr wünschte (. . .)" (ebd.). Was jedoch Schopenhauers ethischen Weg der Erlösung betrifft, wo die Erkenntnis vom Wesen der Welt und des Lebens zum „Quietiv" des Willens geworden sei und dazu führe, daß dieser sich selbst verneint und aufhebt, so lehnt Nietzsche ihn nicht nur ab, sondern er betrachtet schon allein die Versuchung, ihn zu gehen, als die größte Gefahr, auch für sich selbst. Die „Verneinung des Willens zum Leben" ist nach ihm ein Produkt der Schwäche und der „décadence". Sie ist Nihilismus in seiner unverhohlensten Ausdrucksform. Dagegen offenbart sich die Stärke nach Nietzsche gerade dadurch, daß die mit jeder tieferen Einsicht in das Wesen der Dinge verbundenen Leiden als notwendige Ingredienz schöpferischer Gestaltung am Kunstwerk „Mensch" und somit als unentbehrliche Bedingung zur Uberwindung des Nihilismus verstanden werden. ,,— tiefer hinab in den Schmerz als ich jemals stieg", sagt Zarathustra, „bis hinein in seine schwärzeste Flut! So will es mein Schicksal: Wohlan! Ich bin bereit" 1 4 . Der wahre Philosoph wird in dieser dritten Periode dargestellt 14
Za III, Der Wanderer-, KGW VI 1, S. 191.
Nietzsche und Schopenhauer
7
als ein Mensch, der leidet und Leiden um sich herum verbreiten muß. Daß es bei ihm keinen Platz für das Mitleid geben darf, liegt demgemäß auf der Hand.
II. Nietzsches
„Immoralismus" und dessen Bedeutung für seine gegen das Christentum
Polemik
W i r sind aber gezwungen, hier noch einen wichtigen Schritt weiterzugehen, indem wir hervorheben, daß nach Schopenhauer die Leiden der Existenz eine moralische Bedeutung haben. Mit seiner Lehre von der „ewigen Gerechtigkeit" zeigt er, daß das Leiden die Konsequenz einer Schuld sei und also eine verdiente Strafe darstelle. „Will man wissen," so schreibt Schopenhauer, „was die Menschen, moralisch betrachtet, im ganzen und allgemeinen wert sind; so betrachte man ihr Schicksal im ganzen und allgemeinen. Dieses ist Mangel, Elend, Jammer, Qual und Tod. Die ewige Gerechtigkeit waltet: wären sie nicht, im ganzen genommen, nichtswürdig; so würde ihr Schicksal, im ganzen genommen, nicht so traurig sein. In diesem Sinne können wir sagen: die Welt selbst ist das Weltgericht. Könnte man allen Jammer der Welt in eine Waagschale legen, und alle Schuld der Welt in die andere; so würde gewiß die Zunge einstehn" (S. 415f.). Der Weltwille bestraft sich selbst. Er ist Verbrecher und Henker zugleich. Heimsoeth spricht mit Recht von „Schopenhauers Schuld- und Selbstverdammungsmetaphysik" 15 . Die Schuld basiert nach Schopenhauer auf der mysteriösen Selbstentzweiung des Willens. Wer den „Schleier der M a j a " zerreißt, sieht ein, daß der Wille, „im heftigen Drange, die Zähne in sein eigenes Fleisch schlägt (. . . ) " (S. 418). Das Böse, d . h . das Verursachen fremden Leidens, und das Übel, d. i. der eigene Schmerz, haften beide demselben Willen an: der Übeltäter und der Gepeinigte sind ihrem tieferen Wesen gemäß eins. Schopenhauer zitiert den spanischen Dichter Calderon: „Denn die größte Schuld des Menschen / Ist, daß er geboren ward" (S. 419). Dies ist natürlich eine wahre Verurteilung des Lebens im Namen der Moral. Dazu verdammt Schopenhauer diejenigen, welche die moralische Bedeutung der Welt leugnen wollen. In den Parerga und Paralipomena lesen wir den so wichtigen Satz: „Daß die Welt bloß eine physische, keine moralische Bedeutung habe, ist der größte, der verderblichste, der fundamentale Irrtum, die eigentliche Perversität der Gesinnung, und ist wohl im Grunde auch das, was der Glaube als den Antichrist personifiziert hat" 1 6 .
15 16
Metaphysische Voraussetzungen P P II, S. 214.
. . ., a.a.O. S. 51.
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Georges Goedert
Wenn man sich nun bewußt ist, daß Nietzsche diese Textstelle genauestens kannte — den philologischen Beweis hierfür hat ja Jörg Salaquarda in seiner Studie Der Antichrist auf endgültige Weise erbracht17 —, dann erkennt man, daß der Sinn des Namens „Antichrist" sich bei ihm keineswegs erschöpfen läßt durch die Bezeichnung „Feind des Christentums", auch wenn das Werk Der Antichrist eine großangelegte Attacke auf das Christentum darstellt. Nietzsche ging es an erster Stelle darum, Schopenhauers Moralismus zu überwinden, und das Christentum war in seinen Augen die weltweite Ausdrucksform der in demselben enthaltenen Prinzipien. Der Name „Antichrist" bezieht sich somit bei ihm im Grunde auf das Ideal des dionysischen Ja-Sagens zum Leben, welches er Schopenhauer entgegensetzt. Sein „Immoralismus", sein „Jenseits von Gut und Böse", seine Lehre von der „Unschuld des Werdens" bekräftigen dieses Ja zum Leben, während dagegen Schopenhauers Moralismus das Nein zum Leben befürwortet. Es läßt sich tatsächlich beweisen, daß Nietzsches Entlarvung und Bekämpfung der christlichen Werte stets bezogen ist auf das Christentum so, wie es in der Schopenhauerschen Deutung hervortritt. Diese Deutung steht aber mit den fundamentalen Äußerungen christlichen Selbstverständnisses durchaus nicht immer in Einklang. Man gelangt folglich zu dem doppelten Schluß, daß Nietzsches Angriffe gegen das Christentum eine untergeordnete Bedeutung in seinem Werk haben und zum Teil ins Leere gehen. Schopenhauer hatte das Christentum einseitig in der Perspektive seines Pessimismus interpretiert. An der Tatsache, daß Nietzsche dasselbe so, wie es in dieser Interpretation dargestellt ist, zum Gegenstand seiner Anfeindungen machte, war wohl besonders auch das protestantisch-pietistische Milieu verantwortlich, in dem er aufgewachsen war. Nietzsches Kampf gegen die Moral beginnt mit Menschliches, Allzumenschliches. Man darf behaupten, daß derselbe im Laufe der ganzen zweiten Periode fast ausschließlich gegen Schopenhauer gerichtet ist. Vom Christentum ist da nur wenig und sozusagen nebenbei die Rede. Der Philosoph selbst schreibt an einer Stelle der Genealogie der Moral, wo er über Menschliches, Allzumenschliches spricht: „Es handelte sich für mich um den Wert der Moral, — und darüber hatte ich mich fast allein mit meinem großen Lehrer Schopenhauer auseinanderzusetzen (. . .). Es handelte sich insonderheit um den Wert des ,Unegoistischen', der Mitleids-, Selbstverleugnungs-, Selbstopferungs-Instinkte, welche gerade Schopenhauer so lange vergoldet, vergöttlicht und verjenseitigt hatte, bis sie ihm schließlich als die ,Werte an sich' übrigblieben, auf Grund deren er zum Leben, auch zu sich selbst, nein sagte"16. 17 18
In: Nietzsche-Studien 2, 1973, S. 91 ff. G M , Vorrede 5: KGW VI 2, S. 263f.
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In welchem Maße Nietzsches „Umwertung aller Werte" eine Umkehrung der Schopenhauerschen Ethik darstellt, wird vor allem ersichtlich, wenn man genau ins Auge faßt, welches nach Schopenhauer die drei fundamentalen Motivationen des menschlichen Handelns sind: 1. Der Egoismus, der das eigene Wohl will. Schopenhauer stellt ihn der Gerechtigkeit entgegen. — 2. Die Bosheit, welche die Absicht verfolgt, dem anderen wehzutun. Sie kann sich bis zur äußersten Grausamkeit steigern. Schopenhauer stellt sie insbesondere der Tugend der Menschenliebe entgegen. — 3. Das Mitleid, welches das Wohl des Nächsten zum Ziele habe und somit allein es vermöge, zu den Tugenden der Gerechtigkeit und der tätigen Menschenliebe zu veranlassen. Nur das Mitleid sei moralischer Natur. Egoismus und Bosheit sind „antimoralische Triebfedern". Nietzsche will dagegen zeigen, daß alles menschliche Handeln auf dem Egoismus beruhe. Selbst der Mitleidige handele immer aus Egoismus. Dasselbe gelte für die Bosheit, denn diese verfolge nicht an erster Stelle die Absicht, dem anderen wehzutun, sondern sie diene vor allem eigenen Interessen. Damit ist das genaue Gegenteil zu Schopenhauers Moral aufgestellt. Der Weg ist geöffnet für die Lehre vom Wert des Egoismus und der Bosheit beim starken Menschen. Selbstverständlich nimmt die Kritik des Mitleids hier eine zentrale Stellung ein. Nietzsche mußte es insbesondere darum gehen, Schopenhauers „Grundlage der Moral" zu zerstören. Man weiß, daß nach Schopenhauer das wichtigste Moment des Mitleids die Durchschauung des principii individuationis ist. Die Vielheit der Individuen ist nur „Erscheinung"; unser Sein „an sich" ist identisch mit dem einen Weltwillen, der das „An-Sich" aller lebenden Wesen ausmacht. Die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich wäre so für Augenblicke aufgehoben: in dem Leiden des anderen leidet das Ich. Demgegenüber behauptet Nietzsche, es sei unmöglich, sich in die Haut eines anderen Menschen zu versetzen. Deshalb könne Mitleid, sofern es wirkliches Leiden enthalte, immer nur die Empfindung des eigenen Ich sein. Dies sei ein Affekt, gegen den es gelte, sich zur Wehr zu setzen, denn er stelle eine Schwäche dar, „wie jedes Sich-verlieren an einen schädigenden Affekt". „Gesetzt," sagt Nietzsche, „es herrschte auch nur einen Tag: so ginge die Menschheit an ihm sofort zugrunde" 19 . Dieses eigene Leiden wolle der Mitleidige durch sein Handeln überwinden. Seine Motivation sei also egoistisch. Vielfach sei ein solches Leiden aber nicht einmal vorhanden, und die Hilfsbereitschaft des angeblich Mitleidigen sei dann bedingt durch andere egoistische Gründe, wie etwa Furcht oder Streben nach Überlegenheit. 19
M 134: K G W V 1, S. 126.
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Ungeheuer wichtig für Nietzsches Ablehnung und Verurteilung des Christentums war der Umstand, daß Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung die „reine Liebe", und damit auch die christliche „Caritas" mit dem Mitleid identifizierte. Schopenhauer schrieb: „Alle Liebe (aycurn, Caritas) ist Mitleid" (S. 443). Diese Identifikation sollte für Nietzsche stets wegweisend sein. Er unterzog die christliche Liebe genau derselben Kritik wie das Schopenhauersche Mitleid. In diesem so wichtigen Punkte muß ihm aber Einseitigkeit und Mangel an Umsicht vorgeworfen werden. Denn erstens darf die christliche Liebe nicht so einfach mit Mitleid identifiziert werden. Das Mitleid ist wohl eine der vielen Äußerungen der „caritas", nicht aber sie selbst. Zweitens ist die christliche Liebe auch nicht identisch mit dem Mitleid so, wie Schopenhauer es auffaßte. Und drittens muß überhaupt betont werden, daß das Schopenhauersche Mitleid widersprüchlicher Natur ist. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht besonders erstaunlich, daß Nietzsche in einzelnen Punkten, speziell, wie sich leicht zeigen läßt, was die „schenkende Tugend" im Zarathustra betrifft, Vorstellungen entwickelt, die sich zwar seiner eigenen und Schopenhauers Auffassung vom Christentum total widersetzen, aber trotzdem in mancherlei Hinsicht erinnern an die christliche Lehre. Die wahre christliche Liebe hätte ein Modell sein können für Zarathustras „schenkende Tugend". Dies einzusehen war Nietzsche aber verwehrt wegen seines Verständnisses Schopenhauers. In Menschliches, Allzumenschliches lesen wir: „(. . .) so konnte die ganze mittelalterliche christliche Weltbetrachtung und Mensch-Empfindung noch einmal in Schopenhauers Lehre trotz der längst errungenen Vernichtung aller christlichen Dogmen eine Auferstehung feiern." Und es folgt: „(. . .) ich glaube, daß es jetzt niemandem so leicht gelingen möchte, ohne Schopenhauers Beihilfe dem Christentum und seinen asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: was namentlich vom Boden des noch vorhandenen Christentums aus unmöglich ist" 2 0 . Auf diese, hier erwähnte „Beihilfe" hat Nietzsche selbst nie verzichtet, und so wurde seine „Umwertung" der Ethik Schopenhauers schließlich zu einer Umkehrung der christlichen Werte. Das Christentum bekämpft er stets als die Religion des Mitleids und der Weltverneinung. Im Zusammenhang mit seiner Untersuchung von Nietzsches Kritik des Christentums bezeichnet Heinrich Weinel Schopenhauer als „Nietzsches Verhängnis". „Er hat freilich gemeint," so schreibt Weinel, „ihn völlig überwunden zu haben, und einmal selbst gesagt, daß Schopenhauer alles falsch gesehen habe. In Wahrheit ist Nietzsche nie von der Problemstellung Schopenhauers frei geworden. Er selbst bekennt es immer wieder: Mitleid und Pessimismus, darum dreht sich sein Denken" 2 1 . 20 21
M A I 26: K G W IV 2, S. 43. Ibsen, Bjömson, Nietzsche. Individualismus
und Christentum,
Tübingen
1908, S. 231.
Nietzsche und Schopenhauer
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Was nun die dritte Periode betrifft, so ist sie vor allem gekennzeichnet durch eine ungeheure Verallgemeinerung des gegnerischen Ideals sowie durch den nihilistischen Charakter, der darin demselben zugeschrieben wird. Nietzsche greift hier nicht nur das Christentum auf eine viel direktere und massivere Weise an, sondern er wendet sich gegen die gesamte philosophische Tradition des Abendlandes seit Plato. Er wirft ihr vor, moralischer Natur zu sein und sich auf die Metaphysik zu stützen, welche im wesentlichen ein Produkt moralischen Urteilens sei. Uberall wegweisend aber bleibt sein Kampf gegen Schopenhauer. Im Vordergrund steht jetzt der Dualismus der Stärke und der Schwäche. Das Christentum und die abendländische Philosophie seien Produkte der Schwäche, in denen, mit unterschiedlichen Dosierungen, die „décadence" sowie die „Herden"- und „Sklaven"-Instinkte sich äußerten. Nietzsche pocht besonders auf das Ressentiment, in dem er die fundamentale Triebkraft im Aufbau der herkömmlichen Werturteile zu erkennen glaubt. Schopenhauer ist jetzt für ihn der letzte große Repräsentant der nihilistischen abendländischen Tradition. In dessen „Willen zum Nichts" erblickt er die letzte Konsequenz des Verlangens nach Gott, und Gott stellt er dar als eine bloße Maske des Nichts. Die Kritik an Schopenhauers Pessimismus war der Ausgangspunkt von Nietzsches Ansichten über den abendländischen Nihilismus. Sie war auch der Anfang seiner Überwindung desselben. Wenn Nietzsche Schopenhauer selbst auch nicht als einen „décadent" bezeichnet, sondern in ihm, wie in Pascal, ein Beispiel der durch die „Herden"-Moral verursachten „Verdüsterung der Starken" sieht 22 , so unterstreicht er doch dessen Feindschaft dem Leben gegenüber. „Schopenhauer, so heißt es im Antichrist, war lebensfeindlich: deshalb wurde ihm das Mitleid zur Tugend . . ." 2 3 . Diese Ansicht teilt Max Scheler, wenn er das Schopenhauersche Mitleid eine „aus dem Ressentiment geborene Gemütsbewegung" nennt. Er schreibt: „Denn seine Bedeutung besteht für Schopenhauer nicht in ihm als einer Äußerung der Liebe — die er vielmehr aus dem Mitleid verstehen will —, auch nicht in einem Faktor, der zu Wohlwollen und Wohltun leitet, sondern nur in einem vermeintlichen Innewerden der metaphysischen Identität des an sich selbst leidenden Willens in allen Individuen" 24 . Im Mitleid solle der Mensch ja erfahren, wie verneinungswürdig das Leben sei, und also zur Askese verleitet werden. Die eigentliche Tragweite von Nietzsches Kritik des Mitleids und damit die wahre Bedeutung seiner „Umwertung" im Laufe dieser dritten Periode 22 23 24
Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887: KGW VIII 1, 5 [35], S. 200. A C 7: K G W VI 3, S. 172. Das Ressentiment im Aufoau der Moralen, in: Gesammelte Werke, Bd. 3. Bern "1955, S. 78f.
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erfaßt man erst dann richtig, wenn man weiß, daß Schopenhauer in seiner Schrift Über die Grundlage der Moral die Rachsucht ableitet von der „Gehässigkeit", welche er als „mehr teuflisch" bezeichnet gegenüber dem Egoismus, den er „mehr tierisch" nennt25. Erinnern wir uns noch einmal daran, daß nach ihm der Egoismus und die Bosheit die „antimoralischen Triebfedern" sind, das Mitleid dagegen die einzige moralische! Aus letzterer macht Nietzsche folglich das Produkt eines von Schopenhauer als „Laster" bezeichneten und von einer „teuflischen" Grundpotenz abgeleiteten seelischen Hanges. Und da er nicht aufhört, die christliche Liebe mit diesem Mitleid zu identifizieren, so gilt nach ihm in bezug auf dieselbe das gleiche ungeheuerlich erscheinende Urteil. Die Liebe wäre somit eine Ausgeburt des Hasses! Nietzsche spricht Jesus selbst frei vom Ressentiment, nennt ihn aber einen „décadent" 26 . Auch in diesem letzteren Punkt dürfte der Einfluß Schopenhauers leicht erkennbar sein. Schopenhauer faßte die Gestalt Jesu auf „als das Symbol, oder die Personifikation, der Verneinung des Willens zum Leben" (S. 480), und Nietzsche erblickt in der „Verneinung des Willens zum Leben" den eigentlichen Kern des Verfalls, der „décadence". Nun muß jedoch bemerkt werden, daß Nietzsche zwar die Rachsucht verurteilt, dagegen aber keineswegs das Böse als solches ablehnt. Ganz im Gegenteil! Er meint, die starken Menschen brauchten sogar das Böse zur Verwirklichung höheren Menschentums. In dem Kapitel Von den drei Bösen preist Zarathustra die Wollust, die Herrschsucht und die Selbstsucht. Auch dies ist Punkt für Punkt eine „Umwertung" von Schopenhauers moralischen Werturteilen. Uberhaupt enthält ja der Zarathustra an vielen Stellen eine direkte Auseinandersetzung mit Schopenhauer. Besonders wichtig in dieser Beziehung sind die Kapitel: Von den Predigern des Todes, Von den Mitleidigen, Von der unbefleckten Erkenntnis, Der Wahrsager, Vom Geist der Schwere. Auch das Kapitel Der Notschrei ist hier zu erwähnen. Dieser „Notschrei", der zu Zarathustras Ohren gelangt, stammt von den „höheren Menschen". Ihre Leiden sind unermeßlich. Äußerst bezeichnend ist es, daß hier der „Wahrsager" wieder erscheint, die Personifikation Schopenhauers, und Zarathustra zu seiner „letzten Sünde" verführen will, dem Mitleid mit den „höheren Menschen". Von demselben „Notschrei" ist auch noch die Rede am Schluß des Werkes. Und noch einmal muß Zarathustra sich gegen die Versuchung zum Mitleid mit den „höheren Menschen" zur Wehr setzen. Erst wenn diese Versuchung endgültig bestanden ist, kann aus dem Morgen 25 26
In: Sämtliche Werke, a.a.O. Bd. 4, 2. Hälfte, S. 201 (im folgenden: GrMo). A C 3 1 : KGW VI 3, S. 200.
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Mittag werden, der „große Mittag". „Mein Leid und mein Mitleiden — s o spricht Zarathustra, „was liegt daran! / Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werkel"21
III.
Der tragische Mensch und der Glaube an die „Ewige Wiederkunft"
Das „Werk" Zarathustras aber ist der „Ubermensch". Damit er einst verwirklicht werde, tut es not, daß es fürs erste die starken tragischen Menschen gibt. Die Tugend solcher Menschen zeichnet sich nach Nietzsche hauptsächlich durch drei Merkmale aus, von denen jedes wiederum das genaue Gegenteil zur Tugend im Schopenhauerschen Sinne bildet. Es handelt sich dabei um: 1. Die Macht. — 2. Die „Immoralität". — 3. Das Verlangen nach Distanz. Tugend bedeutet Macht. Das Verlangen nach Macht ist aber Egoismus, und Schopenhauer hatte behauptet, daß Egoismus und moralischer Wert einander ausschließen. Wir lesen bei ihm: „Hat eine Handlung einen egoistischen Zweck zum Motiv; so kann sie keinen moralischen Wert haben: soll eine Handlung moralischen Wert haben; so darf kein egoistischer Zweck, unmittelbar oder mittelbar, nahe oder fern, ihr Motiv sein" 28 . Dabei muß berücksichtigt werden, daß der „Wille zur Macht" bei Nietzsche zugleich ontologisches Prinzip und ontisches Modell ist. Als ontologisches Prinzip ist er in allen lebendigen Wesen tätig, also auch bei den Schwachen. Die „Sklaven"-Moral, genauso wie die „Herren"-Moral, wird aufgefaßt als Äußerung eines Machtwillens. N u r bei den Starken aber bildet die Macht eine N o r m , die es zu erfüllen gilt. Diese Norm ist natürlich der Schopenhauerschen Resignation in der Askese total entgegengesetzt. Ähnliches gilt für die „Immoralität". Dieser Begriff bedeutet bei Nietzsche einerseits die Gleichgültigkeit gegenüber Gut und Böse, und andererseits die Verwirklichung des Bösen. Was diese letztere Bedeutung angeht, so muß betont werden, daß Nietzsche den Begriff des Bösen hauptsächlich im Zusammenhang mit der „Herden"-Optik erklärt. Er beziehe sich nämlich essentiell auf Verhaltensweisen, welche das „Herdentier" schädigen oder gar vernichten. Genau dieses Böse integriert Nietzsche aber in die Tugend des tragischen Menschen. Daneben verleiht er der „Immoralität" in diesem zweiten Sinne jedoch auch eine ontologische Dimension, indem er den Kampf für das Erringen der Macht und die damit notwendigerweise verbundene 27 28
Za IV, Das Zeichen: K G W VI 1, S. 404. G r M o , S. 206.
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Schädigung anderer Lebewesen als wesentliche Merkmale alles Daseins darstellt, wobei der von den Schwachen geforderte Verzicht auf Macht ebenfalls als ein Mittel dieses Kampfes gewertet werden müsse, also ebenfalls böse sei. Dieser Punkt dürfte als ein besonders relevantes Beispiel gelten für die ganze Eigenart von Nietzsches Beziehung zu Schopenhauer. Eigentlich hat er ja gerade in Schopenhauers Lehre von der Selbstzerfleischung des Willens in der Welt der Individuation gelernt, in welch hohem Maße alles Leben Kampf ist und wie die einzelnen Individuen sich durch Herrschaft über andere zu behaupten bestrebt sind. Aus der Bejahung dieses Willens hat Schopenhauer aber einen Unwert gemacht, ja eine wahre „Sünde". Wert hat für ihn nur die „Verneinung des Willens zum Leben" in der Askese, sowie die Tugend, welche, wie die Askese, auf der Erkenntnis beruhe, daß alles Leben „an sich" Leiden sei und daß „an sich" alle Lebewesen aus demselben, einen, leidenden Weltwillen beständen. Nietzsche, der Vernichter der Moral und der Metaphysik, führt Schopenhauers Auffassung vom Leben zu Konsequenzen, •welche dieselbe selbst hätte zeitigen können, wenn es für sie nicht den metaphysischen Hintergrund gegeben hätte und auch nicht die Ethik des Mitleids und der Askese als angebliches Gegenmittel zum Leiden und zum Kampf. Wenn Nietzsche zeigt, daß selbst im Mitleid und in der Askese der Mensch nach eigenen Interessen strebt, dann heißt das, daß es keine eigentliche Umkehr gebe, daß demnach die „Immoralität" allgemein sei und also das Furchtbare des Lebens in keiner seiner Erscheinungen fehle. Die moralische Verurteilung des Lebens verliert ihren Sinn, wenn sie selbst als Lebensbejahung hingestellt wird und es keinen von ihr unabhängigen Standort gibt. Was die „Immoralität" betrifft, ist Nietzsche somit in doppelter Weise als Antipode Schopenhauers zu betrachten. Erstens dadurch, daß er sich „jenseits von Gut und Böse" stellt, und zweitens, indem er das Böse zu einem Wert beim starken Menschen macht. Seine Lehre zeigt hier, in ihren extremsten Konsequenzen, offensichtlich provokatorische und selbst verbrecherische Züge auf. Auch diese erscheinen erst in ihrer wahren Bedeutung, wenn man in ihnen einen Gegenstoß mehr auf die Moral Schopenhauers erkennt. Drittens zeichnet sich wahre Tugend nach Nietzsche, wie gesagt, aus durch das Verlangen nach Distanz. Jeder starke Mensch muß den ihm ureigenen Weg in der Praktik der Tugend gehen, damit eine weitere Erhöhung des Typus „Mensch" ermöglicht werde. Zarathustra sagt: „Den Weg nämlich — den gibt es nicht!" 29 Dieser resolute Individualismus steht ebenfalls in größtem Gegensatz zu Schopenhauer, der ja gelehrt hat, daß alle Menschen „an sich" nicht nur gleich, sondern sogar eins seien, und daß alle 29
Za III, Vom Geist der Schwere 2: KGW VI 1, S. 241.
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Tugendhaftigkeit notwendigerweise bestimmt sei durch die Einsicht in diese Identität. Den absoluten Höhepunkt in der Uberwindung Schopenhauers erreicht Nietzsche aber mit dem Glauben an die „Ewige Wiederkunft". Darin wird selbst die Verneinung bejaht. Man darf sprechen von einer dionysischen Theodizee. Daß der „Wiederkunfts"-Gedanke die extremste Äußerung von Nietzsches Herausforderung Schopenhauers darstellt, beweist schon allein die Stelle im Zarathustra, wo er zum erstenmal ausgesprochen wird. Zarathustra wendet sich damit an den „Zwerg", welcher seinen „Teufel und Erzfeind(e)", den „Geist der Schwere" verkörpert 30 . Dieser ist das Symbol für alles, was zum Pessimismus der praktischen Lebensverneinung gehört oder zu derselben hinführt. Er stellt auch den Hang dar, der Nietzsche selbst in seinem Innern zu diesem Pessimismus immer wieder hinzuziehen drohte. Der „Zwerg" verschwindet bei der Verkündigung dieses großen Gedankens, was bedeutet, daß er denselben nicht verträgt und von ihm verjagt wird. Schopenhauers Pessimismus kann nur vollkommen überwunden werden sofern genügend Kraft vorhanden ist, den Gedanken an die „Ewige Wiederkunft des Gleichen" auszuhalten. Nur wer dazu imstande ist, vermag es auch, durch seinen also gesteigerten Heroismus das Dasein unter all seinen Aspekten zu rechtfertigen, ja zu segnen, selbst das Furchtbare in ihm und vor allem auch das Kleine und Ekelerregende. Der Verurteilung allen Daseins durch Schopenhauer steht somit die Rechtfertigung des Werdens unter all seinen Formen entgegen. Dazu gehört schließlich selbst die Rechtfertigung des „Geistes der Schwere". Dieser muß dasein, damit im Kampf gegen denselben das Ideal der Bejahung sich durchsetze. Durch den Glauben an die „Ewige Wiederkunft" werden folglich auch die christliche Lehre und der Pessimismus Schopenhauers gerechtfertigt, da nur der Kampf gegen jene den Weg zu solch ungeahnten Höhen bahnen konnte. „Denn, so fragt Zarathustra, muß nicht dasein, über das getanzt, hinweggetanzt werde?" 31 Sicherlich darf man schlußfolgernd schon behaupten, Schopenhauer sei in einer gewissen Hinsicht, wie Heinrich Weinel sagt, „Nietzsches Verhängnis" gewesen. Man ist aber auch verpflichtet, sich zu fragen, ob es ohne die Stellungnahme zu Schopenhauer Nietzsche gelungen wäre, das Leben auf solch sublime Weise zu verherrlichen.
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Za III, Vom Gesicht und Rätsel 1: KGW VI 1, S. 194ff. Za III, Von alten und neuen Tafeln 2: KGW VI 1, S. 244.
Diskussion Ulmer: Da Ihr Thema „Schopenhauer und Nietzsche" lautete, war es naheliegend, Nietzsches Denken ganz von seiner Auseinandersetzung mit Schopenhauer her zu entwickeln. Dieses Vorgehen ist berechtigt und sogar unerläßlich, aber man muß auch seine Grenzen beachten. Wenn Sie zuletzt sagten, daß Schopenhauer Nietzsches Verhängnis gewesen ist und daß noch seine späten Konzeptionen entscheidend von seiner Auseinandersetzung mit diesem Philosophen geprägt blieben, dann scheint mir die Gefahr der Einseitigkeit aufzutauchen. Ich möchte daher einen etwas weiteren Rahmen abstecken. Schopenhauer und Nietzsche galten lange und gelten in gewisser Hinsicht noch als die philosophischen Außenseiter des neunzehnten Jahrhunderts. Da liegt es natürlich nahe, dem Einfluß des einen Außenseiters auf den anderen nachzugehen. Aber wir sehen inzwischen, daß sowohl Schopenhauer wie auch Nietzsche viel stärker, als man früher gedacht hatte, auch in den großen Strom der philosophischen Uberlieferung eingebettet sind. Schopenhauers Außenseiterrolle besteht wesentlich darin, daß er den bisherigen Begriff des philosophischen Gottes aufgegeben hat. Wenn er aber den Begriff des Willens in den Mittelpunkt stellt und wenn er die Selbsterkenntnis des Menschen als Weg zur Erkenntnis des Seins ansetzt, dann nimmt er Grundmomente der neuzeitlichen Metaphysik auf. In seiner Haltung zur Welt meint er sich von der philosophischen Tradition zu unterscheiden. Aber Nietzsche hat sicherlich mit Recht betont, daß dieses Moment der Verneinung der sinnlichen Welt in der metaphysischen Tradition immer schon enthalten war, und daß es bei Schopenhauer nur eine besondere Färbung annimmt und an Intensität gewinnt. Nietzsche hat auch gesehen, daß Schopenhauers These vom Dasein als Leiden der christlichen Weltauffassung verpflichtet ist und daß Schopenhauer auch in dieser Hinsicht viel tiefer mit der Tradition verflochten ist, als er selbst sieht und meint. Wenn man Schopenhauer von Nietzsche aus in den Blick nimmt, dann fällt vor allem auf, daß er völlig unhistorisch denkt. Insofern steht Nietzsche — dies ist die These, die ich aufstelle — von Anfang an außerhalb von Schopenhauers Denken, trotz aller Gedanken und Motive, die er noch in der Geburt der Tragödie von diesem übernimmt. Nietzsche hat der Philosophie eine Aufgabe zugewiesen, an die Schopenhauer nie gedacht hat, nämlich die Aufgabe, ihre Gegenwart zu kritisieren und ihr gleichzeitig neue Möglich-
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keiten zu einer positiven Entwicklung aufzuzeigen. Von diesem anderen Verständnis von Philosophie her muß man m. E. auch seine Entwicklung verstehen, und man kommt auf diesem Weg vielleicht weiter, als wenn man nur an Schopenhauer orientiert bleibt. Denn Nietzsches Auseinandersetzung mit Schopenhauer ist von vornherein wesentlich gegen die Metaphysik überhaupt gerichtet und nicht speziell gegen Schopenhauer, von dem er noch einzelne Momente übernimmt. In der zweiten und dritten Periode spricht Nietzsche immer wieder von dieser Aufgabe der Philosophie, daß sie der modernen Kultur einen neuen Weg weisen und einen neuen Impuls geben soll. Und seine Entwicklung ergibt sich daraus, daß er Grundlagen und Maßstäbe für diese Wegweisung sucht. Wenn er schließlich den „Willen zur Macht" aufstellt, so bleibt auch er damit der Uberlieferung verhaftet, was z. B. Heidegger deutlich herausgestellt hat. Untersucht man die Struktur von Nietzsches „Willen zur Macht", dann erkennt man starke Verwandtschaften zum Freiheitsbegriff bei Descartes und zur absoluten Selbstbestimmung des Menschen bei Kant. Die Verbindung Nietzsches mit der großen Uberlieferung ist jedenfalls stärker, als man zunächst anzunehmen geneigt ist. Nietzsche hat zwar nicht sehr viel direkt rezipiert. Aber das philosophische Genie zeigt sich eben darin, daß es auf alle diese Probleme kommt, auch wenn es nur eine Quelle oder einige wenige Quellen durchgearbeitet hat. So ist es möglich, daß Nietzsche z. B. viel mehr von Hegel hat, als nach seiner geringen Kenntnis von dessen Texten zu erwarten wäre. Er hat das schließlich selbst gemerkt, z. B. wenn er im Ecce bomo über die Geburt der Tragödie sagt, daß der Zeitund Entwicklungsrhythmus, den er dort angegeben hatte, ganz hegelisch sei. Ein letzter Punkt: Den Immoralismus Nietzsches verstehe ich etwas anders als Sie, Herr Goedert, ihn uns entwickelt haben, indem Sie ihn aus der Wendung gegen Schopenhauer interpretieren. Ich meine, man muß primär auf die positive Aufgabe sehen, die Nietzsche mit „Umwertung aller Werte" bezeichnet. Er meint doch nicht, daß alle Werte beiseite geschoben werden müssen, sondern er sagt ausdrücklich, daß die überlieferten Werte erhalten bleiben sollen. Sein Programm der Umwertung bezieht sich auf die Maßstäbe der bisherigen Werte und zielt auf eine neue Rangordnung ab. Dabei hat Nietzsche keineswegs nur die Stärke, sondern auch die Verantwortung betont. Um an Ihr Thema anzuknüpfen: Von Schopenhauer übernimmt Nietzsche auch den Begriff der Gerechtigkeit, und er versucht, ihn für seine Vorstellung von einer neuen Wertordnung fruchtbar zu machen. Und bei aller Polemik gegen das, was aus der Schwäche stammt, ist Nietzsche doch offen für die Einsicht, daß auch die décadents etwas höchst Positives geleistet haben: sie haben den Geist differenziert und die Klugheit entwickelt.
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Müller-Lauter: Ohne Zweifel gehört Nietzsche in die Tradition der abendländischen Metaphysik hinein und ist ohne sie nicht zu denken. Man darf in der Tat nicht nur auf Schopenhauer sehen, wenn man über die Einflüsse reflektiert, die für Nietzsche maßgeblich gewesen sind. Aber man kann auch in der anderen Richtung übertreiben. Es war eine, wie ich meine, recht negative Folge der insbesondere in Deutschland und Frankreich zeitweilig und zum Teil bis jetzt vorherrschenden Interpretation Nietzsches mit Hilfe der Heideggerschen Konzeption von Metaphysikgeschichte, daß der Begriff des Willens so gefaßt wurde, daß Schopenhauer angesichts des großen Zuges dieser Entwicklungen unwesentlich wurde. Ich finde es deswegen sehr wichtig, daß man die Zusammenhänge Schopenhauer—Nietzsche wieder genauer beleuchtet, als das lange Zeit geschehen ist. Aber indem man dies tut, wird man nicht darum herumkommen, die Differenzen zwischen Schopenhauer und Nietzsche mit aller Schärfe und Deutlichkeit aufzuzeigen, auch in den Punkten, wo gewisse Einflußsphären nachweisbar sind. Ich frage mich, ob Nietzsches schon ganz früh, etwa schon zur Zeit der Geburt der Tragödie und davor, entwickelte innere Distanz zu Schopenhauer nicht noch deutlicher herausgestellt werden müßte. Ich denke etwa daran, daß Nietzsche Schopenhauer schon vor 1873 als den großen Vereinfacher schildert. Das ist für die von Herrn Ulmer genannte Problematik wichtig, denn Nietzsche sagt in diesem Zusammenhang: Schopenhauer räumt mit der „Scholastik" auf, womit er natürlich die idealistische Philosophie meint. Nietzsche ist Schopenhauer dankbar für den Freiraum, den er geschaffen hat, aber zugleich kehrt er diesen Begriff der Vereinfachung auch ins Negative und wirft Schopenhauer eine Tendenz zum Popularisieren und Simplifizieren vor. Gründer: Die beiden Diskussionsbemerkungen von Herrn Ulmer und Herrn Müller-Lauter haben daran erinnert, daß dieser Ausschnitt in einen übergreifenden geschichtlichen Zusammenhang eingebettet ist. Uber Art und Ausmaß der Verbindungen gehen die Meinungen freilich auseinander. Herr Ulmer stimmt mit Heidegger darin überein, daß Nietzsche wesentlich in diesen Zusammenhang der großen metaphysischen Tradition gehöre und an frühere Positionen anknüpfe, während Schopenhauer für die Ausbildung seiner Grundgedanken keine zentrale Bedeutung zukomme. Danach wäre nur einer der beiden, nämlich Schopenhauer, ein Außenseiter. Demgegenüber ließe sich natürlich auch die umgekehrte Position vertreten: Schopenhauer gehört als der Popularisator des Kantianismus ganz der Tradition an, Nietzsche habe die Tradition in Gestalt dieser Schopenhauerischen Vereinfachung kennengelernt und sich dann radikal von ihr abgewandt. Dieser These zufolge wäre er der Außenseiter. Man muß die Divergenz der Perspektiven sehen, man braucht nicht zu
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optieren. Dazu möchte ich auf ein demnächst posthum erscheinendes Buch aufmerksam machen. (Das Buch ist inzwischen unter dem Titel Zeitliches und Ewiges in der Philosophie Nietzsches und Schopenhauers, Frankfurt a.M. 1977 erschienen. — Anm. der Redaktion bei der Drucklegung.) Der noble Autor, Otto Most, dem nach seinem ganzen übrigen Wirken eine nähere Befassung mit Nietzsche kaum angesehen werden konnte, ist zwei Jahrzehnte hindurch im Stillen mit ihm umgegangen. Seine These lautet: Nietzsche habe das Problem der Selbstverwirklichung aufgenommen, das von der großen metaphysischen Tradition des Altertums und Mittelalters behandelt worden war. Nietzsche wird als Respondent von Thomas gesehen, er hat dessen Frage nach der Selbstverwirklichüng des Menschen zu beantworten gesucht. Schopenhauer gehört für Most dagegen spezifisch der Neuzeit an, die von Descartes bis zum Deutschen Idealismus reicht und eine Episode bleibt, über die Nietzsche hinausgreift. Das ist eine wieder völlig andere historische Perspektive. Gilman: Ich glaube, wir sind gleich zu Beginn der Tagung auf eine der entscheidenden Fragen der heutigen Nietzsche-Forschung gestoßen. Es geht nicht nur um das Verhältnis Nietzsches zu Schopenhauer und um den Nachweis, was Nietzsche von Schopenhauer übernommen hat, sondern vor allem um die Frage, wie ein Denker überhaupt einen anderen beeinflussen kann, welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. Der übergreifende Zusammenhang, auf den ich hinweisen möchte, ist die ganze zeitgenössische Metaphysikkritik, nicht nur innerhalb der philosophischen, sondern auch der theologischen Diskussion. Sie, Herr Goedert, haben diesen Aspekt gestreift, als Sie auf die Verteufelung der Welt durch Schopenhauer hingewiesen haben. Innerhalb der protestantischen Theologie der vierziger und fünfziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, d. h. in der nach-Schleiermacherschen Theologie, wurde dieses Problem ebenfalls diskutiert. Von dieser Debatte hat Nietzsche sicherlich als Schüler in Naumburg und Schulpforta Kenntnis genommen — wenn er sie nicht schon gleichsam ,mit der Muttermilch' aufgenommen hat. Übrigens ist die Debatte dann bis zu Harnack weitergelaufen. Als Nietzsche Schopenhauer las und seine These von der schlechtesten aller möglichen Welten zur Kenntnis nahm, war er mit dieser Problematik wohl schon vertraut und konnte von daher Schopenhauers Denken in Zustimmung und Widerspruch rezipieren. Mich würde interessieren, ob man über diesen theologiegeschichtlichen Hintergrund seines Denkens und über die Wechselbeziehung von Theologie und Philosophie mehr und Genaueres herausfinden könnte. Kaufmann: Ich möchte Ähnliches sagen, wie die meisten meiner Vorredner, es vielleicht aber etwas provozierender formulieren. Manchmal habe ich
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das Gefühl, daß man von Nietzsche entweder gar nicht oder provozierend reden sollte. Ich finde das, was Sie gesagt haben, Herr Goedert, im einzelnen sehr solide, wenig problematisch und kaum Ansätze für eine Diskussion lassend; die Gesamtperspektive ist meiner Ansicht nach trotzdem sehr fraglich. In Amerika gibt es jetzt einen Literaturhistoriker, der mit folgender These Aufsehen erregt: man müsse bei jedem Autor zuerst herausfinden, wer sein Vorgänger ist, den er als seinen großen Rivalen empfunden hat. Die Interpretation reduziert das Werk des jeweiligen Autors dann darauf, daß es Dokument eines ständigen Kampfes mit dem Vorgänger ist. Das trifft vielleicht im großen und ganzen auf die Zweitrangigen zu. An den Erstrangigen — und ich rechne Nietzsche zu den Erstrangigen — ist eben dies interessant, daß sie mehrere Dimensionen haben und nicht nur immer mit einem kämpfen. Nietzsche wird im Grunde trivialisiert, wenn man in seinem gesamten Werk nur diese eine Perspektive verfolgt, daß er Schopenhauer bekämpft. Ich gebe Ihnen gerne zu, daß es immer auch mitschwingt, und daß es sich lohnt, das zu zeigen. Wogegen ich protestiere, ist nicht, daß Sie das gezeigt haben, sondern, daß sie verschiedentlich vorgeschlagen haben, daß das der Hauptgesichtspunkt ist, der alles erklärt. Goedert: Zu dem, was mehrere Herren gesagt haben und was Herr Kaufmann zuletzt pointiert formulierte: Es tut mir leid, wenn ich den Eindruck der Einseitigkeit hervorgerufen habe. Es liegt mir fern, Nietzsche nur unter dem Aspekt seiner Auseinandersetzung mit Schopenhauer zu sehen; aber das Thema forderte doch von mir, eben diesen Aspekt herauszustellen und zu beleuchten. Saß: Herr Ulmer ist davon ausgegangen, daß Schopenhauer und Nietzsche als die beiden großen Außenseiter der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts gelten. Und meines Erachtens gehören sie tatsächlich nicht in den konventionellen Hauptstrom des neuzeitlichen Philosophierens hinein, der sich im wesentlichen an einer säkularisierten, nachchristlichen Geschichtsphilosophie orientiert hat. Die Geschichtsphilosophie gibt für diese Tradition den Rahmen ab, innerhalb dessen die Humanität und die Selbstverwirklichung des Menschen die Maßstäbe finden. Schopenhauer und Nietzsche aber lassen sich nicht in den Sog eines philosophischen Trends ziehen, für den das alte Wort ,revolutio' die Bedeutung .Revolution' annimmt; sie fassen es weiterhin als ,Rotation', ,Kreisbahn' auf: darin sind beide gleich. Schopenhauer geht zurück bis zu Plato und orientiert sich an der pseudo-aristotelischen Schrift Flegi tot) k ö o | x o d , in der zum Ausdruck kommt, was die griechische Philosophie mit der Wiederkehr des Gleichen meint, nämlich die prästabilierte Harmonie des Kosmos. Aber Nietzsche hat offensichtlich die
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Aporie gesehen, in die Schopenhauer gerät, wenn er einerseits von der Orientierung an dem Immer-Gleichen der Rotation spricht, wenn ihm diese Orientierung aber andrerseits — auf Grund seiner negativen Metaphysik — nicht mehr die Fähigkeit gibt, die gesellschafts- und weltgestaltende Funktion der Philosophie wahrzunehmen. Deswegen ging er den Schopenhauerischen Weg zurück zu Plato nicht mit; und vermutlich hat er, beeinflußt durch Schopenhauers Sicht, nun auch Sokrates für all das verantwortlich gemacht, was in seiner Zeit im Zuge der säkularisierten geschichtsphilosophischen Orientierung seiner Meinung nach falsch gelaufen ist. Djuric: So viel ich sehe, sind wir in der Mehrzahl einig darüber, daß der Referent die Bedeutung von Schopenhauer für Nietzsche ein bißchen zu hoch veranschlagt hat, oder zumindest, daß bei seiner Perspektive der Hintergrund von vielen Einsichten Nietzsches vielleicht ein wenig im Dunkel bleibt. Ich möchte gerne einen Punkt herausgreifen. Sie, Herr Goedert, haben gesagt, daß Nietzsches Kritik an Schopenhauers Pessimismus der Anfang seiner Kritik am Nihilismus gewesen sei. Ich möchte das ein wenig modifizieren und nehme dabei den Hinweis von Herrn Ulmer auf, daß Nietzsches Denken in einem größeren Zusammenhang steht. Das, was Nietzsche Nihilismus nennt, ist doch in erster Linie eine Grundhaltung und geistige Einstellung seiner Zeit. Nietzsche hat sie nicht nur bei Schopenhauer, sondern z. B. auch bei der ganzen Romantik, in der Literatur etc. gefunden. Salaquarda: Ich glaube, daß man dem schlechterdings nicht widersprechen kann, was Herr Kaufmann gesagt hat, daß es eben die Eigenständigkeit Nietzsches ist, die sein Denken interessant und wesentlich macht. Nietzsche hat alles mögliche aufgenommen und er hat es immer sofort, schon bei der ersten Lektüre, in etwas Eigenes umgeprägt. Trotzdem meine ich — und ich bin in diesem Punkt ganz einverstanden mit dem, was Herr Goedert vorgetragen hat —, daß der Beziehung zu Schopenhauer eine ganz besondere Bedeutung zukommt. Jedenfalls war Schopenhauer der Philosoph, den Nietzsche insgesamt und original gelesen hat, was selbst auf die Griechen nur zum Teil zutrifft. Wenn man nun Nietzsches Texte durchgeht, so trifft man im veröffentlichten Werk wie im Nachlaß ständig auf Reflexionen über Gedanken Schopenhauers. Wenn Nietzsche eine allgemein gehaltene Bemerkung macht, etwa hinsichtlich des Problems vom Wert der Moral, er habe sich in diesem Punkt nur mit Schopenhauer auseinanderzusetzen gehabt, dann bedeutet das noch nicht viel. Ähnliches sagt er z. B. auch über Sokrates: er setze sich im Grunde immer nur mit Sokrates auseinander. Derartige Bemerkungen hat Nietzsche wiederholt gemacht. Aber die Vielzahl der Anspielungen und Bezüge in seinem Werk, die sich von Anfang an finden und sich bis
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zuletzt durchhalten, sprechen eine deutliche Sprache. Er ist eben tatsächlich immer wieder auf Schopenhauer, dessen Texte und Problemformulierungen er im Kopf hatte, zurückgekommen. Müller-Lauter: Ich glaube nicht, daß schon das Wesentliche von Nietzsches immoralistischer Gegenkonzeption getroffen ist, wenn man zeigt, daß er Schopenhauers Mitleidsbegriff aufnimmt, ihn einprägt in den Begriff der christlichen Liebe, und die so verstandene Haltung bekämpft. Sie, Herr Goedert, haben selbst darauf hingewiesen, daß Nietzsche später die gesamte abendländische Philosophie quasi als ,Moralphilosophie' begreift. Dieser weite Begriff von Moral macht deutlich, daß Nietzsches Immoralismus im Grunde in einem vollständigen Verzicht auf Metaphysik besteht. Nietzsche sieht, daß Schopenhauer der Metaphysik einen sozusagen unzulänglichen Abschied gegeben hat, indem er sie nur ins Negative umgebogen hat. Der radikale Verzicht auf Metaphysik, den Nietzsche fordert, fördert zugleich die Spontaneität des Individuums oder des jeweilig einzelnen besonderen Willens zur Macht. Im Referat haben Sie diesen „resoluten Individualismus", wie Sie ihn nannten, sehr stark herausgestellt. Um ihn angemessen zu würdigen, darf man ihn aber m. E. gerade nicht mehr auf dem Hintergrund von Schopenhauers Willens-Metaphysik sehen. Die Nietzsche-Rezeption zu Beginn unseres Jahrhunderts hat einen folgenschweren Irrtum begangen, als sie behauptete, Nietzsche setze den Willen zur Macht als ein metaphysisches Prinzip anstelle des Schopenhauerischen Willens. Denn das ist faktisch nicht der Fall. Nietzsches Wendung gegen Schopenhauer ist viel radikaler. Ihr Hinweis, daß Wille zur Macht für Nietzsche ontologisches Prinzip und jeweilige ontische Gegebenheit sei, deutet dies schon an; ich meine, daß man das Begriffspaar ontologisch-ontisch in diesem Zusammenhang mit einigen Vorbehalten verwenden kann. Kaufmann: An einer Stelle haben Sie, Herr Goedert, etwas gesagt, was meiner Ansicht nach falsch ist, ich möchte beinahe sagen absurd: Nietzsche bekämpfe das Christentum stets als die Religion des Mitleids. Das stimmt doch gewiß nicht, das ist nur ein Moment seiner Christentumskritik. Wenn er aber z. B. sagt: Christentum ist Piatonismus fürs Volk, dann denkt er nicht an das Mitleid, sondern an ganz andere Dimensionen. Oder wenn er in Antichrist den Glauben und die Gläubigen psychologisiert. Anderswo stehen wieder andere Momente im Thema, vor allem das Ressentiment. Obwohl es stimmt, daß in Nietzsches Rede vom Antichrist diese Stelle aus Schopenhauers Parerga mitschwingt — ich habe das auch irgendwo erwähnt —, so ist das wiederum nicht das einzige Moment; wenn Nietzsche einem Buch den Titel Der Antichrist gibt, dann hat dieser Titel eine Fülle von Bezügen.
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Nietzsche im Grunde nicht als Antichrist, sondern als AntiSchopenhauer darzustellen — das macht ihn für mich einfach langweilig, man degradiert ihn damit zu einer historischen Fußnote. Goedert: Aber es läßt sich doch anhand der Texte belegen, daß Nietzsche bis zuletzt vom Christentum wesentlich als von der Religion des Mitleids spricht. Daß noch andere Aspekte hinzukommen, nun das leugnet niemand. Aber es ist interessant und bedeutsam, daß er gerade diese Ansicht so oft wiederholt. Auch und gerade in Antichrist erwähnt er sie. Salaquarda: Zu Herrn Kaufmanns Kritik möchte ich sagen: aus dem Antichrist darf natürlich nicht ein Antischopenhauer werden. Wichtig ist jedoch, daß der Antichrist von Nietzsche so aufgefaßt wird, wie ihn Schopenhauer aufgefaßt hat. Schopenhauer sagt, daß der Antichrist diejenige Position symbolisiere, die der Welt nur eine physische, keine moralische und metaphysische Bedeutung zumißt. Nur von dieser Definition her ist die Radikalität von Nietzsches Immoralismus und von seiner Metaphysikkritik verständlich. Noch etwas anderes: Sie haben, Herr Goedert, von dem pietistischen Milieu gesprochen, in dem Nietzsche aufgewachsen ist. Das muß meines Erachtens ein wenig modifiziert werden. Ich kenne mich da nicht so genau aus, Herr Janz weiß wahrscheinlich wesentlich besser Bescheid. Schon Blunck hat eine differenziertere Darstellung gegeben. Reiner Bohley in Naumburg hat diesen Problemkreis detailliert untersucht und dabei herausgestellt, daß es in den Familien Nietzsche und Oehler sehr verschiedene Formen von Christentum gegeben hat, zum Beispiel einen gewissen Rationalismus, der — wenn ich mich recht erinnere — z. B. durch die Großmutter Nietzsche vertreten wurde. Leider sind Bohleys Ergebnisse bisher noch nicht veröffentlicht. Behler: Herr Goedert, Sie haben betont, daß Nietzsche in seiner dritten Phase, im Gegensatz zu Schopenhauers Auffassung, der Philosophie die Aufgabe einer dionysischen Bejahung des Lebens ohne Ausnahme, auch in seinen schrecklichsten Aspekten, zuweist. Das ist eine etwas unspezifizierte Formulierung für einen komplexen Sachverhalt, die sich freilich durchaus auf Nietzsches eigene Äußerungen berufen und stützen kann. Ganz ähnlich weist Nietzsche ja auch der Kunst die Bejahung des Lebens als eigentliche Aufgabe zu, — Sie haben dies ebenfalls dargestellt. Aber wie soll man das konkreter verstehen? Was meint Nietzsche mit der „Bejahung des Lebens" genauer? Läuft diese These letztlich nicht auf eine recht unsubtile, vielleicht sogar, wenn ich das sagen darf, plumpe Bestimmung der Kunst hinaus? Um zu
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Georges Goedert
einem besseren Verständnis zu kommen, ist es vielleicht angebracht, an Werke zu denken, die Nietzsche schätzte. In seiner ersten Phase hatte er die klassische griechische Tragödie als Maßstab vor Augen. Daß sein Preis von Bizets Carmen wenigstens zum Teil ironisch als Spitze gegen Wagner aufzufassen ist, hat Nietzsche selbst gesagt. Wenn man an andere Kunstwerke denkt, die er schätzte, z. B. Werke von Dostoevskij, Stendhal, — nun: einem Literaturkritiker werden alle möglichen Assoziationen kommen, wenn er über derartige Werke nachdenkt, aber kaum „dionysische Bejahung des Lebens". Ähnliche Bedenken treten gegenüber der philosophischen dionysischen Bejahung des Lebens bei Nietzsche selbst auf. Wie verhält sich die Pose der dionysischen Lebensbejahung, die Betonung von Kraft und Stärke, zu Äußerungen, in denen die Maske als wesentliches Ingrediens der Nietzscheschen Haltung bestimmt wird, z. B. in den Abschnitten „Der freie Geist" oder „Was ist vornehm?" aus Jenseits von Gut und Böse? Hinter der Maske verbirgt sich dort eine sehr gebrechliche, eine — wenn man will — sehr dekadente Natur. Die Stärke erscheint von dort aus als Plumpheit, wogegen die décadence zu einer Verfeinerung des Geistigen beiträgt. Goedert: Nietzsche hat einmal gesagt, daß er nur ästhetische Werte gelten lasse; er hat auch den Philosophen als eine Art Künstler aufgefaßt und die Philosophie als Kunst, sogar als die eigentliche Kunst. Denn der Philosoph soll als der Gesetzgeber der Menschheit den Menschen so bearbeiten, wie der Künstler seinen Marmorblock bearbeitet, damit ein neuer Typ Mensch entsteht, ein schönerer Mensch. Sicherlich liebte Nietzsche es, wie Sie, Herr Behler, hervorheben, unter Masken zu philosophieren. Sehr wichtig erscheint mir aber die Frage, ob er sich selbst tatsächlich als dekadenten, gebrechlichen Menschen sah. Wähnte er sich nicht, im Gegenteil, im Besitz der „großen Gesundheit", als einer, der den Willen hat, gesund zu sein? und er hat behauptet, daß diese „große Gesundheit" in seinem Werk zum Ausdruck komme. So weit meine Informationen reichen, hat Nietzsche sich in dieser Hinsicht nicht als ein gebrechliches Wesen aufgefaßt, sondern er hat sein Werk immer als Produkt der Wohlgeratenheit verstanden. Behler: Dies wollte ich nicht bestreiten; aber ich wollte zum Ausdruck bringen, daß sich in Nietzsche duale Tendenzen bekunden, daß es nicht möglich ist, ihn einseitig auf die Position der Stärke und Vitalität festzulegen, daß sich in seinem Werk vielmehr auch andere Züge bekunden, die ihm ein viel interessanteres Profil verleihen. Und ich lege Wert auf die Feststellung, daß ein Kunstwerk wohl dionysische Lebensbejahung ausdrücken kann, daß sich diese aber in einem sehr komplexen, indirekten Verhältnis bekunden muß, wenn es sich wirklich um ein Kunstwerk handeln soll.
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Goedert: Ich erinnere daran, daß sich Nietzsche in Ecce bomo zwar als decadent und dessen Gegensatz zugleich bezeichnet, daß er dann aber erläuternd hinzufügt: „summa summarum war ich gesund, als Winkel, als Spezialität war ich decadent". Kaufmann: Daß Nietzsches Auffassung von der Kunst sehr differenziert ist, das zeigt sich meines Erachtens von Anfang an. Ich möchte auf ein Bild in der Geburt der Tragödie hinweisen, das selten erwähnt wird, das meiner Ansicht nach aber eines der interessantesten ist, nämlich auf die Vision des „künstlerischen Sokrates". Damit spielt Nietzsche doch gewiß auf sich selbst an, und hier haben wir den Hintergrund für seine Auffassung des Künstlers. In der späteren Vorrede zur Geburt der Tragödie schreibt Nietzsche, daß das Interessanteste an dem ganzen Buch der Kampf ist zwischen Kunst und Wissenschaft. Es sei ihm darum gegangen, die Wissenschaft in der Perspektive der Kunst zu sehen und die Kunst in der des Lebens. Und in dieser Perspektive sieht er sich selbst als einen „künstlerischen Sokrates". Saß: Ich möchte an das anknüpfen, was Herr Kaufmann zum SokratesBild von Nietzsche gesagt hat. Ich frage mich, ob das Bild, das der frühe Nietzsche zeichnet, richtig ist. Gibt es nicht schon bei Sokrates selbst das Dionysische? Oder, anders gefragt: ist das Dionysische tatsächlich so un-moralisch, wie es der späte Nietzsche begreift? Ist es ,moralisch' im pejorativen Nietzscheschen Sinn, von der praxisverpflichtenden Aufgabe der Philosophie zu sprechen ? Ich möchte es zugespitzt formulieren: schließen das Prinzip des Maieutischen und das Prinzip des Kreativen einander aus? Die Antwort hängt davon ab, welche Rolle man dem Mythos bei Sokrates im Zusammenhang der notwendig gewordenen erkenntnistheoretischen Orientierung in der nachsophistischen Zeit zuschreibt. In einem späten Brief an Overbeck schreibt Nietzsche, daß von den drei „Baslern" — Burckhardt, Overbeck und Nietzsche — doch Jacob Burckhardt der größte sei und daß ihm der Lorbeer gehöre. Das ist eine schwer zu interpretierende Äußerung. Ich vermute, daß sie auch etwas mit dem Griechenund Sokratesbild zu tun hat. Dann würde Nietzsche die griechische Philosophie zuletzt doch nicht antisokratisch auffassen, sondern sich zu dem Burckhardtschen Griechenbild hinwenden, demzufolge Humanität und Selbstverwirklichung nicht durch die Trends der Geschichte, sondern gegen diese erreicht werden. Janz: Herr Goedert, ich glaube, Sie sehen selbst Ihren Beitrag als Klärung eines Segments aus der Gesamtsicht von Nietzsches Positionen und Reaktionen an. Wie so oft bei der Darstellung von solchen Segmenten, vermisse ich
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allerdings ein Thema. Wenn man der Frage nachgeht, wie Nietzsche zu seinen Gegenpositionen gekommen ist, wird leider viel zu wenig an seine Herkunft aus der klassischen Philologie gedacht, wie auch unsere klassischen Philologen sich leider viel zu wenig mit Nietzsche beschäftigen. Viele von Nietzsches Gedanken haben ihren Ursprung in der griechischen Philosophie und Literatur, zum Teil bis auf die Formulierungen. „Umwertung aller Werte" geht auf den Bericht des Diogenes Laertius über Diogenes von Sinope im 20. Kapitel des 6. Buchs zurück und „Jenseits von Gut und Böse" auf seine Ausführungen über Pyrrhon im 11. Kapitel des 9. Buchs. Auch „Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" ist eine griechische Formulierung. Hier steht noch ein weites Feld für Forschungen offen. Goedert: Ich bin Ihnen dankbar für diesen Hinweis. Daß Nietzsches Denken stark durch sein Studium der Griechen beeinflußt wurde, steht außer Zweifel. Im Zusammenhang mit meinem Thema möchte ich jedoch auch betonen: Nietzsches Verständnis der griechischen Philosopie, wie es z. B. in der unveröffentlicht gebliebenen Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen zum Ausdruck kommt, ist seinerseits deutlich von Schopenhauers Denken geprägt. Djuric: So wichtig die Griechen für Nietzsche sind, — es sind keineswegs nur die Griechen, von denen er Anregungen empfangen hat. Nehmen wir als Beispiel die Wiederkunftslehre, die Sie, Herr Goedert, ja als einen Versuch Nietzsches zur Uberwindung des Nihilismus genannt haben. Nietzsche selbst meinte, daß sein Wiederkunftsgedanke am ehesten von Heraklit und der Stoa geprägt sei. Aber man kann sagen, daß Nietzsche auch bei Hegel gewisse Anhaltspunkte für diese Konzeption gefunden hat. Nach dem System Hegels ist die Wirklichkeit ein Kreisgeschehen, und der eigentliche Seinssinn ist die Rückkehr des Seins zu sich selbst. Schon Schelling hat gesagt, daß Hegel, wenn er konsequent dächte, den Wiederkunftsgedanken lehren müßte.
PETER H E L L E R
N I E T Z S C H E S K A M P F MIT D E M R O M A N T I S C H E N
PESSIMISMUS
Als undezidierter Nichtphilosoph, Philologe, Literat, vergleichsweise Weltkind auf dem Philosophenkongreß, meinte ich zunächst am sichersten zu fahren, indem ich eine, für Nietzsche charakteristische dialektische Denkbewegung (Kehre, Umkehr, Schleife, Spirale) nur genauer, womöglich eleganter, beschriebe, als ich dies in einem langwierigen Exkurs zu dem Aphorismus „Reaktion als Fortschritt" von Menschliches, Allzumenschliches schon getan hatte 1 ; und zwar in Hinblick auf Renaissance und Reformation, wie auch auf die Aufklärung und insbesondere auf die Romantik, unter der ja der spätere Nietzsche — mit Recht — eine, die Aufklärung ablösende, den Rousseauismus, auch der Stürmer und Dränger, weiterführende, in wesentlichen Belangen die weimarische, nostalgische Klassizistik — wenn auch nicht den ganzen, über sie hinausgewachsenen Goethe — miteinbegreifende, in Schopenhauer, Wagner, dem romantischen Pessimismus kulminierende, sich vielfach mit realistischen, szientistischen Bestrebungen überschneidende, tief ins 19. Jahrhundert weiterwirkende gesamteuropäische Bewegung verstand; so daß auch für ihn, wie für fast alle bedeutenden westlichen Autoren des späteren 19. Jahrhunderts, die Auseinandersetzung mit der Romantik — die Überwindung der Romantik — ein Hauptthema war, oder sein Hauptthema implizierte. — Ich sagte: eine dialektische Bewegung. Ich hielt eine solche weder für die einzige, noch die beste, noch die wahre oder die der Wahrheit (sie war ja oft genug eine fehlgehende, und man bedurfte zur Beurteilung ihres Erkenntniswertes Kriterien, die durchaus außerhalb ihrer selbst lagen), wohl aber für eine, die im Verlauf eines Jahrhunderts, in dem sich das Denken immer mehr selbst reflektierte, charakteristischerweise ins Selbstbewußtsein getreten war und die als dynamisch imponierte, zudem sie sich bei Nietzsche, der ja keine neutralisierten Denkvorgänge bot, immer voll
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Siehe Peter Heller: Von den ersten und letzten Dingen. Studien und Kommentar zu einer Aphorismenreihe von F. Nietzsche (Berlin: 1973), S. 268-358, insbes. 299-345. Der erste Teil des folgenden Essays faßt u. a. ebda, ausführlicher dokumentierte Auffassungen zusammen. N B : Ich zitiere Nietzsches Werke gemäß Titel und Abschnitt oder Aphorismus, mit Ausnahme der Nachlaß-Notizen, die entweder nach Kröners Taschenausgabe, Bde 9— 11 zitiert werden, oder nach der Kritischen Gesamtausgabe.
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affektiv orchestriert, mithin auch als Bewegung der Emotionen dramatisch darstellte. Bei dem Wort dialektisch dachte ich an das, was ich für die landläufige Bedeutung hielt: eine Denkbewegung, bei der sich die zunächst oft polemisch abgegrenzte Position zu ihrer eigenen Gegenposition hin entwickelt, von dieser her ergriffen, zersetzt, aufgezehrt, vernichtet wird, aber so, daß ein Drittes entsteht oder entstehen soll, in dem beide — Position und Gegenposition — aufgehoben sind; also eine Denkbewegung, in der Umarmung und Agon, Verzehr und Assimilation, Aufhebung und Wandlung enthalten sind. Nietzsche, meinte ich, stellt Bewegungen des Denkens dar. Die transzendierende Perspektive setzt jeweils die transzendierte voraus und weist zugleich über sich selbst hinaus auf künftige Wendungen. Von weitem sah man oft nur die antithetische Kehre: es kehren sich gegen sich selber Aufklärung, Sokratismus, Wahrheitsstreben und, nicht bloß weil dieses als Abkömmling des Christentums gilt, also auch das Christentum und damit dessen letzter, oder vorletzter Ausläufer: die Romantik, der romantische Pessimismus. Sah man aber näher hin, so ergaben sich übergreifende Zusammenhänge, Phasen und Phasen von Phasen, begannen die Gegensätze sich auseinander zu entwickeln . . . Reaktion als Fortschritt — das bedeutete nicht nur Umfunktionierung der reaktionären Bewegungen der Reformation und der Romantik, sondern der sie umfassenden des Christentums, das als Gegenschlag zur antiken Kultur, als Sklavenaufstand, Nietzsche als die reaktionäre Katastrophe galt — zugleich aber — wie fast jede decadence-Bewegung — Gewinn an Vergeistigung, Vertiefung, Verfeinerung, Erweiterung der menschlichen Psyche bedeutete, wenn nur die Überwindung — mit dem späteren Nietzsche zu reden: die Nutzbarmachung der Krankheit für die höhere Gesundheit gelang. Und aus all dem ergab sich nun, daß in dem von Nietzsche intendierten Prozeß auch die mit positiven Vorzeichen versehenen Bewegungen: Renaissance, Aufklärung, ja auch das umfassendere Leitbild der (entmetaphysizierten) Antike umfunktioniert und transzendiert werden sollten. Ich vergegenwärtige, was ich damals als ein, von seiner sensiblen Denk-Kunst, Gottseidank, auch immer wieder überspieltes, pauschales Dogma des späten Nietzsche zusammenfaßte: Romantik — wie Sokrates: Wirbel und Wendepunkt — bereitet den Nihilismus vor, dessen allauflösende Macht zum Untergang — oder zu der Umkehrung und Aufhebung des passiven, dekadenten Nihilismus in den aktiven und schöpferischen führt, wie dies das Evangelium vom Ubermenschen fordert. Die Romantik, mit dem Rousseauismus und dessen Abkömmlingen (Demokratismus, Sozialismus) verbunden, ist, wie diese, Spätprodukt und Ausläufer des Christentums; der die westliche Geschichte — wie in der Reformation — in den Dienst der Krankheit und Lebensverneinung zwingenden decadence-Bewegung (deren östliches Pendant
Nietzsches K a m p f mit dem romantischen Pessimismus
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der Buddhismus ist). Ihre Uberwindung bedeutet Uberwindung der zweitausendjährigen — nur sporadisch, in Episoden, in wenigen Glücksfällen aufgehobenen — Dominanz der décadence. — Das Christentum ist der Versuch der Schlechtweggekommenen, Schwachen, Kranken, von Ressentiment gegen das sich entfaltende Leben Beherrschten durch eine moralische, metaphysisch-religiöse Interpretation ihr Mißbehagen am Leben zu rechtfertigen, indem sie die Welt für schlecht erklären. Es ist der Versuch, Leben und Welt durch Moral und ein postuliertes moralisch-metaphysisches Jenseits — d. h. im N a m e n einer Fiktion, eines ,Nichts' — zu überwinden, zu entwerten, zu negieren. Daher führt das Christentum notwendig zur Romantik als Ausdruck des Ungenügens am Wirklichen und zum weltflüchtigen, weltfeindlichen romantischen Pessimismus. Und auch der im romantischen Pessimismus noch etwas verschleierte Nihilismus ist Folge des Christentums: die Offenbarung des essentiellen negierenden Impulses, der im Laufe seiner Entwicklung erst alle Hüllen durchdringen muß, bis er zuletzt unverhüllt darstellt, was von Anfang an sein Wesen war. (Hier wird in umfassendster Umkehrstruktur das bisher Gott zugeschriebene Prinzip als das quasi mephistophelisch verneinende, das bisher als das teuflisch böse Prinzip verschriene als das positive, schöpferische statuiert.) Zuletzt muß sich die nihilistisch weltfeindliche Moralität und die nihilistisch radikale, den vitalen Illusionen feindliche Wahrhaftigkeit gegen die christliche Fiktion selbst — i.e. gegen moralische Absoluta, das Jenseits, den moralisch-metaphysischen Gott — kehren und sich so in selbstzerstörerischer Konsequenz durch die Entwertung aller Werte (inklusive auch der Wahrheit und Wahrhaftigkeit selbst) vollenden und als reine Verneinung erweisen. Aus der Romantik einen Fortschritt machen hieße also im weitesten Sinn: Die Entwicklung der letzten zwei Jahrtausende vom spätantiken Christentum bis zum dekadenten Nihilismus des 19. Jahrhunderts umkehren und damit alles, was durch eine Jahrtausende währende Krankheit gewonnen wurde, in den Dienst des aufsteigenden, bejahenden Lebens zwingen. Wie hat man sich die Uberwindung der Romantik vorzustellen? Im Bereich produktiver Tat und großer Politik offenbar durch die starke und wohlgeratene Art Mensch, welche die großen Affekte noch ungebrochen hat: den Willen zur Macht; den Willen zum Genuß und das Vermögen zu kommandieren, — antizipiert durch jenen Unmenschen und Ubermenschen — Gegenstück zu dem verlogenen Rousseau, antik, Menschenverächter - , der gegen den Schauspieler (die Künstler, Diplomaten, Juden, Frauen), für den Mann spricht, der in Europa wieder Herr über den Kaufmann und Philister zu werden hat; jenes Stück Granit und antiken Wesens, den Initiator des klassischen Zeitalters der Kriege, von dem zu hoffen steht, daß es ein paar Jahrhunderte dauern werde; den Feind der Zivilisation, der das eine Europa
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wollte und dies als Herrin der Erde: kurz durch Napoleon. 2 . . . Oder bin ich hier etwa ins falsche Zitatenfahrwasser geraten? Halten wir uns lieber an die, dem Kompetenzbereich Nietzsches näher liegende Frage nach der geistigen Uberwindung der Romantik. Hier scheint es zunächst, als stelle er bloße Antithesen auf: So, wenn er etwa, im Gegensatz zu dem romantischen Pessimismus der Entbehrenden, Mißglückten, Überwundenen, den Willen zum Tragischen und zum Pessimismus als Zeichen der Stärke des Intellekts, vor allem aber: des Geschmacks, Gefühls, Gewissens, — der das Furchtbare, Fragwürdige des Daseins nicht fürchtet, hinter dem Mut, Stolz, Verlangen nach einem großen Feinde stehen, — als seine antiromantische Perspektive behauptet 3 ; oder scharf unterscheidet: Die an der Überfülle des Lebens Leidenden wollen eine dionysische Kunst und eine tragische Ansicht und Einsicht in das Leben; die an der Verarmung des Lebens Leidenden suchen Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch Kunst und Erkenntnis; oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn. Dem Doppelbedürfnis der letzteren entspricht alle Romantik in Künsten und Erkenntnissen; ihnen entsprach und entspricht ebenso Schopenhauer wie Wagner. Daher gibt es auch ein dionysisches Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden als Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft und ein Verlangen nach Zerstörung aus Ressentiment, aus Haß des Mißratenen, Entbehrenden, der zerstören muß, weil ihn das Bestehende, ja alles Bestehen, alles Sein empört und aufreizt (Beispiel: die Anarchisten). Und so gibt es auch einen Willen zum Verewigen aus Dankbarkeit und Liebe, eine Apotheosenkunst — dithyrambisch: Rubens, selig-spöttisch: Hafis, hell-gütig: Goethe, Licht und Glorienschein: Homer — und einen Willen zum Verewigen aus Ressentiment, den „tyrannischen Willen eines Schwerleidenden, Kämpfenden, Torturierten, welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch, daß er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist der romantische Pessimismus in seiner ausdrucksvollsten Form, sei es als Schopenhauersche Willens-Philosophie, sei es als Wagnersche Musik: — der romantische Pessimismus, das letzte große Ereignis im Schicksal unserer Kultur" 4 . Aber wenn Nietzsche hier nun wieder seinen, den klassischen, den dionysischen Pessimismus als den zukünftigen hinzufügt, von dem er doch anderwärts auch zugegeben hat, daß er an ihm nicht nur für sich, sondern auch gegen sich — 2
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Die Belege zu den, in dem Absatz kombinierten Zitaten finden sich in KTA 9, 73; GM, 1. Abhandlung, Abschnitt 16 (Ende); KTA l l , 4 0 7 f . ; FW, Aphorismen 361, 362. M A II, Vorrede, 7. Abschnitt. FW, Aphorismus 370.
Nietzsches Kampf mit dem romantischen Pessimismus
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mithin also gegen den eigenen romantischen Pessimismus der Schwäche — festhalte 5 , und wir bei der Schilderung des Torturierten nicht umhin konnten an Nietzsche selbst zu denken, mag uns der Verdacht kommen, daß hier vielleicht doch nicht nur eine simple Antithese, ein unverbundener, bloßer Gegensatz postuliert wird. In analoger Weise könnte man etwa das, immer noch nahe, polemische Verhältnis auch des späten Nietzsche zu Schopenhauer durch bloße Antithesen oder antithetische Umkehrungen charakterisieren: Der Eine, allzu robust, an der Erde klammernd, triebhaft, kämpft an gegen triebhafte, lustleidvolle Verhaftung in der Welt; fordert asketische Weltverneinung; der Andere, vom Selbstmordwunsch Versuchte, kämpft an gegen romantisch asketische Weltverneinung, will triebhafte, leid-lustvolle Weltbejahung bejahen. Der eine predigt Erkenntnis der Illusion, um die Illusion aufzuheben; der andere die Illusion der Erkenntnis, um Illusion zu bejahen; der eine postuliert Omnipräsenz, Allmacht des Willens, um sie — durch dessen Selbstverneinung — mystisch zu verneinen; der andere Allmacht des Willens, um sie ekstatisch zu bejahen. — Und ebenso ließe sich das immer noch nahe, polemische Verhältnis des späten Nietzsche zu Wagner behandeln, indem man etwa moralistisch-kulinarischen Genuß der Sinnlichkeit in einem, gegen die Sinnlichkeit gerichteten Pathos bei dem einen kontrastiert mit amoralisch asketisch-gymnastischer Hingabe an Erkenntnis in einer, gegen diese gerichteten Erkenntnis der Erkenntnis bei dem andern; oder die Glorifizierung eines, von Schuld erlösten Endes bei dem einen mit der Verherrlichung eines, von Schuld befreiten Beginns beim andern. Daß aber diese Beziehungen zu den Hauptrepräsentanten des romantischen Pessimismus intimere sind als die der bloßen antithetischen Umkehr, ergibt sich, selbst wenn man sie bloß von den, vom späteren Nietzsche desavouierten Meistern des jungen Nietzsche her ansieht: da denn etwa der Wagnerianer meinen könnte, Nietzsche, der mit Tristan begann, sei eben nur bis zum Siegfried, aber nicht bis zum Parsifal gekommen, gegen den er im Namen des Siegfriedideals auftrete; wie auch der Schopenhauerianer sagen könnte, Nietzsche beginne mit der kontemplativen ästhetischen Erfahrung des, sich als Schauspiel repräsentierenden LustQual-Charakters der Willenswelt 6 und komme bis zu der Einsicht in die temporale — mit der Zeit selbst ko-extensive — Ewigkeit des Willens, aber nicht bis zu dessen Verneinung oder Selbstaufhebung im Heiligen, gegen den er — man denke an Schopenhauers Vergleich zwischen dem vital verzierten griechischen Sarkophag und dem christlichen Sarg — im Namen der, auch bei
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M A II, Vorrede, 7. Abschnitt. Siehe GT.
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Peter Heller
Schopenhauer, durch die Griechen repräsentierten Bejahung des Willens auftritt. Von Nietzsche aus aber sieht es so aus, als befreite er das, schon bei Schopenhauer und Wagner — mithin im romantischen Pessimismus selbst — vorhandene transromantische Potential; ja als befreie er Schopenhauer zu sich selbst, als erlöse er Wagner vom Fluch des Kreuzes. — Nietzsche nähert — scheinbar unkritisch — den, ins Undifferenzierte, Naive stilisierten Wagnerschen Siegfried dem eigenen Ubermensch-Ideal an, obschon er sich doch des modern alexandrinischen Exotismus der Epoche romantischer Eckensteher und ihres, dem Mangel an eigenem Stil komplementären Geschmacks an vielfacher Kostümierung in Hinblick selbst auf Winckelmanns und Goethes Griechen, wie auch auf Hugos Orientalen, Scotts Engländer des 13. Jahrhunderts und namentlich der Edda-Personagen Wagners bewußt war 7 . — Er findet ferner eine — zunächst notwendig mit desillusionierter Verdüsterung und pessimistischer Färbung verbundene — Annäherung an die, dem Menschen eigene, unmoralische Natur durchaus schon in Schopenhauers Anerkennung der Allmacht des bösen, blinden Triebes (des Willens) vor 8 , aus der Schopenhauer nur die richtige Konsequenz — den Verzicht auf jede, auf traditionellen moralischen Wertungen beruhende, metaphysisch-religiöse Fehlinterpretation — zu ziehen unterläßt. Es gibt nicht nur einen reaktionären', halb deutsch, halb christlich der Moral und Metaphysik verhafteten Schopenhauer — und einen Voltairianer, Europäer und freien Moralisten (d.h. Beobachter der mores und moralia) 9 ; sondern gerade in der scheinbar nur reaktionären Perspektive der moralischen Verneinung steckt — eben infolge ihrer Anerkennung der blind-egoistischen, vital-bösen Triebnatur —, verpuppt, schon die befreiende. Die Reaktion entwickelt quasi aus sich heraus, als konsequente Radikalisierung ihrer selbst, eine Steigerungsform, in der sie sich gegen sich selbst kehrt, womit sie zugleich schon einer andern, positiven Macht dionysischer Bejahung dient, zu der es Schopenhauer gleichwohl nicht bringt: gewinnt bei ihm im Endeffekt doch die reaktionäre Tendenz als solche noch einmal die Oberhand. Er beschreibt die Hälfte oder zwei Drittel jener Schleife, die in der Rückbewegung zum Alten — einem reculer pour mieux sauter — doch dazu bestimmt ist, dies Alte aufzuheben und die neue Gesinnung zu etablieren, was Nietzsche zufolge, jedoch erst ihm selbst als dem Nachfolger, Fortsetzer, Uberwinder Schopenhauers gelingt, indes dieser, trotz richtigem Ansatz, den entscheidenden Sprung noch nicht wagt. Schon bei Schopenhauer führt die manifest reaktionäre — metaphysisch-moralische 7 8 9
K T A 9 , 5 5 7 f. K T A 9 , 6 5 , 88; K G W IV 3, 404, 407. K T A 10, 240. F W , Aphorismus 99; vgl. ferner zu dem Obigen und dem Folgenden die Belege in Heller, op. cit., 3 2 0 - 3 4 5 .
Nietzsches K a m p f mit dem romantischen Pessimismus
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— Gesinnung (die ihrerseits Nachschößling der religiös christlichen ist) zur wissenschaftlichen — als ihrer Konsequenz und Antithese, ihrer Steigerungsform und ihrem Gegensatz. Die wissenschaftliche Gesinnung aber deckt nun, als Sinn für Wahrheit, das irrtümliche („unlogische") Fundament aller Moral auf; hebt mithin auch die alte Vorstellung der Sündhaftigkeit (mithin der Schuld) auf; obschon sie selbst Effloreszenz des moralischen Sinnes ist und eine Art von nihilistischer Askese darstellt, als deren sublim spielerische Form der Schwebezustand freigeisterhafter Ataraxie erscheint 1 0 . Zuletzt jedoch ist auch die wissenschaftliche Gesinnung dazu bestimmt, zur dritten Macht zu führen, die nun sowohl der metaphysischen wie der kritisch negierenden als die wahrhaft positive vital amoralischer Bejahung entgegentritt, welche den Willen vergöttlicht — und nun ihrerseits wieder auch den Ausblick auf eine transzendierende Moral der Amoral und anti-metaphysische Metaphysik eröffnen mag, was ich aber hier beiseite lasse. — Schopenhauer, meint Nietzsche, tat einen wesentlichen Schritt zur Anerkennung der Ungöttlichkeit und Sinnlosigkeit des Daseins im Sinne einer sittlichen Weltordnung; aber statt nun, kraft dieser Anerkennung, das transmoralisch vitale, quasi schöpferisch göttliche Willenspotential im Menschen zu aktivieren, fällt er — der der Entdeckung der Moral als Notlüge so nah kam — nur wieder zurück, bleibt stehen und stecken in ebenden christlich-asketischen Moralperspektiven, welchen mit dem Glauben an Gott doch der Glaube gekündigt war 1 1 . — Aber: Metaphysik und Mitleidsmoral, die diese Welt und ihre Natur zugunsten einer andern, von Schopenhauer ja gewissermaßen schon als Nichts erkannten, nun seinserseits zu verneinen: das hieße die Negation — das Christentum, bzw. die Romantik, den romantischen Pessimismus — dazu zwingen, sich selber zu annihilieren; das wäre die Negation der Negation, der Durchbruch, der das Positive freisetzt. Statt an dem Trugbild des illusionistisch, melioristisch, moralinisch verfälschten ,Naturmenschen' des Rousseauismus zu haften, hatte das 19. Jahrhundert, in seinen stärksten Repräsentanten, die Kraft dazu, mutig illusionslos, die ganzere Bestie, die umfassendere, bösere Natur und Animalität zu sehen, aber nicht den Mut, sie gutzuheißen. Man hatte nicht gewagt, das Wachstum der Furchtbarkeit als Kondition auch für das Wachstum der Kultur zu begreifen; blieb bei der Falschmünzerei der Geschichte zugunsten des ,guten' Menschen und beim sozialistischen Ideal als dem Residuum des Christentums und Rousseaus in der entchristlichten Welt. Schopenhauer war nicht stark genug zu einem neuen Ja. Aber er, wie Wagner, hatten schon alles beigebracht und bereitet an Explosivstoffen und an Spannung von Bedürf-
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Vgl. K G W I V 2 , 5 5 5 , 415 und M A I , Aphorismus 34. F W , Aphorismus 3 5 7 ; G M , 3. Abhandlung, Abschnitt 27.
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nissen für Neubedürftige, die, ihrer selbst noch unbewußt, an den alten Werten leiden — mithin für die epochale Krisensituation, in der allein eine Umwertung der Werte erreicht werden kann 12 . Vergegenwärtigen wir uns nun in einem weiteren europäischen Rahmen in Hinblick auf Wagner und die mit ihm, gemäß Nietzsches Auffassung, aufs engste und innigste zusammengehörigen französischen Spätromantiker jene Bewegung der Selbstvernichtung und Selbstüberwindung der Romantik. Nietzsche nennt diese „letzten großen Suchenden" Vermischer der Künste, Fanatiker des Ausdrucks (wie Delacroix), Entdecker im Reiche des Erhabenen, Häßlichen, Gräßlichen, im Effekte, in der Schaustellung; nennt sie Virtuosen, Feinde der Logik, Exotiker, begehrlich nach dem Ungeheuren, Krummen, Sichwidersprechenden; Tantalusse des Willens, heraufgekommene Plebejer, unfähig ein vornehmes lento zu wahren, Selbstzerstörer durch Arbeit (wie Balzac), Antinomisten, Aufrührer in den Sitten, Ehrgeizige, Unersättliche ohne Gleichgewicht und Genuß; allesamt zuletzt an dem christlichen Kreuze zerbrechend und niedersinkend — wie Wagner, aus dessen Parsifal Roms Glaube ohne Worte ertönt. Diese Revolutionäre gegen deutsches Muckertum, diese Artisten mit ihrer Delicatesse, ihrem Sinn für Nuance — diese décadents (Prototyp: Baudelaire) — mit ihrem fond von Krankheit, von Unheilbarkeit — diese „im ganzen . . . verwegen wagende, prachtvoll gewaltsame, hochfliegende und hochemporreißende Art höherer Menschen, welche ihrem Jahrhundert — und es ist das Jahrhundert der Mengel — den Begriff ,höherer Mensch' erst zu lehren hatte", die — wie Wagners Tristan — Wollust der Hölle, Gegengift gegen alles Deutsche boten — Gift: aber „wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig" 1 3 — lehnt Nietzsche sie nur ab? Keineswegs. Er identifiziert sich mit der décadence, deren Antipode er zugleich sein will, und im besonderen mit der pessimistisch-nihilistischen Bewegung, die zwar als romantischer Pessimismus die Romantik vollendet, sich aber sogleich dialektisch als antiromantischer Pessimismus oder als rein artistischer Nihilismus gegen die Romantik kehrt, und die er selbst nur noch radikaler, bis zur Umwertung aller Werte vorantreiben will, um unter dem Vorzeichen einer bejahenden Vitalität, den romantischen Pessimismus in einen dionysischen zu verwandeln, den passiven Nihilismus — Symptom für Niedergang und Rückgang der Macht des Geistes — in den aktiven Nihilismus — das Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes — umzukehren 14 . Romantik — Wagners Nibelungenschluß — ist Vorbereitung des Nihilismus im Bereich der Kunst. Typisch ist die Verwandlung von 1830 in 1850, 12 13 14
K T A 9, 666, 661 ; J G B , Abschnitt 257. J G B , Abschnitt 256; E H , Warum ich so klug bin, Abschnitte 5 und 6. K T A 9, 20.
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die Wagner und Flaubert illustrieren, indem sie Beispiele dafür liefern, wie der romantische Glaube an die Liebe und die Zukunft in das Verlangen zum Nichts sich verwandelt. Aber auch in dem Gegenschlag zur Romantik, der Gegenbewegung, geführt von gegen jeden „Inhalt" gleichgültigen, „reinen" Artisten, meint Nietzsche, macht sich der passiv nihilistische Zug geltend. Auch sie ist nur reaktiv, produktiv aus Widerwille gegen die romantischen Ideale und Lügen; moralistisch, als Sinn größerer Wahrhaftigkeit, aber pessimistisch; tut die Beichtvater- und Puritaner-Psychologie, d. h. die zwei Formen romantischer Psychologie ab, aber auch ihr Versuch, sich rein artistisch zum Menschen zu stellen, ist nicht deren wahre Uberwindung. Auch da wird die umgekehrte Wertschätzung noch nicht gewagt15. Die Vergegenwärtigung einer dialektischen Entwicklung, in der die romantische, die pessimistisch-fast-nihilistisch-spätromantische, die artistisch-ästhetizistisch-ganz-nihilistische nach-und-anti-romantische decadence-Bewegung jeweils selbst die Voraussetzung für ihre Umkehrung und Selbstüberwindung schaffen, löst scheinbare Widersprüche in Nietzsches Urteilen auf. Insofern sie die dialektische Bewegung intensivierend und radikalisierend ihren eigenen Untergang und die Aufhebung der Romantik vorbereiten, darf Nietzsche-Zarathustra die höheren Menschen — die hochfliegende Weise der Spätromantiker, zu denen Nietzsche ja auch selbst gehört — schätzen: Aber so nah ein Wagner in der Gestalt des „sehr freien", „harten", wohlgeratenen Siegfried dem eignen Wunschbild kam, es geschah ihm und den andern Spätromantikern mit Fug und Recht, daß sie am Kreuz zerbrachen: Keiner war tief und ursprünglich genug zu einer „Philosophie des Antichrist". Und fast ebenso kann Nietzsche von der „geistreichsten und skeptischsten Bande" Pariser Geister der sechziger Jahre, die sich zu den „diners chez Magny" zusammenfanden, — Sainte-Beuve, Flaubert, Gautier, Taine, Renan, die Goncourts, gelegentlich Turgenev, etc. — urteilen: „exasperierter Pessimismus, Cynismus, Nihilismus, mit viel Ausgelassenheit und gutem Humor abwechselnd; ich selbst gehörte gar nicht übel hinein" —; aber auch: „ich kenne diese Herren auswendig, so sehr, daß ich sie eigentlich bereits satt habe. Man muß radikaler sein: im Grunde fehlt es bei allen an der Hauptsache — ,la force'"16. Er meinte, er hätte in seinem Frühwerk deutsche Musik und Philosophie, zumal Schopenhauer und Wagner, als Symptom der Kraft, Tapferkeit, Fülle, kurz: des dionysischen Pessimismus mißverstanden, obschon sie doch dessen Gegenteil: nämlich Romantik waren. Aber das Mißverständnis ist, gemäß Nietzsches Auffassung, daraus zu erklären, daß sich die Gegensätze auseinander entwickeln; es nur einer — allerdings der bedeutsamsten — dialek15 16
K T A 9, 79, 56 f. J G B , Abschnitt 2 5 6 ; G B r IV, 3 3 7 f .
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tischen Umkehr bedarf, um romantischen Pessimismus in dionysischen umzuwerten. Und es ist anderseits auch zu bedenken, daß die Wunschbilder einer, aus Sehnsucht nach Kraft produktiv gewordenen Schwäche die Täuschung und Selbsttäuschung begünstigen, sie seien nicht Symptom des Mangels, sondern der Fülle. Wie auch wiederum der Vitalste, der dionysische G o t t und Mensch, sich nicht nur den Anblick des Fürchterlichen und Fragwürdigen gönnen kann, sondern selbst die fürchterlichste Tat, jeden Luxus von Zerstörung, Zersetzung, Verneinung; ihm ist das Böse, Unsinnige, Häßliche gleichsam erlaubt, infolge eines Uberschusses von zeugenden, befruchtenden Kräften, die aus jeder Wüste Fruchtland schaffen können 1 7 . Schön: das ist der klassische, dionysische Pessimismus der Kraft, dem die Zukunft gehören soll, Nietzsches proprium und ipsissimum: nur sieht der, wie Nietzsche wohl weiß, dem andern, dem Pessimismus der Schwäche mitunter zum Verwechseln ähnlich, weshalb denn bei dem so schwierigen Rückschluß vom Werk auf den Schöpfer alles wieder auf die „furchtbare F r a g e " hinausläuft, ob Fülle oder Entbehrung, ob Gesundheit oder Krankheit da produktiv geworden sind 1 8 .Und die gleiche Frage erhebt sich auch bei den Gegensatzphänomenen: 18. Jahrhundert der Revolution und Napoleon; Epoche der Empfindsamkeit und Goethe. Napoleon: Fortsetzer der, von der Schwäche, dem Rousseauismus inspirierten Revolution, die ihn erst ermöglicht hat, kehrt die Revolution um, verwandelt sie, dank seiner Kraft, ins Gegenteil: in Uberwindung des 18. Jahrhunderts. Goethe: Schöpfer, nicht des zerstörend-vitalen dionysischen Pessimismus, aber einer dionysisch bejahenden, auf Verewigung des Menschenbildes gerichteten Apotheosenkunst, trug 18. Jahrhundert — Gefühlsamkeit, rousseauistische Naturidolatrie, das Antihistorische, Idealistische, Unreale und Revolutionäre (das nur eine Form des Unrealen ist) — in sich; aber durch eine, im umgekehrten Sinn als der Rousseauismus verlaufende Rückkehr, vielmehr ein Hinaufkommen zur Natürlichkeit der Renaissance, zur Antike, zu praktischer Tätigkeit, zum Realismus, zur Totalität, überwand er in sich das 18. Jahrhundert, bildete er sich zur Toleranz aus Stärke, zum dionysischen Allbejaher 1 9 . So will Nietzsche selbst — in Hinblick auf Napoleon und Goethe — Umkehrer, Uberwinder der Romantik sein und dekretiert: „Es ist zuletzt eine Sache der Kraft: diese ganze romantische Kunst könnte von einem überreichen und willensmächtigen Künstler ganz ins Antiromantische . . . Dionysische umgebogen werden, wie jede Art Pessimismus und Nihilismus in der Hand des Stärksten nur ein Hammer und Werkzeug wird, mit dem eine neue
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F W , Aphorismus 370. Ebda.; K T A 10, 166. G D , Streifzüge, Aphorismen 44 und 49; KTA 9, 78.
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Treppe zum Glück gebaut w i r d " 2 0 . Daß ihm dabei die Frage, ob ihn Fülle oder Entbehrung, Gesundheit oder Krankheit inspiriert, keine Ruhe läßt, ist weniger verwunderlich, als daß er, der so offenbar Kranke, monoman nach Gesundheit Verlangende — vielleicht gerade weil er, als ein nach Gesundheit Süchtiger, Verdurstender sich nur noch des Wunschbildes der Stillung bewußt sein will — diesen, in seinem Sinne ja doch romantischen Notstand, sich oder jedenfalls seinen Lesern zu verbergen weiß; mögen sich e contrario auch aus den Werken und Notizen, direkter aus den Briefen, Nietzsches fortwährende Selbstzweifel ablesen lassen; wie übrigens sein Zweifel mitunter auch an den Objekten seiner Verehrung nagt: selbst an dem, im Kampf um die Macht korrumpierten Napoleon, mehr noch an Goethes „angeblichem Olympiertum"21. So ungefähr also sieht sie aus — diese Schleife, die Nietzsche, indem er versucht sie zu beschreiben, selbst zu beschreiben versucht: von einem quasi naiven romantischen Optimismus, der seiner eigenen Negativität noch nicht auf die Spur gekommen ist, zu einem, durch Enttäuschungen ent-täuschten, durch Desillusionierung klüger und verzweifelter gewordenen romantischen Pessimismus, welcher umschlägt in den antiromantischen, asketisch desillusionierten Pessimismus und Nihilismus, der hinwiederum — nicht nur aus sich selbst, aber doch auch aus sich selbst heraus — und durch sich selbst — herausfordert zu seiner Uberwindung — über die prekäre Indifferenz eines kaum verneinenden und kaum bejahenden, resigniert und spielerisch losgelösten Schwebezustands hinaus — zu einem bejahenden dionysischen Pessimismus und heroisch aktiven Nihilismus und endlich zur dionysischen Allbejahung des schöpferisch und zerstörerisch spielenden Weltkindes, des aus sich rollenden Rades, die gewissermaßen auch den Nihilismus hinter sich läßt, indem sie ihn in sich aufnimmt und aufhebt, obschon er dennoch ihre Voraussetzung ist, ja mehr als das: ihr Grund, Ungrund, Element, so daß sie durchaus in ihm weiter besteht, mag sie ihn auch in einem fort durch ihre Strahlkraft auflösen. Diese Schleife — nicht nur Bezwingung einer Krankheit sondern ihr Umschlag in Gesundheit, wobei Gift zu Heilstoff wird — dies annähernde Wunder von Heilung, Wandlung, Transsubstantation — was haben wir davon zu halten? Aber indem ich diese Frage, die ich nicht beantworten werde, auch nur stelle, ja sie reduziere auf die Frage, was uns die von Nietzsche beschriebene Bewegung bedeutet, verdirbt sie mir mein anfängliches Konzept der neutralen Deskription. Und es ist wohl nicht nur Kleinmut angesichts der G r ö ß e der philologischen Aufgabe oder Bescheidenheit angesichts der mir
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K T A 10, 166. K T A 11, 4 1 7 ; K T A 9, 9.
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unzugänglichen, echt philosophischen Fragestellung, wenn ich, des bloß gelehrten Tons satt, statt nur näher und immer unparteiischer auf das Detail von Nietzsches Bewegung einzugehen, drei, den Modi der Zeit entsprechende Momente dieser Bewegung hervorhebe: ein vergleichsweise konservativ auf Vergangenheit, ein kritisch auf Gegenwart, ein postulierend projektierend auf Zukunft bezogenes; eben weil diese mir auch für uns und die akademische Beschäftigung mit Literatur, die sich seit Jahrzehnten ja vielfach im Fahrwasser von Nietzsches Bewegung bewegt, relevant zu sein scheint. Romantischem Pessimismus, ja einer, ihres Pessimismus noch halb unbewußten Romantik, die sich wegsehnt aus gegenwärtiger Welt in eine andre, ferne, oder vergangene, aus aktueller Unordnung und akutem Unglauben in die ordo, den Glauben, aus kranker, reflektierender, schizophrener Moderne in pure, gesunde, vitale Renaissance, und weiter: in die Antike — solcher Romantik eng verwandt ist eine elegisch konservative, elegisch pessimistische Kulturkritik, die allerdings sofern sie, das regressive Pathos radikalisierend, ihren etwas museal kulturwahrenden Charakter aufgibt, in ihr Gegenteil umschlägt, den traditionellen Zivilisations- und Kulturrahmen sprengt, um etwa als Sehnsucht nach einem primitiv utopischen, non-repressiv vitalen Naturzustand — sagen wir: der Südseeinsulaner, oder Willi Reichs Tobriandern, — starke Affinitäten zu einer revolutionären Zukunftsutopie zu entwickeln; ehe sie, bei weiterer Intensivierung, jenseits der Inseln sich ins Meer selbst verliert, mit Benn von thalassaler Regression träumt bis zum Klümpchen Schleim. — Solange sie nicht dermaßen umschlägt, sondern als elegischkonservativ pessimistische Kulturkritik sich selber treu bleibt, scheint sie mir am besten repräsentiert durch das, beim frühen Nietzsche nur deutlicher hervortretende, beim späten und spätesten Nietzsche nachwirkende Element Burckhardt, den22 Nietzsche als rückgewandten, historisierenden und doch wahrhaft gebildeten Gelehrten der alten Kultur, die ihr Bestes hinter sich hat, zu schildern nicht müde wird23: Durch Burckhardt, der schon als Jüngling in Abscheu vor merkantiler Hast, Versklavung, politischem Geschrei und „Begehrlichkeit der Massen" davon träumt, versenkt im tyrrhenischen Meer, in stillster Grabesgrotte, Konservator zu werden („Dann freßt euch auf, ihr Lumpenpack / Daß wieder Stille wird auf Erden"). Und exquisit im Sinne dieser Mentalität scheint mir jene Basler Episode: als in tiefer Erschütterung bei der Falschmeldung von dem Brand des Louvre in der 22
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Übrigens zunächst mit polemischer Spitze gegen die Romantik, deren zumal Schopenhauer ausschließenden Begriff Nietzsche im Frühwerk enger faßte (vgl. DS, Abschnitt 2; K T A 10, 35, 72; auch Heller, op. dt., 300, 322) als — zumeist - in seinen späteren Schriften. Vgl. MA I, Aphorismus 24; G D , Streifzüge, Aphorismus 5; und zum Thema Nietzsche und Burckhardt Heller, op. dt., 41—54, 232—246, wo sich auch Belege und Literatur zu dem Folgenden finden.
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Pariser Kommune (Mai 71) Burckhardt und Nietzsche sich gegenseitig in ihren Wohnungen suchen, dann schweigend H a n d in Hand die Treppe zu Nietzsche hinaufgehen, um den gewiß unvermeidlichen Untergang ihrer Welt in Trauer zu begehen: „Was ist ihre wissenschaftliche Existenz, wenn ein einziger Tag die herrlichsten Kunstwerke, an die sie als das allein Ewige und den höchsten Sinn der Geschichte geglaubt haben, vernichten kann; wenn die Gegenwart, aus der Burckhardt in sein Reich der Kunst und Betrachtung floh, jeden Augenblick sinnlos ihre Pranke über die vermeintliche Mauer werfen k a n n " 2 4 . Ich zitiere das, nicht weil ich es besonders schön, sondern weil ich es charakteristisch finde. Der epigonal-museal anmutende, zusammenfassende, liebevoll kritische Eklektizismus schließt Selbstkritik nicht aus sondern ein: Burckhardt genießt Nietzsches polemische Analyse des Historismus als Kulturkrankheit des modernen Alexandrinismus, wie anderseits Nietzsche mit Burckhardt darin übereinstimmt, daß die auszeichnende Begabung der Epoche — seiner und Burckhardts — in dem umfassend gerechten, ubiquitären historischen Sinn liege, der allerdings nur als second-best, als Schwundstufe kompensatorisch an die Stelle der eigentlichen kulturellen Kreativität tritt 2 5 — wie im Schema des Nachfahrs Spengler, allerdings da schon in Richtung auf die, aus dem Befund des unabwendbaren abendländischen Untergangs zu ziehende Konsequenz eines technologisch armierten, caesaristischen Imperialismus. — Durchaus gehört hierher bei Nietzsche der, seiner selbst überdrüssige, späte Sokratismus des Faust der Geburt der Tragödie, der sich nach den Ufern Griechenlands und der ästhetischen Helena sehnt; aber auch der Freigeist von Menschliches, Allzumenschliches, in dem Beethovens Neunte Symphonie noch einmal die längst im Verklingen begriffene metaphysische Saite in Schwingung versetzt; der nur zu gut die große Kunst begreift, die allein der Glaube ermöglichte, der nicht mehr möglich ist; nur zu gut versteht, daß die Menschheit ihr Bestes den metaphysischen Irrtümern verdankt, deren Erinnerung er, der diese Irrtümer durchschaut, n u n dankbar festzuhalten entschlossen ist 26 . Nicht nur der frühe und mittlere, auch der späte Nietzsche bietet — selbst, dort, wo seine manifeste H a l t u n g die entgegengesetzte ist — Zusammenfassungen, fast (wie er das selbst von Piatos Dialogen behauptet) 2 7 eine Art von Arche Noah des abendländischen Erbes, in die er einzelne schöne specimens in Lebensgröße aufnimmt, andere in aphoristische Quintessenzen einpökelt, um sie en minia-
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Zitiert nach d e m N a c h w o r t von Rudolf Marx zu Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart, o. D . , 287. Vgl. e t w a B u r c k h a r d t , op. cit., 2 1 2 f . , auch 6 9 f ; Nietzsche, V M , Aphorismus 179; K G W IV 2, 505, 559. M A I, A p h o r i s m e n 153, 220, 20; K T A 10, 406. W e n n auch in wenig schmeichelhaftem Sinne; siehe G T , 14. Abschnitt.
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ture zu bewahren: — eine Arche, bestimmt dazu, manches hinüberzuretten in die Epoche nach der Flut. — Aber er hat auch seine Absurditäten: dieser elegisch konservative Nihilismus, der selber gerne glauben möchte, woran er, ach, selbst nicht mehr glaubt; mit seiner Klage um tote Götter, den toten Gott, die, wenn es sie je gegeben hätte, wohl kaum gestorben sein könnten; um die, wenn es sie nicht gab und nicht gibt, man endlos zu klagen am Ende keinen Grund hat. Sie haben ihre Absurditäten: die schönen, fast zu schönen Jeremiaden des enterbten Erben, das Edelgejammer humanistischer Nostalgie; diese Tantaliden — arme Reiche, reiche Arme — zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht die Vorteile umfassendster Perspektiven auf Erfüllungsmöglichkeiten — Traubengirlanden, kühlende Quellwasserspiegel — genießend, die allerdings den, von Durst Gequälten sich ständig entziehen. Und so mag ihnen als Steigerungsform, Selbstüberwindung, Transfiguration jener Schwebezustand erscheinen, von dem Burckhardt sagt: Welch „wunderbares Schauspiel . . ., dem Geist der Menschheit erkennend nachzugehen, der über allen . . . Erscheinungen [unsrer Krisen- und Ubergangsepoche] schwebend und doch mit allen verflochten, sich eine neue Wohnung baut. Wer hievon eine Ahnung hätte, würde des Glücks und Unglücks völlig vergessen und in lauter Sehnsucht nach dieser Erkenntnis dahinleben" 28 . — Ein wunderbares Schauspiel — Burckhardt fügt zwar hinzu: „freilich nicht für zeitgenössische, irdische Wesen" —; aber wir sind, offenbar selbst von einer psychologischen Möglichkeit verführt, dem Bereich elegisch pessimistischer Kulturkritik entschwebt in einen, schon fast zukunftsfreudigen Bereich der Kontemplation, der seinerseits wieder nah verwandt ist dem von Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches entwickelten Ideal des heiter asketischen Freigeists, der, kaum noch ans Leben gebunden, allein um der Erkenntnis willen weiterlebt und dabei doch, in losgelöstem Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen, Schätzungen, wohl auch auf die Illusion der Erkenntnis zu verzichten genötigt wird 29 . Damit aber sind wir schon mitten in der Problematik des zweiten, nicht romantisch auf Vergangenheit, sondern im wesentlichen kritisch auf Gegenwart bezogenen Moments. Die Haltung des kritischen Freigeists entwickelt sich bei Nietzsche vornehmlich als Mut zum Häßlichen, zum Krötenfressen, in Affinität zu antiidealistischen, anti-metaphysischen, .niedrigen' Perspektiven — zumal einer, niedrige materielle Interessen und Triebregungen betonenden Psychologie (und Soziologie), die in allem den — allerdings bald auf- und umgewerteten, aus seiner vorgeblichen bloßen Niedrigkeit emanzipierten — Egoismus als treibendes Motiv gelten läßt. Es entstehen Spielarten der, asketisch, sich Glauben 28 29
Burckhardt, op. cit., 2 7 3 f . M A I, Aphorismus 34.
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und Romantik, Glaube als Romantik verbietenden, Atheismus gebietenden Attitüde, wie etwa auch bei Flaubert oder im Niels Lyhne: E. g. ein ,reiner' — von moralisch-metaphysischer Interpretation befreiter, von Flammen und Aschen hingeopferter Metaphysik und Moral noch glühender, in leuchtenderer Vergänglichkeit erstrahlender — Ästhetizismus (es ist Glanz, gewonnen aus der Hingabe der, nun als illusionär geltenden, ewigen Güter — fast ebenso wie aus der Heiligung des ephemeren schönen Augenblicks —, der nun der perfekten Geste, dem vollendeten Satz als dem einzig noch Wahren, Gültigen zuwächst); oder die ,reine', d. h. moralinfreie, antimetaphysische wissenschaftliche Haltung — bis zum streng desillusionierenden Neopositivismus und darüber hinaus: zu, mit Mitteln der Logik Logik zersetzendem Fiktionalismus. Wobei man sich zugleich — von Flaubert bis Mann, Jacobsen bis Musil — immer auch sehr deutlich des Verlusts an vitalen Illusionen stolz, leidend, beschämt bewußt wird, — zu denen nun durchaus auch die religiösen, moralischen, dem Leben Sinn verleihenden gehören: — mithin der décadence, die vielfach als Komplement des radikal desillusionierenden Geistes erscheint. Aber hier wäre nun auch an nahezu alles zu erinnern, was Nietzsche auszeichnet; der nicht bloß den Intellekt, sondern den Weisen einem alles verzehrenden stillen Feuersturm vergleicht; der groß, der dionysisch ist vor allem als Entwurzler, Um-und-Umkehrer, Zerstörer, Vernichter, kurz: als zersetzender Geist, Protagonist des großartig destruktiven, alle scheinbare Gewißheit in Frage stellenden, verheerenden Zweifels und eines kühn und bewußt experimentierenden Fiktionalismus und Perspektivismus, so daß sein Werk am Ende im Geistigen ein Analogon bietet zu jenem, von ihm antizipierten Schlachtfeld- und Werkstättencharakter der Epoche, von der etwa der Nietzscheaner Ernst Jünger, übrigens auch und gerade in seiner faschistischen Phase (dem „Arbeiter") schwärmte. — Unerschöpflich interessant ist dieser Zerstörergeist Nietzsches — besonders so lange man die Last alter hemmender Bindungen spürt, sich fragte: wovon komme ich damit los?, sich frei werden fühlt — und auch wiederum, wenn man sich fragt : wohin komme ich damit?, und sich eines Wozu der gewonnenen Freiheit bewußt zu werden meint. Aber wie monoton in seiner endlosen Ambivalenz, der Wellenbewegung, in der auch der Aufbau nur dem Zusammenfallen des Schaums zu dienen scheint, ist zugleich dies Spiel der Oszillation um den, in allem Wechsel doch nur immer als perennierendes Non-Resultat vergegenwärtigten Nullpunkt! Es bestehen doch wohl direkte Verbindungen zwischen dem, sei es verzweifelten, sei es ironisch resignierten Asketismus strenger Antimetaphysiker, die überall das Scheinproblem aufzudecken wissen, und dem, auch von Nietzsche unternommenen, paradox anmutenden Versuch als zwecklosen Zweck der, für unmöglich erklärten Erkenntnis das Durchschauen jener Welt
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von Illusionen zu statuieren, in der zu leben wir genötigt sind. Und ebenso zum Bereich einer, zu allem und nichts bereiten Intellektualartistik (— wie sagte doch der spätere Nietzsche? es fehlt la force! —) im akademischen Zirkus von, mit dem Spiel immer nur spielenden, irrelevanten, feixenden, traurigen clowns, einer Sphäre des Schwindels, der sophisticated blague des Déconstructeurs, der sich konsequenterweise längst hätte selbst dekonstruieren müssen, jener scheinbar nichts und alles gelten lassenden Kritik, die als anonymes Impersonal über allen Schätzungen zu schweben vorgibt, als lebe sie — die doch das hochgespielte Produkt einer betriebsamen Clique ist — in ihrem reinen Eskapismus durchaus nur hoch da droben in und von der Luft. Immer wieder hört man von daher die Auskunft: es sei alles nur Spiel. Aber einerseits ist ein, durch Statuierung des Spielcharakters (des Daseins, der menschlichen Belange, des Universums) modifiziertes Engagement nicht bloß aufgrund eines Nihilismus, sondern ebenso aufgrund eines religiösen oder metaphysischen Fürwahrhaltens, bzw. eines Glaubens an eine, rein immanent jede jeweilige Position transzendierende Bewegung möglich. Andrerseits hebt, wo man den Spielcharakter — Welt-, Denk- und Sprachspiel absichtsvoll miteinander konfundierend — autonom setzt und allzu fest eine Art von ,dogmatic futility' behauptet, das Spiel sich durch Einsicht in den Spielcharakter auf und ruiniert sich selbst : eben weil es sich für autonom hält ; was Nietzsche besser verstand als seine Nachbeter, die übrigens selbst auch Beziehungen zu andern Attitüden unterhalten : zumal des romantischen Pessimismus und des, an mythologisierte Historie anknüpfenden Bewußtseins der décadence und des Untergangs. Denn, ,fiddling while Rome burns', sagten sie immer noch gern ihr ,qualis artifex pereo', freilich auch nur in ihrer Fiktion von Fiktionen, denn in Wirklichkeit sind's harmlose Pedanten . . . Es war hier die Rede vom großen europäischen Thema des 19. Jahrhunderts: des désillusionement, der Enttäuschung im Doppelsinn des Worts. Läßt sich das — siehe Flaubert, Jacobsen, etc. — rein aufspalten in ein positives Bestreben loszukommen von romantischen Täuschungen und andrerseits: in die Bitterkeit des Enttäuschten, der die Illusion verloren hat, und seine Einsamkeit und Nüchternheit? Aber die geht nun auch mit dem Stolz der Mündigkeit (des Mündiggewordenseins), mit einem neuen Gefühl der Freiheit, der Kraft — auch im amoralischen Abwerfen moralischer Schranken — einher. Und hier wäre ein Ansatzpunkt für den dionysischen Pessimismus und den heroischen Nihilismus der Spielfreude: bis zur Verwegenheit der Maxime: nichts ist wahr, alles ist erlaubt; die gleichwohl eng benachbart ist dem kafkaschen: es ist alles Lüge, alles verboten; noch näher aber der Meinung, es sei, da nichts wahr ist, auch sowohl alles wie auch nichts erlaubt: nämlich alles indifferentes Spiel fiktiver Differenzen. Merkwürdig, wie das, Nietzsche so gemäße, zerstörende Spiel des Nihilismus im
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Perspektivismus, im Fiktionalismus auch wieder Formen des Eskapismus entwickelt: in fin-de-siècle-Esoterik derer, die an nichts mehr glauben in ihren elfenbeinernen Türmen und unterirdischen Palästen, fern der blöden, noch illusionsgläubigen Menge; aber vielleicht auch in Beziehung zu der etwas absurden Esoterik mancher, seit den zwanziger Jahren florierenden, linkskritizistisch-avantgardistischen Elite-Intellektuellen in ihrer Entschlossenheit zu wirkungsloser Radikalität; sowie — auch gegenwärtig — in Ausflüchten vor den, nur noch in Gänsefüßchen gesetzten Realitäten, die sich allerdings — einem on dit zufolge — davon, daß man sie — Nietzsches Sprachkritik und epistemologische Aperçus auswalzend — nur noch als sprachliche Fiktionen unter andern anerkennt, bisher nicht verflüchtigen lassen haben sollen. Aber was habe ich eigentlich gegen jene Kritiker, die zwischen dem antiromantischen, aber romantischem Idiom und romantischem Pessimismus noch halb verfallenen Nihilismus Flauberts und einem, zur eigenen Selbstgenügsamkeit und Serenität sich beredenden Nihilismus fluktuieren; deren Attitüde suggeriert, daß sie aus einem verzweifelten in einen heiter resignierten, spielerischen Nihilismus hinüberwollen; weshalb sie jedem Text, der ihnen wert ist, ihren Nihilismus vindizieren oder unterschieben; was eben beweisen soll, daß ein Autor, der was taugt, nie etwas Bestimmtes zu sagen hat ; daß ein Text, der was taugt, ausschließlich ein, sich selbst genügendes Spiel mit fiktiven Perspektiven treibt, die einander aufheben; und daß ebendies das einzig Gute-Wahre-Schöne sei, das an die Stelle der ehemaligen Wirklichkeit und des abgedankten Guten-Wahren-Schönen zu treten habe? Man sagt von manchen dieser Kritiker, sie hätten in den Abgrund geschaut und seien lächelnd wiedergekommen: Das charakterisiert sie gut, wenn man nämlich bedenkt, daß diese lächelnden Revenants oder feixenden Schälke in ihrer defensiven Schlauheit auch leugnen, daß es überhaupt einen Abgrund gibt, in den man schauen könnte, da ja vielmehr das, in sich selbst genügsame, Spiel der mit sich spielenden Philologen — will sagen: der Texte, der Sprachfiktionen — das Ein und Alles sein soll . . . Sieht man ab von der, bei Philologen verständlichen, wenn auch etwas schwachsinnigen Illusion, daß durch Erweiterung der Sprachmetapher — e. g. durch Bezeichnung aller Erfahrungsgebiete als Texte — die ja die Nötigung zur Unterscheidung zwischen diesen (wenn auch nun innerhalb des Textmetapher) nicht aufhebt — etwas wesentliches gewonnen sei; so ergibt sich deutlich wiederum die Nähe zu dem, schon erwähnten Freigeistideal des mittleren Nietzsche, der im sehr bewußten, von Affekten weitgehend entlasteten Kreisen über als fiktiv erkannten Schätzungen sein Genüge finden wollte; wobei allerdings nachdenklich stimmen mag, daß der spätere Nietzsche in dieser Vorstellung, in dieser Entfernung von jedem vitalen Engagement, ein pathologisch defensives, bestenfalls aber ein Rekonvaleszenten-Ideal sieht — härter : die Weisheit jener
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Weisen, die nur „Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von Gespenst", von passiv vegetierender und schattenhafter Geistigkeit sind, da ihm ihr Versuch über die perspektivistischen Schätzungen ¿¿«wegzukommen ein „lebensfeindliches und auflösendes" Prinzip zu repräsentieren scheint 3 0 . Immerhin, geben wir zu: man kann die Werke Nietzsches infolge ihres reichhaltig fragmentierten und desintegrierten Charakters und seines, mit Perspektiven immer wieder auch spielenden Denkens so lesen, daß dabei nichts andres herauskommt als eben dies, sich selber konstruierende und dekonstruierende, aufbauende und verschlingende Perspektivenspiel; ja man kann auch mit Nietzsche das Universum (inklusive Texte) als ein solches Spiel betrachten. Und warum sollte eine derartige analytisch-kontemplative Betrachtung nicht den Lebensstil von Intellektuellen bestimmen? Aber das heißt weder, daß diese Kontemplation nun im Sinne Nietzsches die Aufgabe hätte, die einzelnen Gegenstände der Betrachtung der eigenen, quasi neutralisierten Haltung anzugleichen, da das große, sich aufhebende, zu betrachtende Spiel erst aus dem Widerspruch der spezifisch dezidierten und engagierten Perspektiven sich ergibt; noch daß jener neutralisierte, quasi aperspektivische Perspektivismus für Nietzsche nicht auch ein illusionärer ist oder wird. Die da oben hocken und immer nur den Spielcharakter betrachten — sind das nicht diejenigen, die nicht mitspielen, deren Enthaltsamkeit nur defensiv die Kondition verleugnet, die sie selbst als die allgemeine behaupten? Gehört der Entschluß zum Einsatz, zum Mitspielen, am Ende zu jener zwingenderen Perspektive, in der für den späteren Nietzsche allein die Wahrheit bestehen soll? Das Genügen am Aushängen des Willens, der Schwebezustand — wenn er mehr sein will als Rekonvaleszenz und Ubergang, nämlich: Beharren in der ,reinen' Dekonstruktion, — erweist sich nicht nur als Illusion der Desillusionierten, sondern als Symptom, u . z . nicht nur dem späteren Nietzsche zufolge. Unser modernster, mit sich spielender Nihilismus illustriert ebendies: er hat den Charakter des Eskapismus in Anbetracht einer Situation, die man im Grunde für aussichtslos hält. Die Haltung der, sich im Perspektivenspiel genügen wollenden Virtuosen der Dekonstruktion empfiehlt sich, wenn man an die Möglichkeit einer konstruktiven Weltgestaltung nicht glaubt; die dem Menschengeschlecht oder der eigenen Gesellschaft zugemuteten Probleme (Aufgaben) nicht für lösbar hält; sich aber über die Aussichtslosigkeit trösten (sich etwas vormachen) will, indem man sie zur universalen Kondition erhebt und ihr einen sich genügenden Spielcharakter vindiziert. Es ist eine Naivität der, bei der Intellektualität der zwanziger Jahre stehenbleibenden Mentalität, die aus der Erfahrung des Faschismus nichts gelernt hat, obschon oder eben
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Z a , Vorrede, 3. Abschnitt; K T A 9, 416.
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weil sie von ihr noch immer immobilisiert und quasi okkupiert ist, — eine Naivität so mancher Kritiker französisch-strukturalistischer Observanz, — zu glauben, daß man der Nötigkeit zur Eindeutigkeit, zur Festlegung der Wünschbarkeiten, zu einem, mehr als zum Spiel schlechthin sich bekennenden Programm entgehen könne. W o die längst nicht mehr latente, sondern manifeste Bedrohung unserer Zivilisation durch die, von ihr geschaffenen Mittel und Zustände anerkannt wurde und wird (und das war schon zu Nietzsches Zeit der Fall), kann und konnte die zukunftsträchtige Antwort nur eine sein, die sich zu einer, für richtig, ersprießlich, der Situation gerecht werdenden, mithin auch Wahrheitsgehalt in sich bergenden Lösung, Arbeit, zu einem positiven Versuch entschließt und nicht in reinem Spielcharakter zu verharren wünscht. Die sich aus dem verzweifelten in einen heiteren Nihilismus bewegende, den Spielcharakter aller Standpunkte, Erkenntnisse, Bemühungen betonende Bewegung, die alles relativiert nur nicht ihren eigenen Relativismus, alles als perspektivistische Illusion durchschaut, nur nicht ihre eigene Verfallenheit an den Perspektivismus, ist zumindest auch Symptom mangelnden Entschlusses und Willens, dem was realiter offensichtlich droht, mit einer Bemühung zu seiner Bewältigung zu begegnen. Nietzsche war sich darüber im Klaren; und wenn er in seiner späteren Phase hinter seine These oder Einsicht in den fiktionalen Spielcharakter des Daseins, der Erkenntnis, usf. zurückzugehen scheint, indem er dogmatisch, apodiktisch, imperativisch fordert, so nur darum, weil er aus seiner These oder Einsicht — an sich und formaliter berechtigte, wenngleich in ihrem konkreten Gehalt vielfach unberechtigte und unbesonnene — Konsequenzen zieht. Ich sprach von zwei — immerhin legitimen — Modi: dem bewahrenden, elegisch auf Vergangenheit als Gegenwart, Gegenwart als Glied der Vergangenheit basierenden, gegen den der antimetaphysische Affekt sich richtet; und dem kritisch auflösenden, in dem es schließlich weder Vergangenheit noch Zukunft gibt, sondern (obschon man oft das Gegenteil behauptet) nur Gegenwart als Spiel der sich auffächernden, ständig im Wechsel begriffenen differance. Bleibt der dritte, der projektierende (reformatorische, revolutionäre, utopische), der planend auf Zukunft gerichtete Modus als der uns gemäßeste. (Denn mangels einer Offenbarung, die eine metaphysische Erfüllung erschließen könnte, steht wohl nichts andres zur Wahl als Planung, Entscheidung, u. z. auch für den, der glaubt, daß selbst der eigene Entschluß noch Antwort ist auf das, was uns hält, erhält, nötigt.) Ein Vorteil der von Nietzsche eingeführten Betrachtungsweise liegt im Bewußtsein des inkohativ perspektivistischen, vorläufigen, interpretativen Charakters unsres Selbst- und Weltbildes; einer Ansicht, der gegenüber etwa der ältere Marxismus mit seinem dogmatischen Aberglauben an, durch kon-
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stante Interessen und Interessenkonflikte in ihrem vorherwißbaren Verlauf bestimmte Abläufe der ,Geschichte', wie auch die, zur universalen Fatalität erhobene, individualhistorisch biopsychische Mythologie mancher orthodoxen Freudianer und ihre starre Auffassung von dem Verhältnis zwischen einer als objektiv statuierten Realität und einer subjektiv psychischen quasi im 19. Jahrhundert zurückgeblieben sind. Aber mag Nietzsches Prozedur für die, an einer Vorstellung metaphysischer Absoluta — e. g. des Guten, Wahren, Schönen — Haftenden auch Schockwirkung haben: wenn er etwa das Schöne und Gute nun nur als vornehmste und vitalste Perspektiven gelten läßt, so liegt es ihm fern alles in einen nivellierenden, relativistischen Topf zu werfen. Vielmehr proklamiert er die, im Sinne seiner Postulate gemäßen Kriterien, Steigerungsformen, Hierarchien. Das Wahre soll fortan nur als zwingendste, umfassendste Perspektive gelten — samt zugehörigen Hierarchien von mehr und weniger zwingend umfassenden. Aber abgerechnet die Prätention auf Absoluta: — wie weit ist man mit dieser Umbenennung von älteren Auffassungen entfernt? — Zwar mag man an einer durchgehenden Leistung der Relativierung aller intellektuellen, wie aller emotionellen Perspektiven dennoch festhalten: Die Behauptung der zwingenderen und zwingendsten, umfassenderen und umfassendsten Perspektive mag nicht dasselbe sein, wie die apodiktische Behauptung eines unveränderlich Absoluten; der Spielcharakter mag nicht verloren gehen: — Es ist wie bei sportlichen Wettbewerben: daß einer schneller läuft als der andre, ist nicht abzuleugnen; beweist die Überlegenheit des einen über den andern; aber auch die bisher schnellste Zeit ist nicht als Absolutum der Schnelligkeit festzulegen, zu behaupten, zu glauben . . . . Grade weil er kein Jenseits der Perspektiven, auch keine einzig absolut wahre anerkennen will, zieht Nietzsche — mit Recht — aus der, von ihm geforderten Einsicht in den Spielcharakter des Daseins die Konsequenz des Postulats intensiv-vitalen Engagements im Kontest der Perspektiven; und legt auf dieses Postulat und die ihm dienenden Hypothesen und Postulate zusehends immer größeren Wert, — größeren auch als auf seinen Pan-Perspektivismus. Nicht in diesem sieht er seinen entscheidenden Beitrag: Auch die Hypothese der ewigen Wiederkehr akzentuiert er nur, insofern sie, die Kranken erschütternd, daß sie vor Unlust vergehen, die wenigen Andern zum stärksten Engagement provoziert: zur höchsten schöpferischen Leistung, Bejahung, Selbstrealisierung. Und auch den Willen zur Macht, scheint mir, will Nietzsche nicht primär als erklärende Hypothese propagieren, sondern er drängt auf seine möglichst konkrete Auffassung in der Gestaltung der Kultur, des Staates, der Mentalität, der Physis des zu erzielenden, nur noch als Postulat utopischen Engagements fungierenden Ubermenschen. Durchaus im Gegensatz zu jenem modernen Vorurteil: es käme nicht auf Antworten, sondern nur aufs Fragenstellen, auf das In-
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Frage-Stellen, an, fordert ,the postmodern Nietzsche' Eindeutigkeit, Antwort, wenngleich als Tat, Verwirklichung, Gestalt. Wie stellt sich von hier aus nun die, im Sinne eines antimetaphysischen Perspektivismus auch nur illusionäre — ,aperspektivische' — Perspektive der Losgelöstheit dar? Nur als eine unter andern? Oder — da jede Erkenntnisperspektive nun als Funktion und Symptom einer vitalen, eines vitalen Interesses, zu gelten hat — als eine, die noch der alten metaphysischen Illusion verpflichtet bleibt: als gäbe es den, der allgemeinen Verflochtenheit in die Irrtümer der Welt enthobenen, rein geistigen und darum dem absoluten An-sich der Dinge näheren Zustand; der doch, da kein An-sich, keine vita contemplativa, die sich durch Askese ihm annähern könnte, anerkannt wird — nun selbst eher als Schwundstufe der Vitalität, wohl kaum als im Sinne des Vitalideals privilegiert, erscheint. Erst das auf konkrete Gestalt bezogene kreative Engagement überwindet die Problematik des, aufs Jenseits sehnsüchtig weltflüchtig bezogenen, romantisch metaphysischen Bedürfnisses. — Oder weiß sich bei all dem in Nietzsches Spätphase dieses metaphysische Bedürfnis doch auch immer wieder durchzusetzen und feiert, eben gerade da es für endgültig überwunden und abgetan erklärt wird — transfigurierte Wiederkehr des Verdrängten, Totgesagten — eine Wiederauferstehung als Metaphysik des Willens zur Macht, der in seinem temporalen Modus der ewigen Wiederkehr dem Werden den Stempel des Seins aufdrückt? Auf diese Frage, wie auch auf die Frage, ob solche Metaphysik, wenn sie vorhanden wäre, als weitere ,Transzendenz' oder aber als Regression, als Rückfall aufzufassen sei, — gehe ich hier nicht ein. Ich begnüge mich damit, die Schleife bis in die Phase des Projekts, des als Postulat proklamierten Programms zu verfolgen. Wir wissen: die Befähigung zur Realisierung der schöpferisch engagierten Perspektiven — des Kindes — des aus sich rollenden Rades — gilt dem späteren Nietzsche als entscheidend. Dennoch, meine ich, versagt er hier — und zwar offenbar, insofern er den romantischen Pessimismus eben nicht überwunden hat, sondern ihn nur überschreit. Nicht in Frage gestellt wird hier: die prinzipielle Berechtigung der intendierten Bewegung aus dem romantischen Pessimismus zum Pessimismus der Stärke, aus verzweifeltem zu aperspektivistisch spielerisch auflösendem, endlich heroischem Nihilismus, der, seiner selbst überdrüssig, sich überwinden soll zur autonom illusionslos bejahenden Kreativität; und damit wohl auch: die Berechtigung einer Bewegung vom skeptisch analytischen Stil zum utopisch proklamierenden, postulierenden, sei es auch imperativischen, des Nicht-mehr- und Uber-Nihilisten. Anerkannt wird die Einsicht in die Notwendigkeit des Engagements, der Wendung zum positiven Projekt, zumal jene, von Nietzsche geforderte Arbeit an ökumenischen Zielen, die sich die Menschheit nunmehr selbst zwecks bewußter Gestaltung der Kultur zu geben
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habe 31 . Auch will ich hier — obschon er mich so wenig überzeugt, wie der feierlich jugendstilartige, parodistische Bibelton des Zarathustra — nicht Anstoß nehmen an Nietzsches Versuch, das zur Heiterkeit geläuterte Dionysiertum im Sinne einer nicht mehr defensiven Klassik zu stilisieren, wie sie sich mitunter beim späteren Goethe findet, zumal aber bei den Griechen; wie denn überhaupt Nietzsches Geschmack und Prophetie in der Hoffnung auf Erneuerung einer, von Metaphysik gereinigten Superantike zu kulminieren scheint. Aber ich gehe nicht mehr mit, wenn nun, in engem Anschluß an diese Antike, den langen Atem, die Klassizität, Latinität des großen, quasi römisch imperialen Stils aëre perennius, der Machttraum caesaristisch diktatorischer Weltherrschaft und großer Politik sich auftut 32 ; Nietzsche, in Hinblick auf den, auf breitester Basis (infolge des gerade dazu nützlichen Demokratismus, i. e. der Verfalls- und Versklavungsform des Menschen, seiner Vermittelmäßigung und Werterniedrigung33) geschaffenen, durchaus nötigen, massenhaften Sklavenstand, in Distanzgefühlen luxurierend, das Lob der, nur den Wenigen zustehenden Herrenmoral, der vornehmen Rassen anstimmt, auf deren Grund die prachtvoll nach Beute und Sieg lüstern schweifende Bestie nicht zu verkennen ist 34 ; seine Phantasie schwelgen läßt im sadomasochistischen Eros, der das Rudel der blonden Raubtiere, den staatenbildenden Männerbund zusammenhält, aber auch innerhalb der, nach außen und unten sich austobenden Eliten, jeden mit jedem das Spiel tyrannisierenden Wettbewerbs und der Unterjochung genießen und erleiden läßt, bis hinauf zur einsamen Spitze des Supertyrannen. Was da losgelassen wird — inklusive die, übrigens absichtsvoll, raffiniert zubereiteten Brutalitäten, Atrozitäten, nicht zuletzt pour épater les bourgeois — : es ist zugleich doch echte Phantasie und Utopie; Gegenbild zur Existenz des Einzelgängers, des in sich gekehrten Gelehrten; zur Sekurität und aus der bourgeoisen Sekurität des 19. Jahrhunderts, des bourgeois anti-bourgeois, durchaus wie bei Flaubert: gerichtet gegen den flôt de merde der Bourgeoisie und der Masse, freilich auch in Haß gegen und aus Angst vor dem heraufkommenden, fordernden Pöbel: Gegenbild — auch darin Flaubert ähnlich — zur, als unabwendbar empfundenen décadence, dem Gefühl der Gewißheit, selbst ein décadent zu sein; und zur eigenen Krankheit, der Nietzsche, je rettungsloser er ihr verfällt, um so unentwegter, eine überhitzte, e contrario von der Pathologie inspirierte, im Kampf gegen das eigene Leiden, das taedium vitae, die Todessüchtigkeit forcierte, 31 32
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Vgl. MA I, Aphorismus 25. Vgl. zu dem Folgenden die Begründungen und Belege in Heller, op. cit., 220—227 (Nietzsches Machttraum), 2 5 8 - 2 6 1 , 284—287 (Antisozialismus), 2 6 2 - 2 6 9 (Konzept der Vornehmheit); ferner etwa die Stichworte „Herr" (Herrenmoral) und „Sklave" in Oehlers Nietzscheregister (KTA 12). JGB, Aphorismen 202, 203. GM, 1. Abhandlung, Abschnitt 11.
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krasse Utopie von hybrider Gesundheit abgewinnt : Die Utopie eines Leidenden, Lebensmüden, der sich und aller Welt das Ideal superabundanter Vitalität einbrennen muß, das eben darum symptomatisch wird für das eigene, engste Leid des Torturierten; der sich am Rande des Irreseins megaloman in den Wahn der mehr als königlichen, eigenen Vollkommenheit steigert: Ecce homo — „Müßiggang eines Gottes am Po entlang" ... 3 S Dieser hybride Kranke, vor allem: dieser Protofaschist, den man — Nietzsche im Sinne des heute Akzeptablen entschärfend — gern eskamotiert, womit man ihn in umgekehrtem Sinn verfälscht als die Nazis, die gerade den Protofaschisten für, allerdings in seinem Sinn allzu plebejische Zwecke als ihren Propheten ausschlachteten: — dieser kranke Nietzsche mit seiner SuperGesundheit, dieser von Ressentiments Geplagte mit seiner exzedierenden Vornehmheit, dieser durchaus echte Protofaschist, der ja gerade dann zutage tritt, wenn man nach dem ,Positiven' fragt, ist, scheint mir, weitgehend ein Produkt des romantischen Pessimismus: des Wunsches von dem Eigenen — sei's der Zeit und Welt, in der man lebt, sei's von sich selbst, dem eigensten, physisch-psychischen Leiden — weg- und loszukommen in ein phantasiertes Jenseits: mag dieses auch eine klassizistische Utopie der Stärke und Gewalt in einem phantasierten Diesseits sein, in dem sich nicht bloß allzuviel wagnerianisch Siegfriedhaftes, zuviel Delacroix, zuviel Baudelairemäßiges findet, sondern das am Ende e contrario von den Zügen der eigenen Krankheit, die Nietzsche so überreichlich kompensiert', verzerrt wird. Ich meine, daß es hier, in der, für Nietzsche entscheidenden letzten Wendung, jener Bewegung aus dem romantischen Pessimismus — in der Vision engagiert positiver Produktivität, des schöpferischen Kindes, des auf den Ubermenschen bezogenen Uberkulturprogramms, der wiedergewonnenen Unschuld — Nietzsche ähnlich ergeht wie Thomas Manns Aschenbach: die Bewegung sich zum Krampf verzerrt, in Auflösung gerät, er in wesentlichen Stücken in ein aus dem romantischen Pessimismus geborenes Wunschbild, ein Negativ zur eignen Misère regrediert: daß er mithin in seinen positivsten Positiva am unverläßlichsten, wohl selten irrelevant, aber auch fast nie beim Wort zu nehmen ist; weshalb man ihm übrigens auch seine Ambiguität zugute gehalten hat, als wäre Unklarheit im Fordern, im Befehlen ein Vorzug ... Die Bewegung der Schleife, der Spirale, von der hier die Rede war, wird von Nietzsche nicht rein vollzogen. Er kommt nicht völlig und in Wahrheit zu der Gestalt, die das Problem erledigt, weshalb auch keine der soi-disant überwundenen' Phasen der, immer wieder von neuem — wenn auch immer mehr im Sinne der letzten Schritte — vollzogenen Bewegung verschwindet. Ein Beispiel dafür ist der Antichrist und Eiferer gegen Wagner, der das Vorspiel 35
E H , „ G ö t z e n d ä m m e r u n g " , 3. Abschnitt.
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zum Parsifal als größte Wohltat bezeichnet, die ihm seit langem erwiesen wurde, und zwar in Anbetracht der unbeschreiblichen Macht und Strenge des Gefühls, die, wie sonst nichts, das Christentum „in der Tiefe" nehme und „zum Mitgefühl" bringe 36 . Das Bedenkenswerte und Bedenkliche dieser Erschütterung, die vielleicht einem Literaten gemäß wäre und ihm nur Ehre machte, wird einem deutlich, wenn man sich den Anspruch des späten Nietzsche darauf, Stifter der, die Millennia der Metaphysik und zumal des Christentums ablösenden, sie im höchsten Sinne aufhebenden Über-Religion der nächsten Jahrtausende zu sein. Man stelle sich den Gründer eines neuen Glaubens im Zustande schwermütiger Nostalgie im Andenken an den alten vor, den er anderwärts als pures Gift verdammt: — wenn nicht Moses angesichts der Götter Ägyptens, so Luther, der immerhin mit dem Papst noch Dogmen teilte ... Aber offenbar ist hier jeder Vergleich absurd, und zwar auch in Anbetracht des, von Nietzsche explizite dramatisierten Agons und Eros, wobei einem allerdings der Verdacht kommen könnte, daß vielleicht jene Denkbewegungen, die sich als exquisit dialektisch darstellen, die noch im Fluß befindlichen, ungelösten, unerledigten sein mögen. Das Dialektische — heißt das vielleicht: das Unerledigte? Und eben weil bei Nietzsche die, hier in Rede stehende Bewegung und ihre Phasen nicht bis zur Vollendung und Erledigung gebracht wurden, gibt es immer auch die Möglichkeit, ihn im Sinne dieser unerledigten einzelnen Phasen zu lesen: also etwa des elegischen Nicht-mehr, der Sehnsucht nach verlorner Geborgenheit; oder aber im Sinne des, sich jede Illusion verbietenden, wissenschaftlerisch gesinnten, sokratischen, endlich aber auch die Wahrheitssuche als Illusion sich untersagenden, asketisch skeptischen Freigeists; im Sinne des, in und über den, als Illusion erkannten Sphären illusorischer différences heiter schwebenden oder heiter grimassierenden Nihilismus; im Sinne eines heroisch destruktiven, aktiven, tragisch dionysischen Pessimismus; im Sinne eines, neue Welt- und Selbstschöpfungen spielerisch entwerfenden, den Nihilismus bejahend transzendierenden Projekts; usf. Denn alle diese Möglichkeiten, sowie die verbindenden und transzendierenden Stufen, bleiben als Möglichkeiten in Nietzsches Texten angelegt, was sowohl eine Stärke wie eine Schwäche dieses vieldeutigen und uns, wohl auch in dieser Vieldeutigkeit und Ambiguität noch nahestehenden Schriftstellers ausmacht. Ich aber gehöre zu den Lesern, denen am Ende bei Nietzsche die heiter, leidenschaftlich, rastlos, alles und sich selbst verzehrende Aktivität und Passion der Erkenntnis imponiert, die sich am reinsten dort darstellt, wo sie ihre eigene, menschlich allzumenschliche Bedingtheit und Vorläufigkeit, ihren inkohativen, experimentierenden Charakter nicht mehr und noch nicht verleugnet. 36
K G W V I I I 1, 202 f.
DISKUSSION Müller-Lauter: Sie haben, Herr Heller, uns einen Vortrag in geradezu kaskadenhafter Form dargeboten. Die Vielfalt dessen, was bei Nietzsche zur Sprache kommt, tauchte eigentümlich ineinander verschlungen und zugleich auseinanderstrebend auf. Zum Schluß deuteten Sie noch an, daß bei aller Desintegration, von der Sie gesprochen haben, offensichtlich die Möglichkeit bleibt, daß gewissermaßen unter den vielen Nietzsches, die wir finden, sich jeder doch seinen herausziehen könne. Es wurde deutlich, welche Wahl Sie selber getroffen haben. Gründer: Wenn es erlaubt ist, eine Hommage in eine paradoxe Metapher zu bringen, dann möchte ich Herrn Müller-Lauters Wendung von den Kaskaden überbieten und von einem Katarakt reden, sowie die Vermutung wagen, daß man zu einem Katarakt keine Diskussion, sondern nur eine zaghafte Masora anbieten kann. Das Verhältnis Nietzsches zur Romantik, von dem Sie ja ausgegangen sind, um dann sehr viel weitere Perspektiven anzudeuten, braucht doch immer noch, so viele Studien es dazu schon gibt, weitere Detailforschung. Das Dionysische, das große, gängige und trotzdem stimmende Etikett für Nietzsche, ist ja gerade auch in der Paarbildung mit dem Apollinischen nicht von ihm erfunden worden. Sie findet sich schon bei Görres, Creuzer vor seiner Symbolik, der ein ganzes Buch über Dionysos geschrieben hat, Ritsehl u . a . (vgl. Hist. Wb. d. Philos. I, 441/5). Man müßte sich auch um Nietzsches eigentümlich idiosynkratisches Verhältnis zu Byron kümmern. Dazu erlaube ich mir den Hinweis auf eine merkwürdige ,Vorstufe' zu Nietzsches Geburt der Tragödie aus einem geistigen Umkreis, wo man das nicht vermutet. Der Breslauer Taubstummenlehrer und Professor der Homiletik Carl Adolph Suckow hat eine Einleitung geschrieben zu einer A/an/re^-Ubersetzung seines Freundes, des Philosophieprofessors Christlieb Julius Braniß (Posgaru [Pyseudonym, d. i. Carl Adolph Suckow] Byron's Manfred. Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen. Ein Beitrag zur Kritik der gegenwärtigen deutschen dramatischen Kunst und Poesie, Breslau 1839), der seine Bedeutung hat als Lehrer des Grafen Yorck von Wartenburg. Diese Einleitung ist eine Antizipation sowohl des Wagnerschen Gesamtkunstwerks wie auch des Nietzscheschen Buches über die Tragödie. Suckow fordert Braniß und den ihm persönlich bekannten Mendelssohn-
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Bartholdy auf, den Byronschen Manfred in der Branißschen Ubersetzung zu vertonen: dann werde man das Gesamtkunstwerk haben. Und was in dieser Einleitung über das Tragische gesagt wird — das Buch ist 1839 erschienen — entspricht dem, was Nietzsche dreißig Jahre später geschrieben hat, natürlich mit der Differenz der schriftstellerischen Potenz. Heller: Mich hat der Beitrag von Herrn Gründer sehr interessiert. Daß Nietzsche sehr vieles in seinen Begriff des Dionysischen mit hereinnimmt, was aus der Romantik kommt, bezweifle ich nicht. Mir ging es aber primär darum, die Problematik des romantischen Pessimismus in den Zusammenhang zu bringen, in den auch Nietzsche selbst sie bringt. Meine Gedankenbewegung war durchaus nicht so konfus, wie sie Ihnen, Herr Müller-Lauter, erschienen ist. Ich habe gewisse Stufen hervorgehoben und zwar habe ich mit einer kommentierten Collage von Zitaten begonnen, die aufzeigen, wie Nietzsche selbst die Progression darstellt: aus einer noch optimistischen Romantik zu einer ihres Pessimismus sich bewußt werdenden, von da aus zu einer antiromantischen, nihilistischen Bewegung, die aber der Romantik noch verhaftet ist; dann erst erfolgt der Umschlag. Ich habe eine dialektische Bewegung beschrieben, wobei ich einen allgemeinen Begriff von Dialektik zu Grunde legte: eine Position grenzt sich polemisch gegen eine andere ab, bewegt sich dann zu ihrer Gegenposition hinüber, wird quasi von dieser aufgezehrt, aber so, daß ein Drittes entsteht, das quasi transzendiert. — Daß Nietzsches Beziehung zu den Romantikern weiter untersucht werden soll, leuchtet mir ein. Übrigens ist Max L. Baeumer der Frage nach dem Dionysischen weiter nachgegangen. Nietzsches Verhältnis zu Byron hat mich interessiert, darüber habe ich sogar schon ein wenig gearbeitet, ich bin für die Hinweise sehr dankbar. Zunächst hat mir natürlich Ihr Gefühl, Herr Heller, für die Kaufmann: Vielseitigkeit von Nietzsche viel Freude gemacht. Aufgefallen ist mir dabei, was ich zunächst für nebensächlich, dann doch für vielleicht symptomatisch hielt, daß Sie Heinrich Heine ausgelassen haben. Man kann das vielleicht herausgreifen als einen Brennpunkt von dem, was mir an Ihrer Deutung als verfehlt erscheint. Daß Heine für Nietzsche ein Held ist, einer, den er bewundert, wenn auch vorher nicht so vorbehaltlos wie zuletzt im Ecce homo, zeigt doch, daß das, was Sie über Nietzsches Verständnis von Gesundheit gesagt haben, nicht stimmt. Heine war, wie Nietzsche wohl gewußt hat, auf der Matratzengruft so krank, wie man nur krank sein kann. Es stimmt auch nicht, daß Nietzsche „die blonde Bestie" verherrlicht, die kommt im ganzen dreimal vor, und wenn man auf den Zusammenhang achtet, so kann man nicht von Verherrlichung sprechen. Man braucht nur im
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Zarathustra nachzulesen, um zu sehen: es gibt drei Stadien, und die blonde Bestie, der Löwe, ist das zweite Stadium. Das spielende Kind steht darüber. Heine ist für Nietzsche in Ecce homo das spielende Kind, die Idealgestalt, der er selbst ähnlich ist: „Heine und ich", heißt es ausdrücklich. Das haben Sie ganz beiseite gelassen. Und das ist wichtig für Ihre letzte und meiner Ansicht nach entscheidend falsche Aussage, Nietzsche sei eben doch Protofaschist gewesen. Ich glaube, ich habe wohl das Wort ,Protonazi' eingeführt in meiner Nietzsche-Deutung, indem ich es zugleich zurückgewiesen habe. Sie sagen, damit verfälscht man Nietzsche genauso, wie die Nazis das getan haben — nun, da stimme ich natürlich nicht mit Ihnen überein. Daß die letzte Wendung von Nietzsche zum Protofaschismus führte, das läßt sich meiner Ansicht nach nur in eingehender Analyse und nicht in einem Diskussionsbeitrag von fünf Minuten widerlegen. Es läßt sich zeigen, daß Nietzsche gerade in den letzten Schriften, also im Fall Wagner, in der Götzendämmerung und im Ecce homo Angriffe gegen die Deutschen richtet, die man, wenn man sie kritisieren will, doch nur in dem Sinne kritisieren kann, daß sie zu weit gehen, aber doch keineswegs so kritisieren kann, daß da eben doch eine Sympathie für das deutsche Reich, für den Militarismus und für die faschistischen Tendenzen liegen. Nietzsche ist kein Protofaschist gewesen. Behler: Herr Gründer verlangte detailliertere Untersuchungen, um das komplexe Verhältnis Nietzsches zur Romantik zu erhellen, und verwies unter anderem auf Lord Byron. Herr Kaufmann wies auf Heinrich Heine hin. So ließen sich viele Themen nennen. Ein anderer Zugangsweg, um Nietzsches komplexes Verhältnis zur Romantik zu erschließen, wäre der chronologische, indem man sich überlegt, wie Nietzsche in den verschiedenen Stadien seiner Entwicklung über die Romantik gedacht hat. Und in einem ganz großen Umriß scheint es mir, daß er in seiner Frühzeit von der Antithese der Klassik und Romantik ausging, wobei er hauptsächlich die Romantik der 30er Jahre ins Auge faßt, in die er eigentümlicherweise Feuerbach mit einbezieht — wohl unter dem Aspekt ,gesunde Sinnlichkeit' und so weiter; dann, im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft, die Antithese von Romantik und Dionysischem aufstellt, womit eine Intensivierung seines Kampfes gegen die Romantik eintritt; dann, nach der Lektüre von Paul Bourgets Essay über Baudelaire, wird Romantik für Nietzsche beinahe synonym mit Dekadenz. In Nietzsches gelungenstem Porträt der Dekadenz tauchen die Namen auf, die Sie, bzw. die Diskussionsredner aufgeführt haben, und zwar handelt es sich dabei um den Aphorismus 256 aus Jenseits von Gut und Böse (Völker und Vaterländer), in dem die dort genannten Gestalten unter die großen Europäer gerechnet werden. Und diese Zeichnung literarischer Dekadenz ist meiner Ansicht nach vielleicht das stärkste Argument für Ihre These, Herr
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Heller, daß Nietzsche sich der Romantik nie völlig entwunden hat. Freilich, hier stimme ich nun mit Herrn Kaufmann überein, spricht dieses Bild literarischer und geistiger Dekadenz durchaus gegen jede Art von protofaschistischer Haltung bei ihm. Müller-Lauter: Angesichts der Fülle der Anspielungen, die Ihr Vortag geboten hat, ist es schwierig, auf einzelnes einzugehen. Zum Beispiel meine ich, daß Nietzsches Perspektivismus durchaus eine in sich geschlossene und tragfähige erkenntnistheoretische Position darstellt. Diese kann man, wie ich meine, aus seinem Verständnis von Interpretation ableiten. Viel stärker aber beschäftigt mich hinsichtlich Ihres Vortrages die Frage, ob nicht ein solches Ineinanderweben der verschiedenartigen Gedankenzüge uns einen Nietzsche präsentiert, der verwirrender wirkt, als er eigentlich ist. Damit will ich am allerwenigsten die verschiedenen Stränge, die auch gegeneinander laufenden Gedankenführungen dieses Philosophen leugnen. Ich meine aber, daß man diese einzelnen Stränge jeweils auch in ihrer immanenten Kontinuität verfolgen sollte und dabei doch zu konsistenteren Denkgebilden kommt, als man nach Ihrem Vortrag meint kommen zu können. Auch ist es mir fraglich, ob wir den Begriff der décadence, den Sie ja auf Nietzsche selbst gerade im Zusammenhang seines Nichtüberwindens des romantischen Pessimismus angewandt haben, so reduzieren dürfen, wie es bei Ihnen geschieht. Handelt es sich bei Nietzsche wirklich um ein Steckenbleiben in der Spätromantik, wobei die Ausbruchsversuche als Schein oder protofaschistisch, oder wie auch immer disqualifiziert werden können? Das experimentierende Suchen dieses Philosophen nach Möglichkeiten, seiner Zeit und den Aufgaben,'die ihm in ihr gestellt waren, gerecht zu werden, wird damit nicht ernst genug genommen. Die von Ihnen nur angeschnittene Thematik, Nietzsches Verständnis der französischen Spätromantik, sein Verständnis von Hugo, Flaubert, den Goncourts und anderen könnte zumindest zu einer Vertiefung seines späten Romantikverständnissen führen. Dabei verdient Beachtung, daß Nietzsche bei Wagner das gleiche Syndrom von décadence-Phânomenen findet wie im französischen romantischen Pessimismus; Wagner wird ja für ihn geradezu zum Franzosen. Zu fragen bleibt, was der spätromantische Pessimismus für Nietzsche denn eigentlich war und ob nicht gerade seine Auseinandersetzung mit der Romantik — vor allem die von 1888 — eine deutliche Abhebung der eigenen philosophischen Position Nietzsches ermöglicht. Gründer: Haben Sie nicht mit Ihrer Interpretation, Herr Heller, die den escapism so stark betonte, ein wenig Ihrer anderen Pointe aus Ecce homo widersprochen ? Escapism ist, wie die Psychoanalytiker sagen würden : funk-
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tionierender Abwehrmechanismus. Aber Nietzsche hat sich ja doch als Experiment verstanden, ganz ähnlich wie Kierkegaard, und hat sich in einen weltgeschichtlichen Abgrund zu werfen vermeint. Er war von sich selbst der Meinung, daß er etwas austrüge in dem Maße, daß er ein Buch Ecce homo überschreiben konnte. Er war von der weltgeschichtlichen Repräsentativität seiner Existenz überzeugt. Ist das zusammenzubringen mit escapism? Man darf sich dieses Enden im Opfer nicht scharf genug vorstellen, weil es nicht in der passio magna endigte, in einer Kreuzigung, die zum großen Zeichen werden konnte. Joachim Ritters Großvater Leopold Witte war Rektor von Schulpforte und wurde in den neunziger Jahren manchmal von den Nietzsches aus Naumburg besucht. Ritters Mutter, noch Kind, hatte dem kranken Professor aus Basel, der in der Kutsche warten mußte, dann immer ein Stück Kuchen zu bringen, über das er sich stets sehr freute. Ecce homo. Ulmer: Als ich Ihren Vortrag hörte, Herr Heller, habe ich zunächst gedacht: so kann man Nietzsche auch darstellen. Aber ich möchte es positiver wenden: so muß man ihn auch darstellen und in seiner gesamten Komplexität und Vielschichtigkeit sehen. Man kann auch sagen: Nietzsche sei im Grunde genommen ein Kind des romantischen Pessimismus geblieben und habe ihn nicht überwunden, obwohl es seine Intention war. Man muß dann auch sagen — und damit schließe ich mich an das an, was Herr Gründer meinte —, daß Nietzsche doch die Vorstellung hatte, einen wirklichen Auftrag zu haben. Sie, Herr Heller, haben angedeutet, daß er diese Aufgabe nicht bewältigt hat. Darin stimme ich Ihnen zu, möchte nur ergänzend zu bedenken geben, daß Nietzsches Schaffen mit 44 Jahren beendet war, und das ist für eine so große Aufgabe keine Zeit. »Er stand in einer Vorbereitungsphase, und in dem letzten Jahr, das ist ganz deutlich aus den Schriften zu sehen, als er versuchte, zu Entscheidungen zu kommen, da muß er sich in einer Situation von großem psychischen Druck befunden haben. Ich versuche, mir von dorther seine Vieldeutigkeit, aber auch das Psychotische, das in dieser letzten Phase liegt, zu erklären. Wenn wir das Positive in ihm suchen, so sollten wir sein W e r k als einen Versuch ansehen. Gilman: Herr Heller hat am Anfang seines Vortrags das Interpretationsmodell der Spirale herangezogen. Ich finde das sehr interessant. Als ich über den Begriff der Parodie bei Nietzsche arbeitete, habe auch ich überlegt, ob die Spirale vielleicht eine Rolle spielen könnte. Es gibt ein sozusagen ,klassisches Modell' der Spirale, das sich bei Schiller findet in den Briefen über die ästhetische Erziehung. Ich bin schließlich zu dem Ergebnis gekommen, daß sich das Modell der Spirale doch nicht auf Nietzsches Denken anwenden läßt, weil zur Spirale das Wiederzurückgehen innerhalb des Argumentations-
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ganges gehört. Wenn man zur Interpretation von Nietzsches Denken ein Modell heranziehen will, dann sollte man lieber ein zeitgenössisches nehmen: das der Doppel-Helix, mit dessen Hilfe man alles durcheinander und übereinander sehen kann. Heller: Der Aufbau meines Vortrags ist vielleicht verwirrend, z. T., weil zuviel nur kurz erwähnt wird. Einmal kommt das Wort Spirale vor, aber nur einmal, und ob man Nietzsches Denkbewegung als Schleife oder als Spirale sehen soll, das weiß ich eigentlich nicht. Ich habe vorwiegend das Wort Schleife gebraucht, um eine kontinuierliche Bewegung damit anzudeuten. Aber wie stichhaltig die Metapher ist, kann ich nicht sagen. Ich nehme diese Interpretationsmetaphern überhaupt nicht so ernst, wie das jetzt manchmal geschieht, nehme sie nur in einem approximativen Sinn. Ich weiß aber, daß es da Unterschiede in der Grundeinstellung gibt. Nun zum Escapismus. Ich meinte, daß im Hinblick auf eine gewisse Nietzsche-Position — nämlich die von ihm später durchaus als Ubergang aufgefaßte, spielerisch schwebende, nicht-engagiert nihilistische — derzeit sehr viel escapistische literarische Kritik entsteht; und meine Polemik galt da eigentlich nicht Nietzsche, sondern dem, was mir entgegenkommt, und zwar — ich will nicht einmal sagen, von den großen Namen der französischen kritischen Strukturalisten und Poststrukturalisten — aber von ihren Anhängern, die immer wieder alles ins Nichts auflösen und darin ihre Beruhigung finden, indes bei Nietzsche ja dieser losgelöste Schwebezustand eigentlich nur eine Übergangsphase zu einem positiven Engagement ist. Nun zu Heine. Der frühe Nietzsche lehnt Heine durchaus ab. Ein wenig hat die Aufwertung Heines bei dem späten Nietzsche etwas von der Aufwertung Bizets. Ich meine, er wird für Nietzsche zum buffoon, zum Clown, der sich über alles lustig macht. Allerdings: die Buffonerie gilt ihm unter anderem als geistreichste Form des Geistreichen. Dennoch liegt in der superlativischen Aufwertung Heines auch ein polemisches Element. Weiter. Ich glaube, Sie, Herr Ulmer, sagten, daß Nietzsche sein eigenes Tun als Auftrag empfand und daß man seinen eigenen Versuch auch als Auftrag auffassen könnte und sollte. Das ist eine Ansicht, die meiner nicht fern steht. Ich war in Anbetracht der großen Komplexität der Positionen und Gegenpositionen, die bei Nietzsche zu finden sind, nicht genötigt, hier den Protofaschisten wieder hervorzukehren. Es schien mir nur, weil das eine ganze Zeit lang verschwiegen wurde, nachdem es vorher über Gebühr herausgestellt wurde, gerecht zu sein, wenn man das jetzt einmal wieder nicht verschwiege. Denn das Verschweigen ist nicht mehr nötig. Man soll auch diesen Mann nicht zu sehr im Sinne einer Heldenverehrung umstilisieren. Man sieht sowieso vieles nicht, aber man muß es nicht noch ärger machen dadurch, daß
Diskussion
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man absichtsvoll wegsieht. Im übrigen gebraucht man das Wort Faschismus oft zu roh, als ob das nur eine Bewegung gewesen wäre. Es ist zum Beispiel eine Grobheit zu meinen, daß der Faschismus nur Nationalismus war. Als eine elitäre, esoterisch-nihilistisch-supranationale Haltung finden wir ihn bei manchen von den Raffinierteren, bei den nicht im Populärstil wie Hans Grimm Schreibenden, bei den nicht auf ,Volk-ohne-Raum' Abzielenden, sondern zum Beispiel bei Ernst Jünger. Dort finden wir z. B. auch das gute Europäertum, die Sympathie mit Frankreich. Derartiges schließt faschistische Tendenzen nicht aus. — Was Herr Kaufmann sagt, daß man Nietzsche als Protofaschisten einfach abschreiben kann, daß das eine Fälschung ist, daß das mißverstandene Stellen sind, das halte ich für milde gesagt, komisch. Sein Protofaschismus läßt sich an unzähligen Stellen nachweisen; ich brauche die Stellen in der Genealogie, die Stellen mit der blonden Bestie, nicht. Ich habe auch nie sagen wollen, daß der späte Nietzsche nur ein Protofaschist ist. Ich sage, es sind wesentliche Verzerrungen in dieser Richtung festzustellen. Die Versuche, das alles zu verharmlosen, halte ich einfach für schlechte Philologie. Kaufmann: gern zurück.
Das Kompliment mit der schlechten Philologie geben wir
Maurer: Das Wort von Nietzsche als Protofaschisten ist wohl nur ein Nebenaspekt der Ausführungen von Herrn Heller, freilich ein brisanter, wie die Diskussion zeigt. Als solcher verdiente er prinzipiellere Aufmerksamkeit, als sie im Rahmen eines feuilletonistischen, alles kurz berührenden und wieder beiseite legenden Stils möglich ist. Auf diese Weise werden die Probleme, die Nietzsche aufgegriffen hat, nur in verdünnter Form noch einmal aufgerührt. Eine solche Beschäftigung mit Nietzsche scheint mir weder angemessen, noch sinnvoll. Sinnvoll könnte es dagegen sein, wenn man sein Werk als die Aufforderung nimmt, die Ordnung zu suchen, die er selbst nicht gefunden hat, indem er Probleme unserer Wirklichkeit aufgriff und zugespitzt formulierte. Den Faschismus kafin man dann als einen schlechten und fehlgeschlagenen Versuch verstehen, einige der realen Probleme, die Nietzsche bewußt gemacht hat, vorschnell durch eine gewaltsame und verbrecherische Ordnung zu lösen. Das liegt hinter uns und dürfte sich in der Form eines zur Macht kommenden deutschen oder europäischen Rechtsfaschismus kaum wiederholen. Eher gibt es, und zwar nicht nur in Europa, Ansätze zu einer ähnlich üblen linksfaschistischen Lösung. Sie rechtzeitig, d. h. bereits im ideologischen Vorfeld abzuwehren, könnte Nietzsche heute dienlich sein. Doch darüber hinausgehend stellt sich für alle, die Nietzsche als Diagnostiker unserer Zeit schätzen, die Frage nach der Therapie, zu der er nur Andeutungen machen konnte.
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Peter Heller
Heller: Ich habe versucht, die Bewegung zu zeigen, in der diese Forderung steht. Ich habe gesagt, man kann weder bei der elegisch-nostalgischen Phase stehenbleiben, noch kann man bei der Spielphase des Nihilismus stehenbleiben, man muß die Wendung zu dem positiven Projekt der Formgebung mitmachen. Aber die Lösungsvorschläge, die Nietzsche zu dieser Wendung beigebracht hat, stellen eine Art von Rückfall in die Romantik dar. Saß: Nur ein Hinweis zum Protofaschismusvorwurf, der den amerikanischen Kollegen besonders einleuchten dürfte. Das Konzept des Willens zur Macht ist ja der Versuch, die Wahrheitsfrage zu beantworten. Wenn man nun sagt, es ist protofaschistisch, auf diese Art die Wahrheitsfrage anzugehen, dann müßte man auch sagen, der Pragmatismus ist protofaschistisch. Aber ebensowenig wie das Konzept der Wahrheitsbegründung des Pragmatismus ,Yankeephilosophie' oder protofaschistisch ist, ebensowenig ist Nietzsches Konzept des Willens zur Macht protofaschistisch. Analysekategorien dürfen nicht zu Diffamierungskategorien werden. Der Protofaschismusvorwurf arbeitet zudem noch mit einem alten, veralteten Konzept von Ideengeschichte. Heller: Ich habe aber nun nicht die epistemologische Seite des Willens zur Macht als Versuch zur Lösung der Wahrheitsfrage betont, sondern habe gesagt, daß Nietzsche immer wieder darauf dringt, den Willen zur Macht in einer ganz konkreten Weise, — nicht rein epistemologisch, nicht theoretisch —, sondern ganz konkret, im Hinblick auf den Staat, im Hinblick auf Züchtung, auf das Verhältnis des Sklavenstandes und der Herrenrasse hin auszulegen. Und diese Auslegungen, die nicht notwendig aus dem Konzept der Wahrheit als Form des Willens zur Macht oder des Perspektivismus folgen, diese habe ich mir erlaubt als protofaschistisch zu bezeichnen, weil sie es sind.
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NIETZSCHE UND DIE FRÜHROMANTISCHE SCHULE Wenn man den Begriff des Kritikers im engeren Sinne nimmt, nämlich als Polemiker oder Opponenten, wie dies Nietzsches aggressiver Denkstil nahezulegen scheint, dann habe ich mit dem Thema „Nietzsche und die frühromantische Schule" zu dieser Konferenz über „Nietzsche als Kritiker seines Jahrhunderts" nicht viel beizutragen. Denn in Nietzsche ist kaum ein Antagonismus gegen die Repräsentanten dieser Schule wahrnehmbar. Mit ihnen ist der Kreis der Schriftsteller angesprochen, der sich wenige Jahre vor der Jahrhundertwende, genauer: von 1795—1800 um die Zeitschrift Athenäum bildete und hauptsächlich die Brüder Schlegel und Novalis, im weiteren Sinne auch Wackenroder, Tieck oder sogar Schleiermacher umfaßte, mit dessen Stellung in der protestantischen Theologie Nietzsche vertraut war. Wenn sich Nietzsche aber gelegentlich gegen Schleiermacher wendet und diesen als „SchleierMacher" verulkt, 1 dann richtet er sich nicht gegen den jungen Mitarbeiter des Athenäums und den Autor der Reden Uber die Religion, sondern den späten Theologen der Glaubenslehre. Nietzsches Spott über den „deutschen Jüngling", der sich in der Vaterschaft Fichtes wähnt,2 ist nicht auf diese Frühromantiker gemünzt, sondern erweist sich bei näherem Zusehen als Persiflage der sogenannten Romantik der „dreißiger und vierziger Jahre", genauer gesprochen der Bewegung des Jungen Deutschland, die Nietzsche mit „Feuerbachs Wort von der ,gesunden Sinnlichkeit'" in Verbindung brachte, das ihm durch Wagner bekannt war. 3 Nimmt man den Begriff des Kritikers jedoch im klassischen Sinne als Beurteiler und Richter, der das Wahre vom Falschen zu scheiden bemüht ist, dann ist mein Thema freilich von hohem Anspruch, und zwar sowohl für die 1
2 3
E H , D e r Fall W a g n e r , A p h . 3. W e n n nicht anders angegeben, wird Nietzsche nach der folgenden A u s g a b e zitiert: Nietzsche W e r k e . Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben v o n G i o r g i o C o l l i und M a z z i n o Montinari. A n g e f ü h r t e Textstellen sind in der Orthographie geringfügig modernisiert, o h n e jedoch das Lautbild zu verändern. Bei den v o n Nietzsche selbst veröffentlichten W e r k e n erfolgen die Stellennachweise mit Angabe des betr. W e r k e s u n d A p h o r i s m u s . Verweisungen auf den Nachlaß und Briefwechsel erfolgen mit Angabe der A b t e i l u n g und der Band- und Seitenzahl der K G . WS, Aph. 216. G M , Was bedeuten asketische Ideale, A p h . 3 ; N W , Wagner als Apostel der Keuschheit, A p h . 3.
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Deutung der Frühromantiker als auch bestimmter Aspekte Nietzsches selbst —Aspekte, welche das monotone dionysische „Jasagen" ergänzen und raffiniertere Nuancen in Erscheinung treten lassen. Nietzsches Beziehung zu dieser Gruppe wird dann nämlich zum Anlaß, im Vergleich, d. h. in wechselseitiger Spiegelung, den Typ einer Geistigkeit zu verdeutlichen, wie er Ende des 18. Jahrhunderts in der romantischen Schule wohl erstmals in Erscheinung trat und beinahe ein Jahrhundert später von Nietzsche auf ungemein zugespitzte und verfeinerte Weise erneuert wurde. Dabei handelt es sich um die für Philosophie und Dichtung gleicherweise bedeutende Mentalität eines künstlerischen Denkens, das sich im Medium unendlichen Reflektierens selbst zu erfassen sucht und damit die Menschheit zu einer neuen Stufe der Selbstbestimmung führen will. In prophetischer, ja messianischer Haltung sahen sich die Frühromantiker, wie Nietzsche, vor die Schwelle eines neuen Jahrhunderts gestellt, das sie emphatisch als eine neue Epoche der Humanität, als ein neues Zeitalter im Prozeß der mündig werdenden Menschheit zu antizipieren suchten. 4
Gemeinsame
Merkmale
Zahlreiche Assoziationen setzen sich in Bewegung, wenn man Nietzsches Beziehung zu den Vertretern der frühromantischen Schule in Betracht zieht. Man denkt an den parallelen Versuch zur Wiederbelebung der Antike im modernen Zeitalter, den Kult des Mythischen und die Suche nach der neuen Mythologie. Unwillkürlich richten sich die Gedanken auf die Vergötterung der Kunst, die Devise des „l'art pour l'art", die Verachtung bürgerlicher „Bildungsphilisterei", oder das Zerbrechen der Prosa in fragmentarisch-aphoristischen Stil als das entsprechende Medium für das in unendlicher Reflexion befangene Denken, das — nach Schlegels Wort — „diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen" möchte. 5 Prominente Stimmen lassen sich anführen, welche die Verwandtschaft Nietzsches mit den Frühromantikern bezeugen. Thomas Mann sah den Bezug Nietzsches zu diesen Denkern im Medium Richard Wagners, besonders in dessen Oper Tristan und Isolde, die nach Mann, mehr noch als Schopenhauer, 4
5
Zum futuristischen Zeitalterbegriff der Frühromantiker vgl. Ernst Behler, Die Auffassung der Revolution in der deutschen Frühromantik, in: Essays on European Literature. In Honor of Liselotte Dieckmann, St. Louis 1972, S. 1 9 1 - 2 1 5 , bes. S. 2 1 4 - 2 1 5 . Nietzsches Auffassung bekundet sich am deutlichsten in den Aph. 42—44 der Sektion Der freie Geist aus JGB. Athenäumsfragment 116 in: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner (im folgenden „KA") Bd. 2, S. 1 8 2 - 1 8 3 .
Nietzsche und die Früh romantische Schule
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dem „inbrunstvollen Hektiker Novalis" und dessen Hymnen an die Nacht, ferner einem „Büchlein von üblem Leumund", nämlich Friedrich Schlegels Lucinde verpflichtet war 6 — und zwar in der Erfahrung von Dekadenz und Todessehnsucht, die sich in Form und Schönheit transformieren. Für Walter Benjamin bestand in der Technik der unendlichen Reflexion das Motiv, das Nietzsches Denken mit dem der Frühromantiker verband. 7 Ricarda Huch und Walter Rehm haben neben vielen anderen Historikern bemerkt, daß Friedrich Schlegel das Phänomen des Dionysischen lange vor Nietzsche in der Antike entdeckt habe. Charles Andler und René Wellek wiesen auf entscheidende Anregungen hin, die Nietzsche für seine Konzeption der Antike aus einer bestimmten Tradition der klassischen Altertumswissenschaft erhielt, die sich in Deutschland im Anschluß an die Brüder Schlegel entwickelt hatte. Henry Hatfield bezeichnete den Zarathustra als Nachkömmling der Romantik, wobei er zweifellos an die Frühromantik und die dort vorherrschende Suche nach einer neuen Mythologie dachte. Darüber hinaus ist die Verwandtschaft von Nietzsches Denkstil mit der romantischen Ironie verschiedentlich betont worden. 8 Dies sind nur einige Beispiele aus einer langen Reihe von Hinweisen auf „Vorklänge" der Philosophie Nietzsches in der deutschen Frühromantik. 9 Selbst ein eingefleischter Nietzschehasser wie Georg Lukäcs würde in einem Vergleich Nietzsches mit den Frühromantikern nichts Ungewöhnliches erblickt haben. Lukäcs hat ja selbst derartige Beziehungen unaufhörlich betont, sogar ein umfangreiches Buch darüber geschrieben — freilich nicht, um Nietzsches Verwurzelung im klassisch-romantischen Humanismus nachzuweisen, sondern um damit Indizien für seine These von der „Zerstörung der Vernunft" zu erstellen, d. h. für das Abirren des deutschen Denkens, wie Lukäcs meint, in den Sumpf des Irrationalismus, des Faschismus. 10 Frappierende Ubereinstimmungen in Äußerungen Nietzches und der Frühromantiker lassen sich anführen, die oft bis in Nuancen der Formulie6
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8
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Thomas Mann, Adel des Geistes. Versuche zum Problem der Humanität, Frankfurt 1967, S. 380-381. Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutseben Romantik, Berlin 1920 (als Dissertation der Universität Bern gedruckt). Ricarda Huch, Die Romantik, 2 Bde. (Leipzig 1924), Bd. 1, S. 81-116; Walter Rehm, Griechentum und Goethezeit, 4. Aufl. Bern-München 1968, 255—270; Charles Andler, Nietzsche. Sa vie et sa pensée, 6 Bde., Paris 1920-1931, Bd. 2, S. 220ff.; René Wellek, A History of Modem Criticism, Bd. 4, New Häven-London 1965, S. 342; Henry Hatfield, Clashing Myths in German Literature. From Heine to Rilke, Cambridge/Mass. 1974, S. 96; Ernst Behler, „Nietzsches Auffassung der Ironie", in: Nietzsche-Studien 4 (1975), 1—35. Eva Limmer, Vorklänge der Philosophie Nietzsches bei dem jungen Friedrieb Schlegel, Leipzig (Diss.) 1925. Vor allem in Georg Lukäcs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, jetzt in Georg Lukäcs Werke, Bd. 9, Neuwied 1962. Vgl. ferner Georg Lukäcs, Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur, Neuwied 1963, S. 6 4 - 8 7 .
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rung hineinreichen. Novalis hatte zum Beispiel den Akt des Philosophierens im Gleichnis der Flamme gezeichnet, die sich selbst verzehrt, sich dabei aber gleichzeitig erneuert und über sich hinaus wächst. Nietzsche erneuerte dies Bild, als er sich selbst in einem bekannten Gedicht als ungesättigte Flamme darstellte, die alles von ihr Erfaßte ins Licht versetzt, das von ihr Preisgegebene aber als Kohle zurückläßt. 11 Friedrich Schlegels Lebensdevise, die er in einem Brief an Novalis bekundete, nämlich sich „aus eignem Herzen und Kopfe" ein Haus erbauen zu wollen, ist in dem Motto zur zweiten Auflage der Fröhlichen Wissenschaft auf selbstgewisse Weise ausgedrückt, wo es heißt: „ I c h w o h n e in m e i n e m eignen H a u s H a b n i e m a n d e m nie nichts n a c h g e m a c h t . " 1 2
Ähnlich könnte Schlegels bekanntes Wort über den Historiker als „rückwärts gekehrten Propheten" 13 als Motto für Nietzsches Abhandlung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben gedient haben. Thomas Mann glaubte, den Titel der Fröhlichen Wissenschaft in Schlegels Lucinde vorgebildet zu finden. 14 Schlegels Athenäumsfragment, das den Kritiker als „Leser, der wiederkäut" definiert, der „also mehr als einen Magen haben" sollte, klingt in der Vorrede zur Genealogie der Moral an, in der sich Nietzsche für seine Aphorismen Leser wünscht, die „das Lesen als Kunst zu üben" gelernt haben, wozu aber vor allem die Eigenschaft der Kuh, nämlich das „Wiederkäuen" erforderlich sei. 15 Für Novalis hob alle lebendige Moralität damit an, „daß ich aus Tugend gegen die Tugend handle", während für Nietzsche unser ganzes Tun nur Moralität ist, „welche sich gegen ihre bisherige Form wendet". 16 Nietzsches Verdikt über Schiller als „Moraltrompeter von Säckingen" ist in zahlreichen Äußerungen der Frühromantiker gegen Schiller vorgebildet. 17 Seine Bemerkung über „Kants Philosophie der Hintertüren" und „Schleichwege zur Theologie" erinnert an Friedrich Schlegels Feststellung, daß Kant das höhere Wissen aus der Vordertür seines philosophischen Palastes zunächst herausgestoßen, dann aber durch die „Hintertür" unter der „falschen Maske des Glaubens und der Religion" wieder hereingelassen 11
12
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Novalis Schriften. Herausgegeben von Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage (im folgenden „Sehr.") Bd. 2, S. 556, Nr. 134. - FW, Scherz, List und Rache, Nr. 62." Friedrich Schlegel und Novalis. Biographie einer Romantikerfreundschaft. Herausgegeben von Max Preitz, Darmstadt 1957, S. 43. K A , Bd. 2, S. 176, Nr. 80. Adel des Geistes, S. 381. Vgl. auch KA, Bd. 18, S. 293, Nr. 1175. K A , Bd. 2, S. 149, Nr. 27. - GM, Vorrede, Aph. 8. Sehr., Bd. 2, S. 556, Nr. 134. - GA XIII, S. 125, Nr. 282. KA, Bd. 2, S. X. - GD, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, Aph. 1.
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habe. 1 8 Der Satz aus der Jacobi-Rezension : „Der elastische Punkt, von dem Jacobis Philosophie ausging, war nicht ein objektiver Imperativ, sondern ein individueller Optativ", 1 9 könnte direkt von Nietzsche stammen. In einem in vieler Hinsicht interessanten Fragment hatte Schlegel gesagt: „Ein recht freier und gebildeter Mensch müßte sich selbst nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkürlich, wie man ein Instrument stimmt, zu jeder Zeit, und in jedem Grade". Wie in einer Parodie dieses Fragments spricht Nietzsche in Jenseits von Gut und. Böse von der Historie als der „Vorratskammer der Kostüme", dem „Wechsel der Stil-Maskeraden", was sich freilich bei ihm mit der Einsicht verbindet, „daß uns ,nichts steht'". „ U n n ü t z " , meint er, „sich romantisch oder klassisch oder christlich oder florentinisch oder barokko oder ,national' vorzuführen . . . es .kleidet nicht'!" 2 0 Das Verzeichnis dieser überraschenden Parallelen ließe sich beliebig verlängern und mit Begriffen wie „logisches Gewissen", der Einheit von Philosophie und Kunst oder Grammatik, Pantheismus als Nihilismus, Doppelgänger, Ubermensch, großer Mittag, neue Mythologie, Philosophie des Lebens, oder der Verflochtenheit von Lust und Schmerz ausführen. 2 1 Der Altphilologe Karl Joël hat 1905 ein umfangreiches Buch über Nietzsche und die Romantik verfaßt, das größtenteils aus solchen Zusammenstellungen besteht. Wie interessant derartige Parallelen auch sind : in dieser bloß äußerlichen Nebeneinanderstellung bleiben sie an der Oberfläche, sie wirken bestenfalls sensationell und lassen noch lange keine denkerische Verbindung zwischen Nietzsche und der Frühromantik erkennen. Diese kann erst durch einen Vergleich der sich hier begegnenden denkerischen Positionen erwiesen werden. Man wird auch sofort zugestehen müssen, daß manche Ubereinstimmungen wie die im Bild des wiederkäuenden Kritikers, im Gleichnis der sich verzehrenden und erneuernden Flamme, oder im Begriff der fröhlichen Wissenschaft sich aus älteren Uberlieferungen herleiten. Wir wissen z. B., daß die Konzeption der fröhlichen Wissenschaft im Topos des „gai saber" der spanischen und französischen Troubadoure vorgebildet ist und dort die für Nietzsche und die Frühromantiker ähnliche Bedeutung einer kunstmäßigen, artistischen Erkenntnisauffassung hat. Walter Kaufmann hat darüber hinaus charakteristische Konfigurationen dieses Begriffs bei Nietzsche aus Emersons Denken nachgewiesen. 2 2 Goethes Gedicht Selige Sehnsucht zeichnet mit dem 18 19 20 21 22
K A , Bd. 8, S. 442, 588; Bd. 10, S. 438. - GD, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, Aph. 16. K A , Bd. 2, S. 69. K A , Bd. 2, S. 154, Nr. 55. - JGB, Aph. 223. K A , Bd. 10, S. 5 2 8 - 5 2 9 ; K A , Bd. 18, S. 179, Nt. 635; S. 193, Nr. 797. Friedrich Nietzsche, The Gay Science, translated, with commentary, by Walter Kaufmann, New York 1974, S. 7—13 (Translator's Introduction).
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Motto des „Stirb und Werde" ein Bild der Flamme, das dem von Novalis und Nietzsche analog ist.
Die Frühromantische
Schule und Nietzsches
Romantikbild
Der stärkste Einwand, der sich gegen derartige Beziehungssetzungen erhebt, besteht neben der methodologischen Ungesichertheit solcher Vergleiche aber gewiß in den wilden Diskriminierungen, in denen sich Nietzsche unablässig gegen die Romantik erging, in seiner Geißelung der Romantik als Symptom niedergehenden Lebens, womit sich bei ihm ein emphatischer Preis der Klassik als eines für ihn absoluten Wertes verband. Bekanntlich sah sich Nietzsche in einem Feldzug gegen die Romantik begriffen, den er als eine der entscheidendsten Aufgaben seines Zeitalters betrachtete. In scharfer Zuspitzung dieser Opposition rechnete Nietzsche seinen „Kampf gegen die Romantik" sogar unter seine „fünf Neins" und erblickte in der Romantik die Feindschaft gegen alles von ihm Bevorzugte, nämlich „die Feindschaft gegen die Renaissance . . . gegen das antike Wertideal; gegen die dominierende Geistigkeit; gegen den klassischen Geschmack, den einfachen, den strengen, den großen Stil". 23 Man kann vielleicht sagen, daß es ihm darum ging, die Romantik aus dem europäischen Bewußtsein auszulöschen und die Uhr der Geschichte zurückzustellen — zunächst auf das Zeitalter der Aufklärung, dann auf die Renaissance und schließlich auf die Epoche der dionysischen Klassik. Gewiß ließe sich hier erwidern, daß Nietzsches Verhältnis zur Romantik viel komplexer war, daß die Romantik für ihn — ähnlich wie für Heine — etwas darstellte, von dem er sich wie von einem süßen Gift verzweifelt loszureißen suchte, ohne dies jedoch völlig bewerkstelligen zu können. 24 Von hier aus betrachtet erschiene dann Nietzsches „Kampf gegen die Romantik" und sein nachdrückliches Bekenntnis zur Klassik wie eine gegen die eigenen Inklinationen vertretene Selbstbehauptung, vor allem wenn man seine eindrucksvollen Analysen von Krankheit und Dekadenz ins Auge faßt. In der Tat, liest man Nietzsches Feststellungen über seine Loslösung von der Romantik genauer, dann erheben sich bald Zweifel an der Verbindlichkeit dieser 23
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K G W VIII 2, S. 1 1 9 - 1 2 0 , Nr. 10 [2], Vgl. Peter Heller, Von den ersten und den letzten Dingen, Studien und Kommentar zu einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche Forschung, Bd. 1), Berlin 1972, S. 299—319 und Ernst Behler, „Nietzsche's Challenge to Romantic Humanism", in: Canadian Review of Comparative Literature 4 (1977), im Druck. Vor allem in der Epoche von Menschliches, Allzumenschliches. Vgl. besonders die nachträglichen Vorreden zu diesem Werk sowie die aus demselben Jahr (1886) stammenden nachträglichen Vorreden zu G T und FW.
Nietzsche und die Frühromantische Schule
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antiromantischen Attitüde, und der Eindruck entsteht, daß er sehr wohl um die romantischen Züge seiner Natur wußte, aber sich dagegen auflehnte und wehrte. Die „antiromantische Selbstbehandlung" und Kur der Selbstwiederherstellung aus der Epoche von Menschliches, Allzumenschliches veranlaßte ihn zu der Bemerkung: „Mißtrauisch gegen mich, nahm ich, nicht ohne Ingrimm, dergestalt Partei gegen mich und für alles, was gerade mir wehe tat und hart fiel". Aber er fragte sich auch: „Was tun, um diese größte Entbehrung auszuhalten?" Ja, in bezug auf die antiromantisch gefärbte Betonung der klassischen Stärke und Fülle meinte Nietzsche sogar: „Einem feineren Auge und Mitgefühl wird es trotzdem nicht entgehen, was vielleicht den Reiz dieser Schriften ausmacht, — daß hier ein Leidender und Entbehrender redet, wie als ob er nicht ein Leidender und Entbehrender sei". 2 5 Meiner Ansicht nach stellen sich diese komplizierten Interpretationsprobleme in bezug auf den Vordergrund und die hintergründige Bedeutung der Aussage in Nietzsches Verhältnis zur frühromantischen Schule aber gar nicht. Ich bin vielmehr der Auffassung, daß er die Frühromantiker gar nicht mit dem Schmähwort Romantik bezeichnet hat, daß diese frühe Sonderform der deutschen Romantik in Nietzsches Bild der Romantik eigentlich nicht einbegriffen war, ja aus seinem besonderen Blickwinkel überhaupt nicht in diesen Rahmen paßte. 2 6 Sieht man sich Nietzsches historisches Bild der Romantik daraufhin einmal kurz an, dann kennzeichnet sich dieses durch eine breite europäische, keineswegs auf Deutschland beschränkte Betrachtungsweise. Nach seiner Auffassung steht an ihrem Anfang Rousseau, jene „Moral-Tarantel", die noch Kant gebissen hat und mit dem der große Entscheidungskampf des 18. Jahrhunderts zwischen Vernunft und Gefühl zugunsten der „Leidenschaft" und des „Sensualismus im Geistigen" entschieden wurde. 2 7 Von dieser „Romantik à la Rousseau" setzt sich diese Bewegung in Nietzsches Sicht dann in rascher Folge über die ihm buntscheckig erscheinenden Romantiker „in dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts in Deutschland", in die Romantik der „dreißiger Jahre" und von dort sogar bis zu George Sand und Delacroix fort. 2 8 Wenn in diesem meist ohne Namen konzipierten Panorama der 25 26
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M A II, V o r n , Aph. 2, 4, 3, 5. Elrud Kunne-Ibsch, Die Stellung Nietzsches in der Entwicklung der modernen Literaturwissenschaft, Assen 1972, S. 174, 180; Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, Jena-Leipzig 1905, S. 1 5 8 - 1 5 9 . M, V o m , Aph. 3; K G W VIII 2, S. 111, Nr. 9 [184]; S. 122, Nr. 10 [5]; S. 67, Nr. 9 [116]; S. 76, N r . 9 [131]; S. 189, Nr. 10 [116]; S. 3 7 3 - 3 7 4 , Nr. 11 [312], DS, Aph. 2. Zu Nietzsches Bild von der Romantik vgl. vor allem Elrud Kunne-Ibsch, Die Stellung Nietzsches in der Entwicklung der modernen Literaturwissenschaft, S. 166—192. Ferner Norbert Langer, Das Problem der Romantik hei Nietzsche, Münster 1929; Ingeborg Beithan, Friedrich Nietzsche als Umwerter der deutschen Literatur, Heidelberg 1933; W. D. Williams, Nietzsche and the French, Oxford 1952.
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Romantik gelegentlich Autoren und Künstler genannt werden, dann tritt neben den beiden Hauptrepräsentanten, Schopenhauer und Richard Wagner, vor allem Victor Hugo in Erscheinung. England bleibt beinahe unberücksichtigt, weil es in Nietzsches musikalische und pessimistische Konzeption der Romantik nicht paßt. Autoren wie Shelley, Stendhal, Leopardi, Heine, Emerson, die wir als eminente Repräsentanten der Romantik auffassen, wurden von Nietzsche offenbar nicht als Romantiker angesehen. Byron wird von ihm sogar mit Triumph als Kronzeuge gegen das „falsche System" der Romantik angeführt. 29 Auffallend in diesem Bild ist auch die Sonderstellung, die Nietzsche — wie vor ihm Heine und nach ihm Georg Brandes 30 — der französischen Romantik einräumt als dem „Sitz der geistigsten und raffiniertesten Kultur Europas", als einer „Hingebung an die ,Form', für welche das Wort l'art pour l'art, neben tausend anderen, erfunden ist". 3 1 Bei der deutschen Ausprägung der Romantik dachte Nietzsche aber hauptsächlich an das, was wir gewöhnlich als Spätromantik bezeichnen, also an Repräsentanten, deren Bemühung seinen Worten nach dahin ging, „ältere primitive Empfindungen und namentlich das Christentum, die Volksseele, Volkssage, Volkssprache, die Mittelalterlichkeit, die orientalische Ästhetik, das Indertum zu Ehren bringen". 32 Dieser Tatbestand kommt in den prominentesten Aphorismen, die Nietzsche der deutschen Literaturgeschichte gewidmet hat, klar zum Ausdruck. Er erwähnt darin, daß Deutschland durch die romantische „Entfesselung" zwar in den Genuß der „Poesien aller Völker" gebracht wurde, indem „alles an verborgenen Stellen Aufgewachsene, Urwüchsige, Wildblühende, Wunderlich-Schöne und Riesenhaft-Unregelmäßige, vom Volksliede an bis zum ,großen Barbaren' Shakespeare hinauf" wiederentdeckt wurde, diese „hereinbrechende Flut von Poesien aller Stile" aber „allmählich das Erdreich hinwegschwemmen" ließ und die Dichter zu „experimentierenden Nachahmern" machte. 33 Es klingt fast wie die Variation eines satirischen Abschnittes aus Heines Romantischer Schule, wenn Nietzsche die „ganze Bewegung der Romantik" aus dem Motiv der „TotenErweckungen" zu verstehen sucht, d. h. als Bemühung auffaßt, die Ver-
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M A I, A p h . 221. Heinrich Heine, Die romantische Schule, in: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Ernst Elster, Bd. 5, S. 216—217, 346. Vgl. hierzu Reinhold Grimm, Zur Vorgeschichte des Begriffs ,Neuromantik', in: Das Nachlehen der Romantik in der modernen deutschen Literatur, Heidelberg 1969, S. 32ff. Georg Brandes, Die romantische Schule in Deutschland und Die romantische Schule in Frankreich, Bde. 2 und 5 von Die Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, 6 Bde., Charlottenburg 1900. J G B , A p h . 254. Diese Bevorzugung wird aber gelegentlich wieder zurückgenommen: WA, A p h . 8. M , A p h . 197. M A I, A p h . 221.
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gangenheit wieder zum Leben zu rufen. 3 4 Auch die „Beschäftigung mit dem deutschen Märchen", das von Gelehrten „alten Weibern" abgelauscht wurde, gehört in diesen Zusammenhang. „ D i e ganze deutsche Romantik war eine Gelehrtenbewegung", sagt Nietzsche, „man wollte gern ins Naive zurück, und wußte, daß mans so gar nicht w a r " . 3 5 Auch in diesen Skizzen operiert er meist ohne Namen. Dieser Umstand tritt eindrucksvoll in einem Aphorismus der Nachlaßschriften zutage, in dem Nietzsche im Kontrast zur Romantik starke Tendenzen in der Dichtung des 19. Jahrhunderts herausarbeitet, den biedermeierhaften Stifter und Gottfried Keller als „Zeichen von mehr Stärke, innerem Wohlsein" anführt — aber aus dem Stegreif keinen Romantiker als Kontrast zu nennen weiß und diese Lücke mit Gedankenstrichen ausfüllt. 3 6 Aus dem Angeführten geht wohl zur Genüge hervor, daß dies Bild der deutschen Romantik zwar spätromantische Tendenzen erfaßt, aber wenig mit den Repräsentanten der frühromantischen Schule zu tun hat. Offenbar hat Nietzsche die Frühromantiker, wie auch Hölderlin, gar nicht als Romantiker angesehen, und wenn er sie gelegentlich erwähnt, scheint ihm ihre Verbindung mit der romantischen Bewegung nicht zum Bewußtsein gekommen zu sein. Man wird auch sofort zugestehen müssen, daß es sich bei dieser ersten romantischen Schule mit ihrem revolutionären Messianismus der Kunst und der Humanität um eine Sonderform der Romantik gehandelt hat, die zudem nur während weniger Jahre, eigentlich nur während des kurzen Zeitraums von 1795-1800 bestand. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man versucht, Nietzsches generellen, typologischen Begriff der Romantik auf die Geisteshaltung der Frühromantiker zu beziehen. Meiner Ansicht nach setzt sich Nietzsches allgemeine Konzeption der Romantik aus drei Attributen zusammen, die in der Romantikauffassung des 19. Jahrhunderts vorherrschend geworden sind, ja noch lange darüber hinaus, beinahe bis in unsere Zeit das Verständnis der Romantik beeinträchtigt haben. Das erste dieser Kennzeichen besteht in der Gleichsetzung der Romantik mit Krankheit, Verfall und leitet sich von einem häufig zitierten Goethewort von 1826 her, das lautet: „ D a s Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke." 3 7 Der Prototyp für diese sich zersetzende, kranke und dekadente Form der Romantik ist der todessehnsüchtige Novalis gewesen, den nicht nur Goethe in verschiedenen Stellungnahmen, sondern auch Hegel in der Phänomenologie des Geistes und
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M , Aph. 159. - Heinrich Heine, Die romantische Schule, 3 5 3 - 3 5 5 . K T A 10, S. 1 2 4 - 1 2 5 , N r . 287. K G W VIII 2, S. 120, N r . 10 [2], J . P. Eckermann, Gespräche mit Goethe, Leipzig 1925, S. 2 6 3 - 2 6 4 . Auch in Maximen Reflexionen: Jubiläumsausgabe, Bd. 38, S. 283.
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Heine in der Romantischen Schule so gezeichnet zu haben.38 Nietzsche hat diese Gleichsetzung von Romantik und Krankheit übernommen und mit der ihm eigenen Vehemenz in seinen Gegenüberstellungen von Klassik und Romantik bis zum äußersten gesteigert.39 Er kannte z. B. Goethes Briefwechsel mit Zelter, 40 wie auch wahrscheinlich die Darstellungen Hegels und Heines. In seinem Portrait der an der Verarmung des Lebens Leidenden ist aber erstaunlicherweise nicht Novalis das Modell — im Gegenteil: Bei der Zergliederung religiöser Phänomene und dem Aufweis des Zusammenwirkens von Wollust und Selbstquälerei im religiösen Erlebnis zitiert er Novalis als „eine der Autoritäten in Fragen der Heiligkeit" und meint, daß dieser „das ganze Geheimnis einmal mit naiver Freude" ausspreche, nämlich: „Es ist wunderbar genug, daß nicht längst die Assoziation von Wollust, Religion und Grausamkeit die Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat". 41 Das zweite Merkmal in diesem Klischeebegriff der Romantik ist mit der Auffassung der Romantik als Zersetzung der Vernunft gegeben, wie sie Hegel in seiner Bestimmung des Romantikers als freischwebender, bindungsloser und unverantwortlicher Subjektivität entwickelte. Bekanntlich hat der junge Friedrich Schlegel, der Theoretiker der romantischen Ironie und Autor der Lucinde, für dies Bild der Romantik Modell gestanden.42 Die These, daß sich die Romantik „gegen Vernunft, Aufklärung, Geschmack, achtzehntes Jahrhundert" aufgelehnt habe, ist ebenfalls ein vorherrschendes Kennzeichen in Nietzsches Romantikbild, das er freilich nicht mit Schlegel, sondern mit Rousseau und dessen Nachfolgern illustrierte.43 Das „Schweben" der Schlegelschen Ironie und dessen unendliche Selbstbespiegelung in der Reflexion ist vielmehr ein zentrales Motiv in Nietzsches eigenem Denken gewesen und bestimmt sein „Verlangen nach immer neuer Distanzerweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltenerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände".44 Dieser Bezug zur 38
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Zu Goethe vgl. Hans-Joachim Mähl, Goethes Urteil über Novalis, in: Jb. des Freien Deutschen Hochstifts 1967, 130-270. Hegel, Jubiläumsausgabe, Bd. 19, 644 (unter dem Titel der „schönen Seele", ähnlich in der Phänomenologie des Geistes; Bd. 2, S. 484); Heine, Die romantische Schule, S. 302-306. Besonders in FW, Aph. 370. Vgl. Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist, 3. Aufl. New York 1968, S. 380. Der Aphorismus 3 aus Der Fall Wagner ist wahrscheinlich ein auf Wagner bezogener Reflex aus Goethes Brief an Zelter vom 20. Oktober 1831: Gedenkausgabe von Ernst Beutler, Bd. 21, S. 1 0 1 2 - 1 0 1 5 . MA I, Aph. 142. Jubiläumsausgabe, Bd. 7, 217, 2 2 2 - 2 2 3 ; Bd. 12, S. 1 0 0 - 1 0 3 ; Bd. 19, S. 642. Vgl. hierzu Ernst Behler, Friedrich Schlegel und Hegel, in: Hegel-Studien 2 (1963), S. 203-250. K G W V I I I 2 , S. 76, Nr. 9 [132]; S. 85, Nr. 9 [146]; S. 1 1 2 - 1 1 3 , Nr. 9 [184]; S. 119, Nr. 10 [2], JGB, Aph. 257.
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romantischen Ironie bekundet sich auch in Nietzsches Kunstideal, wie es in einem der wenigen Aphorismen zu diesem Thema bestimmt ist, nämlich als „eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst . . . eine Kunst für Künstler, nur für Künstler! . . . Eine übermütige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst". 4 5 Das dritte Ingredienz in diesem Romantikbild leitet sich von Heinrich Heines These her, es habe sich bei der Romantik ausschließlich um eine an der Vergangenheit orientierte Bewegung gehandelt, die in katholischen Klerikalismus und fortschrittsfeindlicher Reaktion versunken sei, wobei die zentralen Aufgaben der Zeit und der Zukunft verspielt wurden. 4 6 Die von Heine betonten reaktionären Tendenzen der Romantik werden von Nietzsche als „ H a ß gegen J e t z t z e i t ' " , als „wütende Entschlossenheit gegen alles was J e t z t ' ist" gedeutet, und das den Romantikern vorgeworfene christliche Ende bestimmt Nietzsche als das übliche „Romantiker-Finale", nämlich als „ B r u c h , Zusammenbruch, Rückkehr und Niedersturz vor einem alten Glauben, vor dem alten G o t t e " . 4 7 Der Prototyp für diesen Zusammenbruch ist bei Nietzsche aber nicht, w i e es in der kritischen Literatur des 19. Jahrhunderts gang und gäbe war, der zum Katholizismus konvertierte Friedrich Schlegel, sondern — Richard Wagner. Mit Erstaunen liest man in Menschliches, Allzumenschliches einen Keine Natur macht Sprünge betitelten Aphorismus, der Schlegelinterpreten wie Josef Körner und Günther Müller direkt zum Motto hätte dienen können, als sie sich gegen die Tendenz auflehnten, Schlegels Lebenstage mit Beginn seiner Konversion neu zu zählen. Es heißt dort: „ W e n n der Mensch sich noch so stark fortentwickelt und aus einem Gegensatz in den andern überzuspringen scheint: bei genaueren Beobachtungen w i r d man doch die Verzahnungen auffinden, w o das neue Gebäude aus dem älteren herauswächst. Dies ist die Aufgabe des Biographen: er muß nach dem Grundsatz über das Leben denken, daß keine Natur Sprünge macht". 4 8 Insgesamt betrachtet scheint Nietzsche den Vertretern der frühromantischen Schule gegenüber eine für die damalige Zeit ungewöhnlich positive Haltung eingenommen zu haben, was um so erstaunlicher ist, als damals die antiromantische Kampagne zum Siedepunkt gelangt war. In Nietzsches Bild der deutschen Literatur scheint sich bereits jene Linie von Lessing zu Goethe, Schiller, den Frühromantikern, Heine, ja bis zu ihm selbst abzuzeichnen, die
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FW, Vorrede, Aph. 4; FW, Aph. 107. Die romantische Schule, S. 217. Heine entwickelte diese Sehweise der Romantik im Anschluß an deren „Großinquisitor" Johann Heinrich V o ß : Vgl. Ernst Behler, Kritische Gedanken zum Begriff der europäischen Romantik, in: Die Europäische Romantik, Frankfurt 1972, S. 7 - 4 3 , bes. S. 2 3 - 2 6 . GT, Versuch einer Selbstkritik, Aph. 7. W S , Aph. 198.
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später von einigen Historikern unter Einbeziehung Thomas Manns in diese Reihe auch klar ausgesprochen wurde. 49
Nietzsches Bekanntschaft mit der
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Bevor ein Vergleich der Denkweisen Nietzsches und der Frühromantiker versucht werden soll, muß zunächst die notorische Frage der Literaturkritik beantwortet werden, was Nietzsche denn tatsächlich von den Repräsentanten der frühromantischen Schule gewußt hat. Der Umstand, daß er sich in seinen Schriften und Briefen nur selten auf die Frühromantiker bezieht, legt den Eindruck nahe, daß er mit diesen Autoren kaum vertraut war. Aber bereits Charles Andler vertrat die Auffassung: „Ii faut rompre avec cette appréhension".50 Dabei ist zunächst an Nietzsches frühe Ausbildung auf Schulpforta zu denken, jener Eliteschule in der klassischen Altertumskunde und den Humaniora, auf der auch der Name Schlegel in hohem Ansehen stand. 51 Während in früheren Jahren dort das Deutsche zugunsten der klassischen Fächer fast völlig vernachlässigt wurde, bildete das Studium der neueren deutschen Literatur zur Zeit Nietzsches einen bedeutenden Bestandteil im Curriculum von Schulpforta. Nietzsches Lehrer in der deutschen Literaturwissenschaft war der Autor der damals umfassendsten Geschichte der deutschen Nationalliteratur, August Koberstein, der gleichzeitig als einer der bedeutendsten Historiographen der romantischen Schule gilt, der Novalis besonders zugetan war, die von Schiller verspottete „Gräkomanie" Friedrich Schlegels verteidigte und persönliches Interesse an Nietzsches Ausbildung nahm. 5 2 Der junge Nietzsche beschäftigte sich damals eingehend mit der neueren deutschen Literatur und studierte u. a. Gervinus und Hettner, d. h. Literaturhistoriker, die sich ebenfalls um die Erforschung der romantischen Schule verdient gemacht haben. 5 3 In Schulpforta befaßte sich Nietzsche auch mit Fichte und neigte, wie die Frühromantiker, zu einer artistischen Auslegung
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Z . B . H . Lehnert, Heine, Schiller, Nietzsche und der junge Thomas Mann, in: Neophil. 48 (1964), S. 5 1 - 5 6 ; Hannah Spencer, Heine and Nietzsche, in: Heine-Jahrbuch 11 (1972), 126—161; Diana Behler, Lessing's Legacy to the Romantic Concept of the Poet-Priest, in: Lessing Yearbook 4 (1972), S. 6 7 - 9 3 . Charles Andler, Nietzsche. Sa vie et sa pensee, Bd. 2, S. 220. Karl Joel, Nietzsche und die Romantik, S. 347. Ebd. — Charles Andler, Bd. 2, S. 50. Siehe August Koberstein, Geschichte der deutschen Nationalliteratur, Bd. 4, Leipzig 1873, S. 440, 734ff. - Vgl. Reiner Bohley, Ober die Landesschule zur Pforte, in: Nietzsche-Studien 5 (1976), S. 306. Norbert Langer, Das Problem der Romantik bei Nietzsche, S. 22.
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Fichtes, weil er, wie man bemerkt hat, für den Idealismus Fichtes zu „romantisch" war. 5 4 Während der Schulferien bei einem Verwandten in Jena, der dort Oberbürgermeister war, kam der junge Nietzsche in das Zentrum des Romantikerkreises, wo er sich nicht nur die „Wohnungen berühmter Männer" ansah, sondern in der Bibliothek des Onkels auch — weit vor der Entdeckung durch die Forschung — die Werke des Novalis studierte, von dem er meinte, daß „dessen philosophische Gedanken mich interessieren". 55 Später vertiefte Nietzsche dies Studium und wußte u. a. auch vom „Haß des Novalis gegen G o e t h e " , den er als einen Widerwillen gegen alles auslegte, was „zu gesund, zu robust, campagnardise" war. 5 6 O b Nietzsche den 1865 von Wilhelm Dilthey noch mitten in der antiromantischen Reaktion verfaßten Novalisaufsatz kannte, muß fraglich bleiben. Doch ist bezeugt, daß sich Nietzsche der Lektüre von Rudolf Hayms 1870 erschienenem Werk Die romantische Schule widmete und daraus den von Tieck stammenden Begriff des „Bildungsphilisters" entlehnt haben soll. 5 7 Mit Beginn seines akademischen Studiums geriet Nietzsche unter den Einfluß von Friedrich Ritsehl, seinem Lehrer in den klassischen Altertumswissenschaften, der in Bonn noch mit August Wilhelm Schlegel in regem akademischen Verkehr gestanden hatte. 5 8 Nietzsche besuchte Schlegels Grab im Herbst 1864. 5 9 Ritsehl bekannte sich offen zu Friedrich Schlegel und Creuzer, und von seiner Konzeption der griechischen Literatur hat man gesagt: „das ist das Programm Friedrich Schlegels". 6 0 Im weiteren Verlauf dieses Studiums entwickelte sich in Leipzig Nietzsches Freundschaft mit Erwin Rohde, und er begegnete mit ihm einem Mann, „der die deutschen Romantiker als seine Geistesverwandten fühlte und würdigte". 6 1 Während der Basler Vorlesungstätigkeit setzte sich Nietzsche eingehend mit den altertumswissenschaftlichen Arbeiten der Brüder Schlegel auseinander, wie zahlreiche Bemerkungen in der Einleitung zu den Vorlesungen über Sophocles Oedipus Rex von 1870, in dem Vortrag über Das griechische
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Alois Riehl, Friedrich Nietzsche, Stuttgart 1897, S. 159 f. SA III, S. 69. MusA X V I I , S. 367. Karl Joel, Nietzsche und die Romantik, S. 352, Nr. 40. Otto Ribbeck, Friedrich Wilhelm Ritschi. Ein Beitrag zur Geschichte der Philologie, 2 Bde., Leipzig 1879, Bd. 2, S. 1 3 - 1 4 , 72, 4 7 6 - 4 7 7 . - Briefe von und an August Wilhelm Schlegel. Gesammelt und erläutert durch Josef Körner, 2 Bde., Zürich-Leipzig-Wien 1930, Bd. 1, S. 540, Bd. 2, S. 247, 340. K G B I 2, S. 15. Ernst Howald, Friedrich Nietzsche und die klassische Philologie, Gotha 1920, S. 3. Vgl. Friedrich Ritsehl, Opuscula Philologica, Bd. 5 (Leipzig 1879), S. 152-153. Karl Joel, Nietzsche und die Romantik, S. 71; Charles Andler, Nietzsche, Bd. 2, S. 220.
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Musikdrama von 1870 und auch in der Geburt der Tragödie von 1871 bezeugen. 62 Nachdem Nietzsche in diesem zuletzt genannten Werk die Schlegelsche Deutung des tragischen Chors als „idealischer Zuschauer" zunächst wegen ihrer „germanischen Voreingenommenheit für alles, was ,idealisch' ist", abgelehnt hatte, suchte er das Schlegelsche Wort „in einem tieferen Sinne" zu erschließen. 63 Dabei entwickelte er mit der Interpretation des Chors als „Selbstbespiegelung des dionysischen Menschen" eine Theorie, die, wie noch zu zeigen sein wird, näher an den wirklichen Sinn der von August Wilhelm Schlegel, vor allem aber von dessen Bruder vertretenen Auffassung des Chores herankam. In seinen Vorlesungen über die griechische Literatur von 1874—1876 wies Nietzsche die von Friedrich Schlegel entwickelte Ansicht einer natürlichen Evolution der griechischen Gattungen zurück, weil für ihn die Geschichte irrational, unvorhersehbar war. 6 4 Dabei handelt es sich um eine Auseinandersetzung, die, wie ebenfalls noch zu zeigen sein wird, für Nietzsches Verhältnis zum frühromantischen Denken zentral ist. Nietzsches Vorarbeiten zu seinem ersten größeren Werk, der Geburt der Tragödie, zeigen nach den Berichten der Editoren der Musarionausgabe, „wie tief Nietzsche das griechische Problem nahm und wie weit er schon frühzeitig über eine rein philologisch-wissenschaftliche Behandlung des griechischen Altertums hinausstrebte." Dabei nahm er sich besonders das Wort Friedrich Schlegels zu Herzen: „Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte und wünschte; vorzüglich sich selbst". 65
Die Philosophie der Tragödie In bezug auf die Gemeinsamkeiten im Griechenlandbild Nietzsches und der Frühromantiker denkt man gewöhnlich daran — und es gibt eine ausführliche Literatur darüber —, daß Friedrich Schlegel Nietzsches dionysische Sehweise der griechischen Welt vorweggenommen habe und beinahe ein Jahrhundert vor Nietzsche Konzeptionen über den orgiastischen Untergrund der 62
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MusA II, S. 249, 253 , 273 (Einleitung zu den Vorlesungen über Sophocles Oedipus Rex, 1870). - KGW III 2, S. 15-16 {Das griechische Musikdrama). - GT, Aph. 7 und 8. G T , Aph. 7 und 8. GA XVIII, S. 1 - 1 9 8 , bes. S. 169. Vgl. René Wellek, A History of Modern Criticism, Bd. 4, S. 599. Friedrich Schlegel, KA, Bd. 2, S. 189 (Athenäumsfragment 151). MusA III, S. 393. Dieser Bericht der Editoren wurde mir von Mazzino Montinari bestätigt, der mich zudem darauf hinwies, daß Nietzsche sich einer eingehenden Lektüre des Briefwechsels Schiller-Körner widmete, in dem Friedrich Schlegels Arbeiten zur griechischen Literatur kritisch erörtert sind. Albert Lévy, Stirner et Nietzsche, 1909, verzeichnet im Appendix, S. 93 — 113 die Werke, die sich Nietzsche aus der Basler Bibliothek für die Geburt der Tragödie auslieh.
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griechischen Schönheit entwickelte, für die Nietzsche später berühmt wurde und die einen Einsturz des Winckelmannschen Griechenlandbildes mit sich brachten. In dieser These steckt ein wahrer Kern, aber die äußerliche, an der Oberfläche bleibende Nachforschung kann sich nur auf wenige parallele Zitate stützen, wobei zudem berücksichtigt werden muß, daß die Konzeption des Dionysischen als ekstatische Schöpferkraft und rauschhafte Auflösung des Individuums eine weitreichende Vorgeschichte in der deutschen Literatur hat, die Hamann, Herder, Hölderlin, Novalis, vor allem aber Schelling, Creuzer und Bachofen umgreift — um nur die wichtigsten Namen zu nennen. 6 6 Die Besonderheit der Schlegelschen Auffassung des Dionysischen gegenüber Nietzsche besteht zunächst darin, daß Schlegel die Besessenheit und individuelle Entgrenzung des Dichters aus der Platonischen Inspirationstheorie über den göttlichen Wahnsinn herleitete. Die Regung der dichterischen Natur ging für Schlegel aus der „Ahndung des Unendlichen", dem „lebendigen Bild unbegreiflicher Allmacht" hervor, das den Menschen zuerst mit „wildem Entsetzen" erfüllt und wie betäubt niederwirft, dann aber zu Orgiasmus und festlicher Raserei anreizt. Dieser ekstatische Uberschuß wird jedoch durch eine gegenwirkende, selbstkritische und begrenzende Kraft in F o r m und Gestalt gebracht. 6 7 Wollte man diese beiden aufeinanderwirkenden Kräfte von aufschäumendem Enthusiasmus und selbstkritischer Skepsis mit den Namen Dionysos und Apollo bezeichnen, dann wären diese im klassischen Sinn von Leier und Pfeil, Mythos und Kritik, Inspiration und Zucht zu verstehen — und könnten ebenfalls als die Pole gedeutet werden, zwischen denen sich die romantische Ironie bewegt. 6 8 Das Auftreten dieses komplexen Kunsttriebes setzte Schlegel aber erst spät, als „entschieden nachhomerisch" an. E r sah damit eine ganz „neue Bildungsstufe", einen „Schritt in eine neue W e l t " gegeben. 6 9 In seiner ästhetischen Ausdeutung des Dionysosmythos lehnte Nietzsche eine derartige „Begrifflichkeit" aber ab und suchte demgegenüber zu den tiefsten und ursprünglichsten Stufen der griechischen Religion vorzudringen, den „tiefsinnigen Geheimlehren" der griechischen Kunst, wie sie — deutlicher als im Begriff — in den Gestalten der Götterlehre zum Ausdruck k o m m e n . 7 0 Ohne freilich genauer zu erklären, wie die Apollinische Traumwelt der Bühne und Handlung mit der dionysischen Welt des Satyrchors eigentlich zusammenkommen, projizierte er oder visionierte er, wie man 66
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Eine Zusammenfassung gibt Max L . Baeumer, Das Dionysische—Entwicklung eines literarischen Klischees, in: Colloquia Germanica 3 (1967), S. 253—262. K A , B d . 1, S. 3 9 9 - 4 0 3 . Vgl. Ernst Behler, Klassische Ironie — Romantische Ironie —Tragische Ironie. Zum Ursprung dieser Begriffe (Darmstadt 1972), 6 5 - 9 8 . Zu Leier und Pfeil, S. 7 3 - 7 4 . K A , B d . 1, S. 411. G T , Aph. 1, 17.
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gesagt hat, 7 1 das Symbol der schwellenden und zeugenden Naturkraft, Dionysos, in die Genesis der griechischen Tragödie hinein. Dabei gestand er später freilich zu, daß der Name Dionysos aus „Mangel" und nicht „ohne einige Freiheit" gewählt wurde, sogar mit einem „Fragezeichen" zu versehen sei. 7 2 Dies ist aber im wesentlichen Nietzsches ästhetische Ausdeutung des Dionysosmythos: die großen Gestalten der griechischen Bühne, Prometheus und ö d i p u s z. B . , sind nur Masken des Dionysos und stellen in einer Vielheit von Gestalten individuelle Objektivationen jenes Urseins des Lebens dar, mit dem sie im tragischen Zerbrechen wieder eins werden. 7 3 Wir halten uns hier nicht damit auf, daß Nietzsche nur wenige Gestalten der griechischen Bühne für seine Interpretation der Tragödie zu nennen weiß — eine Interpretation, die heutzutage in den Vereinigten Staaten vor allem von Gerald Else heftig kritisiert wird. 7 4 Schlegel war, jedenfalls in seiner Frühzeit, ein zu guter Philologe, um sich auf eine derart problematische Bahn zu begeben. Dies ist vielleicht der tiefgreifendste Unterschied in Schlegels und Nietzsches Sehweise der griechischen Kulturgeschichte: Für Nietzsche begreift die Humanität der Griechen auch eine Grausamkeit mit ein, welche die moderne Humanität „in Angst" versetzen muß. Vor der homerischen Welt liegen „ N a c h t und Grauen", die „Erzeugnisse einer an das Gräßliche gewöhnten Phantasie", der „Abgrund einer grauenhaften Wildheit". 7 5 Erst nachdem dies „Titanenreich" gestürzt und die „Ungetüme" getötet sind, kann uns das Schöne in der Kunst begegnen, das durch „lustvolle Illusionen über eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung" Sieger geworden ist. 7 6 Nietzsches Satz: „ D e r Weg zu den Anfängen führt überall zu der Barb a r e i , " 7 7 wäre von Schlegel keineswegs unterschrieben worden. Die Deutung des Tragischen selbst aber und die Analyse unserer Freude am Tragischen haben Nietzsche und Schlegel aus ganz ähnlichen Prinzipien entwickelt. Beide sahen sich mit dem Bewußtsein der Einzigkeit als Vertreter eines völlig neuen Tragödienverständnisses, das der gesamten Tragödienauf71
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Gerald F. Else, The Origiti and Early Form of Greek Tragedy, Cambridge/Mass. 1965, S. 10. G T , Versuch einer Selbstkritik, Aph. 5, 3. G T , Aph." 10, 8, 16. Gerald F. Else, The Origin and Early Form of Greek Tragedy, Cambridge/Mass. 1965. Vgl. auch Walter Kaufmann, Tragedy and Philosophy. New York 1969, S. 191-193, 228—233. Bereits Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf fragte in Zukunftsphilologie, Berlin 1872, S. 23: „Wer ist darin [den Choephoren], wer ist in Schutzflehenden, Eumeniden, Persern, wer ist in Ajos, Elektra, Philokletes tragischer Avatara des Dionysos Zagreus?" (Nachdruck in: Der Streit um Nietzsches Gehurt der Tragödie. Zusammengestellt und eingeleitet von Karlfried Gründer, Hildesheim 1969, S. 46). K G W III 2, S. 2 7 7 - 2 7 9 . G T , Aph. 3. K G W III 2. S. 301.
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fassung von Aristoteles bis Lessing schnurstracks entgegenstand und die dort allein auf das Formale gerichtete Deutung der Tragödie überwand. Daß Nietzsche beanspruchte, „den Begriff ,tragisch', die endliche Erkenntnis darüber, was die Psychologie der Tragödie ist", gefunden zu haben, ist bekannt und ebenso, daß er diese Erkenntnis als ein Uberwinden der seit Aristoteles über die Natur der Tragödie herrschenden Mißverständnisse auffaßte. 78 Ähnlich war Schlegel der Meinung, daß man im Verständnis der Tragödie „seit dem Aristoteles noch nicht weitergekommen" sei und dieser „auf Jahrtausende der Quell aller grundstürzenden Mißverständnisse" dieser Gattung war. 7 9 Der metaphysische Trost der Tragödie bestand für Nietzsche eben nicht darin, „vom Schrecken und Mitleiden loszukommen", nicht darin, „sich von einem gefährlichen Affekt durch eine vehemente Entladung zu reinigen", sondern „über Schrecken und Mitleiden hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein." 8 0 In diesem Sinne hat er in der Geburt der Tragödie das Dionysische als „wonnevolle Entzückung" gezeichnet, als „das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen", das „aus dem innersten Grunde des Menschen" beim tragischen Zerschellen seiner Individualität emporsteigt und in dessen „Steigerung das Subjektive zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet." „Wir glauben an das ewige Leben, so ruft die Tragödie" für Nietzsche, und diese überzeugt uns, daß „unter dem Wirbel der Erscheinungen", „bei dem fortwährenden Untergang der Erscheinungen", das „ewige Leben unzerstörbar weiterfließt." 81 Ähnlich haben Friedrich Schlegel und im Anschluß an ihn August Wilhelm Schlegel die metaphysische Freude am Tragischen empfunden. Die Trennung von Mensch und Sein und der tragische Zwiespalt zwischen Mensch und Schicksal führt für August Wilhelm Schlegel zu der erlösenden Erfahrung, daß im Verhältnis der Unendlichkeit des Lebens „das irdische Dasein für nichts zu achten sei, daß alles Leiden dafür erduldet" werden müsse. 82 Für Friedrich Schlegel transformiert sich der zerreißende, entsetzende Eindruck von der Macht des Schicksals in die Erfahrung von der „Würde und Heiligkeit des Lebens, und von der Einheit der in unendlich vielen Gestalten geheimnisvollen Urkraft, die alles erzeuge und ernähre." 83
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E H , Die Geburt der Tragödie, Aph. 3; GD, Was ich den Alten verdanke. Aph. 5; GT, Aph. 2r 22, 24. KA, Bd. 1, S. 449, 464. E H , Die Geburt der Tragödie, Aph. 3; GD, Was ich den Alten verdanke, Aph. 5. G T , Aph. 1, 16, 4, 18. August Wilhelm von Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. 3. Ausg. von Eduard Böcking, 2 Bde., Leipzig 1846, Bd. 1, S. 7 5 - 7 6 . KA, Bd. 1, S. 549.
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Gewiß läßt sich diese Sehweise des Tragischen auf die proteische dionysische Naturkraft der alten religiösen Kulte beziehen. Wir wissen aber, daß sie, wenigstens im Falle der Brüder Schlegel, modernen Ursprungs ist und sich von Kants Idee des Erhabenen herleitet, bei dem das ursprüngliche Entsetzen vor der Allgewalt der Natur sich allmählich in Lust auflöst. 8 4 Ferner spiegeln sich hier idealistische Konzeptionen über die Unendlichkeit der Natur und die Menschheit wieder. In einer mehr philosophischen Bestimmung dieser dionysischen Urkraft des Lebens hat sich Nietzsche auch der romantischidealistischen Anschauungsweise bedient und das dionysische Ursein als einen Gott bezeichnet, „der im Bauen wie im Zerstören, im Guten wie im Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit innewerden will, der sich, Welten schaffend, von der Not der Fülle und Überfülle, vom Leiden der in ihm gedrängten Gegensätze löst." 8 5 Weitere wichtige Parallelen in der Deutung des dionysischen Charakters der griechischen Welt sind mit den Themen des tragischen Chors und der lyrischen Dichtkunst gegeben. „Ich schmeichle mir zu wissen," schrieb Friedrich Schlegel am 23. Dezember 1795 an seinen Bruder, „was der griechische Chor ist, welches von denen, die geschrieben haben, niemand gewußt hat. Eine Kenntnis, die über die Tragödie und die Poesie überhaupt unendliche Aussicht gibt, und die schwersten Knoten löst". 8 6 Schlegel sah den tragischen Chor mit einem Wort als gemeinsame Stimme der Menschheit, in der sich die Vision des Dichters inkarniert hat. 8 7 Damit stand er Nietzsches Bestimmung des Chors als „eigentliches Urdrama" und „übermächtiges Einheitsgefühl", in dem die „Klüfte zwischen Mensch und Mensch" weichen und wir „an das Herz der Natur" zurückgeführt werden, 8 8 beträchtlich nahe. Doch räumte er dem Dichter eine größere Funktion ein. Diese Bedeutung des dichterischen Ich fand Schlegel bereits in der lyrischen Dichtung der Griechen, vor allem in Pindars Wort: „Ich, der einzelne, fürs Gemeinsame" vorgebildet, von dem er sagte: „In Pindarus redet nicht der Dichter, der einzelne Mensch, sondern durch ihn die Stimme des Volks: nicht sein Ich, seine Eigenheit ist sein Gegenstand . . . sondern die öffentliche Sache, der Zustand des Volks, eyco öe löiog ev KOIVÜ) craxXeig — ent84
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Es handelt sich um die „Analytik des Erhabenen" aus der Kritik der Urteilskraft in Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. 5, S. 244-265. KA, Bd. 1. S. 312-313, 410. Vgl. hierzu Ernst Behler, Kant vu par le groupe de Coppet. La formation de l'image staelienne de Kant, in: Le Groupe de Coppet. Actes du Second Colloque de Coppet (im Druck). GT, Versuch einer Selbstkritik, Aph. 5. Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm, Berlin 1890, S. 248. KA, Bd. 1, S. 594. August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Bd. 1, S. 76. GT, Aph. 7.
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hält in wenigen Worten den wichtigsten Begriff einer lyrischen Dichtart". 8 9 Nietzsche hat das Zergehen des lyrischen Ich in den dionysischen Künstler, dessen Stimme „aus dem Abgrunde des Seins" ertönt, der „bewegender Mittelpunkt der Welt", „gleichsam Medium geworden" ist, mit Archilochus exemplifiziert. 9 0 Aber für beide, für Schlegel wie für Nietzsche, ist das Klagelied der Danae von Simonides das eindrucksvollste Beispiel einer derartigen überindividuellen Lyrik in der Gattung des Klagegesanges gewesen. 91 Auch darin stimmten Schlegel und Nietzsche überein, daß, nachdem die griechische Tragödie ihren Gipfel mit Sophokles erreicht hatte, ihr Niedergang mit Euripides erfolgte, und zwar nicht nur wegen des von nun an vorherrschenden rationalistischen Elementes, der „schachspielartigen Gattung des Schauspiels", sondern vor allem, wie Schlegel sagt, wegen der Auflösung des „vollendeten Einklanges und des angemessenen Verhältnisses zwischen dem Chorgesang und der dramatischen Handlung". 9 2 Eine weitere Verfolgung dieser Gemeinsamkeiten würde freilich zu sehr ins Detail führen und könnte auf befriedigende Weise nur in besonderen Untersuchungen geleistet werden. Von Wichtigkeit wäre z . B . ein Vergleich der Sehweise der modernen Tragödie, deren Höhepunkt Schlegel, wie Nietzsche, in Shakespeares ,Hamlet' erblickte, den Schlegel als ein „wie auf der Folterbank nach entgegengesetzten Seiten auseinandergerissenes Gemüt" bezeichnete, während Nietzsche die Hamletlehre als „Einblick in die grauenhafte Wahrheit" deutete, die jedes zum Handeln antreibende Motiv erstickt. 93 Die metaphysische Botschaft der alten Tragödie ist hier freilich verloren gegangen. Das Kennzeichen der modernen Tragödie ist „Maximum der Verzweiflung." 9 4 Nachdem der Mythus vernichtet war, ist für beide Denker die Poesie aus ihrem natürlichen Boden verdrängt und „nunmehr heimatlos" geworden. 9 5
Die Wiedererweckung
der Antike im modernen
Zeitalter
Doch verlohnt es sich in diesem Zusammenhang, wenigstens noch einige Worte über die Gesamtsicht der griechischen Welt zu sagen, wie sie in Schlegel und Nietzsche zutage tritt und von ihnen auf die eigene Zeit bezogen wurde. Neben dem mythischen Ursprung der griechischen Dichtung, in dem 89 90 91 92 93 94 95
KA, GT, KA, GT, KA, KA, GT,
Bd. 11, S. 246. Aph. 5. Bd. 11, S. 359, Nr. 714; Bd. 1, S. 617. Aph. 11 - KA, Bd. 11, S. 298, Nr. 178. Bd. 1, S. 2 4 6 - 2 4 8 . - GT, Aph. 7, 17. Bd. 1, S. 248. Aph. 17.
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Ernst Behler
sich „Uberlieferung und Dichtung gatten", und dem musikalischen, rhythmischen und dithyrambischen Charakter dieser Kunstwelt 9 6 ist dabei die Zusammenschau von Dichtung, Historie, Theorie, Philosophie, Kritik und Staatsleben zu einem lebendigen Kulturganzen ein entscheidendes gemeinsames Merkmal. Kunst-, Sitten- und Staatslehre waren bei den Griechen für Schlegel „so innigst verflochten, daß ihre Kenntnis sich nicht trennen läßt". Uberhaupt war ihm „die griechische Bildung ein Ganzes, in welchem es unmöglich ist, einen einzelnen Teil stückweise vollkommen richtig zu erkenn e n " . 9 7 U m auch die Unterschiede nicht außer Acht zu lassen, läßt sich sagen, daß bei diesem Bestreben, „den Geist des Ganzen zu fassen", Nietzsche größeren Nachdruck auf die Philosophie, vor allem auf die Repräsentanten der vorsokratischen Epoche legte, wogegen Schlegel, neben Plato, mehr an der dichterischen Welt der Griechen interessiert war und die Präsokratiker im Zusammenhang seiner Dichtungsgeschichte als Vertreter der didaktischen Gattung behandelte. Doch war er sich selbstverständlich darüber im klaren, daß deren Zweck Wahrheit und Wissenschaft war und sie nach dem W o r t des Plutarch die Poesie nur wie einen Wagen entlehnten, um nicht zu Fuß einherschleichen zu müssen. 9 8 V o n besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang noch, wie Schlegel und Nietzsche das Verhältnis der Griechen zu ihrer eigenen Zeit gesehen haben. Bekanntlich haben beide über die griechische Bildungswelt in Begriffen absoluter Vorbildlichkeit gedacht. Schlegel sah die Griechen als „Menschen höhern Stils". Er betrachtete die „Griechheit" als ein „Bild vollendeter Menschheit" und bezeichnete ihre Literatur als „Maximum und K a n o n " der Poesie, als „eine vollkommene und gesetzgebende Anschauu n g " . 9 9 „Niemals", sagte Rudolf Haym, „auch nicht in den verwandten Äußerungen Humboldts, Schillers und F . A. Wolfs, sind die Griechen, ihre Bildung und ihre Poesie methodischer ins Unbedingte erhoben w o r d e n . " 1 0 0 Auf ähnliche Weise betonte Nietzsche „die unsägliche Einfachheit und Würde des Hellenischen" und meinte, daß die Philologie das klassische Altertum mit dem Anspruch und der Absicht aufgestellt habe, um der „Gegenwart den Spiegel des Klassischen und Ewiggültigen entgegenzuhalten". 1 0 1 Mit der Wiedererweckung und dem Wiederaufleben der Antike verbanden sich für Schlegel und Nietzsche die höchsten Erwartungen für die eigene
96 97 98 99
100 101
KA, Bd. 1, S. 3 3 2 - 3 3 3 , 3 5 1 - 3 5 2 . KA, Bd. 1, S. 206. KA, Bd. 1, S. 553. KA, Bd. 1, S. 275, 278, 287, 637. Vgl. Ernst Behler, Friedrich Schlegel (Rowohlts Bildmonographien 123), Hamburg 1966, S. 3 3 - 3 4 . Rudolf Haym, Die romantische Schule, 2. Aufl., Berlin 1906, S. 190. Werke in drei Bänden, Bd'. 3, S. 1 5 7 - 1 5 9 .
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Zeit. 1 0 2 Freilich ist dabei nicht an eine bloße Wiederholung der von den Griechen erreichten Errungenschaften zu denken. Die wahre Nachahmung der Griechen, wie Schlegel sie verstand, bezieht sich nicht auf den besonderen Buchstaben, sondern den Geist der „reinen Griechheit". 1 0 3 Sie bedeutet Wettstreit, jene von Nietzsche betonte „agonale" Haltung oder das „Gefühl von der Notwendigkeit des Wettkampfes", 1 0 4 womit in die Wiedererweckung der Antike im modernen Zeitalter jener Spannungsbezug tritt, der für das Denken Schlegels und Nietzsches gleicherweise charakteristisch ist. Ernst Robert Curtius sagte: „ D i e klassische Philologie des 19. Jahrhunderts hat den echten und kühnen Humanismus eines Friedrich Schlegel und eines Nietzsche nicht ertragen". 1 0 5 Mögliche Einflüsse, die von Schlegel auf Nietzsches Geburt der Tragödie ausgegangen sind, können sich sogar in der Gesamtkonzeption des Werkes zeigen, das sich, wie Friedrich Schlegels Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie von 1795, 1 0 6 schon bald von seinem eigentlichen Gegenstand abwendet, den Niedergang der europäischen Kultur im Zeitalter des „theoretischen Optimismus" schildert, dann aber, aus den Quellen des deutschen Wesens, eine „neue Daseinsform" entstehen sieht, „über deren Inhalt wir uns nur aus hellenischen Analogien ahndend unterrichten k ö n n e n " . 1 0 7 Ähnlich hatte Friedrich Schlegel in seinem ersten größeren Werk argumentiert und mit der Wiederverbindung des deutschen und griechischen Geistes eine „ästhetische Revolution" bewirken wollen, die das „höchste Ziel jeder möglichen Poesie, das Größte was von der Kunst gefordert werden" kann, zur Erfüllung brachte. Nachdem das „höchste Schöne" mit Sophokles in Erscheinung getreten war, hatte sich die europäische Kunstgeschichte unter dem Einfluß „dirigierender Begriffe" des Verstandes auf die falsche Bahn begeben und war schließlich in der „höchsten ästhetischen Erschlaffung" versunken, von der Schlegel meinte: „Tiefer können wir nun nicht sinken". 1 0 8 Aber ähnlich wie Nietzsche in Kant und Schopenhauer die Vorboten einer Wiedergeburt sah, kündigte sich auch für Schlegel im kulturellen Tiefstand der Zeit ein dialektischer Umschlag an, durch den der objektive Gehalt der Griechen „in der ästhetischen Bildung der Modernen herrschend werden könnte". 1 0 9 Daß der „dauernde Liebesbund zwischen der deutschen und der griechischen Kultur" für den deutschen Geist „nur eine Rückkehr zu sich selbst, ein seliges Sichwiederfinden zu bedeuten habe", 102 103 104
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K A , B d . 1, S. 3 5 6 - 3 5 7 . - G T , Aph. 19, 20. K A , B d . 1, S. 343, 3 4 6 - 3 4 7 . K G W III 2, S. 2 8 1 - 2 8 2 . Humanismus. Herausgegeben von Hans Oppermann, Darmstadt 1970, S. 168. K A , B d . 1, S. 2 1 7 - 3 6 7 . G T , A p h . 19. K A , B d . 1, S. 2 3 6 - 2 3 7 , 263. K A , B d . 1, S. 2 6 9 - 2 7 1 .
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steht nicht in Schlegels Studiumsaufsatz, sondern in Nietzsches Geburt der Tragödie, wo auch, wie bei Schlegel, aus dieser Annäherung die Folgerung gezogen wird: „jetzt endlich darf er, nach seiner Heimkehr zum Urquell seines Wesens, vor allen Völkern kühn und frei, ohne das Gängelband einer romantischen Zivilisation, einherzuschreiten wagen: wenn er nur von einem Volke unentwegt zu lernen versteht . . . von den Griechen".110 Aber ähnlich wie Nietzsche die Geburt der Tragödie wegen der darin enthaltenen „Deutschtümelei" in dem rückblickenden Versuch einer Selbstkritik ein „unmögliches Buch" nannte, d. h. „schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwütig und bilderwirrig, gefühlsarm, hier und da verzuckert", so bezeichnete Schlegel seinen Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie schon zwei Jahre nach seiner Fertigstellung als einen „manirierten Hymnus in Prosa" und fand „das Schlechteste daran" in seinem „gänzlichen Mangel der unentbehrlichen Ironie". 111
Der gemeinsame
Denkstil
Bereits in diesen Frühschriften Friedrich Schlegels zur griechischen Literatur läßt sich das Motiv erkennen, das der von dieser Schule erstrebten „ästhetischen Revolution" zugrundelag. Das große Ziel dieser Gruppe bestand ja nicht, wie vielfach angenommen wird, in einer einseitigen Propagierung und Bevorzugung der sogenannten „romantischen" Periode der europäischen Literatur, sondern in dem Versuch, zwischen den beiden sich antithetisch gegenüberstehenden Ästhetiken von Klassik und Romantik dialektisch zu vermitteln. Das Vorhandensein von zwei autonomen, genuin nebeneinanderbestehenden Literaturtraditionen sollte zur Anerkennung gebracht und ein sich über diese Traditionen erhebendes Bewußtsein erzeugt werden — ein Bewußtsein, wenn man will, das Nietzsches „Zugänglichkeit zu anscheinend getrennten Welten", seiner „doppelten Reihe von Erfahrungen" entspricht. 112 Aus der „absoluten Verschiedenheit des Antiken und Modernen" suchte Friedrich Schlegel das „absolute Maximum der Kunst", das höchste Ziel jeder möglichen Poesie", durch wechselseitige Annäherung dieser Pole zu erringen. 113 Auf ähnliche Weise bestimmte August Wilhelm Schlegel später das Programm der Schule als Aufgabe, zwischen der „großen allge1,0 111 112
1,3
GT, A p h . 19, 20. GT, Versuch einer Selbstkritik, Aph. 3. - K A , Bd. 2, S. 1 4 7 - 1 4 8 , Nr. 7. EH, Warum ich so weise bin, Aph. 3. Zum dialektischen Charakter des „romantischen" Geschichtsbewußtseins vgl. Ernst Behler, The Origins of the Romantic Literary Theory, in: Colloquia Germanica 1/2 (1968), S. 1 0 9 - 1 2 6 . K A , Bd. 1, S. 255.
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meinen Antinomie des antiken und modernen Geschmacks" zu vermitteln, diese „Antinomie der K u n s t " zu lösen, und zum Bewußtsein zu bringen, „daß entgegengesetzte Dinge in gleicher Dignität stehen, gleiche Rechte h a b e n " , wie auch „unser ganzes Dasein auf dem Wechsel sich beständig lösender und erneuernder Widersprüche b e r u h t " . 1 1 4 Dies Bewußtsein, zwischen unauflöslichen Gegensätzen zu stehen, ist grundlegend für das Denken der Frühromantiker gewesen. Diese Haltung hat bekanntlich ihre prominenteste Form in der romantischen Ironie gefunden, die von Schlegel als „Form des Paradoxen", als ein Bewußtsein des „unendlich vollen C h a o s " bezeichnet wurde. 1 1 5 W i r wissen, daß dieses sich selbst spiegelnde und wiederspiegelnde Denken oder das sich im „Denken und Gegendenken" vollziehende Philosophieren der Frühromantiker artistische Umbildungen der Fichteschen Reflexionsmethode sind. 1 1 6 Fichtes Versuch, mit reinem Denken, oder dem Denken des Denkens, zur Selbsterkenntnis zu kommen, wurde von Novalis als „eine ganz neue Art zu denken" bezeichnet. 1 1 7 Friedrich Schlegel erschien diese Reflexion im Vergleich zur Französischen Revolution sogar als eine „größere, schnellere, umfassendere Revolution", indem hier „der Mensch sich selber entdeckt h a t " . 1 1 8 Freilich vollzog sich diese Rezeption des Fichteschen Denkens bei den Frühromantikern nicht ohne beträchtliche Modifikationen. Fichtes Bestreben, mit der Methode des reinen Selbstdenkens die Kategorien in ihrem ganzen Umfang zu deduzieren und diesen Prozeß bis zum vollendeten Selbstbewußtsein des Denkens zu führen, wurde als bloßer „Buchstabe" seiner Philosophie oder, wie Novalis sagte, als ein „furchtbares Gewinde von Abstraktion" abgetan. 1 1 9 Als der wahre „Geist" dieses Denkens wurde lediglich das Grundmodell der Fichteschen Reflexion akzeptiert, d. h. das ständige Alternieren von Bejahen und Verneinen, von überschwenglichem Heraustreten aus sich selbst und selbstkritischer Rückkehr in sich selbst, von Enthusiasmus und Skepsis. Schlegel definierte diesen Rhythmus als einen beständigen Wechsel von „Selbstschöpfung" und „Selbstvernichtung", wobei er unter der „Selbstvernichtung" das kritische Infragestellen seiner selbst ver-
114
115 1,6
117 118 119
A. W. Schlegel, Über schöne Literatur und Kunst. Herausgegeben von Jakob Minor (Deutsche Literaturdenkmale 1 7 - 1 9 , 3 Bde. Heilbronn 1884, Bd. 1, S. 22. K A , Bd. 2, S. 153, Nr. 48; S. 263, Nr. 69. Dies wurde, freilich mit negativer Akzentsetzung, zuerst von Hegel betont: Jubiläumsausgabe, Bd. 19, S. 6 4 1 - 6 4 6 . Vgl. hierzu Otto Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik (Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik 4), Bonn 1956 und Ernst Behler, Die Geschichte des Bewußtseins. Zur Vorgeschichte eines Hegeischen Themas, in: HegelStudien 7 (1972), S. 175-182 und bes, KA, Bd. 8, S. L I I I - L X I X . Sehr., Bd. 2, S. 524, Nr. 11. KA, Bd. 3, S. 96. Friedrich Schlegel und Novalis, S. 97.
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stand. 1 2 0 Schlegel und Novalis waren ferner der Auffassung, daß sich Fichte zu einseitig auf die Logik verlegt hatte. Sie beanspruchten demgegenüber eine größere Freiheit der Reflexion, indem sie diese auch in anderen „Reflexionsmedien", in Kunst, Bildung und Gesellschaft und vor allem in der Dichtung praktizierten. Ein weiterer entscheidender Schritt in dieser artistischen Umbildung der Fichteschen Reflexionsmethode bestand darin, daß sich Schlegel und Novalis bereitwillig in den grenzenlosen Gang des Denkens einließen und die Reflexion als unendlich anerkannten. Fichte hatte den unendlichen Prozeß, der in seinem Denken durchaus angelegt ist, im vollendeten Selbstbewußtsein einzuhalten gesucht, um das Abgleiten in die von Hegel so benannte „schlechte Unendlichkeit" zu vermeiden. 1 2 1 Für Schlegel konnte sich dagegen einem solchen Denken von Natur aus keine Grenze stellen. Vielmehr war die Reflexion für ihn der ständigen „Potenzierung fähig", sie war ihm „unermeßlich — ewig — unbedingt, d. h. unendlich". Auf ähnliche Weise sah Novalis in dem unaufhaltsamen Fortgang der Reflexion den „Anfang einer wahren Selbstdurchdringung des Geistes, die nie endigt". 1 2 2 So entstand gegen Ende des 18. Jahrhunderts in dieser Schule erstmals das, was Walter Benjamin als „unendliche Reflexion" bezeichnet hat 1 2 3 — eine Reflexion, bei der das Denken im Selbstbewußtsein unaufhaltsam über sich selbst reflektiert und in der Unendlichkeit seiner Potenzenreihen zu immer höherer Selbsterfassung zu gelangen strebt. Die in dieser Reflexion erfahrenen Gegensätze und Widersprüche sollten nicht in einer Synthese aufgehoben werden, sondern den Stachel für die Bewegung des Geistes bilden, der sich in einem „Schweben" zwischen den Antinomien und einem ständigen Wechsel zwischen den Antithesen entfaltet und reicher wird. In der kunstvollen Darstellung seiner selbst sollte dies grenzenlose Denken Einheit und Zusammenhang finden — in einer Darstellung freilich, die nicht in einem Wurf gelingt, sondern notwendigerweise fragmentarisch ansetzt und in immer größeren Kreisen über sich hinauswächst. Dies war es, was Schlegel und Novalis unter „Fichtisieren" verstanden, oder was Novalis meinte, als er sagte, daß „der Erfinder . . . vielleicht nicht der fertigste und sinnreichste Künstler auf seinem Instrument" sein möge. Er sah es als wahrscheinlich an, „ d a ß es Menschen gibt und geben wird, die weit besser fichtisieren werden als Fichte", vor allem, „wenn man das Fichtisieren erst artistisch zu treiben beginnt". Dann könnten „wunderbare Kunstwerke" entstehen. 124 120
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Z . B . : K A , Bd. 2, S. 149, Nr. 28; S. 151, Nr. 37; S. 172, Nr. 51; KA, Bd. 19, S. 767—768 (Registernachweise). Vgl. zu dieser Fichterezeption KA, Bd. 8, S. L I I I - L X I X . K A , Bd. 18, S. 468, Nr. 356. - Sehr., Bd. 2, S. 525-526, Nr. 13. Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, Berlin 1920. Sehr., Bd. 2, S. 524, Nr. 11.
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Schlegel und Novalis haben dieses künstlerische Denken auch in Gestalten zu illustrieren versucht und dabei interessante Modelle neuer Geistigkeit gezeichnet. Für Novalis repräsentiert sich dieser Denktyp in dem, was er den „echten Gelehrten", den „vollständig gebildeten Menschen" nannte. Alles, was dieser sagt, so führt Novalis sein Portrait aus, „muß ein artistisches, technisches, wissenschaftliches Produkt oder eine solche Operation sein. Er spricht in Epigrammen, er agiert in einem Schauspiele, er ist Dialogist, er trägt Abhandlungen und Wissenschaften vor — er erzählt Anekdoten, Geschichten, Märchen, Romane, er empfindet poetisch; wenn er zeichnet, so zeichnet er als Künstler, so als Musiker; sein Leben ist ein Roman — so sieht und hört er auch alles — so liest er". 1 2 5 Friedrich Schlegel gefiel sich darin, Denktypen mit mathematischen Symbolen zu umschreiben. Für ihn gab es Denker, „bei denen alles kreisförmig ist" — Spinoza etwa; „andre, die nur im Schema der Triplizität kostruieren können", wobei er vielleicht Fichte vor Augen hatte, wir aber unmittelbar an Hegel denken. Auch ellipsenartige Autoren — etwa Nikolaus von Kues oder Giordano Bruno — glaubte er anführen zu können und schließlich Philosophen der Parabeln und „krummen Linien, die mit sichtbarer Stetigkeit und Gesetzmäßigkeit forteilend immer nur im Bruchstück erscheinen können, weil ihr eines Zentrum in der Unendlichkeit liegt". Im Ausgang von diesen Modellen entwickelte er einen Begriff von „höherer Kunst und Form" der Philosophie, von dem die gewöhnlichen philosophischen Werke auch „nirgends die leiseste Ahnung" zeigen. 126 Ich habe in einem anderen Zusammenhang darzustellen versucht, 127 daß Schlegel und Novalis mit dieser Kunst der Reflexion eine Vision gehabt haben, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Nietzsche in die Tat umgesetzt wurde, den Thomas Mann mit klarem Blick für den Zusammenhang des Denkerischen mit dem Künstlerischen einen „Erkenntnislyriker" nannte. 128 Natürlich vollzog sich das Wiederaufleben dieser denkerischen Haltung in Nietzsche nicht ohne beträchtliche Modifikationen. Die Pole, zwischen denen Nietzsches Denken alternierte, waren nicht mehr der romantische Dualismus von Enthusiasmus und Skepsis, sondern der intensivierte Gegensatz von Vitalität und Dekadenz. Das „Goldaufblitzen am Bauch der Schlange Vita" war die sehnsüchtige Vision eines selbst tief Leidenden, der wußte: „Bei einer Eidechse wächst ein Finger nach, der ihr verlorenging: 125 126 127
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Sehr., Bd. 3, S. 339, N r . 470. KA, Bd. 2, S. 415, 413-414. Vgl. hierzu KA, Bd. 8, S. X X X V I I - L I I . Die Kunst der Reflexion. Das frühromantische Denken im Hinblick auf Nietzsche, in: Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Festschrift für Benno von Wiese, Berlin 1973, S. 219-248. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 10, S. 18.
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nicht so beim Menschen". 129 Schlegels „Selbstvernichtung" verdichtete sich zur „gegen sich selbst gewendeten Grausamkeit", sogar zum „Genuß am eigenen Leiden, am eigenen Sich-Leiden-Machen", deren „gefährliche Schauder" für Nietzsche noch jeden Akt der Erkenntnis bestimmen.130 Die gegen sich selbst gerichtete Skepsis der Frühromantiker griff in die intimsten Bereiche des Seelischen über und äußerte sich in dem für Nietzsche charakteristischen Phänomen der Scham. Die romantische Ironie wurde bei Nietzsche zur Maske, mit der er seine „Hintergründe" zu verbergen suchte.131 Und der „wahre Gelehrte" des Novalis, bzw. der von Friedrich Schlegel gezeichnete Philosoph der Parabeln und krummen Linien veränderte sich in Nietzsches Porträts neuer Geistigkeit zu den „Artisten des Lebens", die „zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief" geworden sind, als daß sie glaubten, daß „Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht" und die deshalb gelernt haben, „etwas Kunst" in ihre „Gefühle zu legen und lieber noch mit dem Künstlichen den Versuch zu wagen". 132 Trotz dieser tiefgreifenden Nuancierungen scheint es aber, daß Nietzsche mit kühnen Impulsen das Denken der Reflexion weiterführte, mit dem Schlegel und Novalis das 19. Jahrhundert einleiten wollten. Auch darin scheint Nietzsche dem Denken der Frühromantiker verwandt zu sein, daß er aus der wie eine Schraube ohne Ende wirkenden Reflexion herauswollte und in einem neuen Mythos innere Ruhe und Selbstgewißheit erstrebte. Es fehlt uns „an einem Mittelpunkte, wie es die Mythologie für die Alten war", hatte Schlegel in seiner Rede über die Mythologie von 1800 gesagt, und gleichzeitig festgestellt, „daß die Menschheit aus allen Kräften ringt, ihr Zentrum zu finden". 133 Während die messianische Humanitätsreligion der Erhebung der Menschheit über sich selbst, welche Schlegel und Novalis entwickelten, aber bereits an das Ende der romantischen Schule heranführt, war das Mythenschaffen des Zarathustra für Nietzsche nur eine vorübergehende Phase. Nachdem er diesen „jasagenden Teil" seiner Aufgabe erfüllt hatte, kam wieder „die neinsagende, neintuende Hälfte an die Reihe", d. h. die Schraube der Reflexion setzte sich wieder in Bewegung, und die Mythologie des Zarathustra erschien als „Erholung", „Verschwendung", als schöner Müßiggang.134 JGB, Aph. 278. E H , Warum ich so weise bin, Aph. 1: „Von der Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen und Werten, und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewißheit des reichen Lebens hinuntersehn in die heimliche Arbeit des DecadenceInstinkts — das war meine längste Übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn irgendworin wurde ich darin Meister." 1 3 0 J G B , Aph. 229, 40. 131 Ernst Behler, Nietzsches Auffassung der Ironie, S. 13—20. 132 p W > Vorrede, Aph. 4; JGB, Aph. 31. 1 3 3 KA, Bd. 2, S. 312. 1 3 4 E H , Jenseits von Gut und Böse, Aph. 1, 2. 129
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Dies sind nicht die einzigen Unterschiede, die bei dieser wechselseitigen Spiegelung in Erscheinung treten. Die vielleicht grundlegendste Differenz besteht in der Tatsache, daß bei den Frühromantikern immer noch ein Schimmer von Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit dem Absoluten vorhanden ist, wie deutlich auch in der Ironie die Entfremdung des Menschen anerkannt wurde. Freilich war auch bei ihnen diese Nabelschnur zum Absoluten bereits recht dünn geworden, wenn Schlegel von seinem ästhetischen Ideal sagte, daß es „ewig nur werden, nie vollendet sein kann", oder wenn Novalis die Frage stellte: „inwiefern erreichen wir das Ideal nie?", und darauf antwortete: „Insofern es sich selbst vernichten würde". 135 Doch klingt in Schlegels Ironie immer noch eine „Ahndung des Ganzen" mit, und die futuristische Idee der progressiven Universalpoesie verbindet sich bei Novalis mit der Vision einer schönen Zukunft, der „schönen Zeit" einer zukünftigen Literatur, da „man nichts mehr lesen wird als die schöne Komposition — als die literarischen Kunstwerke". 136 Nietzsche hat mit klarem Blick die dialektisch-historische Versöhnungstechnik als den eigentlichen Trick des deutschen Idealismus angesehen, der für ihn darin bestand, „einen Pantheismus auszudenken, bei dem das Böse der Irrtum und das Leid nicht als Argumente gegen Göttlichkeit empfunden werden". 1 3 7 Für ihn war der „Gesamtcharakter der Welt . . . dagegen in alle Ewigkeit Chaos". Eine „Welt der Wahrheit" anzunehmen, „der man mit Hilfe unsrer viereckigen kleinen Menschenvernunft letztgültig beizukommen vermöchte", bezeichnete er als „Plumpheit und Naivität, gesetzt daß es keine Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist". 1 3 8 Will man die Welt schon als im Flusse und als etwas Werdendes denken, dann für Nietzsche nur „als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn — es gibt keine ,Wahrheit'". 1 3 9 Diese grundverschiedenen Sehweisen scheinen auch von Konsequenz für den ästhetischen Form- und Gestaltungswillen gewesen zu sein, wie er sich bei Nietzsche und den Frühromantikern zeigt. Die Annahme ist sicher nicht von der Hand zu weisen, daß Schlegels Philosophieren in Parabeln und „krummen Linien", deren „eines Zentrum in der Unendlichkeit liegt", oder Novalis' Erwartung der „schönen Zeit", da man nichts mehr lesen wird „als die literarischen Kunstwerke", den Frühromantikern die Berechtigung gegeben hat, ihr Denken in jenen oft rohen und unausgestalteten Fragmenten auszudrücken, von denen doch nur einige wenige den Anspruch erheben 135 136 137 138 139
K A , Bd. 2, S. 183, Nr. 116. - Sehr., Bd. 2, S. 259, Nr. 508. Sehr., Bd. 3, S. 2 7 6 - 2 7 7 , Nr. 210. SA III, S. 496. F W , Aph. 109, 373. K G W VIII 1, S. 112, Nr. 2 [108],
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können, zu „Gemmen" geschnitten oder zu „kleinen Kunstwerken" gestaltet zu sein, wie es ihre Kunsttheorie erforderte. Das wird vor allem deutlich, wenn man diese Fragmente mit den geschliffenen Aphorismen Nietzsches vergleicht, der uns lehrte, wie Gottfried Benn gesagt hat, eine Handbreit Prosa wie eine Statue zu meißeln.140 Tatsächlich betonte Novalis, und mit ihm Schlegel, auch den bloß „transitorischen Wert" dieser Fragmente, die er „Spielmarken" nannte, 141 während sich Nietzsche angesichts der Sinnlosigkeit und des Nihilismus zum kunstvollen Gestalten aufgerufen sah und eine „ästhetische Rechtfertigung" suchte. Nietzsche führt uns, um noch einmal Benn zu zitieren, „in das gedanklich Raffinierte . . . er führte die Vorstellung der Artistik in Deutschland ein . . . er sagte: Die Delikatesse in allen fünf Kunstsinnen, die Finger für Nuancen, die psychologische Morbidität, der Ernst des Mis-en-Scene . . . und er krönte dies mit drei rätselhaften Worten: Olymp des Scheins".142 Diese Beobachtungen können den fundamentalen Unterschied zwischen Fragment und Aphorismus verdeutlichen, bei denen es sich eben nicht um gleichartige literarische Gattungen handelt, sondern um grundverschiedene Formen, denen auch fundamental verschiedene philosophische Konzeptionen zugrundeliegen. Während nämlich der Aphorismus ein abgegrenztes, in sich beschlossenes, kurzes Prosawerk darstellt, ist das Fragment ein abgebrochenes Bruchstück aus einem größeren Ganzen. „Uberhaupt hängen die verdammten Dinger so zusammen," hatte Schlegel über seine Fragmente gesagt. 143 Gehen wir bei der Herausarbeitung solch scharfer Unterschiede aber nicht zu weit? Wird hier mit einem Wort nicht zu viel „Selbstvernichtung" getrieben? Waren Nietzsches Aphorismen z. B. von den Fragmenten der Frühromantiker wirklich durch ihre strenge Abgeschlossenheit unterschieden? Oder waren sie nicht vielmehr, wie es in der Vorrede zur Genealogie der Moral heißt, „verwandt und bezüglich allesamt untereinander", Produkte eines Baumes, der stolz seine Früchte trägt?144 Sah Nietzsche seine „geliebten und gemalten Gedanken" nicht ebenfalls in dem elegischen Epilog zu Jenseits von Gut und Böse als bereits im Zustande des Verwelkens und Verblühens an? 145 Wollte er tatsächlich „bei einem Nein, bei einer Negation, bei einem Willen zum Nein" stehen bleiben, oder nicht vielmehr hindurch 140 141 142 143
144 145
Gottfried Benn, Essays, Reden, Vorträge, S. 542. Sehr., Bd. 4, S. 2 7 0 - 2 7 1 . G . Benn, Ebd. Karl Konrad Polheim, Studien zu Friedrich Schlegels poetischen (1961), S. 363. G M , Vorrede, Aph. 2. J G B , Aph. 296.
Begriffen,
in: D V J
35
Nietzsche und die Frühromantische Schule
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durch diesen Willen zu seinem Gegenteil? 146 Wie verhält sich die vorhin zitierte Ablehnung der romantisch-idealistischen Zukunftserwartung zu Nietzsches beinahe flehentlichen Anrufungen an die „kommenden Philosophen", an „ihr Philosophen der Zukunft", zu seinem eigenen Vorspiel einer Philosophie der Zukunft,147 — oder gar zu seiner Erwartung des „Kommen Gottes", den kein Bild und Gleichnis zu beschreiben vermag, jenes „unbekannten Gottes", dem er in der Totaldialektik seines Denkens wenigsten eine Stelle frei hielt? 148 Hegel hat wiederholt gesagt, daß Mensch nicht Mensch wäre, hätte er nicht „das Zerreißen jener ursprünglichen paradiesischen Einheit" erlebt, das wir uns im Bild des Sündenfalles symbolisieren. 149 Vielleicht läßt sich als Abschluß dieses Vergleiches sagen, daß der Mensch nicht Mensch wäre, wenn ihn nicht die Hoffnung auf das leitete, was Novalis als „schöne Zukunft" bezeichnete. Und vielleicht sind diese vielen Fragen und Vielleichts ein akzeptabler Abschluß für eine Untersuchung, die selbst noch im Prozeß ist und die doch schließlich eine Diskussion einleiten soll.
146 147 148
149
K G W VIII 3, S. 288, N r . 16 [32], J G B , Aph. 4 2 - 4 4 und der Untertitel zu diesem Werk. Ernst Behler, Nietzsches Wort vom Tod Gottes, in: Herkommen für O s k a r Seidlin, Tübingen 1976, S. 2 5 6 - 2 6 7 . Jubiläumsausgabe, Bd. 10, S. 163.
und Erneuerung.
Essays
Diskussion Müller-Lauter: Sie haben ausgeführt, daß Fichte die Bewegung der „schlechten Unendlichkeit" vermieden habe. Nun ist ihm von Hegel schon 1802 gerade diese Bewegung vorgehalten worden. In der Bestimmung des Menschen arbeitet Fichte in der Tat mit der Vorstellung der „schlechten Unendlichkeit", also mit dem, was nach Hegel ein typisches Produkt der Reflexionsphilosophie ist. Behler: Ohne Zweifel. Hegel drückt das meines Wissens so aus: Fichtes Philosophie wird eigentlich nur immer, sie ist nie. Es war zwar die Absicht Fichtes, den unendlichen Prozeß der Reflexion im vollendeten Selbstbewußtsein zum Abschluß zu bringen, und den unendlichen Prozeß, wenn ich ihn recht verstehe, nur für das praktische Handeln gelten zu lassen. Aber es ist nicht zu bestreiten, daß die Unendlichkeit der Reflexion bei Fichte angelegt ist und insofern ist die von Ihnen hervorgehobene Kritik Hegels gerechtfertigt. Müller-Lauter: Die ihren wesentlichen Anhalt im dritten Buch der Bestimmung des Menschen findet. Noch eine Bemerkung dazu. Sie betrifft die Aufnahme des Ich-Begriffs Fichtes als schöpferisches Ich, die gerade im ,Fichtisieren' zum Zuge kommt. Es ist ja in der Tat das besondere Geschick der ersten Fichte-Rezeption gewesen, daß man das absolute Ich Fichtes als die .Absolutheit eines empirischen Ichs aufgefaßt hat und insofern Subjektivität des Schöpfertums mit dieser Vorstellung der Absolutheit eines empirischen Ich verknüpfen konnte. Während Fichte selbst schon kurz nach dem Erscheinen der ersten Fassung der Wissenschaftslehre zum Beispiel in einem Brief von 1795 an Jacobi deutlich gemacht hat: das ist gar nicht das empirische Ich, wovon ich spreche, sondern wenn man da schon einen entsprechenden Begriff suche, dann könne man unter bestimmten Voraussetzungen den Gottes dafür einsetzen. Jacobi hat sich bekanntlich davon nicht beeindrucken lassen und hat 1799 in seinem bekannten Sendschreiben dann den Begriff des Nihilismus aufgenommen, und ihn gegen Fichte gewendet. Von daher ist er später auch auf die romantische Literatur angewandt worden. Behler: Die Frage lautet wohl: Haben die Frühromantiker das absolute Ich Fichtes mit dem empirischen Ich verwechselt ? Oder wie Heine es satirisch ausdrückt: der große Haufen dachte, das Ich, das da philosophiert, „sei das Ich von Johann Gottlieb Fichte", wobei sich die Frauen fragten: „Glaubt er
Diskussion
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nicht wenigstens an die Existenz seiner Frau?" Ich glaube, die Frühromantiker kann man von diesem Vorwurf der Verwechslung des absoluten und des empirischen Ich freisprechen. Wie läßt sich dies aber damit in Einklang bringen, daß bei den Frühromantikern sich doch Iche ironisch betätigen und unendlich reflektieren? Sie verstanden sich dabei als Teile eines größeren Ganzen, in dem jedes Ich nur ein Bruchstück von einem großen Ich darstellt, und dieses große Ich als das Ich der Menschheit aufgefaßt wurde. Wenn Sie vorhin das absolute Ich mit dem Begriff Gott in Beziehung brachten, dann drückt Schlegel dies so aus: in der Idee der Menschheit ist Gott Mensch geworden. Es handelt sich hierbei um einen Humanitätspantheismus. In vielen Fragmenten sagen Schlegel wie auch Novalis: ich bin nur ein Stück von mir selbst, also ein Bruchstück aus dieser umfassenden Konzeption der Menschheit. Sie sahen sich an der Schwelle eines neuen Zeitalters stehen, das sie heraufführen wollten, in der die Menschheit vollkommen zu ihrer Autonomie gelangt. Mit einem Wort waren die Romantiker der Auffassung, daß das einzelne Ich relativ aufzufassen ist gegenüber dem umfassenden Gesamtich der Humanität. Ulmer: Sie sagten, daß die positive Einstellung zum Dionysischen im Grunde schon ,modern' gewesen ist zu Schlegels Zeit und daß sie ihre Wurzel in dem von Kant in der Kritik der Urteilskraft entwickelten Begriff des Erhabenen hatte. N u n ist Kants Verständnis des Erhabenen zweifellos aus einer Negation der gesamten sinnlichen Welt erwachsen, die ihrerseits ihren Grund in seiner ursprünglichen Erfahrung der menschlichen Freiheit und deren Verhältnis zum Unbedingten hatte. Dagegen gründet die positive Beurteilung des Dionysischen sowohl bei Schlegel wie vor allem auch bei Nietzsche in einer ganz anderen Haltung. Bei Nietzsche ist die Bejahung dieser Welt, des Sinnlichen, gerade das Positive, während für Kant die positive Erfahrung des Erhabenen darin bestand, daß der Mensch sich über die gesamte sinnliche Welt erhoben fühlte. Behler: Ja, ich weiß, daß sich im Kantischen Begriff des Erhabenen ein negatives Verhältnis zur Natur bekundet, das überhaupt charakteristisch für Kant ist. Diese Gegensetzung von Freiheit und Natur läßt sich beim ganz frühen Schlegel, ebenso wie bei Schiller, auch feststellen. Ich glaube aber, daß Schlegel schon 1795/97 mit seiner Schrift Über das Studium der griechischen Poesie den Durchbruch zu einem neuen pantheistischen Naturgefühl vollzieht, welches seinen höchsten Ausdruck dann in Schellings Idealrealismus und in der Identitätsphilosophie findet. Aber nicht nur darin unterscheidet sich die romantische Ausdeutung des Begriffs des Erhabenen von der Kants. Wie bekannt, beschränkte Kant die Erfahrung des Erhabenen auf die Natur; sie
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auf die Kunst zu beziehen, lehnte er ab. Aber eben dies taten zuerst Schiller und dann, im Anschluß an ihn, die Brüder Schlegel, indem sie einfach Kants Ausführungen über den Eindruck des Erhabenen auf den Menschen in ihrer Deutung der Tragödie paraphrasierten. August Wilhelm Schlegel hat Kant dann sogar vorgeworfen, daß er seine große Entdeckung des Erhabenen verspielt habe, indem er sie auf die Natur begrenzte und nicht auf das Gebiet anwandte, wo sie am fruchtbarsten war, nämlich auf die Tragödie. Ulmer: Ich gehe noch einmal von der Frage nach der unendlichen Reflexion aus. Sie sind der Meinung, daß auch Nietzsche diese Reflexion, wenn auch in besonderer Weise, in seinem Werk vollzogen hat. Sie führten Nietzsches Zaratbustra an. Dort habe er sich gleichsam zum Mythischen gewandt, später aber habe er wieder den negativen Teil seiner Aufgabe auf sich genommen, nämlich die psychologische Reflexion der Aufdeckung der Wurzeln der bisherigen Ideale. Stimmt das aber mit dem Sachgehalt überein? Trotz seiner Form ist der Zaratbustra durchaus ein Reflexionswerk, in dem Nietzsche das darstellt, worauf es ihm eigentlich ankommt. Und umgekehrt erschöpfen sich die späteren Schriften nicht in der Negation. Nietzsche geht in ihnen in seinen Aussagen über das Leben und über die Grundlagen der Werte durchaus über seine Position im Zaratbustra hinaus. Ich sehe den Einschnitt also in der Form, in der Sache würde ich ihn aber nicht so beurteilen wie Sie. Behler: Nehmen wir das Thema des Zusammenhanges von Lust und Schmerz. Das läßt sich natürlich reflexiv behandeln. Zum Beispiel in der Kritik des theoretischen Optimismus oder an anderen Stellen, die wir aus Nietzsches Werk heranziehen können. Aber vergleichen wir damit die folgende Passage aus ZaratbustraIV: „Sagtet ihr jemals Ja zu Einer Lust? Oh, meine Freunde, so sagtet ihr Ja auch zu allem Wehe. Alle Dinge sind verkettet, verfädelt, verliebt — wolltet ihr jemals Ein Mal Zwei Mal, spracht ihr Jemals ,du gefällst mir, Glück! Husch! Augenblick!' so wolltet ihr Alles zurück! — Alles von neuem, Alles ewig, Alles verkettet, verfädelt, verliebt, Oh so liebtet ihr die Welt — Ihr Ewigen, liebt sie auf ewig und allezeit: und auch zum Weh sprecht ihr: vergeh, aber komm zurück! Denn alle Lust will — Ewigkeit!" Das ist doch offensichtlich etwas ganz anderes, ist nicht mehr Reflexionsstil. Ulmer: Da sind wir uns einig. Der Gedanke selbst aber ist nicht anders, als er sonst in der Weise der Reflexion ausgesprochen wird. Behler: Ich wollte auch eine Parallele aufweisen zwischen dem Mythenschaffen des Zaratbustra — wenn man es so nennen darf — und dem romantischen Suchen nach einer neuen Mythologie.
Diskussion
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Ulmer: Würden Sie den Zarathustra als Versuch deuten, einen Mythos zu schaffen? Da bin ich mir nicht ganz im klaren: ich glaube, es ist mehr eine Frage der Form der Mitteilung, des Ansprechens der Menschen. Gründer: Wenn es kein Mythos ist, den Nietzsche mit dem Zarathustra hat schaffen wollen, was ist es dann? Jedenfalls hat der Zarathustra als ein Mythos oder als ein Quasi-Mythos gewirkt — z.B. auf Paul Mongre (hinter welchem Pseudonym sich übrigens der Mathematiker Felix Hansdorff verbirgt, der Erfinder der Mengenlehre). Kaufmann: Nimmt man den Terminus ,Mythos' im strengen Sinn, dann handelt es sich bei dem Zarathustra ganz gewiß nicht um einen Mythos. Im Zarathustra steht das Kritische, das Negative, darüber hinaus das Karikierende, das Parodistische ganz stark im Vordergrund. Wenn man sagt, daß man im Zarathustra Mythisches findet, dann könnte man ebensogut und mit mehr Recht sagen: der ganze vierte Teil des Zarathustra ist ein /Iwnmythos, in dem der Mythos selbst, soweit es sich um einen handelt, lächerlich gemacht wird. Ich glaube gar nicht, daß ich mit Ihnen, Herr Behler, darin ernstlich nicht übereinstimme. Nun aber zu etwas anderem: Ich habe zwei Fragen an Sie. Erstens: Stimmen Sie mir zu, daß es sich bei manchem, was Nietzsche mit Friedrich Schlegel gemeinsam hat, um Schwächen handelt? Zum Beispiel bei der negativen Einschätzung des Euripides. Da macht Nietzsche — leider — etwas nach, womit schon Schlegel Karriere gemacht und wogegen sich Goethe sehr stark ausgesprochen hatte. Die andere Frage ist die, ob Sie vielleicht auch zustimmen würden, daß doch bei Schlegel und bei Novalis, die Sie beide viel besser kennen als ich, es nicht zu einer so einheitlichen Philosophie gekommen ist, wie es meiner Ansicht nach — und hier stimmen vielleicht nicht alle Herren im Raum mit mir überein — bei Nietzsche der Fall ist, bei dem schließlich eine Spätphilosophie herauskommt, die sehr zusammenhängt, viel mehr als das bei Fr. Schlegel und Novalis der Fall ist. Behler: Ich stimme in beiden Fragen mit Ihnen überein und möchte diese Gedanken noch etwas ausführen. Zunächst zur negativen Einschätzung des Euripides. Sie ist ein nachhaltiges romantisches Vorurteil geworden und hat die Erforschung der klassischen Literatur, insbesondere der klassischen Tragödie, lange beeinträchtigt. Es ist überraschend, wie sie sich fortgepflanzt hat. Und das ist nicht das einzige, was hier bedenklich ist. Die Tragödienauffassung, wie sie der frühe Friedrich Schlegel in bezug auf die klassische Tragödie entwickelt hat, läßt sich durchaus nicht auf alle alten Tragödien anwenden. Darüber hinaus operieren Schlegel wie Nietzsche auch in bezug auf die mo-
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derne Tragödie mit einer Schablone, indem da Hamlet als Prototyp, als Gipfel der Verzweiflung herausgegriffen wird. Dies ist eine Typologisierung der modernen Tragödie, die sich sofort als unzureichend erweist, wenn sich die Einzelfälle nicht mehr auf sie beziehen lassen. Nun zu der Frage, ob Friedrich Schlegel und Novalis eine einheitliche Philosophie wie Friedrich Nietzsche entwickelt haben. Novalis starb bekanntlich 1801. Bei ihm zeigen sich nur die Ansätze zu einer sich reflexiv aufbauenden und herausbildenden Philosophie. Bei Friedrich Schlegel findet diese Denkmethode 1802 mit seiner Übersiedlung nach Paris ihr Ende. Damals sagte er der Ironie und seinem Publikum ein „kritisches Lebewohl" und wollte sich von nun an der Geschichte, der Literaturgeschichte und Kritik der Philosophie widmen; vier Jahre später war er auf dem Weg zum Katholizismus. Dann hat er freilich eine sehr ausgeführte, voluminöse Philosophie entwickelt, aber diese ist grundlegend verschieden von dem, was er in seiner früheren Zeit gewollt hatte. Heller: Ich habe drei Fragen. Erstens: Wurde das ,Element* Schleiermacher erwähnt, das habe ich nicht so richtig gehört? Mir scheint Schleiermacher zur Frühromantik zu gehören. Der spätere Nietzsche, der ,tougher' — härter — wird, sagt: die Philosophen (und nicht nur die Theologen) sind alle Schleier-Macher. Da schwingt die Ablehnung der etwas undezidierten Stellung in Sachen der Religion mit, die die Romantiker ja mit unseren Klassikern teilen. Und von daher ist vielleicht verständlich, daß Nietzsche, auch schon der frühe Nietzsche, in seinem dezidierten Schopenhauerischen Atheismus sich nicht mit den Romantikern verwechseln lassen will, weil die eigentlich alle noch eine Quasireligiosität, einen Pantheismus, vertreten, — jedenfalls keine Atheisten sind. Zum anderen, was mich immer wieder wundert, ist das Verschweigen Friedrich Schlegels durch Nietzsche, den er doch sehr gut gekannt haben muß, von dem er doch viel — ich will nicht sagen gestohlen, aber doch entlehnt und gewiß auch bewußt entlehnt hat. Es wundert mich, wie gesagt, daß er Friedrich Schlegel keinen Kredit zu geben scheint. Außerdem hätte ich auch noch gern gewußt, ob es irgendeine bewußte Bezugnahme Nietzsches zu der hermeneutischen Tradition F.A.Wolfs gegeben hat, jener Methodik des Verstehens von Texten, die ja auch eine ,Erfindung', eine Leistung der Romantik ist. Behler: Zunächst einmal zu Schleiermacher. Hier habe ich mein Manuskript für den Vortrag gekürzt. In meinem Manuskript steht über Schleiermacher: „mit dessen Stellung in der protestantischen Theologie Nietzsche vertraut war. Wenn sich Nietzsche aber gelegentlich gegen Schleiermacher
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wendet und diesen als ,Schleier-Macher' verulkt, dann richtet er sich nicht gegen den jungen Mitarbeiter des Athenäums und den Autor der Reden über die Religion, sondern den späten Theologen der Glaubenslehre." Der junge Autor der Reden Uber die Religion leugnet nicht nur die Transzendenz, sondern auch die Persönlichkeit Gottes. Das Werk ist stark spinozistisch gefärbt und hat dem jungen Theologen enorme Schwierigkeiten mit seinen Kirchenbehörden eingebracht. Wenn Sie die erste Auflage mit der späteren , orthodoxeren' Auflage der Reden über die Religion vergleichen, dann bemerken Sie deutlich, daß beträchtliche Unterschiede bestehen. Ich glaube also, daß Nietzsche von dieser frühen Position Schleiermachers entweder nichts gewußt hat oder sich nicht darauf bezieht. Zum Verschweigen Friedrich Schlegels: Nietzsche hat ihm keinen Kredit gegeben, sagen Sie. Ich weiß nicht, ob er das mußte. Ich habe wirklich nicht den geringsten Hinweis darauf, und ich warte natürlich mit Spannung auf das Erscheinen der vollständigen Nachlaßbände, um festzustellen, ob in Nietzsches Aufzeichnungen etwas über Fr. Schlegel vorhanden ist. Das einzige, was ich anführen konnte, waren Hinweise der Editoren der Musarion-Ausgabe und Vorarbeiten zur Geburt der Tragödie, die bisher nicht veröffentlicht worden sind. Die Editoren sagen, Nietzsche hätte sich ausführliche Auszüge aus Schlegels Schriften gemacht und auch den Aphorismus zitiert, jeder habe noch im Altertum gefunden, was er suchte und wollte, vorzüglich sich selbst. Ich weiß wirklich nicht, ob es sich bei den sonstigen Ubereinstimmungen um Parallelen handelt, die aus der Geistesverwandtschaft herrühren, ob hier sozusagen etwas in der Luft gelegen hat, oder ob Nietzsche als junger Schüler in Schulpforte von Koberstein so gut in das Denken Schlegels eingeführt wurde, daß er ihn gar nicht mehr zu lesen brauchte. Gründer:
Koberstein war ein Freund von Tieck.
Behler: Ich habe es im Vortrag nicht erwähnt, weil ich es nur aus zweiter Hand habe, daß sich Nietzsche das 1870 erschienene Buch Die romantische Schule von R. Haym ausgeliehen hat und daraus den Begriff des Bildungsphilisters entnahm, der von Tieck geprägt worden sein soll. Das habe ich hier auch nicht vorgetragen, weil der Begriff des Bildungsphilisters meiner Ansicht nach schon bei Goethe nachweisbar ist. Nun zur hermeneutischen Tradition: Da fällt mir direkt die gleichartige Hochschätzung F. A.Wolfs durch Friedrich Schlegel und Nietzsche ein. F.A. Wolf war vielleicht der von Schlegel am meisten bewunderte kritische Philologe seiner Zeit. Nun hat Wolf in seiner Homeruntersuchung bekanntlich die Individualität, die Persönlichkeit Homers aufgehoben. Wenn Sie sich die Nietzscheschen Auffassungen über Homer ansehen, stellen Sie fest, daß er
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ebenfalls von Anerkennung für Wolfs Homerdeutung erfüllt ist und darin eine gewaltige Tat der Philologie erblickte. Pestalozzi: Noch etwas zu der Diskussion ,Zarathustra: Reflexion oder Mythos'. Sie haben sehr schön die Beziehung Nietzsches zur frühromantischen Ironiereflexion herausgestellt. Nun steht in der Frühromantik neben der Reflexion das Gefühl; und die Lyrik — der Ausdruck jetzt im weitesten Sinne genommen —, hat die Funktion der Evokation des Ziels, auf das sich dann die unendliche Reflexion zubewegt. Nun scheint mir, der Zarathustra reflektiere einerseits durchaus auf die Reflexion, indem in ihm das Reden einer Figur anvertraut wird. Zugleich aber wird im Zarathustra die Reflexion lyrisiert. Es ist die Frage, ob die Funktion dieser Lyrik dieselbe ist wie bei den Frühromantikern. Ich würde meinen, sie stehe im Zarathustra in Zusammenhang mit der Reflexion nun auch auf das Reflektieren. Bei den Frühromantikern ist die Reflexion etwas Autonomes, bei Nietzsche wird im Zarathustra dagegen die Autonomie der Reflexion bestritten, indem sie in Abhängigkeit vom Leib gesehen wird. So wird etwa in Von den Verächtern des Leibes die große Vernunft des Leibes der kleinen Vernunft des ,Geistes' entgegengesetzt. Die Reflexion wird reduziert auf eine Funktion des Leibes, und die Lyrisierung hat nun, wie ich meine, im Zarathustra die Bedeutung einer Sprache des „Leibes". Es handelt sich mehr um ein Hintereinander: die Lyrik evoziert nicht wie bei den Frühromantikern das Ziel, auf das die Reflexion zugeht, sondern im Zarathustra evoziert die Lyrik den Bereich, der gewissermaßen ,unter' der Reflexion liegt und sich ihrer bedient. Behler: Wenn ich Sie recht verstehe, ist die romantische Lyrik in ihrer evokativen Tendenz auf ein Ziel hingerichtet und damit immer noch im Bereich der als absolut aufgefaßten Reflexion. Das scheint mir eine einleuchtende Interpretation zu sein, obwohl ich das nie so gesehen habe. Könnten wir konkrete Beispiele anführen? Denken Sie an die Hymnen an die Nacht? Pestalozzi: An die Hymnen an die Nacht, oder auch an gewisse lyrische Partien in der Lucinde, oder auch an die Reflexionskomödien von Tieck. Behler: Ihre Beispiele sind in der Tat überzeugend und ich stimme Ihren Bemerkungen zu. Janz: Wir befinden uns in einer gewissen Aporie bezüglich der formalen Einordnung des Zarathustra. Wir befinden uns damit in der guten Gesellschaft des Autors selber, der die Frage stellte: wohin gehört dieser Zarathustra eigentlich? Wir hören darauf auch von ihm: der Zarathustra sei eine
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Symphonie. In diesem Zusammenhang wäre natürlich sein Symphoniebegriff zu klären. Es kann nicht der Begriff der klassischen Symphonie sein. Oberflächlich gesehen hat der Zarathustra eine langsame Einleitung, und die vier Hauptteile könnte man den vier Sätzen der klassischen Symphonie analog setzen: Aber Nietzsche gebraucht den Hinweis auf die Symphonie bereits nach Vollendung des ersten Teils, dann wiederholt er ihn sehr energisch nach dem dritten Teil, nach dem vierten Teil dagegen nicht mehr. Es kann sich also nicht auf das Formschema der klassischen viersätzigen Symphonie beziehen. Bei detaillierter Betrachtung des Zarathustra kann man die Spuren des Aufbaus einer musikalischen Architektur von zwei Themen verfolgen: Exposition, Thema eins: ,Ubermensch', Thema zwei: ,Ewige Wiederkunft', die gegeneinander durchgeführt werden. Im Formaufbau sehen wir das Prinzip der wachsenden Glieder angewandt. Teil für Teil nimmt zu, in der Erstausgabe genau um 16 Seiten, also jeweils um einen Bogen, genau berechnet nehmen dementsprechend auch die einzelnen Redepartien zu. Die Redepartien der einzelnen Teile stehen in schönen Proportionen, wie wir sie zum Beispiel bei Analysen von Bachschen Werken auffinden können. Ich möchte hier auf die enorme musikalische Komponente bei Nietzsche nur hinweisen: wie er beim Bau seiner Werke sehr oft in einem Maße in musikalischen Formen denkt, daß man nur als Musikwissenschaftler seine Werke analysieren kann. Das Symphonische soll bei Nietzsche in künstlerischer Form etwas ausdrücken, das rational nicht mehr faßbar ist. Er sagt von der Musik, daß sie da eintreten möge, w o das W o r t des Philosophen nicht mehr hinreicht. Da setzt er selber die Musik ein, und in diesem Sinne, so glaube ich, sind zum Teil auch Ausdrucksweise und Bau seines Zarathustra zu verstehen. Es geht Nietzsche dabei darum, Dinge ahnbar oder erlebbar zu machen, für die er die Form des Wortes nicht mehr fand. Zarathustra ist nicht der einzige Fall, wo Nietzsche zu künstlerischer Gestaltung greift, weil er mit einem Problem nicht fertig wird. D e r erste signifikante Fall ist seine symphonische Dichtung Ermanarich: Er hat in Schulpforte die Aufgabe, über den alten Gotenkönig Ermanarich eine historische Ausarbeitung zu machen. Und da stellt er zuerst eine Komposition her und sagt dazu, er habe das Thema erst in Musik fassen müssen, weil er noch nicht einmal zum Gedicht, noch nicht einmal zur dramatischen Form die Distanz hatte. Erst danach kommt ein Gedicht, und dann kommt die Schularbeit — das ist leider später von seiner Schwester umgekehrt dargestellt worden. Die ganze Problematik um Ariadne, die er immer wieder versucht, in künstlerische F o r m zu fassen, gehört auch hierher.
Heller: Musizieren mit Gedanken — der Ausdruck ist von Novalis —, das ist ein Genre, das Nietzsche mit Novalis teilt, und das er im größten Stil
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entwickelt. Wir finden auch hier eine Gemeinsamkeit zwischen den Frühromantikern und Nietzsche. Djuric: Mir scheint, daß Sie, Herr Behler, Nietzsche allzusehr mit einer prophetischen, messianischen Haltung in Verbindung bringen, daß Sie sein Denken zu stark auf die Hoffnung auf die Zukunft hin ausrichten und daß Sie auf diese Weise eine andere Orientierung seines Denkens beiseite lassen, in der Nietzsche sich aus dieser Grundkonzeption der Neuzeit, also nicht nur der Frühromantik, herausziehen will und in der er versucht, die Lebensfülle in der Gegenwart zu verankern. Obwohl es viele Stellen bei Nietzsche gibt, in denen er jene Hoffnungsphilosophie weitertreibt und sich zu ihr bekennt, so meine ich doch, daß er an diesen Stellen eigentlich sich selbst nicht recht verstanden hat. Wesentlicher für Nietzsche sind andere Motive, denken wir nur an die dritte Verwandlung des Geistes, um ein Beispiel zu nennen. Behler: Ich glaube, ich habe die messianische, prophetische oder futuristische Haltung Nietzsches sehr vorsichtig zum Ausdruck gebracht. Sie erinnern sich vielleicht daran, daß ich meinen Abschluß in rhetorische Fragen gekleidet habe. Dadurch ist meiner Ansicht nach eine Uberbetonung des zukunftsbezogenen Denkens Nietzsches vermieden worden. Um aber nun ohne Fragezeichen zu sprechen, so glaube ich, daß die Zukunftsbezogenheit ein wesentliches Element in seinem Denken ist. Denken Sie daran, daß das Werk Jenseits von Gut und Böse den Untertitel trägt: Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Die abschließenden Aphorismen des zweiten Hauptstücks Der freie Geist wenden sich ständig an, plädieren für, flehen beinahe um den Philosophen der Zukunft. Dies alles ließe sich als weitere Parallelen zwischen den Romantikern und Friedrich Nietzsche anführen.
EUGEN BISER
DIE REISE U N D DIE R U H E N I E T Z S C H E S V E R H Ä L T N I S ZU K L E I S T U N D H Ö L D E R L I N Nietzsche im Vergleich Im gnostischen Thomas-Evangelium fordert Jesus die Jünger in Logion 13, einer bemerkenswerten Parallele zur kanonischen Cäsarea-Philippi-Szene, auf: Vergleicht mich, und sagt mir, wem ich gleiche!
Im Unterschied zum kanonischen Bericht klingen die Antworten verallgemeinernd, abstrakt: Simon Petrus antwortete: D u gleichst einem gerechten Engel, Matthäus: D u gleichst einem weisen Philosophen!
Demgegenüber nennen im kanonischen Bericht die Jünger, die damit die im Volk umlaufenden Meinungen referieren, konkrete Namen: D a sagten sie zu i h m : Einige halten dich für Johannes den Täufer, andere für Elia, einige weitere für Jeremía oder einen der (alten) Propheten (Mt 16,14parr)!
Ohne jede andere Aufforderung als diejenige aus dem ,Geheiß' der Sache verfuhr die Nietzsche-Forschung seit langem ebenso, nachdem Theobald Ziegler in einem zwei Jahre vor Nietzsches Tod veröffentlichten Beitrag über ,Hölderlin und Nietzsche' die Frage stellte: W a s haben die beiden miteinander zu tun, der lyrische Dichter von 1798 und der Modephilosoph von heute? 1
Und Ziegler verweist auch schon auf den Grund, der zu immer neuen ,Vergleichen' Anlaß gab, wenn er das Recht seiner Zuordnung von Nietzsche und Hölderlin aus ihrem „gleichartig tragischem Schicksal" herleitet: Beides hoch begabte geniale Menschen, die der Welt etwas zu sagen wußten und ihr vieles auch bereits gesagt hatten, — da k o m m t , nicht plötzlich, sondern langsam wie ein tückischer Feind sie beschleichend, die N a c h t des Wahnsinns über sie, und das Instrument, auf dem sie virtuos ihre Weisen gespielt, ist zerbrochen, sie überleben sich selber in traurig unheil1
E. Salzer (Hrsg.), Hie gut Württemberg allewege! Ein literarisches Jahrbuch aus Schwaben /, Heilbronn 1898, 2 3 - 4 4 .
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Eugen Biser barer Umnachtung. A b e r bei keinem ein ganz scharfer und deutlich erkennbarer Trennungsstrich zwischen den Perioden der Gesundheit und der Krankheit, sondern frühe schon wirft das Kommende seine Schatten voraus und gibt dem, was sie schaffen, da und dort schon einen Stich ins Krankhafte, Krasse und Verzerrte 2 .
Aus dieser „vorläufigen Antwort" entwickelt er in der Folge dann die vollgültige, die in einem sorgfältigen Vergleich der beiden Lebens- und Denkstrukturen besteht. Damit ist das Modell gefunden, nach dem die übrigen Struktur-Vergleiche verfahren, gleichgültig, ob sie die wahrgenommene Korrespondenz im Bereich des Biographisch-Geistesgeschichtlichen oder im Feld literarischer Entwürfe ausarbeiten. Für die eine Spielart sei, abgesehen von den Versuchen Leon Sestovs und Franz Brentanos, Nietzsche als „Zwillingsbruder" Dostoevskijs vorzustellen3 oder gar als eine Karikatur Jesu auszugeben4, die geistvolle Gegenüberstellung Nietzsches mit Kierkegaard genannt, die Karl Jaspers zu Eingang seiner Vorlesungsreihe Vernunft und Existenz (von 1935) vortrug 5 . Für die zweite Spielform sei auf die beiden Dichtungen verwiesen, die Nietzsche einmal — und zwar schon in seinem Todesjahr (1900) — mit dem Antichrist und dann, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem deutschen Verhängnis gleichsetzen. Das eine geschieht in Vladimir Solov'evs Kurze Erzählung vom Antichrist (von 1900) 6 , das andere in Thomas Manns Doktor Faustus (von 1947)7. So bestechend und ergiebig sich diese Vergleiche gestalten, liegt ihnen doch, wie schon den Jüngerreaktionen auf die Aufforderung Jesu, eine fatale Unentschiedenheit in der Identitätsfrage zugrunde. Denn wo bleibt das individuelle Gesicht Nietzsches, wenn es in seiner Eigenkontur erst aufgrund einer Gegenspiegelung in der Physiognomie eines andern vollgültig bestimmt werden kann? Und wie steht es um seine Identität, wenn dafür so gegensätzliche Bezugsfiguren wie Hölderlin und Kierkegaard in Betracht kommen? Auch dafür entwickelt schon Theobald Ziegler ein wenn auch noch so diffuses Bewußtsein, wenn er das Recht seines Vergleichs aus dem „gleich2 3 4
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A. a. O., 23. L. Schestow, Dostojewskij und Nietzsche. Philosophie der Tragödie, Köln 1924. F. Brentano, Nietzsche als Nachahmer Jesu, in: Die Lehre Jesu und ihre bleibende Bedeutung, hrsg. von Alfred Kastil, Leipzig 1922, 129-131. K.Jaspers, Vernunft und Existenz, München 1960, 12—41. Solov'evs Dichtung, die als Schlußstück seiner Drei Gespräche erschien, ging sein Aufsatz Die Idee des Übermenschen (von 1899) und seine Lermontov-Rezension (aus dem gleichen Jahr) voran. Dazu L. Müller, Wladimir Solowjew, Übermensch und Antichrist. Über das Ende der Weltgeschichte, Freiburg/Br. 1958; ferner meine Gegenüberstellung Nietzsches mit Solov'ev, in: Gott ist tot. Nietzsches Destruktion des christlichen Bewußtseins, München 1962, 267f. Dazu außer Manns eigenen Hinweisen in Die Entstehung des Doktor Faustus (von 1947) P. Pütz, Thomas Mann und Nietzsche, in: Nietzsche, Werk und Wirkungen, hrsg. von Hans Steffen, Göttingen 1974, 9 1 - 1 1 4 .
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D i e Reise und die Ruhe
artig tragischen Schicksal" herleitet, das Nietzsche mit Hölderlin verbindet. Was für beide jeweils in der „Nacht des Wahnsinns" endet, beginnt aber zweifellos in einer viel früheren und problematischeren Gemeinsamkeit. Und diese besteht zumindest für Nietzsche, mit Karl Löwith gesprochen, in der ,Doppeldeutigkeit' seiner philosophischen Existenz, die ihn ebenso von „Heute und Ehedem" wie von „Morgen und Ubermorgen und Einstmals" sein läßt 8 . Diese Feststellung des Interpreten kann sich auf eine vollgültige Entsprechung im Selbstverständnis des Interpretierten berufen, der in einer Nachlaß-Auf Zeichnung von sich sagt: In dem, was Zarathustra, Moses, Muhammed, Jesus, Plato, Brutus, Spinoza, Mirabeau bewegte, lebe ich auch schon, und in manchen Dingen kommt in mir erst reif ans Tageslicht, was embryonisch ein paar Jahrtausende brauchte 9 .
Auf wahnhaft übersteigerte Weise kommt diese Verwischung der eigenen Identität ins weltgeschichtlich Vieldeutige schließlich im Brief des Umnachteten an Jacob Burckhardt (vom 5. 1. 1889) zum Ausdruck: Was unangenehm ist und meiner Bescheidenheit zusetzt, ist, daß im Grund jeder Name in der Geschichte ich bin; auch mit den Kindern, die ich in die Welt gesetzt habe, steht es so, daß ich mit einigem Mißtrauen erwäge, ob nicht Alle, die in das ,Reich Gottes' kommen, auch aus Gott kommen 1 0 .
Biographische
Erschließung
Auf der Grenze zu andern Erschließungswegen bewegt sich der kühnste Vergleich, in welchen Nietzsche jemals gezogen wurde. Er entstammt dem Alterswerk Franz Brentanos und skizziert Nietzsche „als Nachahmer Jesu". D e r Eingangssatz erinnert unmittelbar an denjenigen von Zieglers Gegenüberstellung: Darf man Nietzsche und Jesus in einem Atem nennen, eine belletristisch schillernde Eintagsfliege und einen Religionsstifter, der mächtig wie kein anderer in die Geschichte der Menschheit eingegriffen hat? 1 1
Auch hier erscheint die Gemeinsamkeit des in die Umnachtung ausmündenden Schicksals als das insgeheim zugrundegelegte Interpretament, doch so, daß es nunmehr gegen den Verglichenen ausgespielt und zur Widerlegung 8
K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Jahrhunderts, Stuttgart 1941, 208.
9
K T A 10, § 1116. D e r Brief veranlaßte bekanntlich Franz Overbeck, unverzüglich nach Turin zu reisen, um den F r e u n d vor der Einlieferung in eine italienische Irrenanstalt zu bewahren. Dazu E . F .
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Der revolutionäre
Bruch im Denken des
Podach, Nietzsches Zusammenbruch. Beiträge zu einer Biographie auf Grund lichter Dokumente, Heidelberg 1930, lOOff. F. Brentano, Die Lehre Jesu, 129.
neunzehnten
unveröffent-
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Eugen Biser
seiner Lehre verwendet wird. Zwar will nach der Uberzeugung Brentanos auch Nietzsche Prophet sein wie Jesus; doch gerät ihm alles zur Karikatur; denn w e n n das W o r t Jesu, daß seine Kirche einem Senfkörnlein gleiche, das zum mächtigen Baum erwachsen den Vögeln des Himmels unter seinen Zweigen W o h n u n g gibt, zur Wahrheit geworden ist, so hat es sich f ü r Nietzsche gefügt, daß seine Lehre von der Mitleidlosigkeit des Übermenschen schon in kürzester Frist drastisch widerlegt war, indem er selbst, wie kaum ein anderer, auf das Mitleid sich angewiesen sah, und das weibliche Geschlecht, auf das er immer mit Verachtung herabgeblickt, es war, welches in liebevollster Pflege des von seinem göttlichen Thron in den tiefsten Abgrund Gestürzten sich erbarmte 1 2 .
Demgegenüber unternimmt Hans M. Wolff den entschiedenen Versuch, Nietzsche aus seiner eigenen, wenngleich schwankenden Identität zu begreifen 1 3 . Berechtigt sieht er sich dazu durch einen Satz der Morgenröte, in welchem sich Nietzsche im Blick auf Kant und Schopenhauer die Alternative zu seiner eigenen Denkstruktur vor Augen hält. Und das ist die ihm denkbar fernliegende Form des Philosophierens, in welcher es „keinen Roman" zu erzählen, „keine Krisen, Katastrophen und Todesstunden zu erraten" gibt, weil in diesen Fällen die Denkwelt keinen Einblick in die „Biographie einer Seele" verstattet (§481). Indem er Nietzsche zum ausgesprochenen Gegentyp dessen erklärt, bei welchem das Denken die Auslegung des eigenen Lebens und das Leben die Gegenprobe des Denkens bildet, bezeichnet Wolff es umgekehrt als das Thema seiner Untersuchung: „Nietzsches Denken als unwillkürliche Biographie seiner Seele' zu verstehen und die leidenschaftliche Seelen-Geschichte' seiner Entwicklung nachzuzeichnen" 14 . Angesichts der prekären Identitätsfrage, die Nietzsche schon vergleichsweise früh (1883) mit Erstaunen von der „ungewollten Gedanken-Kongruenz in der buntgeschichteten Masse" seiner Schriften reden 15 und kurz vor Ausbruch der Krise „mit einigem Mißtrauen" seine Hand betrachten läßt 16 , der er es zutraut, „die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke zu zerbrechen" 17 , ist der von Wolff eingeschlagene Weg einer ,inneren Biographie' freilich nur unter der Voraussetzung gangbar, daß sich ungeachtet dieser Entfremdungs-Symptome wenigstens für Nietzsches Denkwelt durchgängige Einheitsstrukturen nachweisen lassen 18 .
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A. a. O., 132. H. M. Wolff, Friedrich Nietzsche. Der Weg zum Nichts, Bern 1956. A. a. O., 7. F. Würzbach, Das Vermächtnis Friedrich Nietzsches, Salzburg/Leipzig 1940, XXXIII. L. Zahn, Friedrich Nietzsche. Eine Lehenschronik, Düsseldorf 1950, 297. Brief an August Strindberg vom 7. Dezember 1888. Zum Begriff der .inneren Biographie' verweise ich auf mein Jesusbuch Der Helfer (München 1973), dem das gleiche Verfahren zugrundeliegt.
Die Reise und die Ruhe
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Es gehört zu den erstaunlichen Wahrnehmungen Lou Andreas-Salomés, daß sie schon vor Veröffentlichung von Ecce hcnno die Kontinuität der Problemstellungen Nietzsches bei allem Wandel der Perspektiven und Kategorien erkannte: B e t r a c h t e t m a n seine G e d a n k e n in i h r e m Wechsel u n d ihrer M a n n i g f a l t i g keit, d a n n erscheinen sie fast u n ü b e r s e h b a r u n d allzu k o m p l i z i e r t ; v e r s u c h t m a n h i n g e g e n aus ihnen h e r a u s z u s c h ä l e n , w a s sich i m Wechsel stets gleichb l e i b t , d a n n e r s t a u n t m a n ü b e r die Einfachheit u n d B e s t ä n d i g k e i t seiner Probleme19.
Weil L o u die Schriften des Philosophen im Bewußtsein der Unentflechtbarkeit von Denken und Leben als ein einziges ,Memoirenwerk' begreift, kann sie diese Feststellung freilich nicht ohne den kritischen Zusatz treffen, daß Nietzsche aufgrund seines inneren Zwiespalts (zumindest auf der biographischen Ebene) „das gerade Gegenteil des Angestrebten" erreicht: „ N i c h t eine höhere Einheit seines Wesens, sondern dessen innerste Zweiteilung, nicht den Zusammenschluß aller Regungen . . . zu einem einheitlichen Individuum, sondern ihre Spaltung zum ,Dividuum'." Indessen gesteht sie ihm z u : E s w a r i m m e r h i n eine G e s u n d h e i t erreicht, d o c h mit den Mitteln der K r a n k h e i t ; eine wirkliche A n b e t u n g , d o c h mit den Mitteln der T ä u s c h u n g ; eine w i r k l i c h e S e l b s t b e h a u p t u n g u n d S e l b s t e r h e b u n g , d o c h mit den Mitteln der Selbstverwundung20.
Wie Löwith in seiner Würdigung dieses Ansatzes bemerkt, ist Nietzsche damit eine zyklische Einheitsstruktur zugebilligt, die ihn am Ende „ z u seinem A u s g a n g " zurückkehren und damit den „Kreis seiner geistigen Existenz" schließen läßt. Wie in einem unvermuteten Durchblick zeichnet sich hier erstmals die Kontur des Wiederkunft-Gedankens ab. Doch ist seine Konsistenz zugleich so sehr in Frage gestellt, daß bestenfalls ein Anschein, um nicht zu sagen eine Vortäuschung von Einheit bleibt. Kaum daß ein tragfester Boden für die Ausarbeitung der „unwillkürlichen Biographie" gewonnen scheint, wird er somit auch schon wieder unter den Füßen weggezogen. Dann aber steht es um das von Wolff angewandte Verfahren nicht besser als um die letztlich in Aporien auslaufenden Vergleiche. Auch der Weg über die im Werk dokumentierte Biographie führt dann, mit dem Untertitel der Wölfischen Untersuchung gesprochen, „ z u m Nichts".
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L. Andreas-Salomé, Friedrieb Nietzsche in seinen Werken, Wien 1894, 7 4 f . ; femer K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart 1956, 200 ff. A. a. O . , 35.
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Die
Krisengemeinschaft
Was weder auf dem Weg des Vergleichs noch auf dem der inneren Biographie erreichbar ist, kommt schließlich durch eine einzigartige Konstellation zustande, die beide Möglichkeiten in sich vereint. Sie ergibt sich, formal gesprochen, aus jener Entsprechung Nietzsches, die ihn ebensosehr in einen neuen Vergleich zieht, wie sie ihn dem Leerlauf einer zyklischen Tautologie enthebt. U n d das ist seine Ähnlichkeitsbeziehung zu Heinrich von Kleist. Sie wurde Nietzsche allem Anschein nach nur als die Ähnlichkeit einer gleichen Krisenerfahrung bewußt und als solche erstmals von Ottokar Fischer herausgestellt 2 1 . Anders als der Vergleich Theobald Zieglers geht der von Fischer angestellte von einer positiven Beziehung der miteinander Verglichenen aus: Heinrich von Kleist und Friedrich Nietzsche gehören in die Reihe jener gefährlichen' Männer, die, aus dem Geist einer bewegten Zeit heraus geboren, sich doch ihrer Gegenwart entgegenwerfen; die den spitzigen Stachel gegen den eigenen Geist richten, um, als echte tragische Helden, an sich selber zu Grunde zu gehen. Wer von Heroismus und Pathos nicht viel wissen will, kann auf die beiden einen bösen Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches anwenden und behaupten, das Schicksal Kleists und Nietzsches lasse sich aus ihrer Ungeduld erklären: hätten sie hübsch zuwarten können, so wäre ihnen die Erfüllung jener Ideale beschieden gewesen, für die sie fielen. Denn die großen Unzeitgemäßen standen ihrer Zeit näher, als sie gelten lassen wollten: der Sieg der nationalen Idee im zweiten, der Siegeszug von Nietzsches Philosophie im letzten Dezennium des vorigen Jahrhunderts hat dies zur Genüge bewiesen22. Danach sieht Fischer Kleist wie Nietzsche der ,Magie des Extrems' verfallen, zwei Grenzgänger des Unerreichbaren, denen deswegen, wie Kleist von sich bekannte, „auf Erden nicht zu helfen w a r " 2 3 . Dieser Konvergenz in der H ö h e des Unerreichbaren entsprechen in der Sicht Fischers ,Berührungspunkte', die tiefer liegen als jene, die von Nietzsche selbst empfunden und, wie in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung, Schopenhauer als Erzieher betitelt (von 1874), als solche auch zugegeben wurden. Sie betreffen immerhin die Nietzsche tiefer, als ihm bewußt sein konnte, ,aus der Seele gesprochene' Feststellung der ,Ungeliebtheit', in welche Kleist gleich anderen ungewöhnlichen Menschen von der ihm feindlichen Gesellschaft hineingetrieben 21
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D a s eigentliche Verdienst, den Zusammenhang von Kleist und Nietzsche wahrgenommen zu haben, gebührt einer Frau, Helene Zimpel, die nach Art eines argumentum e silentio auf ihn stieß. D a sie in Nietzsches Geburt der Tragödie den Namen Kleist vermißte, glaubte sie in ihrer Kleist-Studie, die sie dem Begriff des Dionysischen unterstellte, umso nachdrücklicher auf Nietzsche hinweisen zu müssen: Kleist der Dionysische, in: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift 108 (1904) 1 8 7 - 2 1 4 . O . Fischer, Nietzsche und Kleist, in: Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum 27 (1911) 506-519. D a z u R . Schneider, Kleists Ende, München 1946, 7.
Die Reise und die Ruhe
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worden sei, und den für ihn, den insgeheim systemgläubigen Systemkritiker, nicht minder typischen Hinweis auf die geistige Krise, in welche Kleist durch seinen Umgang mit der idealistischen Philosophie geriet. Nietzsche zitiert die berühmte Briefstelle an Wilhelmine von Zenge, in der sich Kleist in seinem heiligsten Innern tief verwundet erklärt und resignierend versichert: „Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe keines mehr" 2 4 . Da Nietzsche auf diese Krise jedoch nur zum Ruhm Schopenhauers zu sprechen kommt und zudem noch von keiner Vorahnung seiner späteren Schicksalsgemeinschaft mit dem ,Ungeliebten' beschwert erscheint25, ist der Meinung Fischers zuzustimmen, daß „nach wesentlicheren Beziehungen zu Kleist" geforscht werden müsse 26 . Der von ihm vermuteten Grundbeziehung nähert sich Fischer über die Beobachtung von Nietzsches Geschichtshaß und seiner Polarisierung von Reflexion und Spontaneität an. Alles kommt darauf an, die durch das reflektierende ,Uberbewußtsein' (Buber) ertötete Spontaneität des Handelns für den Menschen zurückzugewinnen. Fischer bezieht sich zur Stützung seines Gedankens auf eine Nachlaß-Notiz vom Winter 1870/71, die auf den Hamlet-Passus der (1874 veröffentlichten) Geburt der Tragödie hinweist, jedoch von dessen ,dionysischem Pessimismus' noch unberührt ist. Nietzsche bemerkt dort: Die vollkommene Erkenntnis tötet das Handeln: ja wenn sie sich auf das Erkennen selbst bezieht, so tötet sie sich selbst. Man kann kein Glied rühren, wenn man vollkommen erst erkennen will, was zur Rührung eines Gliedes gehört. N u n ist die vollkommene Erkenntnis unmöglich und deshalb ist auch das Handeln möglich. Die Erkenntnis ist eine Schraube ohne E n d e : in jedem Moment, w o sie eingesetzt wird, beginnt eine Unendlichkeit: deshalb kann es nie zum Handeln kommen. — Dies gilt alles nur von der bewußten Erkenntnis. Ich sterbe, sobald ich die letzten Gründe eines Atemzuges nachweisen will, bevor ich ihn t u e 2 7 .
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Unzeitgemäße Betrachtungen, drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher, §3. Da Kleist in seinem Brief vom 22. März 1801 nur unbestimmt von der „neueren sogenannten Kantischen Philosophie" spricht, kam es bekanntlich zu einem Gelehrtenstreit über den konkreten Anlaß seiner Krise, die Ludwig Muth (wie im Prinzip auch Müller-Seidel) im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft vermutete, während Ernst Cassirer an eine Erschütterung durch die Fichtesche Philosophie dachte, so daß von einer ,Kant-Krise' nur im weitesten Sinn gesprochen werden konnte: Idee und Gestalt, Berlin 1924, 157—202; ferner G. Blöcker, Heinrich von Kleist oder Das absolute Ich, Berlin i960, 60f. Von Nietzsches Unfähigkeit, die von ihm aufgenommenen Verbindungen lebenslang aufrechtzuerhalten, handelt abschließend mein Beitrag Nietzsche und Dante. Ein werkbiographischer Strukturvergleich, in: Nietzsche-Studien 5, Berlin/New York 1976, 146-177. O . Fischer, a. a. O . , 509. K T A 10, §59. Vermutlich spielt Nietzsche damit auf die chinesische Fabel vom Tausendfüßler an, der, nach der Abfolge seiner Bewegungen befragt, kein Glied mehr zu rühren vermag.
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Auch wenn der Name Kleist, wie schon Helene Zimpel kritisch vermerkte, hier sowenig wie an anderer Stelle der Geburt der Tragödie fällt, steht doch, mit Fischer gesprochen, fest, daß sich der von Nietzsche aufgewiesene Gegensatz von Erkenntnis und Handeln so auffällig mit Kleists Studie Über das Marionettentheater (von 1810) berührt, daß die ersten Sätze geradezu „von Kleist selbst herrühren" könnten 28 . Denn für Kleist sollte die ,Überlegung' tatsächlich „weit schicklicher nach als vor der Tat" einsetzen; denn: wenn sie vorher oder in dem Augenblick der Entscheidung selbst ins Spiel tritt: so scheint sie nur die z u m Handeln nötige Kraft, die aus dem herrlichen Gefühl quillt, zu verwirren, zu hemmen und zu unterdrücken 2 9 .
Und nicht nur dies; mit der Bezeichnung der Erkenntnis als einer ,Schraube ohne Ende' greift der Text auch unübersehbar auf das zyklische Modell zurück, das Kleists Überlegungen zugrundeliegt und die von ihm gefundene Lösung ermöglicht. Sie bildet den Kernsatz seiner Studie und lautet: D o c h das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise u m die Welt machen, und sehen, o b es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.
Ebensowenig läßt sich freilich der Gegensatz in der Einschätzung dieses Modells übersehen. Was für Kleist zur Wiedergewinnung der durch Reflexion verlorenen Grazie verhilft, ist für den beginnenden Nietzsche eine sich im toten Gewinde sinnlos drehende Schraubenbewegung, die im unendlichen Fortgang der Reflexion ,zu nichts führt', am wenigsten zum Handeln, auf das es entscheidend ankäme. Freilich bleibt es, wie Fischer beobachtet, keineswegs bei dieser Diskrepanz, unter der sonst der ganze Vergleich zusammenbrechen müßte. Vielmehr läßt sich der Prozeß einer gegenseitigen Annäherung registrieren: sowohl derjenigen Kleists an Nietzsches ,dionysische Weltauffassung' als auch der einer fortschreitenden Übernahme Kleistscher Denkund Sprachformen durch Nietzsche. In dem eindrucksvollen Inventar der durch Fischer beigeschafften Materialien fehlt lediglich ein Motiv, mit ihm aber gerade dasjenige, in dem, ungeachtet eines Rests von bleibender Distanz — der Gipfel der Übereinkunft erreicht wird: die ewige Wiederkunft.
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O.Fischer. a . a . O . , 512. So der am 7. Dezember 1810, also fünf Tage vor dem Marionettentheater, in den .Berliner Abendblättern' veröffentlichte Aphorismus Von der Überlegung, den Kleist als ,Eine Paradoxe' betitelte.
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Der Spiralgang Wie schon Lou Salomé gegenüber 3 0 , erweckte Nietzsche vor allem in Ecce homo den Eindruck, als sei er, zusammen mit der Zarathustra-Intuition, auch vom Wiederkunft-Gedanken unversehens ,überfallen', um nicht zu sagen ,heimgesucht' worden 3 1 . Tatsächlich lassen sich die Spuren dieser ,Eingebung' wesentlich weiter zurückverfolgen. Unter deutlicher Anspielung auf die Eingangsszene der Göttlichen Komödie schreibt Nietzsche schon am 11. September 1879 an Peter Gast: Ich bin am E n d e des fünfunddreißigsten Lebensjahres; die ,Mitte des Lebens' sagte man anderthalb Jahrtausende lang von dieser Zeit; Dante hatte da seine Vision und spricht in den ersten Worten seines Gedichts davon. N u n bin ich in der Mitte des Lebens so , v o m T o d umgeben', daß er mich stündlich fassen kann . . . Insofern fühle ich mich jetzt dem ältesten Manne gleich; aber auch darin, daß ich mein Lebenswerk getan habe. Ein guter T r o p f e n Ö l e s ist durch mich ausgegossen worden, das weiß ich, und man wird es mir nicht vergessen 3 2 .
Im Blick auf Dante gewinnt bald darauf auch die pessimistische Vorstellung vom ,toten Gewinde' eine Wendung ins Positive, wobei dem Zeugnis aus der Fröhlichen Wissenschaft noch deutlich die Mühsal dieser Neubewertung anzumerken ist: Eines T a g e s warf der Wanderer eine T ü r hinter sich zu, blieb stehen und weinte. D a n n sagte er: „ D i e s e r H a n g und D r a n g zum Wahren, Wirklichen, Unscheinbaren, Gewissen! Wie bin ich ihm böse! Warum folgt mir gerade dieser düstere und leidenschaftliche Treiber! Ich möchte ausruhen, aber er läßt es nicht zu . . . Ich muß den Fuß weiterheben, diesen müden, verwundeten F u ß ; und weil ich es muß, so habe ich oft für das Schönste, das mich nicht halten konnte, einen grimmigen Rückblick — weil es mich nicht halten k o n n t e ! " 3 3
So wenig sich daraus ein Argument ableiten läßt, zeigt die Aussage Nietzsche doch eindeutig in einem, wenngleich zögernd und widerstrebend aufgenommenen Mitvollzug dessen, was sich bei Dante, am deutlichsten im Purgatorio, als die zum irdischen Paradies emporführende Spiralbewegung darstellt. Aus dem Wort des Wanderers kann man sogar einen — gebrochenen 30
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H . F. Peters, Lou Andreas-Salomé. Das Leben einer außergewöhnlichen Frau (Originaltitel: My Sister, my Spouse), München 1964, 146f. Nach Lous Buch Friedrich Nietzsche in seinen Werken hatte Nietzsche der Freundin den Gedanken von der ewigen Wiederkunft „nur mit leiser Stimme und mit allen Zeichen des tiefsten Entsetzens" anvertraut (222). Dazu L. Andreas-Salomé, Lehensrückblick. Grundriß einiger Lebenserinnerungen, aus dem Nachlaß hrsg. von Ernst Pfeiffer, Frankfurt/M. 1974, 247. Ecce homo; Also sprach Zarathustra, § 1. Näheres in meinem Beitrag Nietzsche und Dante, 156. Die Fröhliche Wissenschaft IV, § 309.
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— Nachklang des Zuspruchs heraushören, mit dem der Wächterengel am Eingang die Eintretenden warnt: „Wer rückwärts blickt, muß rückwärts kehren!" 3 4 So gesehen, kündet sich in der Stelle, wenn zunächst auch nur ganz umrißhaft, die Spiralstruktur an, die sich bei Nietzsche allem Anschein nach zur Konzeption der ewigen Wiederkunft verdichtete und durch ihn damit für das moderne Bewußtsein wiederentdeckt wurde 35 . Für die zunächst nicht ohne weiteres ersichtliche Teilidentität des Wiederkunft-Gedankens mit dem Spiralmodell spricht nicht zuletzt die Tatsache, daß der von Nietzsche ausgehende Anstoß in dieser Form von Hans Erich Nossack aufgegriffen und sowohl seinem , Roman einer schlaflosen Nacht' mit dem Titel Spirale (von 1956) als auch seinem Bericht Nach dem letzten Aufstand (von 1961) zugrundegelegt wurde. Wichtiger als dieser .wirkungsgeschichtliche Hinweis, der bestenfalls eine partielle Ubereinkunft beweist, ist jedoch der Griff nach der vermutlichen Wurzel, weil sich erst von dorther der mit der Ring- und Spiralstruktur intentierte Sinn ausfindig machen läßt. Sieht man von mythischen Vorformen ab, so liegt das früheste Zeugnis in einer Äußerung aus spätpatristischer Zeit vor. In der Uberzeugung, daß sich das Heil des Menschen nur im Rückgang auf den paradiesischen Urständ (wieder)gewinnen läßt, daß ihm aber gleichzeitig eine nostalgische ,Rückkehr' verwehrt und darum nur eine Suche in der Gegenrichtung möglich sei, schreibt Maximus Confessor in seinen Anfragen zu Thalassius: Denn es durfte . . . der Ursprung nicht so gesucht werden, als ob er im Rücken läge; vielmehr sollte er als das Ziel erkundet werden, das vorne liegt. So sollte der Mensch durch das Ende den verlassenen Ursprung kennenlernen, nachdem er das Ende nicht aus dem Ursprung zu erkennen vermochte36. Von daher reduziert sich die offengebliebene Diskrepanz von Ring und Spirale auf die Gemeinsamkeit des auf dem gleichen Vorwärtsgang erstrebten Ziels. Und es fällt kaum noch ins Gewicht, daß sich für Nietzsche dieses Ziel zunächst aktivistisch als das der unbehinderten Spontaneität des Handelns darstellt, während es bei allen übrigen Zeugen, bei Maximus ebenso wie bei Dante, Kleist und Nossack, mit der Paradies-Metapher umschrieben wird. Denn auch hier handelt es sich primär, wie vor allem aus dem Kleistschen 34 35
36
Purgatorio IX, 130 ff. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Flaubert-Monographie Jean Paul Sartres, deren dritter Teil Elbehnon oder Die letzte Spirale überschrieben ist. Während Sartre mit ,Elbehnon* auf den neurotischen Charakter des , L'Art pour l'art' anspielt, erinnert die Wendung ,Die letzte Spirale' an seine schon in Questions de méthode vorgetragene Uberzeugung vom Spiralgang alles Lebendigen, das „immer wieder an den gleichen Stellen", wenngleich „auf verschiedenen Ebenen der Integration und Komplexität" vorbeikommt. Nach Hanns Grössels Besprechung des ersten Teils der Monographie unter dem Titel Was kann man von einem Menseben wissen? (Süddeutsche Zeitung vom 29./30. Januar 1977, 110). Quaestiones ad Thalassium 59 (PG 90, 631 D).
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Parallelbegriff der , Grazie' erhellt, um den Gedanken einer von den Einreden der Reflexion unbetroffenen Ganzheit, die mit der Vokabel ,Paradies' nur umfänglicher und wesentlicher angesprochen wird als mit dem Vergleichsgedanken aus der Geburt der Tragödie. Im Blick auf die Vorstellungen, die Kleist mit dem Begriff ,Grazie' verbindet, könnte man bei ihm — und durch ihn hindurch auch bei den andern — von der wiedergewonnenen Naivität' reden. Dadurch ergäbe sich die Möglichkeit, von der Unbestimmtheit der Metapher auf die Strenge des Begriffs zurückzugehen. Denn in dem Verlangen nach neuer Naivität steckt unverkennbar das Streben nach Identität, das insbesondere von der Kleistschen Dramatik her als das Grundbestreben des aus seinem Gleichgewicht geworfenen, mit sich selbst überworfenen und sich überdies von außen her entfremdeten Menschen der Neuzeit erscheint. Auf Nietzsche zurückbezogen würde sich damit die Wiederkunfts-Idee als sein Versuch erweisen, das ihm fragwürdig gewordene starre Identitätsprinzip der traditionellen Ontologie durch ein zyklisch geweitetes zu ersetzen, das im Unterschied zu dem — geschichtsblinden — klassischen Gegenstück die Einbeziehung des Geschichtlichen und seiner Erfahrungen erlaubt. Nicht als gewänne das Geschichtliche bei Nietzsche von daher unversehens positiven Sinn; wohl aber erscheint es als das Erfahrungsfeld, in dessen Durchschreitung der einzigmögliche Einheits-Sinn gewonnen werden kann. Zwar erweckt der chronologisch höchst anfechtbare, jedoch ungemein effektvolle Schlußaphorismus des Willens zur Macht den Eindruck, als lasse die Vorstellung von der ewigen Wiederkunft keinen anderen Sinn mehr zu als denjenigen der in sich kreisenden Tautologie oder, mit dem Wortlaut des Textes gesprochen, des guten Willens des Ringes zu sich selbst; doch schließt das bereits eine höhere Sinnhaftigkeit ein. Und die besteht eindeutig in der Identität, jedoch nicht in einer ,gesetzten', von der man ausgehen könnte, sondern in einer zu ,erwartenden', die sich aus der Tautologie des unablässigen Werdegangs selbst herstellt. So lange reicht freilich auch die einem ,Wahrsagevogel-Geist' zugemessene Zeitspanne nicht aus. Mag er dem Zeitengang noch so weit vorausfliegen, so daß er zurückschauen muß, um sagen zu können, was kommen wird, so ist ihm doch noch kein einziger der von ihm angenommenen ,Umläufe' überblickbar. Auf diese ,Zeitnot' reagiert der Dichter des Zaratkustra mit dem Akt seiner ,Anverlobung an den Ring der Ewigkeit'. In die Normalsprache übersetzt, bringt er damit den dezisionistischen Charakter der Wiederkunftslehre zum Ausdruck. Der Ring der Ewigkeiten schließt sich ihm dadurch, daß er ihn will und sich für ihn und zu ihm entscheidet. Diesem Dezisionismus liegt ein ähnliches Eingeständnis zugrunde, wie es Adorno aus Beethovens wiederholter ,Bekräftigung' seiner Missa solemnis
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herauslas 3 7 . Daß es eines ausdrücklichen Akts der ,Anverlobung' bedarf, zeigt mit aller Deutlichkeit, daß die im Stil der ewigen Wiederkunft vollzogene Weltumrundung nicht bis zu jenem Ziel führte, das sich Kleist von ihr versprach. Gewonnen wurde ein zyklisch geweitetes, die Geschichtserfahrung einbegreifendes Identitätsprinzip; offen blieb dagegen die Frage nach dem Vollbegriff der .zweiten Naivität', die sich Nietzsche mindestens in gleicher Eindringlichkeit wie Kleist gestellt hatte. Während sich Kleists Reise um die Welt insgeheim der Spiralbewegung annäherte, wie sie in Dantes Purgatorio zum irdischen Paradies emporführt, verbleibt Nietzsches Rundreise, soviel sie in theoretischer Hinsicht einträgt, doch in der Eindimensionalität einer tautologischen Wiederkehr. Das heißt keineswegs, daß er an der Zielsetzung, in der er sich mit Kleist teilte, im Unterschied zu diesem verzweifelte. Wohl aber heißt es, daß er keinen organisierbaren Weg zu diesem Ziel sah. Es war für ihn weder zu konstruieren noch zu erkämpfen, sondern bestenfalls zu erhoffen. Darin sah sich Nietzsche von Kleist weg zu Hölderlin verwiesen.
Die
Mittagsstille
Im Grunde führte ihn dieser Verweis lediglich zu seiner alten Liebe zurück. Wie Richard Blunck in seiner Monographie über Nietzsches Jugend mitteilt, stieß der Gymnasiast mit seiner Vorliebe für Hölderlin allerdings auf den Widerstand seines Deutschlehrers, der ihm riet, sich lieber an die Klassiker der deutschen Sprache zu halten 38 . Auf diese Vorliebe mag es letztlich zurückzuführen sein, daß lange vor Theobald Ziegler schon Nietzsches Schulfreund Erwin Rohde die Lebensparallele zu Hölderlin entdeckte 39 . Indessen war die Entsprechung der Lebensläufe wie bei Kleist nur Ausdruck — 37
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Abgesehen von der Eintragung zum Kyrie „Von Herzen; möge es wieder zu Herzen gehen!", wird diese Affirmation auch durch eine Reihe von brieflichen Äußerungen belegt. Dazu Th. W. Adorno, Moments musicaux, Frankfurt/M. 1964, 170f. Danach griff Beethoven bewußt in die Wirkungsgeschichte der Missa ein, um durch diesen Einsatz seiner Autorität jenes Einvernehmen von Werk und Hörer zu erzwingen, das sich sonst durch den Duktus seiner Musik von selbst herstellt. Nietzsche hatte in dem (in Briefform gehaltenen) Aufsatz bemerkt, daß der Hyperion auf ihn einen ähnlichen Eindruck mache „wie der Wellenschlag des erregten Meeres" und daß in den „schwermütigen Tönen" des Empedokles „die Zukunft des unglücklichen Dichters, das Grab seines jahrelangen Irrsinns" hindurchklinge. Das veranlaßte den Korrektor, der die Arbeit mit der Note II bis IIa bewertete, zu dem „freundlichen Rat" an den Verfasser, sich doch besser „an einen gesünderen, klareren, deutscheren Dichter zu halten". Nach R. Blunck, Friedrich Nietzsche, Kindheit und Jugend, München/Basel 1953, 60. Nach Hedwig Däuble verglich Rohde den umnachteten Freund wiederholt mit Hölderlin; so schon in einem Brief an Overbeck vom 7. Januar 1880, der ein Wissen um Nietzsches spezifische Erkrankung erkennen läßt: H . Däuble, Fr. Nietzsche und E. Rohde. Mit bisher ungedruckten Briefen, in: Nietzsche-Studien 5, Berlin/New York 1976, 321—354.
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und Folge — einer tieferliegenden Konvergenz, die sich auf die Denkweise und, wesentlicher noch, die mit ihr gegebene Zielvorstellung bezog. Daß sich hier, im Raum der Zielvorstellung, die entscheidende Ubereinkunft ergibt, hat als erster der Nietzscheaner Hugo Eick empfunden. In seinem Aufsatz Ein Vorspiel Zarathustras (von 1909), in welchem er dem Zusammenhang von Hölderlins Hyperion mit der Zarathustra-Dichtung nachgeht, bemerkt er: W i e H y p e r i o n in immer helleren Klängen von der Welt fort emporgetragen in überirdischer Stille („Es w a r der schönste Mittag, den ich kannte") schließt, so läßt Zarathustra den „ G r o ß e n Mittag" am Ende heraufsteigen. W o m i t der Hyperion ausgeht — nicht eigentlich Einsamkeit und Menschenleere, sondern Nichtexistenz alles anderen, weder „Ich" noch „ D u " —: diese Stimmung umgibt den ganzen Zarathustra von Anbeginn. Noch im Entschweben schmiegt sich Hyperion dem geliebten Boden an. A b e r schon tönt hörbar aus seinem letzten Preislied: „Denn ich liebe dich, o Ewigkeit!" So sehr bereitet Hölderlin die Atmosphäre Nietzsches v o r 4 0 .
Und eben dies ist das bezeichnende' der von ihm aufgezeigten Ubereinkunft, daß wir hier wie dort „nicht einen an tödlichen Wunden Erliegenden vor uns sehen, sondern daß alle Dissonanzen des Lebens . . . ,zum Zwist der Liebenden' werden" 4 1 . Zur Bestätigung dessen zitiert er aus Nietzsches Trunkenem Lied: „Denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe tiefe Ewigkeit", und aus dem Hyperion-Schluß: „Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist alles". Und er bemerkt überdies, daß die beiden Aussagen im Bildgedanken von der Mittagsstille und der in ihr berührten Alleinheit ihre gemeinsame Mitte haben, auch wenn er das in der Folge nur durch ein Hölderlin-Zitat belegt: Eins zu sein mit allem, was lebt, das ist . . . die heilige Bergeshöhe, der O r t der ewigen Ruhe, w o der Mittag seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert und das kochende Meer der W o g e des Kornfeldes gleicht 4 2 .
Mit diesem Zitat ist tatsächlich die auf Nietzsche hinführende Zentrallinie getroffen. Denn in dessen Konzeption des ,Großen Mittags' geht es, mit Hölderlin gesprochen, um die Gewinnung der vollkommenen Einheit „mit allem, was lebt", wie es die mythischen Bilder von der „heiligen Bergeshöhe" mit dem paradiesischen Ort der ewigen Erfüllungsruhe und der wortlosen Allverständigung umschreiben.
40 41 42
H . Eick, Ein Vorspiel Zarathustras, A . a. O . , 229. A . a. O . , 231.
in: österreichische Rundschau 18 (1909) 2 2 5 - 2 3 2 .
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Geglückte
Einung
Wie Karl Schlechtas Studie über Nietzsches Großen Mittag (von 1954) deutlich machte, sind die wichtigsten Selbstzeugnisse Nietzsches vor allem der Zarathustra-Dichtung und den Paralipomena dazu zu entnehmen 43 . Danach hat die ganze Dichtung im Mittag-Motiv ihre zunächst unausdrückliche, im Schlußteil mit dem zentralen Abschnitt Mittags dann auch formell hervorgehobene Mitte 44 . Mit „verwandelter Stimme", wie sie sich schon der Paulus des Galaterbriefs (4,20) gewünscht hatte 45 , proklamiert Zarathustra am Ende des ersten Teils den Großen Mittag als die ,Mitte', die der Mensch auf seiner Bahn zwischen Tier und Übermensch — durch ihn — erreichte 46 . In den folgenden Kapiteln ist in noch deutlicheren Anklängen an die Bibelsprache von der ,Nähe' des Großen Mittags und seiner Ankündigung durch ,Feuersäulen' die Rede. Dabei tritt das Motiv wechselweise mit dem des Ubermenschen — „als ich ihn geschaffen", heißt es von diesem in den nachgelassenen Notizen zum Zarathustra, „ordnete ich ihm den großen Schleier des Werdens (zu) und ließ den Mittag um ihn leuchten" 47 — und dem der ewigen Wiederkunft in Beziehung. Das Kapitel Der Genesende bringt die Verknüpfung mit der Wiederkunft-Idee sogar vermittels eines fast wörtlichen Hyperion-Zitats zum Ausdruck: Alles scheidet, alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem N u beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel dort. D i e Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit 4 8 .
Aus dieser Doppelbeziehung baut sich in einer wenngleich sehr freien Dialektik der Zielgedanke auf, dem die Zarathustra-Dichtung das Motiv in ihrem Schlußteil entgegenführt. Denn hier erscheint der Mittag als die 43 44 45
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K. Schlechta, Nietzsches Großer Mittag, Frankfurt/M. 1954, 46-84. A. a. O . , 46f.; 66f. Als vermutlich Erster dürfte Nietzsche auf den Zusammenhang von Stimm-Modulation und Gedankenführung hingewiesen haben. Unter dem Stichwort Gefahr in der Stimme notiert er in der Fröhlichen Wissenschaft: „Mit einer sehr lauten Stimme im Halse ist man fast außerstande, feine Sachen zu denken" (III, § 216), nachdem er schon in Menschliches, Allzumenschliches unter demselben Stichwort von der Gesprächserfahrung berichtet, derzufolge einen ,der Klang der eigenen Stimme verlegen' werden läßt und zu Behauptungen verleitet, die gar nicht der eigenen Meinung entsprechen (I/VI, § 333). Also sprach Zarathustra I, Von der schenkenden Tugend, § 3. Um diese Parallele sind die zahlreichen Anspielungen auf die Bibel zu ergänzen, die Schlechta in seiner Studie nachzuweisen vermochte (a. a. O., 48; 54ff). KTA 11, § 1213. Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, § 2. Der Schluß des Zitats enthält überdies eine deutliche Anspielung auf die hermetische Formel vom unendlichen Kreis, dessen Umfang nirgendwo und dessen Mittelpunkt überall ist. Dazu D. Mahnke, Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Beiträge zur Genealogie der mathematischem Mystik, Halle 1937.
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menschliche Perspektive des ,abgründigsten Gedankens', deutlicher noch, als die Vermenschlichung der ewigen Wiederkunft. Das Recht dieser Interpretation gründet in der Tatsache, daß sich für Nietzsche, zumindest während der Entstehungszeit des Zarathustra, sowohl die Idee des Übermenschen wie die der ewigen Wiederkunft und des großen Mittags aus seiner Lehre vom Tod Gottes herleiteten. Für die Idee des Ubermenschen bestätigt dies das Schlußwort der Reden Zarathustras, das in seine Aussage zugleich das Motiv des ,Großen Mittags' einbegreift: „ T o t sind alle G ö t t e r : nun wollen wir, daß der Übermensch lebe" — dies sei einst am G r o ß e n Mittage unser letzter W i l l e ! 4 9
Für die Konzeption der ewigen Wiederkunft ergibt es sich aus ihrer diametralen Entgegensetzung zum Gottesgedanken, von dem Zarathustra lehrt, daß er „alles Gerade krumm und alles, was steht, drehend" mache 50 . Ausdrücklich bestätigt den Zusammenhang für das Mittag-Motiv schließlich eine der zahlreichen Planskizzen Nietzsches, die nach dem Eingangskapitel, das von Gottes Todtenfest handeln sollte, als zweites das Kapitel Am Grossen Mittag folgen läßt 51 . Von diesem gemeinsamen ,Beweggrund' her erscheint es umso mehr gerechtfertigt, die drei Motive in einer Zuordnung zu sehen, in welcher der Mittag als die Zusammenfassung dessen erscheint, was in der Vorstellung vom Ubermenschen und der ewigen Wiederkunft zunächst in ganz unterschiedliche Perspektiven auseinanderbrach. Voraussetzung dieser Korrelation ist lediglich die Bereitschaft, den ,Ubermenschen' als einen Ubergangsgedanken gelten zu lassen, den Nietzsche so, wie er ihn „vom Wege auflas", auch zu gültigeren — oder auch problematischeren — Formulierungen fortentwickelt, und bei der Idee von der ewigen Wiederkunft die dezisionistische Affirmation zu registrieren, die auch sie als noch unabgeschlossen erscheinen läßt. Unter dieser Voraussetzung werden die Zentralaussagen des Kapitels Mittags vom letzten Teil des Zarathustra auf eine Weise beredt, daß sie sich wie die Antwort auf das ausnehmen, was in den beiden Übergangsmotiven offengeblieben war. Was die feierliche Anverlobung an den Ring der Ewigkeit nur wollen, nicht aber auch ergreifen konnte, fällt Zarathustra in der Mittagsstille wie von ungefähr zu: — W i e ? W a r d die W e l t nicht eben vollkommen? Rund und reif? O h —, des goldenen runden Reifs — w o h i n fliegt er w o h l ?
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Also sprach Zarathustra I, Von der schenkenden Tugend, § 3. Also sprach Zarathustra II, Von den glückseligen Inseln. Nach E. F. Podach, Ein Blick in Notizbücher Nietzsches. Studie, Heidelberg 1963, 92.
Eine
schaffens-analytische
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Eugen Biser
U n d gleichzeitig weiß sich Zarathustra so tief auf den Grund aller Dinge gezogen, daß er sich im Vollbewußtsein des übergroßen Glücks fragt, wann er in diesen Grund zurückgenommen werde: „ O h , Himmel über mir", sprach er seufzend und setzte sich aufrecht, „ d u schaust mir zu? du horchst meiner wunderlichen Seele zu? — wann, Brunnen der Ewigkeit! du heiterer schauerlicher MittagsAbgrund! wann trinkst du meine Seele in dich zurück?"
Ohne daß das im Ubergang zu dieser Stelle zitierte Hyperion-Wort von den vom Herzen ausgehenden und in es zurückmündenden Adern wiederaufgenommen wird, ist das Gesagte doch ganz von der dort deutlicher angesprochenen Erfahrung bestimmt. Es ist die Erfahrung der gestundeten Zeit, der gestillten Sehnsucht, der überwältigenden Sinnfülle, des Zusammentritts der Gegensätze, des Umschlags von Aktion in Gewährung, von Spannung in Ruhe, von Wille in Sein. Deshalb ist Zarathustras Mittagsstunde gleicherweise synchron mit der kusanischen Vision der überbegrifflich geeinten Gegensätze wie mit der romantischen Konzeption der Göttliches und Menschliches, Statisches und Dynamisches, Sein und Werden umgreifenden Alleinheit und bei aller geistes- und motivgeschichtlichen Verflochtenheit doch zugleich Nietzsches Eigenstes, die windstille Mitte in der hektischen Bewegtheit seiner Gedanken und der tragischen Gebrochenheit seines Lebens. Sie ist das kurze, unverhoffte Glück, das sich ihm in der Vorahnung seines ,Untergangs' zueignet. Während der Bezug zum romantischen Alleinheitsdenken die ganze Atmosphäre des Großen Mittags durchtränkt, kommt die Nähe zum kusanischen Koinzidenz-Gedanken thematisch zum Ausdruck. Nach den Paralipomena zum Zarathustra führt der Große Mittag als , Wendepunkt' nicht nur zur Unschuld des Werdens, die den ,Kampf mit dem Zufalle' bestehen hilft; vielmehr erscheint er ausdrücklich auch „vollgestopft mit vereinigten Gegensätzen" 5 2 . In ihm ereignet sich, wenn auch noch so flüchtig, jene unverhoffte Lebens- und Seins-Kongruenz, die den von ihr Heimgesuchten nicht weniger „in Erstaunen" gesetzt haben mag als die „ungewollte Gedanken-Kongruenz", die er bisweilen „in der buntgeschichteten Masse" seiner Schriften wahrzunehmen glaubte 53 . Auf dem Hintergrund des Hyperion-Schlusses gesehen, gewinnt diese ,Kongruenz' der sich versöhnenden und aufhebenden Gegensätze eine besondere Note. „Versöhnung ist mitten im Streit", schreibt Hyperion am Schluß seines mühsamen Läuterungswegs, „ u n d alles Getrennte findet sich wieder". Das ist seine Antwort auf das „liebe Wort aus heil'gem Munde", mit dem ihm die Stimme der toten 52 53
K T A 11, § 1377. Stellenangabe siehe A n m . 15.
Die Reise und die Ruhe
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Diotima der unverbrüchlichen Gemeinschaft mit der Geliebten versichert hatte. Zusammengenommen mit dem bildstarken Schlußwort von der Allversöhnung in der Herzmitte des Seins, nähert diese Antwort die erfahrene Wiederkehr der Toten deutlich dem Gedanken der ewigen Wiederkunft an. Dabei geht die ,Antwort' Hyperions freilich so weit über die ,Lehre Zarathustras' hinaus, wie es dem Unterschied von Dialog und Entwurf entspricht. Insofern besteht bei aller Nähe eine unüberbrückte, unüberbrückbare Distanz. Noch in der Trennung durch den Tod bleibt Hyperion das entgegnende Du, während Zarathustra immer nur das seinshafte Gegenüber der Welt vor sich hat. Der äußere, motivgeschichtliche Unterschied weist, wenn man ihn nur voll in Rechnung stellt, auf einen inneren zurück. Er betrifft die Konkurrenz, in welche das Motiv des Großen Mittags zur Konzeption der ewigen Wiederkunft tritt. Beide Male handelt es sich um das gleiche Gedankenmodell, doch mit dem Unterschied, daß es in der einen Fassung gewollt und bejaht werden muß, während es in der anderen als reine, ungeschuldete Gewährung erscheint. Nietzsche selbst scheint sich dieses Spannungsmoments bewußt geworden zu sein, wenn er im Zusammenhang mit den Aufzeichnungen zum Großen Mittag notiert: G r ö ß t e r Schlußmoment: „Ich will!" Hymnus des Genesenden und Siegreichen. D e r lachende L ö w e und der Taubenschwarm. (Ein Versuch — mehr nicht! er selber und sein Gedanke.) S 4
Unüberhörbar weist diese Notiz auf die zu Eingang der Reden Zarathustras vorgetragene Lehre von den drei Verwandlungen zurück. Dort folgte in der Reihe der Verwandlungen auf das ,Du-sollst\ versinnbildet im Kamel, das löwengestaltige ,Ich-wilP und auf dieses das im Kind versinnbildete ,Ich-bin' s s . In der Uberbietung des Löwen in das Kind und damit des Wollens ins Sein liegt der Schlüssel zu den unterschiedlichen Fassungen, in denen Nietzsche den ihn zentral bewegenden Unions- und Identifikationsgedanken vorträgt. Die der zusätzlichen Affirmation bedürftige WiederkunftIdee zielt ihrer innersten Intention nach darauf ab, in die Naivität des Kindseins aufgehoben zu werden; denn das Kind ,ist', was der Löwe immer erst ,will': „Unschuld . . . und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-Sagen". Es trägt somit fraglos in sich, was in der Gestalt der Wiederkunft-Idee immer nur gefordert und nach Art eines Prinzips definiert werden konnte. Deshalb ist 54 55
KTA 11, § 1364. Also sprach Zarathustra I, Von den drei Verwandlungen. K. Löwith, der dieses Kapitel ins Zentrum seiner Nietzsche-Interpretation stellte, erläuterte es vor allem in seiner (in Anm. 19 genannten) Abhandlung über Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (31-59).
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auch vom Ubermenschen nicht mehr die Rede. Für sein Pathos bleibt kaum Raum. Was er an ,Wahrheit' enthielt, ging restlos in das Bild des Kindseins ein. Das Kind vermag, was selbst der ,Löwe im Geiste' nicht erreichte. Es bezeichnet die Kulminationsstelle in Nietzsches Gesamtgedankengang. Daß er sich nur einen flüchtigen Herzschlag lang in diesem Zenit seines geistigen Kosmos zu halten vermochte, beweist nichts gegen dessen Stellenwert. Auch Augustinus war in seiner Ostia-Vision, von der er in seinen Confessiones Rechenschaft ablegt, nur eine flüchtige Berührung der ,ewigen Weisheit' verstattet; und er beklagt mit bewegten Worten den Rückfall in die Niederungen der Alltäglichkeit56. Das Problem liegt an einer anderen Stelle: im Verschweigen des Ubergangs. Denn das Gespräch, das Zarathustra in der Mittagsstunde mit seiner Seele führt, gibt keine Auskunft über das Woher der erfahrenen Alleinheit. Unverhofft stellt sie sich ein, im Augenblick des verdämmernden Bewußtseins eignet sie sich zu. So bleibt auch die Frage nach dem Ubergang eines jener ungelösten Rätsel, die Nietzsche mit Schweigen überging und schließlich in das endgültige Schweigen seiner Umnachtung hineinnahm.
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Dazu mein Beitrag ,Die neuere Theologie und der Geist der Schwerein: Hochland 48 (1955/56) 297—307; ferner die Ausführungen meiner Theologischen Sprachtheorie und Hermeneutik, München 1970, 59 f£.; 381 ff.
Diskussion Salaquarda: Sie sprachen davon, daß Nietzsche seine Erfahrung des „Großen Mittags" bzw. der „Ewigen Wiederkunft" unversehens gemacht habe, daß sie unvermittelt sei in dem Sinne, daß er den Weg zu ihr nicht aufweisbar und nachvollziehbar mitteilen kann. Ich bin dagegen der Meinung, daß man bei Nietzsche doch bestimmte Schritte zu dieser Erfahrung hin aufweisen kann. Ich beziehe mich auf seine Überlegungen zum Phänomen der Inspiration, über das Nietzsche oft gehandelt hat; einer der wichtigen Texte dazu ist der Aphorismus 68 der Morgenröte, in dem Nietzsche das DamaskusErlebnis des Paulus interpretiert. Dann ist auch wichtig, was er im Ecce homo über sein „Damaskus", nämlich die Erfahrung des Wiederkunftgedankens in der Bergwelt des Engadin, sagt. Inspirationserlebnisse versteht Nietzsche nach diesen und anderen Texten als das plötzliche Innewerden eines Zusammenhangs, das sich aber lange vorbereitet hat. D . h . also, für ihn schließen Inspiration und langes Bemühen, auch unter Zuhilfenahme von verschiedensten Einflüssen und Überlegungen, einander nicht aus. Besonders aus der Ecce homo-Stelle geht deutlich hervor, daß Nietzsche seine Überlegenheit gegenüber früheren „Großen", die auch Inspirationserlebnisse hatten, darin sieht, daß er willens und in der Lage ist, sein eigenes Inspirationserlebnis hinsichtlich der einzelnen Komplexe, die darin aufgegangen und zur Lösung gekommen sind, zu analysieren, während die Früheren — er bezieht sich z . B . auf Paulus, Augustin, Rousseau — es seiner Meinung nach nicht wagten, ihre Inspirationserlebnisse sich selber zuzuschreiben und sie als ihnen selbst geglückte Problemlösungen zu verstehen. Vielmehr seien sie der Meinung gewesen, daß ein Gott oder ein irgendwie übermenschliches Wesen zu ihnen und durch sie gesprochen habe. Aufgrund dieser Überlegungen möchte ich Ihrer Schlußfolgerung, Herr Biser, widersprechen. Nietzsche kann durchaus sagen, welche Problemzusammenhänge in seine Erfahrung eingegangen sind, d. h. mit welchen Problemen er gerungen hat und wie seine Lösung aussieht. Im Grunde müßte ich nun in eine detaillierte Interpretation des WiederkunftGedankens und des „Großen Mittags" eintreten, um diesen Widerspruch zu erhärten; das kann ich jetzt nicht gut machen. Vielleicht genügen meine Andeutungen, um das Problem deutlich zu machen. Biser: Diese Analyse der Inspirationsthematik bei Nietzsche halte ich für zutreffend. Mir ist Ähnliches an anderer Stelle deutlich geworden, nämlich
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bei dem Bemühen um Nietzsches Gleichnisbegriff, der sprachtheoretisch hochinteressant ist. Ich halte Nietzsche für den ersten, der nach zweitausend Jahren wieder in der Lage war, echte Gleichnisse zu erzählen. In Nietzsches Gleichnissen ist nun auch das Ganzheitliche gepaart mit einem ausgesprochen analytischen Sinn für strukturelle Gegebenheiten. Auch in ihnen sind die beiden Momente, von denen Herr Salaquarda gesprochen hat, miteinander verquickt, nämlich der Durchblick auf das Ganze und die analytische Aufrechnung der einzelnen Schritte, die zum Ganzen führen. Aber von dieser strukturell-psychologischen Schau der Verhältnisse, wie man sie vielleicht bezeichnen kann, möchte ich doch das Inhaltliche abheben. Inhaltlich ist in dem Mittag-Erlebnis meiner Meinung nach das, was Nietzsche mit dem Wiederkunftsgedanken gemeint hat, auf eine völlig neue Weise da. Ich sehe keinen erkennbaren Ubergang zwischen der Konzeption der „Ewigen Wiederkunft", die ich als etwas Vorläufiges darzustellen suchte, und der Reprise desselben Modells in der Konzeption des „Großen Mittags". Auch am „Großen Mittag" spielt zwar das Kind und ist ein in sich kreisendes Rad oder es tritt ein in den Ring des Seins und des Ja-sagens; dies alles aber im Modus des Stillstands, und zwar eines Stillstands, der etwas Komprehensives hat. Das scheint mir etwas schlechthin Andersartiges zu sein. Denn während bei der „Ewigen Wiederkunft" das ungeheure Rad der Möglichkeiten durchschritten werden muß, ist hier in zusammenschauender Intuition das Ganze des Umlaufs bereits da. Ich sehe deshalb in der Motivbildung Nietzsches keinen erkennbaren Ubergang zwischen dem einen und dem andern. Gilman: Ich möchte noch einmal auf das Modell der Spirale zurückkommen, auf das wir in einer früheren Diskussion schon gestoßen sind. Herr Biser hat erwähnt, daß dieses Modell auch bei Dante vorkommt; es hat in den bildlichen Darstellungen zur Göttlichen Komödie vom Spätmittelalter an bis heute eine große Rolle gespielt. — Die Beziehung Nietzsches zu Dante ist allzuoft unterschätzt worden. Ich habe vor Jahren, in einem Aufsatz über die Metapher „braune Nacht" bei Nietzsche, die Frage angeschnitten, ob und in welchem Umfang Nietzsche Bilder und Metaphern von der Zeichensprache Dantes entlehnt hat. Gründer: In der Wiederkunftslehre akzentuiert Nietzsche im „Großen Mittag" den Aspekt, der sich gegen die zeitliche Erstreckung sperrt, selbst wenn sie in sich zurückläuft. Im „Großen Mittag" ist Stillstand mitgedacht. Symbol dafür ist Pan. Ich frage mich, ob Nietzsches Lehre vom „Großen Mittag" in die wohl noch kryptische Geschichte des Panischen oder gar einer Pans-Theologie hineingehört, wie es sie in der florentinischen Frührenaissance, verknüpft mit dem Orpheus-Motiv, gegeben zu haben scheint. — Die
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panische Stille hat etwas Leeres; sie ist zu unterscheiden von der halkyonischen, welche nicht bleiern ist, sondern heiter. Kaufmann: Sie haben gesagt, Herr Biser, daß der „Ubermensch" in den späteren Partien des Zarathustra schon zurücktritt. Aber es kommt als thematisches Lehrstück wesentlich nur im Prolog.zu diesem Buch vor. Es handelt sich dabei tatsächlich um eine Mythenbildung, aber nicht von Nietzsche, sondern von manchen seiner Interpreten, die so tun, als ob der „Ubermensch" bei ihm eine zentrale Rolle spiele. Dabei kommt er nach dem "Zarathustra nur in den Rückverweisen des Ecce homo vor und noch einmal, in einem sehr anderen Sinn, am Anfang von Antichrist. In Nietzsches Spätwerken, nicht aber bei den meisten seiner Interpreten, ist die Idee der „Ewigen Wiederkunft" viel zentraler als die des „Ubermenschen". Nietzsche bezeichnet sich selbst in den Spätwerken als den Lehrer der „Ewigen Wiederkunft", nicht aber als den Lehrer des „Ubermenschen". Biser: Ich stimme Ihnen um so lieber zu, Herr Kaufmann, als ich dem Gedanken des „Ubermenschen" bei Nietzsche nicht viel abgewinnen kann. Er ist mir nur interessant als eine später dialektisch aufgearbeitete Form des Wiederkunft-Gedankens. Meine noch nicht ganz ausgereifte Überlegung lautet, daß die „Mittagsstille" sich um das Mittags-Erlebnis aufbaut und aus einer Art dialektischer Synthetisierung von „Ubermensch" und „Wiederkunft" besteht, als das spiralenförmig gewonnene höhere Dritte. Den „Ubermenschen" als solchen halte ich für eine der fragwürdigsten Konzeptionen Nietzsches. Ich denke, daß Hans M. Wolff zurecht darauf hingewiesen hat, daß Nietzsche ihn vom Weg aufgelesen, als interessanten Entwurf hochgespielt, aber dann sehr bald wieder verabschiedet hat.
Gründer: Ich vermute, daß der „Ubermensch" einen extrapolierten Darwinismus darstellt und daß er deswegen in ganz andere Zusammenhänge gehört. Biser: Ich insistiere nicht auf dem „Ubermenschen". Wenn sich durch die Forschung herausstellen sollte, daß Nietzsche ihn ganz anders verstanden hat, als ich ihn jetzt zu erklären versucht habe, dann kann ich mich damit leichten Herzens arrangieren. Kaufmann: Ich zielte mit meinem Diskussionsbeitrag, Herr Biser, lediglich auf Ihre Formulierung ab, daß das „Ubermensch"-Motiv in den späteren Partien des Zarathustra zurücktritt. Ich wollte und will nicht bestreiten, daß
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Nietzsche dort, wo er vom „Ubermenschen" handelt, diese Idee in engsten Zusammenhang mit der von der „Wiederkunft" bringt. Schon 1950, in der ersten Auflage meines Nietzsche-Buchs, habe ich ein Kapitel „Overman and Recurrence" überschrieben und darin betont, daß die beiden Ideen zusammengehören. Die Art freilich, wie Sie nun die Verbindung herauszustellen versuchten, ist für meinen Geschmack zu begriffsbetont und geht zu wenig auf die Erfahrung ein, wie sie sich Nietzsche dargeboten hat. Um diesen ganzen Ideenkreis so zu verstehen, wie Nietzsche ihn verstanden hat, muß man davon ausgehen, daß ihm die Idee der „Ewigen Wiederkehr" seit langem bekannt war, von den Griechen her und von Heine, von Eugen Dühring etc. Nietzsche fand diese Idee schrecklich, und dann hatte er eines Tages den Einfall — das war seine Grunderfahrung —, daß die Idee unter Umständen erträglich sein könnte und dieser Einfall war verquickt mit der Vorstellung vom „Übermenschen", als der Art Mensch, die die Wiederkunftsidee nicht nur erträglich, sondern sogar erhebend findet. In den Notizen zum Zarathustra steht allerlei darüber, allerdings auch die Einsicht, daß Nietzsche selber leider nicht so ein Mensch ist und daß für ihn daher diese Idee schrecklich bleibt. Selbst wenn man diese Stellen aus dem Nachlaß nicht kennt, geht das ja im Grunde auch aus dem Text des Zarathustra selbst hervor, wie schrecklich ihm diese Idee die ganze Zeit ist. Bis zum Ende des vorletzten Kapitels liegt die Betonung auf dem Entsetzlichen dieser Idee, erst am Ende ringt Zarathustra sich dazu durch, sie hinzunehmen. Ich bestreite also nicht, daß der „Ubermensch" und die „Wiederkehr" in einem gewissen Sinn für Nietzsche ganz eng zusammengehören. Daraus folgt allerdings, daß der „Ubermensch" auf keinen Fall darwinistisch verstanden werden darf, Herr Gründer. Im Ecce homo sagt Nietzsche selbst, daß nur „gelehrte Ochsen" ihn so mißverstehen können. Nietzsche benutzt, wie das für ihn überhaupt typisch ist, Metaphern und Sprachbilder, die zu Deutungen einladen, die er selbst eindeutig zurückweist. Das ist ein gewisser perverser Humor bei ihm; man kann es auch, mit seinen eigenen Worten, eine Art von Bosheit nennen.
Müller-Lauter: Sie verweisen zurecht auf diese Ecce homo-Stelle. Wir dürfen sie freilich nicht absolut nehmen. Untergründig waren auch — ich betone das ,auch' — von Darwin angeregte Entwicklungsvorstellungen in Nietzsches Konzeption des Ubermenschen enthalten. Ich erinnere nur an die Vorrede zu Zarathustra, wo Nietzsche eine Entwicklung Affe—Mensch— Ubermensch andeutet. Nietzsches Ubermensch-„Theorie" nur darwinistisch zu verstehen oder besser: mißzuverstehen, wie dies in der Nietzsche-Deutung schon zu Anfang unseres Jahrhunderts und immer wieder geschehen ist, das
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halte ich in der Tat für verfehlt. Aber der Entwicklungsgedanke ist ein bestimmendes Element; ihn ganz herauszulassen, würde ich ebenfalls für unangemessen halten. Heller: Auf die Behauptung von Herrn Kaufmann hin, daß der „Ubermensch" bei Nietzsche nach der Vorrede zu "Zarathustra kaum mehr vorkommt, habe ich das Register zur Schlechta-Ausgabe eingesehen. Ich weiß nicht, wie schlüssig die Statistik in solchen Fällen ist, aber es gibt weit über zw'anzig Belegstellen für „Ubermensch" und gegen dreißig „Ewige Wiederkunft". Also ganz so marginal wirkt der Gedanke des „Ubermenschen" nicht, gar so armselig vegetiert er bei Nietzsche nicht dahin. Kaufmann: Eine solche quantitative Betrachtung hilft nicht weiter. Wenn Sie die Stellen nachprüfen, werden Sie merken, daß es sich überwiegend um nebensächliche Erwähnungen handelt. Heller: Aber Nietzsche sagt doch auch, oder läßt Zarathustra sagen: Ich lehre euch den „Ubermenschen". Vielleicht ist das Motiv in der bisherigen Nietzsche-Literatur überschätzt worden, das will ich nicht leugnen; aber so dominant, wie Herr Kaufmann behauptet, ist der Wiederkunfts-Gedanke sicherlich nicht. Gründer: Herr Kaufmann hat mich mit Nietzsche so liebenswürdig als „gelehrtes Hornvieh" bezeichnet. Auf diese Stelle trifft wie auf viele Dementis doch wohl die volkstümliche Rede zu, daß niemand hinter einen Busch guckt, hinter dem er nicht gesessen hätte. Kaufmann: Nietzsche sagt, er sei mißverstanden worden. Das ganze Ecce homo ist doch ein großangelegter Versuch, Mißverständnisse beiseite zu schaffen. Gründer: Die von mir eben genannte Figur scheint mir eine Grundfigur des Ecce homo zu sein. Müller-Lauter: Nietzsche konnte sich von seinen Denkvoraussetzungen her mit guten Gründen gegen den Darwinismus wenden und hat das auch bis ins Spätwerk hinein immer wieder getan. Daß aber andrerseits untergründig mit den Zeittendenzen der biologische Entwicklungsgedanke einfließt, ist noch eine andere Sache. Mit dem Begriff des „Ubermenschen" entspricht zwar Nietzsche nicht dem Darwinismus, aber doch zeitgenössischen, durch den Darwinismus verstärkten Tendenzen zu einem Entwicklungsdenken.
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Wahrscheinlich ist dieser Komplex viel differenzierter, als er sich uns hier in der Diskussion darstellt. Biser: Vielleicht kann in diesem Zusammenhang noch einmal das von Herrn Salaquarda in die Diskussion eingebrachte Modell hilfreich sein. Der darwinistische Entwicklungsgedanke wäre dann einer der Schritte hin zum „Ubermenschen". Durch seinen Aristokratismus setzt Nietzsche sich aber scharf von diesem ersten Schritt ab, er würde wahrscheinlich das gesamte Evolutionsdenken als plebejisch bezeichnen. Nietzsches „Ubermensch" ist meines Erachtens jedenfalls etwas aus vielen Zuströmen Konzipiertes, etwas, das man zweifellos nicht auf eine einzige genealogische Linie zurückführen kann. Dem, was Herr Kaufmann zuletzt gesagt hat, stimme ich durchaus zu. Das Schauerliche des Wiederkunft-Gedankens kommt auch in Nietzsches Gespräch mit Lou Salome sehr drastisch zum Ausdruck. Sie berichtet, daß er ihn ihr wie eine Geheimlehre mitgeteilt habe, mit flüsternder Stimme „und allen Zeichen des tiefsten Entsetzens". Kaufmann: Aber dem Bericht von Lou dürfen wir nicht unbedingt Glauben schenken. R. Binion hat meines Erachtens schlagend bewiesen, daß sie eine große Lügnerin war. Das Buch behandelt nicht nur ihre Beziehung zu Nietzsche, sondern das gesamte Phänomen „Lou". Binion weist nach, daß sie immer wieder ihre eigenen Schriften revidiert und verfälscht hat usw. Biser: Mag sein, daß sie später vieles beschönigt hat — das entzieht sich meiner Kenntnis. Aber mir ist aufgefallen, daß man bei ihr in dem ganzen Konflikt mit Nietzsche keine Spur von Rachegefühlen erkennen kann, Gefühlen, die angesichts des ihr zweifellos angetanen Unrechts durchaus verständlich wären. Von daher erscheint sie mir ziemlich glaubwürdig. Aber das ist nicht das Problem. Mir geht es darum, Ihre mir sehr sympathische These zu unterstreichen, Herr Kaufmann, daß Nietzsche mit dem „Ubermenschen" gleichsam die anthropologische Bedingung definiert, unter der die Wiederkunft-Idee erträglich ist. Das bringt die beiden Vorstellungen in einen sehr interessanten dialektischen Zusammenhang. Dabei denke ich an eine offene, undogmatische Dialektik, eine Dialektik lebendiger Freiheit, die sich im Spiralgang entfaltet. Das Modell der Spirale erscheint mir im übrigen geeigneter als das der Schleife, von dem Herr Heller in der Diskussion seines Vortrags gesprochen hat, sofern die Schleife eine strukturlose Bewegung impliziert, während die Spirale eine innerlich strukturierte Bewegung beschreibt. Mein Versuch lief darauf hinaus, diese Struktur in einer gewissen Annäherung an das dialektische Modell mit freiheitlichen Implika-
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tionen begreifen zu.lernen. Unter solchen Voraussetzungen glaubte ich, die beiden Konzeptionen „Übermensch" und „Wiederkunft" als Vorstufen zu der in der „Mittagsstille" gewonnenen Intuition begreifen zu können. Denn im „Kind" ist beides irgendwie enthalten, es ist, so gesehen, das positive Konzentrat des „Ubermenschen" und als rollendes Rad der reinen Bejahung zugleich die komprehensive Version der Wiederkunftslehre. Miiller-Lauter: Ich komme noch einmal auf den Darwinismus zurück. Nietzsche sieht, daß nach Darwins These die Angepaßteren überleben und die höheren Individuen gerade zugrunde gehen. Dazu sagt er schon relativ früh: Leider hat der Darwinismus recht! Seit Mitte der achtziger Jahre finden wir dann grundsätzliche Ausführungen Nietzsches darüber, daß, gerade wenn der Darwinismus recht hat, es keine Höherentwicklung des Menschen geben kann; in dieser Hinsicht ist der „Übermensch" eine antidarwinistische Konzeption. Heller: Ich glaube, daß die Vorstellungen von der Höherzüchtung des Menschen und von der Einverleibung in der Ubermensch-Idee enthalten sind. Nietzsche denkt nicht nur an geistig höherstehende Menschen, sondern er erwartet, daß es durch einen Entwicklungsprozeß zu einer Einverleibung und Vererbung der neuen Tugenden kommt, die zu einem verbesserten „Instinktgebäude" und zu einer größeren Perfektion des Menschen führen. Das sind biologische Phantasien, von der Biologie her inspirierte Vorstellungen, von denen ich allerdings annahm, daß sie ihren Hintergrund im Darwinismus hatten. Müller-Lauter: Darin sind wir einig. Man findet bei Nietzsche bei aller Gegnerschaft gegen Darwin auch einen Darwinismus, wenn er sich auch seines eigenen inneren Darwinismus gar nicht recht bewußt ist. Kaufmann: Ich bin darin ganz und gar nicht mit Ihnen einig. Ich bestreite nicht, daß die Idee des Übermenschen auch eine biologische Komponente enthält. Aber nicht alles Biologische ist darwinistisch. Wenn wir schon einen Namen dafür suchen, dann bietet sich eher Lamarck an als Darwin — Darwin ist es nach Nietzsches Meinung ganz ausgesprochen nicht. Aus der Vorrede zu Zaratbustra, der zentralen Passage für diesen ganzen Problemkreis geht deutlich hervor, daß die natürliche Entwicklung nach Nietzsches Meinung nicht auf den „Ubermenschen" hinausläuft, sondern auf sein Gegenteil, den „letzten Menschen"; und daß es eines Willensaktes bedarf, sich dagegen zu stellen. Das ist nicht Darwinismus.
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Da wir uns hier angeblich mit „Nietzsche als Kritiker seines Jahrhunderts" beschäftigen, wäre das im Grunde ein sehr zentraler Punkt, weil Nietzsche hier die zeitgenössischen Tendenzen bekämpft. Sie haben ganz richtig betont, daß diese zeitgenössischen Tendenzen bei ihm auch mitschwingen. Aber Nietzsche kommt es darauf an, die zeitgenössischen Schlagworte umzuwerten. Er benutzt die Sprache seiner Zeit, und er versucht dann immer — durch den Kontext, durch den Zusammenhang — den sorgsamen Leser, den es vielleicht noch gar nicht gibt — Zarathustra ist ein „Buch für alle und keinen", jeder kann es lesen, vielleicht versteht es aber keiner —, darauf hinzuweisen, daß seine Zeit unrecht hat und daß die zeitgenössischen Ideen falsch sind. Nur der „moderne Mensch" schenkt ihnen Glauben. Aber, so sagt Nietzsche, was immer der moderne Mensch glaubt, ist sicher schon darum falsch. Salaquarda: Lamarck und Darwin wurden von Nietzsche und von seiner ganzen Zeit nicht in dem Maße als Gegensätze empfunden, wie das heute der Fall ist. Ich werde in meinem Referat Zitate bringen, die zeigen, daß Lange Darwin lamarckistisch interpretiert hat und daß er damit offensichtlich eine communis opinio vorträgt. Das Problem ist sehr komplex. Es stimmt, daß Nietzsche in gewissem Sinne lamarckistisch denkt, wie Sie schon in Ihrem Buch ausgeführt haben, Herr Kaufmann. Aber was die Frage der Vererbung erworbener Eigenschaften betrifft, meinte Nietzsche nicht, daß Lamarck im Gegensatz zu Darwin stehe. Den zentralen Punkt des Gegensatzes hat Herr Müller-Lauter vorhin herausgestellt: das Sich-durchsetzen der Angepaßten. Mich beschäftigt noch ein anderes Thema. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Biser, dann setzen Sie Nietzsche auf dem Weg eines Strukturvergleichs zu anderen Großen der Geschichte in Beziehung, zu Augustin, Dante u. a., vor allem aber, Ihrem Thema entsprechend, zu Hölderlin und Kleist. Dabei stellen Sie zunächst weitgehende Ähnlichkeiten fest: Erfahrung von Krisen, dialektisch-spiralenartige Durcharbeitung der Probleme, befreiende Erfahrung. Zuletzt aber heben Sie Nietzsche von den Vergleichspersonen ab und behaupten, daß seine Erfahrung leer bleibe, sich jedenfalls nicht mehr vermitteln lasse. Ich vermute, daß diese Ihre These auf einer Vorentscheidung basiert. Der entscheidende Unterschied zwischen der Erfahrung Nietzsches und den Erfahrungen jener Früheren scheint mir darin zu liegen, daß Nietzsche dezidiert behauptet: das Universum antwortet nicht, es gibt kein Du, es gibt kein göttliches oder übermenschliches Gegenüber für den Menschen. Nun ist ja deutlich zu spüren, daß Sie diese These für verfehlt halten bzw., daß Sie meinen, dem Erlebnis, aus dem sie hervorgeht, könne nicht der gleiche Rang zukommen wie den Erlebnissen der Vergleichspersonen. Diese Meinung scheint mir freilich, wie angedeutet, mehr auf einer
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Vorentscheidung zu beruhen als auf einer Analyse von Nietzsches Äußerungen. Denn Nietzsche macht doch den Versuch, die von Ihnen favorisierten Antworten der Früheren zu analysieren, und er arbeitet eine interessante und konsistente Psychologie des Glaubens und der Gläubigen aus. Ich will nun nicht behaupten, daß Nietzsche recht und Sie unrecht hätten — eine solche Behauptung über Grundentscheidungen aufzustellen wäre naiv. Aber es kommt mir darauf an, die Unterschiede deutlich herauszuarbeiten, zumal ich selber stärker der Antwort von Nietzsche zuneige. Ich meine also, daß die beiden Erfahrungen, die Nietzsches und die der Vergleichspersonen durchaus gleichrangig sind, insofern aus beiden auch die je andere verständich gemacht werden kann. Die Erfahrungen sind selbst die Bedingungen von verschiedenen Rangordnungen. Heller: Es scheint mir sehr wichtig zu sein, daß man diese Dinge explizit macht. Durch die Erklärung von Herrn Salaquarda, die ja offensichtlich Ihren Intentionen gerecht geworden ist, Herr Biser, ist mir Ihre ganze Position klarer geworden. Von einem christlichen Standpunkt aus ist Kritik an Nietzsches Sicht der Welt und des Menschen letztlich unvermeidlich, aber man sollte sie in der Tat deutlich als solche kennzeichnen, sonst würde man ja alles in einen Topf werfen. Pestalozzi: Das Stichwort war die Eliminierung des Du, mit einem Bezug auf die Bekehrung. Da scheint mir nun auch, was den zwischenmenschlichen Bereich angeht, der Vergleich mit Kleist erhellend. Wenn man sich nur an das „Marionettentheater" hält, ist das vielleicht etwas einseitig. Ich sehe das Gemeinsame mit Nietzsche auch in dem, was Kleist den „Zustand unsrer welcher weiß" nennt, und im Sprachproblem, das sich daraus ergibt. In den Dramen und Novellen geht es nicht nur um das Identitätsproblem, sondern immer auch um den Einzelnen in seinem Verhältnis zum D u . Daß sich dagegen Nietzsche nicht jemand anderem anverlobt, sondern seiner eigenen Idee, seiner Vision, scheint mir eine Eliminierung des Du nicht nur in der Vertikalen, sondern gewissermaßen in der Horizontalen zu sein. Mich würde interessieren, wie es zu dieser Eliminierung des Du bei Nietzsche kommt. Kaufmann: Aber spielt nicht im Zarathustra entscheidende Rolle?
der Freund eine ganz
Biser: N u r als Gegenstand der Lehre, aber nicht als in Wirklichkeit existente Figur. Zarathustra hat ja nur die „höheren Menschen" und seine Tiere, das sind seine wirklichen Bezugsfiguren. Die „höheren Menschen"
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verabschiedet er, weil sie ihm letztlich doch keine Partner sein können und die Tiere sind eben nur — Tiere. Kaufmann: Das sehe ich nicht so. Meiner Meinung nach spielt Nietzsche die Griechen gegen das Christentum aus: nicht den Nächsten lehre ich euch, läßt er Zarathustra sagen, sondern den Freund. Biser: Dem Nächsten hat Nietzsche nicht den Freund entgegengesetzt, sondern den Fernsten. — Ich stimme Herrn Pestalozzi zu: bei Nietzsche, vor allem im Zarathustra, ist der Freund konkret nicht vorhanden, er kommt lediglich als Gegenstand der Lehre vor, als abstrakte Idee, nicht als das Gegenüber der Selbstverwirklichung. Kaufmann: Das halte ich wirklich für wesentlich falsch. Es handelt sich dabei um ein viel diskutiertes Problem. Wenn ich Nietzsche mit vielen anderen großen Menschen vergleiche, dann kann ich nur sagen, daß es erstaunlich ist, eine wie große Rolle in seinem Leben Freunde gespielt haben. Man kann sagen, daß jede dieser Beziehungen auch ihre Mängel hatte, nun — das haben solche Beziehungen an sich; aber Freundschaft war in seinem Leben keineswegs etwas bloß Begriffliches. Die Freundschaft mit Overbeck z.B. war eine ziemlich interessante Freundschaft, und als jüngerer Mensch hatte er bewegte und bewegende Freundschaften. Daß Nietzsche dem Nächsten den Fernsten gegenüberstellt, ist natürlich richtig, darauf kommt es hier aber nicht an. Er setzt den griechischen Geist gegen den christlichen und weist darauf hin, daß bei den Griechen der Freund ein Moment der ganzen agonalen Kultur war und daß die Freunde sich gegenseitig gesteigert haben. Wenn er z. B. sagt, man solle für den Freund ein hartes Bett sein, dann kommt darin eine großartige Auffassung von Freundschaft zum Ausdruck; ich glaube nicht, daß sie nur begrifflich, nur als gedachte Antithese zu verstehen ist, wie es beim „Fernsten" der Fall sein mag. Ich glaube, hier ist der Inhalt, der zeigt, daß sich Nietzsche eine Alternative wirklich vorstellen kann. Wenn ich derartiges lese, dann bringt es mir Nietzsches Gedanken nahe, so daß ich mir eine Alternative zum „Nächsten" dabei vorstellen kann. Müller-Lauter: Ich möchte in gewisser Hinsicht Herrn Kaufmanns Votum ergänzen, in gewisser Weise aber auch ihm widersprechen. Nietzsches Ideal ist nicht der isolierte Einzelne. Aber er sieht die menschlichen Beziehungen als von vornherein strukturiert an, sie unterliegen einer Rangordnung. In Nietzsches Leben ist dieses Moment von früh an deutlich; schon in der Jugendzeit hat er seine nächsten Freunde dirigiert, bestimmt, manchmal
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geradezu von oben herab mit ihnen verkehrt. Uber die Besonderheit der Freundschaft Nietzsches zu Overbeck kann man wenig sagen, Bernoullis Buch läßt uns über die Art und die Enge dieser Beziehung weitgehend im Unklaren. Zur philosophischen Problematik: Sie stellt sich in den achtziger Jahren für Nietzsches Denken ausgereift wie folgt dar: Wie jeder „Wille zur Macht" auf das Gegenüber eines anderen „Willen zur Macht" angewiesen ist, ihn als Widerstand braucht, so ist auch jeder Mensch auf andere Menschen angewiesen. Aber — und damit kommt mein Widerspruch zu Herrn Kaufmanns Diskussionsbeitrag zum Tragen — ich frage mich, ob Nietzsche einen philosophisch zureichenden Ausdruck für Freundschaft findet, wenn er sie eben doch wesentlich durch Gegeneinander und durch Rangordnungsverhältnisse bestimmt sein läßt. Es gibt eine Aufzeichnung, die mir durch den Kopf geht, weil sie morgen in ganz anderem Zusammenhang in meinem Vortrag vorkommt. Nietzsche stellt sich vor, wie Herrschaftsgebilde konkret strukturiert sein können. Nach dieser Überlegung muß nicht ein Herrscher an der Spitze stehen, es können mehrere sein, und zwar „pares", Gleichmächtige. Diese Andeutung ließe sich vielleicht in Richtung auf einen philosophisch zureichenden Freundes-Begriff weiterdenken, zumal sich bei Nietzsche noch andere Ansätze dieser Art finden. Ich vermag das aber hier nicht zu entscheiden, es bedürfte weiterer vermittelnder Schritte. Biser: Ich möchte einen Widerspruch anmelden zu dem, was Herr Kaufmann gesagt hat — nicht hinsichtlich der Existenz aktueller Freundschaften im Leben Nietzsches, aber hinsichtlich der Konsistenz dieser Freundschaften. Ich habe in einem Beitrag über Nietzsche und Dante zu zeigen gesucht, daß es Nietzsche nicht vergönnt war, auch nur eine Freundschaftsbeziehung auf die Dauer durchzuhalten. Nach enthusiastischem Beginn folgte in der Regel bald die Enttäuschung, dann meistens der abrupte Abbruch. Nietzsche hat offensichtlich ein elementares Moment der Zwischenmenschlichkeit gefehlt, nämlich die Kontinuität. Die Entstehungsjahre des Zarathustra waren von ganz besonders tragischen Auspizien begleitet: die schnell zerbrechende Freundschaft mit Lou Salomé und damit auch mit Rée, die ganze Familienmisere und viele ähnliche Dinge, die diese Jahre belasten. Es gibt eine ganze Reihe von brieflichen Äußerungen, die auf einen absolut desperaten und gleichzeitig vollkommen isolierten Zustand Nietzsches schließen lassen. Auf diesem Hintergrund halte ich es für berechtigt zu sagen, daß der Freund, den Nietzsche wortstark feiert, in der Wirklichkeit gar nicht existiert, sondern nur als Abstraktion eine Rolle spielt. Was das Werk angeht, so möchte ich die Behauptung wagen, daß es für Zarathustra keinen echten Partner gibt. An Zarathustra wird die Trennungs-
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linie deutlich zwischen der Vorstellung christlicher Kommunikation und einer Assoziierung christlicher Mitmenschlichkeit einerseits und jenen hierarchisch strukturierten Gemeinschaftsmodellen bei Nietzsche, von denen Herr MüllerLauter gesprochen hat, andererseits. Ich möchte dann noch einmal auf Herrn Pestalozzis Votum zurückkommen. Sie haben die Argumentation von Herrn Salaquarda sozusagen um neunzig Grad gekippt, von der Vertikalen in die Horizontale; Sie haben also von dem metaphysischen, religiösen Du auf das mitmenschliche Du verwiesen, und von der Abwesenheit des einen auf das Unvermögen zum anderen geschlossen. Ich stimme Ihnen darin vollkommen zu. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: zwischen diesen beiden Defiziten, wenn ich sie so bezeichnen darf, gibt es einen inneren Zusammenhang. Weil der Weltgrund für Nietzsche nicht antwortet, deswegen ist für ihn auch der Mitmensch kein Wesen der Responsibilität, der Verständigung, der Kommunikation und der Kommunion. In einem letzten Sinn hat er ihm nichts zu sagen, sondern er dient ihm allenfalls als Widerpart, zum Ausformulieren seiner eigenen Vorstellungen, als ein nützliches, hilfreiches Widerstandserlebnis. Freundschaft ist für Nietzsche keinesfalls das, was im christlichen Sinne Gemeinschaft und Mitmenschlichkeit heißt oder von Martin Buber als Ich-DuBeziehung herausgearbeitet wurde. Ihr Hinweis, Herr Pestalozzi, daß in Kleists Werken die Identitätskrisen immer in der Korrespondenz mit Menschen ausgetragen und überwunden werden, ist mir sehr wichtig und interessant. Demnach war es verfehlt, wenn ich mich primär auf das Marionettentheater berufen habe, wo eben dieser Grundzug fehlt. Ich habe in diesem Werk bisher immer den Schlüssel zur Kleistschen Dichtung und vor allen Dingen zu den Antrieben seiner Dramatik gesehen. Das muß ich wohl revidieren. Nun aber zu dem Einwand von Herrn Salaquarda: Sie haben herausgehoben, was ich explizit gar nicht sagen wollte, weil es nicht direkt zu meinem Thema gehört; implizit aber war die „Vorentscheidung", von der Sie gesprochen haben, durchaus in meinem Referat enthalten. Da Sie nun davon gesprochen haben, möchte ich den Gegensatz der Grundentscheidungen noch etwas näher erläutern. Nietzsche nimmt eine der ehrwürdigsten Metaphern auf, nämlich die von der Gotteskindschaft, und er benutzt sie, um seiner Intuition eine Einkleidung zu geben. Leer ist Nietzsches Vision also nicht, denn sonst könnte er diese Metapher nicht so affektiv verwenden; wohl aber ist sie, wie Sie zurecht bemerkt haben, nicht responsorisch. Dieses „Kind" Nietzsches impliziert keine Antwort auf die Seinsfrage Zarathustras, sondern Zarathustra erlebt eine Art Identifikation mit dem, was dieses Symbol versinnbildet. Wenn man von einer Antwort reden kann, dann eben nur im Sinne dieser Identifikation. Es handelt sich um eine Seinserfahrung: der Ring
Diskussion
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des Seins schließt sich im Bilde des Kindes oder nun umgekehrt ausgedrückt: im Kind wird eine letzte Harmonie, Geschlossenheit und Sinnhaftigkeit des in der empirischen Erfahrung vielfach abstrusen Weltgeschehens ersichtlich. Diese Erfahrung erlaubt es Nietzsche, auf eine ganz neue Weise Ja zu sagen, nicht mehr nur dezisionistisch, durch Affirmation der Idee der „Ewigen Wiederkunft", sondern durch Identifikation mit dem Inhalt dieser Vision. Da Sie mich direkt darauf angesprochen haben, möchte ich hervorheben, daß hier für mich in der Tat die große Trennungslinie verläuft und der entschiedene Differenzpunkt liegt. Nicht nur weil ich Theologe bin, sondern aus grundlegender Überzeugung schlage ich mich auf die Seite der anderen Visionäre, einfach deswegen, weil ich kein noch so großartiges Identifikationserlebnis mit etwas von mir Gedachtem als Äquivalent für eine tatsächliche Antwort gelten lassen kann. Diese hat für mich einen qualitativ höheren Stellenwert als alles, was mir aus eigener Anschauung und visionärer Kraft zugekommen ist — und wäre es auch so großartig, wie Nietzsches Vision des „Großen Mittags". Hier ist vielleicht die Gelegenheit, um noch kurz auf das einzugehen, was Herr Gründer in die Diskussion geworfen hat, als er von einer kryptischen Pans-Theologie sprach. Liegt nicht, so möchte ich im Anschluß an diese Äußerung fragen, im „Großen Mittag", vielleicht gegen die Intention des Texts, doch ein Moment des Stillstands, gar der Stagnation in diesem negativen, lähmenden, panischen Sinn? Es wird zwar gesagt, daß das „Kind" ein rollendes Rad ist und ein ewiges Jasagen, ein sich fortsetzendes Spiel, und das heißt doch, daß die Weltbewegung weitergeht. Aber die Ich-DuBeziehung ist abgeblockt; und darin sehe ich das lähmende, panische Moment, von dem Sie gesprochen haben. Heller: Ich weiß nicht, ob ich Sie nicht mißverstanden habe. Aber das „Kind", von dem Nietzsche spricht, ist doch das spielende Weltkind Heraklits, das aufbaut und zerstört. Von einem „Anheimgeben" kann keine Rede sein und der Ausdruck „Gotteskindschaft" ist eher verwirrend, denn Nietzsches spielendes Kind ist ein Symbol für das autonom sich selber aufbauende und zerstörende Treiben des Universums. Biser: Ich dachte, dies bereits als geklärt voraussetzen zu können, daß Nietzsches Kind-Metapher eine säkularisierte Übernahme der GotteskindVorstellung darstellt. Heller: Ich halte eher das Umgekehrte für klar: das „Kind" kommt nicht her aus diesem Gotteskind-Zusammenhang, den Sie andeuten, sondern viel
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eher von Heraklit. Sie neigen zu einer Art Vermischung der Bereiche, die mir bedenklich erscheint. Biser: Es gibt ein Moment, in dem sich die Vision des „Großen Mittags" deutlich von der Heraklits unterscheidet: es fehlt die zerstörerische Komponente, die Heraklit integrierend mitdenkt. Das Kind des „Großen Mittags" ist reine Positivität. Heller: Das glaube ich eben nicht. Ein dionysisches Kontinuum oder reine Positivität sind für Nietzsche gar nicht denkbar. Sie wären sozusagen Unbegriffe, weil das Aufbauen und das Zerstören einander bedingen. Biser: Es geht mir um eine Erläuterung der Vision des „Großen Mittags" aus ihrer Genealogie heraus. Das heraklitische Moment will ich nicht völlig leugnen, aber ich gebe noch einmal zu bedenken, daß aus der Wendung „aus-sich-rollendes Rad" nicht unbedingt auf ein Zerstörungsmoment geschlossen werden muß. Wenn ich von einem „Anheimgeben" gesprochen habe, so bezog ich mich dabei auf Zarathustras Frage: Wann trinkst du mich zurück, Brunnen der Ewigkeit? Salaquarda: Eine gewisse Schwierigkeit besteht darin, daß wir immer wieder auf die Wiederkunftslehre stoßen, es uns aber zu weit führen würde, sie in allen Einzelheiten zu diskutieren. Mir ist wichtig, daß wir durch die Diskussion eine gewisse Abgrenzung erreicht haben: in der Tatsache der Abgrenzung sind wir uns offensichtlich einig, den Sachverhalt sehen wir dann von verschiedenen Grundvoraussetzungen aus. Da inzwischen mehrfach dieses schöne Lied über die „Ewige Wiederkunft" zitiert worden ist, von dem rollenden Rad etc., möchte ich doch anmerken, daß dieses Lied von Zarathustras Tieren gesungen wird und daß Zarathustra nicht ganz mit ihnen zufrieden ist. Was die Tiere da vortragen, ist noch nicht seine Wiederkunfts-Konzeption, sondern sozusagen deren Naturkomponente, in die alles Lebendige eingelassen ist. Es ist eine der Vorstufen, wie z. B. auch der Zwerg eine Vorstufe des Gedankens kennt, aber dieser nihilistische Zwerg verschwindet, als Zarathustra ihm seinen eigentlichen Wiederkunftsgedanken vorträgt: den kann er nicht ertragen. Kaufmann: Noch eine kurze Bemerkung zur Kind-Metapher. Sie enthält meiner Meinung nach etwas ganz bewußt Antichristliches, aber der Bezugspunkt ist nicht die Gotteskindschaft, sondern die neutestamentliche Bemerkung, derzufolge man werden solle wie die kleinen Kinder. Nietzsche ändert die Intention, indem er sagt, daß man zwar in der Tat werden solle wie die
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Kinder, aber am Kind das schöpferische Moment herausstellt und nicht die intellektuelle oder sexuelle Unschuld, oder gar die Kastration, von der im Neuen Testament unmittelbar danach die Rede ist. Müller-Lauter: Ich möchte noch einen ergänzenden Satz zu dem sagen, was Herr Salaquarda, wie ich glaube, sehr richtig angedeutet hat. Der Gedanke der „Ewigen Wiederkunft" kann nach Nietzsches Darstellung hinsichtlich seiner Erfahrbarkeit Intensitätsgrade verschiedener Art haben. Was die Tiere da plappern oder leiern, ist ja im Grunde, formal betrachtet, durchaus der Gedanke der „Ewigen Wiederkunft", aber entscheidend ist eben die Intensität, mit der man sich von ihm durchdringen läßt. Biser: Ähnliches wollte ich durch den Hinweis auf den Dezisionismus zum Ausdruck bringen. Die Anverlobung muß dazu kommen, dann erst hat der Gedanke seine volle Konsistenz erlangt. — Was das Wiederkunfts-Lied der Tiere betrifft, so kann man die Frage stellen, ob es sich dabei um eine naturhaft gedachte Vorform des Gedankens handelt, wie Herr Salaquarda gesagt hat, oder um eine gleichsam heruntergekommene Form, eine schlechte Popularisierung also. Zarathustra schilt die Tiere, weil sie schlechte Imitatoren dessen sind, was er ursprünglich erfahren und durchlitten hat. Salaquarda: Ich halte den von Herrn Müller-Lauter vorgeschlagenen Ausdruck „Intensitätsgrade" für angemessen. Denken Sie daran, daß Zarathustra die Tiere nach dem Leier-Lied zwar schilt, daß er sie aber auch lobt und ihnen zugetan ist. Der Text ist vielschichtig. Die Einsicht, daß es auf den Intensitätsgrad der Erfahrung der „Ewigen Wiederkunft" ankommt, macht es unwichtig, ob ich den Gedanken zum ersten Mal höre, oder ihn schon oft zur Kenntnis genommen habe.
C . A . MILLER
NIETZSCHES „SOTERIOPSYCHOLOGIE" IM SPIEGEL VON D O S T O E V S K I J AUSEINANDERSETZUNG MIT DEM EUROPÄISCHEN NIHILISMUS Als Nietzsche im Winter 1886—87 durch einen „zufälligen Griff" in einer Nizzaer Buchhandlung auf einen neulich erschienenen Band mit dem ansprechenden Titel l'Esprit souterrain aufmerksam wurde, ahnte er zunächst nicht, daß er das russische Pendant zum großen „romantischen Pessimisten" Pascal (KGW VIII 3, 2 1 - 2 2 ) entdeckt hatte, das bedauernswerte Opfer einer mit perverser Leidenschaft bejahten und beherzigten „christlich-moralischen Grunddenkweise" (KGW VIII 1, 105). Im Gegenteil: jene Briefe an die Freunde Overbeck und Gast, in denen er von seiner „Entdeckung" erzählte, lassen erkennen, daß er überzeugt war, im Verfasser „Th. Dostoievsky" einem Psychologen von Stendhalscher Redlichkeit und Unerschrockenheit begegnet zu sein, einem „Psychologen, mit dem ,ich mich verstehe'" 1 . „Der Instinkt der Verwandtschaft (oder wie soll ich's nennen?) sprach sofort", teilte er Overbeck am 23. Februar mit2. „Mit Dostoiewsky ist es mir gegangen wie früher mit Stendhal", heißt es wenige Tage danach in einem Schreiben an Gast: „Die zufälligste Berührung, ein Buch, das man in einem Buchladen aufschlägt, Unbekanntschaft bis auf den Namen — und der plötzlich redende Instinkt, hier einem Verwandten begegnet zu sein" 3 . Der Titel „l'Esprit souterrain" spricht dafür, daß unter diesem „eben ins Französische übersetzten Werk" 4 eine Übertragung der vor 22 Jahren in der Zeitschrift Epoche erschienenen Aufzeichnungen aus einem Kellerloch zu verstehen sei. Doch Nietzsches Charakterisierung des Werkes als „zwei Novellen", die erste ein Stück „unbekannter" bzw. „sehr fremder, sehr »«deutscher Musik", die zweite „ein wahrer Geniestreich der Psychologie"5, verrät, daß es sich hier nicht um die beiden Teile der Aufzeichnungen handelte, Das Kellerloch und Anläßlich des nassen Schnees. In der Tat: das, was Nietzsche als „zwei Novellen" gelesen hat, war eine vom Pariser Verlag E. Plön, 1 2 3 4 5
GBr IV, 280. Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Franz Overbeck G B r IV, 284. Briefwechsel mit Overbeck, S. 364. Ébd. S. 3 6 4 - 3 6 5 ; G B r IV, 2 8 4 - 2 8 5 .
(Leipzig, 1916), S. 364.
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Nourrit et Cie. im Herbst 1886 veröffentlichte Zusammenstellung der frühen Novelle Die Wirtin und einer stark gekürzten Ubersetzung der Aufzeichnungen aus einem Kellerloch, von den beiden Herausgebern Halpérine und Morice unter dem Titel Lisa als „l'histoire d'une seconde velléité d'amour" dargeboten6. Auch wenn man bedenkt, daß Nietzsche die Aufzeichnungen in einer vom Verfasser keineswegs intendierten Form und Fassung gelesen hat, überrascht zunächst seine ungeteilte Begeisterung für das Werk als den „Geniestreich" eines „Psychologen, mit dem ,ich mich verstehe'". Denn wer mit Dostoevskijs eigentlicher Konzeption vertraut ist, weiß, daß er hier unter anderem, doch vor allem, bemüht war, in jener dem „russischen Volkscharakter" eigenen Dialektik von konvulsivischem „Streben nach Verneinung und Selbstvernichtung" und ungestümem „Verlangen nach Rettung und Buße" 7 den geistigen und existentiellen Bankrott einer spezifisch „westeuropäischen", dezidiert „außerchristlichen" bzw. „nachchristlichen" Grundhaltung ad oculos zu führen, um somit die „Unerläßlichkeit vom Glauben und von Christus" unter Beweis zu stellen8. Nietzsches Interpretation der Aufzeichnungen, soweit sie sich an Hand der brieflichen Hinweise an Gast und Overbeck rekonstruieren läßt, macht deutlich, daß er Dostoevskijs Konzeption weder in ihrer negativen, polemisch-dämonisierenden noch in ihrer positiven, christlich-soteriologischen Dimension erkannt hat. Im Gegenteil: er hat sich überzeugt (offenbar in Anlehnung an die Charakterisierung des „esprit souterrain" in einem frei erfundenen Ubergangs- und Einleitungswort als „un homme victime de sa trop vive clairvoyance intime") 9 , daß Dostoevskij hier ein Grundproblem der eigenen „Psychologie des Psychologen" aufgegriffen hatte und „mit einer leichten Kühnheit und Wonne der überlegenen Kraft hingeworfen, daß ich vor Vergnügen dabei ganz berauscht war" 10 . Es ist dies das Problem der Selbsterkenntnis im Selbstverständnis des Psychologen oder (wie er es nachträglich in einem Brief an Overbeck formulierte) das „sehr thatsächliche Paradoxon", daß die „höchste psychologische Mikroscopie und Fehlsichtigkeit noch ganz und gar nichts zum Werthe eines Menschen hinzuthut" 11 . 6
7
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Th. Dostoievsky, l'Esprit souterrain, traduit et adapté par E. Halpérine et Ch. Morice (Paris, 1886). F. M. Dostojewskij, Tagebuch eines Schriftstellers, Hrsg. Alexander Eliasberg (München, 1922), Bd. I, S. 6 4 - 6 5 . (Weiterhin in Klammern unter der Sigle Ta). F. M. Dostoevskij, Pis'ma, Bd. I (Moskau, 1929), S. 353. l'Esprit souterrain, S. 156. Vgl. auch ebd. S. 162: „C'est une maladie que d'avoir une conscience trop aiguë de ses pensées et de ses actions" f ü r : „Zuviel erkennen — das ist eine Krankheit" (I, 2). G B r IV, 285. Briefwechsel mit Overbeck, S. 380.
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Um Nietzsches „Freude" und „Berauschung", sein überschwängliches Gefühl der Wesens- und Wahlverwandtschaft mit dem Verfasser von Lisa zu begreifen, muß man bedenken, daß er dieser Frage nach dem „Wert" der Selbsterkenntnis in der „Psychologie des Psychologen" sowohl ausgesprochen esoterische als auch grundsätzliche Bedeutung beimaß. Für „gewöhnliche", „beschränkte", „mittelmäßige" bzw. „niedere" Geister, „Hinterweltler", „Christen und Moral-Idealisten", d.h. für solche, die „Gründe haben über sich dunkel zu bleiben" (KGW VIII 2, 271) und somit kein Mitspracherecht in psychologicis beanspruchen dürfen, gilt die Aufforderung zur Selbsterkenntnis ohne Einschränkung. Erst der „Psychologe der Zukunft", d.h. der wahrhaft „Tiefe", „Erkennende", „Geistige", darf für sich das Vorrecht in Anspruch nehmen, den Wert der Selbsterkenntnis in Frage zu stellen. Indem er diese für „gewöhnliche Geister" verborgene, ja im Rahmen ihrer Bemühungen um Selbstverwirklichung unstatthafte Problematik in der Tragödie des an der eigenen introvertierten „psychologischen Mikroscopie und Fehlsichtigkeit" zugrundegehenden „esprit souterrain" mit „berauschender" Eindringlichkeit zur Darstellung brachte, erwies sich Dostoevskij als vollwertiges Mitglied dieser erlesenen Gesellschaft der „Psychologen der Zukunft". Es könnte zunächst befremdlich anmuten, daß ausgerechnet der maßgeblich „tiefe" Psychologe in der Aufforderung zur Selbsterkenntnis eine „griechische Oberflächlichkeit" 12 bzw. eine „Entartungsform des psychologischen Genies" (KGW VIII 3, 23) erblicken könnte. Denn das vorsätzliche „Absehen von sich" (KGW VI 3, 59) scheint einer krassen Oberflächlichkeit in psychologicis Tür und "tor zu öffnen, die Gefahr einer naiven Unwissenheit in bezug auf die Realien des eigenen Innenlebens heraufzubeschwören. Gerade diese wissentlich-willentliche „Naivetät" (KGW VIII 3, 22) in bezug auf die „Tiefe" des eigenen Innenlebens ist aber für das Selbstverständnis des Nietzscheschen „Zukunftspsychologen" konstitutiv und zwar als dessen „eigenthümliche Tugend" (KGW V 2, 155). Dieses Paradoxon des Psychologen, der im scheinbaren „Laster" der „Naivität" in bezug auf sich selbst eine Kardinaltugend zu erkennen glaubt, ist vor allem auf eine Besonderheit des Nietzscheschen Psychologisierens zurückzuführen, die dieses formal in die Nähe der Dostoevskischen Dialektik von „Verneinung" und „Rettung" rückt. Nietzsche geht es in seiner Eigenschaft als Psychologe weder primär um „Analyse" im Sinne der Eruierung und Formulierung von objektiv gegebenen, empirisch nachweisbaren Tatbeständen und Gesetzlichkeiten des seelischen Lebens, noch um „Heilung" im Sinne der therapeutischen Individualpsychologie. Sondern Psychologie ist, 12
Ebd. S. 365.
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entsprechend Nietzsches formal religiösem „Grundschema der Auffassung des Menschseins" unter dem Aspekt der „Verlorenheit des Menschen und (der) Möglichkeit seines Heils" 1 3 , in ihrer Grundtendenz und Zielsetzung Soteriologie: nicht Wissenschaft, sondern Erlösungslehre, nicht Heilkunde, sondern Erkundung des Heils. Diese Potenzierung der Psychologie zur „Soterio-Psychologie" läßt auf eine Fragestellung schließen, die den Rahmen der empirisch-wissenschaftlichen Psychologie (auch in ihrem gelegentlich erhobenen Anspruch einer totalen Interpretation des Humanen) effektiv sprengt, die aber im Brennpunkt von Nietzsches Bemühungen um eine lebensträchtige und -gerechte „Psychologie der Z u k u n f t " steht. Es ist dies das Problem der Wiedergewinnung des Raumes und des Bodens des ursprünglichen Freiseins angesichts jener von Nietzsche mit dem Schlagwort „Tod Gottes" bedachten radikalen Verunsicherung des „nach-christlichen" Menschen in bezug auf die tragende „ T i e f e " und die sinngebende „ H ö h e " seines Daseins. „Psychologie", so wie sie Nietzsche versteht, konstituiert sich im Zeichen dieser „Katastrophe" einpr schicksalhaft um sich greifenden „religiösen Anomie" als ein schöpferisches Leiden am Verlust des eigentlichen Raumes der ursprünglichen Freiheit, als integraler Bestandteil des eigenen epochalen Versuchs und Wagnisses, jene dynamische „Tiefe" elementaren Lebens und Erlebens zu erschließen, von der aus dieser wesentlich unfreie „pathologische Zwischenzustand" entscheidend zu überwinden wäre. Dies ist wohl auch das „Faszinierende" an Nietzsches Philosophieren überhaupt, daß es sich nämlich, wie einst die dämonische „Vernünftigkeit" des Sokrates, einer Auflösungs- und Übergangszeit „als Antwort, als Lösung, als Anschein der Kur" (KGW VI 3, 66) präsentiert. Wenn Nietzsche als „Psychologen-Psychologe" nicht nur „Misstrauen gegen die Möglichkeit der Selbst-Erkenntniss" (KGW VI 2, 240) bekundet, sondern in der Aufforderung zur Selbsterkenntnis eine positive Gefahr nicht n u r f ü r die Glaubwürdigkeit des eigenen Psychologisierens, sondern für das „ L e b e n " selbst erblickt, dann vor allem deshalb, weil er im Willen zur Selbsterkenntnis eine „dämonische" Anfechtung in bezug auf das eigene ursprüngliche Freisein zu erkennen glaubte. Der Psychologe, der als Uberwinder der „religiösen Anomie" d. h. als Anwalt eines neuen, wahrhaft „ t i e f e n " Lebens- und Freiheitsideals auftritt, muß sich der dynamischen „Lebenstiefe", die in ihm mächtig ist und die erst sein „ursprüngliches" Freisein zu gewährleisten vermag, unbedingt sicher wissen. Im Rahmen der stark „biologistisch" gefärbten Anthropologie von Nietzsches letzter Schaffenszeit erhält diese dynamische „Lebenstiefe" ganz all13
Karl Jaspers, Nietzsche
und das Christentum
(München, 1952), S. 53.
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gemein Instinkt-Charakter. Nicht nur das „Genie", sondern auch die höhere Legitimität des Psychologen als „Erkennender", d. h. als Befreier und „Erlöser", sitzt in seiner ungebrochenen „Instinkttiefe". Erst die vollzogene „Instinkttiefe", die vorbehaltlose Selbsthingabe an „jene Instinkte, welche auf Erhaltung und Werth-Erhöhung des Lebens aus sind" (KGW VI 3, 171), befreit ihn zur „unbedingten Freiheit gegen sich" (KGW VI 3, 165) und damit auch zu seiner eigentlichen Bestimmung als gnadenlos-unschuldiges „Instrument der Erkenntniss" (KGW VIII 3, 22), das sich als „Vivisektor" alles „lebenswidrigen", „lebensschwächenden" Daseins vollends in den Dienst des Ideals der „Erhöhung und Verstärkung des Typus Mensch" (KGW VIII 1, 130) und somit des Lebens selbst stellt. Gerade das introspektive „Erkennen" bzw. „Erkennen-Wollen" droht aber, diesen erlösten und erlösenden „vollkommnen Automatismus des Instinkts" (KGW VI 3, 240) radikal zu problematisieren, von dem das auch für das Selbstverständnis des „Zukunftspsychologen" konstitutive „Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess" (KGW V 2, 319), seine Legitimität bezieht. Denn einen Instinkt „erkennen", d. h. „rationalisieren", „analysieren", „objektivieren", „auslegen", „aufklären", bedeutet ihn „schwächen" (KGW VI 3, 34-35), ihn seiner Spontaneität und Unmittelbarkeit und somit seiner „Tiefe" berauben. Die Selbstbeobachtung erweist sich in diesem Sinne gerade in ihrer Eigenschaft als „Fragezeichen am Instinkt des Psychologen" als eine „Entartungsform des psychologischen Genies" (KGW VIII 3, 23). Wenn der „Psychologe der Zukunft" „wenig guten Willen zur Selbstbeobachtung" (KGW VIII 3, 22) aufzubringen vermag, so hat die „Weisheit", die hier „der Erkenntniss Grenzen zieht" (KGW VI, 3, 53), ihren Sitz im „SelbsterhaltungsInstinkt" (KGW VIII 3, 22—23), genauer im „Erhaltungs-Instinkt des starken Lebens" (KGW VI 3, 169). Der Psychologe, der sich dieser „Instinkt-Weisheit" widersetzt, handelt notwendig instinkt- und eben darin lebenswidrig, begibt sich jener Instinkt- und Lebenstiefe, jener „unbedingten Freiheit gegen sich", die erst seine „Mächtigkeit" als Vivisektor und Erkennender gewährleistet. Er wird oberflächlich, eben „objektiv", hört auf, sich etwas anzugehen (KGW VI 2, 88), tritt aus dem befreiten und befreienden Dienst am „Leben", verfällt der Aporie der „religiösen Anomie" oder — und hier statuierte Dostoevskij in jener „zweiten Novelle" von l'Esprit souterrain das „schreckliche" 14 und abschreckende Exempel — er wird zum „Selbsthenker", der an der Disgregation der eigenen „selbst-vivisezierten" Instinkte kläglich zugrunde geht. 14
GBr IV, 285.
Nietzsches „Soteriopsychologie"
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Die Problematik dieser Interpretation verrät sich zunächst in Dostoevskijs vorhin zitiertem Hinweis an den Bruder, die „Beichte" des „KellerlochMenschen" sei im Grunde ein verschlüsseltes Plädoyer für den „Glauben" und für „Christus". Diese tragende „ I d e e " 1 5 des Ganzen, der Ausblick auf den entscheidenden „Rückschlag zur Wiederherstellung und Rettung" (Ta I, 65) seines Anti-Helden, sollte in jenen Stellen im 10. Abschnitt des ersten Teils zum Zuge kommen, die von der Zensur beanstandet und gestrichen wurden. Wären jene Sätze den zaristischen Zensoren (oder aber den französischen Herausgebern, die ausgerechnet im 10. Abschnitt drastische Kürzungen vornahmen) nicht zum Opfer gefallen, so hätte Nietzsche sich wohl fragen müssen, ob er sich tatsächlich mit diesem „Psychologen" verstehen wolle, ob er ihn überhaupt verstanden habe, ja ob er überhaupt ein „Psychol o g e " sei im Sinne jenes unbestechlichen „Realisten" und Atheisten Stendhal, der ständig bemüht war, den Blick „sec, clair, sans illusion" zu halten, „pour voir clair dans ce qui est" ( K G W VI 2, 53). Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß Dostoevskij (wie auch Kierkegaard in seiner Grund- und Haupteigenschaft als „religiöser Schriftsteller") die Rubrik „Psychologie" als irreführend empfand in bezug auf die eigentliche Tragweite, die „ H ö h e " und „Tiefe" des eigenen Grundbestrebens, „bei vollständigem Realismus im Menschen den Menschen (zu) finden". „ M a n nennt mich einen Psychologen. Das ist nicht richtig. Ich bin nur ein Realist im höheren Sinne, das heißt: ich zeige alle Tiefen der Menschenseele" 1 6 . Der Hinweis auf die „ H ö h e " und „ T i e f e " des eigenen „Realismus" verrät, daß hier Grundsätzliches angeschnitten wird. „Psychologie" (wie auch der gängige Realismus-Begriff) 1 7 ist deshalb keine sachgerechte Bezeichnung für die eigene Menschenerforschung, weil das, was sie meint oder impliziert an „ H ö h e " und „Tiefe", d. h. an „Realität" in bezug auf die „ewigen und allgemeinen, anscheinend ewig unerforschlichen Tiefen des menschlichen Geistes und Charakters" (Ta I, 154), unter dem von Dostoevskij Eruierten entscheidend zurückbleibt. In der T a t : das, was Dostoevskij unter „Realismus im höheren Sinne" bzw. dem „Idealismus" eines „wirklichen, tiefen Realismus" 1 8 verstand und verstanden wissen wollte, bezieht weder seine „Realität" noch seine „höhere" 15
16 17 18
Pis'ma I, 353. Ein verschlüsselter, von den Ubersetzern über den Wortlaut hinaus verdeutlichter Hinweis auf Dostoevskijs christlich-soteriologische Intention ist im zweiten Abschnitt der französischen Ubersetzung erhalten (l'Esprit souterrain, S. 165): „. . . que s'il m'était accordé encore assez de temps et de foi pour me transformer en un homme meilleur" für: „. . . daß selbst wenn ich noch die Zeit und den Glauben hätte, mich in irgend etwas anderes zu verwandeln" (I, 2). F. M. Dostojewski, Tagebuch eines Schriftstellers (München, 1963), S. 619. F. M. Dostojewski, Gesammelte Briefe, Hrsg. Fr. Hitzer (München, 1966), S. 286. Ebd.
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Legitimität von jenem „aufgeklärten und humanen Atheismus", dem die „Wissenschaft" (Ta IV, 344) des „nach-christlichen" europäischen Westens ihre Entstehung verdankt. Sondern es war die „unmittelbare Berührung" mit den „niedersten" Schichten des einfachen Volkes (Ta I, 256), vornehmlich in den vier Jahren der sibirischen Gefangenschaft, der tägliche Umgang mit „volkstümlichen Gestalten und Charakteren", darunter „tiefen, starken und schönen Naturen" 1 9 , „positiven Charakteren von ungewöhnlicher Kraft und Schönheit", „Gerechten und Märtyrern für die Wahrheit" (Ta IV, 376), der in einer der ordo salutis östlicher Askese entsprechenden fortschreitenden inneren Wandlung und „Transsubstantiierung" des Lebens „ganz allmählich und erst nach sehr, sehr langer Zeit" 2 0 jene „Tiefen der Menschenseele" erschloß, in denen Dostoevskij die „ewigen und allgemeinen . . . Tiefen des menschlichen Geistes und Charakters" zu gewahren glaubte. In diesem Sinne konnte er seine „Bekehrung" vom sozial-humanen Liberalismus und Utopismus Petraschevskischer Prägung, jene „Wiedergeburt seiner Uberzeugungen" (Ta I, 257), die für das eigentliche Lebenswerk richtungweisend wird, als „Rückkehr zur Volkswurzel, zur Erkenntnis der russischen Seele und zur Anerkennung des Volksgeists" (Ta I, 256) charakterisieren oder aber die eigene „Richtung" in der „Tiefe des christlichen Volksgeists" 21 begründen. Dieses „volkhaft-bodenständige" Moment auf seine „ideologische", „romantische" Sinnkomponente reduzieren, hieße zweifelsohne sowohl das tragende „existentielle" Substrat als auch die „religiöse" Substanz und Tragweite von Dostoevskijs Realismus-Begriff verkennen22. Nietzsche selber (der die stark ideologisch-politisch gefärbten, theoretischen Versuche und Entwürfe im Graschdanin und im Tagebuch eines Schriftstellers natürlich nicht gekannt hat) lag es jedenfalls fern, die psychologisch-existentielle „Realität" von Dostoevskijs innerlich erlebter und empfundener Christlichkeit in Frage zu stellen. Im Gegenteil: unter den gelegentlichen aus den beiden letzten Schaffensjahren erhaltenen Hinweisen auf Dostoevskij und dessen Werk überwiegen solche, in denen er gerade die „psychologische" Tiefe und Uberzeugungskraft seiner Bemühungen um die Ergründung und Darstellung christlicher Existenz hervorhebt. Im Gegensatz zur „psychologischen Leichtfertigkeit" (KGW VI, 3, 197) konkurrierender westeuropäischer „Christopsychologen" war es Dostoevskij gelungen, die christliche Existenz intuitivmitempfindend gleichsam von innen heraus zu ergründen, um sie dann an 19 20 21 22
Ebd. S. 97. Tagebuch eines Schriftstellers, S. 76. Ebd. S. 619. Zur „religiösen" Sinnqualität der Begriffe „Volk" und „Erde" beim späten Dostoevskij vgl. Martin Doeme, Tolstoj und Dostojewski]: Zwei christliche Utopien (Göttingen, 1969), S. 129, 142, 146 f., 158, 165 f.
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Hand von lebensechten Gestalten und Figuren, „rührenden, verderbten und verdrehten Mißgeburten" (KGW VIII 3, 59), zu beleuchten. Indem er jene „Mischung von Sublimem, Krankem und Kindlichem", die den „ergreifenden Reiz" der ursprünglichen Jesus-Gestalt ausmacht, zu „empfinden" wußte (KGW VI 3, 199—200), gelang es ihm, das tiefenpsychologische Phänomen „Christus" als Urform gelebter und erlebter christlicher Existenz zu „errathen" (KGW VIII 3, 203) 23 . In welch hohem Maße die im Antichrist ausgeführte Tiefenpsychologie des „echten, des ursprünglichen Christenthums" (KGW VI 3, 209) diesem psychologisch-existentiellen „Realismus" der Dostoevskischen „Christopsychologie" verpflichtet ist, verrät jener letzte Brief Nietzsches an den dänischen Dostoevskij-Kenner Georg Brandes, in dem er seinen Anspruch auf das Prädikat „erster Psychologe des Christenthums" mit einem Bekennntnis zu Dostoevskij als dem „werthvollsten psychologischen Material, das ich kenne", gleichsam belegte24. Selbst wenn Dostoevskij in seinem (so Brandes) „ganz christlichen Gefühlsleben" Nietzsches „untersten Instinkten zuwider" ging25, so weigerte sich dieser demonstrativ, ihn einer „christlichen" Unwissenheit und Falschmünzerei in psychologicis zu bezichtigen. Der Verwurzelung in der „Lebenswirklichkeit" 26 eines unmittelbar erlebten, „ganzmenschlichen" Christseins entspricht der ideelle Anspruch von Dostoevskijs „höherem Realismus" auf Uberwindung jenes skeptischmaterialistischen Zeitgeists des „Unglaubens und der Zweifelsucht", dem er sich wohl „bis an sein Lebensende" ausgesetzt wußte 27 . Gerade als „Kind des Unglaubens und der Zweifelsucht" wußte er sich dazu aufgerufen, eine beispiellose „Gottesleugnung und Gewalt der Verneinung" 28 durchzumachen, um den Blick auf jenes „Hosianna" frei zu bekommen, ohne das er als „unverbesserlicher Idealist" nicht zu leben vermochte (Ta II, 130). Dieses „Hosianna" konnte sich aber in der „Feuerprobe des Zweifels" (Brü Kar X I , 9) nur deshalb behaupten, weil es jenen „ewigen und allgemeinen" Tiefen menschlichen Lebens und Erlebens entsprang, zu denen erst die in sinnlich-zeitlicher Unmittelbarkeit erlebte „Tiefe des christlichen Volksgeists" den Zugang verschaffte. Die „Realität", der hier das Wort geredet wird, ist, wie man errät, ein denkbar ungünstiger Gegenstand der psychologischen Analyse. Als „Existenzbestimmung" bzw. „Existenzmitteilung" (in den einschlägigen Kierke23 24
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Vgl. auch K G W VI 3, 44; K G W VIII 2, 417; 421. G B r III: 1, 322. Vgl. Ernst Benz, Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums Kirche (Leiden, 1956), S. 97. G B r I I I : 1, 319; 322. Sören Kierkegaard, Die Tagebücher (Düsseldorf-Köln, 1962ff.), Bd. IV, S. 172. Gesammelte Briefe, S. 86. Tagebuch eines Schriftstellers, S. 612—613.
und der
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gaardschen Kategorien) entzieht sie sich vorsätzlich der distanzierenden Vergegenständlichung. Sie will nicht begriffen, objektiviert, relativiert werden, sondern als „lebendige Erfahrung" (Ta III, 317) bzw. „lebendiges Gefühl" (Ta II, 466) erlebt und erlitten werden, und zwar dort, wo „Psychologie" ein Ärgernis ist, nämlich unter „Beleidigten, Duldenden, Einfältigen, Erniedrigten" (Ta IV, 326), eben „Unmündigen" (Matth. 11:25; Luk. 10:21) im Sinne des bekannten Jesus-Logions. Man könnte noch einen Schritt weitergehen und behaupten, daß die gemeinte existenzgewordene „Einfältigkeit" (auch hier im Sinne Kierkegaards) sich erst demjenigen kundtut und mitteilt, der sich von den Macht- und Geltungsansprüchen des „nebensächlichen Verstands" 29 , des „euklidischen" Individualbewußtseins 30 , radikal emanzipiert hat. Diese betont anti- bzw. transrationalistische Grundtendenz von Dostoevskijs „höherem Realismus" überrascht nicht, wenn man bedenkt, daß die „Realität", von der er seine höhere Legitimität bezieht, als prinzipiell vor-bewußte, ja „paradiesische" (Brü Kar VI, 2, d) Ursprünglichkeit empfunden und verstanden wird. Sie überrascht aber vor allem dann nicht, wenn man erwägt, in welch hohem Maße diese dynamisch-ursprüngliche „Existenzbestimmung" als Bestimmung und Drang zur „Harmonie" erlebt 31 und als Aufforderung zur „höchsten Synthese" bzw. zur allmenschlichen „Versöhnung" und „Allverzeihung" gedacht wird. In diesem Sinne glaubte Dostoevskij in jener Formel „Glaube und Christus", die er in zahlreichen Variationen immer wieder anbringt, wo es gilt, auf das „Höchste" und „Tiefste" hinzudeuten, das eigentliche Prinzip des Menschlichen, das maßgebliche Ideal der „absoluten persönlichen Selbstvervollkommnung" (Ta IV, 398), die „Idee" der Freiheit subsumieren zu können. Gerade das „Gesetz Christi und des Evangeliums" (Ta IV, 367), das Doppelgebot der unbedingten, freiwilligen Agape zu Gott und zum Näch29
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Der „nebensächliche" im Gegensatz zu dem vornehmlich vom Hauptvertreter des religiös „Schönen" im Idioten personifizierten „hauptsächlichen Verstand" (III, 8). „Euklidisch" ist die vom Verstandesmenschen Ivan Karamazov geprägte ironisierende Formel für die irdisch-diesseitige Beschaffenheit des Intellekts (Brü Kar V, 3; 4). Die implizierte Abwertung des diskursiven Denkens überzeugt allerdings erst aus der diesem unzugänglichen „höheren" bzw. „überweltlichen" Perspektive des Staretz Sosima. Erst unter dem Aspekt jener „geheimnisvollen, verborgenen Empfindung unserer lebendigen Verbindung mit der anderen Welt" (VI, 3, g), die erst die organische Ganzheitlichkeit der „lebendigen Seele" verbürgt (VI, 3, d), wirkt das rational-diskursive Denken, Begreifen, Erkennen glaubhaft „kraftlos", „geringfügig", „dürftig" (V, 3; 4). Vgl. die von N. N. Strachov aufgezeichnete Schilderung einer jener „Augenblicke der größten Verzückung und Begeisterung", die Dostoevskij gelegentlich vor epileptischen Anfällen erlebte: „Ich fühle vollständige Harmonie in mir und mit der ganzen Welt, und dieses Gefühl ist so stark und süß, daß man für die wenigen Sekunden einer solchen Seligkeit zehn Jahre seines Lebens, ja sogar das ganze Leben hingeben könnte." Sämtliche Werke (München, 1920ff.), Bd. XII, S. 18. Ahnlich Ta IV, 297: „Es gibt kein höheres Glück, als an die Güte der Menschen und an ihre gegenseitige Liebe zu glauben."
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sten, ist — dies gilt Dostoevskij als axiomatisch — die adäquate Objektivation jener unendlich subtilen (und daher rational unfaßbaren), inwendig erlebten Bestimmung zum Harmonisch-Ursprünglichen, auf das hin die Kreatur „Mensch" letzten Endes lebt und von dem sie ihre höchste Legitimität und ihre eigentliche Lebenskraft bezieht 32 . Im Rahmen eines so dezidiert ins „Höhere", „Tiefere", „Ewige", eben „Ursprüngliche" transzendierten „Realismus" wird aber der „Wert" des Individualbewußtseins in bezug auf das ursprüngliche Freisein (d. h. auf das „Leben" in dessen anthropospezifischer Sinnqualität als ganzmenschliche Grundbestimmung) notwendig und grundsätzlich in Frage gestellt. Denn die eigentliche Bewegung der Freiheit auf jenes Ursprünglich-Harmonische hin vollzieht sich als eine integrierende Bestimmung des ganzen Menschen. Der Intellekt stellt aber, wie schon der Philosoph im Souterrain erkennt, bloß „irgendein Zwanzigstel meiner Lebenskräfte" dar: „Der Verstand ist nur Verstand und genügt nur den verstandesmäßigen Kräften des Menschen" (I, 8). Indem es die Gesetzlichkeit „euklidischer" bzw. „kurzer" (Däm I, 3, 10) Perspektiven und Differenzierungen ganz in den Vordergrund stellt und zur „Realität" schlechthin potenziert, verdrängt das Individualbewußtsein die tieferen, subtileren, „paradiesischen" Forderungen und Bestimmungen, die vom Ursprünglich-Harmonischen aus an den ganzen Menschen ergehen. Ihm wohnt somit eine Tendenz inne, sich zu einer autarken, den Imperativen des Ursprünglich-Harmonischen verschlossenen dynamischen realitäts- und wertsetzenden Instanz zu entwickeln, die dessen Forderungen und Bestimmungen als „unerfüllbare" Wünschbarkeiten oder gar phantastische „Irrtümer" 3 3 problematisiert und somit entwertet. Gerade diese schöpferische Virtuosität in der Hypostasierung der eigenen vordergründigen Perspektiven und abstrakten Idealitäten, diese geübte Souveränität im Umgang mit den esoterischen Kategorien der Ursprünglichkeit, kurz dieser Wille zur Macht und Übermacht läßt den Intellekt als eine „dämonische" Bestimmung erkennen. Das „euklidische" Individualbewußtsein ist nicht nur prinzipiell unfähig, die integrierende, „vereinfältigende" Bewegung auf das Ursprünglich-Harmonische hin zu vollziehen. Es widersetzt sich aktiv dieser Bestimmung zur Ganzheitlichkeit und Freiheit der Person, indem es sich zu einem autonomen, wesentlich abstrakten Wert- und Wirklichkeitsbewußtsein zu entwickeln droht, das (wie im verzweifelt „unordentlichen und vereinsamten" Kellerloch-Dasein des „intensiv bewußten" Räsonierenden im Souterrain) seine Emanzipation von den „höheren" Bestim32
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Vgl. Sosimas Gleichsetzung von „Leben" mit der organischen „Verwurzelung" der Gedanken und Gefühle in einer rein intuitiv-gefühlsmäßig erfahrbaren „erhabenen und höheren Welt" (Brü Kar VI, 3, g). Tagebuch eines Schriftstellers, S. 616.
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mungen des Ursprünglichen mit der „niederen" Hörigkeit eines rein selbstischen, anarchisch fordernden Affekt- und Trieblebens bezahlt 3 4 . In diesem Sinne ereignet sich (so Dostoevskij) alles Dasein, das vom Selbstbehauptungswillen des Individualbewußtseins geprägt und bestimmt wird, im Zeichen der Selbstentfremdung und Selbstzerstörung, eben des „Preljest", jener für die russisch-orthodoxe Anthropologie konstitutiven Lehre von der geistig-sittlichen Verwahrlosung des Menschen durch das willige Eingehen auf „dämonische" Wahrheits-, Wert- und Sinnbestimmungen 3 5 . Es trägt „seinen T o d in sich und straft sich früher oder später selbst", indem es unweigerlich von der „unwiderlegbaren lebendigen Logik des lebendigen wirklichen Lebens" widerlegt wird (Ta III, 326). Die vom Intellekt erhobene Forderung, den (verstandesmäßigen, „euklidischen") „Sinn des Lebens" zu lieben (Brü Kar V , 3) ist also in ihrer letzten Konsequenz (wie Ivan Karamasov gleichsam am eigenen Leibe erfährt) die Aufforderung zur Selbstzerstörung, zum „Untergang im H a ß " (Brü Kar X I , 10). Denn sich dem Ideal des erfaßbaren Lebenssinnes verschreiben, heißt sich (wie der „Realist" Aljoscha errät) der unfaßbaren, auf Ursprünglich-Harmonisches hindrängenden Gott-dynamis verschließen, und sich eben darin dem verborgenen, tragenden „ S i n n " des Lebens entfremden. Diese soteriologische Verdächtigung und Entwertung des Intellekts, die André Gide auf die treffende Formel „dépréciation évangélique de l'intelligence" gebracht h a t 3 6 , ist, so könnte man behaupten, der „Archimedische P u n k t " von Dostoevskijs großangelegter Auseinandersetzung mit dem Gesamtphänomen „westeuropäischer Nihilismus" und damit seines Versuchs einer Uberwindung der „religiösen Anomie" im Zeichen der allmenschlich versöhnenden und vereinigenden, allweltlich erneuernden „Kraft des russischen Volksgeists" (Ta IV, 364). Erst von dieser positiv „außerrationalistischen" Wert-, Sinn- und Wahrheitsperspektive aus, die sich schwerlich als idealisierte „unmittelbar einfältige" Gläubigkeit 3 7 oder gar als naiv-unkriti-
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Diesem Erscheinungsbild explosiv auflaufender, massiv egozentrischer Affekt- und Triebkräfte wäre vor allem die auch in den Nietzsche zugänglichen Textstellen angeschnittene Machtbesessenheit des „Kellerloch-Menschen" zuzuordnen. Vgl. l'Esprit souterrain, S. 290: „II m'a toujours été impossible de vivre sans tyranniser quelqu'un." Die Schlüsselstelle in II, 3 blieb Nietzsche allerdings unbekannt: „Ich war in meiner Seele bereits ein Despot; ich wollte unumschränkt über seine Seele herrschen." Vgl. vor allem Raskolnikovs alptraumartige Vision von der kollektiven Selbstzerstörung der Menschheit im Zuge ihrer Infizierung durch Verstandes- und willensbegabte „Trichinen", die in den Köpfen ihrer Opfer eine willkürliche Vielfalt unvereinbarer Wahrheitsauffassungen hervorbringen (Schuld und Sühne, Epilog, 2). In der archaisch-apokalyptischen Angstvision schwingt die Einsicht mit in die Grundtendenz des Verstands zur Isolierung des Einzelnen in einem autonomen, wesentlich willkürlichen Wahrheits- und Realitätsbewußtsein. André Gide, Oeuvres complètes (Paris, 1932ff.), Bd. X I , S. 258. Kierkegaard, Die Tagebücher, Bd. III, S. 62.
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sehe Schwärmerei von der Hand weisen läßt, wird es möglich, in der für das Selbstbewußtsein der „nach-christlichen" Moderne konstitutiven „religiösen Anomie" sowohl den von Nietzsche gefeierten Triumph des christlicheuropäischen „intellektuellen Gewissens" (KGW V 2, 282) als auch die kultur- und geistesgeschichtlich mächtig gewordene Hybris eines „dämonischen" Panrationalismus zu erkennen. Die Problematisierung und Entwertung sämtlicher überlieferten transzendenten Glaubensinhalte und -erfahrungen im Zuge des Siegeszuges des „wissenschaflichen Atheismus" (KGW V 2, 281) ist, ebensowenig wie das Menschlich-Böse schlechthin, das „Unnormale und Sündhafte" (Ta IV, 61), ein Fatum von „geheimnisvoller und verhängnisvoller Unvermeidlichkeit" (Ta IV, 61). Sie ist kein schlechthin irreversibles „gesammt-europäisches Ereigniss" (KGW V 2, 281), sondern vielmehr die artspezifische Anomie bzw. Hamartia einer Welt, die (wie Kierkegaard konstatierte) „im Verstand liegt" 38 und somit das Prinzip ihrer Weltlichkeit in der „niederen" Sofia der ratio inferior sucht und findet. Mit Dostoevskij geredet, ist sie das zum „bösen" Zeitgeist (Ta I, 307) potenzierte und mythisierte Scheitern der Bemühungen der westeuropäischen Menschheit um die Aktualisierung jener lebendigen religiösen Substanz, jenes „Wesens und Geistes und jener Wahrheit des Christentums", die sich auf der „Grundlage" des russischen Narod „trotz allen seinen Lastern so vollkommen erhalten und befestigt haben wie vielleicht bei keinem anderen Volk der Erde" (Ta III, 275). Gerade in dieser „dämonischen" Hybris einer von den „tieferen", „höheren" Bestimmungen des Ursprünglich-Harmonischen emanzipierten ratio inferior ist aber die explosiv-destruktive Dissonanz jener „europäischen Widersprüche" vorgebildet und gleichsam im Keim angelegt, die zu „versöhnen" und zur „Harmonie des Ganzen" umzubestimmen die „russische allmenschliche allvereinende Seele" berufen ist (Ta IV, 366). Der Drastik des spezifisch russischen Erlebnisses der modernen Krise der religiösen Werte entsprechend, zieht Dostoevskijs Polemik gegen den „Nihilismus" westeuropäischer Provenienz und Prägung weitere und tiefere Kreise, als dies das Schlagwort zunächst vermuten läßt. Sie gilt zum Beispiel auch der eigentlichen „Gelehrtenreligion" der Moderne, jenem rationalistisch-atheistischen Humanismus, dessen Belange und Richtlinien für die neuere Dostoevskij- und Nietzsche-Literatur weitgehend ausschlaggebend sind. Sie gilt aber vor allem jeder „Psychologie", die sich nicht radikal von ihrem Nährboden in der nach-scholastischen kritischen Philosophie des Westens losgerissen hat, um sich den Leitsätzen und Postulaten eines „wirklichen, tiefen" d. h. im Grunde menschengerechten, menschenwürdigen „Realismus" zu unterwerfen. 38
E b d . S. 200.
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Gerade in diesem Zusammenhang ist aber Nietzsches späte „Lebenspsychologie" von entscheidendem, ja exemplarischem Interesse. Denn sie ist, zum Unterschied von der empirisch-analytischen Psychologie jedweder Richtung und Schule, wesentlich „Soteriopsychologie", in der das Freiheitsproblem in seiner ganzen „religiösen" Tiefe und Tragweite zur Geltung kommt. Als „vollkommener Atheist" im Sinne jenes vom Bischof Tichon im unterdrückten Kapitel der Dämonen formulierten Paradoxons von der Wesensverwandtschaft zwischen „vollkommenem Glauben" und dem „vollkommenen Atheismus", bewegt sich Nietzsche in den höheren Regionen „religiöser" Geistigkeit, dort wo transzendierende Vorstöße und „Sprünge" sich in ihrer Gewichtigkeit und Tragweite ins Schicksalhafte steigern. Indem er die für den westlichen „Nihilismus" konstitutive religiöse Anomie in seinem „Tod-Gottes-Atheimus" hypostasiert, um diesen dann zum Postulat einer heilsträchtigen „Zukunftspsychologie" zu machen, geht Nietzsche auf das große Wagnis ein, auf radikal „nihilistischer" Grundlage ein grundsätzlich „neues", bewußt nach- und antichristliches Freiheitsideal zu entwerfen. Nietzsches Rekonstruktion des Grundthemas der Aufzeichnungen aus einem Kellerloch im Sinne der eigenen „Psychologie des Psychologen" ist von besonderem Belang in diesem Zusammenhang, zumal Dostoevskij hier bemüht war, die wesentliche Unfreiheit des „nihilistischen" Ansatzes aufzuzeigen. Indem er an Hand des solipsistischen „Kellerloch-Daseins" des hektisch psychologisierenden und philosophierenden „esprit souterrain" das unfreie Wesen einer religiös ungebundenen und daher letzten Endes existentiell unverbindlichen Geistigkeit mit „schrecklicher und grausamer" Deutlichkeit ad oculos führte, forderte er Nietzsche gleichsam dazu auf, sich Rechenschaft zu geben über die Grundfrage nach dem Verhältnis zwischen „Erkenntniswillen" und Freiheitsdrang in der eigenen „Psychologie des Psychologen". Die Tatsache, daß er an Dostoevskijs Konzeption sowohl das legitimierende Moment der psychologischen „Tiefe" (gegenüber jenen „griechischen Oberflächlichkeiten", an denen „die ganze europäische Psychologie . . . krankt") als auch die „leichte Kühnheit" seines sich ins „Grausame", „Schreckliche" und „Fürchterliche" übersteigernden Entwurfs konstatierte und rühmte, verrät, daß Nietzsche hier echt „dämonisches", d . h . lebenswidriges, prinzipiell unfreies Dasein erkannte. Mehr noch: er verstand dieses dämonisch-krankhafte Grundmoment ganz allgemein im Sinne Dostoevskijs als Funktion der selbstzerstörerischen Hybris des „überintensiven" Individualbewußtseins, als Disgregation einer Persönlichkeit im Zuge des Amoklaufens einer von der tragenden Lebens-dynamis entfremdeten, rein intellektuellen Geistigkeit. Auffallend an dieser Interpretation aus Dostoevskischer Sicht ist zunächst Nietzsches Reduzierung des Gesamtproblems Individualbewußtsein-
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Freiheit auf das Sonderproblem „Selbsterkenntnis in der Psychologie des Psychologen". Denn er versteht den „esprit souterrain" keineswegs als Träger einer universalmenschlichen Problematik, sondern eher als Vertreter eines qualitativ überlegenen Sondertypus, eben eines mit der „höchsten psychologischen Mikroscopie und Feinsichtigkeit" begabten „geborenen Psychologen". Die Tragödie der „Selbsterkenntnis", die hier ausgehandelt wird, gilt nur dieser höheren, seltneren Spezies des „Tiefen", „Geistigen", der sich „bedeutend über das Maaß des Menschlichen erhoben hat" (KGW VIII 2, 300). Mehr noch: das Moment des Dämonischen wird nicht im „Erkenntniswillen" selbst begründet bzw. in dessen Tendenz zur Verselbständigung gegenüber der elementaren Lebensdynamis, sondern es entwickelt sich als Funktion und Folge einer taktischen „Myopie und Unfeinheit" (KGW VIII 2, 300) des Psychologen in bezug auf die rechte Ökonomie des eignen Innenlebens. Nietzsches Verdächtigung des „Erkennens" bzw. des „Erkennen-Wollens" gilt keineswegs dem „Erkenntniswillen" selbst, insofern dieser sich als entlarvende und richtende Instanz auf äußeres, fremdes Dasein richtet. Denn es ist der Wille zur „Vernunft, Erkenntniss, Forschung" (KGW VI 3, 188), der dem „Erkennenden" den Vorrang vor allen naiven, unkritischen Geistern sichert, die sich der fatalen Losung „Du sollst nicht erkennen" (KGW VI 3, 225) verschrieben haben. Erst diese aktive „Superbia des gesunden Geistes" (KGW VI 3, 230) bzw. „Freiheit aus der Kraft und Uberkraft des Geistes"(KGW VI 3, 234) bestätigt ihn in seinem Anspruch, als Anwalt der „Zukunft" aufzutreten, d. h. als Uberwinder sowohl der christlichen „Lüge im Glauben an Gott" (KGW V 2, 282) als auch der „religiösen Anomie". Diese Potenzierung des „Erkenntniswillens" zu einer Grundbestimmung des elementaren Freiheitsdrangs verrät, daß Nietzsches scheinbar willkürliche Begründung der Kellerloch-Katastrophe in der Problematik des „Sich-selbsterkennen-Wollens" des „Lebenspsychologen" keineswegs von ungefähr war. Im Gegenteil: Er hat jenes von Dostoevskij dämonisierte Prinzip des selbstherrlichen, isolierten und isolierenden Individualbewußtseins nicht nur nicht in Frage stellen wollen, sondern er war wesentlich bemüht, dieses zum Leitprinzip jenes gott- und illusionslosen „Zukunfts-Evangeliums" (KGW VIII 2, 432) zu potenzieren, von dem auch die „Zukunfts-Psychologie" ihre höhere Legitimität bezieht. Nietzsche hat das Pathos des DämonischKrankhaften, von dem Dostoevskijs Kellerloch-Tragödie umwittert ist, deshalb so bereitwillig aufgegriffen und auf die eigene Sonderproblematik des „Erkenne dich selbst" übertragen, weil erst die „Dämonisierung" des introvertierten Erkennen-Wollens die Voraussetzung schafft für die „Vergöttlichung" (KGW VIII 2, 401) des „Erkenntniswillens". Der Erkennende, dem
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das eigene Innen- bzw. Instinktleben kein rechter Gegenstand des Erkennens ist, weiß seine dynamische Instinkt- und Lebenstiefe gegen alle entwertenden Objektivationsversuche gefeit. Er weiß sich somit in seiner Eigenschaft als „Soteriopsychologe" bzw. Zukunftspsychologe" legitimiert und bestätigt, sowohl in seinem Anspruch auf unbedingtes Freisein nach innen, auf die „Tiefe" spontan-unmittelbaren Aufgehens im Drängen elementarer, tragender Instinkt- und Lebenskräfte, als auch in der unbedingten Freiheit nach außen seines dominierenden Willens zur „Vernunft, Erkenntniss, Forschung". Erst die Entlarvung des „Sich-Selbst-Erkennen-Wollens" als einer lebens- und freiheitswidrigen, eben „dämonischen" Bestimmung bestätigt und legitimiert den „Zukunftspsychologen" gerade in seinen korrelativen Haupteigenschaften als „Erkennender" und „Erlöser", befreit ihn zu seiner eigentlichen Bestimmung als unschuldig-tiefes, mit einer rücksichtslosen „Rechtschaffenheit der Erkenntniss" (KGW VI 3, 246) auslegendes (KGW VIII 1, 102) „Instrument" der Erkenntnis. Der „unbedingten Freiheit gegen sich" des Lebens- und Instinktkräftigen, der sich die ungebrochene dynamische „Instinkttiefe" durch eine vorsätzliche „Naivität" in bezug auf das eigne Innenleben sichert und erhält, entspricht die unbedingte Freiheit des „Erkennenden", der den eigenen unbändigen „Erkenntniswillen" vorbehaltlos in den Dienst des inwendig drängenden und fordernden „Lebens" stellt. Spätestens an dieser Stelle wird evident, daß Nietzsches eigenwillige Interpretation von Dostoevskijs „Kellerloch-Tragödie" ihn unversehens in die Nähe des „Anti-Helden" selbst rücken läßt und zwar als „Nihilist", in dem der Macht- und Geltungsdrang des Individualbewußtseins in bedrohlichem, ja „dämonischem" Maße mächtig ist. Im Gegensatz zu diesem eingefleischten „Paradoxalisten", der sich zaghaft-verzweifelt nach „irgend etwas ganz Anderem" (I, 2; 11) als dem eigensinnig ausgeheckten „KellerlochDasein" sehnt, ist aber dem Nietzscheschen „Zukunftspsychologen" der Durchbruch zu einem „neuen" Wert-, Selbst- und Sendungsbewußtsein gelungen, in dem die Hybris des „Kellerloch-Menschen" zu einer Bestimmung des ursprünglichen Freiseins sublimiert wird. Diese Überlegungen ergeben ein Paradoxon, dessen perverser Reiz Dostoevskij wohl nicht entgangen wäre: Nietzsche bemächtigt sich der Allüre und des Pathos des Dämonischen, das der „Nihilisten-Tragödie" des „Kellerloch-Menschen" anhaftet, um gerade jene causa efficiens „nihilistischen" Daseins zu soteriologischer Substanz und Potenz zu verhelfen, die der eigentliche Gegenstand von Dostoevskijs polemischem Entwurf ist. Daß dieser Versuch, im „Erkenntniswillen" den objektivierten Machtund Geltungsanspruch des autonomen Individualbewußtseins zu einer Bestimmung des ursprünglichen Freiseins zu potenzieren, unweigerlich ins
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Theoretische, Abstrakte, Unwahre, d. h. eben ins „Dämonische" führt, steht im Sinne des „höheren" bzw. „wirklichen tiefen Realismus" Dostoevskijs von vornherein fest. Das Freiheitsideal, das Nietzsches merkwürdiger „Deformierung" von Dostoevskijs Nihilisten-Tragödie zugrundeliegt, läßt auch in der Tat auf eine diesem sehr wohl bekannte Variante der „nihilistischen" Apostasie von der „Wesensbestimmung ,Mensch'" 39 schließen. Es ist diese die in der Tragödie des Berufsingenieurs und Fanatikers der „höchsten Freiheit" in den Dämonen Kirillov in reinster Form ausgestaltete Problematik des religiös hochsensiblen Naturells, zum „Höchsten" bzw. wahrhaft Ursprünglichen gleichsam von Natur prädisponiert, das aber im Ansatz der Hybris der eigenen dominierenden Intellektualität verfällt, und sein „Heil" dann in „dämonischen" Ersatzgebilden sucht. Dieses Moment des Dämonischen, der wesentlichen Unstimmigkeit und Uneigentlichkeit in bezug auf die mit „religiöser" Unmittelbarkeit und Eindringlichkeit erfahrene Grundbestimmung zum Ursprünglichen, verrät sich zunächst in einer Eigentümlichkeit von Nietzsches Konzeption, über die man in anderem Zusammenhang hinweglesen könnte. Jener heile bzw. „starke" Lebensinstinkt, der dem „Zukunftspsychologen" sowohl die „unbedingte Freiheit gegen sich" als auch die unbedingte Freiheit seines extravertierten „Erkenntniswillens" sichert, ist dem Anspruch und Anschein nach eine irreduzible Bestimmung des kategorisch Ursprünglichen, zu der die vorbehaltlos vertrauende Selbsthingabe nicht nur das ideell geforderte Verhältnis, sondern ein Gebot des „Lebens" ist. Wer sich der bestimmenden Macht des starken Lebensinstinkts ergeben und gehörig weiß, weiß sich mit den tiefsten Imperativen der eigenen „Natur" und damit des „Lebens" selbst im Einklang. In diesem Sinne leistet der Psychologe auch der Forderung jenes „Erhaltungs-Instinkts des starken Lebens" Genüge, der ihn zur Absage an das apollinisch-oberflächliche Ideal des „Erkenne dich selbst" auffordert. Denn damit stellt er auch den eigenen Willen zur „Vernunft, Erkenntniss, Forschung" vorbehaltlos in den befreienden Dienst eben dieser dynamisch fordernden und drängenden „Instinkttiefe" des „starken Lebens". Nietzsches Auseinandersetzung, genauer seine „Abrechnung" mit Dostoevskij als Vertreter und Opfer des christlich-nihilistischen „Gegensatzbegriffs des Lebens", des „romantischen Pessimismus" (KGW VIII 2, 74), steht auch ganz im Zeichen des Primats des heilen, „starken" Lebensinstinkts. Im Vertrauen auf das untrügliche Zeugnis der eigenen „untersten Instinkte" widersteht er der Versuchung, dem „ergreifenden Reiz" jener „rührenden, verderbten und verdrehten Mißgeburten" zu verfallen, „wittert" (KGW VI 3, 35) in ihnen die Ausgeburten eines dominierenden decadence-Instinkts. Nietzsche „widerlegt" Dostoevskij nicht („man wider39
Ebd. Bd. IV, S. 153.
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legt keine Krankheit") (KGW VI 3, 34), sondern er wehrt sich instinktiv gegen die „Schwäche, die Ermüdung, die Rassen-décadence" (KGW VIII 3, 21), die „physiologische Degenereszenz" und „Morbidität" jener „physiologischen Typen" (KGW VI 3, 44), die er mit Vorliebe porträtierte. Doch wie die schon angeschnittene Problematik der Selbsterkenntnis in der Nietzscheschen „Psychologie des Psychologen" vermuten läßt, versteht sich die Legitimität des starken Lebensinstinkts gerade als unwiderlegbares, da unmittelbares Zeugnis ungebrochener Lebenskraft und -tiefe keineswegs von selbst. Vor allem das zutiefst ambivalente Verhältnis zum Akt und Organ des „Erkennens", das der „Erhaltungs-Instinkt des starken Lebens" dem willfährigen „Erkennenden" auferlegt, scheint diesen Anspruch auf kategorische Ursprünglichkeit in Frage zu stellen. Wenn das introvertierte Erkennen „dämonisiert", das extravertierte Erkennen dagegen „vergöttlicht" wird, so wird man sich fragen müssen, zumal von Dostoevskijs Diagnose der „nihilistischen" Deformierung des elementaren Freiheitsdrangs herkommend, ob diese Ambivalenz sich tatsächlich vom Ursprünglichen her als „echte Antinomie" geistig-religiösen Lebens und Erlebens 40 begründen oder erklären läßt. Oder ob hier nicht vielmehr jenes verräterische Moment der wesentlichen Ungnade, des Unvollzogenen, Unversöhnten und Gewaltsamen, eben des „Dämonischen" seinen Niederschlag findet, von dem der „Nihilismus" in allen seinen Schattierungen und Abstufungen gezeichnet ist. Die Antwort ergibt sich zwangslos aus der esoterischen Fragestellung selbst. Denn die gewährleistete „Freiheit nach innen" verträgt grundsätzlich keine Ambivalenz in bezug auf den relativen „Wert" bestimmter Aspekte oder Modalitäten des Individualbewußtseins. Als das dynamische Prinzip der „überselbstischen" Ganzheitlichkeit und Integrität der Person, aktualisiert sich das Ursprüngliche erst in jener Grundhaltung selbsttranszendierenden Vertrauens, in der die Sonderbestimmungen des Individualbewußtseins sich ins Uneigentliche, Perspektivische verflüchtigen. Wenn Nietzsche stellvertretend für den „starken Lebensinstinkt" dennoch das Erkennen nach innen zu dämonisieren, das Erkennen nach außen zu „vergöttlichen" weiß, so tritt er offenbar aus dieser primären Bestimmung des Ursprünglichen heraus, begibt sich auf eine andere, sekundäre Ebene seelischen Erlebens, auf der eine andere, vergleichsweise vordergründige, perspektivische Ökonomik und Gesetzlichkeit vorherrscht. Obwohl er formal den Anspruch auf kategorische Ursprünglichkeit erhebt, bezieht der Nietzschesche „Lebensinstinkt" seine eigentliche Legitimität von einer seelischen Instanz, die (im Gegensatz zum prinzipiell vorbewußten dynamischen Ursprünglichen) zu differenzieren weiß zwischen dem „Wert" des Erkennens nach außen und dem „Unwert" des 40
Rudolf Otto, Freiheit und Notwendigkeit, 187 (Tübingen, 1940), S. 4f.
Sammlung gemeinverständlicher Vorträge, Nr.
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Erkennens nach innen, und zwar in bezug auf den eigenen Geltungsanspruch in der Ökonomie des subjektiven Innenlebens. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß diese dominierende Instanz eben jenes von Dostoevskij dämonisierte Prinzip des autonomen Individualbewußtseins ist, als „Erkenntniswille" zum daimon des „Zukunftspsychologen" verklärt und „vergöttlicht". Erst wenn man auf diese Weise gleichsam den Argwohn des „höheren Realisten" und „Anti-Nihilisten" gegen Nietzsches emanzipatorischen Elan geltend macht, läßt sich jenes ambivalente Verhältnis des „Zukunftspsychologen" zum Akt und Organ des „Erkennens" erklären, das sich vom Ursprünglichen her weder begründen noch aufrechterhalten läßt. Der „starke Lebensinstinkt", dem Anspruch und Anschein nach eine elementare Bestimmung des Ursprünglichen, die verbürgte Unmittelbarkeit spontaner Instinkt- und Lebenstiefe, ist seiner eigentlichen Funktion in Nietzsches emanzipatorischem Entwurf nach ein dienstbares „Hilfsmysterium", dem die Aufgabe zufällt, gerade jene introspektive Virtualität des „Erkennens" radikal zu entwerten, die die legitimierende Instinkt- und Lebenstiefe des „Erkennenden" in Frage stellen müßte. In diesem Sinne bleibt der Begriff auch entscheidend unter der Kategorie (und der hintergründigen Problematik) des Ursprünglichen entscheidend zurück. Denn seine eigentliche, verborgene, gleichsam „verdrängte" Gesetzlichkeit ist die des souveränen Individualbewußtseins, das sich „Lebenstiefe" (und somit soteriologische Legitimität) dadurch verschafft, daß es sich bei „instinktsicher" gezielter Neutralisierung des eigenen „instinktwidrigen" Wesens die unbedingte „Instinkttiefe" sichert. D a Nietzsches emanzipatorischer Entwurf im Grunde eine „mythopoetische" Leistung des Selbstbehauptungswillens des Individualbewußtseins ist, die auf „theoretischer" Ebene im Sinne eines freien, schöpferisch-symbiotischen Spiels von komplementären, sich gegenseitig steigernden Lebenskräften aus- und vorgeführt wird, bleibt er für die eigentliche Problematik der ursprünglichen Freiheit von geringem Belang. Indem es aber den Anspruch auf verbürgte „Ursprünglichkeit" erhebt, redet Nietzsches emanzipatorisches Ideal implizite jenem verhängnisvoll undifferenzierten Irrationalismus das Wort, den Dostoevskij im rabiat „anti-rationalistischen" Voluntarismus des „Kellerloch-Menschen" gleichsam ad absurdum führte. Denn dieser „nihilistische" Freiheitstheoretiker verzichtet demonstrativ darauf, sich Rechenschaft über Herkunft und Richtung jenes elementar-vorrationalen „Wollens" abzulegen, das das „ganze Leben" der wahrhaft freien Persönlichkeit gewährleisten und bestimmen soll. 4 1 Echt „ursprünglich", und daher für das reale Freisein des Menschen konstitutiv, ist für ihn jede „ L a u n e " , die sich 41
Vgl. I, 8 : „ D a s Wollen ist weiß der Teufel wovon abhängig und dafür sei Gott gedankt"; und I, 7: „ W a s der Mensch braucht ist einzig und allein selbständiges Wollen, ganz gleich wohin es ihn f ü h r t . "
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vom Blickwinkel des „Verstands" aus als prinzipiell irrational bzw. „dumm" zu erkennen gibt (I, 8). Indem er den „Erkenntniswillen" zum eigentlichen „Organ" der ursprünglich freien Persönlichkeit potenziert, verfällt Nietzsche unversehens dieser eigentümlichen „Naivität" des „Nihilisten", der das Ideal eines „ursprünglichen Freiseins im Rahmen eines am Primat des Individualbewußtseins orientierten Selbst- und Menschenverständnisses durchsetzen will. Wie die vom Kellerloch-Nihilisten behauptete Freiheit ad libitum des irrational-elementaren „Wollens", trägt Nietzsches Potenzierung des „Erkenntniswillens" zu einer Bestimmung elementarer Instinkt- bzw. Lebenstiefe eher diesem wesentlich „theoretischen" Dilemma als der eigentlichen Problematik der ursprünglichen Freiheit Rechnung. Eben darin bleibt sein Entwurf aber implizite jenem „dämonischen", zerstörerischen und selbstzerstörerischen Irrationalismus verhaftet, der vom „Kellerloch-Menschen" als „Idee" der Freiheit dargeboten wird und in der destruktiven Dissonanz des eigenen Daseins seine Widerlegung durch die „unwiderlegbare lebendige Logik des lebendigen wirklichen Lebens" erfährt. Es gehört zum Wesen des Dämonischen, daß das Moment der Verirrung und des Scheiterns, das ihm innewohnt, sich der Kenntnis dessen entzieht, der ihm verfällt. Dies gilt vornehmlich für Nietzsches Psychologie des „Zukunftspsychologen", zumal er hier bemüht war, ein wesentlich „theoretisches" Problem im Sinne eines Grundproblems zu „lösen". Wenn das Grundproblem „Freiheit" die Frage nach der Qualität des DynamischIrrationalen voraussetzt, so verschließt sich der Nietzschesche „Zukunftspsychologe" gleichsam programmatisch dieser Kernfrage. Dies ist auch die eigentliche „Leistung" des Kardinalgebots des „Sich-Selbst-Nicht-Erkennen" in der „Psychologie des Psychologen": demjenigen, der in der Aufforderung zur „Selbsterkenntnis" eine instinkt- bzw. lebenswidrige Anfechtung erblickt, obliegt es nicht, jene elementaren Kräfte und Regungen, die in ihm mächtig sind, auf ihre „Wahrheit", „Tiefe", „Eigentlichkeit", d. h. eben im Sinne von Dostoevskijs „höherem Realismus" auf ihre „höhere Realität" hin zu prüfen. Gerade in dieser programmatischen „Verdrängung" der tieferen Problematik der „ursprünglichen Freiheit", dieser vorsätzlichen „Naivität" in bezug auf das eigene dynamische Trieb- und Instinktleben, schließt sich der Kreis jener „nihilistischen" Hybris, der Nietzsche im Ansatz verfällt, zum circulas vitiosus. Denn hier wird das Scheitern des Versuchs, auf „nihilistischer" Grundlage den (so ein verräterisches Wort an Rohde aus dem Frühjahr 1887) „Ausweg und das Loch zu finden, durch das man in's Etwas kommt" 4 2 , das in der späten „Psychologie des Psychologen" verborgen und verdrängt liegt, gleichsam theoretisch besiegelt und beglaubigt. 42
GBr II, 582.
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Dostoevskij wäre — man fühlt es — versucht gewesen, in Nietzsches persönlichem Werdegang jene „Katastrophe" zu suchen und in der geistigen Umnachtung zu finden, die im Scheitern seiner „soteriopsychologischen" Bemühungen um den wahrhaft befreienden „Ausweg . . . in's Etwas" im Keim angelegt war. Eine derart sinnlich-handgreifliche „Widerlegung" des „nihilistischen Soteriopsychologen" hieße aber zweifelsohne nicht nur die proteushaften Selbstüberwindungskräfte und -künste dieses großen „Experimentators mit sich", sondern auch die feinsichtige und feinsinnige Esoterik seiner Fragestellungen und heuristischen „Sprünge" verkennen. In jenen „ H ö h e n " und „ T i e f e n " , in denen Nietzsche sich versucherisch mit dem „ D ä m o n " eingelassen hat, herrscht eine andere, subtilere Gesetzlichkeit der „Widerlegung" und „Strafe". Die „Katastrophe", die hier in sublimen Zügen angedeutet und angekündigt wird, könnte man sich auf das Zeugnis des prophetischen „Anti-Nihilisten" und „höheren Realisten" Dostoevskij verlassen, wurde und wird wohl anderswo Wirklichkeit.
Diskussion Janz: Ich möchte kurz auf drei Punkte eingehen. Ihrer Bezeichnung Nietzsche als Kind seiner Zeit möchte ich zunächst ebenso widersprechen, wie der entgegengesetzten, die R.Steiner als Buchtitel gewählt hat: Nietzsche als Kämpfer gegen seine Zeit. Solche Urteile kann man nur fällen, wenn man die geistige Zeitsituation zu stark vereinfacht. Jede Zeit wird geprägt durch Strömungen und Gegenströmungen. Insbesondere das neunzehnte Jahrhundert trägt derartige Gegensätze und Spannungen in sich, daß man jeden als Kind seiner Zeit und als Kämpfer gegen seine Zeit bezeichnen kann — je nachdem, welche Zeitströmung man primär im Blick hat. Das zweite ist eine Bemerkung zur Biographie. Zu Beginn Ihres Vortrags haben Sie aus jenem Brief an Gast zitiert, in dem Nietzsche berichtet, daß er mit traumwandlerischer Sicherheit in der Buchhandlung ein Buch sieht und es aufschlägt, von dem er bisher nie gehört hat, er kennt nicht einmal den Namen des Autors usw. Das ist stark übertrieben, Nietzsche trägt mit solchen Äußerungen wieder einmal zu seiner eigenen Legende bei. J. V. Widmann hatte im September 1886 im Bund eine Rezension über Jenseits von Gut und Böse gebracht und als Motto darüber ein Dostoevskij-Zitat gesetzt. Also kannte Nietzsche spätestens seit dem 17. September 1886 zumindest den Namen Dostoevskij. Dann der dritte Punkt: Im Frühjahr 1887 betreibt Nietzsche Grundlagenstudien auf dem Gebiet der Ethik; er studiert sehr viel Literatur zur Vorbereitung seines Werks Zur Genealogie der Moral. Da gerät er nebenbei an die Dostoevskij-Lektüre, die ihn bezaubert und berauscht, aber nur für eine kurze Weile, dann verschwindet der Eindruck wieder. Nietzsche kommt zwar im Sommer im Gespräch mit Meta von Salis auf Dostoevskij zurück, aber dann hört man monatelang nichts mehr von ihm über den russischen Autor, bis im Frühjahr 1888 Brandes seinen Namen wieder in Nietzsches Gedächtnis zurückruft. Ich glaube, wir müssen beachten, wie kurz und episodenhaft die Bekanntschaft Nietzsches mit dem Werk Dostoevskijs gewesen ist. Man muß sich davor hüten, den Einfluß Dostoevskijs auf Nietzsche überzubewerten; er steht in gar keinem Verhältnis zu dem Einfluß anderer, z. B. Schopenhauers, Wagners oder auch Piatons. Salaquarda: Eine kleine Bemerkung zu Ihrem zweiten Punkt, Herr Janz. „Unbekanntschaft bis auf den Namen" ist eine doppeldeutige Formu-
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lierung. Sie kann bedeuten: Ich kenne nichts davon, nicht einmal den Namen; oder: Ich kenne nichts davon, mit Ausnahme des Namens. Ich glaube, Herr Miller hat in einer früheren Veröffentlichung schon auf diese Doppeldeutigkeit aufmerksam gemacht. Kaufmann: Ich verstehe nicht, wie Herr Janz sagen kann, daß es sich bei Nietzsches Begegnung mit dem Werk Dostoevskijs um etwas Episodenhaftes gehandelt hat. Als er Dostoevskij entdeckte, lagen noch zwei Schaffensjahre vor ihm. In diesen beiden Jahren finden wir immer wieder Bezugnahmen auf Dostoevskij. Zum Beispiel kommen die Worte „Idiot" und „idiotisch" im Fall Wagner und dann auch in Götzen-Dämmerung und Antichrist in dem Sinne vor, den Nietzsche aus seiner Dostoevskij-Lektüre gewonnen hat. Wenn aber der Einfluß Dostoevskijs in allen Veröffentlichungen nach der Begegnung durchschlägt, kann man nicht von einer Episode sprechen. Maurer: Es scheint mir gleichgültig zu sein, ob Nietzsches Beschäftigung mit Dostoevskij episodisch war oder nicht. Auf jeden Fall hat Herr Miller in seinem Referat anhand dieser Beziehung eine sehr interessante Dialektik von Instinkt, Ursprünglichkeit und Selbsterkenntnis entwickelt, die einen großen systematischen Stellenwert hat. In der recht subtilen Dialektik, die Sie, Herr Miller, uns vorführten, ist mir freilich etwas unklar geblieben: Worin soll denn eigentlich dieser dostoevskische Realismus im Gegensatz zu Nietzsches Position bestehen? Es ist mir klar geworden, daß Sie von der Position Dostoevskijs aus Nietzsche als einen Denker deuteten, der in dem circulus vitiosus von Pseudoursprünglichkeit und Pseudodämonisierung der Selbsterkenntnis befangen ist, der in die Katastrophe führen muß. Aber worin soll denn nun die Gegenposition bestehen? Einfach in der Beschwörung der russischen Seele, ihres religiös inspirierten „Realismus"? Das reicht doch sicher nicht aus. Gerade ein solcher Realismus scheint mir nach Nietzsche unmöglich zu sein. Jedenfalls konstatiert Nietzsche das historische Geschehen des Verlusts dieses Realismus. Sich auf den dostoevskischen Realismus berufen, hieße das nicht, daß es doch so etwas gibt wie eine Art platonischer Erkenntis eines An-sich, eines an sich Guten, das ein reiner Geist erkennen könnte ? Müller-Lauter: Ich will zunächst direkt anknüpfen an das, was Herr Maurer gesagt hat. Der Begriff Realismus wird von Dostoevskij in besonderem Maße im Zusammenhang seiner Rede von den Ideen gebraucht, die nicht die Beständigkeit eines An-sich haben, sondern lebendige, sich wandelnde, überindividuelle Wirkkräfte sind. Jener höhere Realismus Dostoevskijs, von dem Sie gesprochen haben, Herr Miller, erhält seine Dynamik nicht zuletzt
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durch die ganz eigentümliche Verbindung von christlichem Glauben mit erdhaftem und volkhaftem Verwurzeltsein. Aber dies ist nur die eine Seite, die Dostoevskij darbietet. Sein höherer Realismus, der Ausdruck jetzt als literarische Kategorie genommen, findet seinen kraftvollsten Ausdruck in der Darstellung des Dämonischen, des Besessenseins von antichristlichen Ideen. Dies darf nicht getrennt werden von der Erfahrung, die Dostoevskij mit sich selbst macht. Ich erwähne seinen Brief von 1854 an Frau Fonvisina, in dem er schreibt, er werde bei all seiner Glaubenssehnsucht ein Zweifelnder bleiben müssen. Zu seinem höherem Realismus gehört das ständige Angefochtensein. Dostoevskijs Freund Strachov hat überliefert, Dostoevskij habe selbst von der Reflexion gesprochen, die darin bestehe, daß es nichts gebe, was ihn ganz erfüllen könne, keine Vorstellung, keine Idee, keinen Gehalt." Es bleibe immer eine Distanz. Und dies hat Dostoevskij nach dem Zeugnis des Freundes ganz offensichtlich als ständige Qual empfunden. Nach meiner Auffassung ist Dostoevskij in einer ganz eigentümlichen Weise sowohl der Gläubige als auch der Ungläubige. Und er kann weder das eine noch das andere ganz sein, weil die reflexive Distanz dies verhindert. Onasch ist sogar so weit gegangen, dementsprechend einen Dostoevskij I von einem Dostoevskij II zu unterscheiden. Wir finden in der Tat gewissermaßen zwei Dostoevskijs in einer Person, die mit einander im Kampfe liegen. Die wahre Größe Dostoevskijs beruht nach meiner Meinung darauf, daß er dieses Ringen mit sich selbst nie aufgegeben, sondern bis ins Äußerste gesteigert hat. Wenn wir von der Reflexion als subjektiver Selbsterfahrung ausgehen, so führt Dostoevskijs Intention zum Glauben, damit nach oben oder nach außen, Nietzsches Intention in gewisser Weise doch nach innen, wenn auch nicht in der Weise einer psychologischen Selbstdurchschauung, der er wegen ihres möglichen Selbsttäuschungscharakters mißtraut. Nietzsche geht einen ganz anderen Weg. Sie haben, Herr Miller, aus seinen späten Äußerungen über Dostoevskij den Ausdruck „physiologische Degenerescenz" herangezogen. Er ist sehr bezeichnend, insofern Nietzsche in zunehmendem Maße das Innen des Menschen primär unter physiologischen Aspekten zu fassen versucht hat, welche die Basis für seine psychologischen Verständnismöglichkeiten abgegeben haben. Es gibt also von der Selbsterfahrung des reflektierenden Subjekts aus eine verschiedene Bewegung bei Dostoevskij und bei Nietzsche. Aber der Ursprung der Bewegung ist bei beiden, wenn Sie den Ausdruck jetzt nicht eigens definiert hinnehmen wollen, in der dämonischen Angefochtenheit durch die eigene Nichtidentität zu suchen. Bachtin spricht zurecht über die Nichtidentität des Menschen mit sich selbst bei Dostoevskij. Ähnliches hören wir ja auch über Nietzsche; ich erinnere an das Wort von Lou Salome, daß Nietzsche eine Mehrheit, eine innere Vielheit von Personen
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gewesen sei. Daß Nietzsche diese innere Vielheit in seinem Werk als konstitutiv für alles Seiende dargestellt hat, führt uns jetzt zu weit weg. Ein Letztes: Wenn Nietzsche Dostoevskij nicht so versteht, wie dieser eigentlich verstanden werden will oder nach Ihrer Auffassung, Herr Miller, verstanden werden soll, so ist die Frage, ob das nur an Nietzsche und an seiner begrenzten Dostoevskij-Lektüre liegt. Dostoevskij kann vielfältig verstanden werden. Zwar hat Gide, den Sie zitiert haben, Dostoevskij als Christen verstanden, dementgegen haben aber Masaryk und andere, die auch das ganze Werk Dostoevskijs kannten, die Auffassung vertreten, Dostoevskij sei einer, der gewaltsam zum Glauben hindurchwolle; wer aber wie er einmal den Glauben verloren habe, der bleibe dem Atheismus ausweglos verhaftet. Miller: Sie haben von Zeitströmungen gesprochen, Herr Janz. Aber darauf kommt es mir bei der Gegenüberstellung von Nietzsche und Dostoevskij nicht an, sondern darauf, den grundlegenden nihilistischen Zeitgeist so herauszuarbeiten, wie er sich Dostoevskij darstellte. Dieser nihilistische Zeitgeist wird von ihm im Gesamtphänomen der westlichen Kultur gefunden; er ist gekennzeichnet durch die Hybris der Ratio, die sich auf allen Stufen und Ebenen der westlichen Kultur auswirkt. Nun zu der meines Erachtens sehr wesentlichen Frage, die Herr Maurer angeschnitten hat. Platoniker ist Dostoevskij sicherlich nicht gewesen. Seine Position läßt sich mit Hilfe der von A. Nygren in seinem Buch Eros und Agape vorgetragenen Unterscheidung zwischen Eros-Religiosität und Agape-Religiosität erläutern. Der Piatonismus gehört eindeutig zur Eros-Religiosität, während sich Dostoevskij auf die urchristliche Agape-Religiosität bezieht. Gründer: Mich wundert ein wenig der bisherige Verlauf der Diskussion, insbesondere die Replik auf Herrn Maurers Votum zur Realismus-Problematik. Denn der geschichtliche Fortgang, die Wirkungsgeschichte der beiden Autoren, die hier zusammengestellt worden sind, führt mit großer Deudichkeit in ein Kontinuum, nämlich in die Entstehungsgeschichten von Dialektischer Theologie und Existenzphilosophie. Der große Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Auflage von Karl Barths Römerbrief-Kommentar wird von Barth selbst im Vorwort zur zweiten Auflage, 1920, damit begründet, daß inzwischen er und sein Freund Thumeysen Dostoevskij und Kierkegaard gelesen und von ihnen einen nachhaltigen Eindruck empfangen hätten. Dostoevskij ist also auf eine entscheidende Weise Ahne von Dialektischer Theologie und Existenzphilosophie. Für die Dialektische Theologie ist das literarisch bezeugt durch das Buch von Thumeysen über Dostoevskij, das meinem Eindruck nach zu wenig bekannt ist, gerade auch in seiner dokumentarischen Funktion für diesen Zusammenhang. Was die Existenzphilosophie
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angeht, so gibt es Äußerungen von Jaspers über Dostoevskij; von Heidegger wohl nicht ausdrücklich, aber man weiß von seiner Beschäftigung mit ihm aus mündlicher Tradition. Allerdings zitiert er ihn, glaube ich, nur in seinem Nietzsche-Buch. Wichtig für unsere Diskussion ist die Gemeinsamkeit des wirkungsgeschichdichen Kontinuums beider. Und dieses Gemeinsame hat Herr Miller, den ich deswegen sowohl gegen Herrn Maurer wie gegen Herrn Janz in Schutz nehmen möchte, mit seinem Terminus „Soterio-Psychologie" genau angegeben. Kritisch möchte ich freilich zu den Ausführungen von Herrn Miller sagen, daß man diese Problematik meines Erachtens wohl nur dann in den Griff bekommt, wenn man sich auf die Theologie einläßt, so wie sie in der unmittelbaren Wirkung der Dostoevskij-Rezeption ausformuliert worden ist. Dann erübrigt sich die Auseinandersetzung über den gegebenen oder nichtgegebenen Piatonismus Dostoevskijs, vielleicht sogar der Terminus ,Realis mus'; und vielleicht bedarf es nicht einmal mehr des Terminus ,Psychologie'. Denn wenn Sie, Herr Miller, von einer Dialektik von Verneinung und Erlösung reden: was ist denn das anderes als die Dialektik von Gesetz und Evangelium, wie sie die Lutherforschung, nicht ohne Zusammenhang mit der von Kierkegaard und Dostoevskij erneuerten Theologie, als Grundfigur von Luthers Denken herausgearbeitet hat? Und dann gibt es seit zweitausend Jahren den Ausdruck ,(iexävoia' — warum sollte man ihn nicht gebrauchen? Also: Wenn schon Dostoevskij, dann hinein in die Theologie, ohne Wenn und Aber. Ulmer: Hinsichtlich der wirkungs geschichtlichen Gemeinsamkeit von Dostoevskij und Nietzsche muß ich Ihnen widersprechen, Herr Gründer. Unbestreitbar führt eine Linie von Dostoevskij zur Dialektischen Theologie und zur Existenzphilosophie; aber Nietzsche liegt nicht auf dieser Linie. Die Existenzphilosophie hat ganz sicher keine Wurzel in Nietzsche, Heidegger und Jaspers haben sich erst in den dreißiger Jahren näher mit Nietzsche befaßt, zu einer Zeit, als der Grundansatz der Existenzphilosophie schon hinter ihnen lag. Kaufmann: Die Wirkungsgeschichte Dostoevskijs erschöpft sich nicht in dem, was Herr Gründer herausgestellt hat. Der Einfluß Dostoevskijs ist außer in der Dialektischen Theologie und in der Existenzphilosophie z.B. auch in der modernen Psychologie, besonders in der Psychoanalyse am Werk, ferner in der modernen Literatur und Kunst überhaupt. Miller: Herr Gründer, Sie haben geltend gemacht, man solle Dostoevskij aus der Sicht und unter Kategorien der Theologie verstehen. Darin steckt
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meiner Meinung nach eine Gefahr. Dostoevskij selbst war mißtrauisch gegenüber den ,-logien' des Westens, gegen Psychologie, Theologie, sogar gegen die orthodoxe Theologie. Theologie überhaupt ist ihm suspekt gewesen. Wenn Sie ihn nun hineinnehmen in den Sog der Theologie — Gründer: Wie Sie sein Selbstverständnis interpretieren, ist eine andere Frage, in unserem Zusammenhang kommt es auf die Wirkung an. Miller: Indem Sie die Kategorien der Theologie auf Dostoevskijs Denken anwenden, verfremden sie es ins Westliche und annihilieren Sie sein Eigentümliches. Ulmer: Ihre These, Herr Miller, lautet, daß Nietzsche mehr noch als man sonst meint, ein Kind seinerZeit gewesen ist, d.h. daß ersieh überhaupt nicht von der Grundposition seiner Zeit befreien konnte. Sie haben versucht, Dostoevskij als Leitfaden für diese These zu nehmen. Diesen Ihren Ansatz möchte ich in Frage stellen. Es erscheint mir nicht möglich, von Dostoevskij her eine Durchleuchtung Nietzsches, aber darüber hinaus der europäischen geistigen Situation des neunzehnten Jahrhunderts, zu erhalten, weil die von Dostoevskij eingenommene Position doch eine spezifisch russische des neunzehnten Jahrhunderts ist. Der Nihilismus, mit dem Dostoevskij sich konfrontiert sieht, wird repräsentiert durch eine gewisse Schicht intellektueller Aristokraten der russischen Gesellschaft und deren Aufnahme westlicher Kultur. Eigentlich trifft er nur die Position der russischen Intellektuellen. Er übersieht völlig, daß die Krise der Wissenschaften und der gesamten Intellektualität in Europa wesentlich von der Geschichte der Philosophie her bestimmt ist. Die Auseinandersetzungen mit Kant, mit Hegel usw. — alles das hat er nicht rezipiert. Während Nietzsche bewußt in der Auseinandersetzung mit dieser Tradition, also mit der Philosophie, steht, hat Dostoevskij ein völlig anderes Gegenüber. Die Selbstreflexion im Verständnis Nietzsches wurzelte in der neuzeitlichen Geschichte des Selbstbewußtseins, von der Dostoevskij kaum etwas wußte. Müller-Lauter: Ich glaube, Herr Ulmer, daß die Zusammenhänge sehr viel komplexer sind. Man kann Dostoevskij weder ganz auf die russische, noch ganz auf die mitteleuropäische Seite bringen. Das läßt sich am Begriff Nihilismus verdeutlichen. Er wandert in den zwanziger, dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts gewissermaßen von Deutschland nach Rußland aus, und zwar zusammen mit den Diskussionen um Hegel und Schelling, sowie mit den nachhegelschen Diskussionen. In Rußland wird er von Literatur und Literaturkritik aufgenommen, zusammen mit dem ganzen Traditionsstrom des
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Deutschen Idealismus; vor allem durch die Werke von Turgenev und Dostoevskij gelangt er schließlich wieder nach Mittel- und Westeuropa zurück. Dostoevskijs Verständnis des Nihilismus ist in vieler Hinsicht durchaus noch verwandt mit dem, was innerhalb der mitteleuropäischen Diskussion schon seit den Auseinandersetzungen um Kant und Fichte als charakteristische nihilistische Phänomene herausgestellt worden war: Uberbewertung des Subjektiven, insbesondere des Intellektuellen, Leugnung eines welttranszendenten Gottes und dergleichen. Nietzsche selber hat den Begriff — so weit ich festgestellt habe — zum ersten Mal 1880 gebraucht, im Hinblick auf die russischen Nihilisten.
Maurer: Wenn Dostoevskijs Realismus etwas mit der Agape-Religiosität zu tun hat, wie Sie es dargestellt haben, Herr Miller, dann würde er natürlich gegen Herrn Ulmers Votum den engeren russischen Zusammenhang transzendieren und wäre in eine große Tradition eingebettet. Wenn Sie freilich von dieser Tradition aus Nietzsche beurteilen, dann möchte ich Ihnen dazu ein paar nüchterne Fragen stellen. Was bedeutet das konkret für die von Nietzsche gestellten und durchdachten Probleme? Soll das heißen: Nicht so viel psychologisieren, dafür mehr lieben? Aber was denn lieben bzw. wen? Die Realität? Nach dem Motto: wenn ich die Realität liebe, wird sie mich schon wiederlieben? Oder was soll es konkret heißen? Kaufmann: Herr Miller, Sie haben davon gesprochen, daß sich Dostoevskij, ähnlich wie Kierkegaard, nicht als Psychologen verstanden wissen wollte. Zunächst zu Kierkegaard. Es springt doch in die Augen, daß mehrere seiner Abhandlungen im Untertitel die Bezeichnung „psychologisch" tragen. Man wird also nicht sagen können, er sei nicht Psychologe gewesen. Natürlich war er nicht Psychologe im Sinne einer herkömmlichen wissenschaftlichen Psychologie wie — um ein Beispiel zu geben — der von Stumpf. Das war er so wenig wie Dostoevskij. Aber wenn Dostoevskijs Realismus darin bestand, alle Höhen und Tiefen der Menschenseele zu zeigen, wie Sie ausgeführt haben, so handelt es sich doch um Psychologie, natürlich um eine andere Art Psychologie. Die Formulierung Dostoevskijs legt ohnehin das Wort ,Tiefenpsychologie' nahe. O b man seinen Realismus aber Psychologie nennt oder nicht, scheint mir nicht von besonderer Bedeutung zu sein. Im übrigen hätte auch Nietzsche sich als Realisten im höheren Sinne bezeichnen können. Jedenfalls leuchtet es mir nicht ein, daß man von einem Kontrast zwischen solchem Realismus und Psychologie sprechen kann. Heller: Wenn ich Ihren Vortrag richtig verstanden habe, Herr Miller, dann scheinen mir die vielen historischen Randbemerkungen, die in dieser
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Diskussion gemacht worden sind, für Ihre Ausführungen im Grunde irrelevant zu sein, weil es Ihnen gar nicht um die Beeinflussung Nietzsches durch Dostoevskij ging, sondern um ein Urteil über Nietzsche. Er ist verflucht, ihm fehlen der Glaube, die Liebe, die Hingabe an das, was uns hält, erhält. Es ging, ähnlich wie in dem gestrigen Vortrag von Herrn Biser, um etwas ganz Prinzipielles: der sich wissentlich-willentlich die Unwissenheit Bewahrende ist zuletzt doch der Intellektualität verfallen, einer hybriden, teuflischen Intellektualität, nämlich dem Nihilismus. Ich fände es, beiläufig gesagt, nicht schön vom lieben Gott, daß er uns den Verstand gegeben hat, wenn er nicht wollte, daß wir von ihm Gebrauch machen. Aber Ihre These scheint mir eine ganz zentrale zu sein, durchaus nicht historisch, mit irgendwelchen Hinweisen wirkungsgeschichtlicher oder sonstiger Art aus dem Weg zu schaffen. Ich würde es begrüßen, wenn diese sehr prinzipiellen Fragen, ob Nietzsche zu verdammen sei, weil ihm der Glaube und die Liebe und die Hingabe an das Andere fehlen, in der Diskussion gehörig berücksichtigt würden. Ich denke, daß das zur Klärung der Positionen beitragen würde. Müller-Lauter: Die Zeit ist uns leider davongelaufen. Sie reicht nur noch für ein knappes Schlußwort von Herrn Miller. Miller: Natürlich, Herr Heller, hat uns Gott den Verstand gegeben, damit wir davon Gebrauch machen — aber einen richtigen Gebrauch; der Verstand ist ein Organ, das sich in letzter Instanz auf Göttliches beziehen muß, wenn er nicht in Hybris, mit allen ihren negativen Folgen, verfallen will. Daß Dostoevskij nur ein russisches Phänomen ist, bestreite ich. Herr Müller-Lauter und Herr Maurer haben schon einiges gegen Herrn Ulmers Votum vorgebracht und ich stimme ihnen darin zu. Zu Herrn Maurers Frage möchte ich sagen: was ich aufzeigen wollte — vielleicht ist es mir nicht ganz gelungen — ist der radikale, der existenzielle Bezug, den Dostoevskij zur ursprünglichen Agape-Religiosität herstellt, die nicht bloß eine Tradition im historischen Sinne ist, sondern Existenzbestimmung, Existenzmitteilung, gelebte und erlebte Wirklichkeit. Von dieser Realität aus kann man, so glaube ich, Nietzsche durchaus in Frage stellen. Es ging mir also nicht um historische Strömungen, um kulturelle Bewegungen, sondern um das allgemein Menschliche. Dostoevskijs Realismus bezieht sich auf Erfahrungen, die jeder machen und an denen jeder teilhaben kann.
K A R L PESTALOZZI
NIETZSCHES B A U D E L A I R E - R E Z E P T I O N Nietzsches Verhältnis zu Baudelaire wurde bisher noch nie Gegenstand einer Spezialuntersuchung. Das ist weiter nicht verwunderlich. In Nietzsches gedruckten resp. von ihm selbst zur Veröffentlichung bestimmten Werken wird Baudelaire nur zweimal namentlich erwähnt, und zwar erst sehr spät, in
Götzendämmerung
und in Ecce homo. Die Zeugnisse der Auseinandersetzung
Nietzsches mit Baudelaire finden sich im Nachlaßmaterial, das erst durch die neue Kritische Gesamtausgabe1 chronologisch übersichtlich geworden ist. Es sind, wenn mir nichts entgangen ist, insgesamt 10 Stellen, also bedeutend weniger als zu andern französischen Autoren wie Stendhal, Victor Hugo, Taine. Dazu kommen noch die ausführlichen Exzerpte aus Baudelaires Aufzeichnungen, die erstmals in der K G W vollständig veröffentlicht wurden. In den bisher bekannten Briefen gibt es nur eine, freilich äußerst wichtige Auslassung über Baudelaire, gegenüber Peter Gast. Die relative Spärlichkeit des Materials und dessen späte Erschließung mögen der Grund dafür sein, daß sich bisher noch niemand eingehender mit unserem Thema befaßt hat. Hinweise darauf finden sich in den Arbeiten von Julius Wilhelm, W. D. Williams und Pierre Champromis 2 , die sich mit Nietzsches Verhältnis zu Frankreich gesamthaft beschäftigen. Die Motivation, dieses Thema aufzugreifen, ergibt sich, wenn man von der Nietzsche-Philologie im engeren Sinne absieht, daraus, daß wir heute Baudelaire und Nietzsche in starkem Maße als zusammengehörig empfinden. Walter Benjamin hat beider Nähe zu einander immer wieder betont, z. B. in der Bemerkung aus Zentralpark: „Die heroische Haltung von Baudelaire dürfte der Nietzsches auf das nächste verwandt sein. Wenn Baudelaire am Katholizismus festhält, so ist doch seine Erfahrung des Universums genau der Erfahrung zugeordnet, die Nietzsche in den Satz faßte: Gott ist tot." 3 Hugo 1
2
3
Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin 1967ff. (=KGW). Julius Wilhelm, Friedrich Nietzsche und der französische Geist. Hamburg 1939. W. D. Williams, Nietzsche and the French. A Study of the influence of Nietzsches French reading on his thought and writing. Oxford 1952. Pierre Champromis, Nietzsche devant la culture française. Romanische Forschungen 68, 1956. S. 7 4 - 1 1 5 . Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhausen Bd 1/2 Frankfurt 1974. S. 676; vgl. auch S. 673.
Nietzsches Baudelaire-Rezeption
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Friedrichs Stichworte für Baudelaire, „leere Idealität", „ruinöses Christent u m " 4 schließen daran an, auch wenn sie Baudelaire nicht direkt auf Nietzsche beziehen. Und Marcel Raymond schreibt in der Einleitung zu De Baudelaire au Surréalisme: „Baudelaire, Mallarmé, Rimbaud — les deux derniers surtout — ont rêvé de ,surmonter l'homme'. (Nietzsche au même moment, s'y usait jusqu'à la folie.)" 5 In solchen Äußerungen, die sich vermehren ließen, erscheinen Baudelaire und Nietzsche zusammen als Begründer des modernen Bewußtseins, denen es darum geht, den Menschen aus seinen immanenten Voraussetzungen heraus zu verstehen, damit als Repräsentanten einer nachchristlichen Ära, die sich geprägt weiß von dem, wovon sie sich abwendet. Das sei hier nur angedeutet. Hinter dem folgenden Rekonstruktionsversuch steht die begrenztere Frage, wie Nietzsche selbst sein Verhältnis zu Baudelaire verstand 6 . Das Kronzeugnis für Nietzsches Beschäftigung mit Baudelaire ist der Brief aus Nizza an Peter Gast vom 26. Februar 18887, auf den wir immer wieder zurückkommen werden. Zunächst kann er uns Einblick in die Chronologie von Nietzsches Baudelaire-Lektüre geben. Den unmittelbaren Anlaß des Briefes bezeichnet der Satz: „Ich blättere in einer jüngst erschienenen Sammlung von Oeuvres posthumes dieses in Frankreich aufs tiefste geschätzten und selbst geliebten Genies." Es handelt sich dabei um die erste Nachlaßausgabe Baudelaires, Oeuvres posthumes et correspondances inédites, précédées d'une étude biographique par E. Crépet, Paris 1887. Als Früchte des Blätterns in diesem Band enthält das Notizheft „November 1887—März 1888" sehr ausführliche Exzerpte 8 . Nach der Anmerkung der Herausgeber der K G W 9 entstanden sie von Mitte Februar 1888 an. Unter dem Eindruck dieser Lektüre kam es wohl auch zu den Baudelaire-Erwähnungen im Notizheft aus dem Frühjahr 188810. Eine letzte Erwähnung stammt aus dem Oktober 1888 11 . Diese Zeugnisse gestatten es, für das Frühjahr 1888 eine intensive Beschäftigung Nietzsches mit Baudelaire anzusetzen, die der genannten Nachlaßpublikation galt. Der Brief an Peter Gast erwähnt ferner eine zurückliegende Lektüre von Baudelaires Fleurs du Mal. Aus Nietzsches Bibliothek hat sich das Exemplar des Gedichtbandes erhalten: Les Fleurs du Mal, précédées d'une notice par 4
H u g o Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg 1956 (rde 25). S. 25f. Marcel Raymond, De Baudelaire au Surréalisme. Paris 1952. S. 45. 6 Für umsichtige Hilfe bei der Vorbereitung dieses Vortrages danke ich Frau cand. phil. Gudrun Gengnagel. 7 Friedrich Nietzsche, Werke in 3 Bden, hrsg. von Karl Schlechta. München 1956 ( = SA) Bd III, S. 1280-82. 8 K G W VIII/2, 11 [160]—11 [225] S. 317-329; und 11 [230]-11 [234] S. 332-334. » K G W VIII/2, S. VIf. 10 K G W VIII/3, 15 [6] S. 198; 15 [34] S. 223. 11 K G W VIII/3, 23 [2] S. 410f. 5
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Théophile Gautier. Nouvelle édition, Paris 1882. Der Band enthält in Gautiers Essay und bei den Gedichten zahlreiche Bleistiftanstreichungen, auch einzelne Randbemerkungen von Nietzsches Hand 12 . Für die Datierung dieser Lektüre der Fleurs du Mal gibt es nur indirekte Anhaltspunkte. In den Notizheften „1. April-Juni 1885"13 und „Juni-Juli 1885"14 finden sich Erwähnungen Baudelaires, die sich als Reflexe dieser Lektüre betrachten lassen. Sie bringen Baudelaire mit Wagner in Verbindung und bestätigen damit Nietzsches rückblickende Äußerung gegenüber Gast, er habe in den Fleurs du Mal „eine Art Wagnerische Sensibilität" gefunden. Diese Ubereinstimmung von Nietzsches Erinnerung mit den Notizen erlaubt es, die Begegnung mit den Fleurs du Mal auf das Frühjahr 1885 anzusetzen. Diese Baudelaire-Lektüre gehörte damit in den Umkreis derjenigen anderer französischer Autoren, Montaigne, Abbé Galiani, Stendhal, Mérimée, die für dieses Frühjahr in Nizza bezeugt ist 15 . Eine Datierung auf die Zeit nach dem 10. April ist deshalb unwahrscheinlich, weil Nietzsche von dann an bis zum 10. Juni bei Peter Gast in Venedig weilte, der Brief vom 28. Februar 1888 aber in keiner Weise erkennen läßt, daß er früher schon mit Gast über Baudelaire gesprochen hatte. Die Anregung, Baudelaire zu lesen, dürfte von Paul Bourget ausgegangen sein, dessen 1. Band der Essais de psychologie contemporaine, in denen sich der große Baudelaire-Aufsatz befindet, Nietzsche im März mit großer Zustimmung gelesen hatte16. Eine frühere Bourget-Lektüre läßt sich aus einer Eintragung im Notizheft aus dem Winter 1883 — 1884 erschließen17. Auf diese könnte die vereinzelte erste Erwähnung Baudelaires zurückgehen, die, wie das Bourget tat, Baudelaire mit Schopenhauer zusammen nennt18. Offensichtlich war Nietzsche auch bei Sainte-Beuve auf Baudelaire gestoßen in einem Zusammenhang, der sein Interesse erregte. Alle Baudelaire-Erwähnungen Nietzsches zusammengenommen, können wir zwei hauptsächliche Phasen seiner Beschäftigung mit Baudelaire unterscheiden: eine erste im Frühjahr 1885 in Nizza mit den Gedichten im Zentrum, eine zweite im Frühjahr 1888, wiederum in Nizza, bezogen auf die Oeuvres posthumes. Es wird sinnvoll sein, jede dieser Phasen gesondert zu besprechen.
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Ich danke der Zentralbibliothek der deutschen Klassik in Weimar für die Möglichkeit zur Einsichtnahme in Nietzsches Exemplar. Das Buch wurde später, wohl im Nietzsche-Archiv, gebunden, was zur Folge hatte, daß einzelne Randbemerkungen beschnitten sind. K G W VII/3, 34 [21] S. 148; 34 [45] S. 154; 34 [166] S. 196. K G W VII/3, 38 [ 3 - 5 ] S. 329; 38 [6] S. 329. Karl Schlechta, Nietzsche-Chronik. München 1975. S. 93. vgl. Nietzsche an Resa von Schirnhofer am 11. März 1885. K G W VII/1, 24 [6] S. 688. Den Hinweis darauf verdanke ich Wolfgang Müller-Lauter. K G W VI 1/2, 25 [178] S. 57.
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Der „Erwartungshorizont" 1 9 , rezeptionstheoretisch gesprochen, mit dem Nietzsche bei der ersten Lektüre an Baudelaire herantrat, war beherrscht von Richard Wagner. Im Brief an Gast triumphiert Nietzsche, die Oeuvres posthumes hätten ihm bestätigt, was er sich schon bei den Gedichten gedacht habe, daß Baudelaire am „naturgemäßesten und innerlichsten wagnerisch" gewesen sei. Die Notizen von 1885 bestätigen, daß Nietzsche die Fleurs du Mal so aufgenommen hatte: Gleich in der ersten ausführlicheren Erwähnung heißt es: „Baudelaire, eine Art R(ichard) W(agner) ohne Musik" 2 0 , und später: „vielleicht, daß er heute der erste ,Wagnerianer' von Paris sein würde. Es ist viel Wagner in Baudelaire." 2 1 Es ist ein erstaunliches Zeichen für Nietzsches Spürsinn, daß er auf diese Charakterisierung kam, ohne von Baudelaires tatsächlicher Wagnerbegeisterung und deren literarischem Niederschlag, der Lettre à Richard Wagner und Richard Wagner et ,Tannhäuser' à Paris etwas zu wisssen. Wenn Nietzsche der Baudelaire der Fleurs du Mal als ein Wagner der Literatur erschien zu einem Zeitpunkt, da er Wagner längst abgeschworen und sich gegen ihn gewandt hatte, scheint Nietzsches Einschätzung Baudelaires auf der Hand zu liegen. Williams zieht denn auch den Schluß : „ I n all this it is piain that Baudelaire is anathema to Nietzsche precisely because the affinity between him and Wagner, both of them typical examples of that romantic decadence which has afflicted modern man so shamefully." 2 2 U n d auch Champromis schreibt: „Par exemple Baudelaire est pour Nietzsche profondément ,wagnerien'. C'est à dire qu'il ne l'apprécie guère." 2 3 Nun zitiert jedoch Nietzsche unter den wenigen Erwähnungen dieser ersten Rezeptionsphase zweimal einen Ausspruch Baudelaires, auf den er bei Sainte-Beuve gestoßen war, Victor Hugo sei ein „Esel von Genie" 2 4 . Nietzsche sah durchwegs auch in Victor Hugo eine Entsprechung zu Wagner, und zwar unter dem Gesichtspunkt des Schauspielerischen, des Demagogischen; noch in beider Begräbnis registrierte er Parallelen der Wirkung 25 . Wenn er nun Hugo mit Wagner gleichsetzte, wenn er zugleich auch Baudelaire mit Wagner in Analogie brachte, wenn er schließlich Wert darauf legte, daß Baudelaire Hugo aufs schärfste abgelehnt und kritisiert hatte — wie soll man sich da noch zurecht-
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vgl. H . - R . Jauss, Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt 1973 (eds 418). S. 175ff. K G W VI 1/3, 34 [166] S. 196. K G W VII/3, 38 [5] S. 329. Williams a.a.O. S. 150. Champromis a.a.O. S. 113 Anm. - Ähnlich Wilhelm, a.a.O. S. 30f. K G W VII/3, 34 [45] S. 154; 36 [6] S. 329. Den Ausspruch fand Nietzsche in Sainte-Beuve, Les cahiers suivis de quelques pages de littérature antique, Paris 1876. Das Exemplar aus Nietzsches Bibliothek hat sich erhalten. - Nachweis der Fundstelle: Opere complété di Friedrich Nietzsche, ed. italiana diretta da Giorgio Colli e Mazzino Montinari. Milano. 1964f. Bd VII/3, S. 438. K G W VII/3, 41 [2] S. 407.
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finden? Wagner war offenbar für Nietzsche keine feststehende negative Größe, sondern eine, die noch immer mehrere Seiten hatte. Mit seiner Feststellung einer Verwandtschaft zwischen Baudelaire und Wagner ist somit für unsere Erkenntnis von Nietzsches Baudelaire-Bewertung noch nichts entschieden. Daß Baudelaire Victor Hugo ablehnte, konnte in Nietzsches Augen Bedeutung haben, weil er damit den französischen Repräsentanten des Zeitgeistes ablehnte, der Demokratie und Patriotismus auf seine Fahnen geschrieben und damit die Entwicklung der „Herdentiere" befördert hatte. Baudelaire war somit jenen einzelnen zuzurechnen, welche im Widerstand gegen die Zeittendenz und unter deren Druck zu sich selbst gekommen waren. Nietzsche konnte sich ihm als verwandt empfinden. Tatsächlich läßt sich Baudelaires Distanzierung von Victor Hugo derjenigen Nietzsches von Richard Wagner vergleichen. Der junge Baudelaire hatte Hugo sehr verehrt und zunächst stark unter seinem Einfluß gedichtet; noch in den Fleurs du Mal sind Hugo mehrere Gedichte gewidmet. Dann aber löste er sich von Hugo. Das Verhältnis blieb jedoch ambivalent: Spott über Hugo in Briefen und Gesprächen und positives oder doch nuanciertes öffentliches Urteil standen nebeneinander. Baudelaire unterschied besonders zwischen Hugos Persönlichkeit und Werk und innerhalb des Werks zwischen Gedichten und Dramen und den Romanen 26 . Daß Nietzsche zwischen Baudelaires Verhältnis zu Hugo und seinem eigenen zu Wagner eine Ähnlichkeit gesehen habe, läßt sich nur vermuten. Ausdrücklich stellte er Baudelaires abschätziges Dictum über Hugo in einen andern Zusammenhang: „Baudelaire, von deutschem Geschmack, wenn ihn irgend ein Pariser haben kann, empfindet deutsch, wenn er Victor Hugo nicht aushält und ihn einen ,Esel von Genie' nennt." 27 Daß sich hier mit „deutsch" ein positives Urteil verbindet, ergibt sich aus der unmittelbar vorangehenden Eintragung: ,,Diderot zeigte sich, nach Goethe's Urtheil, wahrhaft deutsch . . . in Allem, was die Franzosen tadelten . . ." 2 8 Wie Goethe über Diderot, so urteilte Nietzsche nun über Baudelaire. Nicht nur der Hinweis auf Goethe erlaubt hier ein positives Verständnis von „deutsch"; daß ein Franzose deutsch empfand, zeigte an, daß er sich von der landläufigen Denkweise absetzte, skeptisch und kritisch zu sein vermochte. Das war in Nietzsches Augen eine Auszeichnung der Deutschen, die er gelegentlich „mephistophelisch" nannte. Das angeschlagene Thema wird noch zweimal
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Für Hinweise auf Baudelaires Verhältnis zu Victor Hugo danke ich meinem romanistischen Kollegen Robert Kopp. K G W VII/3, 34 [45] S. 154. K G W VII/3, 34 [44] S. 153/4.
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weitergeführt: „Baudelaire, ganz deutsch bereits, eine gewisse hyper-erotische Ankränkelung abgerechnet, welche nach Paris riecht" 2 9 . Und schließlich in der differenziertesten Charakterisierung: „Was von Dichtern jetzt in Frankreich blüht, steht unter Heinrich Heines und Baudelaires Einfluß, vielleicht Leconte de Lisle ausgenommen: denn in gleicher Weise wie Schopenhauer jetzt schon mehr in Frankreich geliebt und gelesen wird als in Deutschland, ist auch der Cultus Heinrich Heines nach Paris übergesiedelt. Was den pessimistischen Baudelaire betrifft, so gehört er zu jenen kaum glaublichen Amphibien, welche ebensosehr deutsch als pariserisch sind; seine Dichtung hat etwas von dem, was man in Deutschland Gemüth oder »unendliche Melodie' und mitunter auch .Katzenjammer' nennt. Im Übrigen war Baudelaire der Mensch eines vielleicht verdorbenen, aber sehr bestimmten und scharfen, seiner selbst gewissen Geschmacks: damit tyrannisirt er die Ungewissen von Heute. Wenn er seiner Zeit der erste Prophet und Fürsprecher Delacroix' war: vielleicht, daß er heute der erste ,Wagnerianer' von Paris sein würde. Es ist viel Wagner in Baudelaire." 3 0 Zwar rückt hier Baudelaires Deutschheit wieder stärker ins Zwielicht. „ G e m ü t " war für Nietzsche eine problematische Qualität, er definierte sie an einer Stelle desselben Heftes als das „was Goethe darunter verstand: ,Nachsicht mit fremden und eigenen Schwächen'" 3 1 . „Unendliche Melodie" verweist auf Wagners scheinbare Formlosigkeit und Unklarheit, es bedürfte kaum mehr der anschließenden Bezeichnung „ K a t zenjammer", die Phänomen und Wertung in eines faßt. Diesen negativen deutschen Eigenschaften Baudelaires, die höchstens als nicht-französische eines Parisers positiv ins Gewicht fallen, stehen eindeutig positive gegenüber. Sie sind mit der Nachbarschaft Heines angedeutet, erst recht aber mit dem Hinweis auf Baudelaires „sehr bestimmten und scharfen, seiner selbst gewissen Geschmack", zumal wenn man Nietzsches Fassung dieses alten Begriffs in Rechnung stellt 32 . Was Nietzsche damit umschreibt, ist die von ihm begrüßte Seite des französischen Geistes. An der zitierten Stelle beschließt Baudelaire die Reihe der von Nietzsche akzeptierten neueren Franzosen, der
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K G W VII/3, 34 [21] S. 148. K G W VII/3, 38 [5] S. 328/9. K G W VII/3, 37 [10] S. 311. - Nietzsche bezieht sich hier auf Goethes Äußerung in Maximen und Reflexionen: „Die Deutschen sollten in einem Zeitraum von dreissig Jahren das Wort Gemüth nicht aussprechen, dann würde nach und nach Gemüth sich wieder erzeugen; jetzt heisst es nur: Nachsicht mit Schwächen, eignen und fremden." Weimarer Ausgabe I. Abt., Bd 42, II, S. 156. — Daß dieses Verständnis Goethes von „Gemüth" eine Ausnahme bildet, zeigt umfassend die Wortmonographie von Ingeborg Hartmann-Werner, „Gemüt" bei Goethe. München 1976 (Münchner Germanistische Beiträge 23). „Geschmack ist für Nietzsche ein jedem Gedanken, jeder Einsicht, jeder Wertschätzung substantiell Vorausgehendes. . . . Dieser Geschmack ist ihm eine entscheidende, aus der Tiefe der Existenz sprechende Instanz." Karl Jaspers, Nietzsche. Berlin 19472 S. 49.
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„höheren Geister" wie Stendhal, Mérimée, Taine. Wenn Baudelaire „die Ungewissen von heute tyrannisiert", wirkte in ihm das Napoleonische nach, das alle Genannten geprägt hatte. Was Baudelaire auszeichnet, ist also eine gute Mischung aus Französisch und Deutsch, etwas „Amphibisches", d. h. Ubernationales. Das gehört in einen größeren Zusammenhang. Im Umkreis dieser Baudelaire-Bemerkungen beschäftigte Nietzsche immer wieder die Zukunft Europas. Er dachte an die Einheit Europas und an die neuen Europäer, als Schlüsselwort erscheint gelegentlich „Synthesis". Das war für ihn eine Hoffnung gegen den Augenschein; denn mit der deutschen Reichsgründung hatte der Nationalismus, die „Vaterländerei", scheinbar an Boden gewonnen. Aber Nietzsche rechnete, nicht zuletzt aufgrund eigener Erfahrung, mit der Reaktion auf diese geschichtliche Lage bei einzelnen, in denen sich eine neue Kraft ankündigte, die diesen Zustand überwinden würde, und er hielt Ausschau nach solchen einzelnen. Dabei setzte er auf alle diejenigen, welche die Beschränkung ihrer nationalen Zugehörigkeit in irgendeiner Weise durchbrachen. Nirgends fand diese Hoffnung emphatischeren Ausdruck als im Aphorismus 256 aus Jenseits von Gut und Böse, dem letzten des Kapitels Völker und Vaterländer: „Dank der krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitäts-Wahnsinn zwischen die Völker Europa's gelegt hat und noch legt, Dank ebenfalls den Politikern des kurzen Blicks und der raschen Hand, die heute mit seiner Hülfe obenauf sind und gar nicht ahnen, wie sehr die auseinanderlösende Politik, welche sie treiben, notwendig nur ZwischenaktsPolitik sein kann, — Dank Alledem und manchem heute ganz Unaussprechbaren werden jetzt die unzweideutigsten Anzeichen übersehn oder willkürlich und lügenhaft umgedeutet, in denen sich ausspricht, dass Europa Eins w e r d e n w i l l . Bei allen tieferen und umfänglicheren Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesammt-Richtung in der geheimnissvollen Arbeit ihrer Seele, den Weg zu jener neuen S y n t h e s i s vorzubereiten und versuchsweise den Europäer der Zukunft vorwegzunehmen: nur mit ihren Vordergründen, oder in schwächeren Stunden, etwa im Alter, gehörten sie zu den „Vaterländern", — sie ruhten sich nur von sich selber aus, wenn sie „Patrioten" wurden. Ich denke an Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich Heine, Schopenhauer: man verarge mir es nicht, wenn ich auch Richard Wagner zu ihnen rechne, über den man sich nicht durch seine eignen Missverständnisse verführen lassen darf, — Genies seiner Art haben selten das Recht, sich selbst zu verstehen. Noch weniger freilich durch den ungesitteten Lärm, mit dem man sich jetzt in Frankreich gegen Richard Wagner sperrt und wehrt : — die Thatsache bleibt nichtsdestoweniger bestehen, dass die f r a n z ö s i s c h e S p ä t - R o m a n t i k der Vierziger Jahre und Richard Wagner auf das Engste und Innigste zu einander gehören.
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Sie sind sich in allen Höhen und Tiefen ihrer Bedürfnisse verwandt, grundverwandt: Europa ist es, das Eine Europa, dessen Seele sich durch ihre vielfältige und ungestüme Kunst hinaus, hinauf drängt und sehnt — wohin? in ein neues Licht? nach einer neuen Sonne? Aber wer möchte genau aussprechen, was alle diese Meister neuer Sprachmittel nicht deutlich auszusprechen wussten? Gewiss ist, dass der gleiche Sturm und Drang sie quälte, dass sie auf gleiche Weise s u c h t e n , diese letzten grossen Suchenden!" 33 Im folgenden werden dann Delacroix, Balzac und vor allem wieder Wagner als Beispiele höherer Menschen namentlich erwähnt. Es ist eine Frage, die ich nicht zu beantworten vermag, weshalb Baudelaire in diesem Aphorismus nicht genannt wird. Mißtraute Nietzsche seinem Urteil über Baudelaire, zu dem er intuitiv, ohne gesicherte Belege gekommen war? War seine Meinung noch zu frisch, als daß er sie hätte veröffentlichen wollen? Daß er Baudelaire bei der Charakterisierung der „Suchenden" mitdachte, scheint mir evident angesichts der Sätze : „allesammt grosse Entdecker im Reiche des Erhabenen, auch des Hässlichen und Grässlichen . . . begehrlich nach dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren, dem Krummen, Sich-Widersprechenden." Belegen läßt sich diese Evidenz mit einem weiteren Hinweis. Die genannten Vorboten einer europäischen Synthesis zeichneten sich für Nietzsche im Speziellen dadurch aus, daß sie auch die Grenzen der einzelnen Künste auf eine höhere Einheit hin transzendierten, daß sie „Vermittler und Vermischer der Künste und der Sinne" waren. Der Aphorismus 256 exemplifiziert mit Delacroix und Wagner. Eine Vorstufe dazu bezieht Baudelaire ausdrücklich mit ein: „Das Gemeinsame in der Entwicklung der E u r o p ä e r - S e e l e ist z. B. zu merken bei einer Vergleichung Delacroix' und R(ichard) W(agners), der Eine peintre-poète, der Andere Ton-Dichter, nach der Differenz der französischen und deutschen Begabung. Aber sonst gleich. Delacroix übrigens auch s e h r Musiker — eine Coriolan-Ouverture. Sein erster Interpret B a u d e l a i r e , eine Art R(ichard) W(agner) ohne Musik. Der A u s d r u c k expression von Beiden vorangestellt, alles Übrige geopfert. Von Litteratur abhängig Beide, höchst gebildete und selbst schreibende Menschen. Nervöskrankhaft-gequält, ohne Sonne." 34 Aus dem hier Gesagten zeichnet sich ein Dreigestirn ab : Delacroix, der Maler, Wagner, der Musiker, Baudelaire, der Dichter — alle tendierten sie aus ihrem Kunstmedium hinaus, der erste als peintre-poète, der zweite als Ton-Dichter und Ton-Maler, Baudelaire hatte Affinitäten zu beiden. Daß sich in diesen Dreien auch Deutsches und Französisches durchdrangen und etwas Gemeinsames regte, kündigte ihr gemeinsames Bestreben nach „expression" an. 33 34
K G W VI/2, S. 209/10. K G W VII/3, 34 [166] S. 196. - Der Name Baudelaires fehlt auch in der unmittelbaren Vorstufe des Aphorismus 256, K G W VII/3, 37 [15] S. 316f.
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Die Herausbildung eines solchen Dreigestirns läßt sich in Nietzsches Notizen über längere Zeit verfolgen. Ganz allgemein und unter negativem Aspekt erscheint der Gedanke im Frühjahr 1884: „Dies Jahrhundert, wo die Künste begreifen, dass die Eine auch Wirkungen der andern hervorbringen kann: r u i n i r t v i e l l e i c h t d i e K ü n s t e ! z. B. mit Poesie zu m a l e n (Victor Hugo, Balzac, W . Scott usw. mit M u s i k p o e t i s c h e Gefühle erregen (Wagner) mit Malerei poetische Gefühle, ja p h i l o s o p h i s c h e Ahnungen zu erregen (Cornelius) mit Romanen Anatomie und Irren-Heilkunde treiben usw." 3 5 Cornelius war jedoch sichtlich keine überzeugende Entsprechung zu Wagner in der Malerei. Als solche erwies sich Delacroix, auf den Nietzsche kurz darauf durch den Künstlerroman Manette Salomon der Brüder Goncourts aufmerksam wurde. Er notierte sich daraus die theoretischen Passagen, die vom Ineinander von Literatur und Malerei bei Delacroix handeln 36 . Mit Nietzsches Nachbemerkung „Delacroix eine Art Wagner" war nun die Stelle der Malerei endgültig besetzt. Auf der Seite der Literatur war die Wahl offenbar schwieriger. Die zitierte Notiz nennt an erster Stelle Victor Hugo. Er blieb für Nietzsche bis zum Fall Wagner das Pendant zu Wagner, wobei als tertia comparationis auch das Schauspielerische und das Demagogische eine Rolle spielten. Daß aber Nietzsches erste Lektüre Baudelaires auch im Zeichen der Suche nach einem eindeutigeren Wagner der Literatur erfolgte, läßt sich daraus vermuten, daß in den zitierten Baudelaire-Erwähnungen mehrfach auf Baudelaires Eintreten für Delacroix verwiesen wird. Den Hinweis darauf konnte Nietzsche, ehe er auf Baudelaires Kunstkritiken traf, dem Gedicht Les Phares aus den Fleurs du Mal37 oder Gautiers einleitendem Essay entnehmen. In der fast gleichzeitigen Zitierung von Baudelaires abfälligem Urteil über Hugo objektivierte sich gewissermaßen, daß Baudelaire nun Hugo in der Dreierkonstellation von seinem Platz verdrängt hatte. Damit wurde zugleich die Vermischung der Künste und Sinne zu einem positiven Krisensymptom. An Baudelaires Seite resp. an seine Stelle konnten auch Balzac, Flaubert oder Gautier treten, doch blieb Nietzsches Urteil über sie zwiespältiger. Auf dem Hintergrund dessen, was sich aus den Aufzeichnungen über Nietzsches Beurteilung Baudelaires in dieser ersten Rezeptionsphase gewinnen läßt, müssen wir nun die Lesespuren zu deuten versuchen, die uns in Nietzsches Exemplar der Fleurs du Mal erhalten sind, Unterstreichungen vor
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K G W VI 1/2, 25 [132] S. 44. K G W VII/2, 25 [141] S. 47; 25 [144] S. 48.
vgl. zu Baudelaires Les Phares: Bernhard Böschenstein, Die späten Musen. 2« „Leuchttürmen",
in: Leuchttürme, Frankfurt 1977. S. 201—223.
Baudelaires
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allem, Striche am Rand, selten nur Einwort-Kommentare. Es liegt auf der H a n d , daß nur Vermutungen darüber möglich sind, was jeweils Nietzsches Bleistift in Bewegung gesetzt hat. Die Striche gelten nicht nur Gedichten, sondern in größerem Maße dem vorangestellten Essay über Baudelaire von Théophile Gautier. Nietzsche hat ihn offensichtlich so intensiv gelesen, daß er von ähnlich großem Einfluß auf sein Baudelaire-Bild gewesen sein dürfte wie derjenige Bourgets. Gautier stimmte freilich im Entscheidenden mit Bourget überein. N u r selten bringen Nietzsches Auszeichnungen seine unmittelbare Reaktion zum Ausdruck, so, wenn er bei Gautiers Hinweis auf Baudelaires Liebe zu den Katzen an den Rand setzte „fi donc" 3 8 oder umgekehrt „ b r a v o " zur Feststellung: „Fénélon, J.-J. Rousseau, Bernardin de SaintPierre, Chateaubriand, George Sand, sont poétiques mais ne sont pas p o è t e s " 3 9 . Die Striche können sich insgesamt nicht darauf beziehen, daß Gautier seinen Gegenstand adäquat charakterisierte; Nietzsche war ja erst im Begriff, Baudelaire näher kennenzulernen. Er merkte vielmehr an, was Gautiers Baudelaire-Bild mit Geisteshaltungen verband, die er anderswoher kannte, was ihm daran typisch erschien. Angestrichen sind vornehmlich Stellen, an denen Gautier darlegt, daß Baudelaire von der Unausweichlichkeit der Erbsünde überzeugt gewesen sei und seine Mystik im Bestreben bestanden habe, sich über die Welt hinaus zum Unveränderlichen und Einen zu erheben; daß es das Konzept der reinen Poesie gewesen sei, mittels der Dichtung und durch sie hindurch in ein Jenseits zu gelangen, und sie deshalb auf die Erregung irdischer Freuden verzichtete. Nietzsche unterstrich ferner Gautiers apologetische Partien, daß der Zug zum Hohen und Einen auch hinter Baudelaires als unmoralisch inkriminierten Gedichten stehe, daß es ihm noch im Häßlichen um die unerreichbare Schönheit gehe. Nimmt man die in Gautiers Essay angestrichenen Stellen zusammen, so tritt daraus Baudelaire als christlicher Platoniker hervor, beherrscht vom Verlangen, die Welt mit Hilfe der Kunst zu transzendieren. Damit sollte aber offensichtlich Baudelaire nicht als „Hinterweltler" charakterisiert werden, sondern als Dichter, den es von innen heraus dazu trieb, seiner Gegenwart den Willen zu etwas anderem entgegenzusetzen, auch wenn er sich dabei noch der traditionellen Vorstellungen von Diesseits und Jenseits bediente. Nietzsche akzeptierte ja auch im Aphorismus 256, daß die „höheren Menschen" schließlich am Kreuz zerbrachen. Im Vergleich mit den Strichen, die eine intensive Durcharbeitung von Gautiers Vorwort erkennen lassen, sind die Lesespuren in der Gedicht-
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Baudelaire,
Les
Fleurs
du
Mal,
précédées d ' u n e notice p a r T h é o p h i l e
N o u v e l l e édition. P a r i s 1882 ( = F l e u r s d u M a l ) . S. 33. Fleurs du Mal S. 4 1 .
Gautier.
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Sammlung selbst höchst spärlich. Von den rund 140 Gedichten tragen lediglich 7 irgendwelche Anstreichungen 40 . Fünf davon stehen im ersten Drittel der ersten Abteilung Spleen et Idéal, das siebente ist das großartige Abschluß gedieht der Sammlung Le Voyage. Einzig L'amour du mensonge stammt aus den Tableaux parisiens, ist aber dafür nicht typisch; der Titel könnte Nietzsche zur Lektüre veranlaßt haben 41 . Die Vermutung ist wohl erlaubt, Nietzsche habe die Gedichtsammlung kaum mehr als flüchtig angelesen. Offensichtlich leitete ihn dabei mehr ein philosophisches als ein künstlerisches Interesse. Angestrichen sind Problemgedichte mit metaphysischer oder ästhetischer Thematik, Leben und Tod, Schönheit, und nicht diejenigen, in denen sich die für Baudelaire spezifische Durchdringung von Geist und Sinnlichkeit ausspricht. Dazu paßt, daß die Striche fast ausschließlich Schlußstrophen gelten. Es macht die allegorisch-emblematische Eigenart vieler Baudelaire-Gedichte aus, daß zunächst ein Phänomen vorgestellt oder beschworen und daß dann im Sinne einer Subscriptio eine abstrakte Schlußfolgerung daraus gezogen wird. An diesen Stellen boten sich Quervergleiche zu den Anschauungen von Baudelaires Zeitgenossen am direktesten an. Der Satz aus dem Brief an Peter Gast, „Ich habe mir die Stellen seiner (Baudelaires) Gedichte angestrichen, in denen eine Art Wagnerischer Sensibilität ist, welche sonst in der Poesie keine Form gefunden hat", ist wohl primär inhaltlich zu verstehen. Unter „Sensibilität" verstand Nietzsche die physiologische Bedingung einer Welthaltung, die vor allem im Gedanklichen faßbar war. Daß Nietzsche Wagnerisches an Baudelaires Gedichten herausheben wollte, könnte vor allem für jene angestrichenen Gedichte gelten, wo von der Rolle der Kunst und der Schönheit die Rede ist, den Schluß von L'amour du mensonge, vor allem für die Schlußstrophen der Hymne à la Beauté: „ Q u e tu viennes du ciel ou de l'enfer, qu'importe, O Beauté! monstre énorme, effrayant, ingénu! Si ton oeil, ton souris, ton pied, m'ouvrent la porte D ' u n Infini que j'aime et n'ai jamais connu?
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Die Anstreichungen verteilen sich folgendermaßen auf die Fleurs du Mal: L'homme et la mer, S. 105 (Wellenlinie am Rand neben den Strophen 3 und 4); La Beauté, S. 111 (Kreuzchen rechts neben dem Titel); Le Masque, S. 114 (Wellenlinie neben der Schlußstrophe); Hymne à la Beauté, S. 116/7 (Linie am Rand neben den beiden Schlußstrophen); De profundis clamavi, S. 130 (Strich am Rand neben dem letzten Terzett); L'amour du mensonge, S. 281 (Strich neben der Schlußstrophe); Le Voyage, S. 344ff., I (Strich am Rand neben beiden Schlußstrophen), VII (Strich am Rand neben den Strophen 1 und 6), VIII (Striche am Rand neben beiden Strophen). Zum Problem der Lüge bei Nietzsche vgl. Maria Bindschedler, Nietzsche und die poetische Lüge. Basel 1954. (Philosophische Forschungen N.F. Bd 5).
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D e Satan ou de Dieu, qu'importe? Ange ou Sirène, Q u ' i m p o r t e , si tu rends, — fée aux yeux de velours, Rhythme, parfum, lueur, ô mon unique reine! — L'univers moins hideux et les instants moins l o u r d s ? " 4 2
Hier geht es um ein Jenseits von Gut und Böse und um Synästhesien. Andere Gedichtschlüsse ließen eher an Schopenhauernähe denken, so das letzte Terzett von De profundis clamavi, das Gedicht L'homme et la mer, vor allem aber der Schluß von Le Masque: „ — Elle pleure, insensé, parce qu'elle a vécu! Et parce qu'elle vit! Mais ce qu'elle déplore Surtout, ce qui la fait frémir jusqu'aux genoux, C'est que demain, hélas! il faudra vivre encore! Demain, après-demain et toujours! — comme n o u s ! " 4 3
Eine Sonderstellung scheint mir das Schlußgedicht Le Voyage, eher ein Gedichtzyklus, einzunehmen. Zunächst finden sich wiederum Striche am Schluß des Eingangsgedichts, der die generalisierende Feststellung bringt „Mais les vrais voyageurs sont ceux-là seuls qui partent / pour partir . . , " 4 4 Doch die folgende Strophe erinnert nun nicht mehr allein an Wagner oder Schopenhauer, sondern an Nietzsche selbst: „ . . . c'est ici qu'on vendange Les fruits miraculeux, dont votre coeur a faim; Venez vous enivrer de la douceur étrange D e cette après-midi qui n'a jamais de f i n ! " 4 5
Das gilt vollends für das zweistrophige Schlußgedicht: „ O Mort, vieux capitaine, il est temps! levons l'ancre!" 46 Das ist die Bilderwelt, ja der Ton, den wir aus dem Dithyrambus Die Sonne sinkt kennen. Dürfen wir vermuten, daß hier Nietzsche nicht mehr analysiert, sondern mitgeschwungen habe? Das Recht zu dieser Vermutung entnehme ich daraus, daß Nietzsches Baudelaire-Bild dieser ersten Phase wesentlich positiv, von Hoffnung geprägt ist. Baudelaire erscheint zwar als Pessimist, nirgends aber fällt im Zusammenhang mit ihm der Begriff „décadence", unter den ihn Bourget und Gautier subsumierten. Im Gegenteil, für Nietzsche gehörte Baudelaire in den Kreis jener Geister des 19. Jahrhunderts, von denen es im Aphorismus 256 aus Jenseits von Gut und Böse heißt, sie seien „im Ganzen eine verwegen-wagende, 42
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Fleurs du Mal S. 117. — Baudelaire, Oeuvres complètes, texte établi et annoté par Y . - G . L e Dantec, édition révisée, complétée et présentée par Claude Pichois. Paris 1-961 (Bibliothèque de la Pléiade), p. 23/24. — (Diese Ausgaben im folgenden zitiert als B Pl.). Fleurs du Mal S. 114; B PI. p. 22/23. Fleurs du Mal S. 344; B PL p. 122. Fleurs du Mal S. 3 4 9 ; B PI. p. 126. Fleurs du Mal S. 351 ; B PI. p. 127.
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prachtvoll-gewaltsame, hochfliegende und hoch emporreissende Art höherer Menschen, welche ihrem Jahrhundert — und es ist das Jahrhundert der Menget — den Begriff ,höherer Mensch' erst zu lehren hatte." Daß sie ihrer Haltung nicht immer treu zu bleiben vermochten, wird ihnen nicht verübelt, „denn wer von ihnen wäre tief und ursprünglich genug zu einer Philosophie des Antichrist gewesen?" Allesamt waren sie auf dem richtigen Weg, nur hatten sie nicht die Kraft, das Ziel zu erreichen, die Nietzsche sich selbst zusprach. Das Wagnerische, das Nietzsche an Baudelaire wiederzuerkennen meinte, war gewiß ambivalent. Aber in der Ambivalenz hatten die positiven Züge das Ubergewicht. So konnte Wagner Nietzsche dazu dienen, Baudelaires geistige Verwandtschaft mit ihm selbst zu erkennen. Die zweite Phase von Nietzsches Beschäftigung mit Baudelaire ist bedeutend besser dokumentiert. Außer dem Bericht darüber an Peter Gast haben wir nun die ausführlichen Exzerpte zur Verfügung, welche in der K G W etwa 14 Seiten einnehmen. Voraus geht in diesem Exzerptheft, was Nietzsche „die erste Niederschrift meines .Versuchs einer Umwerthung' " 4 7 nannte, für die sich der Plan einer Gliederung erhalten hat. Die Herausgeber schreiben zu dieser Abfolge von „erster Niederschrift" und Exzerpten von einer gewissen „Änderung in der Arbeitsweise Nietzsches": „Nach dem letzten numerierten Fragment (372) werden Nietzsches eigene Überlegungen mehr und mehr durch umfangreiche Exzerpte aus Werken anderer Autoren unterbrochen, ja sie entstehen in engem Zusammenhang mit der Lektüre jener W e r k e . " 4 8 In einer Anmerkung wird speziell auf die Baudelaire-Exzerpte hingewiesen. Nietzsche kommt im Brief an Gast ebenfalls auf jene „Niederschrift" zu sprechen, deren Abschluß er ihm kurz zuvor mitgeteilt hatte. Die Frage, die sich damit stellt, ist die nach dem Verhältnis zwischen der „ersten Niederschrift des Versuchs einer Umwerthung" und den Baudelaire-Exzerpten und der Einschätzung Baudelaires, die sich daraus ergibt. Den Exzerpten ist eine Disposition vorangestellt, die Baudelaire einen bestimmten Platz zuweist: „ Z u m , g r o ß e n E k e l ' : t h e i l s daran leidend, t h e i l s selbst erzeugend die nervös-katholisch-erotische Litteratur der Litteratur-Pessimismus Frankreichs / Flaubert. Zola. Goncourt. Baudelaire, die diners chez Magny Zum . g r o ß e n M i t l e i d ' Tolstoi, Dostoiewsky Parsifal"49 47 48 49
KGW VIII/2, S. VI. ebd. S. VII. K G W VIII/2, 11 [159] S. 317.
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Die Spuren, die von da aus in die „erste Niederschrift" zurückweisen, führen auf den Abschnitt, der die Nummer 84 trägt und nach dem Plan in das erste Kapitel gehört hätte. Er trägt die Überschrift: „Hauptsymptome des Pessimism." und zählt auf: „die dîners chez Magny. der russische Pessimism. Tolstoi Dostoiewsky der aesthetische Pessimismus l'art pour l'art „ D e s c r i p t i o n " der romantische und der antiromantische Pessimism der erkenn tniß theoretische Pessimismus. Schopenhauer. D e r „Phänomenalismus", der anarchistische Pessimismus. die „Religion des Mitleids", buddhistische Vorbewegung, der Cultur-Pessimismus (Exotism. Kosmopolitismus) der moralistische Pessimismus : ich selber Die D i s t r a k t i o n e n , die zeitweiligen E r l ö s u n g e n vom Pessimismus, die großen Kriege, die starken Militär-Organisationen, der Nationalismus die Industrie-Concurrenz die Wissenschaft das Vergnügen Scheiden wir hier aus: d e r P e s s i m i s m u s als S t ä r k e — w o r i n ? in der Energie seiner Logik, als Anarchismus und Nihilism, als Analytik. P e s s i m i s m u s a l s N i e d e r g a n g — worin? als Verzärtlichung, als kosmopolitische Anfühlerei, als „ t o u t c o m p r e n d r e " und H i s t o r i s m u s . " 5 0
Was später „der große Ekel" heißt, figuriert hier als „aesthetischer Pessimism u s " wie „zum großen Mitleid" als „russischer Pessimismus". Die „dîners chez Magny" ist eine Sammelbezeichnung für eine Reihe von Namen, die im Brief an Peter Gast vom 10. November 1887 genannt werden : „Sainte-Beuve, Flaubert, Théophile Gautier, Taine, Renan, die Goncourts, Schérer, Gavarni, gelegentlich Turgenjew usw. . . . ich selbst gehörte gar nicht übel hinein — ich kenne diese Herrn auswendig, so sehr daß ich sie eigentlich bereits satt h a b e . " 5 1 Die Baudelaire-Exzerpte gehören demnach zur geplanten Differenzierung des Pessimismus im Zusammenhang mit der Bestandsaufnahme der geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts, von der der „Versuch einer Umwerthung" ausgehen sollte. Dabei hätte die Scheidung von „Pessimismus als Stärke" und „Pessimismus als Niedergang", d. h. als décadence, eine wichtige Rolle gespielt. Baudelaire kam nun eindeutig auf die Seite des letzteren zu stehen, womit Nietzsche sich erst jetzt Bourgets BaudelaireDeutung anschloß. 50 51
K G W VIII/2, 9 [126] S. 73. SA III, S. 1269.
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Der Brief an Gast bestätigt diese Einordnung. Darin heißt Baudelaire nun „der bizarre Dreiviertels-Narr", von seinen Aufzeichnungen ist die Rede als von „unschätzbaren Psychologicis der décadence (,mon coeur mis à nu' von der Art, wie man sie im Falle Schopenhauers und Byrons verbrannt hat)". 52 Die Klammerbemerkung greift auf einen Gedanken aus Zur Genealogie der Moral zurück, wo Nietzsche davon spricht und mit den Beispielen der Nachlaßverwalter Byrons, Schopenhauers und Beethovens belegt, daß unter sog. „guten Menschen" niemand mehr vor lauter Moral die Wahrheit über den Menschen aushalte: „Welcher kluge Mann schriebe heute noch ein ehrliches Wort über sich?" 53 Baudelaire war eine solche Ausnahme eines klugen Mannes. Sein Journal intime eröffnete Nietzsche die einzigartige Möglichkeit, den Pessimismus der décadence von innen her kennenzulernen durch einen, der sich selber nicht schonte. Aus dieser Sicht exzerpierte Nietzsche Baudelaires Aufzeichnungen, teils den französischen Text, teils übersetzend. Zunächst scheint er an eine thematische Gliederung gedacht zu haben, doch dann folgt die Anordnung der Ausgabe von Crépet. 54 Nur insgesamt dreimal schrieb er sein Urteil über das Exzerpierte expressis verbis dazu. Diese Stellen erlauben es, seine Optik auf Baudelaire noch schärfer zu fassen: Das erste Mal kommentiert er eine Bemerkung Baudelaires über Petron. Baudelaire spricht von dessen terrifiantes impuretés, ses bouffonneries attristantes.55 Nietzsche bemerkt dazu: „Unsinn: aber symptomatisch." Nietzsches Vorliebe für Petron ist vielfach bezeugt. In der „Niederschrift" erscheint er wiederholt als Antipode des Neuen Testaments und überhaupt des Christentums, z. B.: ,,,Unschuldig' ist z.B. Petronius; ein Christ hat im Vergleich mit diesem Glücklichen ein für alle Mal die Unschuld verloren." 56 Symptomatisch erschien Nietzsche Baudelaires Urteil über Petron, dessen Cena Trimalchionis Baudelaire übrigens 1862 hatte übersetzen wollen, 57 weil darin seine Christlichkeit zum Ausdruck kam. Diese sollten einige weitere Exzerpte belegen, in denen Baudelaire von Gott, dem Ideal des Heiligen, dem Gebet, der Erbsünde, der Kirche spricht, ferner jene Stellen, an denen vom Teufel und von satanischen Dingen die Rede ist, z . B . : „L'éternelle Venus (caprice, hystérie, fantaisie) est une des formes séduisantes du diable" 58 , oder „Der Handel ist, seinem Wesen nach, satas2 53 54
55 56 57 58
SA III, S. 1280. — Schlechta liest merkwürdigerweise „mon coeur mis à un". K G W VI/2, S. 404. Die italienische Nietzsche-Ausgabe enthält die genauen Stellennachweise der von Nietzsche benutzten Ausgabe der Oeuvres posthumes. Hier werden statt dessen die Stellen der Pléiade-Edition angegeben, in der Baudelaires Aufzeichnungen anders geordnet sind. K G W VIII/2, 11 [163] S. 318. - B PI. p. 804. Lettre à Jules Janin. K G W VIII/2, 10 [193] S. 238; ähnlich 10 [69] S. 162; 10 [93] S. 175; 9 [143] S. 80. vgl. B PI. p. 1684. K G W VIII/2, 11 [208] S. 326. B PI. p. 1288.
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nisch" 5 9 . Liebe und Handel gehörten für Baudelaire dem satanischen Bereich an, weil sie ihm als natürlich erschienen. Solche Äußerungen mußten Nietzsche Symptome sein für eine moralisierende Gottesvorstellung, in deren Gefolge alles Natürliche, besonders die Instinkte, verteufelt wurden. Die Omnipotenz der Moral gestattete Baudelaire nicht, die in Nietzsches Augen eigentlich bestimmenden Mächte zu erkennen und gar anzuerkennen, was dieser als Zeichen letztlich physiologischer Schwäche deutete. Dieser Gesichtspunkt macht sich in dem kurzen Ausruf „Haarsträubend" bemerkbar, mit dem Nietzsche auf Baudelaires Zeitdiagnose reagierte, wonach die gegenwärtige Menschheit pourtant si endurcie60 sei, wenn auch noch lange nicht wie die künftige. Als sichtliches Schwächezeichen erschien in Nietzsches Sicht alles, was Baudelaire von der Liebe sagte, verstanden als prostitution im Sinne von Hingebung: ,,L'amour peut dériver d'un sentiment généreux: le goût de la prostitution. Mais il est bientôt corrompu par le goût de la propriété." 61 War das nicht wie die Illustration der Partie aus der „Niederschrift": „Die Menschen haben die Liebe immer mißverstanden: sie glauben hier selbstlos zu sein, weil sie den Vortheil eines andern Wesens wollen, oft wider ihren eigenen Vortheil: aber dafür wollen sie jenes andere Wesen besitzen . . ."?62 Was Baudelaire als Korrumpierung der Liebe verstand, erschien Nietzsche als deren wahre und deshalb zu bejahende Natur. Schließlich dokumentieren die Exzerpte auch Nietzsches Thesen aus der „Niederschrift" über das Verhältnis des Künstler-Pessimismus zur Schönheit: „Die Künstler der décadence, welche im Grunde nihilistisch zum Leben stehn, flüchten in die Schönheit der Form . . . in die ausgewählten Dinge, wo die Natur vollkommen ward, wo sie indifferent groß und schön ist." 6 3 , wenn darin festgehalten wird: „Le mystère, le regret sont aussi des caractères du Beau." 6 4 Im Lichte der „Niederschrift" ist schließlich auch Baudelaires Kritik an Voltaire von Bedeutung. 65 Rousseau und Voltaire erscheinen bei Nietzsche mehrfach als grundsätzliche Antagonisten, Rousseau als einflußreicher Propagator einer moralisierenden Naturauffassung, Voltaire als Verfechter der humanità im Sinne der Renaissance und des Unglaubens. 66 Indem sich Baudelaire gegen Voltaire wandte, verriet er seine Zugehörigkeit zur Rousseau-Linie. Es ließen sich noch weitere Entsprechungen zwischen Nietzsches Pessimismuskritik aus der „Niederschrift" und den Baudelaire-Exzerpten auf59 60 61 62 63 64 65 66
K G W VIII/2, 11 [215] S. 327. B PI. p. 1297. K G W VIII/2, 11 [234] S. 333. PI. p. 1 2 6 3 - 6 5 . K G W VIII/2, 11 [172] S. 319. B PI. p. 1247. K G W VIII/2, 11 [89] S. 284. K G W VIII/2, 10 [168] S. 223. K G W VIII/2, 11 [184] S. 321. B PL p. 1255. z. B. K G W VIII/2, 11 [200] S. 324. B PI. p. 1282. z. B. K G W VIII/2, 9 [184] S. l l l f .
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zeigen. Man wird sich jedoch nicht damit begnügen dürfen, Nietzsche sei einfach an einer Illustration seiner Thesen gelegen gewesen. Dann hätte ja Baudelaires Entblößung seines Herzens für ihn lediglich darin bestanden, daß er sein von Nietzsche durchschautes Wertsystem ausgebreitet, also seine ihm unbewußte Verstrickung in einem falschen Bewußtsein dokumentiert hätte. Es fällt nun aber auf, daß sich manche von Baudelaires Äußerungen, die Nietzsche sich notierte, eng mit seinen eigenen Ansichten berühren. Das gilt etwa für das abschätzige Urteil über George Sand, wenn Baudelaire sie auch nicht „eine breite, fruchtbare Kuh" 6 7 nannte, sondern von ihr nur als dieser „stupide créature" 68 spricht. Auch urteilte Baudelaire nicht weniger abfällig als Nietzsche über die Presse 69 und die morgendliche Zeitungslektüre, Nietzsches „vomitus matutinus der Zeitungen" 70 . Auch das Verhältnis der großen Männer zum Volk dürfte Baudelaire in Nietzsches Sinn charakterisiert haben: „Die Völker thun Alles, um keine großen Männer zu haben. Der große Mann muß also, um zu existiren, eine Kraft im Angriff haben, die größer ist als die Widerstands-Kraft, welche durch Millionen von Individuen entwickelt wird." 7 1 Solche Gemeinsamkeiten in der Kulturkritik schienen verwandte Voraussetzungen zu haben, die bei Baudelaire jedoch nicht reflektiert vorhanden waren, sondern nur gelegentlich in und hinter seinem christlich-moralisierenden Denken aufblitzten. Erkennbar wurden sie für Nietzsche in Baudelaires Bekenntnissen der eigenen Schwäche oder in plötzlichen Widersprüchen und Paradoxen. So etwa, wenn er die Liebe nicht mehr als Hingabe bestimmte, sondern als „L'indestructible, éternelle, universelle et ingénieuse férocité humaine" 72 . Woher kam Baudelaire eine Bemerkung wie „De la nécessité de battre les femmes" 73 , wenn nicht aus einem Instinktbereich jenseits aller Moral, in dem, wie Baudelaire an anderer Stelle sagte, volupté und cruauté eins waren, wie auch Nietzsche wußte? Und klang nicht sogar Nietzsches Entdeckung vom Tod Gottes an in dem rätselhaften Satz „Dieu est le seul être qui, pour régner, n'a même pas besoin d'exister" 7 4 , auch wenn hier Baudelaire an die Spiritualität Gottes gedacht hatte? Wenn diese Vermutungen zutreffen, und mehr als Vermutungen können es angesichts der Unkommentiertheit der Exzerpte nicht sein, dann war Baudelaire für Nietzsche mehr als nur ein Zeuge der décadence, dann steckte 67
68 69 70 71 72 73 74
K G W VIII/2, rung, VI/3 S. KGW VIII/2, KGW VIII/2, K G W VIII/2, KGW VIII/2, KGW VIII/2, KGW VIII/2, K G W VIII/2,
11 [24] S. 256. Vorstufe 108. 11 [199] S. 324. B PI. p. 11 [218] S. 328. B PI. p. 11 [17] S. 255. 11 [179] S. 320. B PI. p. 11 [207] S. 325. B PI. p. 11 [214] S. 327. B PI. p. 11 [171] S. 319. B PI. p.
zum Abschnitt über George Sand in 1281. 1299. 1252. 1287. 1295. 1247; dort: n'ait même pas . . .
Götzendämme-
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in seinem „Pessimismus des Niedergangs" auch etwas vom Analytischen der Stärke, ahnte Baudelaire wie Nietzsche etwas vom Zusammenhang zwischen Physiologie und Wertsetzung, ja war er auch sein Geistesverwandter. Das macht diese stummen Exzerpte so spannend, daß darin neben der unzweifelhaften Geringschätzung und Ablehnung auch eine geheime Identifikation Nietzsches mit Baudelaire irrlichtert. Eine Bestätigung findet dieser Eindruck wiederum vom Verhältnis zu Wagner her. In den Exzerpten stellt Nietzsche nur einmal kurz Baudelaire Wagner an die Seite. 75 Im Brief an Gast, der von der Lektüre der Oeuvres posthumes berichtet, ist das das zentrale Thema. Aus den Oeuvres posthumes hatte Nietzsche Baudelaires Wagner-Schriften und Wagners Dankbrief an Baudelaire kennengelernt. Nun konnte er mit Grund sagen: „Baudelaire ist libertin, mystisch, ,satanisch', aber vor allem wagnerisch"76. Der Brief läßt aber keinen Zweifel daran, daß sich nun Baudelaire und Wagner wechselseitig diskreditierten. Auch der Hinweis, Baudelaire habe sich in Paris für Heine eingesetzt, ändert nichts daran, da er im Sinne der wenig später datierten Bemerkung gemeint sein konnte: „Wagner und Heine: die beiden größten Betrüger, mit denen Deutschland Europa beschenkt hat." 77 Dennoch wird auch im Brief an Gast für einen Moment jene Identifikation erkennbar, und wiederum wird Wagner zum Mittelsmann. Als Nachtrag zu Wagners Dankbrief an Baudelaire, den Nietzsche in extenso zitiert, nachdem der Gedankengang des Briefes sich schon davon entfernt hat, steht unvermittelt die Klammer: „Einen Brief dieser Art Dankbarkeit und selbst Enthusiasmus hat, wenn mich nicht alles trügt, Wagner nur noch einmal geschrieben: nach dem Empfang der Geburt der Tragödie." 78 Und es scheint ebenfalls Nietzsches Erinnerung an die eigene Wagnerverehrung gewesen zu sein, die ihn einen Brief Baudelaires anschließen ließ, worin es heißt: „Ich wage nicht mehr von Wagner zu reden: man hat sich zu sehr über mich lustig gemacht. Diese Musik ist eine der ganz großen Freuden meines Daseins gewesen: ich habe gut fünfzehn Jahre keine solche Erhebung — vielmehr enlèvement — gefühlt." 79 Ganz ähnlich liest man es im kurz darauf entstandenen Ecce homo. Baudelaires Wagnerverehrung war wie gesagt in dieser zweiten Rezeptionsphase hauptsächlich ein Argument gegen ihn. Aber die Liebe zu Wagner war offenbar auch der Punkt, an dem Nietzsches eigenes unerledigtes Verhältnis zu Wagner, seine Haßliebe, ins Spiel kam. Baudelaire bekam damit Anteil an Nietzsches Biographie, damit an dem ihm zunächst Entgegengesetzten. 75 76 77 78
79
K G W VIII/2, 11 [183] S. 321. S A III, S. 1280. K G W VIII/3, 16 [41] S. 296. S A III, S. 1281.
ebd.
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In den noch folgenden Erwähnungen aus dem Frühjahr 1888 gelangte dann Baudelaire immer stärker in den Sog der Abrechnung mit Wagner. Zunächst erscheint er wiederum als Repräsentant der décadence: In fast wörtlicher Aufnahme des Briefes an Gast heißt es : „Ich habe mich gefragt, ob überhaupt schon Jemand dagewesen ist, modern, morbid, vielfach und krumm genug, um als vorbereitet für das Problem Wagner zu gelten? Höchstens in Frankreich: Ch. Baudelaire z.B. Vielleicht auch die Brüder Goncourt." 80 An Wagner werden in einer Aufzeichnung vom Oktober 1888 die Symptome physiologischer Dekadenz ausführlich abgehandelt : „Wagner, im Banne jener unglaubwürdig krankhaften Sexualität, die der Fluch seines Lebens war, wußte nur zu gut, was ein Künstler damit einbüßt, daß er vor sich die Freiheit, die Achtung verliert. Er ist verurtheilt, Schauspieler zu sein. Seine Kunst selbst wird ihm zum beständigen Fluchtversuch, zum Mittel des Sich-Vergessens, des Sich-Betäubens, — es verändert, es bestimmt zuletzt den Charakter seiner Kunst. Ein solcher ,Unfreier' hat eine Haschisch-Welt nöthig, fremde, schwere, einhüllende Dünste, alle Art Exotismus und Symbolismus des Ideals, nur um seine Realität einmal loszusein, — er hat Wagnersche Musik nöthig . . ," 8 1 Unter der Hand verschwimmen hier Wagners und Baudelaires Porträt in einander. Die Haschisch-Welt bezieht sich auf Baudelaires Drogenversuche und seine Theorie des paradis artificiel, für ihn hatte auch die Musik des Tannhäuser eine drogenähnliche Wirkung gehabt. So ist man nicht erstaunt, als Fortsetzung des Gedankens zu lesen: „Eine gewisse Katholicität des Ideals vor Allem ist bei einem Künstler beinahe der Beweis von Selbstverachtung, von ,Sumpf': der Fall Baudelaire's in Frankreich, der Fall Edgar Allen Poe's in Amerika, der Fall Wagner's in Deutschland." 82 Dann kehrt der Text zur Kritik an Wagner zurück. Baudelaire und Poe dienen Nietzsche nun dazu, Wagner seiner Individualität zu entkleiden und zum Fall zu machen, zur Ausprägung eines epochalen physiologischen Typus, zum Symptom. Das sind Gedanken, die im Fall Wagner und in Nietzsche contra Wagner öffentlich ausgeführt werden. Dort ist auch allgemein von Wagners Nähe zur französischen Spätromantik die Rede. Im Abschnitt Der Psycholog nimmt das Wort aus Nietzsche contra Wagner gibt Nietzsche eine weitere Liste von „grossen Dichtern", „Idealisten aus der Nähe des Sumpfes": „Byron, Musset, Poe, Leopardi, Kleist, Gogol, - ich wage es nicht, viel grössere Namen zu nennen, aber ich meine sie —, so wie sie nun einmal sind, sein müssen." 83 Wagner und Baudelaire sind hier mit80 81 82
83
K G W VIII/3, 15 [6] S. 198. K G W VIII/3, 23 [2] S. 4 1 0 . ebd. — A n anderer Stelle erscheinen als Repräsentanten der décadence Baudelaire, Leopardi und Schopenhauer. K G W VIII/3, 15 [34] S. 223. K G W VI/3 S. 432.
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gemeint, aber weder hier noch sonstwo in den zur Veröffentlichung bestimmten Schriften fällt Baudelaires Name. Nur wie in der Götzendämmerung die Rede auf Sainte-Beuve kommt, erfolgt ein knapper Hinweis 84 , von der andern Ausnahme wird noch die Rede sein. Sonst verblieb Nietzsches Auseinandersetzung mit Baudelaire merkwürdigerweise im Stadium der Notizen. Überblickt man die beiden Phasen von Nietzsches Baudelaire-Rezeption, kann man zusammenfassend sagen: 1885 sah Nietzsche Baudelaire überwiegend positiv unter dem Gesichtspunkt des neuen Europäers. Er ordnete ihn jenen Geistern zu, welche die künftige Synthese anbahnten, die Uberwindung des Nationalismus. 1888 dagegen erschien Baudelaire überwiegend als problematische Figur. Nietzsche sah in ihm einen Repräsentanten der décadence, in dem sich die zeittypische physiologische Schwäche exemplarischen Ausdruck verschafft hatte. In beiden Phasen stand Baudelaire in enger Nachbarschaft zu Wagner. Diese war es offenbar auch, welche das Urteil in beiden Phasen vor Eindeutigkeit bewahrte und in der Ambivalenz beließ. Und in beiden Phasen ließen sich Momente entdecken, die eine geheime Identifikation Nietzsches mit Baudelaire verraten. Die letzte, zugleich die einzige zur Publikation bestimmte Stelle, an der Nietzsche ausführlich von Baudelaire spricht, steht im Ecce homo, im 5. Abschnitt des Kapitels Warum ich so klug bin. Wiederum ist von Wagner die Rede, nun aber dankbar anerkennend. Nietzsche zitiert ausdrücklich aus dem Aphorismus 256 von Jenseits von Gut und Böse die Stelle von den ihre Nation und ihre Kunst transzendierenden Geistern. Doch er ergänzt seine frühere hymnische Würdigung um den kritischen Hinweis auf die physiologischen Hintergründe des Phänomens. Nun lautet die Stelle: „Aber ich habe schon zur Genüge ausgesprochen (In Jenseits von Gut und Böse' S. 256f.), wohin Wagner gehört, in wem er seine Nächstverwandten hat : es ist die französische Spät-Romantik, jene hochfliegende und hoch emporreissende Art von Künstlern wie Delacroix, wie Berlioz, mit einem fond von Krankheit, von Unheilbarkeit im Wesen, lauter Fanatiker des Ausdrucks, Virtuosen durch und durch . . ." Und nun endlich rückt Baudelaire in den Platz ein, der sich in den beiden Rezeptionsphasen für ihn vorbereitet hatte. Es heißt von ihm: „Wer war der erste intelligente Anhänger Wagner's überhaupt? Charles Baudelaire, derselbe, der zuerst Delacroix verstand, jener typische décadent, in dem sich ein ganzes Geschlecht von Artisten wiedererkannt hat — er war vielleicht auch der letzte . . ," 8S Der Abschnitt schließt mit der Kritik daran, daß Wagner „reichsdeutsch wurde". 84
85
K G W V I / 3 S. 106. Dieser Hinweis auf Baudelaire fehlt in der Vorstufe K G W VIII/2, 11 [9] S. 254. K G W V I / 3 , S. 287.
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Diese Charakterisierung zieht auf knappstem Raum die Summe aus beiden Rezeptionsphasen. Baudelaire erscheint einerseits als Pendant zu Wagner, wie dieser nach Frankreich, tendierte er nach Deutschland; beide distanzierten sich damit von ihrem Vaterland und seinem Massengeist. Noch einmal klingen die Namen Delacroix, Wagner und Baudelaire zusammen als von Künstlern, die die Grenzen ihres Kunstmediums verlassen und alles in den Dienst des Ausdrucks gestellt hatten. Aber, und das bleibt als Einwand bestehen, Baudelaire war zugleich ein, ja der typische décadent. Sein Pessimismus resultierte aus dem „fond von Krankheit", aus der „Unheilbarkeit im Wesen", aus physiologischer Schwäche. Und schließlich: Baudelaire „der erste intelligente Anhänger Richard Wagner's überhaupt . . . er war vielleicht auch der letzte." Mit diesem „vielleicht" stellte sich Nietzsche noch einmal insgeheim an Baudelaires Seite, freilich als der, der von sich wußte: „Abgerechnet nämlich, dass ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz." 86
86
Ecce homo, KGW VI/3 S. 264.
Diskussion Janz: Eine Bemerkung zu den Beziehungen Nietzsche — Wagner — Bourget — Baudelaire. Curt von Westernhagen hat wiederholt — zuerst 1938 in den Bayreuther Blättern, dann 1956 in seinem Wagner-Buch und neuerdings in den Tribschener Blättern, der Zeitschrift der schweizerischen RichardWagner-Gesellschaft — auf den Sachverhalt hingewiesen, daß kleine Partien im Fall Wagner sowie Nachlaßaufzeichnungen Nietzsches, die zum Teil in die Kompilation Der Wille zur Macht aufgenommen worden sind, den Eindruck von Ubersetzungen aus Bourgets Baudelaire-Essay erwecken. Er hat daraus den sehr weitgehenden Schluß gezogen, Der Fall Wagner sei nur eine Art Trickbild Nietzsches, ja ein Plagiat. Nietzsche habe Bourget benutzt, um ein Pamphlet zu verfassen. N u r in Parenthese räumt Westernhagen ein, daß Bourgets Kritik sich gegen Baudelaire richtet und mit Wagner gar nichts zu tun hat. Es handelt sich bei Westernhagens Verfahren um den typischen Fall des Uberziehens von Nietzsche-Zitaten. Die Absurdität seines Schlusses wird offensichtlich, wenn man die wenigen Bourget-Zitate im Fall Wagner in ein Verhältnis zum ganzen Umfang dieser Schrift Nietzsches setzt und wenn man bedenkt, daß die anderen Bourget-Bezüge aus Nietzsches Nachlaß stammen, wobei es sich unter Umständen überhaupt nur um Notizen, um Lesefrüchte handelt und nicht um eigene Stellungnahmen. — Die eigentliche Frage, warum Nietzsche den Fall Wagner überhaupt geschrieben hat, scheint sich übrigens für Westernhagen gar nicht zu stellen. Gilman: Die Frage der Beziehung von Nietzsche und Baudelaire hat auch mich beschäftigt. In dem Poe-Kapitel meines Nietzsche-Buchs habe ich mich ausführlich mit der Frage der Poe-Rezeption Nietzsches und auch mit der Poe-Rezeption Baudelaires auseinandergesetzt, denn meiner Meinung nach sieht Nietzsche Poe durch die Brille von Baudelaire. Baudelaire übernimmt von Poe die Kritik an der Inspiration und ich glaube, daß Nietzsches Begriff der Inspiration wiederum sehr eng mit dieser Kritik an der Inspiration von Baudelaire zusammenhängt. Bei der von mir entdeckten Poe-Parodie Nietzsches — Dichters Berufung parodiert The Raven — scheint mir dies ganz deutlich zu sein. Ich glaube, daß diese Parodie eigentlich nur auf dem Hintergrund des berühmten Aufsatzes von Baudelaire über das Gedicht von Poe verstanden werden kann. Nietzsches Haltung gegenüber Poe ist ambivalent und die gleiche Ambivalenz zeigt sich auch in seiner Beziehung zu Baude-
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laire. Ihr Vortrag, Herr Pestalozzi, hat mir das noch einmal ganz deutlich gemacht. Heller: Etwas beunruhigt mich leise. Ich bin kein Baudelaire-Kenner, aber meinem Gefühl nach weist die Dichtung Baudelaires etwas mediterran Stilisiertes, Strenges, Gebundenes auf; allein schon die Sonett-Form verleiht ihr etwas Klassizistisches, auch im Sinne von Gautiers Gedicht ,,L'Art" (in Emaux et Camées), von Nietzsche auf seiner Reise nach Sorrent als seiner eigenen Auffassung gemäß zitiert — das ein durchaus klassisch-klassizistisch orientiertes Kunstideal ausspricht, fern von unendlicher Melodie und Auflösung der Form. Dieses Kunstideal ist für mein Gefühl bei Baudelaire doch sehr stark da. Der besondere Reiz der Baudelaire-Gedichte liegt doch gerade in der antithetischen Spannung zwischen der streng gebundenen, der hochdisziplinierten und moderierten Form und dem exzessiven Inhalt. Das liegt weitab von Wagner. Ist dieses Element, das Nietzsche eigentlich hätte ansprechen müssen, von ihm gar nicht aufgenommen worden? Es fehlt da irgend etwas in Nietzsches Baudelaire-Rezeption. Die Angleichung an Wagner, der für Nietzsche die Moderne repräsentiert und ihre Auflösung, ist unzulänglich. Das beunruhigt mich. Pestalozzi: Das hat mich auch beunruhigt. Ich erkläre mir das so, daß Nietzsche Baudelaire als Philosophen gelesen hat, also nicht primär als Dichter. Er erscheint dann auch bei seiner Kritik unter den Philosophen. Und wenn Nietzsche von unendlicher Melodie spricht, dann meint er wohl nicht die poetische Gestaltung Baudelaires, sondern die Thematisierung der unendlichen Melodie, etwa in dem Gedicht L'homme et la mer. Man kann wohl überhaupt sagen : Nietzsche hat Baudelaire auf eine sehr merkwürdige Weise rezipiert. Das typische Baudelairesche Empfinden ist eigentlich überhaupt nicht in seinen Blick gekommen. Wenn er in den Tableaux parisiens weitergelesen, wenn er die ganzen Gedichte über Haschisch und Wein und Tod gelesen hätte, dann hätte er etwas merken müssen von Baudelaires Versinnlichung des Ideals. Aber er ist von der Vorstellung des Wagnerisch-ChristlichPlatonischen wie von einem Suchbild ausgegangen, so daß er nur Baudelaires Rahmen gesehen hat und nicht die spezielle Füllung, daß das Ideal aus der Höhe in die Sinnlichkeit hineinkommt und zum Beispiel in den Haaren einer Frau ahnbar wird. Man kann hier noch einmal an unsere gestrige Diskussion um das Du anknüpfen. Der Dichter ist ja auch ein Du, aber man beachte, wie Nietzsche mit ihm verfährt: er subsumiert ihn einer allgemeinen Vorstellung, ohne ihn — das gilt nur für die Fleurs du Mal, bei Mon coeur mis à nu ist es anders — in seinem Speziellen zu erkennen und dann gar anzuerkennen.
Diskussion
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Mallarmés Blick auf Baudelaire ist übrigens ganz ähnlich, er hat auch noch den Katholizismus in Baudelaire sehr stark betont und sich dann selber davon unterschieden. Ich finde denn auch eher eine geistesgeschichtliche Parallele zwischen Mallarmé und Nietzsche. Nietzsche konnte freilich nichts von Mallarmé wissen, der ein Dasein in einem Winkel als Englischlehrer führte und kaum in die Öffentlichkeit trat. Janz: Eine ambivalente Haltung nimmt Nietzsche ja auch gegenüber Wagner ein, bis zum letzten Moment, und zwar aus einem — möchte ich sagen — ähnlichen Grund: er muß anerkennen, daß es im Wagnerschen Werk ganz formstrenge Bauten gibt und andererseits Formlosigkeit. Nietzsches Vorwurf der „unendlichen Melodie" bezieht sich vor allem auf das TristanVorspiel, wo ja die Unruhe auch im Harmonischen so weit getrieben ist, daß wir bis heute noch nicht wissen, in welcher Tonart das Stück steht. Man kann annehmen, es sei a-Moll, aber ein a-Moll Dreiklang kommt überhaupt nie vor. Man kann es auch auf F-Dur zentrieren, was aber ebenfalls unsicher bleibt. Andrerseits finden sich im Werk Wagners ganz strenge Formen. So verflicht er im Meistersinger-^orspiel mit kontrapunktischer Meisterschaft gleich drei Themen; den ersten Akt der gleichen Oper beginnt er mit einem Choral, den keiner der alten Kirchenmusiker korrekter hätte bauen können. Wenn Nietzsche Wagner vorwirft, daß er im dritten Akt der Meistersinger für den Tanz der Lehrbuben keine acht-taktige Periode zustandebringt, so übersieht er, daß das ein formaler Trick von Wagner ist, der die Handlung unterstreicht ; denn die Buben schnappen sich immer die Mädchen weg, noch bevor die normal acht-taktige Periode zu Ende ist, einen Takt vorher, also nach sieben Takten. Nietzsche hat zwar die Takte (die musikalische Struktur) nachgezählt, die Absicht des Komponisten aber nicht erkannt. Und wenn er das schon nicht erkannt hat, so hätte er doch sehen müssen, daß es sich beim zweiten Meistersinger-Finale um eine großartig gebaute Doppelfuge handelt mit dem Beginn des Beckmesser-Ständchens als erstem und dem Prügelmotiv als zweitem Thema. Oder: Siegfried I.Akt, wo Siegfried das Schwert schmiedet, da haben wir Strophenform über einem typischen PassacagliaThema, wie es z. B. auch bei Brahms, Vierte Symphonie Finalsatz, vorkommt, der ein Sonatensatz ist und zugleich eine Passacaglia. Solche Formen kommen also im Werk Wagners vor und einige von ihnen hat Nietzsche durchaus als solche erkannt und war von ihrer Strenge fasziniert. Er sagt auch einmal, daß Wagner ein Meister in den kleinen Formen sei, in diesen liege seine wahre Meisterschaft und man müsse sie kennen. Daneben stehen die Hinweise auf die „unendliche Melodie", die ihm zuwider ist und auf die Uberfrachtung der Musik mit Gefühlen, besonders ist ihm, wie er sich ausdrückt, die „ekelhafte Wagnersche Sexualität" in der Musik unerträglich. Aus dieser Spannung
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heraus ist das Verhältnis zu Wagner genauso ambivalent wie das zu Baudelaire. Müller-Lauter: Nietzsche fixiert Wagner geradezu auf die Formel von der „unendlichen Melodie". Es ist nicht zufällig, daß diese Formel ins Zentrum seiner Wagner-Kritik rückt, nachdem er Bourgets Baudelaire-Essay gelesen hatte: so im Brief an Fuchs 1884/85, so vor allem im Fall Wagner. Bourget hatte ihm den tragenden Begriff für seine Kritik geliefert, den Begriff décadence. Genau genommen: Bourget hatte Nietzsche ein bestimmtes Verständnis dieses Begriffs vermittelt. Denn Nietzsche hat nicht etwa erst nach seiner Bourget-Lektüre das Wort décadence gebraucht, wie Weigand schon 1893 behauptet hat. Herr Kaufmann hat dagegen zurecht in seinem Nietzsche-Buch darauf hingewiesen, daß Nietzsche es schon 1878 auf Cervantes angewandt hat. Aber ein Grundwort der Philosophie Nietzsches wird ,décadence' erst durch die Bourget-Rezeption. Dies dann sogar in solchem Maße, daß es im Nachlaß von 1888, also des letzten Schaffensjahres Nietzsches, zum wohl am häufigsten verwendeten Begriff wird. Nach Bourget ist décadence die Auflösung jeder organisch strukturierten Ganzheit. Literarische décadence liegt ihm zufolge dann vor, wenn die einzelne Wendung souverän wird, herausspringt, das Ganze des Werkes sprengt. In Der Fall Wagner hat Nietzsche diese Begriffsbestimmung Bourgets paraphrasiert; die erste Aufzeichnung dazu findet sich aber schon im Winter 1883/84, bezeichnenderweise sofort im Hinblick auf Wagner. Wagners Musik muß Nietzsche als unorganisch im Sinne Bourgets erschienen sein; in der Formel von der „unendlichen Melodie" fand die Sprengung des Werkganzen einen offenkundigen Ausdruck. Nietzsche hat sich von Bourgets Baudelaire-Deutung vielfältig anregen lassen. Herr Pestalozzi hat den Brief an Gast zitiert, in dem Baudelaire als libertin, mystisch und „satanisch" charakterisiert wird. Die beiden ersten Bezeichnungen finden wir bei Bourget, der als dritte „analytisch" hinzufügt. Wenn Nietzsche die Wagnersche Kunst als brutal, künstlich und „unschuldig" bezeichnet, so können wir hierin die Entsprechung zu Bourgets Beschreibung von Baudelaire finden. Für den nachhaltigen Eindruck, den Bourget auf Nietzsche ausgeübt hat, zeugt noch eine der letzten Aufzeichnungen Nietzsches, die erstmalig in Band VIII/3 der Kritischen Gesamtausgabe abgedruckt worden ist. Nietzsche spricht dort von Bourget als einem, der ihm von sich aus besonders nahe gekommen sei. Salaquarda: Ich möchte einen kurzen ergänzenden Hinweis geben und eine Frage an Sie richten, Herr Pestalozzi. Der ergänzende Hinweis: der
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Ausdruck ,décadence' taucht im ersten, 1976 erschienenen Band der Memoiren von Cosima Wagner sehr oft auf. Offensichtlich war er für Cosima Wagner ein ganz geläufiger Ausdruck. Bei den häufigen Besuchen Nietzsches in Tribschen in den frühen siebziger Jahren kann man es als äußerst wahrscheinlich annehmen, daß in den Gesprächen das Wort,décadence' gebraucht worden ist. Die aus den Kontexten zu erschließende Bedeutung — denn eine förmliche Definition gibt Cosima Wagner in ihren Aufzeichnungen natürlich nicht — ist nicht weit von der von Bourget und später von Nietzsche herangezogenen entfernt: Verfall, Auflösung, Formlosigkeit etc. Meine Frage betrifft Baudelaires Apostrophierung von Victor Hugo als „Esel von G e n i e " . Ich habe vor Jahren das Esel-Motiv bei Nietzsche untersucht und bin dabei auch auf diese Stelle gestoßen. Wenn Nietzsche jemanden metaphorisch als „ E s e l " bezeichnet, dann meint er in der Regel einen Menschen, der sich in irgendeiner Überzeugung abschließt, einen Punkt hat, über den hinaus er nicht mehr weiter fragt. Hat Baudelaire mit seinem Ausspruch auch schon auf etwas Ähnliches abgezielt? oder hat er etwas Schlichteres gemeint, z. B . Dummheit? Pestalozzi: Ich stimme Ihnen zu, Herr Müller-Lauter, daß sich Nietzsche auf die Baudelaire-Bestimmung Bourgets beruft und dann „wagnerisch" noch dazusetzt. Das ist dann immer als ein abschätziges Urteil Nietzsches über Baudelaire verstanden worden. Es bleibt freilich ein Rätsel, daß Nietzsche in der ersten Phase seiner Rezeption Baudelaires den décadenceBegriff nicht aufnimmt. Man muß wohl davon ausgehen, daß die BourgetLektüre sozusagen eine Spätzündung gehabt, sich erst in der zweiten Phase der Baudelaire-Rezeption aktualisiert hat. Zu Herrn Salaquardas Frage nach dem „Esel von G e n i e " : wenn ich es recht sehe, dann ist „ E s e l " bei Baudelaire eine Bezeichnung für das Urtümliche, Naive, in poetologischer Hinsicht Ungehemmte und Unreflektierte — alles das sieht er an Victor Hugo. Kaufmann: Ich fand Ihren Vortrag, Herr Pestalozzi, hochinteressant und anregend. Ich war zunächst schockiert, daß das Spezifische von Baudelaire in Nietzsches Rezeption fehlt. Ich fühle mich getröstet, daß Sie das in der Diskussion auch gesagt haben. Man fragt sich erst, ob es vielleicht daran liegt, daß Nietzsche nicht genug Französisch konnte, um Baudelaires Gedichte ganz aufzunehmen. Vielleicht läßt sich aber auch etwas ganz anderes folgern, was die Themenstellung mancher Referate auf dieser Tagung ein wenig in Frage stellen könnte. Ich glaube, daß es Nietzsche, wenn er in seinen Werken über Individuen spricht, im großen und ganzen nicht um diese Individuen geht. Es ist wahrscheinlich prinzipiell verfehlt, Nietzsche als
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Kritiker von X oder Y zu verhandeln, weil er — in Ecce homo sagt er es in aller Deutlichkeit — die jeweilige Person stilisiert, nicht als Person, sondern als eine Art Symbol in Betracht zieht. Das gilt auch für die Personen, die er verehrt. Sogar Goethe wird von ihm umstilisiert, einzelne Züge werden hervorgehoben, andere nicht genannt, weil Nietzsche für sie keine Verwendung hat. Worum es ihm die ganze Zeit geht und was bei unserer Konferenz, so fürchte ich, zu kurz kommt, ist die Kritik an seinem Jahrhundert, die Kritik am modernen Menschen, die Kritik an der eigenen Zeit. Individuen sind für ihn überhistorische Symbole — „überhistorisch" in Nietzsches Sinne verstanden —, die er dazu benutzt, um uns Stärken oder Fehler des Zeitalters konkret und bildlich vor Augen zu führen. Man könnte zugespitzt sagen, daß er die Individuen als Metaphern gebraucht. Es bleibt natürlich trotzdem frappierend, daß Nietzsche, wie Herr Pestalozzi uns gezeigt hat, die Fleurs du Mal in der Hand hat und das dichterische Erlebnis bei der Lektüre im Grunde ausbleibt. Biser: Ich möchte direkt an das Votum von Herrn Kaufmann anknüpfen. Nietzsche erscheint in gewisser Weise als Gegenpol dessen, wozu sich die heutige, auch vom Sozialismus positiv angeregte Philosophie der Mitmenschlichkeit und der Dialogik durchgerungen und durchgefunden hat. Es war nun interessant, daß Sie, Herr Kaufmann, selbst ein wenig Ihrer in einer gestrigen Diskussion vorgetragenen These von Nietzsches Verhältnis zum Freund widersprochen haben, insofern Sie sagten, daß bei Nietzsche Individuen eigentlich nicht vorkommen, daß er sie vielmehr zur Stilisierung von geistigen Konstellationen und Konfigurationen benutzt. Ich stimme dem vollkommen zu. Die Beobachtung von Herrn Pestalozzi, daß Baudelaire von Nietzsche in einen sehr willkürlichen, beinahe despotisch verfügten Kontext gezogen und in seiner Individualität gar nicht wahrgenommen wird, bestätigt dies. Ich laboriere aber insgeheim noch an einem anderen Problem, das damit zusammenzuhängen scheint, nämlich an Nietzsches Sichwiederfinden in historischen Gestalten. Ich halte es für ein Phänomen allerersten Ranges, das sich bis in seine Umnachtung hinein in seinem Selbstverständnis abzeichnet, daß er sich mit nahezu jeder bedeutenden Figur der Weltgeschichte identifiziert. Das scheint nun dem, was Herr Kaufmann zurecht konstatiert hat, ganz entschieden zu widersprechen, nämlich daß es Identifikationen mit Individuen nicht gibt. Der Widerspruch ließe sich auflösen, wenn man sagen könnte: es gab zwar für Nietzsche keine echte dialogische Beziehung, keine echte Kommunikation, wohl aber etwas, was dem auf verblüffende Weise nahe kommt, nämlich die Fähigkeit zur Spiegelung und Wiederspiegelung in anderen. Nietzsche findet sich gewissermaßen strukturell in anderen vor. Das besagt zugleich, daß es sich dabei um eine sehr willkürliche und höchst
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undialogische Widerspiegelung im andern ohne echte Gemeinsamkeit handelt. Identifikation scheint es bei Nietzsche, wie ich in meinem Referat ausgeführt habe, nur mit dem Weltgeheimnis oder mit dem Ring des Seins zu geben. Ich denke vor allem an die vollkommene Identifikation im „Großen Mittag". Pestalozzi: Es ist mir auch sehr eindrücklich geworden, Herr Kaufmann, daß es für Nietzsche eigentlich nur Fälle gibt — nicht im Sinne von Kriminalfällen oder dergleichen, sondern den Fall als Kasus, der ein Gesetz bestätigt. Wie den Fall Wagner, so läßt sich sagen, gibt es für ihn auch den Fall Baudelaire, den Fall Poe und so weiter. Das heißt, Nietzsche macht die Individuen zu Erscheinungsformen allgemeiner geschichtlicher Gesetzmäßigkeiten, wie es eben auch im Aphorismus 256 von Jenseits von Gut und Böse geschieht. Daß er sich nicht näher auf Baudelaires Individualität einläßt, sehe ich ganz in diesem Zusammenhang. Er bezieht das Werk auf die Person und versteht es von der Person her, Baudelaires Krankheit wirft ein Licht auf Baudelaires Werk usw. Er vollzieht die Trennung zwischen Person und Werk nicht, die heute von der Literaturwissenschaft sehr sorgfältig gepflegt wird, sondern er sieht beides zusammen, sieht es als Ganzes bzw. als Einheit. Aus diesem Ganzen wird dann der Fall einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit gemacht, wobei ich nicht sicher bin, ob Nietzsche nicht doch so etwas wie einen biologischen Weltgeist voraussetzt, der sich aus dem Untergrund heraus realisiert. Manchmal jedenfalls hat es sehr den Anschein. O b man Nietzsches Beziehung zu Baudelaire verallgemeinern kann, Herr Biser, weiß ich nicht. Es scheint mir insofern gefährlich zu sein, als Baudelaire für Nietzsche eine Gestalt am Rande in der ganzen Galerie der Figuren darstellt, mit denen er sich beschäftigt hat. Was das Allgemeine angeht, so neige auch ich dazu zu sagen, daß es für Nietzsche in seinem Verhältnis zu anderen entweder die Unterordnung des anderen unter Schemata gibt oder die Selbstbespiegelung. Aber den Dialog, in dem der andere als anderer anerkannt wird, gibt es für Nietzsche nicht. Kaufmann: Ich möchte kurz drei Sachen sagen. Erstens: Wenn wir von dem spezifischen Du sprechen, das angeblich bei Nietzsche fehlt, sollten wir scharf unterscheiden zwischen dem Werk und dem Leben. Das sind zwei verschiedene Seiten, die jede für sich betrachtet werden muß. Sie sagen, das Du fehle im Werk und das gebe ich Ihnen in hohem Maße zu. Aber ich frage dann: Bei welchem anderen Philosophen findet es sich im Werk? Findet man bei Kant in seinen Bezugnahmen auf andere Philosophen etwas von einem spezifischen D u ? Antwort: Nein. Findet man bei Plato etwas vom spezifischen anderen Du oder nicht? Antwort: Man findet es nicht. Alle Personen werden umstilisiert und dichterisch verwendet. Darin bei Nietzsche etwas Besonderes zu finden, ist meiner Ansicht nach falsch. Selbst bei Buber, an
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den man beim Thema Zwischenmenschlichkeit besonders denkt — ich habe ihn persönlich gekannt und mich wiederholt mit ihm auseinandergesetzt —, ist es sehr fraglich, wie weit es in seinem Werk etwas von dem spezifischen Du gibt, und ob nicht auch bei ihm alles wieder umstilisiert wird. Zweitens: Was das Leben angeht, so ist es doch nicht zu erwarten, daß Genies wie Nietzsche oder Kant oder Plato oder Leonardo da Vinci gleichrangige Freunde finden — Freunde ja, gleichrangige nicht. Eine Freundschaft wie die, die eine Zeit lang zwischen Goethe und Schiller bestanden hat, ist eine große Ausnahme. Drittens und letztens: Mir scheint, es wird Nietzsche von uns viel kritisiert. Ich habe nichts dagegen, ich kritisiere ihn auch viel. Aber wenn man von Nietzsche als einem „Kritiker seines Jahrhunderts" spricht, könnte immerhin etwas über seine Kritik am Christentum gesagt werden. Darüber habe ich bisher nichts gehört, kein einziges Wort. Stattdessen höre ich immer wieder christliche Kritik an Nietzsche. Nietzsche wird sogar von allen möglichen Standpunkten aus kritisiert, aber seine eigene Kritik am Sozialismus, am Christentum, an den Deutschen, an allem, was Partei ist — alles das wird, wie fast immer in Deutschland, unterdrückt. Das ist vor 1933 unterdrückt und nie gehört worden und natürlich erst recht während der Nazizeit; und es ist erstaunlich, daß sogar jetzt und hier nicht davon die Rede ist, auf einer Tagung, die unter dem Thema steht: „Nietzsche als Kritiker seines Jahrhunderts". Müller-Lauter: Auf Ihren letzten Punkt kann ich jetzt nur kurz eingehen. Es ging bei der Planung des ganzen Projekts um Nietzsches Stellung in seinem Jahrhundert. Wenn als Thema dieser Tagung formuliert wurde: „Nietzsche als Kritiker seines Jahrhunderts", so sollte damit an die eingeladenen Referenten appelliert werden, die jeweils zu behandelnden Beziehungen von Nietzsche als Kritiker her in den Blick zu nehmen. Wenn sich im Verlauf der Ausarbeitung der Themen die Akzentuierung in dem einen oder anderen Fall verlagert hat und wenn von bestimmten Positionen einiger Referenten aus Nietzsches Kritik ihrerseits kritisiert wird, so erscheint mir das durchaus als wichtig und anregend. Ich räume Ihnen gern ein, Herr Kaufmann, daß Nietzsche als Kritiker in dem von Ihnen genannten Hinsichten in den Themen der Vorträge dieser Tagung zu kurz kommt. Das Feld der möglichen Themen ist weit, als Gegenstände dieser Tagung konnten nur einige — für die ein Angebot vorlag — aufgegriffen werden. Vielleicht führt der Verlauf der Tagung zu der Konsequenz, daß für die geplante Veröffentlichung der Vorträge und Diskussionen ein anderer, weiter gefaßter Titel gewählt wird, der die Vielfalt besser trifft, in der in unserem Kreis Nietzsches Bezüge zu seinem Jahrhundert zur Sprache gebracht werden.
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Berlinger: Herr Pestalozzi sagt, es gibt für Nietzsche nur Fälle. Wenn ich das jetzt philosophisch umsetzen sollte, dann würde ich sagen, es gibt für Nietzsche große Individuen. Zur Kritik von Herrn Kaufmann am Verlauf der Tagung: Das Thema „Nietzsche als Kritiker seiner Zeit" müßte eine systematische Überlegung zu Nietzsches Lehre vom Genie, vom großen Individuum enthalten. Man könnte dabei daran denken, Hegels Auffassung welthistorischer Individuen, von Cäsar, Napoleon, Alexander und so fort mit Nietzsches Deutung historischer Größe zu vergleichen. Noch etwas anderes: Wenn Sie sagen, Herr Kaufmann, bei Plato sei gewiß nicht vom Du die Rede, so trifft das zu und trifft auch wieder nicht zu. Sofern die platonische Philosophie von der Subjektivität des Subjekts, von der neuzeitlichen Personalität her gesehen wird, erweisen sich die Bestimmungen einer Ich-DuPhilosophie als nicht anwendbar. Aber wenn Sie die sokratische Methode in den Dialogen reflektieren, ist zumindest, modern gesprochen, ein fiktives Du gegenübergesetzt, auf das hin gesprochen wird. Kaufmann: Das finden Sie bei Nietzsche auch. Bei Plato werden Protagoras und Gorgias und all die andern umstilisiert und als Figuren in einem fingierten Dialog benutzt. Berlinger: Aber für Plato ist die Umstilisierung nicht das Ziel, sondern es geht ihm um die sokratische Methode, um die Maieutik, die den Menschen dialogisch und nur dialogisch zur Erkenntnis seiner selbst führt, zu seinem Woraufhin und zur Idee. Gründer: Ich kann da unmittelbar fortfahren. Ich freue mich, daß ich einmal Gelegenheit habe, in scharfen Gegensatz zu Herrn Kaufmann zu treten, dem ja das Verdienst zukommt, einige bisherige Diskussionen durch scharfe und deutliche Voten zu beleben. Um so mehr macht es mir Spaß, nun einmal gegenzuhalten. Philosophen antworten immer, Herr Kaufmann. Sie tun sich viel darauf zugute, daß sie in erster Linie fragen. Aber schon mit ihren Fragen antworten sie. Fangen wir zur Illustrierung dieser These ganz früh an. Karl Reinhardt hat gezeigt, daß der historische Parmenides eine Antwort auf Heraklit ist. Plato ist — unabhängig davon, ob die Gesprächspartner des Sokrates stilisiert sind oder nicht — eine Antwort auf die Sophistik zugunsten der Polis, die er zu erhalten wünscht und die unterzugehen drohte. Aristoteles ist eine Antwort auf Piaton, Thomas ist eine Antwort auf die arabischen Aristoteliker usw., usw. Die großen Denker haben alle geantwortet, und ich weigere mich, diese Weise des philosophischen Sprechens etwa auf die Kategorie der Reaktion reduzieren zu lassen. Die Philosophen sind, wenn sie philosophieren, so weit
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Personen, daß man das, was sie sagen, als eine Antwort gegenüber einem D u verstehen kann — denn w e m sollte man sonst antworten, wenn nicht einem D u ?
Müller-Lauter: Meine Herren, wir haben mit dieser sehr allgemeinen D i s k u s s i o n die E b e n e dessen verlassen, was in den Z u s a m m e n h a n g des Referats von H e r r n Pestalozzi gehört. H e r r Kaufmann könnte Herrn G r ü n d e r jetzt erwidern, daß er von Antwort in einer so weiten Bedeutung gesprochen hat, daß alles, was ein Philosoph sagt oder schreibt, zur Antwort wird u n d der A u s d r u c k damit jede spezifische Bedeutung verliert — wir haben im Anschluß an das Referat v o n Herrn Goedert dieses Problem ja schon behandelt. H e r r G r ü n d e r und H e r r Berlinger könnten dies wiederum als A r g u m e n t gegen Herrn Kaufmanns These aufnehmen und so fort. Ich fürchte, daß wir damit nicht z u einem Ende k o m m e n und schlage daher vor, die D i s k u s s i o n zu schließen.
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MÜLLER-LAUTER
D E R O R G A N I S M U S ALS I N N E R E R KAMPF DER EINFLUSS VON WILHELM ROUX AUF FRIEDRICH NIETZSCHE Vorbemerkung Im Rückblick auf seine Baseler „Philologen-Existenz" schreibt Nietzsche in Ecce homo, er habe sich am Ende „ganz mager, ganz abgehungert" gefunden: „die Realitäten fehlten geradezu innerhalb meines Wissens und die ,Idealitäten' taugten den Teufel was! — Ein geradezu brennender Durst ergriff mich: von da an habe ich in der That nichts mehr getrieben als Physiologie, Medizin und Naturwissenschaften, — selbst zu eigentlichen historischen Studien bin ich erst wieder zurückgekehrt, als die Aufgabe mich gebieterisch dazu z w a n g . " 1 Selbst wenn man diese Aussage Nietzsches im Hinblick auf den besonderen Charakter seiner .Autobiographie' relativiert, so bleibt ihr „Wahrheitskern" doch unbestreitbar. 2 Schon die große Zahl der von ihm erworbenen oder ausgeliehenen naturwissenschaftlichen Schriften bezeugt seine Bemühungen um ein Verständnis von Sachverhalten, für das ihn sein Bildungsgang nicht vorbereitet hatte. Hierin liegt ein grundsätzliches Problem. Man kann mit K. Schlechta fragen, ob Nietzsche sich je „ernstlich" mit der Naturwissenschaft beschäftigt hat. Schlechtas Antwort darauf lautet, daß die Einblicke, die Nietzsche ge1
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E H , K G W VI 3, 323. (Im folgenden werden unter Weglassung der Sigel KGW Band-, Aphorismen- und Seitenzahlen nach dieser Ausgabe angegeben.) — Vgl. a . a . O . , 281: „ . . . die Unwissenheit in physiologicis — der verfluchte ,Idealismus' — ist das eigentliche Verhängniss in meinem Leben, das Überflüssige und D u m m e darin, Etwas, aus dem nichts Gutes gewachsen, für das es keine Ausgleichung, keine Gegenrechnung giebt. Aus den Folgen dieses .Idealismus' erkläre ich mir alle Fehlgriffe, alle grossen Instinkt-Abirrungen und .Bescheidenheiten' abseits der Aufgabe meines Lebens, zum Beispiel, dass ich Philologe w u r d e — w a r u m zum Mindesten nicht Arzt oder sonst irgend etwas Augen-Aufschliessendes?". S. A. Mittasch, F. Nietzsches Naturbeflissenheit, 1950, 7. - Vgl. K. Schlechta, Nachwort zu F. Nietzsche, Werke, III, 1444: „Ich halte es für erlaubt, einiges von diesem Geständnis der dem ,Ecce h o m o ' eigentümlichen Koketterie zu Lasten zu schreiben. Aber in bezug auf die radikale Wendung der Richtung seines Hauptinteresses sagt Nietzsche zweifellos die volle Wahrheit."
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wann, jedenfalls genügten, um die ^nihilistischen' Wesenszüge" wissenschaftlichen Denkens zu durchschauen, wie dies auch Dostoevskij und Kierkegaard möglich war. 3 Ein solcher Vergleich ist, seiner allgemeinen Berechtigung ungeachtet, nicht nur insofern unangemessen, als er den sehr extensiven (wenn auch disparaten) Studien Nietzsches nicht Rechnung trägt, für die wir auf seiten der beiden genannten Denker keine Entsprechung finden. In dem Vergleich wird auch die Intensität verkannt, mit der sich Nietzsche in die zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Fragestellungen vertiefte. Daß sie kritisch aufzunehmen seien, daß der Weg seines Philosophierens durch sie hindurch führen müsse, ist ihm ständig vor Augen gewesen. Man macht es sich daher auch zu leicht, wenn man, wie B. Steverding, meint, Nietzsches naturphilosophische Gedanken seien „nicht einer intensiven Beschäftigung mit den Naturwissenschaften" entsprungen, sondern seien „im wesentlichen eine Frucht des allgemeinen wissenschaftlichen Weltbildes', das in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in Umgang war". 4 Zwar hat sich Nietzsches Denken im Medium dieses ,Allgemeinen' entfaltet und ist in mannigfachen Hinsichten nicht über die Kenntnisnahme von Allgemeinheiten hinausgelangt. Andererseits aber hat er sich sehr gründlich in spezielle Untersuchungen vertieft, hat deren Ergebnisse aufgegriffen und für sein Philosophieren fruchtbar gemacht. Der Rekurs auf seine Lektüre und Auswertung derartiger Schriften ist für das Verständnis nicht nur von Nietzsches ,naturphilosophischen' Aussagen unentbehrlich. Seine naturwissenschaftlichen Studien schlagen durch auf Fragen vor allem der ,Psychologie', der ,Moral', der ,Metaphysik', — wie er umgekehrt von diesen aus auf jene zugeht. 5 Man kann gegen Nietzsches Verfahren der .Übertragung' von Problem- und Sachzusammenhängen aus bestimmten Bereichen in ,ganz andere' vieles einwenden. Die Einwände treffen jedoch nur Vordergründiges und bleiben unzulänglich, wenn nicht der Nietzsches Methodik leitende Gedanke der gleichartigen Strukturiertheit allen — selbst des verschiedenartigsten — ,Geschehens' in den Blick gebracht wird. Dessen grundlegende Strukturen sind Nietzsche zufolge zumeist verdeckt: je nach der Besonderheit des 3 4
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Schlecht